61 Fi 7.870 j 1 ! 0 0 Nd KA 7 12 5 8 ver rat 799 Kar * * * en 4 M N 0 5 72 fi EN it eh 12 7 - a lee 1235 26588144 Au er I 5 HG N 165 Kosmos. Zeilſchrift für einheitliche Föleltanſchauung nuf Grund der Entwicklungslehre | in Verbindung mit Ehurles Darwin und Ernst Haeckel ſowie einer Reihe hervorragender Forſcher auf den Gebieten des Darwinismus herausgegeben von Prof. Dr. Otto Caspari Prof. Dr. Gufav Jäger (Heidelberg) (Stuttgart) Dr. Eruſt Krauſe (Carus Sterne) * (Berlin). II. Jahrgang. III. Band. April bis September 1878. 4 JJ 7 Ernſt Günther's Verlag (Karl Alberts). 1 pr * 5 W u 9 1 00 2 e lieh 1 1 | Er * l syn. La . Ren eee r N 9 1 . % | Re rl | Au e a Rau, RN ee ERST a) he * Be 2 Bi; en 8 g N \ 7 l . 7 u A W dee A e 120 W * Derzeihniß der Mitarbeiter am dritten Bande des Kosmos. Fr. v. Bärenbach (374—377), O. Beccari (38 —48), B. Carneri (467 — 475), Prof. Dr. O. Caspari (367 —374), Prof. Dr. J. Delboeuf (500 — 515), Baron N. Dellingshauſen (297-306), Dr. A. Dodel-Port (189-196), Dr. W. O. Focke (171—176), Prof. Dr. S. Günther (289 294), Prof. Dr. E. Haeckel (10 —21, 105—127, 215 — 227), Dr. E. Krauſe (68-81, 516 530), Dr. H. Kühne (307 313), Dr. A. Lang (258— 260), Al. Maurer (427-433), Dr. Fritz Müller (84 —85, 178—179, 228 — 231), Dr. H. Müller (314—337, 403-426, 476 - 499), Dr. C. Mehlis (363—364, 452 462), Dr. Frh. C. du Prel (1-9, 383 395), Prof. Dr. W. Preyer (22-37, 128-132), Rud. Redtenbacher (201 —214) W. v. Reichenau (133 — 147), Dr. G. Seidlitz (268 — 280), Herbert Spencer (49— 67, 148 - 167, 232 — 243, 338—351), Dr. H. Vaihinger (92—98, 262 268, 365367), J. E. Zilleken (253 258). —— . — . 1 8 A ee A h 4 il IF Ic * * e 6 „ 5 15 = n * 1 3 3 ere 2 . De NEN 5 ital Reh 5 * 7 u, r u A vi BR 1 1 1 8 ER Ad, mi ** 4 . 9 * rt ee i # j 1 Da RN ln: g 1. d Ehe 1 * U ne eee e I N e | nk wire 9 Bin 70 j 1 A N. Int ra . N Kl: in): Al ) | | Inhalt des dritten Bandes. Seite Das Leben im Kosmos. Von C. du Brel. i 1 Das Protiſtenreich. Mit Illuſtr. Von E. Haeckel. . 10. 105. 215 Sur PBhnologie Neugeborener. Von W. Preger 22. 128 Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. Mit Illuſtrationen. Von O. Beccari PF ᷣ . | 13470 Mrale, Die Herrſchaft des Ceremoniells. IV. V. VI. VII. e Von Herbert Sener „ Die Ablöſung der . Von E. Kra Ri 3 Das Thierreich vom Geſichtspunkt der Anpaſſungs— Yes, 7 W. 5. Reichenau. ’ 133 Zur Experimental -Aeſthetik. Von Rud. Renten i 201 Die Königinnen der Meliponen. Von Fritz Müller 228 Prof. Th. Schwedoff's neue Hypotheſe über den Urſprung der N Von N. v. Dellingshaufen. 295 Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der en ar Von 1 Kühne 307 Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. I. II. III. Mit Illuſtr. Von r CCC Die Planetenbewohner. Von C. au e 383 Harvey über die Erzeugung der Thiere. Von W. . 396 Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. Von Al. Maurer 427 Ziel und Zweck. Von B. Carneri . 467 Der Daltonismus. Von J. Delboeuf . . 500 Ueber den Gebrauch der Pfeilgifte im vorgeſchichtlichen 5 0 Von E. e 516 VI Inhalt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Seite Die Fortſchritte der ſynthetiſchen Mineralogie und die e Darſtellung ver— ſchiedener Edelſteine .. ; „„ 12157 282 Wo hat der Moſchusduft der Se 5 Sig ? Von Fritz Müller 84 Cocon⸗Mimiery? Mit, Iunſũitet rt. Dr. Pizarro's Batrachichthys, Mit Jluſieieirt,. Die jog. pſeudo⸗elektriſchen Organe der . „ „ ee Der Mars und feine Monde .. E „% Die geſchlechtliche Zuchtwahl im lungen, Von W. eff, Die Vorkeime von Gymnogramme leptophylla Des 176 In Blumen gefangene Schwärmer. Von Fritz Müller. . 178 Dis Ackerbau treibenden Ameiſen in Teras Dos Eibrponalkleid der ß ner ns und Talmnd ey Land und Leute „ e ß Blumen der Luft .. i en Das Relief der Gebirgeſtöcke Em die Gehabe 15 Eroſtonsthäler 3 Suporta’s Unterſuchungen über die ſog. NöggerathieAansns .. . 247 Ueber den Einfluß des Auftretens höherer Lebensformen auf den Bau der älteren Krokodil-Arten . 252 Profeſſor Mante gazza's Neogeneſis 0 feine Anſichten über ie eic leer Formunterſchiede der Thiere. Von J. E. Zilleken .. 253 De Maillet's Phantaſien über die 1 der Arten. Von Arn. ig 258 Das Wiederaufleuchten der Sterne Die Parthenogeneſis im Pflanzen reich. .. 355 Die Kometenform der Seeſterne und der Geert er ch deen Mit Illuſtrationen . Raub⸗Raupen e Neuere vorgeſchichtliche eee Von C. Mehlis Ein neuer Mondkrater Metamorphismus der Geſteine aus wehen Urſachen Interfamiliäre Variation : Das Leibpferd Cäſar's und die Oe a Pferde Ueber das Vorkommen und die Bedeutung überzähliger Brüſte und Ban beim Menſchen . Die Furcht der Affen vor den stage 3 Der Planet Vulkan Die Kataplexie und der chieriſche Hypnstismuts Die Statiſtik der Farbenblindheit — — — Inhalt. VII Literatur und Kritik. 5 Seite (Kapp's) Philoſophie der Technik. (Von H. Vaihinger) 92 (Siciliani), Ueber die zoolog. Philoſophie des 19. Jahrhunderts... 98 Günther, Dr. S., Studien zur Geſchichte der et und phyſikaliſchen Geographie .. „„ 0 Nägeli, C., Ueber die e 15 Spalpilz ex. (Von A. Dodel-Port) 189 Pivany, J. A., Entwicklungsgeſchichte der Welt und des Erdgebäudes .. 196 Jordan, W., Andachten. . r Qu'est ce que la matiere? (Von H. 8): Huber, Joh., Die Forſchung nach der Materie. .. 262 Hartmann, E. v., Das Unbewußte vom Standpunkt der onen hub ne (Bon G Seidl . 268 Zwei neue Schriften über Göthe's Verhältniß zur Evolutions— ne Cattie, J. Th., Göthe ein Gegner der Descendenz Theorie. „Kaliſcher, S., Göthe's Verhältniß zur Naturwiſſenſchaft. .. 280 Dellingshauſen, N., Grundzüge einer Vibrationstheorie der Natur. — —;, Beitäge zur mechaniſchen Wärmetheorie. — , Die rationellen Formen der Chemie auf Grundlage der mechaniſchen Wärmetheorie. (Von S. Günther. . . . e Kramer, P., Theorie und Erfahrung. (Von S. Gunther) „„ Spencer, H., Die Prinzipien der Sociologie. lll. 294 die Spfer der Wiſſenſco fl. 2296 Der Darwinismus und die Ethik. (Von H. V.): ? Carneri, B., Der Menſch als Eelbftzwed . . » » . 2... 865 ue mann s in Sicht len 7367 Harms, Fr., Die Philoſophie ſeit Kant. (Von Fr. v. Bärenbach.) . . 374 dei Koarbenfint. nnn ea a Knauer, Fr. K., Naturgeſchichte der Lurche. .. 1 Deutſches Archiv für Geſchichte der Medizin und in Soap RR Abnahme des Bienenfleißes in Auſtralien .. u Schmick, J. G., Sonne und Mond als Bildner 95 Erdſchalle. . Pöſche, iir... ae: E Schliemann, H., Mykenä. (Von C. Mehli 80 „ Müller, Cophus Die nordic! oer 4562 Darwin! s, Ch. Geſammelte Werfk ee lei 539 Descend enz-Theorie und Socialdemokratie .. 540 Dodel-Port, A. und C., Anatomiſch— lege Atlas 15 Botanik für Hoch⸗ und Mittelſchulen (von H. Müller)) 546 Offene Briefe und Antworten. 199. 466 * EN e 9 5 N 4 * 11 45 6 a PER 1 N 0 Fan 9519 DE U » Be 8 { | s re . A ea e * no, 88 af h Aut . 405 15 IR, 3 rs a a n ia „ In „ n f | I DEREK, 62 "u 2 W N oo a i e Ne re ene * b Er * 7539 | * j 28 7 Pe u a 41 nr 2 14. 4 2 3 1 e 1 * 1 “ 2 \ 79 * 4 * . * h * . w u 9 en 8 . N 0 1 3 e * . Rn AR + * l * 4 ai ra 8 # 1 Fi 1 x 1 9 * * I 1 "A 7 * 5 Ne * N a N. ar * ie we A 2 * 7 DET 2 N nA ar N 5 an * 16 N , N ' 4% nr 10 Ik: 11 4 x Me 1 N N Br v gt 1 Vi 7 * 1 "91 1 n a WA . fi ware ä P Br a 2 ” 5 * 5 2 A e * * T * * B 5 | V aa * 1 * 1 1 . A S 1 I STE 1 * 1 * 9 - 5 0 f 5 5 — 7 h * * N Le 4 1 N 1 u 7 1 Pr A . 9% b „ 0 1 50 1 N * 5 31 — — ar + au * 0 N e 7 > 5 # a 05 4 1 Ir * 4 ı ( 2 * = 4 + N 1 . . * a. # a f Das Leben im Kosmos. Von Carl du Prel. Wahrheit, als paradox verlacht zu werden, wenn ſie zum erſten Male ausgeſprochen wird ; ſchließ— lich aber als Gemeinplatz ver— achtet zu werden, wenn ſich die Menge an ſie gewöhnt hat. So wird es — es liegt dies in der Natur der Sache — in alle Ewigkeit bleiben, weil jede Wahrheit als Meinung eines Einzelnen entſteht, und höch— ſtens von der Minorität der Einſichtigen bewillkommnet wird, während die öffentliche Meinung ſie ablehnt; in dieſem Widerſtreit aber erhält ſich die Wahrheit gleichwohl vermöge ihres inneren Werthes und ihrer größeren Uebereinſtimmung mit der Wirk— lichkeit. Da es nun auf Erklärung dieſer Wirklichkeit ankommt, ſo iſt die Wahrheit viel concurrenzfähiger als der Irrthum, muß alſo zum Durchbruche gelangen, und kann nicht leicht wieder verloren gehen. Iſt fie aber von der Majorität angenom- men, dann hat ſie auch längſt ihren para— doxen Anſchein verloren und gilt als von ſelbſt verſtändlich, d. h. als Gemeinplatz. Kosmos, Band III. Heft 1. 8 iſt das Schickſal einer jeden So iſt es auch mit dem Gedanken der Mehrheit bewohnter Welten, der, obwohl Bruno für ihn den Feuertod ſtarb und Campanella ſieben Mal die Tortur erlitt, aus der Vorſtellung der Menſchheit nicht mehr weicht, weil er im Grunde nur die Kehrſeite jener anderen Wahrheit iſt, welche die Erde für ein Geſtirn erklärt. Wenn wir des Abends vom Jahrmarkte des Lebens hinwegſchleichen und der Be— trachtung des geſtirnten Himmels einige Augenblicke widmen, dann iſt es nicht allein die äſthetiſche Pracht dieſes Anblicks, die uns anregt und jene Beruhigung über uns ergießt, von der die Lyriker reden; auch veligiöfe und, je nach der Perſönlichkeit, philoſophiſche Empfindungen mengen ſich hinein, und in dem metaphyſiſchen Dunkel, von dem wir uns umwoben fühlen, ver- halten wir uns nicht unähnlich den Kindern im phyſiſchen Dunkel: Wie es dieſen zur Beruhigung gereicht, nicht allein zu ſein, ſo wird auch uns die Beängſtigung, die der Anblick des großen Pan hervorruft, ge— mildert, indem wir die zahlloſen Gefährten der Erde erkennen. Wohl beſchwert uns die Frage nach dem Zwecke und der Be— deutung des Daſeins, aber es beruhigt uns zu ſehen, daß gleich der Erde noch Tau— ſende von Geſtirnen unbekannten Geſchicken entgegenrollen. N Dieſe Beruhigung könnte aber nicht entſtehen, hätten wir nicht die dunkle Ahn— ung, daß auch jene ungezählten Geſtirne Welten ſeien, und würden wir nicht un— willkürlich den Begriff des Bewohntſeins damit verknüpfen. Freilich ſind wir dabei in einem Irrthum befangen, und es bedarf nur des Hinweiſes, daß alle Fixſterne Ge⸗ bilde gleich unſerer Sonne ſeien, um uns vor übereilten Schlußfolgerungen zu be— wahren. Wenn aber die Wiſſenſchaft in dieſer Hinſicht unſerer Phantaſie allerdings Zügel anlegt, ſo verneint ſie darum noch keineswegs die Frage nach der Mehrheit bewohnter Welten; ſie will vielmehr der be— jahenden Antwort nur eine feſtere Begründ— ung geben, als die in jener unklaren Empfindung liegt, womit wir das Gewim— mel der Sterne betrachten. Sie lehrt uns, daß alle dieſe Sonnen um ihre Are ſich drehen, daher gleich der unſrigen Begleiter abtrennen müſſen, auf welchen in den man— nigfaltigſten Formen das Leben ſich regen mag. Wenn aber die mittelalterliche Theologie dieſem Gedanken abhold ſein mußte, ſo hat ihn dagegen die moderne Teleologie will— kommen geheißen als einen weiteren Beleg für die Naturvollkommenheit, die doch ſehr in Frage gekommen wäre, wenn dieſe Son— nen keinen anderen Zweck hätten, als un— ſere Nächte zu erhellen. Eine unbefangene Prüfung der That— ſachen wird uns aber zu der Erkenntniß führen, daß, wenn wir auch berechtigt ſind, das Phänomen des Lebens über den Kos— du Prel, Das Leben im Kosmos. mos auszudehnen, dieſem Gedanken doch keine teleologiſche Tragweite zukommt. Um ſo mehr dürfte aber eine Unterſuchung die— ſes Problems angezeigt ſein, als hierin eine Verſtändigung jedenfalls leichter zu erzielen iſt, als wenn wir die Löſung des teleologiſchen Problems innerhalb der irdiſchen Erſcheinungen ſuchen; ja dieſer letztere, ſchon allzulange währende Streit wird hierdurch gewiſſermaßen überflüſſig gemacht. f Wenn der Teleologe aus dem Ueber— wiegen der zweckmäßigen Erſcheinungen in der Welt auf eine proportionirte intelli— gente Urſache ſchließt, wenn er behauptet, die Annahme ſei widerſinnig, daß die Bild— ung der Welt weniger Vernunft zur Vor- ausſetzung haben ſolle, als die Erkenntniß und Erklärung eben dieſer Welt durch den menſchlichen Intellekt, und wenn er ſich verſperren ſollte gegen die Zulänglichkeit der natürlichen Geſetze zu dieſer Erklärung, und demgemäß den hyperphyſiſchen Urſprung der Zweckmäßigkeit behauptet, — dann können wir ihm, um raſcher auf den eigentlichen Punkt des Streites zu kommen, proviſoriſch alles dieſes zugeben, werden ihm aber Folgendes zu bedenken geben: Die zweckmäßige Einrichtung eines Gegen— ſtandes beſagt nur ſeine Angemeſſenheit für einen beſtimmten Zweck, ſagt aber durch— aus noch nichts über dieſen Zweck ſelbſt aus. Ein Inſtrument mag ſehr ſinnreich ſein, ganz unabhängig von dem Gebrauche, der davon gemacht wird; unſere Taktik iſt ſehr zweckentſprechend, aber die Schlachten entſprechen darum keineswegs unſerem mo— raliſchen Ideale. Zweckmäßige Erſcheinungen giebt es in Hülle und Fülle, vom Mechanismus des Planeten bis zum Rüſſel des honigſaugen— den Inſektes; aber wenn die Teleologie — T— — du Prel, Das nicht etwa nur eine Weltanſchauung für den kalten Verſtand ſein will, dann hat ſie noch Anderes zu erweiſen; wenn ſie den Accent auf das ſchneidige Gebiß des Haies legt, ſo wird eine Weltanſchauung des Gemüthes ihn vielmehr auf die Em— pfindung derjenigen Weſen legen, welche die zweckmäßige Einrichtung dieſes Gebiſſes an ſich erfahren. Wir werden alſo den Teleologen an ſeine Obliegenheit erinnern, nicht nur das Mittel zu beurtheilen, ſondern auch die Weisheit und Güte des Endzwecks zu be— weiſen; wenigſtens werden wir uns nicht für abgeſpeiſt erklären durch den Nachweis der Angemeſſenheit eines Dinges für den zunächſt liegenden Zweck, und werden mindeſtens das verlangen, daß innerhalb der Skala der Zwecke, welche auf den Endzweck des Kosmos hinzielen, irgend ein höheres Glied nachgewieſen und die Angemeſſenheit der Mittel hierfür aufge— zeigt werde. Um nicht Widerſpruch hervorzurufen, wird alsdann der Teleologe wohl auf die Darſtellung des Endzweckes verzichten; er wird aber aus logiſchen Gründen zugeſtehen müſſen, daß in der langen Reihe der cau— ſalen Veränderung ein jedes Glied in Be— zug auf die vorhergegangenen Glieder als Wirkung, in Bezug auf die nachfolgenden als Urſache zu bezeichnen iſt, daß aber, wenn wir einen Endzweck vorausſetzen, jedes Glied in Anſehung der abgelaufenen Reihen als Zweck, in Anſehung der fol— genden als Mittel anzuſehen iſt, und daß ſich in der Reihe der Endzweck wenigſtens ſo weit offenbaren müſſe, daß kein mittleres Glied in Bezug auf dieſen geradezu zweck— widrig erſcheinen könne. Jede Stufe in der Entwickelung der Natur muß eine An— näherung an das Endziel in ſich enthalten, J e Pr = Leben im Kosmos. 3 und da in der Reihe der kosmologiſchen Veränderungen die biologiſche Entſtehung des Bewußtſeins und die Steigerung die— ſes Bewußtſeins in der Geſchichte die letzte und höchſte der uns bekannten Wirkungen, alſo Mittel, darſtellt, ſo muß vom teleolo— giſchen Geſichtspunkte aus der Nachweis geführt werden können, daß die Erſchein— ung des Lebens im Kosmos durch die vorauf— gehenden Veränderungen allmälig vorbereitet werde. Wir werden zwar dem Teleologen den Nachweis erlaſſen, daß das Leben auf den Endzweck hinziele, nicht aber den, daß die Anordnung des Kosmos eine ſolche ſei, durch welche die Entſtehung und Steiger— ung des Bewußtſeins ſowohl zeitlich als räumlich am beſten garantirt erſcheine. Wir haben daher, wenn wir uns be— hufs dieſer Unterſuchung an das uns zu— nächſt liegende und beſtbekannte Sonnen- ſyſtem wenden, daſſelbe vom Standpunkte der Bewohnbarkeit kritiſch zu beurtheilen, und es entſtehen folgende Fragen: 1. Wie viele Weltkörper unſeres Sonnen— ſyſtems können als bewohnt oder als in’ Zukunft bewohnbar angeſehen werden? 2. Iſt die den einzelnen Geſtirnen zu— gemeſſene biologiſche Zeitlänge eine ſolche, daß wir daraus auf eine hohe, erreichbare biologiſche Stufe ſchließen dürfen? Eine unbefangene Unterſuchung dieſer Fragen wird nun gegen den Teleologen ausfallen, indem es ſich nachweiſen läßt, daß das Leben im Kosmos räumlich und zeitlich viel zu ſehr beſchränkt iſt, als daß wir die vorhergehende Entwickelung als eine Vorbereitung zu dieſem Lebenszwecke an— ſehen könnten. Die Spektralanalyſe weiſt die Anweſen— heit der irdiſchen Stoffe im Kosmos nach. 1 1 Somit kann uns der Umſtand, daß wir ſpeciell von unſeren Planeten nur reflektir— tes Licht erhalten, welches über ihre che— miſche Zuſammenſetzung nichts ausſagt, und daß uns höchſtens die Abſorptions— ſtreifen ihres Spektrums einige Aufſchlüſſe gewähren, nicht hindern, die ungefähre qualitative Gleichartigkeit aller Planeten anzunehmen und zu behaupten, daß alle wenigſtens die Anlage zu bewohnbaren Weltkörpern in ſich tragen, wie die Erde; daß es ſich nur um die weitere Frage handeln kann, ob die äußeren Umſtände der Art ſind, dieſe Anlage zur Entwickelung zu bringen; daß endlich auf allen das Leben ſich nur einſtellen kann als das Reſultat eines längeren Entwickelungsganges, analog den irdiſchen Verhältniſſen. Nach phyſikaliſchen, durch die Spektral— analyſe als kosmiſch nachgewieſenen Ge— ſetzen iſt ferner als die erſte Bedingung von Veränderungen überhaupt die Sonnenwärme anzuſehen; durch den reſpektiven Abſtand der Planeten von der gemeinſchaftlichen Wärmequelle wird daher auch die ihnen zugemeſſene reſpektive Wärme, und damit die Intenſität der eventuell vorhandenen biologiſchen Proceſſe beſtimmt ſein. Wenn wir nun die wirklichen Alters— unterſchiede der Planeten vernachläſſigen — da dieſelben, an der Zeitlänge ihrer Lebens— dauer gemeſſen, wohl nicht in Betracht kom— men, und ihre Dauerunterſchiede in Richt— ung der Zukunft ungefähr als äquivalent angenommen werden können — ſo ſind die Planeten, nach ihren Sonnenabſtänden geordnet, zugleich qualitativ in Hinſicht auf ihre derzeitige oder künftige Lebens— energie geordnet. Wir werden weit leb— haftere Proceſſe bei den inneren Planeten annehmen können, als bei den äußeren, von welchen Jupiter 0,0372, Saturn 0,0111, du Prel, Das Leben im Kosmos. | Uranus 0,0026, Neptun 0,0011 der Sonnenwärme empfängt, welche die Erde trifft. Die organiſche Entwickelung eines Pla— neten wird um ſo langſamer von Statten gehen und um ſo ſpäter die Stufe denkender und ſelbſtbewußter Weſen erreichen, je weiter er von der Sonne abſteht, und da den Planeten nur eine zeitlich begrenzte Exiſtenz zugeſprochen werden kann, ſo wird das Mißverhältniß zwiſchen ihren kosmiſchen und ihren biologiſchen Zeitlängen ebenfalls um ſo größer ſein, je entfernter ſie von der Sonne kreiſen. Wenn aber ſchon die kos— miſche Exiſtenz der Erde uns in unberechen— bare Tiefen der Vergangenheit führt, wäh— rend ſich die Anweſenheit des Menſchen auf ihre jüngſten geologiſchen Schichten beſchränkt, jo geſtaltet ſich das Verhältniß noch viel ungünſtiger für die äußeren Planeten, die doch vermöge ihrer Größe und ihrer An— lage die Schauplätze viel ausgedehnterer Lebensproceſſe ſein könnten. | Wenden wir uns nun aber der Frage zu, ob denn alle Planeten in das Stadium der biologiſchen Proceſſe bereits eingetreten ſind, ſo iſt auch dieſe zu verneinen. Nach Analogie irdiſcher Verhältniſſe muß eine regelmäßige Entwickelung abhängig gedacht werden vom Stillſtande der geologiſchen Umwälzungen und dem Eintritte einer feſten Kruſtenbildung in Folge zunehmender Ab— kühlung. Nun ſind aber die Zeitlängen, innerhalb welcher ſich die Weltkörper ab— kühlen, höchſt verſchieden, und hier fällt der Vergleich abermals zu Ungunſten der großen, äußeren Planeten aus; denn die Oberflächen der Planeten — und dieſe ſind ja auch die Abkühlungsflächen — ſtehen im Ver— hältniſſe des Quadrats des Halbmeſſers, während ihr Inhalt, alſo ihr Wärmevor— rath, mit dem Cubus des Radius wächſt. Wenn wir daher an der Erde einen Er— ſtarrungsproceß bemerken, der nur erſt ihre äußerſten Oberflächenſchichten erfaßt hat, ſo ſcheint dagegen aus der Theorie zu folgen, daß die großen Planeten vermöge ihres ungleich gewaltigeren Umfanges noch lange nicht in dieſes Entwickelungsſtadium getre— ten ſind. Die Erfahrung aber beſtätigt die theoretiſche Folgerung, und zahlreiche Beobachtungen beweiſen, daß die großen Planeten noch keineswegs jenes Abkühlungs— ſtadium erreicht haben, welches ſie zu Wohn— ſtätten denkender Weſen geeignet machen könnte. Wenn Jupiter vermöge ſeines Sonnen— abſtandes nur 0,0372 der die Erde treffen— den Sonnenwärme empfängt, ſo läßt ſich daraus auf eine geringere Energie der me— teorologiſchen Veränderungen um ſo mehr ſchließen, als bei ihm vermöge der Stell— ung ſeiner Axe die Jahreszeiten fehlen; die äußerliche Beſtrahlung kann daher keine ſtarke Entwickelung atmoſphäriſcher Dämpfe nach ſich ziehen. Nun iſt aber thatſächlich die Atmoſphäre Jupiters von Dämpfen in viel höherem Grade geſättigt, als die At— moſphäre der Erde, es kann alſo dieſe be— deutende Dampfentwickelung nur auf der Eigenwärme unſeres größten Planeten be— ruhen. Es laſſen ſich in den oberſten Wolkenhüllen Jupiters oft elliptiſche weiße Flecken beobachten, welche unbeſtimmt be— grenzte und veränderliche Schatten auf tiefer liegende Schichten werfen, welche letzteren alſo nicht dem feſten Kerne Jupiters angehören können, ſondern ſelbſt wieder veränderliche Wolkenſchichten ſein müſſen. Für die Höhe der über einander gelagerten Wolkenſchichten hat — wie erſt jüngſt (Kosmos, Band J. S. 435) berichtet wurde — Proctor ein Minimum von 6000 Meilen berechnet. du Prel, Das Leben im Kosmos. 5 liche Veränderlichkeit in der Zeichnung und Färbung dieſer Schichten, wofür ebenfalls die äußerliche Sonnenwärme keine hinläng— liche Urſache ſein kann. Endlich ſind noch die Bewegungserſcheinungen in den äqua— torealen Streifen des Jupiter zu erwähnen; da dieſe Streifen weder mit dem Fort— ſchreiten des Tages noch des Jupiterjahres ſich bewegen und verändern, demnach keinen— falls auf die Sonne bezogen werden kön— nen, ſo müſſen ſie durch die intenſive Hitze des Jupiterkerns erzeugt werden, daher denn auch Proctor auf das Auf- und Nieder- wogen erhitzter Dampfmaſſen ſchließt. Nach Vogel's „Unterſuchungen über die Spektra der Planeten“ charakteriſirt ſich das Spektrum der dunklen Streifen Jupi— ters hauptſächlich durch die ſehr ſtarke und gleichmäßige Abſorption, welche die blauen und violetten Strahlen erleiden. Zwar treten keine neuen Abſorptionsſtreifen auf, aber die vorhandenen werden verbreitert und verſtärkt, als ſchlagender Beweis dafür, daß die dunklen Theile auf dem Jupiter tiefer gelegen ſind. Das Sonnenlicht muß alſo hier einen längeren Weg durch die Atmoſphäre zurücklegen und erleidet hier— durch eine ſtarke Veränderung. Merkwür⸗ dig iſt auch eine ſehr dunkle Bande, die ſich im rothen Theile des Jupiterſpektrums zeigt, und welche ſich auch in den Spektren der rothen Fixſterne, z. B. c Orionis und % Herculis, findet, alſo bei jenen Sternen, welche im Verlaufe der Abkühlung bereits das Stadium der Rothgluth erreicht haben. Alle dieſe Erſcheinungen ſcheinen darauf hinzudeuten, daß der Kern Jupiters noch im feurig⸗-flüſſigen Zuſtande ſich befindet, wenigſtens noch nicht ganz mit Schlacken überzogen, und daher von einer hohen und ſchweren Atmoſphäre umgeben iſt. Hierzu kommt aber noch die außerordent— Saturn, obwohl kleiner als Jupiter, 6 beſitzt doch einen äquatorealen Durchmeſſer, der den der Erde etwa um das Zehnfache übertrifft. Auch hier darf ein Theil des— ſelben auf die Atmoſphäre bezogen werden, welche ebenfalls dichte Wolkenanſammlungen trägt. So wenig, als bei Jupiter, iſt bei Saturn an die Verdampfung von Flüſſig— keiten durch die Sonnenwärme zu denken; denn bei ſeinem Sonnenabſtande könnte Waſſer nur in Geſtalt von Eis vorhanden ſein. Wie es die Theorie erfordert, ſind die Veränderungen in der Atmoſphäre die— ſes Planeten geringer, als bei Jupiter; daß ſie gleichwohl viel intenſiver ſind, als bei der Erde, und daß wir die eigentliche Ober— fläche des Saturn nicht ſehen, geht aus verſchiedenen Beobachtungen hervor: Her— ſchel machte zu Anfang dieſes Jahrhun— derts die Wahrnehmung, — welche von Schröter, Airy, Schiaparelli und Anderen beſtätigt wurde, — daß damals der längſte Durchmeſſer dieſes Planeten nicht der äquatoreale war, ſondern mit die— ſem einen Winkel von 45“ bildete, jo daß Saturn das Anſehen eines Rechtecks ge— wann. Da dieſe Veränderung ſich nicht auf Sonnenwärme zurückführen läßt, fo muß ſie auf gewaltige Kräfte bezogen wer— den, die von der Oberfläche Saturns aus— gingen. Auch die von Struve beobachtete Ver— breiterung des Saturnringes in der Richt— ung gegen den Planeten, ſcheint keine andere Erklärung zuzulaſſen, als eine ſeit der Entdeckung der Ringe eingetretene Abkühl— ung der Oberfläche Saturns, welche den höheren atmoſphäriſchen Dämpfen geſtattete, ſich zu condenſiren und an den inneren Rand des Ringes anzuſetzen. Endlich zeigt auch Saturn die ſehr intenſive Bande im rothen Theile ſeines Spektrums, wie Jupiter. du Prel, Das Leben im Kosmos. + | Bei Uranus hat die Spektralanalyſe eine Atmoſphäre nachgewieſen, welche der— jenigen des Jupiter und Saturn mehr gleicht, als der irdiſchen, und Gaſe enthält, welche in unſerer Atmoſphäre fehlen. Da auch hier an eine Verdampfung von Flüſſig— keiten in der Sonnenwärme nicht zu denken iſt, ſo muß die Beſchaffenheit des Planeten ſelbſt die Erſcheinung erklären, der bei einem etwa vier Mal größeren Durchmeſſer, als der der Erde, ſich viel langſamer, als dieſe, abkühlen muß. Die gleiche Erklärung fordert endlich die Atmoſphäre Neptuns, die ſich mit der des Uranus faſt identiſch zeigt. Es folgt nun daraus, daß die äußeren Planeten nicht nur ungleich ſpäter in die organiſche Entwickelungsſtufe eintreten wer— den, ſondern auch, daß alsdann dieſe Pe— riode ungleich kürzer ſein wird, als bei der Erde, da ſie nur beſtimmt ſein kann durch die auf ihren Erſtarrungskruſten noch fühlbare Eigenwärme. Da die äußere Sonnenwärme für dieſe Planeten kaum in Betracht kommt, ſo werden ſie auch als Wohnſtätten nicht mehr gelten können, wenn ſie die unſerer Steinkohlenperiode entſprechende Entwickelungsphaſe zurückge— legt haben werden. Denn ſollte ſelbſt der ihnen derzeit zugemeſſene Antheil von Sonnen— wärme genügen, den biologiſchen Proceß, wenn auch in ſehr trägem Gange, über dieſe Periode hinaus zu verlängern, ſo wird ihnen doch dieſer Antheil nicht einmal unverkürzt zukommen. Es werden wohl noch Jahrmillionen vergehen, bis auf dieſen Planeten das organiſche Leben beginnen könnte; inzwiſchen wird aber auch die Sonne, deren Flecken die Bildung ihrer Erſtarrungkruſte bereits andeuten, eine weitere Abkühlung erfahren, ja vielleicht aufgehört haben, Wärme und Licht in erforderlichem du Prel, Das Leben im Kosmos. 7 | Grade zu ſpenden. Die kosmiſche Materie erſcheint ſomit in Anſehung des Lebens ſchlecht verwerthet in der Bildung großer Planetenmaſſen, da dieſelben relativ gerin— gere Oberflächen haben und viel längerer Abkühlungszeiten bedürfen, um ſich mit einer Kruſte zu überziehen. Es würde daher ſowohl der Schauplatz als die Dauer des Lebens ausgedehnt worden ſein, wenn ſtatt weniger großer Planeten ſehr viel kleine gebildet worden wären. So ergiebt ſich denn, daß das Leben in unſerem Planetenſyſteme zeitlich und räumlich in hohem Grade beſchränkt iſt. Abgeſehen von dem koloſſalen Mißverhält— niſſe zwiſchen den kosmiſchen und biologiſchen Zeitlängen ſehen wir, daß die kleinen Monde, weil längſt erſtarrt, nur mehr in ihren geologiſchen Schichten die verſteinerten Ske— lette ihrer früheren Bewohner einſchließen; daß die größeren Monde?) vielleicht jetzt noch einen trägen und jedenfalls nicht mehr lange währenden Lebensproceß unterhalten, daß aber die bedeutendſten Körper unſeres Syſtems in jeder Hinſicht weit zurückſtehen hinter den inneren Planeten: Merkur, Venus, Erde und Mars, bei welchen allein die Bedingungen für einen längeren und energiſchen biologiſchen Entwickelungsgang gegeben ſind. Das Kreiſen todter Welt— körper um einen Sonnenball, der nur kurze Zeit hindurch das Leben auf einigen ſeiner Begleiter zur Blüthe zu bringen vermag, aber auch ſelbſt nur kurze Zeit Organis- men tragen wird, deren Leben in ewiger Nacht verfließt: — dies iſt der Hauptbe— * Titan im Saturnſyſtem hat einen Durchmeſſer von 6400 Kilometer, iſt demnach größer, als Merkur und Mars: Ganymed, der dritte Jupitermond, hat bei einem Durch— meſſer von 5800 Kilometer mehr als das dop— pelte Volumen Merkurs und erreicht etwa /; der Marsgröße. ſtandtheil der Geſchichte unſeres Sonnen— ſyſtems. Wir haben noch diejenigen Weltkörper zu unterſuchen, welche, in weitaus über— wiegender Mehrzahl gegeben, auf langge— ſtreckten elliptiſchen Bahnen die Sonne in ihrem Laufe begleiten: Kometen und Meteo— riten. Denn können dieſelben auch nicht als bewohnt angeſehen werden, jo find fie doch erkannt als Bruchſtücke ehemaliger plane— tariſcher Körper, — ſogar organiſche Sub— ſtanzen ſind in den Meteoriten nachgewieſen worden, — um deren ehemalige Bewohn— barkeit es ſich alſo handelt. Bedenken wir aber die intenſive Kälte des Raumes, in dem ſie ſchweben, ſo verbleibt auch für ihre Bewohnbarkeit nur jene kurze Zeitſpanne, während welcher ihre Eigenwärme einen organiſchen Proceß unterhalten konnte. Ja nicht einmal dieſes dürfen wir ihnen ganz zugeſtehen: Es kann nämlich weder die Ge— ſtalt, noch die Funktionsweiſe von Orga— nismen für irgend einen Stern willkühr— lich vorgeſtellt werden, und müſſen dieſe überall in ihrer Beſonderheit als bedingt gedacht werden durch die gegebenen äußeren Exiſtenzverhältniſſe. Es kann nur ange— paßte Organismen geben, oder ſie müſſen ganz fehlen; das Leben muß überall aus inneren Funktionen beſtehen, welche den äußeren Relationen angepaßt find, Dem— nach erſcheint als die vornehmſte Bedingung eines regelmäßigen biologiſchen Entwickel— ungsganges eine gewiſſe Conſtanz der äuße— ren Verhältniſſe, durch deren plötzliche Umwandlung die Anpaſſung der inneren Funktionen aufgehoben, d. h. das Leben gefährdet würde. Zwar paſſen ſich die Organismen auch veränderlichen Exiſtenz— verhältniffen an, aber dieſes im Ver- laufe von Generationen wirkende Vermögen vermag nur bei langſamen Veränderungen 8 du Prel, Das Leben im Kosmos. Schritt zu halten. Es iſt daher nicht denkbar, daß Organismen irgend welcher Art ſo beträchtliche Umwälzungen überleben könnten, wie ſie für Weltkörper perioden— weiſe eintreten, die in langgeſtreckten Bah— nen wandeln; ohne Zweifel müſſen die biologiſchen Proceſſe immer wieder abge— ſchnitten werden und eine allgemeine Ver— tilgung der Organismen periodenweiſe ein— treten für Weltkörper, welche nach langer Wanderung im kalten Raume ins Perihel zurückkehren und dabei Temperaturdifferen— zen erfahren, die, je nach ihrem Sonnenab— ſtande im Perihel, ſich nach Tauſenden von Graden bemeſſen. Demnach ſtellt ſich die Beſchränkung des kosmiſchen Lebens für unſer Syſtem ſo dar, daß von den unzählbaren Begleitern der Sonne nur die vier kleinen Planeten als Träger des Lebens ernſtlich in Betracht kommen können, — ein Verhältniß, das ſich analog auf alle anderen Sonnen über— tragen läßt. Zeitlich dagegen bekundet ſich dieſe Beſchränkung durch das für alle Welt— körper geltende große Mißverhältniß zwi— ſchen den kosmiſchen und biologiſchen Zeit— längen. Die Begleiter der Sonne werden dieſe nämlich jo lange umkreiſen, bis unter fortgeſetzter Verengung ihrer Bahnen ihre Tangentialgeſchwindigkeit durch den Wider— ſtand des Aethers, in dem ſie ſich bewegen, aufgezehrt ſein und der ſenkrechte Sturz gegen die Sonne eintreten wird. Die An— zahl der hierzu nöthigen Umläufe entzieht ſich jeder Berechnung; daß aber in der That die Planeten ihre urſprüngliche Ent— fernung nicht eingehalten haben, ſondern im Verlaufe der Jahrmillionen der Sonne ſchon näher gerückt ſind, das hat erſt jüngſt Llei n (Kosmologiſche Briefe, S. 292) durch eine intereſſante Tabelle nachgewieſen, worin er die urſprünglichen, abgeleiteten Entfern— ungen mit den derzeitigen mittleren Ent— fernungen vergleicht. Das Gleiche gilt aber von der Sonne ſelbſt in Anſehung der Centralgruppe, um welche ſie kreiſt; auch ihre Tangentialgeſchwindigkeit wird einſt ermatten. Es iſt nun aber die Umlaufszeit der Sonne um die Gruppe der Plejaden auf 22½ Millionen Jahre berechnet worden, während andererſeits Helmholtz nachge— wieſen hat, daß die Sonne durch ihre bis— herige Verdichtung eine Wärme entwickelte, welche ihre gegenwärtige Ausgabe auf 22 Millionen Jahre der Vergangenheit decken konnte, daß dagegen die künftige Verdicht— ung (bis zur Dichtigkeit der Erde) noch auf weitere 17 Millionen Jahre die In— tenfitat der Wärme unterhalten könnte, worauf derzeit die organiſchen Veränder— ungen beruhen. Unter dieſen Umſtänden erſcheint die Au— nahme faſt gewagt, daß die durchſchnitt— liche Dauer des ganzen Lebensproceſſes im Sonnenſyſteme jener langen Verdichtungs— zeit gleichkomme, — da ja die Planeten erſt im Laufe derſelben ſucceſſive vom Mutterkörper ſich abtrennten, — und doch würde dieſe Lebensdauer kaum zwei Umläufe der Sonne um die Plejaden ausfüllen, während die Geſammtzähl dieſer Umläufe auch nicht annähernd zu beſtimmen iſt! Es iſt nun aber weiter noch zu be— denken, daß unſere Sonne dem Mittelpunkte des Milchſtraßenſyſtems, nämlich der Ple— jadengruppe, relativ ſehr nahe ſteht — nach Mädler beträgt die Lichtzeit der Alcyone in den Plejaden 715 Jahre, die der entfernteſten Punkte dieſes Syſtems 5521 Jahre, — daß dagegen allen außer— halb der Sonnenbahn kreiſenden Fixſternen nach Maßgabe ihrer Entfernung eine längere Exiſtenz zugeſchrieben werden muß, weil | du Prel, Das Leben im Kosmos. | eine zunehmende Dichtigkeit des Aethers von den äußerſten Grenzen des Milchſtra— ßenſyſtems gegen feinen Mittelpunkt anzu⸗ nehmen iſt. Wenn wir nun die Sonnen als ungefähr gleich groß annehmen, ſo wäre auch die durch ihre Leuchtkraft vermittelte biologiſche Zeitlänge für alle Begleiter der— ſelben die gleiche, und daraus würde ſich ergeben, daß die Leuchtperiode der Fixſterne — dieſer Culminationspunkt ihrer Ent⸗ wickelung in Anſehung des kosmiſchen Lebens — bei der überwiegenden Mehrzahl dieſer Geſtirne kaum ſo lange anhält, bis ſie nur einen Bruchtheil ihrer Bahnlängen während eines Umlaufs durchwandern, daß ſie da— gegen während unberechenbarer Zeiten ihren dynamiſchen Mittelpunkt als kosmiſche Leichen umkreiſen. f Faſſen wir das Ergebniß zuſammen. Der Teleologe muß unter der Vorausſetzung einer in der Weltordnung ſich kundgebenden Abſicht logiſcher Weiſe annehmen, daß die höchſte der uns bekannten Stufen kosmiſcher Entwickelung, das Phänomen des Lebens, eine Förderung der Endabſicht enthalte; er muß aber auch in dieſer Erſcheinung des Kosmos, Band III. Heft 1. 92 80 Lebens, da ſie auf Erden thatſächlich gege— ben iſt, das Minimum deſſen anerkennen, was überhaupt ein Planet leiſten ſoll. Keine noch ſo große mechaniſche Zweck— mäßigkeit eines Sonnenſyſtems und keine noch fo große Anpaſſung feiner Organis⸗ men könnte ihn abhalten, ein ſolches Syſtem (oder einzelne Beſtandtheile deſſelben) für eine verfehlte Schöpfung zu erklären, wenn nicht wenigſtens die irdiſche Entwickelungs— höhe darin erreicht wird. Es liegt darum dem Teleologen noch die weitere Verpflichtung ob, nachzuweiſen, daß der Kosmos auf die Vernunft angelegt ſei, daß die ganze Anordnung der Syſteme und die einleitenden Entwickelungsſtufen ihrer Geſtirne auf das Lebensphänomen offenbar hinzielen. Es hat ſich aber gezeigt, daß dieſes nicht der Fall iſt, da nur ein Theil unſe— rer Planeten ſich zu Wohnſtätten denkender Weſen entwickeln kann und kaum ein Augen- blick in der Exiſtenz der Geſtirne dem unterſtellten Zwecke geweiht erſcheint, wäh— rend die kosmiſche Exiſtenz derſelben durch ganz irrationelle Zeitlängen ſich ausdehnt. Das Protiſtenreich. Von Ernſt Haeckel. ür das tiefere Verſtändniß unſerer heutigen Entwickelungslehre und = der darauf gegründeten einheit- 1 lichen Weltanſchauung dürften . wenige Zweige der Natur⸗ wiſſenſchaften von ſo fundamentaler Bedeut— ung ſein, wie die Naturgeſchichte der niederſten Lebeweſen, der ſogenannten Pro— tiſten. Denn die urwüchſige Einfachheit im Körperbau und in den Lebenserſchein— ungen dieſer unvollkommenen „Urweſen“ öffnet uns erſt den wahren Weg für das Verſtändniß der viel verwickelteren und ſchwierigeren Erſcheinungen, welche uns die Anatomie und Phyſiologie der höheren und vollkommneren Organismen, der echten Thiere und Pflanzen, darbietet. Dennoch iſt die Bekanntſchaft mit den Protiſten faſt nur auf die gelehrten Fachkreiſe beſchränkt geblieben und erſt ſehr wenig in weitere Kreiſe eingedrungen. Das iſt auch leicht erklärlich. Denn die große Mehrzahl jener einfachſten Lebensformen, die wir im „Protiſtenreich“ zuſammenfaſſen, iſt dem unbewaffneten Auge völlig verborgen. Erſt durch das Mikroſkop können wir ſie er— TEN x — y 1 ) > 7 v 2 kennen und meiſtens ſogar erſt mit Hülfe ſtarker Vergrößerungen ihre Formverhält— niſſe genau erforſchen. Aber auch dann iſt dieſe Erforſchung noch mit vielen Schwierigkeiten und Hinderniſſen verknüpft. Denn die allgemeinen Anſchauungen vom lebendigen Organismus, die gewöhnlichen Begriffe von den Organen und Funktionen der Lebeweſen, welche wir aus der alltäg— lichen Anſchauung des höheren Thier- und Pflanzenlebens uns gebildet haben, paſſen nur wenig oder gar nicht auf jene nieder— ſten Lebensformen. Außerdem iſt aber auch die gründliche wiſſenſchaftliche Erforſch— ung der letzteren kaum vierzig Jahre alt; und erſt die ſehr ausgedehnten und ſorg— fältigen Unterſuchungen der letzten zwanzig Jahre haben ihre Kenntniß auf eine ſolche Höhe gebracht, daß wir gegenwärtig we— nigſtens eine befriedigende Vorſtellung von der Eigenthümlichkeit und eine klare Ein— ſicht in die Bedeutung des Protiſten-Reiches gewonnen haben. Wenn wir nun hier den Verſuch wagen, in allgemein-verſtändlicher Form eine kurze Ueberſicht über das ganze große Haeckel, Das Protiſtenreich— Protiſten-Reich zu geben und ſeine hohe Bedeutung für die Entwickelungslehre dem Verſtändniß der gebildeten Kreiſe näher zu bringen, ſo ſind wir uns der großen, da— mit verknüpften Schwierigkeiten wohl be— wußt. Wir glauben aber denſelben am beſten zu begegnen, wenn wir uns auf die gedrungene Zuſammenfaſſung des Wichtig ſten beſchränken, und die Bekanntſchaft mit dem höchſt mannigfaltigen und intereſſanten Detail dieſes unendlich reichen Forſchungs— Gebietes dem Studium der Special-Werke überantworten. Zunächſt wird ſicher für unſere moderne Entwickelungslehre und weiterhin auch für unſere damit verknüpfte moniſtiſche Weltauffaſſung ſchon viel ge— wonnen ſein, wenn eine allgemeine An— ſchauung von dem weiten Umfang des mikroſkopiſchen Lebensreiches, von der Ein— fachheit und elementaren Bedeutung des „kleinſten Lebens“ ſich einen Platz im Be— wußtſein unſerer gebildeten Kreiſe erobert hat. Die niederſten Lebeweſen, die wir hier als: Protiſten d. h. „Erſtlinge“ oder „Urweſen“ zuſammenfaſſen, wer— den in weiteren Kreiſen auch heute noch ſehr oft mit dem unpaſſenden Namen In— fuſorien oder Infuſionsthierchen (im weiteren Sinne!) bezeichnet. In den ſyſte— matiſchen Lehrbüchern der Naturgeſchichte werden fie meiſtens als Urthiere (oder „Protozoa“) aufgeführt. Die beſte deutſche Bezeichnung für die ganze große Gruppe wäre vielleicht: Zellinge oder Zellweſen; denn es würde dadurch die weſentlichſte Eigenthümlichkeit ihrer Orga— niſation, die autonome Selbſtſtändigkeit und permanente Individualität ihres einfachen Zellen-Leibes in präciſeſter Weiſe ausgedrückt. Obgleich viele von der Exiſtenz der meiſten mikroſkopiſchen Protiſten keine Ahn⸗ ung haben, ſo kommt dennoch jeder Menſch 11 unendlich oft mit ihnen in Berührung. Jeder hat beim Waſſertrinken, beim Eſſen von Früchten, Auſtern und anderen rohen Spei- ſen ſchon Tauſende und Millionen von lebenden Protiſten verſchluckt, ohne ſich deſſen bewußt geworden zu ſein. Denn obgleich dieſe merkwürdigen Geſchöpfe von dem unbewaffneten Auge des Menſchen zum größten Theile gar nicht erkannt oder höch— ſtens als ganz kleine Pünktchen wahrge— nommen werden, ſind ſie dennoch in zahl— loſen, höchſt mannigfaltigen und intereſſan⸗ ten Formen allenthalben über unſeren Erdball verbreitet. Unſere Mikroſkope weiſen uns dieſelben überall im ſüßen und ſalzigen Waſſer nach. Alle Bäche und Flüſſe, alle Teiche und Seen, alle Tümpel und Grä— ben enthalten ſolche Urthierchen, oft in un— glaublicher Maſſe. Man kann keinen Stein, keine Pflanze aus dem Waſſer heben, ohne in dem daran haftenden ſchlei— migen Ueberzug wenigſtens einige Infuſo— rien zu finden. Ebenſo iſt das Meer überall von ihnen bedeckt. Der weiche Schlamm, der den Meeresboden bedeckt, beſteht zum großen Theil aus dergleichen Protozoen. Der feine ſchlammige Ueber— zug, der bei ruhigem Wetter den klaren Meeresſpiegel überzieht, iſt aus Milliarden ſchwimmender Infuſorien zuſammengeſetzt. Aber auch der Staub unſerer Straßen, der Sand unſerer Dachrinnen, die Humus— Erde unſerer Felder und Wälder, enthält Millionen kleinſter Infuſions-Keime, ſowie eingetrocknete, aber noch lebensfähige Körper derſelben. Wir brauchen blos dieſen Staub und Sand in einem Glaſe mit etwas Waſſer zu übergießen und dieſen Aufguß einige Zeit in der Sonne ſtehen zu laſſen, um durch unſer Mikroſkop Maſſen von beweglichen Infuſorien wahrzunehmen; theils haben ‚fie? ſich in kürzeſter Zeitz aus jenen 12 Keimen entwickelt, theils find fie unter dem belebenden Einfluſſe des Waſſers aus ihrem Trockenſchlafe zu neuem Leben erwacht. Iſt es ja doch gerade dieſe Erſcheinung, die zu der Benennung: In fuſoria oder Infuſionsthierchen, d. h. „Aufgußthier⸗ chen“ Veranlaſſung gab. Es ſind jetzt kaum zweihundert Jahre verfloſſen, ſeitdem die mikroſkopiſchen In— fuforien durch den holländiſchen Natur- forſcher Anton van Leeuwenhoek zuerſt in einem Topfe voll ſtehenden Regen— waſſers entdeckt wurden. Die Holländer haben die zweihundertjährige Jubelfeier dieſer Ent— deckung, die damals das größte Aufſehen erregte, vor wenigen Jahren (1875) feier lichſt begangen; und ſie thaten Recht daran. Denn die wiſſenſchaftliche Tragweite der— ſelben iſt in der That unermeßlich, und je mehr wir mit unſeren vervollkommneten Mikroſkopen in die tiefſten Geheimniſſe des Lebens eindringen, deſto mehr werden wir uns ihrer Bedeutung bewußt. Unſere ganze Anſchauung vom Weſen des Lebens und von der Entwidel- ung der organiſchen Geſtalten iſt durch die genauere Kenntniß dieſer Urthierchen oder Infuſionsthierchen unendlich erweitert und gefördert worden. Anatomie und Phy— ſiologie, Entwickelungsgeſchichte und Syſte— matik verdanken ihr die wichtigſten Auf- ſchlüſſe. Selbſt für die Geologie haben ſie eine außerordentliche Bedeutung erlangt. Denn dieſe kleinſten Lebensformen haben keinen geringeren Einfluß auf die Bildung der mächtigſten Gebirgsmaſſen und auf die ganze Geſtaltung unſerer Erdrinde aus— geübt, als alle die zahlreichen großen Thiere und Pflanzen, die unſern Planeten ſeit Millionen von Jahren belebt haben. Die mikroſkopiſchen Kalkſchalen und Kieſelgehäuſe welche ſich die meiſten Urthiere bilden, blei— Haeckel, Das Protiſtenreich. ben nach dem Tode ihrer Bewohner un— verändert übrig. Sie häufen ſich auf dem Grunde der Gewäſſer maſſenhaft an, bil— den hier mächtige Schlammſchichten und werden im Laufe der Jahrtauſende zu feſtem Geſteine verdichtet. So ſind z. B. die Kreidegebirge von England und von der Inſel Rügen, ſowie die über der Kreidefor— mation abgelagerten eocänen Tertiärſchichten zum größten Theile, oft faſt ausſchließlich, aus den zierlichen Kalkſchalen der Polytha— lamien zuſammengeſetzt. Andere Geſteine, wie z. B. die tertiären Felſenmaſſen von Barbados und von den Nikobaren Inſeln, zeigen ſich zum größten Theil aus den reizenden Kieſelpanzern der Radiolarien ge— bildet. Viele von den Geſteinen, welche ſolchen Urthierchen ihre Entſtehung verdan— ken, liefern ein vorzügliches Baumaterial; und manche unſerer größten Städte find vorzugsweiſe aus dergleichen Steinen erbaut, ſo z. B. Wien und Paris. Die berühmten Tiefſee-Forſchungen der neueſten Zeit, zu denen die erſte Legung des atlantiſchen Telegraphen-Kabels den Anſtoß gab, haben jene felsbildende Macht des kleinſten Lebens in das hellſte Licht geſtellt. Sie haben uns gezeigt, wie noch heute in den tiefſten Abgründen des Mee— res unaufhörlich kreideartiges Geſtein aus feinſtem Meerſchlamm entſteht, und wie dieſer Schlamm faſt ausſchließlich aus den Kalkſchalen und Kieſelpanzern unglaublicher Maſſen von Urthierchen gebildet wird. Vor Allem ſind es hier die unvergleichlichen Entdeckungen der bewunderungswürdigen britiſchen Challenger-Expedition, welche uns mit einer Fülle neuer und überraſchender Anſchauungen über die „Mikrogeologie“, über das reiche, räthſelvolle mikroſkopiſche Leben der Tiefſee-Thäler bereichert haben. Wie nun die eifrigen Forſchungen des Haeckel, Das letzten halben Jahrhunderts unſere Kennt— niß vom Leben und Weben der Urthiere, von ihrer Geſtaltung und Entwickelung ungemein gefördert haben, ſo haben ſie auch unſere Anſichten von ihrer Stellung in der Natur und von ihrer ſyſtematiſchen Gruppirung ſehr weſentlich verändert. Das Syſtem der organiſchen Formen iſt ja immer mehr oder weniger der Ausdruck der Anſchauungen, welche wir von ihrer natürlichen Verwandtſchaft beſitzen, und ſo zeigen uns denn auch die großen Verän— derungen, welche das Syſtem der Urthiere im Verlauf der letzten Jahrzehnte erlitten hat, am klarſten den gewaltigen Umſchwung unſerer bezüglichen Vorſtellungen. Nachdem vor neunzig Jahren (1786) Otto Fried— rich Müller den erſten umfaſſenden Ent— wurf eines Syſtems der Infuſionsthierchen gegeben hatte, erſchien vor vierzig Jahren das große Prachtwerk des berühmten (1876 verſtorbenen) Naturforſchers Ehren berg: „Die Infuſionsthierchen als vollkommene Organismen. Ein Blick in das tiefere organiſche Leben der Natur.“ Das war im Jahre 1838, in demſelben für die Naturwiſſenſchaft Epoche machenden Jahre, in welchem der geniale Botaniker Schlei— den in Jena zuerſt den Grund zu der ſo höchſt fruchtbaren Zellen-Theorie legte. In der That ein merkwürdiger Zufall, eine ſeltſame Ironie des Schickſals. Denn Ehrenberg war in ſeinem großen Hauptwerk vor Allem bemüht, das ihm eigene „Princip überall gleich voll⸗ endeter Entwickelung“ zur Geltung zu bringen. Er ſuchtz bei den Infuſorien eine ebenſo vollkommene Organiſation nach— zuweiſen, wie bei den höheren Thieren und beim Menſchen. Er glaubte überall Ner— ven und Muskeln, Darm und Blutgefäße, männliche und weibliche Organe unterſchei— Protiſtenreich. 13 den zu können. Gerade dieſes Princip war grundfalſch; vielmehr find die In⸗ fuſorien höchſt einfache Organismen: die meiſten haben nur die Bedeutung und den Werth einer einzigen einfachen Zelle, und ihr wahres Verſtändniß wird uns erſt durch die Zellentheorie gegeben. Der alte Name „Infuſionsthierchen“ wird heute nur noch auf einen kleinen Theil der mikroſkopiſchen Weſen angewendet, welche Ehrenberg in ſeinem großen Werke als ſolche beſchrieb. Nur die Wimperthierchen oder Ciliaten und die Borſtenthierchen oder Acineten, oft auch die Geißelſchwärmer oder Flagellaten werden heute noch in wiſſenſchaftlichen Wer— ken „Infuſorien“ genannt; die formen— reichen Kieſelzellen oder Diatomeen wer- den dagegen meiſt von den Botanikern zu den Algen gerechnet. Die Räderthierchen (Rotatoria), die für Ehrenberg ger ade den Typus der Infuſorien bildeten, ſind Würmer, alſo Thiere von viel höherer Organiſation. Dagegen bilden die Amo eben und ihre Verwandten heute eine beſondere wichtige Protiſtenklaſſe, die wir Lappen⸗ thierchen oder Loboſa nennen. Neben dieſen aber hat die fortgeſchrittene mikro— ſkopiſche Forſchung uns andere Klaſſen von Urthierchen kennen gelehrt, die viel zahl— reichere, merkwürdigere und mannigfaltigere Formen enthalten, als jene älteren Infuſions— thierchen: vor allen die wunderbare Klaſſe der Wurzelfüßler oder Rhizopoden, die Sonnenthierchen oder Heliozoen, die kalkſchaligen Thalamophoren und kieſelſchaligen Radiolarien. Dieſen ſchließen ſich eng die ſonderbaren Schleim— pilze oder Myxomyceten an, welche die Botaniker früher zu den echten Pilzen (Fungi) ſtellten. Aber auch die Stellung dieſer letzteren im Pflanzenreiche iſt ganz 14 zweifelhaft geworden und es beſtehen ge— wichtige Gründe dafür, ſie aus letzterem in das Protiſtenreich zu verſetzen. Als eine beſondere, intereſſante, wenn auch nur ſehr kleine Protiſtenklaſſe dürfen wir die Catallacten betrachten. Endlich finden wir unten auf der tiefſten Stufe jene höchſt einfachen, wunderbaren Urweſen, mit denen das organiſche Leben in denkbar einfachſter Geſtalt beginnt, die Moneren. Schon beim erſten Blick auf die wun— derbare Formenwelt, welche uns hier das Mikroſkop entſchleiert, wird ſich jedem Un— befangenen zunächſt die Frage aufdrängen: „Sind denn dieſe ſogenannten Urthiere oder Infuſorien wirkliche, echte Thiere und warum werden fie von den Naturforſchern in das Thierreich geſtellt?“ Dieſe Frage iſt vollſtändig berechtigt; ſie gehört zu jenen ſchwierigen Grundfragen der allgemeinen Biologie, deren Löſung durch unſere fort— ſchreitenden Kenntniſſe eher erſchwert als er— leichtert wird. Wenn wir nämlich alther— gebrachter Maßen die ganze organiſche Na— tur in die beiden großen Hälften: Thierreich und Pflanzenreich eintheilen, und wenn wir damit glauben, den natürlichen Gegenſatz zwiſchen zwei völlig getrennten Hauptgebieten auszuſprechen, ſo iſt dieſe Unterſcheidung zwar durch die feſtgewurzelte Anſchauung und den Sprachgebrauch von Jahrtauſenden geheiligt; aber logiſch begründbar und wirklich natur— gemäß iſt ſie nicht. Vielmehr lehren uns gerade unſere Urthierchen das Gegentheil. Je genauer wir deren Form und Lebens— erſcheinungen ſtudirt haben, je vollſtändiger uns ihre ganze Entwickelungsgeſchichte be— kannt geworden iſt, deſto klarer hat ſich herausgeſtellt, daß ſie eine ununterbrochene Verbindungsbrücke zwiſchen den tiefſten Stu— fen des Thierreichs und Pflanzenreichs her— ſtellen. So leicht und ſicher wir die höheren 1 | Haeckel, Das Protiſtenreich. und vollkommeneren Stufen der beiden großen Reiche von einander unterſcheiden können, ſo ſchwer, ja unmöglich wird dieſe Trennung auf den niedrigſten und unvoll— kommenſten Stufen. Denn hier ſind beide Reiche durch eine zuſammenhängende Kette von einfachen Uebergangsformen untrenn— bar verbunden. Die Erkenntniß dieſer wichtigen That— ſache, welche heute unzweifelhaft feſtgeſtellt iſt, hat zu den lebhafteſten Streitigkeiten über die Grenze zwiſchen Thierreich und Pflanzenreich Veranlaſſung gegeben. Sie hat zugleich die abweichendſten Anſchauungen über das Weſen der zweifelhaften Infuſo— rien hervorgerufen, die mitten zwiſchen den beiden großen Reichen der organiſchen Na— tur ein neutrales Grenzgebiet für ſich in Anſpruch nehmen. Während nämlich viele Infuſorien von den Zoologen für Thiere, von den Bota— nikern dagegen für Pflanzen erklärt, und demnach von Beiden annektirt wurden, hatten andere gerade das entgegengeſetzte Schickſal: ſie wurden von Beiden verſchmäht; bei einer dritten Gruppe von Infuſorien ſchien ſogar nur die Annahme übrig zu bleiben, daß ſie abwechſelnd als Thiere und Pflanzen lebten. Der daraus ent— ſpringende Streit über ihre wahre Natur ſcheint am einfachſten dadurch entſchieden zu werden, daß man den Begriff von Thier und Pflanze ſcharf umſchreibt, und dieſe unzweideutige Begriffsbeſtimmung auf jene zweifelhaften Mittelweſen anwen— det. Aber dieſe geſuchte Begriffsbeſtimm— ung ſelbſt iſt ein unlösbares Problem; je mehr Mühe man darauf verwendet hat, deſto klarer hat ſich herausgeſtellt, daß es überhaupt auf einer falſchen Frageſtellung beruht, und daß die Begriffe von Thier und Pflanze nicht in der Natur begründet ſind. Haeckel, Das Um nun den ſo entſtandenen Schwierig— keiten zu entgehen, und um zu einer ver— nünftigen Claſſification der organiſchen Weſen zu gelangen, iſt ſchließlich nur ein Ausweg übrig geblieben: nämlich die Aufſtellung eines dritten, ſelbſtſtändigen Reiches von elementaren Organismen: Das iſt unſer Reich der Protiſten oder Zellinge, das Reich der neutralen Urweſen. Wir faſſen demnach die ganze organiſche Natur, die Geſammtheit aller lebenden Weſen un— ſeres Erdballs, als ein großes einheitliches Ganze auf; und dieſes umfaſſende Univer— ſalreich theilen wir in drei Reiche: das Thierreich einerſeits, das Pflanzenreich an— drerſeits, mitten zwiſchen Beiden das neu- trale Reich der Protiſten. Um nun die Aufſtellung unſeres Pro— tiſtenreiches zu rechtfertigen, wollen wir einen flüchtigen Blick auf die verſchiedenen Charakterſeiten des Thier- und Pflanzen— reichs werfen. Es wird ſich dabei von ſelbſt ergeben, daß unſere Protiſten weder dem einen, nach dem andern vollſtändig Verweilen wir zunächſt einen der äußeren Geſammt⸗ entſprechen. Augenblick bei erſcheinung. So charakteriſtiſch uns da einerſeits das höhere Thier mit der Glie— derung ſeines Leibes und ſeiner Gliedmaßen, anderſeits die höhere Pflanze mit ihrem Stengel und ihren Blättern entgegentritt, ſo wenig reicht dieſe äußere Gliederung hin, um die niederen Formen beider Reiche zu unterſcheiden. Viele unzweifelhafte Thiere, wie z. B. die Korallen, die Schwämme, ahmen ſo vollkommen die Geſtalt echter Pflanzen nach, daß man ſie früher allge— mein für ſolche gehalten hat. Umgekehrt giebt es viele unzweifelhafte Pflanzen, wie z. B. viele Orchideen und andere Schma— rotzer, welche die Geſtalt echter Thiere nach— ahmen. Und was ſollen wir nun vollends Protiſtenreich. 15 zu den unendlich mannigfaltigen Figuren unſerer Protiſten ſagen? Da treffen wir allein ſchon in der einen Klaſſe der kieſel— ſchaligen Radiolarien alle möglichen Grund— formen verkörpert an, die überhaupt in der Natur vorkommen können; und in welcher zierlichen und wundervollen Ausführung! Da finden wir in einem einzigen Tropfen Meerwaſſer neben einander Kugeln, Kreuze, Körbchen, Schrauben, Sterne, Schachfiguren, Hörner, Hauben, Helme u. ſ. w.; kurz eine Fülle der mannigfaltigſten und merkwür⸗ digſten Geſtalten. Gewiß wird Jedermann, der dieſe Formen zum erſten Male ſieht, ſie für Kunſtprodukte halten, oder vielleicht für abgelöſte Theile von größeren Organis— men. Und doch ſind es vollkommen ent— wickelte und ſelbſtſtändige Lebeweſen! Aber Niemand wird geneigt ſein, ſie für echte Thiere oder echte Pflanzen zu erklären. Ebenſo wenig können wir aus der äußeren Körperform der meiſten anderen Protiſten einen ſicheren Schluß auf ihre wahre Na— tur ziehen. Sehr viele bewahren zeitlebens die einfache Kugelgeſtalt. Andere zeigen beſtändig die einfache Form eines Cylinders, einer Scheibe, eines Kegels, einer Pyramide u. ſ. w. Noch andere endlich haben über— haupt gar keine beſtimmte Geſtalt, jo na— mentlich die Moneren und die Amoeben. Der ganze Körper dieſer höchſt einfachen Urweſen beſteht aus einem lebenden mikro— ſtopiſchen Schleimklümpchen, das in unab- läſſigem Wechſel ſeine Geſtalt beſtändig ändert: daher der paſſende Name „Aender— ling“, den Oken dieſen Amoeben beilegte. Doch verlaſſen wir die äußere Körper⸗ form! Denn daß dieſe ganz unzureichend iſt, um den Unterſchied zwiſchen Thier und Pflanze zu begründen, das iſt längſt all- gemein anerkannt. Fragen wir uns lieber, was denn eigentlich in der naiven An 16 Haeckel, Das ſchauung des täglichen Lebens dieſe Unter— ſcheidung begründet, und was dieſelbe ſeit Jahrtauſenden in der Sprache und im Begriffsleben der Menſchheit gerechtfertigt hat. Unzweifelhaft ſind es die Lebens— erſcheinungen der Empfindung und Bewegung, welche uns hier zunächſt entgegentreten. Empfindung und Beweg— ung ſind es, welche in der allgemeinen Anſchauung das Thier gegenüber der Pflanze auszeichnen, und aus denen wir auf ein „Seelenleben“ des Thieres ſchließen, ein Seelenleben, das wir der Pflanze ab— ſprechen. Wie verſchieden auch die pſycho— logiſchen Vorſtellungen ſind, und wie weit auch die Anſichten über das eigentliche We— ſen der Seele aus einander gehen, darüber ſind wir doch Alle einig, daß mindeſtens den höheren Thieren eine Art Seelenleben zukommt. Denn die Hausthiere, die wir täglich um uns ſehen, bewegen ſich zweifel— los ebenſo willkürlich, wie wir ſelbſt. Sie luſt, der Freude und des Schmerzes zweifel— los ähnlich, wie wir ſelbſt. Auch lehrt uns ja ſofort jede anatomiſch-phyſiologiſche Un— terſuchung, daß das Nervenſyſtem, das Organ dieſer Seelenthätigkeiten, bei den höheren Wirbelthieren im Weſentlichen eine ähnliche Einrichtung beſitzt, wie bei uns ſelbſt. Von dieſen augenfälligen Seelenthätig— keiten der höheren Thiere ausgehend, ſchlie— ßen nun die Zoologen, daß dieſelben auch allen anderen Thieren zukommen, und dem— gemäß werden ſeit alter Zeit Empfindung und willkürliche Bewegung als charakteriſtiſche Eigenſchaften des Thieres betrachtet. Schon Linne ſagt: „Die Pflanzen leben, die Thiere leben und empfinden.“ Und doch iſt gerade dieſe allgemein angenommene Unterſcheidung völlig unhaltbar. Wir brauchen nur an den gewöhnlichen Bade— Protiſtenreich. empfinden die Eindrücke der Luft und Un⸗ ſchwamm zu denken, um uns davon zu überzeugen. Dieſer Badeſchwamm, mit dem ſich der Kulturmenſch täglich zu wa— ſchen pflegt, iſt das todte Skelet, das in— nere Gerüſt eines unzweifelhaften Thieres. Im Leben ſtellt dieſes Thier einen fleiſchigen, ſchwarzen, formloſen Klumpen dar, der unbeweglich auf dem Meeresboden feſtge— wachſen iſt. Aehnliche Seegewächſe aus der Klaſſe der Schwämme oder Spongien ſitzen maſſenhaft auf dem Boden aller Meere, hunderte von verſchiedenen Arten. Die meiſten zeigen keine Spur von Be— wegung und Empfindung; ſie galten daher früher auch allgemein für Pflanzen. Erſt die genaueſten Unterſuchungen über ihre Entwickelungsgeſchichte haben uns in den letzten Jahren darüber belehrt, daß wir ſie als echte, unzweifelhafte Thiere betrachten müſſen. Aehnliche echte Thiere, welche in voll— kommen reifem und ausgebildetem Zuſtande der Empfindung und Bewegung entbehren, kennen wir jetzt in Menge. Die meiſten leben feſtgewachſen auf dem tiefen Grunde des Meeres. Sie gehören ſehr verſchiede— nen Klaſſen an: Würmern, Ascidien, Mol- (usfen u. ſ. w. Viele von ihnen werden auf den italieniſchen Fiſchmärkten unter dem Namen „Seefrüchte“ (Frutti di mare) feil ge⸗ boten, und ſowohl der Fiſcher, der ſie verkauft, wie der Fremde, der ſie mit Appetit verſpeiſt, hält ſie für die Früchte von Seegewächſen. So gar unter den höheren Thierklaſſen, z. B. unter den Schnecken und Krebſen, giebt es einzelne Arten, die in vollkommen reifem Zuſtande einen formloſen runden Klumpen, ohne jede Spur von Bewegung und Empfindung, darſtellen. In dieſen Fällen iſt es die ſchmarotzende Lebensweiſe, durch welche das Thier ſeine „Seele“ ver— loren hat. Das gilt z. B. von der be rühmten Wunderſchnecke (Entoconcha mi- Haeckel, Das Protiſtenreich. 17 rabilis) und von dem merkwürdigen Säckchenkrebſe (Saceulina). Erſtere lebt als Paraſit im Innern von Seegurken oder Holothurien; letzterer ſitzt ſchmarotzend auf anderen Krebſen feſt. Beide Thiere haben die Geſtalt eines einfachen, länglichen, runden Schlauches; und dieſer Schlauch enthält nichts weiter als Eier. Keine Spur von einem Kopfe und von Sinnes- organen; keine Spur von Fühlhörnern und Beinen; keine Spur von Empfindung und willkürlicher Bewegung. Gewiß würde kein Menſch in dieſen beiden ſeelenloſen Eierſchläuchen wahre Thiere vermuthen, und doch ſtellt die Entwickelungsgeſchichte un— zweifelhaft feſt, daß das eine eine Schnecke und das andere ein Krebs iſt. Als Gegenſtück zu dieſen „ſeelen— loſen Thieren“ treffen wir auf der anderen Seite „ſeelenvolle Pflan— zen“, die uns noch mehr überraſchen. Wir betreten einen tropiſchen Urwald und wollen uns ein zierlich gefiedertes Mimoſen— blart abpflücken. Aber kaum berühren wir den zarten Zweig der ſchamhaften Sinn— pflanze (Mimosa pudica), ſo klappen die Blätter ihre zierlichen Fiederreihen zuſam— men und die Blattſtiele ſinken wie gelähmt herab. Ja, manche dieſer akazienartigen Bäume ſind ſo reizbar, ſo empfindlich, daß ſchon die Erſchütterung des Bodens durch den Tritt des herannahenden Wanderers hinreicht, ſämmtliche Blätter zum Schließen zu bringen. Nicht minder empfindlich ſind neben vielen Anderen die durch Darwin neuerdings ſo berühmt gewordenen „inſekten— freſſenden Pflanzen“. Sobald eine unvor— ſichtige Fliege ſich auf das Blatt einer „Fliegen— falle“ (Dionaea) ſetzt, klappt das reizbare Blatt zuſammen, und die mörderiſche Pflanze verzehrt das erfaßte Inſekt mit offenbarem Wohlbehagen. Wollten wir dieſen hoch— Kosmos, Band III. Heft 1. organiſirten Pflanzen eine Seele abſprechen, ſo müßten wir ſie ganz ebenſo auch bei den empfindlichen, aber feſtgewachſenen, pflanzen— ähnlichen Korallen leugnen; denn dieſe geben keine anderen Aeußerungen ihres Seelenlebens. Aber nicht allein ſolche hohe Empfind⸗ lichkeit, ſolche lebhafte Beweglichkeit einzel— ner Körpertheile treffen wir vielfach bei echten Pflanzen an. Nein, auch ſelbſtſtän— dige, freie Ortsbewegung, auch die Willens— thätigkeit, auf die wir aus der ſcheinbar willkürlichen Bewegung ſchließen, findet ſich bei unzweifelhaften Pflanzen vor. Viele Algen, z. B. viele von unſeren einheimiſchen grü— nen Waſſerfaden oder Conferven, ſchwim— men in ihrer Jugend frei und lebhaft im Waſſer umher. Die jungen Pflänzchen bewegen ſich dabei, ebenſo wie viele junge Thiere, durch zarte, haarförmige, ſchwingende Fäden, Geißeln oder Wimpern. Bei die⸗ ſer Schwimmbewegung äußern ſie ebenſo viel Lebhaftigkeit, ebenſo viel Ausdauer, ebenſo viel ſcheinbaren Willen, wie die ganz ähnlichen, flimmernden Jugendformen vieler Thiere, z. B. der Gaſtrula. Auf den Wiener Botaniker Unger, der zuerſt vor 35 Jahren (im Jahre 1843) dieſe frei beweglichen Jugendformen der Algen ent— deckte, machten dieſelben einen ſo tiefen Ein— druck, daß er ſeine bezügliche Mittheilung betitelt: „Die Pflanze im Momente der Thierwerdung.“ Schon aus dieſen wenigen Thatſachen, die wir noch durch Aufzählung vieler ähn— licher Erſcheinungen beträchtlich vermehren könnten, geht unzweifelhaft hervor, daß die höheren Seelenthätigkeiten der bewußten Empfindung und der willkürlichen Beweg⸗ ung weder allen Thieren eigenthümlich ſind, noch allen Pflanzen fehlen. Sie können daher nicht mehr in der üblichen Weiſe zur Unterſcheidung von Thier- und Pflan- 18 Haeckel, Das Protiſtenreich. zenreich benutzt werden; und ebenſo wenig ſind ſie von ſyſtematiſcher Bedeutung für unſer Protiſtenreich. Für die Beurtheilung dieſes letzteren iſt es gleichgültig, ob ſich die Protiſten ſehr lebhaft bewegen und ſehr fein empfinden, wie die meiſten Wimper— Infuſorien; oder ob ſie nur ſtumpfe Em— pfindung und träge Bewegung beſitzen, wie die meiſten Wurzelfüßler. Viele Protiſten treten uns in zwei abwechſelnden und ganz verſchiedenen Zuſtänden entgegen: einem unbeweglichen und unempfindlichen Ruhe— zuſtande, in welchem ſie uns als Pflanzen erſcheinen; und in einem frei beweglichen und ſehr empfindlichen Zuſtande, in welchem ſie Thieren gleichen. Wir dürfen von dieſen merkwürdigen Urweſen geradezu ſagen: ſie ſind abwechſelnd Thier und Pflanze. Und ſo ſind ſie auch wirklich früher beur— theilt worden. So ſind z. B. von manchen Flagellaten und Myxomyceten die vegeta— tiven Ruhezuſtände als Pflanzen, die animalen Bewegungszuſtände als Thiere unter ver— ſchiedenen Namen beſchrieben worden, und erſt viel ſpäter wurde entdeckt, daß Beide nur verſchiedene Lebens-Zuſtände eines und deffel- ben Protiſten ſind. Wollen wir nun aber vom Standpunkte der vergleichenden Psychologie zu einem Schluſſe über das Seelenleben aller dieſer Geſchöpfe kommen, ſo kann dieſer Schluß nur lauten: „Alle lebenden Weſen ſind beſeelt, die Pflanzen ſo gut wie die Thiere, und die Protiſten ſo gut wie die Pflanzen.“ Innere Bewegungs - Er- ſcheinungen, die ſcheinbare ohne äußere Ur— ſachen entſtehen und auf Ortsveränderungen kleinſter Theile beruhen, insbeſondere Pro— toplasma⸗Strömungen, find allen Organis— men gemeinſam, und inſofern iſt jedes lebende Weſen beſeelt, jedes iſt zugleich reizbar, im gewiſſen Sinne empfindlich. Stufenweiſe erhebt ſich die Seelenthätigkeit, von den unſcheinbarſten und niedrigſten Anfängen ausgehend, zu immer höheren und voll— kommeneren Leiſtungen. Während die nie— drigſten Thiere ſich in dieſer Beziehung nicht von den meiſten Pflanzen und Pro— tiſten unterſcheiden, ſteigt das Seelenleben der höheren Thiere, das Wollen und Em— pfinden, Vorſtellen und Denken, zu einer ähnlichen Stufe wie beim Menſchen empor. Gleich der Seelenthätigkeit haben ſich auch alle anderen Eigenſchaften, durch welche man Thiere und Pflanzen hat unterſcheiden wollen, als unzureichende Merkmale erwieſen. Unzweifelhaft der wichtigſte Unterſchied zwiſchen Beiden beruht auf den entgegen— geſetzten phyſiologiſch-chemiſchen Verhältniſſen ihrer Ernährung. Der geſammte Stoff— wechſel in beiden Reichen, im Großen und Ganzen betrachtet, iſt grundverſchieden. Die Pflanzen allein beſitzen das Vermögen, aus den einfachen chemiſchen Verbindungen der lebloſen anorganiſchen Natur, aus Waſſer, Kohlenſäure und Ammoniaf, jene verwickel— ten und höchſt zuſammengeſetzten, eiweißar— tigen Kohlenſtoff-Verbindungen herzuſtellen, welche als die wahren Träger aller eigent— lichen Lebens-Erſcheinungen gelten, vor allen das Protoplasma oder den Bildungs— ſtoff („Plasson“). Das können die Thiere nicht. Sie nehmen die Eiweißkörper, die ſie beſtändig verbrauchen und zerſetzen, direkt oder indirekt aus dem Pflanzenreiche auf. Zur Aufnahme und Verdauung ihrer Nahrung bedürfen ſie einer Magenhöhle und einer Mundöffnung; und das ſind die am mei— ſten charakteriſtiſchen Organe des Thierkörpers, welche dem Pflanzenorganismus ſtets fehlen. Mit dieſem fundamentalen Gegenſatze in der Ernährung hängen auch noch andere wichtige Unterſchiede beider Reiche zuſam— men. Die Pflanzen athmen für 3 Haeckel, Das Protiſtenreich. 19 lich Kohlenſäure ein und hauchen Sauerſtoff aus; die Thiere gerade umgekehrt. Die meiſten Pflanzen bilden maſſenhaft jenen eigenthümlichen grünen Farbſtoff, das Chlorophyll oder Blattgrün, dem unſere Erde den grünen Schmuck ihrer Vegeta— tionsdecke verdankt. Die meiſten Thiere hingegen bilden kein Chlorophyll. Ebenſo erzeugen die meiſten Pflanzen Maſſen von Stärkemehl (Amylum) und von Celluloſe; von jener wichtigen ſtickſtoffloſen Verbind— ung, welche die Grundlage des Holzes bildet. Die meiſten Thiere produciren kein Amylum und keine Celluloſe. Und ſo könnten wir noch eine ganze Anzahl anderer chemiſcher Verbindungen anführen, welche den Gegenſatz im Stoffwechſel des Thier- und Pflanzenreichs bezeichnen. Unzweifelhaft iſt dieſer Gegenſatz von der größten Bedeutung. Denn auf ihm beruht das beſtändige Gleichgewicht in der Oeconomie der organiſchen Natur. Was das eine der beiden großen Lebensreiche ausgiebt, das nimmt das andere wieder ein. Was das eine als unbrauchbar aus— ſcheidet, das verzehrt das andere. Aber ſo be— deutungsvoll auch dieſe Wechſelwirkung jeden— falls iſt, ſo wenig iſt der damit verknüpfte Ge— genſatz durchgreifend und zu einer beſtändigen Grenzmarke geeignet. Denn zahlreiche Aus- nahmen finden ſich in jeglicher Beziehung. Als ſolche wichtige Ausnahmen ſind vor allen die zahlreichen Schmarotzerpflanzen zu nennen: z. B. viele Orchideen, Oroban— chen, Lathraeen u. ſ. w. Dieſe Paraſiten, deren nahe Verwandtſchaft zu echten hochent— wickelten Pflanzen feſtſteht, haben durch Anpaſſung an ſchmarotzende Lebensweiſe ihren Stoffwechſel gänzlich geändert. Statt gleich anderen Pflanzen mühſam Eiweiß— körper zu produciren, finden ſie es beque— mer, gleich den Thieren dieſe wichtigſten Lebensſtoffe aus anderen Pflanzen aufzu⸗ nehmen. Damit ändert ſich aber ihre ge— ſammte Ernährung. Sie bilden kein Blatt⸗ grün mehr, ſie athmen Sauerſtoff ein und Kohlenſäure aus; ſie bilden Verbindungen, die ſonſt nur im Thierkörper erzeugt werden. Umgekehrt finden wir nun wieder im Thierreiche merkwürdige Schmarotzer, welche gleichfalls durch Anpaſſung an para ſitiſche Lebensweiſe ihre ganze Ernährung völlig geändert haben. Außer den ſchon angeführten Wunderſchnecken und Säckchen— krebſen ſind da beſonders jene Würmer (Bandwürmer, Kratzwürmer u. ſ. w.) her⸗ vorzuheben, welche im Innern anderer Thiere leben und deren Säfte durch ihre Haut aufſaugen. Mund und Magen ſind dadurch überflüſſig geworden und im Laufe der Jahrtauſende allmälig verloren gegan— gen. Die nächſten Verwandten dieſer darm— loſen Paraſiten beſitzen einen wohl ent— wickelten Mund und Darmkanal. Aber auch andere echte Thiere bieten in ihrem Stoffwechſel beträchtliche Abweichungen dar, und einige produciren Verbindungen, die ſonſt nur die Pflanzen erzeugen. So bilden ſich z. B. die Ascidien einen Mantel aus Celluloſe; die grünen Süßwaſſerpolypen und einige grüne Würmer erzeugen in ihrer Haut echtes Blattgrün oder Chlorophyll ꝛc. Angeſichts dieſer zahlreichen Ausnahmen kann uns denn auch der Stoffwechſel unſe— rer Protiſten keinen Aufſchluß über ihre wahre Natur geben. Wenn viele von ihnen Chlorophyll, Celluloſe und Stärkemehl er— zeugen, ſo beweiſt das ebenſowenig für ihre Pflanzen-Natur, als die Bildung von Kalt ſchalen bei vielen Anderen für ihre Thier— Natur Zeugniß ablegt. Vielmehr ſprechen auch die Verhältniſſe der Ernährung und des Stoffwechſels, im Großen und Ganzen betrachtet, für die neutrale Natur der 20 Haeckel, Das Protiſtenreich. Protiſten. Allerdings wiſſen wir von den phyſiologiſch-chemiſchen Vorgängen ihres Stoffwechſels im Ganzen noch ſehr wenig. Aber dies Wenige reicht doch hin, um uns auch hierin ganz eigenthümliche Verhält— niſſe erkennen zu laſſen. So nehmen z. B. die formloſen Amoeben und die formen— reichen Wurzelfüßler zwar ihre Nahrung ähnlich den Thieren auf, aber ohne Mund und Magen. Au jeder Stelle der nackten Körperoberfläche können die Nahrungsbiſſen in's Innere dringen. Auch die thierähnlichſten Protiſten, die Wimperthierchen, beſitzen keinen wahren Darm, keinen wahren Mund und Magen. Dieſer fehlt vielmehr allen Protiſten. Wir ſehen alſo, daß keine der verſchie— denen Lebenserſcheinungen genügt, um uns über das Verhältniß der Protiſten zu den Thieren und Pflanzen vollkommen aufzu— klären. Da nun auch die äußere Geſtalt— ung uns darüber keinerlei Aufſchluß giebt, ſo bleiben uns nur noch diejenigen Verhält— niſſe übrig, welche uns das Mikroſkop im feineren Bau und in der Entwickelungsge— ſchichte enthüllt. Ohne die genaueſte Kennt— niß dieſer Verhältniſſe können wir uns ja überhaupt kein vollſtändiges Bild von der Natur der Organismen machen. Alles nun, was wir bisher davon erkannt haben, findet ſeinen umfaſſenden Ausdruck in der berühmten Zelleutheorie, die ſeit vierzig Jahren das wichtigſte Fundament aller bio— logiſchen Forſchungen geworden iſt. Bekanntlich lehrt uns dieſe Zellentheo— rie, daß alle die tauſendfach verſchiedenen Formbeſtandtheile, die wir im Körper ſämmtlicher Thiere und Pflanzen mittelſt des Mikroſkopes unterſcheiden, lediglich ver— ſchiedene Abarten und Umbildungen eines einzigen Grundorganes, eines einzigen ur— ſprünglichen Form-Elementes ſind. Dieſes Form⸗Element iſt die Zelle, ein kleines, vn für das bloße Auge meist unſichtbares Körperchen, welches bis zu einem gewiſſen Grade ein ſelbſtſtändiges Leben führt. So unendlich mannigfaltig die Form der Zelle auch iſt, ſo iſt ſie doch immer aus zwei verſchiedenen Beſtandtheilen zuſammengeſetzt: aus einem Stückchen weicher, eiweißartiger Subſtanz, dem Bildungsſtoff oder Proto— plasma, und aus einem feſteren, davon umſchloſſenen Körperchen, dem Kern oder Nucleus. Die urſprüngliche Selbſtſtän— digkeit der Zelle iſt ſo vollkommen, daß man ſie mit Recht als den Elementar— Organismus, als das Individuum erſter Ordnung bezeichnet hat. Da die Zellen jede organiſche Form bilden, können wir ſie auch die „Bildnerinnen“ oder Pla— ſtiden nennen. Der ganze Körper der meiſten Thiere und Pflanzen iſt aus Milliar— den ſolcher Zellen zuſammengeſetzt: und was dieſes Thier, was dieſe Pflanze leiſtet, das iſt in Wahrheit die Leiſtung ihrer zahlloſen Zellen. Auch unſer eigener menſchlicher Leib beſteht aus Milliarden der— artiger Zellen, und alle unſere Lebensver— richtungen ſind das höchſt verwickelte Reſultat aus der Thätigkeit dieſer mikroſkopiſchen Weſen. Jedes Härchen beſteht aus vielen Millionen Zellen. Ein kleinſtes Blutströpf— chen von einem Cubik-Millimeter Rauminhalt umſchließt ſchon fünf Millionen Blutzellen. Für die richtige Auffaſſung der Zelleu— theorie, von der das ganze Verſtändniß des Lebens abhängt, iſt Nichts lehrreicher, als der oft angewendete Vergleich des viel— zelligen Organismus mit einem wohlorga— niſirten menſchlichen Staate. Die Exiſtenz jeder geordneten ſtaatlichen Organiſation, gleichviel ob wir Monarchie oder Republik betrachten, beruht bekanntlich darauf, daß die einzelnen Staatsbürger einen Theil ihrer perſönlichen Freiheit aufgeben, ſich den Ge— Haeckel, Das Protiſtenreich. 21 ſetzen des Staats unterwerfen und in die Arbeit des Lebens theilen. Ebenſo genießen auch die Zellen in jedem vielzelligen Or— ganismus zwar bis zu einem gewiſſen Grade ihr ſelbſtſtändiges Leben; aber ſie ſind doch zugleich den Geſetzen des Ganzen untergeordnet und durch die Arbeitstheilung von einander abhängig. Wir können dieſen politiſchen Vergleich auch noch weiter aus— dehnen, indem wir den Pflanzen-Orga— nismus als eine Zellen-Republik, den Thier-Organismus dagegen als eine Zellen-Monarchie betrachten. Denn die Pflanzenzellen ſind durchweg ſelbſtſtändiger, gleichartiger, unabhängiger von einander und vom Ganzen. Die Thierzellen hin— gegen ſind in Folge der vorgeſchrittenen Arbeitstheilung ungleichartiger, mehr von einander abhängig und zugleich in Folge der ſtärkeren Centraliſation der „Staatsidee“ in höherem Maße unterworfen. Nun lehrt uns aber ferner die Ent— wickelungsgeſchichte, daß jedes Thier und jede Pflanze im Beginne der individuellen Exiſtenz eine einzige einfache Zelle iſt. Das Ei, aus dem ſich jedes Thier, eine jede Pflanze entwickelt, iſt weiter nichts als eine Zelle. Das iſt eine der bedeutungsvollſten Thatſachen. Denn das ganze Problem der individuellen Entwickelung löſt ſich demnach in die Frage auf: Wie kann der vielzellige Organismus mit allen ſeinen verſchiedenen Organen aus einer einzigen Zelle entſtehen? Und die Antwort hierauf lautet höchſt ein— fach: „Durch wiederholte Theilung entſteht aus der einfachen Zelle eine Zell-Gemeinde oder Aſſociation, eine Geſellſchaft von zahl— reichen gleichartigen Zellen; dieſe werden durch Arbeitstheilung ungleichartig und ordnen ſich nach den Geſetzen der Vererbung und Anpaſſung zu einer centraliſirten Einheit. Wie verhalten ſich nun unſere kleinen Protiſten zu dieſen höchſt wichtigen That— ſachen und zu der darauf gegründeten Zel— 4 lentheorie? Iſt auch ihr winziger Leib aus vielen und ungleichartig entwickelten Zellen zuſammengeſetzt? Findet ſich auch in ihrem Organismus jene Arbeitstheilung der aſſo— ciirten Zellen, durch welche die verſchiedenen Gewebe und Or gane entſtehen? Das Mikroſkop antwortet uns: Nein! Biel mehr iſt bei den meiſten Protiſten der ganze Körper zeitlebens nur eine einzige Zelle. Aber auch bei jenen Protiſten, welche in entwickeltem Zuſtande vielzellig ſind, finden wir niemals wahre Gewebe und Organe, niemals jene eigenthümliche Arbeitstheilung und Anordnung der Zellen, welche den wahren Thierkörper und den wahren Pflanzenkörper auszeichnet. Denn hier beherrſcht immer die Geſammtform des Körpers die ganze Anordnung und Bild— ung der Zellen, ihre Verbindung zu den Geweben und Organen, aus denen er zu— ſammengeſetzt iſt. Bei den vielzelligen Pro— tiſten hingegen bewahren die geſellig ver— bundenen Zellen ſtets mehr oder weniger ihre Selbſtſtändigkeit; ſie bilden immer nur ſehr lockere Geſellſchaften, ſociale Ver— bände ohne Arbeitstheilung, die nicht als centraliſirte Staaten anerkannt werden können. Wenn wir vorher den Organismus des Thieres wie der Pflanze einem wohlorga— niſirten Culturſtaate verglichen, fo können wir dagegen die lockeren Zellenhaufen der vielzelligen Protiſten höchſtens mit den rohen Horden der uncultivirten Natur— völker vergleichen. Die meiſten Protiſten bringen es aber, wie geſagt, nicht einmal zur Bildung ſolcher Zellen-Horden, zu dieſer niedrigſten Stufe der Aſſociation; ſie ziehen es vor, als Einſiedler für ſich zu leben und ihre volle Selbſtändigkeit in jeder Beziehung zu bewahren. Die meiſten Protiſten bleiben zeitlebens einfache, iſolirte Zellen, ſie leben als Zellen-Ein— ſiedler. (Fortſetzung folgt.) — GM2— X \ 2 ein Zur Phyfiotonie Aengeborener, Von 3. Dreyer. der Lebensäußerungen unent— wickelter, wachſender Organe 40 und der Zuſammenwirkungen > I noch nicht ausgebildeter Organ— complexe iſt trotz der günſtigſten Gelegen— heiten zu Beobachtungen und Experimenten, trotz eines überreichen Arbeitsmaterials und I. der faſt ſicheren Ausſicht, weſentliche Fort- ſchritte in verhältnißmäßig kurzer Zeit an— zubahnen, doch nur von wenigen Forſchern bis jetzt in Angriff genommen worden. Das alltägliche Unbegreifliche wird bald ſelbſtverſtändlich, das heißt: man läßt es als unverſtändlich auf ſich beruhen. Man begnügt ſich z. B. mit dem intellectuellen Genuß, die zunehmende Geſchicklichkeit und Klugheit des Kindes zu conſtatiren, ohne wiſſenſchaftliche Verwerthung ſolcher Wahr— nehmungen. Ja, vor nicht langer Zeit konnte, wer ſich damit abgab, triviale Dinge, wie das Verhalten der Säuglinge und die Sprünge neugeborener Thiere zu beſchreiben, Gefahr laufen, etwas ganz an— deres als Dank und Anerkennung zu ernten. ie Entſtehung und Entfaltung | Man überſchätzte die traditionellen Specu— culationen und begnügte ſich mit Vermuth— ungen. Heute iſt es anders. Durch Darwin's großes Werk von 1859 wurde zwar bis jetzt mehr die Erforſchung der morpholo— giſchen Entwickelung, als die der keines— wegs mit ihr parallelen funktionellen Ent— wickelung gefördert. Aber wenn auch die ungemein fruchtbaren neuen Ideen in den phyſiologiſchen Schulen noch nicht haben Wurzel faſſen können, ſondern nur in einzelnen Fällen dort mit Hochachtung er— wähnt, aber ſelten in der Funktionenlehre wirk— lich angewendet wurden, ſo liegt dieſes Zu— rückbleiben der Lehre von der Entſtehung und Entwickelung der Funktionen hinter der Morphogeneſis jedenfalls viel mehr an der durch große Erfolge genährten Vor— liebe für andere Richtungen in der Phy— ſiologie, als an einer etwaigen Unanwend— barkeit jener Principien. Auch daß die Phyſiologie der Gegenwart nicht immer ihrer Aufgabe, die Funktionen zu unter— ſuchen, ſich bewußt bleibt, mag ſchuld ſein. . Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 23 In den meiſten neuen Lehrbüchern der Phyſiologie findet man langathmige rein phyſikaliſche, rein chemiſche, rein hiſtologiſche Auseinanderſetzungen, welche ſich viel beſſer in anderen Büchern ausnehmen, da ſie nicht in die Phyſiologie gehören. Dagegen vermißt man faſt überall Angaben über die Entwickelung und Vergleichung der Funktionen, obwohl beides recht eigentlich phyſiologiſch iſt. Die jetzige Generation zehrt noch an dem Vermächtniß des großen Johannes Müller. Aber der Bau, den er anlegte, iſt bisher nach dieſer Seite nicht weiter geführt worden. Lange ſchon wartet ſie auf die ſorgfältige Behandlung und Ausführung, welche die Elektrophyſiologie und die phy— ſiologiſche Optik und Akuſtik gefunden haben. Es iſt Zeit, das Material zu ſammeln. Wenig liegt zwar vor, doch dein Anfang iſt da. Und es lohnt wohl die Mühe, die ſpärlichen Angaben zuverläſſiger Beobachter zuſammenzufaſſen. Vorträgen ihn gern erörtert, und will im Folgenden in loſer Aneinanderreihung einige der Natur der Sache nach fragmentariſche Beobachtungen, zunächſt über die Sinnes- thätigkeit Neugeborener, mittheilen. Die anſpruchloſen Notizen ſollen ganz und gar nicht abſchließender Art ſein, ſon— dern vielmehr zur Mittheilung weiterer Thatſachen anregen. 1. Ueber das Hören Ueugeborener. Eine Prüfung des Hörvermögens neu— geborener Säugethiere hat mir die über— raſchende Thatſache ergeben, daß die Meer- ſchweinchen (Cavia cobaya) in dieſer Bezieh- ung die erſte Stelle einnehmen, während an die Seite zu ſtellen wüßte. Ich habe ſeit Jahren dieſem Gegen- ſtande meine Aufmerkſamkeit zugewendet, in das menſchliche Neugeborene in den erſten Stunden nach der Geburt taub iſt, wenig— ſtens nicht auf Schallreize reagirt. Sechs noch nicht einen halben Tag alte Meerſchweinchen gaben durch Beweg— ungen der Ohrmuſcheln unzweideutig zu erkennen, daß ſie alle Töne hören von 1000 bis 40000 Doppelſchwingungen in der Secunde, der höchſten bis jetzt erzielten Zahl. Denn es wurden jedesmal, wenn ich, den Thieren ſelbſt unſichtbar, in ge— räuſchloſer Umgebung eine meiner 40 kleinen Stimmgabeln jenes Intervalls anſtrich (vom dreigeſtrichenen e bis zum achtgeſtrichenen e), unmittelbar darauf die Ohrmuſcheln voll- kommen ſynchron bewegt, entweder nieder— gedrückt oder nur gefaltet, und bei ſtarken Tönen fuhren die Thierchen jedesmal zu— ſammen. Mit einer ſolchen maſchinen— mäßigen Sicherheit tritt die Reflexbewegung, die Contraktion der Ohrmuſcheln, ein, daß ich keine zweite bezüglich der Präciſion ihr Bei er⸗ wachſenen Meerſchweinchen iſt der Gehör— reflex gleichfalls bei allen Stimmgabeltönen von 1000 an bis zu den höchſten leicht zu conſtatiren, aber bisweilen, namentlich nach häufiger Wiederholung des Verſuchs, ſehr ſchwach. Das Verhalten gegen tiefere Töne iſt nicht ſo leicht zu ermitteln. Dagegen ließ ſich ſofort feſtſtellen, daß alle geſunden neugeborenen Meerſchweinchen am erſten Tage auf die mannigfaltigſten lauten und leiſen Geräuſche, z. B. Händeklatſchen, durch eine Zuckung des ganzen Körpers, manchmal ſogar anfangs durch einen Sprung und Flucht, ant⸗ worteten. Wie fein ihr Gehör für geringe In— tenſitäten iſt, beweiſt der folgende Ver— ſuch, den ich mit drei Thieren am erſten CCC 24 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. | Tage ihres Lebens anftellte. Sie wurden auf die Dielen des Zimmers geſetzt, jedes zwei Meter vom andern entfernt, und in die Mitte des ſo gebildeten Dreiecks ſetzte ich die Mutter, welche ſeit zwei Stunden von den Jungen entfernt geweſen war. Die letzteren liefen nun nach verſchiedenen Richtungen offenbar direktionslos ſogleich fort, als wenn die Mutter nicht dageweſen wäre. Sie begaben ſich in die Ecken des geräumigen Zimmers und blieben dort ſitzen. Wieder auf ihren früheren Platz geſetzt, wiederholten ſie immer wieder dieſes Manöver, zuerſt an die Wand, dann dieſer entlang laufend, bis ſie in eine Ecke gelangten. Das Laufen war in An— betracht des Alters von weniger als 15 Stunden ungemein ſchnell und ſicher. Auch ſonſt iſt die Erhaltung des Gleichgewichts bemerkenswerth, indem die Thierchen, wenn ich ſie fallen ließ oder hinwarf, immer auf ihre Füße zu ſtehen kamen. Alſo zum Balanciren brauchten ſie ihre Aufmerkſam— keit nicht. Aber ihre Mutter berückſichtig— ten ſie auch nach 12 Minuten nicht. Selbſt als ich ein Junges einen Meter vor die Alte ſetzte, lief es eiligſt fort, ein anderes dicht an der Mutter vorbei, das dritte ebenſo, bis alle drei wieder in den Ecken hockten. Was hierbei beſonders auffiel, war die Ruhe und ſcheinbare Apathie der Mutter. Dieſelbe behielt 13 Minuten lang lautlos die ihr ertheilte Poſition mit— ten im Zimmer und verrieth durch nichts, daß ſie die um ſie herum laufenden Jun— gen ſah oder ihr lautes Quieken hörte. Ich hielt das Thier für erſchrocken durch die fremdartige Umgebung. Nun ſind aber die Meerſchweinchen kurzſichtig. Ich ſetzte daher jetzt ein Junges der Mutter einen halben Meter vor das Geſicht. Es blieb einige Secunden ruhig ſitzen. Sowie es dann Anſtalten machte, abermals fortzu— laufen, hörte ich ein ſehr leiſes gluckſendes Geräuſch, die Stimme des bis dahin laut— loſen Mutterthieres. Es dauerte nur einen Augenblick, genügte aber dem Jungen, denn dieſes lief nun äußerſt ſchnell laut ſchreiend geradlinig auf die Mutter zu, die ſich über es ſtellte und eine vertheidigende und faſt drohende Stellung einzunehmen ſchien, ſo weit einem Meerſchweinchen ſolches zugetraut werden darf. Mit den beiden anderen Jungen verlief das Experiment genau eben ſo. Die Mutter befand ſich immer noch — im Ganzen 23 Minuten lang — auf dem— ſelben Platze. Ich trennte ſie jetzt von den Jungen und bemerkte, daß ſie in ihrem Behälter mit großem Eifer alles Heu und ſonſtige Futter durchwühlte, dabei fort— während den gluckſenden Laut ertönen laſſend. Offenbar ſuchte das Thier die Jungen und rief ſie zu ſich wie vorhin. Das vergeb— liche Suchen und Rufen ließ jedoch nach einigen Minuten nach und das Thier fing nun an zu freſſen. Die Jungen quiekten zwar gleichfalls in ihrem Behälter, aber durchaus nicht ſo, daß man hätte auf eine Beantwortung der Locklaute ſchließen können. Sie wurden von jetzt an außer Hörweite gebracht. Drei Tage dauerte dieſe völlige Trennung. Die Jungen erhielten Kuh— milch, fraßen und nagten aber ſchon vom erſten Tage an friſch geſchnittenes Gras, den einzelnen Halm geſchickt mit den Zähnen zerkleinernd und in den Mund ziehend. Anfangs des vierten Tages ſeit dem Ver— ſuche wiederholte ich ihn, jetzt aber mit an— derem Erfolge. Die Mutter blieb diesmal 29 Minuten mitten im Zimmer auf dem Boden ſitzen. Zwei von den Jungen, die ich einen. Meter vor ſie hinſetzte, liefen an ihr vorbei in ihre Ecken zurück, aber nach 9 Minuten fand eine Begegnung beider ſtatt, indem eines ſeine Ecke verließ und in der Richtung, aus der die Stimme des andern kam, quer durch das Zimmer auf dieſes zueilte. Als es ihm ſchreiend auf etwa einen halben Meter nahe gekommen war, lief letzteres ihm entgegen, und nun blieben die beiden Thierchen vereinigt, eines oft über das andere hinkriechend oder um es herumlaufend. Während deſſen ſetzte ich das dritte Junge einen Meter vor das Geſicht der Alten; es lief aber wieder fort. Als ich es einen halben Meter vor die Mutter ſetzte, machte dieſe eine Kopfbeweg— ung, ich hörte wieder den Locklaut ſehr deutlich, aber das Junge hörte und ſah die Mutter nicht. Es lief fort. Es hatte die Stimme der Mutter wahrſcheinlich ver— geſſen. Dagegen wurde bald ſeine Auf— merkſamkeit offenbar den Stimmen ſeiner zwei Geſchwiſter, mit denen es drei Tage zuſammen geweſen war, zugewendet. Elf Minuten nach der Vereinigung der letzteren kamen alle drei Junge, offenbar nur durch ihre Stimme geleitet, zuſammen, freilich nach langen Irrfahrten. Sie blieben gegen neun Minuten vereinigt. Da endlich ſetzt ſich die Mutter, deren Blick eine gewiſſe Spannung zu bekunden ſcheint, in Beweg— ung. Sie läuft mit großer Haſt, ſo ſchnell ein Meerſchweinchen laufen kann, nicht ge— nau in der Richtung, aus der die Stim— men ihrer Jungen ertönen, ſondern ſchnur— gerade gegen die Wand und dann ohne Aufenthalt dieſer entlang direkt auf die Jungen zu. Nun gluckſte fie, während fie ſich über dieſelben ſtellte, wie eine Henne ſich über die Küchlein ſtellt. Ich konnte aber die Jungen nicht mehr zum Saugen bringen. Sie hatten vielleicht auch dieſes ſchon ver— geſſen. Es war wenigſtens nicht mehr er— forderlich, ihnen künſtlich Nahrung beizu— bringen. Ganz ähnlich wie dieſe Thiere Kosmos, Band III. Heft 1. Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 25 gegenüber, die waren. Dieſe einfachen Beobachtungen zeigen, daß die Meerſchweinchen ſchon am erſten Tage ſehr ſcharf hören und dann ſchon durch das Gehör die Gegenwart der Mutter erkennen, dagegen nach 4 bis 5 Tagen noch nicht durch das Geſicht. In Bezug auf das Gehör iſt alſo das Meerſchweinchen bevorzugt. Denn es hört die höchſten Töne ſogleich, und ſchon am erſten Tage genügt ein ſchwacher Schallreiz, eine Reihe coordi— nirter Muskelbewegungen zu veranlaſſen, nämlich die geradlinige Fortbewegung zur Schallquelle (der Mutter), alſo wird auch die Richtung, aus der der Schall kommt, percipirt. Vielleicht hängt der erſtere Vor⸗ zug damit zuſammen, daß die Schnecke, welche die Endigungen der tonempfindenden Nervenfaſern enthält, bei den Cavien vier Windungen aufweiſt, während die Mehr- zahl der Säugethiere weniger beſitzt. Jeden— falls iſt bezüglich des Gehörs das neuge— borene Meerſchweinchen dem neugeborenen Menſchen ſehr erheblich überlegen. Profeſſor Kuß maul“) bemerkt, man könne vor den Ohren wachender neugebore— ner Menſchenkinder in den erſten Tagen die ſtärkſten disharmoniſchen Geräuſche machen, ohne daß ſie davon berührt würden. Zahl— reiche Verſuche, die er in dieſer Richtung anſtellte, hatten nur einen negativen Erfolg. Dieſe Angaben treffen jedoch nicht für alle neugeborenen Kinder zu. Viele ſind ſehr empfindlich gegen Schallreize, denn fein Aſſi— ſtent überzeugte ſich einige Male mit Be— ſtimmtheit, wie er ſelbſt mittheilt, daß ſchlafende Kinder — allerdings war das jüngſte ſchon drei Tage alt — im Bett zus ſammenfuhren, wenn er unter dem Bett bei ebenſo placirt worden ) Ueber das Seelenleben des neugebore— nen Menſchen. 1859. verhielten ſich drei andere ihrer Mutter | 26 tiefer Stille plötzlich ſtark in die Hände klaſchte. Außerdem hat Dr. Genzmer!) ſich da— von überzeugt, daß Kinder ſchon vom erſten oder höchſtens zweiten Lebenstage an für Gehörreize empfänglich ſind. Er ermittelte die größten Entfernungen, in welchen Säug— linge beim Anſchlagen einer kleinen Glocke, das immer gleichmäßig geſchah, mit den Augenlidern zuckten. Es ergab ſich, daß der Gehörſinn bei Neugeborenen ſehr un— gleich entwickelt iſt und innerhalb der erſten Wochen ſich verfeinert. Als durchſchnittliche Entfernung, in welcher das Anſchlagen der Glocke gehört wurde, ergaben ſich 8 bis 10 Zoll, doch ſchwankten die Zahlen zwi— ſchen 1 und 20. In einem Falle war die Diſtanz am erſten Tage 8, am ſechſten 18, am 24. Tage 24 Zoll; in einem an⸗ deren wären die Gehörreflexe am erſten Tage inconſtant, am achten Tage traten ſie bei 5, am 24. bei 11 Zoll Abſtand der Glocke ein. Man ſieht aus dieſen Zahlen, wie ungleich der Fortſchritt iſt. Da aber das Zucken mit den Augenlidern nicht ausſchließlich durch Schallreize bewirkt und durchaus nicht jeder Schallreiz mit Zucken der Augenlider beantwortet wird, jo iſt dieſe ganze, auf nur 30 Beobachtun⸗ gen an 15 Kindern beſchränkte Verſuchs— reihe unſicher. Wurde die Glocke bei gut hörenden Kindern ſehr nahe am Ohre leiſe ange— nach derſelben Seite; waren ſie mit Saugen keit. machte ſie unruhig. Ich habe gleichfalls bemerkt, daß Säuglinge durch ſtarke Schall— reize, gerade wie neugeborene Thiere, in ) Ueber die Sinneswahrnehmungen des neugeborenen Menſchen. Snaug.-Difjertation. Halle 1873. | \ — 8 ſchlagen, ſo wendeten ſie bisweilen den Kopf | Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. große Unruhe verſetzt werden, z. B. bewirkt der ſchrille Pfiff einer nahen Locomotive leicht anhaltende lebhafte Bewegungen und heftiges Schreien des vorher ganz ruhigen Kindes. Aber inſofern ſtimmen meine Beobadt- ungen an menſchlichen Neugeborenen mit denen Kußmaul's überein, als innerhalb der erſten Stunden nach der Geburt die— ſelben gegen Schallreize der verſchiedenſten Art ſich völlig indifferent verhalten. Weder | ſtarkes Händeklatſchen dicht am Ohr, noch Pfeifen, noch Anſchreien vermochte das ruhende Kind im geringſten aufzuregen oder das aufgeregte ſchreiende zu beruhigen, während es heftig ſchrie, nachdem ihm in das Geſicht geblaſen, oder der Schenkel ge— ſchlagen, oder die Schläfe mit dem Finger öfters berührt worden war. Mein Sohn, den ich gerade in der erſten Zeit mehrmals täglich mit Rückſicht auf das Gehör prüfte, gab mir in zweifelhafter Weiſe in der 21. Stunde und erſt in der erſten Hälfte des vierten Tages unzweifelhaft zu erken— nen, daß er mich hörte, indem er, wenn er ſchrie, ſofort aufhörte zu ſchreien, wenn ich pfiff, und wenn er ſatt und warm allem Anſchein nach behaglich dalag, beim Pfeifen die Augen mit einer plötzlichen Kopfbeweg⸗ ung aufſchlug. Da dieſer Erfolg, bei öfte— rer Wiederholung am vierten Tage jedes— mal eintrat, am dritten Tage jedoch nicht, ſo iſt nicht zu zweifeln, daß vermittelſt des Trommelfells in dieſem Falle am vierten beſchäftigt, ſo unterbrachen ſie ihre Thätig— | Sehr heftiges Anſchlagen der Glocke Tage der Schall empfunden wurde, vorher aber wahrſcheinlich nicht. Ob dieſe Taubheit völlig ausgetragener (3 und über 4 Kilo ſchwerer) Neugeborener durch die wegen Mangels an Luft in der Paukenhöhle geringere Beweglichkeit der Ge— hörknöchelchen bedingt oder auf das innere Ohr zu ſchieben iſt, muß noch entſchieden werden. Wenn eine vorſichtig auf den Kopf geſetzte ſchwingende Stimmgabel keine an— dere Reaktion, als eine ebenſo aufgeſetzte ruhende Stimmgabel beim Neugeborenen hervorruft, ſo würde man wohl auf eine Betheiligung des inneren Ohres bei der Taubheit der Neugeborenen ſchließen dür— fen. Solche Verſuche müſſen aber an vielen Individuen angeſtellt werden. Dagegen iſt gewiß, daß am vierten, und wahrſcheinlich, daß am zweiten und dritten Tage viele ge— ſunde Kinder Schallempfindungen haben, denn ſie werden dann öfters, wenn ſie ſchreien, durch akuſtiſche Reize, z. B. Pfeifen, beruhigt. Das eben ausgeſchlüpfte Hühnchen hört gut, da es bald nach dem Verlaſſen der Eiſchale dem Glucken der Henne folgt. Entſprechendes gilt für neugeborene Schweine. Spalding Douglas beobachtete nicht nur, daß kräftige Ferkel ſich erheben und der Zitze nachgehen, ſogleich oder innerhalb einer Minute nach ihrem Eintritte in die Welt, ſondern auch, daß ſie, in einem Alter von nur wenigen Minuten, wenn ſie in eine Entfernung von mehreren Fuß von dem Mutterthier gebracht werden, den Rückweg bald finden, offenbar durch das Grunzen deſſelben geleitet, welches ihr Quieken beantwortet. Die Sau erhob ſich in dem einen beobachteten Falle in weniger als anderthalb Stunden nach dem Wurf und ging fort, um zu freſſen; die Ferkel liefen umher und verſuchten allerlei Stoffe zu freſſen, folgten ihrer Mutter und ſaugten, während ſie ſtehend fraß. Eines der Jungen ward unmittelbar nach ſeiner Geburt in einen Sack gebracht und im Dunkeln gehalten, bis es ſieben Stunden alt war. Hierauf ward es außerhalb des Stalles zehn Fuß von der Stelle hinge— ſetzt, wo im Innern deſſelben die Sau Preyer, Zur Phyſiologie Neug eborener. 27 verborgen lag. Das Junge „erkannte“ bald das leiſe Grunzen ſeiner Mutter und bemühte ſich längs der Außenwand, über oder unter den unterſten Balken zu gelan- gen. Nach fünf Minuten glückte es ihm, unter demſelben ſich durchzuzwängen an einer der wenigen Stellen, wo dieſes mög— lich war. Eben durchgeſchlüpft, begab es ſich ohne Pauſe in den Stall zur Mutter und benahm ſich ſogleich wie die übrigen Ferkel. Daß bei dieſer Entdeckungsreiſe die durch das Grunzen bedingte Schall— empfindung dem erſt ſeit fünf Minuten dem Lichte ausgeſetzten Thiere für die ein- zuſchlagende Richtung beſtimmend war, iſt nicht zu bezweifeln. Aus den obigen Angaben folgt, daß viele neugeborene Thiere ſogleich oder am erſten Tage gut hören. In der That lehrt auch ſchon eine einfache Ueberlegung, daß der Fötus mehrfache Gelegenheit hat, ſchon vor der Geburt ſein Gehörorgan zu üben, freilich nur unter der Vorausſetzung, daß er nicht ununterbrochen bis zur Geburt feſt ſchläft, ſondern, wofür ſchon feine Be- wegungen ſprechen, empfinden kann. Eine häufige Erregung des Hörnerven iſt ſchon intra-uterin unvermeidlich; und daß auch leiſe ſchlafende Säuglinge auf akuſtiſche Reize reagiren, wurde ſchon oben mitgetheilt. Die intrasuterin wahrnehmbaren Geräuſche, um die es ſich handelt, ſind mannigfaltig und wechſelnd. Sie ſtammen theils von dem mütterlichen Körper, theils vom füta- len. Zu jenen gehören der Puls der Aorta, die fortgeleiteten Herztöne der Mutter, das Uteringeräuſch, ferner Darm- geräuſche durch Gasentwickelung und peri— ſtaltiſche Bewegungen, vielleicht auch Muskel— geräuſche. Zu dieſen ſind zu rechnen die fötalen Herztöne, das Nabelſchnurgeräuſch, die ſonderbaren abgebrochenen Geräuſche bei 28 | Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. den Bewegungen der Frucht (möglicher— weiſe auch ſchon Muskelgeräuſche und Plät— ſchern). Alſo Gelegenheit iſt reichlich ge— geben, auch wenn die Stimme der Mutter ungehört bleiben ſollte, wie der Schall außerhalb des mütterlichen Organismus. Es iſt aber möglich, daß die Frucht ſchon vor der Geburt die Stimme der Mutter hört, wie auch andere Schallgeräuſche, wenn dieſelben nur ſtark genug und nahe genug wirken. So gut man mit dem auf die äußere Haut gelegten Ohr oder mit dem Stethoſkop die Herztöne des Kindes vor der Geburt deſſelben hören kann, wird auch das Kind einen Schall an der äußeren Haut hören können, wenn er laut genug iſt. Was in der einen Richtung gehört wird, wird auch in der anderen Richtung gehört werden können. Im Waſſer hört man beſſer, was an der Oberfläche und am Boden, alſo einer Wand des Waſſer— reſervoirs, in dem man ſich befindet, ertönt, als in der Luft, was im Waſſer ertönt. Das nahezu reife, ungeborene, vom Frucht— waſſer umgebene Kind befindet ſich jeden— falls durchaus nicht unter ſehr ungünſtigen Umſtänden bezüglich der Hörbarkeit von Ge— räuſchen im mütterlichen Körper. Unter den Klängen und Geräuſchen, die es am häufigſten zu hören Gelegenheit hat, nimmt aber die Stimme der Mutter die erſte Stelle ein. Ich halte es für wahrſcheinlich, daß die erſtaunliche Anziehungskraft, welche bei ſehr verſchiedenen Thieren der Lockruf der Mut— ter für die Neugeborenen ſchon am erſten Tage hat, eben daher rührt, daß dieſer Laut ihnen etwas bekanntes iſt, indem ſie ihn ſchon vor der Geburt gehört haben können. Bei Meerſchweinchenmüttern we— nigſtens habe ich auch vor dem Werfen das Gluckſen und Schnurren oft gehört, welches die Jungen gleich am erſten Tage veranlaßt, ſich ſchleunigſt zu ihr hin zu be— geben, wenn ſie nicht zu lange von ihr ge— trennt worden waren. Es iſt auch mög— lich, daß durch Reſonanz die Stimme der Mutter verſtärkt wird, ſo daß die reifere Frucht ſie, auch wenn ſie leiſe iſt, hören kann. Denn obgleich die Bedingungen, unter welchen bezüglich der Schallleitung und Reſonanz der Fötus im Uterus ſich befindet, noch nicht näher analyſirt worden ſind, ſo kann man doch aus den vorliegen— den Experimenten, wie fie zuerſt Johan— nes Müller anſtellte, um über das Hören im Waſſer lebender Thiere Aufſchluß zu erhalten, ſchließen, daß für manche Schall— arten eine Verſtärkung durch Reſonanz im Uterus wohl ſtattfinden kann. Immerhin ſind die Bedingungen zur Erregung des Hörnerven erfüllt. Sogar eine ſubjektive Erregung deſſelben kann ſchon intra-uterin ſtattfinden durch den Blutſtrom und Spannungsänderungen der ſchnell wachſenden Gewebe. Aber ſolches durch mechaniſche Reizung veranlaßtes ſubjektives Ohrenbrauſen wäre von ſehr untergeordne— ter Bedeutung gegenüber den erörterten objektiven Schallreizen, wenn auch die Er— regbarkeit des Hörnerven vor der Geburt noch ſo groß iſt. Hiernach iſt die ſchon von Anderen aufgeworfene Frage zu be— jahen: Ob die Annahme berechtigt ſei, daß der Fötus einige intra-uterine Geräuſche hören könne. Daß ſämmtliche Vögel durch die Ei— ſchale hindurch vor dem Ausſchlüpfen vieles hören können, zumal die Stimme der Henne, iſt nicht zu bezweifeln, falls ſie nicht bis zum Aufbrechen ihres Gefängniſſes ohne Unterbrechung feſt ſchlafen. Bei allen derartigen Betrachtungen iſt die Frage, was beim Neugeborenen die Paukenhöhle erfüllt, nicht von weſentlichem 5 Belang. Denn auch wenn vom Trommel— fell aus, wie es für den Menſchen höchſt wahrſcheinlich iſt, keine Schallſchwingungen vermittelſt der Gehörknöchelchen und des ovalen Fenſters vor der Geburt auf das Labyrinthwaſſer übertragen werden ſollten, ſo iſt die Schallleitung durch die Kopftheile doch unbehindert. Ich habe mich ſelbſt davon überzeugt, daß man unter Waſſer das Aneinanderſchlagen zweier Steine auf dem Boden mit feſt zugehaltenen Ohren durchaus nicht ſchlechter hört, als mit offe— nen Ohren. Iſt aber der Kopf über Waſſer, ſo hört man die Steine nicht. Demnach wird der Fötus im amniotiſchen Waſſer genügend nahe und ſtarke Geräuſche im mütterlichen Körper, auch wenn das Trommelfell gar nicht ſchwingt, durch die Leitung ſeitens der Kopftheile wohl hören können. 2. Ueber das Sehen Weugeborener. Alle Säugethiere ſind vor der Geburt ohne Unterbrechung in einen dunkeln Raum eingeſchloſſen und höchſt wahrſcheinlich wer— den ihre Augen während der ganzen Zeit nicht einmal geöffnet. Bei ſehr vielen bleiben bekanntlich die Augen ſogar viele Tage nach der Geburt noch feſt geſchloſſen, z. B. bei Hunden, Katzen, Kaninchen, Mäu— ſen. Es iſt jedenfalls ſicher, daß die Säugethiere vor der Geburt durchaus keine Gelegenheit haben, irgend einen Gegenſtand durch den Geſichtsſinn wahrzunehmen. Sie können überhaupt nicht, ſelbſt wenn ſie im Uterus die Augen aufmachten, durch Licht⸗ ſtrahlen eine Erregung der Sehnerven er— fahren. Es muß alſo gleich nach der Ge— burt, wenn dieſelbe nicht in einem völlig dunkeln Raume ſtattfindet, das Kind wie die meiſten Säugethiere beim erſten Oeff- Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 29 nen des Auges durch eine ganz neue Em— pfindung überraſcht werden. Auch die blindgeborenen Säugethiere müſſen dieſe Veränderung ſpüren, falls durch das Augen— lid etwas Licht dringt, was vor der Ge— burt nicht geſchehen konnte. Für ſolche Vögel, die in offenen, dem Tageslicht aus— geſetzten Neſtern brüten, iſt es dagegen nicht ſicher, ob nicht das Junge ſchon kurz vor dem Sprengen der Eiſchale eine Lichtempfind— ung durch objektives Licht haben kann. Wenn nun auch durch dieſe Thatſachen feſtſteht, daß ein Sehen und eine Erregung des Sehnerven durch objektives Licht beim Säugethier erſt nach der Geburt ſtatt hat, ſo iſt doch damit keineswegs geſagt, daß bei ihm überhaupt alle und jede Lichtem— pfindung vor der Geburt fehlte. Denn es kann die Netzhaut auch durch Druck und Zerrungen, namentlich durch Augenbeweg— ungen, Aenderungen des intraocularen Druckes und plötzlich vermehrte oder ver— minderte Blutzufuhr in Thätigkeit gerathen. Die Lichtempfindungen, welche auf ſolche mechaniſche Reizungen folgen, ſind bei Er— wachſenen mannigfaltiger Art und haben verſchiedene Namen, wie z. B. das Drud- phosphen, welches durch Drücken des Augen— winkels mit dem Fingernagel bei geſchloſ— ſenem Auge entſteht, das Funkenſehen, das Lichtchaos. Nicht der mindeſte Grund iſt, vorhanden, weshalb der reifere Fötus mit ſeiner durch die lange Ruhe ungemein er— regbaren Netzhaut nicht dann und wann eine ſolche ſubjektive Lichtempfindung haben ſollte. Sein Geſichtsfeld iſt, wenn er nicht ſchläft, ſchwarz. Dieſe Schwärze ſelbſt iſt ſchon eine Empfindung, die durch eine geringe Erregung der Sehnervenfaſern bedingt iſt, und wechſelt von der tiefſten Finſterniß bis zu Grau. In dem ſchwarzen Felde können die ſubjektiven Lichterſcheinungen ſchon vor 30 der Geburt auftreten. Aber mag auch die— ſen Empfindungen der größte Spielraum gewährt fein, fie find gänzlich verſchieden von denen nach dem erſten Eindringen des Tageslichts in das Auge des eben Gebore- | nen und ſehr viel ſchwächer als dieſe. Darum iſt es jedoch keineswegs überflüſſig, auf ihre mögliche Exiſtenz hinzuweiſen, weil dadurch auch für dieſen Sinn eine Art Continuität vor und nach der Geburt dar— gethan wird. Bei allen ausgetragenen Kindern reagirt die Pupille ſchon in den erſten Stunden auf Licht. Sie verengt ſich ſtark bei An- näherung an die Lichtquelle, und erweitert ſich bei Abwendung von derſelben wie bei Erwachſenen. Dieſes conſtatirte Genzmer auch bei einem im 8. Fruchtmonat gebore— nen Kinde. Ich ſah auch bei Meerſchwein— chen am erſten Tage die dunkelbraune Iris, wenn Licht einfiel, ſich verbreitern, d. h. die Pupille verengte ſich bedeutend, und ſie erweiterte ſich ſogleich beim Beſchatten des Auges wieder. Die jungen Meer— ſchweinchen ſuchen ſchon am erſten Tage, ſich ſelbſt überlaſſen, dunkle Ecken zu er reichen. Helles Licht iſt ihnen offenbar un— angenehm. Kußmaul meint dagegen, ſchon zwei Monate vor dem gewöhnlichen Termin ge— borene Kinder ſuchten das Licht, und einen Tag nach der Geburt veranlaſſe ſchon bis— weilen mäßiges Licht ein Luſtgefühl. Er ſah wenigſtens in einem ſolchen Fall das Kind am zweiten Tage Abends in der Dämmerung den vom Fenſter abgewende— ten Kopf auch bei veränderter Lage wieder— holt dem Fenſter und Lichte zuwenden. Bei anderen Siebenmonatkindern wurde derartiges nicht wahrgenommen. | Genzmer beſtätigt dieſen Befund und . es könne in dem Suchen des Lichtes Licht in das Auge fiel. Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. der Anfang einer auf reflektoriſchem Wege zu Stande kommenden Fixation liegen. Wahrſcheinlicher iſt aber die Annahme, daß die mäßige Erregung der Netzhaut des Neu— geborenen allerdings ein Luſtgefühl bedingt, denn ich ſah ein Kind innerhalb der erſten fünf Minuten nach der Geburt, als ich es mit dem Geſicht gegen ein Fenſter im Zwielicht hielt, wiederholt die Augen öffnen und ſchließen, und zwar nicht beide Augen gleichzeitig und nicht beide gleich weit. Manchmal war die Lidſpalte 5 Millimeter breit. Hierbei ſchrie das Kind nicht. Gegen Ende des erſten Lebenstages hielt es beide Augen weit offen dem Dämmerlicht zuge— wendet und bewegte die Augen lebhaft mit einem Mienenſpiel, das ſehr wohl für den Ausdruck eines Luſtgefühls gelten konnte, denn es veränderte ſich plötzlich, als ich das Geſicht beſchattete. Auch operirte Blindgeborene (3. B. der von Everard Home)) freuen ſich über das erſte Licht. Durch ihre Neuheit feſſelt die Lichtempfindung, welche nicht blendet d. h. ſchmerzt, das Kind, ſo daß es ſich bewegt, wenn die Empfindung fortfällt. Die Erregbarkeit des Sehnerven muß unmittelbar nach der Geburt, alſo nach einer ſehr langen Ruhe, eine ganz außer- ordentliche fein. Schon daraus möchten, dieſes hervorgehen, daß Neugeborene im Tageslicht ihre Augen, wie ich oft wahr- nahm, zukneifen, und ſogar ſchon mehrere Tage alte, ſchlafende Kinder die Lider ſtark zuſammenkneifen, zuſammenfahren ) Philos. Transact. London, 1807. J. S. 87: Er freute ſich ungemein über das Sehen und fand es „ſo hübſch“, auch wenn kein Gegenſtand dicht vor ihm ſtand und nur Der Knabe empfand ein ſolches Vergnügen am Sehen (am Lichte), daß er den Verband ſogleich beſeitigte. Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. und erwachen, wenn man ein helles Lampenlicht dem Auge ſchnell nahe bringt. Hier genügt alſo das durch die Augen— lider fallende Licht von der Farbe des Blutes zur Reflexbewegung und zum Wecken, wenn das Licht geräuſchlos nahe kommt. Ferner werden manche Neugeborene durch plötzliche grelle Beleuchtung oder ſchnell wechſelndes blendendes Licht zu all— gemeiner Unruhe oder zum Schreien ge— bracht, wie Genzmer fand und ich be— ſtätigen kann. 0 Bei einer ſolchen Empfindlichkeit der Netzhaut iſt es nicht möglich, daß das Neugeborene in der allererſten Zeit irgend— welchen hellen Gegenſtand deutlich ſieht. Wenn der Erwachſene nach ſtundenlangem Aufenthalt im Dunkeln plötzlich in einen hellerleuchteten Raum oder in den Sonnen— ſchein gelangt, jo ſteht er geblendet da, er— kennt nichts deutlich, macht die Augen zu, getraut ſich nicht, ſie ſogleich wieder aufzu— machen und kann erſt nach öfteren Ver— ſuchen mit verkleinerter und verſchmälerter Lidſpalte blinzelnd Einzelnes deutlich ſehen. Ganz ähnlich das Neugeborene. Es wird geblendet vom Tageslicht, wie vom Kerzen— und Lampenlicht. Ihm iſt ſchon das durch die Lider bei geſchloſſener Lidſpalte ein— dringende Licht zu ſtark. Es kneift noch die Lider zuſammen, verträgt nur die Dämmerung ohne Unluſt und gewöhnt ſich erſt nach einigen Tagen an das diffuſe Tageslicht. Dann erſt kann überhaupt vom Beginn des Sehens die Rede ſein, welches allemal die Exiſtenz und die Unter— ſcheidung von Lichtempfindungen vorausſetzt. Daß übrigens die Augen beim Neu- geborenen ohne Rückſicht auf Licht geöffnet und geſchloſſen werden, läßt ſich verſchie— dentlich zeigen. Das oben erwähnte Zucken der Lider beim Hören des Glockenſchlages iſt ein Beweis dafür. Häufige Beobacht— ung der Säuglinge hat mich überzeugt, daß oftmals, wenn dieſelben angenehm erregt zu ſein ſcheinen, die Augen weit geöffnet werden, z. B. beim Saugen, beim Entleeren der Blaſe. Einmal konnte ich ſogar drei Minuten nach dem Austritt des Kopfes in der Geburt daſſelbe wahrnehmen. Das Kind ſchrie ſogleich, als der Kopf geboren war. Ich führte nun einen Finger in die Mundhöhle ein und drückte auf die Zunge. Sofort hörte alles Schreien auf, lebhafte Saugbewegun— gen begannen und der bis dahin hüchſt unzufriedene Geſichtsausdruck wurde plötz— lich umgewandelt. Das Kind ſchien jetzt etwas Angenehmes zu empfinden und da— bei — während des Saugens — wurden die Augen weit geöffnet, wie ich es bei älteren ſaugenden Kindern oft ſah. Beim Schreien werden die Lider dagegen zuſammengekniffen, wie ich bei mehreren Kindern ſchon am erſten Tage wahrnahm. Daß dieſes Oeffnen und Schließen der Augen bei den Gefühlen der Luſt und Un— luſt mit dem Sehen nichts zu thun hat, iſt klar. Bei ſchneller Annäherung der Hand an das offene Auge von vorn ohne Berühr— ung wird, wie ich oft feſtſtellte, von mehr— tägigen, ſogar achttägigen Säuglingen nie— mals das Auge geſchloſſen wie von Er— wachſenen. Berührte ich aber das Lid, die Bindehaut oder Hornhaut des Auges oder die Augenwimpern von Neugeborenen, ſo wurde jedesmal das Auge geſchloſſen bei Menſchen wie bei Thieren. Dieſe Reflex— bewegung läuft unabhängig vom Sehakt ab, ohne alle Betheiligung des Sehnerven, während die erſtere nur zu Stande kommt durch das Sehen der ſich nähernden Hand, Außerdem alſo mittelſt des Sehnerven. 32 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. erfordert fie extra-uterine Erfahrung. Denn an ſich iſt kein Grund da, bei ſchnellerer Annäherung eines Objekts eine Lidbeweg— ung auszuführen, bei langſamer nicht. Es muß erſt die Vorſtellung der Gefahr hin— zutreten. Dieſe fehlt aber natürlich dem neugeborenen Menſchen Erwachſenen iſt es die Vorſtellung, daß die Hand das Auge berühren könnte, welche bei ſchneller Annäherung den Lidſchluß zur Folge hat. Es iſt übrigens bemerkens— werth, daß der reflektoriſche Lidſchluß nach Berührung des Auges bei neugeborenen Menſchen und Thieren nicht ſo ſchnell und vollſtändig eintritt, wie bei Erwachſenen. Der Reflexbogen vom Nervus trigeminus auf den N. oculomotorius iſt alſo vor der Geburt nicht ſo widerſtandsfrei wie der vom Sehnerven auf den N. oculomotorius, welcher ſich durch die Pupillenenge im Lichte kundgiebt. Man erkennt an dieſem Unterſchied ſehr deutlich den Unterſchied ererbter Reflexaktionen von erworbenen Reflexaktionen. Die Augen bewegungen ſind in den erſten Tagen völlig ungeordnet. Ich habe, wie viele andere, conſtatirt, daß in den erſten Tagen der Blick nicht der bewegten Kerze folgt, und die Angabe Darwin's “), der zu Folge das Kerzenlicht nicht vor dem neunten Tage angeſtarrt wurde, iſt öfter beſtätigt gefunden worden. Es war gerade am neunten Tage, als mein Kind die Kerzenflamme in einem Meter Entfern- ung aushielt. Man muß aber hierbei un— terſcheiden die Anſtarrung des unbewegten Lichtes oder eines ruhenden hellen Gegen— ſtandes und die Verfolgung eines hin- und herbewegten Lichtes oder langſam ſchwingen— den glänzenden Objekts mit dem Blick. Zum erſten Anſtarren bedarf es keiner ) Kosmos, I. S. 367 flgde. gänzlich. Beim Kopf- und Augenbewegungen, da man nur das helle Objekt in paſſendem Abſtande vom offenen Auge in die Blicklinie zu bringen hat. Der ſtarre Ausdruck des Auges und das Aufhören der Bewegungen oder des Schreiens verrathen dann die Lichtempfindung. Die Perception jenes Ab— ſtandes, d. h. die Kenntniß der dritten Raumdimenſion, iſt aber vor dem neunten Tage beim Menſchen noch nicht ausgebildet und nach Jahren noch ſehr unvollkommen, denn kleine Kinder greifen nach der ihrem Arm unerreichbaren Lichtflamme, nach weit entfernten Gegenſtänden. Das erſte An— ſtarren eines hellen Gegenſtandes hört auf, wenn derſelbe auch nur langſam bewegt wird. Erſt jeher ſpät — bei Darwin's Kind nach 7½ Monaten noch nicht ſicher — wird das langſam geſchwungene Objekt mit dem Blicke verfolgt. Doch ſah ich ein Kind von 23 Tagen ſehr correkt das Licht verfolgen, welches ich um es herum bewegte. Sein Blick blieb dabei auf mich gerichtet und es wurden ſymmetriſche Augen— bewegungen gemacht. Hierzu iſt freilich eine Beherrſchung der Augenmuskeln erfor— derlich, die nur durch häufige Uebung nach der Geburt von dem Kinde erworben wird. Daſſelbe gilt für die Accommo— dation. Hier iſt jedoch der Reflexvor— gang einfacher. Denn eine Annäherung des Lichtes bei unbewegten Augen bewirkt Convergenz der Blicklinien bei Kindern von zwei bis ſechs Wochen, auch Schielen, und dieſe Convergenzſtellung ſcheint mit einer Anſpann— ung des Ciliarmuskels verbunden zu ſein, wie Genzmer durch Beobachtung des Linſen— bildchens ermittelte. Er betrachtete ein Auge, während das andere abwechſelnd beſchattet und grell beleuchtet wurde, und ſchließt, daß ein vorgebildeter Zuſammenhang zwi— ſchen Convergenzſtellung und Accommoda— Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 33 tionsſpannung beſteht. In der That iſt | gen wird. Am eheſten ſcheint der Säug— dieſe Vermuthung höchſt wahrſcheinlich. ling das Geſicht ſeiner Mutter oder Amme Denn daß der Reflexbogen vom Sehnerven deutlich zu erkennen, indem dieſes am öfte— auf den Nervus oculomotorius ſchon vor | ften ſich auf feiner Netzhaut abbildet und der Geburt fertig präexiſtirt, iſt durch die ihr zugleich fo nahe iſt, daß es am häufig— oben erwähnte Verengerung der Pupille bei ſten in deutlicher Sehweite zu liegen kom— Beleuchtung des Auges unmittelbar nad men wird. Hierdurch wird alſo der Unter— der Geburt bewieſen. Nun iſt aber der ſchied des verwaſchenen Netzhautbildes (ferner zuletzt genannte Nerv, durch deſſen Erreg- und zu naher Objekte) von ſcharfen Netz— ung die Pupille ſich verengt, zugleich der | hautbildern dem Kinde aufgedrängt. Es Accommodationsnerv, welcher den Ciliar- müſſen die Zerſtreuungskreiſe ſich weniger muskel beim Sehen naher Gegenſtände an- geltend machen, wenn das Mäßighelle in ſpannt. Es begreift ſich alſo, daß beim einem gewiſſen geringen Abſtande vom Auge Annähern eines hellen Objekts an das ſich befindet; in allen anderen Abſtänden Auge die Accomodationsmaſchinerie in Thä- treten fie hervor. tigkeit geräth, und zwar in dieſem Falle Bezüglich des zweiten Punktes iſt ge⸗ zum erſten Male. Ferner wird durch den- wiß, daß in den erſten Tagen oder Wochen, ſelben Nerv, der vier von den ſechs Mus- auch wenn einmal die Zerſtreuungsbilder keln des Auges verſorgt, die Drehung gänzlich fehlen ſollten, doch die Geſtalt des beider Augen nach innen, d. h. die Con- Objektes nicht deutlich geſehen werden kann, vergenzſtellung, herbeigeführt; alſo Pupillen- ſondern nur das Helle deutlich empfunden verengerung, Accommodationsanſtrengung wird. Alle Erfahrungen an blindgeborenen und Convergenz der Blicklinien treten zu- Menſchen, welche nach Jahren noch operirt gleich ein, wenn dem Säugling ein Licht wurden, ſprechen dafür. Und wenn auch genähert wird, ohne daß die geringſte | das Sehenlernen Solcher ein anderes als Willkür oder Abſicht darin erblickt werden das Sehenlernen normaler Säuglinge iſt, dürfte. weil durch jahrelange Ruhe der centralen Durch das Zuſammentreffen dieſer drei [Sehſinnorgane eine theils langſamere, theils Proceſſe, von denen nur die Pupillenver- ſchnellere funktionelle Ausbildung derſelben engerung nicht unmittelbar gefühlt wird, wahrſcheinlich wird, ſo iſt doch gar kein mit dem Auftreten der Empfindung des Grund vorhanden, einen durchgreifenden Hellen wird jedenfalls das Sehenlernen weſentlichen Unterſchied beider Entwickelun— eingeleitet. Aber weder find gleich anfangs gen des Sehakts zu ſtatuiren, wenn die die Bedingungen für das Zuſtandekommen Operation noch im Kindesalter ausgeführt eines ſcharfen Netzhautbildes der Flamme wird. In beiden Fällen werden unter den gegeben, noch würde, wenn daſſelbe ent- unzähligen Netzhautbildern diejenigen mitt— ſtände, ſogleich die Flamme deutlich geſehen lerer Helligkeit und diejenigen, deren Zer— werden können. Denn bezüglich des erſte- ſtreuungskreiſe ein Minimum ausmachen, ren Punktes iſt einleuchtend, daß nur ſelten vor allen anderen bevorzugt werden müſſen. die Flamme der Kerze (oder ein beliebiges Denn die großen Helligkeiten bewirken Un— anderes helles Objekt) gerade in die deut- luſt, wie jede zu ſtarke Nervenerregung, liche Sehweite des kindlichen Auges gelan- und die Dunkelheit bedingt immer eine Kosmos, Band UI. Heft 1. 5 34 ſchwächere Nervenerregung, als das Mäßig⸗ helle. Von den Bildern mittlerer Licht⸗ ſtärke wird aber dasjenige, welches ſcharf iſt, darum vor allen anderen weil es, abgeſehen von dem begrenzt beachtet, Luſtgefühl, ſich von allen anderen unter⸗ ſcheidet leben durch ſcharfe Conturen), die Orientirung beſſer zu Stande kommen läßt und ſich beſſer wieder erkennen läßt. Alſo müſſen in der Concurrenz aller Netzhaut⸗ bilder die helleren und ſchärferen ſich den Kindern am erſten und nachhaltigſten ein⸗ prägen, und es müſſen daher die anderen vernachläſſigt werden. Nun iſt es aber weit gefehlt, wenn man das erſte Anftar- | ren einer Kerzenflamme ſchon ein Fixiren nennt, wie es gemeiniglich geſchieht. Fixiren heißt willkürlich einen leuchtenden Punkt auf der Stelle des deutlichſten Sehens, dem gelben Fleck, deutlich zur Abbildung bringen. Das Kind, welches zum erſten Male die Kerzenflamme anſtarrt, hat aber keine Willkür, und bei ihm iſt daher ein Fixiren mit Abſicht nicht möglich. Viel⸗ mehr hält es das Auge, nur durch die neue Empfindung des Lichtes gefeſſelt, in der Richtung der ſchon in ſeiner Blicklinie befindlichen Flamme. Wie lange es dauert, bevor ein abſichtliches Fixiren ſtatt⸗ findet, zeigt die Thatſache, daß erſt nach einigen Wochen der Blick dem bewegten Lichte folgt, während das Anſtarren des vor das Auge gehaltenen Lichtes ſchon am neunten Tage eintritt. Hiernach ſind die Angaben Genzmers zu berichtigen, welcher meint, ein wahres Minute fand es die Zitze. In beiden Fällen Fixiren, eine Einſtellung des gelben Flecks, könne ſchon in den erſten Lebenstagen ein⸗ Die einzige Beobachtung die er zu treten. Gunſten dieſer Behauptung anſtellte, iſt dieſe: Schüttelte er einen Bund blanker Schlüſſel etwa 15 Zoll vor den Augen Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. der Kinder, deren jüngſtes zwei Tage alt war, ſo trat „ein deutliches Fixiren mit parallelen Sehaxen“ ein und die Kinder folgten durch Drehungen des Kopfes allen Bewegungen des beſtändig geſchüttelten Schlüſſelbundes. Offenbar handelt es ſich hierbei um eine Luſtempfindung durch das Geräuſch der aneinandergeſtoßenen Schlüſſel. Das Anſtarren derſelben mit parallelen Sehaxen iſt eine Begleiterſcheinung (S. 42), ein Ausdruck der Luſt, und etwas ganz anderes, als eine von dem Beobachter an⸗ genommene Einſtellung des gelben Flecks. Die Drehungen des Kopfes wurden, we nigſtens bei dem zweitägigen Kinde, ſchwer⸗ lich durch Aenderungen des Netzhautbildes bedingt, denn ſie traten bei Bewegungen | | | | | | | 1 | des nicht geſchüttelten, alſo geräuſchloſen Schlüſſelbundes nicht ein, alſo iſt es wahrſcheinlich, daß das Kind ſich nach der Schallquelle umwendet, wie oben nach der Glocke (S. 37). Viele neugeborene Thiere haben freilich ſchon in den erſten Lebensſtunden die Fähig⸗ keit, nicht nur den Kopf, ſondern den gan⸗ zen Körper nach einem Geſichtseindruck in Bewegung zu ſetzen, z. B. die jungen Schweine. Spalding verband zwei eben geborenen Ferkeln die Augen. Das eine wurde ſogleich zur Mutter gebracht: es fand bald die Zitzen und begann zu ſaugen. Sechs Stunden ſpäter wurde das andere in einer kleinen Entfernung von der Sau hingeſetzt. Es erreichte dieſelbe in einer halben Minute nach einem etwas unſtäten Umhergehen. Nach einer weiteren halben muß alſo der Geruch und das Getaſt, in letzterem wahrſcheinlich das Gehör, für die Richtung der Bewegung maßgebend ge⸗ weſen ſein. Es iſt aber nicht ausdrücklich angegeben, ob die Sau grunzte. Am Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. | folgenden Tage zeigte es ſich, daß das eine der beiden Ferkel, die bei der Mutter ge | laſſen worden waren, die Bandage nicht mehr hatte. Das andere war vollkommen unvermögend zu ſehen, ging umher und ſtieß gegen Gegenſtände an. Am Nach— mittag wurde die Binde entfernt. Es lief nun herum, als wenn es vorher hätte ſehen können und plötzlich ſein Sehver— mögen verloren hätte. Nach zehn Mi— nuten war es aber kaum von einem Ferkel zu unterſcheiden, das ohne Un— terbrechung ſich des Augengebrauchs er— freute. Auf einen Stuhl geſetzt, ſah es, daß die Höhe Ueberlegung (considering) er⸗ forderte, kniete nieder und ſprang hinab. Zwanzig Minuten nach der Entſchleierung wurde dieſes Thier mit einem anderen zu- ſammen 20 Fuß weit vom Stall hingeſetzt. Beide Ferkel erreichten ihre Mutter nach 5 Minuten und in demſelben Augenblick. Wenn im letzterwähnten Verſuche Geruch und Gehör nicht ausgeſchloſſen ſind und die Nachahmung und Nachfolge des un— unterbrochen ſehfähigen Thieres ſeitens des anderen, erſt ſeit 20 Minuten ſehfähigen wahrſcheinlich wird, ſo kann doch die über⸗ aus merkwürdige Thatſache des Hinab— ſpringens vom Stuhle, nach vorherigem Niederknieen, nur auf einem Sehakt be— ruhen. Der Proceß der Diſtanzenſchätzung in dem Gehirn des noch nicht zweitägigen, bis vor 10 Minuten nicht ſehenden Thieres vor dem Hinabſpringen mag noch ſo un— vollkommen ſein, er beweiſt, daß ſchon ſo früh die dritte Raumdimenſion durch das Auge, alſo als Reſultat von Netzhautein⸗ drücken, in der Wahrnehmung zum Be— wußtſein kommt, andernfalls hätte das Thier nicht vor dem Sprung niederknieen können. Da es nun bis dahin keine Ge— ſichtswahrnehmungen gehabt hatte und in . — 35 den 10 Minuten keine, die es zum Sprin⸗ gen veranlaßten, ſo muß die Verbindung von Netzhauterregung, Diſtanzenſchätzung, Muskelbewegung zum Knieen und darauf⸗ folgendem Springen ererbt ſein. Denn eine ſolche Erfindungsgabe, die Initiative zu jo vernünftigem und zweckmäßigem Ver— fahren aus Ueberlegung wird Niemand einem ſo jungen, bis vor 10 Minuten ge— blendet geweſenen Thiere zuſchreiben. Es ſpringt richtig, weil ſeine Vorfahren es unzählige Male auch gethan haben, ohne lange zu warten oder gar zu überlegen. Ein menſchlicher Säugling gleichen Alters erfreut fi dieſer Aſſociation von Netzhaut⸗ erregung und coordinirter Muskelbewegung nicht. Er fällt, ſich unzweckmäßig bewegend, vom Stuhl, wie ein blindes Thier. Das junge wie das alte, Meerſchweinchen da⸗ gegen ſpringt nicht und fällt nicht, ſondern es läßt ſich fallen, wie ich öfters conſtatirte. Beim Menſchen ſind ſo viel mehr Aſſociationen, der Möglichkeit nach, als beim Thiere im Augenblick der Geburt vorhan- den, daß alle nur erſt durch längeres Wachs thum nach der Geburt ſich ausbilden können. Vor der Geburt ſchon ſo complicirte Aſſo— ciationsmechanismen auszubilden, wie die eben erörterten, geht darum nicht an, weil zu viele andere Mechanismen mit ihnen concurriren. Potentiell ſind alle da, aber es hängt von der Erfahrung, d. h. der Reizung von außen, dem mehr oder weni— ger oft wiederholten Betreten der einzelnen Aſſociationsbahnen im Cerebroſpinalſyſtem ab, welche ſchließlich am leichteſten fungiren. Mit anderen Worten, das Kind lernt viel mehr als das Thier. Der Vorzug des Thieres, welches ſeine Netzhauterreg— ungen ſogleich zu ſeinem eigenen Vortheil durch Springen verwendet, iſt alſo nur ein ſcheinbarer, denn es fehlt ihm die An— 36 lage, zahlreiche andere nützliche Verwerth— ungen zu erlernen. Weil eben dieſe An— lage nicht da war, konnte bei ihm ſchon vor der Geburt die geringe Anzahl von Aſſociationen ſich viel vollkommener ausbil- den. Dieſe vollkommenere einfeitige Ausbild- ung iſt das Weſen des Inſtinktes, deſſen Gegentheil, die Ueberlegung, nur durch die Möglichkeit vieler verſchiedenartiger Beant— wortungen deſſelben Sinneseindrucks gege— ben iſt. Bezüglich des Farbenſehens neu— geborener Kinder iſt zwar uubeſtreitbar, daß ein grünes Licht von ihnen anders als ein rothes oder blaues oder gelbes empfun— den wird, aber es macht kleinen Kindern, auch mehrjährigen, wie ich ſelbſt conſtatiren konnte und auch Darwin fand, große Schwierigkeiten, die Farben richtig zu be— nennen. Zwei aufgeweckte Knaben, bei denen mir dies auffiel, hatten trotz der größten Ausdauer ihrer Mutter im Unter- richten, als ſie ſchon faſt alle Gegenſtände ihrer Umgebung kannten, nach mehreren Monaten erſt einige Sicherheit im Benen- nen der Farben erworben; aber erſt noch ſpäter wurde die anfängliche Befürchtung, ſie möchten farbenblind fein, zunichte. Es verhält ſich hiermit ähnlich, wie mit Tönen. Einen Ton richtig zu benennen, lernen viele Kinder erſt nach ſehr langer Uebung, manche niemals. Aus dieſem Mangel ſchließen wollen, die Kinder empfänden die Farben nicht verſchieden, wäre ebenſo falſch, wie es falſch iſt, aus den unvoll— kommenen Benennungen der Farben und Töne in vielen alten und neuen Sprachen auf Farbenblindheit oder einen Mangel des Gehörorgans zu ſchließen. Solche Blindgeborene, welche zu einer Zeit, in der ſie ſchon die Benennung der getaſteten Gegenſtände gelernt haben und Preyer, Zur Phyſiologie Neugebor ener. | fließend ſprechen können, durch Operationen ſehend werden, unterſcheiden die Farben ſogleich und benennen ſie in ſehr kurzer Zeit richtig, wie ſich aus den Berichten über dieſelben deutlich ergiebt. Beſonders beachtenswerth — wegen der Analogie mit dem Erlernen der Tonbenennungen — iſt in dieſer Hinſicht die Angabe von Franz!) über ſeinen 17 jährigen Patienten: Er er⸗ kannte die verſchiedenen Farben mit Aus- nahme von Gelb und Grün, welche er häufig verwechſelte, aber, wenn ſie ihm gleichzeitig vorgelegt wurden, unterſchied. Er konnte jede einzelne Farbe richtig be— zeichnen, wenn ihm mehrere zugleich gezeigt wurden. So habe ich auch bei einem ge— ſunden Knaben bemerkt, daß er, als er ſchon jede Farbe einer bunten Tiſchdecke richtig angab, doch beim Vorlegen einer einzelnen Farbe häufig in der Benennung irrte. So werden auch die Töne der Ton— leiter e d e oder f g a richtig benannt, wenn der einzelne Ton noch nicht jedesmal richtig benannt wird. Schließlich ſei noch ein hierher gehöriger Fall mitgetheilt, welcher zeigt, wie eigenthümlich bisweilen Kinder bei Bezeichnung ihrer Geſichts- und Ton⸗ Empfindungen verfahren. Ein vier⸗ jähriger Knabe fragte ſeinen Vater, ob er auch ſo pfeifen könne, wie der Buchfink im Garten, und als der Vater das Gezwitſcher nachzuahmen verſuchte, ſagte das Kind: „Nein der Fink pfeift viel rother als du, du pfeifſt brauner“. Dieſe Aeußerung zeigt, daß der vierjährige Sohn Unterſchiede der Tonhöhe wohl empfinden, nicht aber ſprach— lich ausdrücken konnte. Denn er wußte noch nicht, was hoch und tief bei Tönen bedeute. Um ſeiner Empfindung, daß der Vogel höher als der Vater pfiff, Ausdruck London 1841, ) Philosoph. Transact. I. S. 59. Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener.. zu geben, übertrug er die Empfindungs— unterſcheidung vom Farbengebiet auf das Tongebiet. Für ihn war Roth höher als Braun und — wie ſich bei einem andern ähnlichen Anlaß ergab — Gelb höher als Roth. Der Unterſchied der Tonhöhe und der der Farbenwärme (Farbenhöhe) waren ihm ähnlich im Gefühl. Dabei ſcheint mir beachtenswerth, daß die Maler ſich ebenſo ausdrücken — Gelb iſt hoch gegen Roth, Roth hoch gegen Braun — und daß die Gefühle der Wärme und Kälte bei Farben mit der Tiefe und Höhe derſelben zuſam— mengehen. Sehr intereſſant wäre es, mehr folder Irrthümer kleiner Kinder bei der ſprachlichen Bezeichnung ihrer Empfindungen zu regiſtriren. Der Sprachſchatz des Kindes iſt ſo klein, daß es genöthigt wird, mehrere Em— pfindungen und Gefühle mit demſelben Ausdruck zu benennen. Es wird dabei das Aehnliche zuſammenfaſſen. Bezüglich des Zeitpunktes, in dem die Farben deutlich unterſchieden und zugleich die Formen und Entfernungen erkannt werden, fehlt es noch an Angaben. verſchieden empfunden werden, ehe ihre Begrenzungen und die Gegenſtände durch den Geſichtsſinn wahrzunehmen ſind, be— weiſen die an Blindgeborenen, welche durch Operationen ſehend werden, gemachten Be— obachtungen. Auch ſpricht dafür eine merk— würdige Aeußerung des unglücklichen Kaspar Hauſer, welche Anſelm von Feuerbach mittheilt?): Im Jahre 1828 follte Kaspar Hauſer bald nach ſeiner Ankunft in Nürn⸗ ) In feiner Schrift: Kaspar Hauſer. Ansbach 1832. S. 77 flgde. Daß aber die Farben der Außenwelt lebhaft 37 berg im Veſtner Thurm nach dem Fenſter ſehen, von dem aus eine weite farbenreiche Sommerlandſchaft zu überſehen war. Kaspar Hauſer wandte ſich ab. Ihm war der Anblick widerlich. Später aber, als er längſt ſprechen gelernt hatte, gab er befragt die Erkärung: „Wenn ich nach dem Fenſter blickte, ſah es mir immer fo aus, als wenn ein Laden ganz nahe vor meinen Augen aufgerichtet ſei und auf dieſem La⸗ den habe ein Tüncher ſeine verſchiedenen Pinſel mit Weiß, Blau, Grün, Gelb, Roth alle bunt durcheinander ausgeſpritzt. Ein⸗ zelne Dinge darauf, wie ich jetzt die Dinge ſehe, konnte ich nicht erkennen und unter— ſcheiden. Das war dann gar abſcheulich anzuſehen“.“) Dieſer Ausſpruch beſtätigt durchaus eine merkwürdige divinatoriſche, 12 Jahre vor dem Auftreten des Kaspar Hauſer von Schopenhauer niedergeſchrie— bene Aeußerung. Dieſer ſagte nämlich“): „Könnte Jemand, der vor einer ſchönen weiten Ausſicht ſteht, auf einen Augenblick alles Verſtandes beraubt werden, ſo würde ihm von der ganzen Ausſicht nichts übrig bleiben, als die Empfindung einer ſehr mannigfaltigen Affektion ſeiner Retina, welche gleichſam der rohe Stoff iſt, aus welchem vorhin ſein Verſtand jene Anſchau— ung ſchuf.“ Das neugeborene Kind hat noch keinen Verſtand und kann darum, wie der große Philoſoph ſehr treffend anführte, anfangs noch nicht ſehen, ſondern nur das Licht empfinden. ) Näheres in meiner Schrift: Die fünf Sinne des Menſchen. Leipzig 1870. S. 69. **) „Ueber das Sehen und die Farben“. Leipzig 1816. S. 14. (Fortſetzung folgt.) 8 10 „Jie lebhaften Farben, die ele— 7 ganten Formen und der Ge— a 982 ſang der Vögel üben eine . 923 mächtige Anziehung aus, die uns faſt unwillkürlich zur Beobachtung und zum Studium dieſer Thiere anſpornt, während deren Sitten und unverkennbare Intelligenz uns die größte Bewunderung einflößen. Wer hat nicht über den Fleiß, die Ausdauer und die Kunſt, mit der die Vögel ihre Neſter bauen, geſtaunt? Brauche ich doch nur die der Beutelmeiſe, des Ciſtenſängers, des Webers ꝛc. zu nennen. Und doch iſt es in allen dieſen Bauten die Nothwendigkeit, die den Vogel zum Neſtbau treibt; und die angewandte Sorgfalt behält nur im Auge, die Wohnung der Kinder bequemer, ſanfter, gegen den Regen und ſonſtige Witterungsungelegenheiten ſowie gegen Feinde geſchützter anzulegen und herzu— richten. Die Neſter ſind alſo für die Vögel Nothwendigkeits⸗ Gegenſtände, und 9 Aus den „Annuali del Museo Civico di Storia naturale di Genova“. Vol. IX. Fasc. 3, 4. 1877. Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. Von D. HBeccari.“) wir ſehen in ihnen mehr das Nützliche als das Schöne vertreten, weshalb man auch ſelten ein Neſt mit irgend einer Art Verzierung antrifft. Es iſt jedoch eine ganze Gruppe Vögel bekannt, die ſich nicht mehr mit einem einfachen Neſte begnügen, um dort die Eier niederzulegen und die Jungen aufzuziehen oder ſie in einigen Fällen als Wohnung zu benutzen: bei ihnen iſt der Luxus, die Feinheit und der gute Geſchmack ſo ſehr entwickelt, daß ſie ſich beſondere Geſellſchaftslocale errichten, die ſie dann nach ihrer Phantaſie verſchönern und ſchmücken und in denen ſie ſich dem Ver— gnügen und aller Art von Tollheiten hin— geben. Dieſe beflügelten Lüſtlinge gehören der Familie der Paradiesvögel an. Es ſind die Arten der Gattungen Chlamydodera, Ptilonorhynchus, Sericulus und Ambly- die ausſchließlich Auſtralien und Neu-Guinea bewohnen. Die Lauben, Gallerien oder Hütten der Chlamydodera ſind bereits wohl bekannt. Dieſe Bauten erſchienen anfangs ſo wunderbar, daß man nicht glauben wollte, es ſeien Thierwerke; man hielt ſie für Wiegen, die die Ein— ornis, Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 39 gebornen ihren Säuglingen bereiteten. Man ſah bald ein, daß es auch keine Neſter ſein konnten, welche die Chlamydodera vielmehr auf gewöhnliche Art zwiſchen den Zweigen machen und die in Form und Größe denen unſeres gewöhnlichen Hähers gleichen. Die Chlamydodera nuchalis iſt ein etwas größerer Vogel als ein Turdus viscivorus, von brauner, aber unauffälliger Farbe, jedoch mit einem ſchönen Roſa-Fleck auf dem Nacken verſehen. Ihre Laube hat die Form eines Ganges, der von auf den Boden geſtützten Reiſerchen gebildet wird, die oben ſo zuſammenſtoßen, daß ſie das Dach einer Art primitiver Hütte bilden. Rings umher iſt der Boden mit Muſcheln überſäet. Man hat beobachtet, wie der Vogel hin- und herflatterte, eine Muſchel mit dem Schnabel aufpickte und durch die Gallerie einmal auf die eine, einmal auf die andere Seite trug. Die Gallerien der Chlamydodera ma- eulata find auch aus kleinem Reiſigholz erbaut, jedoch außerdem noch mit hohen Kräutern ſchön bekleidet, die ſich mit den äußerſten Enden faſt berühren; die Deco— rationen ſind reich und beſtehen aus zwei— klappigen Muſcheln, Schädeln kleiner Säuge— thiere und anderen von der Sonne ge— bleichten Knochen. Nach den Erzählungen einiger Beobachter müſſen die Muſcheln oft von weither geholt werden, da die nächſten Flüſſe, aus denen ſie herrühren könnten, ſich in beträchtlicher Entfernung vom Bau befinden. Von dieſer Species ſollen viele Individuen ſich in derſelben Gallerie ver— einen, um den Weibchen den Hof zu machen; es ſcheint auch, daß dieſelbe Gallerie während vieler Jahre benutzt wird. Die Ch. guttata erbaut eine grad- linige Gallerie, in der, auf dem Boden umhergeſtreut, Meeresfrüchte gefunden wur- | | | den, die vom Vogel mit großer Geduld und Anſtrengung vom fernen Ufer herbei— gerollt werden mußten. Die Gallerie der Ch. eerviniventris iſt von der der anderen Species verſchie— den, weil ihre Wände ſehr dicht und faſt ſenkrecht ſind, ſo daß der innere Gang, der von ſchönen Hälmchen gebildet wird, die auf einer dichten Reiſig-Plattform liegen, ſehr eng iſt. Der Bau iſt 1 Meter 20 Centimeter lang und faſt ebenſo breit, hier und da liegen Beeren, Schneckenhäuſer oder Muſcheln zerſtreut als Zierrath. Mit nicht weniger Kunſt conſtruiren die Ptilonorhynchus ihre Hütten. Der Satin bower bird (P. violaceus) baut“ Gallerien wie die Chlamydodera und de- corirt ſie mit den grellfarbigſten Gegen— ſtänden, die er auftreiben kann, ſchönen Vogelfedern, gebleichten Knochen, Erde und Muſcheln c. Manche Federn find oft zwiſchen den Halmen angebracht, während andere Verzierungen vor dem Eingang zur Hütte umhergeſtreut liegen. Die Neigung dieſes Vogels, jeden auffallenden Gegen— ſtand zu entführen, iſt ſo groß, daß die Eingebornen ſtets ſeine Gallerien durch— ſuchen, wenn ſie zufällig etwas verloren haben. Man hat ſogar Steinäxte und Lumpen von blauer Baumwolle darin ge— funden, die ſie wahrſcheinlich von den Lager— plätzen der Wilden entwendet hatten. Es iſt bemerkenswerth, wie der Inſtinkt, glänzende Gegenſtände zu ſammeln, einigen Mitgliedern der Rabenfamilie gemein iſt, welche bekanntlich unzweifelhafte Analogien mit der Familie der Paradiesvögel aufweiſen; ſollte dieſe Gewohnheit vielleicht der Fall eines ererbten „moraliſchen Charakters“ ſein und alte Spuren eines gemeinſamen Urſprungs andeuten? Die Conſtruktionen der Chlamydodera 7 40 Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. und Ptilonorhynchus ſind als die wunder⸗ barſten Werke der Vogelarchitektur betrachtet worden. Doch was find dieſelben im Ber- gleich zu denen der Amblyornis inornata, deren Beſchreibung ich jetzt verſuchen will. Ich habe abſichtlich zuerſt die intereſſante⸗ ſten Fälle dieſer Art erwähnt, damit man um ſo mehr das Genie dieſes wunderbaren Geſchöpfes ſchätzen könne, das unter ſo be— ſcheidenem Kleide den entwickeltſten Verſtand der Vogelklaſſe birgt. Und wenn man in Betracht zieht, daß die Familie, der die Am- blyornis ſowie die anderen Architekten⸗ Vögel angehören, die der Paradiesvögel iſt, welche gleichzeitig die höchſte Eleganz von körperlichen Ornamenten und die höchſte Entwickelung der Intelligenz aufweiſen, ſo darf man wohl mit Recht dieſelben als die vollkommenſten Vertreter ihrer Klaſſe thinſtellen. Bekanntlich bauen die mit ſchönen Ye dern geſchmückten Paradiesvögel keine Hüt⸗ en; es iſt dies die Prärogative der mit beſcheideneren Farben verſehenen Familien— ſicht ſich auszuzeichnen und den Weibchen zu gefallen, eine andere Richtung genommen hätte, als der ihrer ſchön ausgeſtatteten Verwandten. Der Amblyornis inornata, den ich im Italieniſchen „Giardiniere* (Gärtner) nennen möchte, iſt von der Größe einer Miſteldroſſel; der ſpecifiſche Name charak- teriſirt treffend ſein unſcheinbares Kleid; er iſt allen Schmuckes beraubt und ſogar wurden, empfing ich jedoch erſt von den Jägern des Herrn Bruijn. Sie hatten verſucht, ein ganzes Bauwerk nach Ternate zu bringen, aber das Unternehmen ſcheiterte an den großen Dimenſionen der Hütte und den Schwierigkeiten der Straße. Jedoch hatte ich das Glück, ſelbſt ein ſolches Werk an dem entlegenen Orte, wo es errichtet worden war, zu beobachten. Es war am 20. Juni 1875; ſeit fünf Tagen befand ich mich auf dem Wege von Andai nach Ha- tam auf den Arfak-Bergen. Früh am Morgen dieſes Tages aufgebrochen, befan— den wir uns noch gegen 1 Uhr Nachmit⸗ tags auf dem mühſamen Wege, der uns binnen Kurzem nach den Hütten von Ha⸗ tam bringen ſollte. Ein hoher und ſchöner Urwald umgab uns; kaum ein Sonnen⸗ ſtrahl durchdrang das Dickicht. Der Boden war ziemlich frei von kleinem Geſtrüpp; ein ausgetretener Fußpfad beſagte, daß wir nicht mehr weit von den Wohnungen ſein konnten; wir hatten ſogar eine kleine Quelle paſſirt, wo man oft Waſſer zu holen ſchien; glieder, als ob deren Verſtand, in der Ab- vielleicht von der ganzen Familie der an Farben ärmſte Vogel; er iſt mehr oder weniger dunkelbraun und die beiden Ge⸗ ſchlechter in Farbe kaum zu unterſcheiden. Vor mehreren Jahren war er von den Jägern von Roſenberg's gefunden worden. Die erſten Nachrichten über ſeine Bauten, die mir als Neſter beſchrieben eine orangegelbe, knotenartige Balanophora ſproß hier und da wie Pilze aus dem Boden; elegante Palmen und ſonſtige fremd— artige Pflanzen erregten meine Aufmerkſamkeit. Doch wurde dieſelbe immer wieder abge— lenkt durch den Geſang und das Geſchrei von Vögeln, die mir neu und unbekannt waren, wie dies Jedem geſchieht, der zum erſten Male eine unerforſchte Gegend be— ſucht. Jede Blattbewegung ließ uns eine Entdeckung vermuthen, und es war dies nicht bloße Vermuthung, denn faſt jeder Flintenſchuß verurſachte uns eine Ueber— raſchung, und die angetroffenen Vögel waren nicht nur meiſtens von denen der Ebene verſchieden, ſondern oft ganz neu für uns. Ich hatte gerade ein kleines Beutelthier getödtet, das einen nackten und geraden Da Baumſtamm wie ein Eichhörnchen hinauf— kletterte, als ich mich beim Umwenden ganz in der Nähe des Fußpfades dem ſchönſten Werke gegenüber befand, das je vom Thier- verſtande erbaut wurde. Es Hütte inmitten einer mit Blumen geſchmück— ten kleinen Aue. Das Ganze en minia- ture. Ich erkannte ſofort die berühmten Neſter, die mir von den Jägern Bruijn's beſchrieben worden, doch vermuthete ich ſo— gleich, daß ſie einen andern Zweck haben müßten, obgleich mir damals die Bauten der Chlamydodera unbekannt waren. Ich begnügte mich damit, für den Augenblick und verbot meinen Jägern auf das Strengſte, daſſelbe zu zerſtören. Bei den Papuas war dieſe Anempfehlung augenſcheinlich ganz überflüſſig, denn obgleich das Neſt oder beſſer die Hütte ſich auf deren Wege be | fand, ſo war dieſelbe doch unverſehrt und dies bewies, wie friedlich ihre Bewohner dort gelebt hatten, bis ihr böſer Stern uns dorthin führte, um ſie in ihrer ruhigen und romantiſchen Wohnung zu ſtören. Wir konnten uns auf einer Höhe von ca. halben Stunde ſteilen Anſtieges waren wir an unſerem Ziele. In den erſten Tagen verhinderte mich meine vielfältige Beſchäf- tigung zur Hütte der Amblyornis zurück— zukehren, doch wurden inzwiſchen noch andere von meinen Jägern entdeckt, welche chitekten ſelbſt verſchafften. Wie leid that es mir, ſo thätige und intelligente Thier— chen des Lebens zu berauben, und kaum hatte ich eine hinreichende Anzahl Exem— plare geſammelt, ſo empfahl ich neuerdings meinen Jägern, dieſe Vögel und ihre Wohn ungen unbehelligt zu laſſen. Die zuerſt von mir geſehene Hütte war Kosmos, Band III. Heft 1. 4800 Fuß befinden; in einer Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. I} | 41 meiner Wohnung am nächſten; ich nahm alſo eines Morgens Bleiſtift, Farben und Ge— wehr — das mir ein Arfak nachtrug — und begab mich zur Reſidenz der Ambly- war eine ornis. Unterwegs ſchoß ich mir zum Früh— ſtück ein Paar fetter Täuber (Carpophaga chalconota Salvad.), die auf einem hohen Baume Früchte aßen, wo ſie aber unſicht— bar geweſen wären, hätte nicht ihre Be— wegung von einem Zweige zum andern und das Fallen der Früchte ihre Gegenwart verrathen. Am Orte der Hütte angelangt, ſchickte ich mich ſofort zur Zeichnung an. Die Hausherren waren nicht gegenwärtig, jenes Wunderwerk oberflächlich zu beſchauen auch habe ich nie Zeit und Gelegenheit ge— habt, ſie in ihrem Heim zu beobachten; meine Jäger haben ſie jedoch oft beim Ein— und Ausgehen aus der Hütte angetroffen. Um die Thiere zu ſchießen, wartete man dieſelben gewöhnlich vor der Hütte ab, ſo daß gar kein Zweifel obliegt, daß ſie die wirklichen Erbauer derſelben ſind. Ich kann nicht verſichern, ob eine gegebene Hütte von einem oder mehreren Paaren, oder mehr von Männchen als Weibchen, oder umge— kehrt beſucht wird, ob blos das Männchen dieſelbe conſtruirt, oder ob auch das Weib⸗ chen dazu beiträgt, oder aber ob ſie das Werk vieler Individuen iſt. Ich glaube jedoch, daß ſie für länger als eine Saiſon dient, denn ſie wird beſtändig wieder ge— reinigt. Der Amblyornis wählt eine flache Stelle und conſtruirt um eine kleine Staude, mir auch in Kürze eine Anzahl jener Ar- die von der Größe eines Rohres iſt, mit feinem Erdmoos eine Art Kegel vom Um— fang einer Spanne an der Baſis. Dieſer wird der Centralpfeiler und auf ſeine Spitze ſtützt ſich das ganze Gebäude; die Höhe des Pfeilers iſt daher ein wenig geringer als die der ganzen Hütte, die einen halben Meter erreicht. Im Kreiſe werden dann, von der Spitze des Centralpfeilers „aus— 42 Beccari, Die Hütten ımd*Gärten von Amblyornis inornata. ſtrahlend“, in geneigter Stellung methodiſch Halme und Reiſer gelegt, die mit dem einen Ende die Spitze des Pfeilers, mit dem andern den Boden berühren, und ſo im Umkreis bis auf die Vorder— | jeite, jo daß dadurch die Form einer | ſehr regelmäßigen coniſchen Hütte entfteht. Viele andere Stäbchen werden noch hinein- geflochten, um das Dach feſt und undurch— dringlich zu machen; wie man ſieht, bleibt zwiſchen dem Centralpfeiler und der Be— rührungslinie der Dachbedeckung mit dem Boden eine hufeiſenförmige Gallerie. Die ganze Conſtruction mißt ca. einen Meter im Umfange. Die Stäbchen waren faſt alle feine und gerade Stengel einer Orchideen-Art (Dendrobium), die in dichten Büſcheln auf den bemooſten Zweigen großer Bäume wächſt, dünn wie Strohhalme und ca. einen halben Meter lang; ſie trugen noch kleine ſchmale, faſt friſche Blätter, was wohl ver- muthen läßt, daß dieſe Pflanze abſichtlich gewählt wurde, um zu verhindern, daß das Haus bald verfaule und zuſammen— falle; denn dieſe Stengelchen bleiben noch lange friſch, wie es bei den meiſten epiphy- tiſchen Orchideen in den Tropen der Fall iſt. Der verfeinerte Sinn des „Gärtners“ beſchränkt ſich nicht auf die bloße Con— ſtruktion einer Hütte. Es iſt ſonderbar, wie der Geſchmack am Schönen im Ambly- ornis und in vielen anderen Vögeln dem menſchlichen entſpricht, inſofern das, was ihnen, auch uns gefällt. Die Leidenſchaft für Blumen und Gärten zeugt von gutem Geſchmack und verfeinertem Sinn, und es | hat mich nicht wenig gewundert, zu ſehen, wie die Arfaks mit dem Vorbilde des Amblyornis ſo wenig Aeſthetik in ihren Wohnungen entwickeln, deren Umgebungen | ſolche Anhäufungen von Unrath find, daß man ſich ihnen nicht nähern kann. | hafteſten Farben. die Wenn man dieſe Menſchen mit Lehm und Aſche beſchmutzt ſieht (denn ſie ſchlafen mitten im Feuerherd) ‚ Jo muß man fie unwillkürlich mit dem Schweine, dem fie mehr denn jedem anderen Thiere nahe kommen, vergleichen. Die Gärten des A. inornata ſind nun folgendermaßen angelegt: Vor der Hütte befindet ſich ein freier Platz, der einen be— deutend größeren Raum als die Hütte ſelbſt einnimmt. Es iſt eine Art kleiner Wieſe von weichem Mooſe, alles herbei— getragen und rein und frei gehalten von Gräſern, Steinen und anderen Gegen— ſtänden, die die Harmonie ſtören könnten. Auf dieſem reizenden grünen Teppich liegen Blumen und Früchte von lebhaften Farben ſo regelmäßig umhergeſtreut, daß ſie in der That ein elegantes Gärtchen dar— ſtellen. Die meiſten Schmuckgegenſtände ſcheinen beim Eingang zur Hütte zuſammengelegt zu werden; wahrſcheinlich bringt dorthin das Männchen ſeine täglichen Ueberraſchun— gen bei ſeinen Liebesbeſuchen. Die dort hingelegten Zierrathe ſind von der ver— ſchiedenſten Art, doch ſtets von den leb— Bei dem von mir beob— achteten Hüttchen lagen am Eingange einige Garcinia-Früchte, ſo groß wie kleine Aepfel und von violetter Nüance, andere von Gardenia, die ebenfalls ſehr groß und unregelmäßig in vier oder fünf Klappen geöffnet waren, ſo daß ſie das Fleiſch und ſchön ſafrangelben Samen zeigten. Ferner manche Trauben von kleinen roſen— rothen Früchten, die einen gelben, halb aus der Schale hervorſchauenden Samen enthalten. Die roſigen Blüthen einer ſchö— nen Art Vaceinium bildeten einen der haupt— ſächlichſten Ziergegenſtände, welche jedenfalls auch mit der Saiſon gewechſelt werden. — Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. Nicht nur Blumen und Früchte ſucht aber der Amblyornis; auch Schwämme und ſchön gefärbte Inſekten hat man in den Gärten oder im Innern der Hütte geſehen. Wenn dieſe Schmuckſachen lange Zeit das. | gelegen und ihre Friſche verloren haben, werden dieſelben hinausgeſchafft und durch neue erſetzt. Die Geſchicklichkeit des Am— blyornis beſteht nicht allein in der An— lage ſeines Luſtortes. Er iſt auch ein kluger Vogel und un— ter andern hat man Liebesluſt getrieben, ſich vereinen, um den Weibchen den Hof zu machen und ſich deren Gunſt zu erringen. Die Hütten und Gärten des Ambly- ornis würden mir eine vortreffliche Ge— legenheit bieten, die Behauptung Walla— ce's, die Neſter der Vögel ſeien nicht, wie vielfach angenommen wird, Produkt des Inſtinktes ſondern des Verſtandes — zu bekräftigen, doch er— laubt mir meine Zeit ihm den Namen Bu- b 1 N jetzt nicht die Be⸗ rum Guru gegeben, 2 ſprechung eines ſo d. h. Meiſtervogel, N , wichtigen Gegenſtan— weil er den Geſang S 5 2 des. Dagegen kann und den Schrei vie— ur =. oO } 0 — ich eine Frage von ler anderer Vögel 88 E41 . zZ kaum geringerem In⸗ nachahmt und ſeine — F I tereſſe nicht gänzlich Noten bei jeder Ge— 000 > übergehen: mit wel- legenheit ändert. Auf E 20 E chen Mitteln ein dieſe Weiſe brachte er * 5 Vogel dahin gelangt meine Jäger oft zur IT a, “ 7 ſei, eine Wohnung zu Verzweiflung, die, EN ; , erbauen, die, was von einem unbekann⸗ ' Beer. 8 Geſchick und künſt⸗ ten Schrei angelockt, Grundriß der Riederlaffung BES leriſchen Geſchmack eine neue Entdeckung zu machen hofften, dann aber nur den Amblyornis vorfan— den. Ferner nennt man ihn auch Tu— kan Kobon oder Gärtner, welchen Namen ich auch im Italieniſchen adoptirt habe. Aus dem Geſagten ſcheint mir ohne allen Zweifel zu folgen, daß die Hütten und Gärten des Amblyornis, wie die Gallerien oder „bowers“ der Chlamydo- dera und Ptilonorhynchus Zuſammen— kunfts⸗ und Vergnügungsorte find, in denen zu gewiſſen Zeiten die Männchen, von BT. A. Centralpfeiler. oder Gallerie. Mooswieſe. Gardenia-Frucht. Amblyornis inornata. B. Mooskegel. D. Reiſigbaſis. E. Künſtliche F. Garcinia-Frucht. H. Vaceinium-Blumen. K. Weggeworfene verwelkte Blumen. anbelangt, alle Con— ſtruktionen der an— deren übertrifft. Wallace iſt der Meinung, ein Vogel könne ſich ein Neſt nie genau wie die Mehrzahl der Vertreter ſeiner Species bauen, wenn er nicht zu— vor die Art und Weiſe von ſeinen Eltern oder anderen erlernt hätte; weshalb ein ſeit der Geburt in Gefangenſchaft aufge— zogener Vogel ſein Neſt nicht ganz ſo wie ſeine freien Collegen conſtruiren würde. Um nun zu erklären, wie die Vögel von einem höchſt einfachen Obdach zur Eier— legung dahin gekommen ſind, vollkommnere C. Gang G. Offene 8 44 Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata, Neſter und Wohnungen zu errichten, nimmt man an, die Erbauer der beſſeren oder ſchöneren Neſter hätten einigen Vortheil über die weniger geſchickten Architekten ge— noſſen, in Folge deſſen die erſteren ſich beſſer erhalten und vermehrt hätten. Dieſe Thatſachen werden durch die na— türliche und geſchlechtliche Selektion erklärt. In Folge der erſteren erhalten ſich diejenigen Individuen, die am beſten den unzähligen, zerſtörenden Kräften, mit denen ſie im be— ſtändigen Kampfe ſind, Widerſtand zu leiſten vermögen. Kraft der zweiten haben die ſtär— keren, ſchöneren und intelligenteren Indi— viduen in Folge des ihnen von den Weib— chen bewilligten Vorzugs eine zahlreichere Nachkommenſchaft. Im Specialfalle des Amblyornis ſollen dieſe Vögel durch die natürliche Selektion zur Erbauung ihrer Hütten und Gärten gelangt ſein, weil Männchen vorzogen, welche die Hütten am beſten conſtruirten und ausſtatteten, während die mit weniger Kunſtgeſchmack begabten, der Weibchen verluſtig, ohne Nachkommen geblieben wären. Und auf dieſe Weiſe hätte ein Vogel die Gaben der Intelligenz und des Geiſtes genugſam zu ſchätzen ge— wußt, um ſie der eigenen Formeneleganz und der perſönlichen Eitelkeit vorzuziehen. Der Amblyornis und die Chlamydo- dera gehören eben zur Gruppe der Paradies— vögel, in denen ohne Zweifel das Gefühl des Schönen ganz bedeutend entwickelt iſt. Ich bin nun der Anſicht (die vielleicht ſehr gewagt ſcheinen mag), daß nicht ſo ſehr die geſchlechtliche Selection, als der lebhafte Wunſch, ein ſchönes Ideal zu er— reichen, die Urſache geweſen iſt, die zur Hervorbringung jener großen Varietät von Formen und Farben in den Federn führte, welche dieſe Vögel ſo ſehr auszeichnen, und die Weibchen ſolche daß daſſelbe Gefühl durch Einſchlagung einer andern Richtung, anſtatt ſich auf die perſön— liche Ausſchmückung zu concentriren, im Amblyornis den Geſchmack zur Verſchöner— ung der eigenen Wohnungen entwickelt hat. Welche Theorie man aber auch anneh— men mag, ſo viel ſteht feſt, daß der Wunſch, den Weibchen zu gefallen, ganz bedeutend zur Erreichung jenes hohen Grades von Schönheit bei den Paradiesvögeln mitge— wirkt hat, doch kann ich ſchwer begreifen, wie ſo kleine Aenderungen im Geſieder, die ſich nach Darwin langſam und zufällig bei den Männchen bildeten, von den Weib— chen gewürdigt werden konnten und daß ſich infolge dieſer kleinen Vortheile blos die ſchöneren Individuen conſervirt hätten. Ich will hier keine formellen Einwände gegen die geſchlechtliche Zuchtwahl machen, doch kann ich nicht umhin, an deren abſo— luter Wichtigkeit zu zweifeln und eine mäch— tigere Urſache in dem eignen Willen des Individuums, in deſſen nervöſen Eindrücken, in deſſen äſthetiſchem Sinne zu erblicken. Iſt es Zufall, der die Paradisea apo- da am Morgen beim Aufgang der Sonne und Abends beim Untergang auf die höch— ſten Wipfel des Waldes führt, von wo ſie dieſe Phänomene in ihrer ganzen Herrlichkeit genießen kann? Ich glaube es nicht, auch ſcheint es mir nicht, daß ſie dies thun, um den Weibchen den Hof zu machen, denn dieſe ſcheinen gar nicht zugegen zu ſein, und können die von Anderen dafür gehaltenen Individuen ebenſo gut junge Männchen ſein. Auch in Gefangenſchaft führen die Paradiesvögel ihre Tourniere aus, ſelbſt wenn keine Weibchen gegenwärtig ſind, man möchte faſt ſagen, ſie wären in die Sonne verliebt. Die in jenen romantiſchen Stunden ſichtbaren Tinten ſind ihr ſchönes Ideal, und wenn auch ſonderbar, ſo iſt es doch — Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. 45 Thatſache, daß alle Farben des Mantels der Paradisea apoda gerade jene find, die in ſolchen Momenten beobachtet werden und zwar in den von ihnen bewohnten Ländern und in der Saiſon, in der allein ſie das ſchöne Hochzeitskleid tragen. Die Morgen— und Abend-Dämmerung zeigt alsdann faſt jeden Tag die lebhafteſten überraſchenden Farbenſpiele. Die fernen und nahen Wol— ken längs des Horizontes ſind in lange Streifen gelegt und werden von den letzten Strahlen der Schon verſchwundenen Sonne vergoldet; Schäfchen oder purpurne geballte Wölkchen erheben ſich darüber, und laſſen in Zwi— ſchenräumen die Bläue des Himmels durch— blicken. Der von der hereinbrechenden Nacht bedeckte Wald erſcheint im tiefſten Grün. Alle dieſe Farben ſind mit wunderbarer Treue auf dem prachtvollen Kleide des Para— dies-Vogels wieder gegeben. In den gelben Federn ſind die feinen vergoldeten Schichten des Horizontes abgezeichnet; die Farbe des weichen Bruſtflaums iſt die der Wolken, der Schnabel und die Füße ſind blau wie der Himmel, am Halſe herrſcht das Grün des Waldes vor, der Kopf iſt gelb wie die untergehende Sonne. In dieſen Mo— menten ergiebt ſich der Paradiesvogel der Gewalt ſeiner Leidenſchaft. Er flattert von Zweig zu Zweig, öffnet die Flügel, breitet ſie aus, bewegt ſie mit freudigem Zittern, hebt und ſenkt den Kopf, ſchreit, biegt den Schweif, kurz er ſchwelgt in dem Genuſſe ſeiner Schönheit und Eitelkeit. „Wie ſchön wäre ich, wie würde ich den Weibchen gefallen, wenn ich mich mit den herrlichen Tinten, die ich aus meinen luftigen Regionen bewundere, ſchmücken könnte!“ — wird ſich ein primitiver Paradiesvogel geſagt haben, der in Farbe wahrſcheinlich nicht von Am— blyornis differirte, der mit dieſem dieſelben häuslichen Sitten gemeinſam hatte, ſein Gärtchen zierte und ſeiner Liebe angenehme Ueberraſchungen mit Blumen und Früchten vor der Hüttenthüre bereitete, der aber eines Tages, von der Eitelkeit geblendet, ſich ſeines beſcheidenen Kleides ſchämte und dem ruhigen Frieden ſeiner Hütte den Prunk der per— ſönlichen Ansſtattung vorzog. Warum ſollte nicht ein beſtändiger lebhafter Wunſch, einen Schönheitstypus zu erreichen, eine Aenderung in der Färbung und Erzeugung der Federn bewirkt haben? Und noch erſtaunlicher iſt folgendes: Während in der von der P. papuana bewohnten Ge— gend der Sonnenuntergang faſt ſtets vergoldet iſt, erſcheint er zu Waighen gewöhnlich feuer— roth; ſollte nun durch bloßen Zufall die dort lebende Art der einen jener täglichen Erſcheinung in Farbe entſprechenden Mantel beſitzen? Warum hat die Schlegelia calva einen nackten Kopf von der Farbe des Himmels, den ſie durch die Baumzweige zur Stunde ihrer Dämmerungsliebe ſchaut? Warum hat unter denſelben Bedingungen die D. magnifica auf dem Bürzel einen Mantel, der in Form und Farbe einem Halbmonde gleicht, von dem ein einzelner Strahl viel— leicht den unter dem Walddickicht verborge— nen Tournierplatz erleuchtet, wo ſtolze, mit Zierrath überladene Kämpen ſich die Gunft der beſcheidenen Zuſchauerinnen erkämpfen? Sollte der Cieinnurus nur aus reinem Zu— fall genau von der Farbe der Blüthen des Costus ſein, mit deſſen Samen er ſich ernährt? Warum find Ziegenmelker (Caprimul- gus), Käuzchen und andere nächtliche Vögel dunkel und farblos und warum ſieht man unter ihnen keine Species mit lebhaften Tinten, z. B. grün, das ihnen am Tage ſehr zum Schutze dienen würde, während Paradisea Nachts jede Farbe indifferent fein ſollte? Weshalb erinnern die Flecken einiger Ca— Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. primulgus an das Bild des Himmels, mit zerriſſenen Wolken, zwiſchen denen der Mond durchblickt, wie es in jenen Nächten der Fall iſt, in denen ſie, auf einem Baumaſt ſitzend, ſtundenlang ihre eintönige Stimme erſchallen laſſen, die den regelmäßigen Schlä— gen eines Stück Holzes auf einen Baum— ſtamm gleicht. Meine Erklärung iſt vielleicht nicht die richtige, aber ſie ſcheint mir verlockend. Welche Idee können die nächtlichen Vögel von den Farben haben? Faſt gar keine, der Mangel an Licht giebt ihnen von allen Coloriten faſt denſelben Eindruck, die einzige Varietät beſteht für ſie in den helleren Flecken, den leuchtenden Punkten und in den kleinen Tonunterſchieden, welche die Schatten in einer klaren Nacht aufweiſen. Iſt es alſo ein verallgemeinerter Fall von Mimicry oder Nachahmung, der die Färbung der Vögel hervorruft? Doch das erklärt Welches iſt die Urſache dieſer | Nachahmung? Iſt es die Frage auf Leben uns wenig. oder Tod, die ſie zur Annahme gerade jener Tinten veranlaßt, welche die Naturerſchein— ungen darbieten? Iſt es nöthig, zur Er- klärung dieſer Thatſache zur Theorie der natürlichen Selection, die ich lieber natür— lich Elimination nennen möchte, Zuflucht zu nehmen? Es ſcheint mir nicht; denn bei den nächtlichen Vögeln kommt ſie gar nicht ins Spiel und bei den Tagesvögeln mit glänzendem Geſieder ſcheint ſie mir eher ſchädlich als nützlich. Es bliebe alſo zu prüfen, ob dieſe Fälle von Mimiery durch die ſexuelle Zuchtwahl verurſacht worden wären. Ich gebe zu, daß bei einem Indi— viduum anfangs einige kleine Veränderungen auftreten, ohne daß eine ſichtbare Urſache dafür vorhanden wäre. Dann muß man aber noch annehmen, daß die Weibchen dieſe unbe deutenden Variationen ſofort bemerken und die betreffenden Männchen zur Begattung vorziehen, — daß ſolche kleine Veränderung jedoch gleich ſo nützlich ſein und die anderen Männchen ſo ſehr in den Hintergrund ſetzen ſoll, ſcheint mir etwas gewagt. In dieſem Falle müßte man ferner annehmen, die Varietät reproduzire ſich in der Mehrzahl der Individuen, alsdann könnten die wenigen leer ausgegangenen eliminirt werden; aber wie erklärt es ſich dann, daß die Varietät in allen Individuen gleichmäßig erſchienen iſt? Dies wäre nicht ſchwer durch die Hypotheſe zu erklären, daß die Veränder— ungen nach einem präſtabilirten Variations— plan ſtattfänden, nicht aber durch Zufall entſtünden. Betrachten wir den Fall der Paradisea apoda. Beim jungen Männchen, das noch das weibliche Kleid trägt, beginnen die erſten, dem erwachſenen Männchen eigenthümlichen Federn zu erſcheinen. Auf dem Kopfe zeigt ſich eine gelbe Feder (warum nicht eine rothe, oder ſchwarze oder blaue?), eine glän— zend grüne auf dem Halſe, andere gelbe auf dem Rücken und an den Seiten, — wie ſoll man nun glauben, aus dieſen wenigen Fe— dern habe ſich durch zufälliges Zuſammen— treffen eine ſo wunderbare Nachahmung der Tinten des Sonnenuntergangs gebildet, wenn wir nicht einen präſtabilirten Begriff, einen Variationsplan vorausſetzen, nach dem ſich allmälig die vollkommene Imitation jenes Phänomens entwickelt hat? Um meine Hypotheſe beſſer zu erklären, will ich einen unzweifelhaften Spezialfall von Mimicry nehmen, den der lebenden Blätter, der Phyllium, einer Art Heuſchrecken, die oft die Form, Farbe und Gliederung der Blätter, auf denen ſie leben, ſo vor— trefflich nachahmen, daß man ſie faſt nicht von denſelben unterſcheiden kann. Ich kann mir den Eindruck einer Man— N = z — — A C tis vorſtellen, die auf einem Blatt ſitzend einen Vogel der ſie ſicher verſchlingen wird, herbei fliegen ſieht — wie ſie ſich klein machen wird, wie gern ſie unſichtbar oder in das Blatt, über das ſie ſich beugt, verwandelt ſein möchte, um dem ſcharfen Auge ihres Verfolgers zu entgehen; — doch dieſer hat ſie bereits entdeckt, faßt ſie feſt in ſeine Krallen und zerreißt ihr Kopf, Leib und Glieder. Jedoch vielleicht nicht alle In— dividuen, die ſich in ſolch kritiſcher Lage befanden, haben daſſelbe Schickſal erlitten, einige ſind gewiß der Gefahr entronnen. Wäre es ſonderbar, wenn ſich unter der Wirkung eines ſo heftigen nervöſen Ein— drucks in den Eiern eines ſchwangeren Weib— chens, welches das tragiſche Ende ſeiner Schwe— ſter mit anſchaute, derartige Dispoſitionen in den für Formveränderung empfänglichen Theilen bildeten, daß ſie auf die Re— produktion jenes Gegenſtandes (in unſerm Falle der Blätter) hinzielten, der als einziges Rettungsmittel in jenem angſtvollen Augenblicke die Urſache eines ſo lebhaften Wunſches war? Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß einige Jungen aus den von einem ſolchen Weibchen gelegten Eiern Monſtren waren, die ſchon theilweiſe in ihren Gliedern ein Blatt dar— ſtellten, da ſich ja die Monſtroſitäten nicht langſam, ſondern plötzlich bilden. Wäre dieſe Monſtroſität eher ſchädlich als nützlich, ſo würde ſie ſich wahrſcheinlich nicht lange reproduziren; da aber in unſerm Falle gerade wegen der Monſtroſität die betreffenden Individuen erhalten bleiben, ſo werden dieſe letzteren gewiß, wie ihre Mutter, den Vor— theil, ſich durch Nachahmung der von ihnen beſuchten Blätter verſtecken zu können, zu ſchätzen wiſſen, und ſo werden höchſt— wahrſcheinlich die meiſten Nachkommen die vortheilhafte Monſtroſität beibehalten haben, Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis inornata. die ſich vielleicht nach und nach vermehrt, regelt, erblich und innerhalb gewiſſer Grenzen unveränderlich wird. Bekanntlich iſt in einigen Arten von Phyllium dieſe Nach— ahmung ſoweit gediehen, daß ſelbſt der Menſch dadurch getäuſcht und jene zu einem ſehr wirkſamen Vertheidigungsmittel wird. Die Flügel ſind geglättet und ausge— dehnt und dienen faſt gar nicht zum Flie— gen; auf denſelben reproduziren ſich die Blattnerven bis zur vollkommenſten Täuſch— ung; die Farbe verändert ſich mit dem Alter des Individuums und imitirt die verſchiedenen Tinten der diverſen Vegetations— perioden; die Beine haben ſich in Plättchen ausgedehnt, und die Fühler in eben ſo viele blattartige Fortſätze; die Hinterfüße ſind zum Springen untauglich geworden und die ſchüchterne und argwöhniſche Gemüths— art hat ſich in eine ruhige, des eigenen Friedens bewußte Indifferenz umgewandelt. Daſſelbe iſt, in anderem Sinne, bei den Bacillus, Phasma etc. geſchehen, die trocke— nen Holzſtäbchen gleichen. In dieſen Fällen hat gewiß auch die natürliche Selection ihren Antheil an der Hervorrufung der Nachahmung gehabt, aber die Haupturſache ſcheint mir doch immer eine nervöſe Em— pfindung und der Wille des Individuums zu ſein. Annehmen zu wollen, daß aus einfachen, im Anfang zufällig erzeugten Veränderungen Imitationen entſtanden ſein ſollten, ohne den Willen des Thieres und die Idee eines dadurch präſtabilirten Planes zu Hilfe zu nehmen, ſcheint mir geradeſo, als wenn man behaupten wolle, ein Architekt könne ein Haus bauen durch ein— fache Anhäufung von Material, ohne eine Idee von dem zu haben was er thun will. Die Abſicht der eigentlichen Paradies— vögel, ſowie des Amblyornis und ver— wandter Species, durch individuellen Schmuck 48 und Erbauung von Hütten und Gärten ihren Weibchen zu gefallen — im Vereine mit der natürlichen Zuchtwahl — ſcheint mir nicht hinreichend, die Farben der erſten und die Fähigkeiten der letzteren zu erzeugen und zu entwickeln. Dagegen glaube ich wohl annehmen zu dürfen, daß in den Vögeln ein lebhaftes Bewußtſein des Schönen und ein eben ſolcher Wunſch zur Erreichung deſſelben ſo lange gewirkt haben, bis in den eigentlichen Paradiesvögeln die Nachſchrift der Redaktion. Wir haben die etwas phantaſtiſchen Ideen des Herrn Verfaſſers über die Urſachen gewiſſer Färb— ungen wiedergeben wollen, weil ſie der Stimm— ung eines Beobachters ſo wunderbarer Leiſt— ungen entſprechen, und weil in ihnen doch vielleicht ein ſchätzbarer Kern verborgen liegt. Freilich, wenn der Wunſch, ſchön zu ſein, ge— nügte, um ſchön zu werden, ſo gäbe es bei— ſpielsweiſe keine häßlichen Menſchen. — Da— gegen kann man ſich allerdings ganz wohl einen natürlichen Zuſammenhang denken zwi— ſchen den Farben des Sonnenuntergangs und denjenigen eines Thieres, welches während deſſelben ſeine Farben zur Schau ſtellt. Dieſer Zuſammenhang wäre, daß ſobald die Sonne nur noch vorwiegend gelbliche und röthliche Strahlen emporſendet, auch nur die gelblichen, röthlichen und goldgrünen Farbentöne ihre höchſte Brillanz entfalten. Wenn unſere Da— men ſich ſpeciell für Gasbeleuchtung putzen, warum ſollte durch geſchlechtliche Zuchtwahl ein Vogel nicht ebenſo ſpeciell für den Son— nenuntergang, die Stunde ſeiner Liebeswerb— ungen, geſchmückt werden können? Eine ſolche Anpaſſung würde vielmehr erſt recht in das Gebiet der geſchlechtlichen Zuchtwahl, wie ſie Beccari, Die Hütten und Gärten von Amblyornis nornata. Farbenveränderungen in den dazu empfäng— lichen Theilen zur vollen Befriedigung des Verlangens ſtattfanden, ebenſo wie ſich auch beim Amblyornis und den ver— wandten Species jener Beobachtungstrieb entwickelte, in Folge deſſen urſprüngliche Em— pfindungen Reflex-Actionen werden können, die einen Vernunftſchluß ermöglichen, und ſo auch dieſe Thiere befähigen, Werke zu ſchaffen, die nicht das bloße Reſultat des Inſtink— tes ſind. Darwin auffaßt, fallen. So könnte ich mir auch recht wohl vorſtellen, daß gewiſſe blaue und violette Vögel im Beſondern für die Dämmerungsſtunde geſchmückt ſeien, wenn bei völliger Abweſenheit der Sonne das Himmels— gewölbe noch eine Fülle blauen Lichtes her— niederſtrahlt. Wenn man um dieſe Zeit an einem nach Weſten blickenden Bergabhange ſpazieren geht, ſo erſcheinen die blauen und violetten Blumen daſelbſt in einem deutlichen Vortheil vor allen anders gefärbten Blumen, und wenn es ſchattenwerfende Bäume oder Geſträuche dazwiſchen giebt, ſo ſcheinen dieſe Blumen in einem eigenen, phosphoriſch blauen Lichte zu leuchten, weil ſie eben allein faſt alles Licht zurückwerfen können, was ſie empfangen. Ohne Zweifel hat dieſes ſcheinbare Leuchten der blauen Blumen in der Dämmerungsſtunde zu der Sage von der „blauen Wunderblume“ der Romantiker Anlaß gegeben, und vielleicht iſt es kein Zufall, daß im erſten Frühjahr, in welchem ſo ſelten klare Dämmerung ein— tritt, blaue und violette Blumen viel ſeltener ſind, als im Sommer und Herbſt. Auch würde ich mich nicht wundern, wenn ſie vielleicht von Dämmerungs-⸗Inſekten bevorzugt würden. f 8 Die Herrſchakt des Ceremoniells. Von Herbert Spencer. IV. Penn wir leſen, daß Cook „den e König (von Otaheiti) mit zwei großen Beilen, einigen präch— f tigen Perlen, einem Meſſer und einigen Nägeln beſchenkte“; oder wenn Speke in der Beſchreibung ſeiner Auf— nahme beim Könige von Uganda erzählt: „Ich ſagte darauf, daß ich das beſte Schießgewehr der Welt — Whitworth's Flinte — mitgebracht hätte und ihn bäte, es nebſt anderen Kleinigkeiten anzunehmen;“ ſo erinnert uns dies daran, wie Reiſende gewöhnlich, wenn ſie in Berührung mit fremden Völkern kommen, ſie durch allerlei Gaben günſtig zu ſtimmen ſuchen. Zweier— lei wird damit erreicht: Eine augenblickliche Befriedigung, welche der Werth des Er— haltenen hervorruft, wodurch ein freund— ſchaftliches Gefühl den Ankömmlingen gegen— über erzeugt wird, und der auch ohne Worte verſtändliche Ausdruck des Wunſches derſelben, zu gefallen, welcher wieder eine Kosmos, Band III. Heft 1. ähnliche Wirkung ausübt. Der letztere iſt es, wovon ſich die Entwickelung des Ge— ſchenkedarbringens als Ceremonie ableitet. Der Zuſammenhang zwiſchen Verſtüm— melungen und Geſchenken — zwiſchen der Darbringung eines eigenen Körpertheiles oder eines andern Dinges — zeigt ſich deutlich in einem Berichte Garcilaſſo's über die alten Peruaner, welcher zugleich darlegt, wie das Beſchenken zu einer Ver— ſöhnungshandlung wird, ganz abgeſehen vom Werthe des Dargebotenen. Er erzählt von den Leuten, welche ſchwere Laſten über hohe Bergpäſſe tragen, und beſchreibt, wie ſie auf dem Höhepunkt des Weges ihre Laſten niederſetzen und wie dann mehrere den Gott Pachacamac anrufen: „Ich danke Dir da— für, daß dieſes bis hierher getragen iſt;“ und dann bringen ſie eine Gabe dar, in— dem ſie entweder ein Haar aus ihren Augenbrauen reißen oder das Kraut Coca aus ihrem Munde nehmen als Geſchenk vom Koſtbarſten, was ſie beſitzen. Wenn fie aber nichts Beſſeres hatten, ſo brachten ſie einen kleinen Stock oder einen Stroh— halm, ja ſogar ein Stück Stein oder Erde dar; auf den Höhen der Bergpäſſe 2 L 50 fanden ſich große Haufen folder Opfer— gaben.” In dieſer durchaus ungewohnten Form uns entgegentretend, mögen uns dieſe Opfer von Theilen des eigenen Körpers oder von ſonſt geſchätzten Dingen, ja ſogar von ganz werthloſen Gegenſtänden, ſonderbarerſcheinen. Indeß ſie werden uns weniger ſeltſam vor— kommen, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie man in Frankreich am Fuße der Kreuze an den Straßen tagtäglich einen Haufen kleiner, aus zwei elenden Latten zuſammen— genagelter Kreuzchen finden kann. Dieſe haben an ſich keinen größern Werth als jene Strohhalme, Stöckchen und Steine, welche die Peruaner darbrachten, und lenken in gleicher Weiſe unſere Aufmerkſamkeit auf die Thatſache, daß die Handlung des Schenkens in drückt. Wie naturgemäß das Erſetzen einer wirklichen Gabe durch eine blos nominelle ſich ergiebt, wo wirkliche Gaben nicht ſtatt— haft find, zeigen uns ſogar ſchon kluge Thiere. Ein Vorſtehhund, der gewohnt iſt, ſeinem Herrn zu gefallen, indem er ihm getödtete Vögel und anderes bringt, wird leicht die Gewohnheit annehmen, in andern Fällen nur irgend etwas zu bringen, um ſein Beſtreben, dem Herrn zu gefallen, aus- zudrücken. Wenn er Jemand, den er gern hat, des Morgens oder nach einer langen Trennung wiederſieht, ſo wird er, von den gewöhnlichen Freudenbezeugungen abgeſehen, wohl auch ein dürres Blatt, eine Ruthe oder ſonſt einen geeigneten Gegenſtand in der Nähe ſuchen und es ihm im Maule bringen. Und dieſes Beiſpiel, welches uns den natürlichen Urſprung jener Verſöhnungs— ceremonien vorführt, dient auch dazu, zu zeigen, auf welch' tiefer Stufe ſchon der Proceß der Symboliſirung auftritt. Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. eine Ceremonie übergeht, welche einen Wunſch nach Verſöhnung aus— So ſind wir nun darauf vorbereitet, die Entwickelung des bloßen Darbringens von Gaben zu einer wirklichen Ceremonie zu verfolgen, und dieſe wollen wir nun in ihren verſchiedenen Erſcheinungen beobachten und ſehen, wie die geſellſchaftlichen Ein— richtungen ſich möglicher Weiſe von ihnen ableiten. 8 In Stämmen, welche entweder gar kein Oberhaupt haben oder bei welchen die Oberherrſchaft noch auf unſicherem Boden ſteht oder bei welchen eine Ober— herrſchaft zwar vorhanden, aber noch ſchwach iſt, bildet ſich das Darbringen von Ge— ſchenken nicht zum feſtſtehenden Gebrauche aus. Die Auſtralier, Tasmanier und Feuerländer ſind Beiſpiele hierfür; und wenn wir Berichte von wilden amerikani- ſchen Raſſen leſen, welche noch wenig orga— niſirt find, wie die Eskimos, Chinvofs, Schlangenindianer, Comanchen, Chippeways und andere, oder welche eine demokratiſche Organiſation haben, wie die Irokeſen und die Creekindianer, ſo finden wir, daß ge— rade bei dieſen Völkern, die ſich durch das Fehlen ſtrenger perſönlicher Regierung charakteriſiren, kaum irgendwo der Opfer— gaben als eines ſtaatlichen Brauches Erwähn— ung geſchieht. Ein gutes Gegenſtück dazu bieten an— dererſeits die Beſchreibungen von Gebräuchen unter jenen amerikaniſchen Raſſen, welche in früheren Zeiten unter despotiſcher Re— gierung einen beträchtlich hohen Grad von Civiliſation erreicht haben. Torquemada erzählt uns, daß in Mexico „Jeder, welcher den Herrn oder König begrüßen will, Blumen und Geſchenke mitnimmt.“ So leſen wir auch von den Chibchas: „wenn ſie ein Geſchenk darbrachten, um mit dem Caziken zu verhandeln oder zu ſprechen (denn Niemand beſuchte ihn, ohne eine Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 51 Gabe zu bringen), ſo neigten ſie Kopf und Körper beim Eintreten“; und die alten Mucataneſen „brachten ihrem Herrn ſtets einen Theil der Beute, wenn ſie jagten, fiſchten oder Salz holten“. Völker von anderen Raſſen, wie die Malayo-Polyneſier, welche auf ähnlicher Stufe der geſellſchaftlichen Entwickelung unter unbeſtrittener Herrſchaft von Häuptlingen leben, weiſen gleiche Ge— wohnheiten auf. Forſter erzählt von den Sachen, welche den Tahitiern gegen Nahrungsmittel, einheimiſche Anzüge u. ſ. w. verhandelt wurden, und ſagt: „Jedoch fanden wir, daß alle dieſe erlangten Güter mit der Zeit in Form von Geſchenken oder von freiwilligen Erkenntlichkeitsbeweiſen in den Schatz der verſchiedenen Häuptlinge floſſen, welche, wie es ſchien, die alleinigen Beſitzer der Beile und Streitäxte waren.“ In Fidſchi wieder „wird von Jedem, der eine Gunſt von einem Häuptling erbittet oder privaten Verkehr mit ihm wünſcht, voraus— geſetzt, daß er ein Geſchenk bringe.“ In den letztgenannten Fällen können wir beobachten, wie dies Darbringen von Geſchenken an den Häuptling aus einem freiwilligen allmälig zu einem erzwungenen Begütigungsmittel wird; denn wenn wir leſen, daß „die Häuptlinge auf Tahiti die Beſitzungen ihrer Unterthanen nach Belieben plünderten“, und daß in Fidſchi „die Häuptlinge gewaltſam das Eigenthum An— derer an Dingen oder Perſonen an ſich nehmen“, ſo wird es klar, daß das Dar— bringen von Geſchenken eigentlich nichts Anderes iſt als das Hingeben eines Theils des Beſitzthums, um den Verluſt des Gan— zen zu verhüten. Die Klugheit gebietet, zu gleicher Zeit die Begierden der Obern zu befriedigen und ihnen Unterwerfung zu bezeugen. „Die Malagaſſen, Scla— ven ſowohl wie Freie, machen gelegentlich ihren Häuptlingen Geſchenke aus ihren Vor— räthen, als Zeichen der Huldigung.“ Und es iſt dabei ſelbſtverſtändlich, daß die Sorge, den Häuptlingen zu gefallen, um jo leb— hafter ſein wird, je größer ihre Macht iſt; ſei es durch Zuvorkommenheit gegen ihre begehrlichen Wünſche, ſei es zugleich durch Bethätigung der Unterthänigkeit. Nur in wenigen Fällen jedoch, wenn über— haupt irgendwo, wird der Gebrauch, einem Häuptlinge Geſchenke darzubringen, zu einer ſo ausgebildeten Sitte in einem einfachen Stamme. Anfangs wird der Anführer, der ſich noch nicht ſehr von den Uebrigen unterſcheidet und noch nicht mit Leuten um— geben iſt, welche bereit ſind, ſeinen Willen mit Gewalt durchzuſetzen, die anderen Glieder des Stammes nicht mit genügen— der Furcht erfüllen, um das Darbringen von Geſchenken zu einer ſtehenden Cere— monie zu machen. Erſt in zuſammengeſetz— ten Geſellſchaften, welche durch die Ueber— wältigung mehrerer Stämme durch einen erobernden Stamm von gleicher oder an— derer Raſſe ſich gebildet haben, entſteht eine herrſchende Klaſſe von Ober- und Unterhäuptlingen, welche ſich genügend vor den Andern auszeichnen und mächtig ge— nug ſind, die erforderliche Furcht einzuflößen. Einen Fall, in welchem die Sitte ihren urſprünglichen Charakter bewahrt hat, liefert uns Timbuctu. Hier „belegt der König weder ſeine Unterthanen noch die fremden Kaufleute mit irgend einem Tribut, ſondern er erhält nur Geſchenke.“ Aber Caillé fügt hinzu: „Es beſteht daſelbſt keine eigent— liche Regierung. Der König iſt gleich einem Vater, der ſeine Kinder leitet.“ Wenn ſich Streitigkeiten erheben, ſo „verſammelt er einen Rath der Aelteſten“. Das will alſo ſagen: die Darbringung von Geſchen— ken bleibt freiwillig, wo die königliche — — 52 Macht noch gering iſt. Bei einem andern afrikaniſchen Volke dagegen, den Kaffern, können wir beobachten, wie die Gaben ihren freiwilligen Charakter verlieren. „Das Einkommen des Königs beſteht in einer jährlichen Lieferung von Vieh, Erſtlings— früchten u. ſ. w.“, und „wenn ein Kooſſah (Kaffer) ſeinen Kornboden öffnet, ſo muß er etwas von dem Korn ſeinen Nachbarn ſenden, einen größern Antheil aber dem Könige.“ Auch in Abyſſinien finden wir eine ähnliche Miſchung von auferlegten Ab— gaben und freiwilligen Geſchenken neben feſt— ſtehenden Lieferungen. In Form von Zeug— ſtücken und Korn empfängt der Fürſt von Tigré alljährliche Geſchenke, und ein ent— ſprechendes Syſtem von theils beſtimmten, theils unbeſtimmten Abgaben des Volkes an die Könige iſt in ganz Oſtafrika allge= mein verbreitet. — Aber indem ſolche Ge— ſchenke, wenn ſie einmal zur bleibenden Sitte geworden ſind, inſofern aufhören, eine begütigende Wirkung auszuüben, ergiebt ſich von ſelbſt das Beſtreben, andere Ge— ſchenke zu machen, welche als Verſöhnungs— mittel gelten, weil ſie unerwartet kommen, — was leicht verſtändlich iſt, wenn man ſich erinnert, daß da, wo die königliche Macht ſehr groß geworden iſt, die Unterthanen ihr Eigenthum nur geduldeter Weiſe be— halten. Wenn Burton uns erzählt, daß in Dahome „wahrlich keine große Verführ— ung zum Anhäufen von Reichthümern ge— geben iſt, da ſolche dem Beſitzer ſicherlich jo oft «ausgepreßt» werden würden, als er überhaupt die Operation ertragen könnte,“ und wenn wir von den alten Königen von Bogota leſen, daß fie „abgeſehen von den regelmäßigen Tributen, welche mehrere Male des Jahres bezahlt werden mußten, und abgeſehen von anderen unzähligen Spenden, abſolute Herren des Eigenthumes n Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. und des Lebens ihrer Unterthanen waren,“ ſo erkennen wir leicht, warum neben den— jenigen Gaben, die zuerſt freiwillig und nach Belieben geliefert wurden, ſpäter aber pflichtige und regelmäßige Steuern gewor— den ſind, beſtändig immer neue freiwillige Gaben zu entſtehen ſtreben. Wenn eine Privatperſon ihrem Häupt— ling oder Könige eine Gabe darbringt, ſo drückt dieſer Akt zugleich Unterwerfung aus; noch mehr iſt dies aber der Fall, wenn ein untergeordneter Herrſcher dem oberſten König feine Gabe -übergiebt: hier, wo Widerſetzlichkeit noch mehr zu fürchten iſt, erlangt dieſe Ceremonie eine noch größere Bedeutung als Beweismittel der unter— thänigen Geſinnung. Deswegen gilt dann das Darbringen von Geſchenken als for— male Anerkennung der Oberherrſchaft. Im alten Vera Pas, „ſobald einer zum König gewählt war, erſchienen alle Herren der ein— zelnen Stämme oder ſie ſchickten ihre Ver— wandten mit Geſchenken. Sie erklärten (bei der Ausrufung des Gewählten), daß ſie mit ſeiner Erwählung einverſtanden wären und ihn als König empfingen.“ Wenn bei den Chibchas ein neuer König auf den Thron kam, „legten die Häuptlinge darauf einen Eid ab, daß ſie gehorſame und getreue Vaſallen ſein wollten, und zum Beweiſe ihrer Treue überbrachte ihm Jeder ein Juwel, eine Anzahl Kaninchen u. ſ. w.“ Von den Mexicanern erzählt Toribio: „Alljährlich pflegten diejenigen Indianer, welche keine Steuern zu zahlen hatten, und ſelbſt die Häuptlinge bei gewiſſen Feſtlichkeiten . ... ihren Herrſchern Geſchenke zu machen . . .. zum Zeichen ihrer Unterwürfigkeit.“ Und Gleiches fand ſich in Peru. „Keiner näherte ſich Atahuallpa, ohne ihm zum Beweiſe ſeiner Unterthäuigkeit eine Gabe zu bringen; und ſelbſt wenn große Edelleute kamen, ſo — . — —— ä X—1—̃ ——1—ꝝVL— ———— 1 K Q — — ———— —— ̃ͤ ——ſ— —— kT - —ͤ—— — b——½ . — Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. traten ſie doch mit den Geſchenken auf ihrem eigenen Rücken herein und ohne Schuhe.“ Dieſe Bedeutung des Geſchenke— machens als Ausdruck der Lehenspflicht ergiebt ſich ferner deutlich aus zwei ent— gegengeſetzten Darſtellungen in den Schriften der alten Hebräer. Von Salomon heißt es, daß er „über alle die Könige herrſchte vom Fluſſe an bis in das Land der Phi— liſter und bis an die Grenze von Aegyp⸗ tenland,“ und ferner, daß „alle Könige der Erde das Angeſicht Salomons ſuchten NR und fie brachten ein Jeglicher fein Geſchenk . . . . eine Gabe, Jahr für Jahr.“ Dagegen ſteht geſchrieben, als Saul zum Könige gewählt war: „Da ſagten die Kin— der Belials: Was ſoll uns dieſer helfen? Und verachteten ihn und brachten ihm keine Geſchenke.“ Im ganzen fernen Orient be— hält die Ueberreichung von Geſchenken an den höchſten Herrſcher immer noch dieſelbe Bedeutung. In Japan „gehörte es zu den Obliegenheiten eines Edelmannes, einmal des Jahres den kaiſerlichen Hof zu beſuchen und ſeine Ehrfurcht zu bezeugen, wobei er Geſchenke überreichte“; überdies „bezeugte der weltliche Monarch dem Mikado ſeine Ehr— furcht und Gehorſam einmal des Jahres es. durch feierliche Geſandtſchaft und reiche Geſchenke.“ In China tritt die Be— deutung des Aktes als Ausdruck der Un— terwerfung außerordentlich ſcharf hervor. Abgeſehen von der Schilderung, daß „bei der Thronbeſteigung des großen Chan vier— tauſend Boten und Geſandte, welche mit Geſchenken beladen ankamen, der Ceremonie beiwohnten,“ leſen wir auch, daß die mon— goliſchen Beamten die Franziskanermönche, welche Innocenz IV. dorthin entſandt hatte, vor Allem frugen, „ob der Papſt wiſſe, daß der große Chan der Sohn des Him— mels ſei, und ob ſie wüßten, daß die 53 Herrſchaft der Erde von Rechts wegen ihm gehörte und was für ein Geſchenk ſie vom Papſte für den großen Chan mit— gebracht hätten.“ Und ebenſo beſtimmt iſt die dem Ueberbringen von Geſchenken an den Monarchen in Burmah beigelegte Bedeut— ung, wo nach Yule's Bericht „bei frühes ren Gelegenheiten lebhafte Anſtrengungen gemacht wurden, um fremde Geſandte als Bittende an den „Verzeihungstagen? unter den Vaſallen und abhängigen Fürſten des Reiches mit einzuführen: ihre Geſchenke wurden dabei als Opfer zur Abbitte dar— geſtellt, welche die verdiente Züchtigung für Beleidigungen ihres Lehnsherren abwenden ſollten.“ Auch in der ältern Geſchichte von Euro— pa fehlt es nicht an Beiſpielen für die eigentliche Bedeutung des Geſchenkemachens. Wir erfahren, daß zur Zeit der Merowinger „an einem beſtimmten Tage, einmal des Jahres, auf dem Märzfelde nach altem Brauche den Königen vom ganzen Volke Gaben dargebracht wurden,“ und daß ſich dieſer Brauch bis zur Zeit der Carolinger fort- erhielt; die Geſchenke waren der verſchiedenſten Art — Speiſen und Getränke, Pferde, Gold und Silber, Juwelen und Gewänder. Wir haben ferner die Thatſache, daß ſolche Geſchenke ebenſowohl von ganzen Gemein— ſchaften als von Einzelnen geliefert wurden; Städte bezeugten damit ihre gute Geſinn— ung, und wir finden, daß von den Zeiten Guntram's an, welcher von den Gaben der Einwohner von Orleans beim Eintritt in die Stadt förmlich erdrückt wurde, bei den Städten noch lange die Sitte herrſchend blieb, auf ſolche Weiſe ſich die Zuneigung der Monarchen zu erwerben, bis ſchließlich dieſe Geſchenke zum Geſetz wurden. Im alten England kam es ſogar dahin, daß die beim Beſuch eines Monarchen von — 222 —— 54 einer Stadt anfangs freiwillig, ſpäter aber zwangsweiſe gelieferten Geſchenke ſo ſchwere Verluſte mit ſich brachten, daß in manchen Fällen „die Einkehr der königlichen Familie und des Hofes für ein großes Unglück er— achtet wurde“. Die im Obigen zuſammengeſtellten Zeugniſſe werden jedem Leſer bereits den Schluß nahegelegt haben, daß aus den Verſöhnungsgeſchenken allgemeine und un— freiwillige Abgaben, feſtſtehende Tribute werden und daß mit der Entſtehung einer gangbaren Münze dieſe ſich in eine regel— mäßige Steuer verwandelt. Wie dieſer Uebergang beſtändig ſich zu vollziehen ſtrebt und welche Motive fortwährend in dieſer Richtung wirken, um außerordentliche, frei— willige Gaben in ordentliche, erzwungene Abgaben umzuwandeln, ergiebt ſich deutlich aus Malcolm's Bericht über die Ge— bräuche in Perſien. Indem er die „un— regelmäßigen und erdrückenden Abgaben“ ſchildert, „denen ſie (die Perſer) unaufhör— lich ausgeſetzt find,“ ſagt er: — „Die erſte Klaſſe dieſer außergewöhnlichen Steuern kann als gebräuchliche und außerordentliche Geſchenke bezeichnet werden. Die gebräuch— lichen Geſchenke für den König ſind die— jenigen, welche ihm alle Gouverneure der Provinzen und Diſtrikte, die Häuptlinge der Stämme, die Miniſter und alle übrigen Beamten höhern Ranges alljährlich beim Feſte des Nourouze oder der Frühlingstag— und Nachtgleiche überbringen. Der Werth des bei dieſer Gelegenheit Geſchenkten regelt ſich auch im Allgemeinen durch den Brauch: eine zu kleine Gabe bedeutet einfach Ver— luſt des Amtes und ein Ueberſteigen des Gewöhnlichen Vermehrung der Gunſt.“ Daß unter einem ſolchen Druck aus unregelmäßigen Geſchenken allmählich eine regelmäßige Abgabe wurde, liegt in der Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Natur der Sache und ebenſo, daß die— ſelben meiſt aus den Haupterzeugniſſen der einzelnen Diſtrikte beſtehen, wie z. B. im alten Peru, wo das Volk aus einer Provinz wohlriechende Hölzer einſandte, aus einer andern Baumwolle, aus einer dritten Gold und Edelſteine, aus einer vierten Papageien, Honig und Wachs; oder wie im alten Mexico, wo die Städte das als Steuer erlegten, „was das Land her— vorbrachte — Fiſche, Fleiſch, Korn, Baum— wolle, Gold ꝛc., denn ſie hatten keine Münze.“ In andern Fällen, wo die Einrichtungen weniger beſtimmt ſind, kommen vom ſelben Orte verſchiedenerlei Gaben; ſo pflegten beiſpielsweiſe die Städte den altfranzöſiſchen Königen zu ſchenken: „Rinder, Schafe, Wein, Hafer, Wild, Wachskerzen, Zucker— werk, Pferde, Waffen, goldene und ſilberne Gefäße u. ſ. w.“ Für den Uebergang vom Geſchenkemachen zum Bezahlen einer Abgabe, in dem Sta— dium gerade, wo dieſelbe eine periodiſche Einrichtung wird, finden wir gute Beiſpiele in einigen verhältnißmäßig kleinen Geſell— ſchaften, wo die Regierungsgewalt feſtge— gründet iſt. In Tonga „macht die höhere Klaſſe der Häuptlinge im Allgemeinen dem Könige ungefähr alle vierzehn Tage ein Ge— ſchenk, aus Schweinen oder ams beſtehend; dieſe Häuptlinge aber erhalten zu derſelben Zeit Geſchenke von den unter ihnen Stehen— den und dieſe letzteren von Anderen und ſo fort bis hinab zum gemeinen Volke.“ Das alte Mexico, welches aus zu verſchie— dener Zeit unterjochten und in verſchiedenem Grade abhängigen Provinzen beſtand, zeigte auch mehrere Stufen des Uebergangs vom Geſchenk zur Abgabe. Duran ſchildert dieſe Verhältniſſe aus der Zeit Montezuma's!. folgendermaßen: „Die Liſte der Abgaben umfaßt alle möglichen Dinge. Die Pro— vinzen lieferten dieſen Tribut ſeit der Zeit ihrer Eroberung, damit die tapfern Mexicaner aufhören möchten, ſie auszu— plündern“ — woraus deutlich hervorgeht, daß es urſprünglich Verſöhnungsgeſchenke waren. Ferner leſen wir, daß „in Mez— titlan der Tribut nicht zu beſtimmten Zei⸗ ten bezahlt wurde, ſondern wann der Herr deſſen bedurfte. Sie dachten nicht daran, die Ab— gaben aufzuhäufen, ſondern ſie frugen von Zeit zu Zeit, was im Augenblick für die Tempel, die Feſtlichkeiten oder die Fürſten nöthig ſei.“ Von den Tributen, welchen das ganze Land Montezuma's unterworfen war und welche aus „Lebensmitteln, Kleidern und einer großen Menge verſchiedener Dinge“ beſtanden, wird uns geſagt, daß „einige von denſelben jährlich, andere halbjährlich und wieder andere alle achtzig Tage bezahlt wurden“. Und ferner ſagt Toribio hin— ſichtlich der Geſchenke, welche Einige bei Feſtlichkeiten „zum Zeichen ihrer Unter— würfigkeit“ darbrachten: — „Dies ſcheint zu beweiſen, daß die Häuptlinge, die Kauf— leute und die Grundbeſitzer nicht verpflichtet waren, Steuern zu bezahlen, ſondern es freiwillig thaten.“ Der Uebergang von freiwilligen Gaben zu pflichtigem Tribut läßt ſich in der alten europäiſchen Geſchichte verfolgen. Unter den Einfommensquellen der Merowingiſchen Könige zählt Waitz die Gaben auf, welche das Volk aus freiem Willen bei verſchie— denen Gelegenheiten (beſonders bei Hoch— zeiten) darbrachte, neben den jährlichen Ge— ſchenken, die urſprünglich bei den Märzver— ſammlungen, aber ſpäter zu andern Zeiten, um den Jahresanfang, gemacht wurden: — freiwillig, als ſie Sitte wurden, aber all— mählig zu einer feſten Steuer ſich aus— bildend. Derſelbe ſagt auch, wo = — = — TER Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 55 jährlichen Geſchenken des Volkes zur Zeit der Karolinger ſpricht, daß ſie ſeit lange ihren freiwilligen Charakter verloren hätten und ſogar von Hine mar wirklich als Tri— but bezeichnet würden. Sie umfaßten Pferde, Gold, Silber und Edelſteine; ferner (aus Nonnenklöſtern) Gewänder und Regquiſiten für die königlichen Schlöſſer; und hier fügt er hinzu, daß dieſe Verpflichtungen oder Tributa ſtets einen mehr oder weniger privaten Charakter trugen: obwohl ſie als Pflicht betrachtet wurden, ſo waren ſie doch noch nicht Abgaben im wörtlichen Sinne. Es läßt ſich ferner zeigen, wie auch die freiwilligen Geſchenke, welche manche Städte ihren Beherrſchern bei deren Beſuchen mach— ten, auf ähnliche Weiſe aus freiwilligen zu pflichtigen Abgaben wurden. Es be— durfte beſonderer Befehle des Königs, um Paris zu veranlaſſen, 1584 dem Herzog von Anjou und auch bei andern Gelegen— heiten den Geſandten und auswärtigen Fürſten Geſchenke darzubringen. In dem Maße, als der Geldwerth beſtimmter und Bezahlungen in baarer Münze leichter wurden, vollzog ſich eine entſprechende Veränderung: das beweiſen in der Karolingiſchen Zeit „die ſogenann— ten Inferenda, eine Abgabe, die man ur- ſprünglich in Vieh, jetzt aber in baarem Gelde zu entrichten pflegt;“ das beweiſt ferner in der engliſchen Geſchichte die Schenkung von Geld anſtatt von Waaren und dergl., welche die Städte einem König und ſeinem Gefolge zu machen hatten, wenn dieſer ſeinen Einzug hielt. Dieſe Zäeugniſſe mag am paſſendſten die folgende Stelle aus Stubbs abſchließen: — „Die gewöhnlichen Einkünfte des Königs von England ſtammten blos von den könig— lichen Gütern und den Erzeugniſſen deſſen, er von den was Lehnsbeſitz geweſen war, nebſt den un 56 abgelöften Abgaben von Feormfultum oder Lebensmitteln in natura, die an Stelle der vorbehaltenen Renten aus alten Beſitz— ungen der Krone ſowohl wie an Stelle der halb freiwilligen Abgaben getreten waren, welche die Nation ihrem erwählten Ober— haupte zu liefern hatte;“ — eine Stelle, die zu gleicher Zeit einmal den Uebergang freiwilliger Gaben in unfreiwillige Abgaben, dann aber auch die Umwandlung ſolcher Abgaben in eigentliche Steuern trefflich erläutert. Hier iſt noch zu bemerken, daß der oberſte Herrſcher neben den periodiſchen und gewöhnlichen Geſchenken, welche zu ſeiner Verſöhnung und zur Anerkennung ſeiner Ueberlegenheit dargebracht werden, auf frü— hen Entwickelungsſtufen gewöhnlich noch beſondere Geſchenke empfängt, wenn er dafür angerufen wird, ſeine Macht zur Vertheidigung oder Unterſtützung eines an— gegriffenen Unterthanen zu brauchen. Bei den Chibchas „durfte Niemand vor dem Angeſicht eines Königs, Caziken oder ſonſtigen Hoch— geſtellten erſcheinen, ohne eine Gabe mitzu— bringen, welche abgeliefert werden mußte, bevor man ſeine Bitte vortrug.“ Auf Su— matra „erhebt ein Häuptling keine Steuern, er hat auch ſonſt kein Einkommen ..... oder irgend andere Abgaben von ſeinen Unterthanen, außer was ihm in Folge der Schlichtung von Streitigkeiten zufällt.“ Ein ähnlicher Brauch herrſcht in Nordweſt— Indien. Von Gulab Singh, einem frühe— ren Herrſcher von Jummoo, erzählt Herr Drew: „Mittelſt der gebräuchlichen Gabe einer Rupie als Nazare (Geſchenk) konnte Jeder Zugang zu ſeinem Ohre erlangen; ſelbſt mitten aus der Menge heraus konnte man ſein Auge auf ſich lenken, wenn man eine Rupie emporhielt und ausrief: „Ma— harajah, eine Bitte!? Er pflegte gleich Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. einem Habicht auf das Geld niederzufahren und dann, nachdem er es an ſich genom— men, die Bittenden ruhig anzuhören.“ Wir haben Zeugniſſe, daß bei uns ſelbſt in früheren Zeiten ein gleicher Zuſtand herrſchte. „Wir dürfen wohl glauben,“ ſagt Broom, indem er ſich auf eine Aeußer— ung von Lingard bezieht, „daß nur wenige Fürſten in jenen Tagen (der angel— ſächſiſchen Herrſchaft) es verweigerten, rich— terliche Funktionen auszuüben, wenn ſie durch Günſtlinge darum erſucht, durch Be— ſtechung verleitet oder durch Habgier und Geiz angetrieben waren.“ Und wenn wir leſen, daß in den älteren normanniſchen Zeiten der erſte Schritt in einem Proceß zur Erlangung des gerichtlichen Beiſtandes darin beſtand, ſich des Königs eigenhändige Schrift auszuwirken oder zu erkaufen, in— dem man die dafür feſtgeſetzte Summe be— zahlte — eine Schrift, welche dem Ange— klagten befahl, vor dem Könige zu erſchei— nen — ſo iſt wohl anzunehmen, daß die für dieſes Document bezahlte, von vorn— herein beſtimmte Summe nichts Anderes darſtellte als das Geſchenk, welches urſprüng— lich dem Könige für die Leiſtung ſeines richterlichen Beiſtandes gemacht wurde. Die— ſer Schluß ſteht nicht ohne Stütze da. Blackſtone ſagt: „Jetzt gilt es in der That für ausgemacht, daß ſelbſt die könig— liche Handſchrift nach gemeinem Rechte ge— fordert werden darf, wenn man die ge— bräuchlichen Gebühren bezahlt?!“ — was auf eine frühere Zeit hinweiſt, in welcher die Gewährung derſelben eine Sache könig— licher Gunſt war, die erſt durch Verſöhn— ung erlangt werden konnte. Natürlicherweiſe werden dann aber, wenn richterliche und andere Funktionen ſich als ſelbſtſtändige Aemter ablöſen, Geſchenke ge— macht werden, um die Dienſte der betref— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. fenden Beamten zu gewinnen, und wenn auch urſprünglich freiwillig, werden dieſe gleichfalls mit der Zeit zu pflichtigen Löh— nen werden. Berichte aus dem alten Orient belegen dies. So geht aus Amos, Cap. I V. 6 hervor, daß die Richter Geſchenke er- hielten, wie dies für die türkiſchen Behörden in denſelben Gegenden bis auf unſere Tage gelten ſoll; die Behauptung des Propheten ſowohl wie die manches Beobachters aus der Gegenwart, daß dieſer Gebrauch in Folge allgemeiner Verderbniß eingeriſſen ſei, iſt eben nur wieder einer von den vielen Fällen, in denen das Fortbeſtehen eines niedrigeren Zuſtandes mit dem Herabſinken von einem höheren Zuſtande verwechſelt wird. So empfingen die Richter auch in Frankreich in früheren Zeiten ſogenannte „Speſen“ als Zeichen der Erkenntlichkeit von der Partei, welche den Proceß gewonnen hatte. Um das Jahr 1369, wenn nicht ſchon früher, wur— den dieſelben in Geld umgewandelt, und 1402 waren ſie bereits als gebräuchliche Abgabe anerkannt. Dieſe Sitte erhielt ſich bis zur Revolution. In unſerer eigenen Geſchichte bildet der bekannte Fall von Bacon nicht etwa ein Beiſpiel eines eigen— thümlichen neuen Gebrauches, ſondern viel— mehr des Fortlebens einer alten und her— kömmlichen Sitte: manche locale Urkunden zeigen uns, wie regelmäßig den Rechts— beamten und ihren Unlergebenen Geſchenke gemacht wurden, und dieſe Thatſachen ſind wirklich ganz treffend in dem Satz zu— ſammengefaßt, daß „Niemand ſich einem hochgeſtellten Manne, einer Magiſtratsperſon oder einem Höfling je zu nähern wagte ohne die orientaliſche Begleitung — ein Ge— ſchenk.“ Daß aber in vergangenen Zeiten die den Staatsdienern gemachten Verſöhn— ungsgeſchenke in vielen Fällen ihr ganzes Einkommen bildeten, läßt ſich ſchon aus 57 der Thatſache ſchließen, daß im zwölften Jahrhundert die höchſten Aemter des könig— lichen Haushalts verkauft wurden: in der Meinung offenbar, daß der Werth der zu erhaltenden Geſchenke groß genug ſei, um die Stellen preiswürdig zu machen. Ruß⸗ land ſcheint in früheren Zeiten ein Beiſpiel für den Zuſtand geliefert zu haben, in welchem das Gefolge und die Beamten des Herrſchers hauptſächlich, wenn nicht aus— ſchließlich, auf Geſchenke angewieſen waren. Karamſin giebt die Bemerkungen der Reiſen— den wieder, welche Moskau im ſechszehnten Jahrhundert beſuchten. „Iſt es ein Wunder,“ ſagen dieſe Fremden, „daß der Großfürſt reich iſt? Er bezahlt weder ſeinen Soldaten noch ſeinen Abgeſandten irgend Etwas; ja er nimmt dieſen Letzteren ſogar alle die koſtbaren Dinge ab, welche ſie aus fremden Ländern zurückbringen Gleich- wohl pflegen ſich dieſe Leute nicht zu be— klagen.“ Woraus wir ſchließen müſſen, daß ſie in Ermangelung von Löhnen und Gehältern von Oben ihren Unterhalt aus Gaben von Unten beſtritten. Was wir jetzt Beſtechungen nennen, welche die elend be— zahlten Beamten fordern, bevor ſie ihre Obliegenheit erfüllen, ſind zum Theil die Stellvertreter der Geſchenke, welche ihre einzige Quelle des Unterhaltes in jenen Zeiten bildeten, wo ſie noch keinen Gehalt bezogen. Und daſſelbe läßt ſich von Spa— nien ſagen, von dem Roſe erzählt: „Vom Richter bis herab zum Büttel herrſchen Beſtechung und Corruption ... ..... Es giebt jedoch eine Entſchuldigung für den armen ſpaniſchen Beamten. Seine Regierung gewährt ihm keinerlei Entſchädigung und erwartet dagegen Alles und Jedes von ihm.“ Die Gewohnheit läßt uns die Bezahlung einer beſtimmten Summe für einen be— ſtimmten Dienſt ſo ſelbſtverſtändlich erſchei— wor ee ae Kosmos, Band III. Heft 1. 58 nen, daß wir wie in andern Fällen, ſo auch hier leicht annehmen, dies Verhältniß habe | von Anfang an beftanden. Wenn wir aber leſen, wie in noch wenig organiſirten Ge— ſellſchaften, z. B. bei den Betſchuanen, die Häuptlinge den Leuten ihres Gefolges „nur einen kärglichen Antheil an Speiſe oder Milch gewähren und es ihnen überlaſſen, das noch Fehlende durch Jagd oder durch Ausgraben wild wachſender Wurzeln zu ergänzen“, und wie ſelbſt in erheblich weiter vorgeſchrittenen Geſellſchaften, wie in Da— home, „kein im Dienſte der Regierung ſtehender Beamter bezahlt wird,“ jo er ſehen wir wohl, daß urſprünglich die einem Anführer zunächſt Untergeordneten nicht von Amts wegen unterhalten werden, ſondern ſich ſelbſt zu unterhalten haben. Und da ihre Stellung ihnen die Macht verleiht, den Unterthauen Uebles wie Gutes zuzu— fügen, da es ja in der That oft nur durch ihre Vermittelung möglich iſt, den Häuptling anzurufen, ſo macht ſich hier daſſelbe Motiv geltend, ſie durch Geſchenke zu begütigen, wie es für die Begütigung des Häuptlings ſelbſt gilt; und daraus entſpringt dann für ſie auf gleiche Weiſe ein beſtimmtes Einkommen. Dieſer Schluß, daß die Verſorgung der Staatsangeſtellten auf ſolchem Wege beginnt, wird ſofort weitere Beſtätigung darin finden, daß er völlig mit dem noch deutlicher zu begrün— denden Schluſſe in Einklang ſteht, daß auch die Verſorgung der kirchlichen Angeſtellten ſolchen Urſprungs iſt. Indem das andere Ich des todten Menſchen urſprünglich ſo vorgeſtellt wird, als ſei es eben ſo ſichtbar und greifbar wie das Original und auch nicht minder dem Schmerz, der Kälte, dem Hunger und Durſt unterworfen, ſo knüpft ſich von ſelbſt die Meinung daran, es bedürfe in gleicher 1 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Weiſe der Speiſe, des Trankes, der Kleid— ung u. ſ. w., und es könne auch verſöhnt werden, indem man es mit dieſen Dingen wohl verſehe. Im Anfang alſo unterſcheiden ſich die den Todten dargebrachten Geſchenke von ſolchen für die Lebenden weder ihrer Bedeutung noch ihren Motiven nach. Auf der ganzen Erde finden wir in niedrigeren Geſellſchaftsformen der Ver— gangenheit und der Gegenwart, wie Gaben für die Todten unmittelbar neben Gaben für die Lebenden einhergehen. Speiſe und Trank wird bei dem noch nicht begrabenen Leichnam zurückgelaſſen von den Papuas, Tahitiern, Sandwich-Inſulanern, Malanans, Badagas, Karenen, den alten Peruanern, den Braſilianern ꝛc. Speiſen und Getränke werden ſpäter zum Grabe gebracht in Afrika vom Volke von Scherbro und von Loango, den Binnenland-Negern, den Bewohnern von Dahome ꝛc., im ganzen indiſchen Berg— lande von den Bhils, Santals, Kukis ꝛc.; in Amerika von den Cariben, Chibchas, Mexikanern; und ein ähnlicher Gebrauch war unter den alten Stämmen des Oſtens verbreitet. Bei den Eskimos werden den Todten von Zeit zu Zeit Kleider zum Ge— ſchenk überbracht. In Patagonien öffnet man alljährlich die Grabkammern und be— kleidet die Todten von Neuem, wie dies auch die alten Peruaner thaten. Wenn ein Potentat unter dem Congovolke ſtirbt, ſo wächſt die demſelben von Zeit zu Zeit ge— ſchenkte Menge von Kleidern ſo an, „daß die erſte Hütte, in welcher der Leichnam beigeſetzt worden war, bald zu klein wird und eine zweite, eine dritte, ja bis zu einer ſechsten, von immer größeren Dimenſionen darüber errichtet werden muß.“ Der Bes weggrund für dieſen Verſuch, dem todten Menſchen zu gefallen, iſt genau derſelbe wie für einen ähnlichen Verſuch dem lebenden - Menſchen gegenüber. Wenn wir leſen, daß heißen nun Opfer für eine Gottheit ſtatt ein Häuptling bei den Neu-Caledoniern Geſchenke für eine Perſon. Die urſprüng— zum Geiſte ſeines Vorfahren ſagt: „Barm- liche Uebereinſtimmung ergiebt ſich aber herziger Vater, hier iſt etwas Speiſe für deutlich aus folgender Bemerkung Guhl's Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 59 ihretwillen!“ — oder wenn der Veddah Theil an dieſem! Gewähre uns Deine Unterſtützung, wie Du es thateſt, als Du noch lebteſt!“ — ſo müſſen wir es als unleugbare Thatſache anerkennen, daß das Geſchenkemachen für die Todten genau das— ſelbe iſt wie das Geſchenkemachen für die Lebenden, mit der einzigen Ausnahme, daß dort der Empfänger unſichtbar iſt. Blos im Vorbeigehen ſei noch darauf hingewieſen, daß ein gleiches Motiv für eine ähnliche Verſöhnung der nicht genauer unterſchiedenen übernatürlichen Weſen befteht, . welche der primitive Menſch rings um ſich verbreitet glaubt, mag dieſe Verſöhnung zum Ausdruck kommen in den Reſten von Brod und Kuchen, welche unſere ſcandi— naviſchen Vorfahren für die Elfen und ähnliche Weſen übrig ließen, oder in den Speiſen und Getränken, welche die Dajaks bei ihren Feſtlichkeiten auf die Giebel der Häuſer ſtellen, um die Geiſter zu laben, oder in dem kleinen Antheil der Speiſe, welcher bei Seite geworfen, und des Trankes, der für die Geiſter ausgegoſſen wird, wie dies viele Raſſen auf der ganzen Erde zu thun pflegen, bevor ſie ihre Mahlzeiten beginnen. Wir wollen nun vielmehr dazu übergehen, das Geſchenkebringen in ſeiner ausgebildeteren Form für das entwickelte übernatürliche Weſen näher zu betrachten. Die hier geſchenkten Dinge und die Motive der Geber bleiben dieſelben, wenn auch die Identität mehr oder weniger durch die An— wendung anderer Worte verhüllt wird; ſie Dich; nimm ſie und ſei uns gnädig um über die Griechen: „Gaben, wie ein altes Sprichwort ſagt, beſtimmen die Handlungen einen verſtorbenen Verwandten bei feinem | der Götter und der Könige“; und ebenfo Namen ruft und ſagt: „Komm und nimm den Pſalmen (Pf. LXXVI, V. 11): „Ge- lobet und zahlet dem Herrn Eurem Gott, deutlich ergibt ſie ſich aus einem Vers in Alle, die ihr um Ihn her ſeid; bringet Geſchenke dem Schrecklichen!“ Aber außer— dem werden wir noch eine Uebereinſtimmung in den Einzelheiten finden, die außerordent— lich wichtig iſt. Speiſe und Trank, welche die urſprüng— lichſte Art von Verſöhnungsgaben für eine lebende Perſon ſowohl wie für einen Geiſt darſtellen, bleiben auch überall die weſent— lichen Beſtandtheile eines Opfers für eine Gottheit. Wenn ein Zulu einen Ochſen ſchlachtee, um ſich den guten Willen des Geiſtes ſeines todten Verwandten zu ſichern, welcher ſich im Traume bei ihm beklagt, daß er nicht geſpeiſt worden ſei — wenn dann unter den Zulus dieſe Privathandlung ſich zu einer öffentlichen Handlung ausbildet, indem von Zeit zu Zeit ein junger Ochſe getödtet wird „als Verſöhnungsopfer für den Geiſt des unmittelbaren Vorfahren des lebenden Königs“, ſo dürfen wir uns wohl fragen, ob nicht auf demſelben Wege jene Hand— lungen der ägyptiſchen Könige entſtaki— den ſeien, welche durch Hekatomben von Ochſen den Geiſtern ihrer vergötterten Väter zu gefallen hofften. Wir werden natürlich dieſe Uebereinſtimmung voll anerkennen und ſogar hinzufügen, daß, wenn auch in den ſpäteren Zeiten z. B. der Juden die urſprüngliche und grobe Auffaſſung der Opfer mehr und mehr verhüllt wurde und die primitive Theorie 60 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. ſeither allmählich ſich verflüchtigt hat, doch die Form immer noch fortbeſteht. Das Offertorium unſerer Kirche enthält immer noch die Worte: „Nimm an unſere Al— moſen und unſere Gaben“; und bei ihrer Krönung opferte die Königin Victoria am Altar durch die Hand des Erzbiſchofs „ein Altargewand von Gold und einen Gold— klumpen“, ein Schwert, ferner Brod und Wein für die Communion, und endlich einen Beutel voll Gold, worauf die Bitte folgte, „dieſe Opfer anzunehmen.“ Hieran ſchließt ſich eine fernere wichtige Bemerkung. Wir ſahen, daß das Geſchenk für den ſichtbaren Herrſcher urſprünglich um ſeines innern Werthes willen verſöh— nende Bedeutung hatte, ſpäter aber eine mehr äußerliche verſöhnende Wirkung er— langte, als Ausdruck der Loyalität. Ebenſo werden die Geſchenke für den unſichtbaren Herrſcher urſprünglich für unmittelbar nütz— lich gehalten und gewinnen erſt ſecundär den Charakter einer bloßen Verſicherung des Gehorſams; und erſt dieſe ſecundäre Bedeutung drückt dann dem Opfer jenes ceremonielle Gepräge auf, was bis auf den heutigen Tag geblieben iſt. Nun ſtoßen wir auf eine bemerkens— werthe Folgeerſcheinung. Wie ſich das Geſchenk für den Herrſcher ſchließlich zum Staatseinkommen entwickelt, ſo erweitert ſich das Geſchenk für den Gott mit der Zeit zum kirchlichen Einkommen. Gehen wir zunächſt von der früheſten Stufe aus, wo noch keine beſtimmte Orga— niſation der ſtaatlichen oder kirchlichen Ver— hältniſſe beſteht und wo die letzteren ſich einzig in dem Medicinmanne verkörpern, welchem vielmehr die Funktion obliegt, böswillige Geiſter auszutreiben, als ſolche zu verſöhnen, welche man einer Beſänftig— ung für fähig hält. Auf dieſer Stufe wird das Geſchenk für das übernatürliche Weſen oft zwiſchen ihm und denjenigen getheilt, welche daſſelbe zu verſöhnen haben, und zwar wohl auf Grund der meiſten— theils ſehr unklaren und unbeſtimmten Vor— ausſetzung, daß das übernatürliche Weſen entweder einen ſubſtantiellen Theil der dargebrachten Speiſe zu ſich nehme oder aber daß es ſich von dem vermeintlichen geiſtigen Inhalt derſelben nähre, während ſeine Anbeter blos die materielle Schale verzehrten. Es geſellt ſich die Deutung dazu, daß das übernatürliche Weſen nicht nur durch das Geſchenk von Speiſen verſöhnt, ſondern daß auch durch das ge— meinſchaftliche Verzehren der letzteren zwi— ſchen ihm und ſeinen Verſöhnern ein Band der Vereinigung geknüpft werde, welches von der einen Seite ſchützenden Einfluß und von der anderen Unterthanen— treue bedinge. Was uns jedoch hier hauptſächlich au— geht, iſt die Thatſache, daß aus dieſer Verwendung der Geſchenke ein Lebensunter— halt für die Prieſter gewonnen wird. Wenn wir leſen, daß die Prieſter der Chippeways „durch freiwillige Lieferungen von Lebensmit— teln unterhalten werden“ und daß die Prieſter der Khonds ihre beſtimmten Sporteln haben und Gaben empfangen, ſo ſehen wir un— gefähr, wie ſchon in dieſen rohen Geſell— ſchaften der Unterhalt einer Prieſterſchaft durch Opfer beginnt; und in anderen Fällen tritt dies noch deutlicher zu Tage. Bei den Kookies pflegt der Priefter, um die zornige Gottheit, welche Jemanden krank gemacht hat, zu beſänftigen, das nächſte beſte, z. B. ein Huhn, zu ergreifen, das, wie er behauptet, der Gott verlangt, und nachdem er das Blut deſſelben als Opfer auf den Boden hat ausſtrömen laſſen, wozu er Gebete murmelt, „jegt er ſich 1 müthlich nieder, röſtet und ißt das Huhn, wirft die Abfälle in die Dſchungeln und geht nach Hauſe.“ In gleicher Weiſe opfern die Battas auf Sumatra ihren Göttern Pferde, Büffel, Ziegen, Hunde, Geflügel „oder welches Thier gerade der Hexen— meiſter an dem betreffenden Tage am lieb— ſten eſſen möchte“. Und ferner leſen wir von den Buſtarſtämmen auf den Mahadeva— Bergen, daß bei ihnen Kodo Pen „von jedem neuen Ankömmling vor einem kleinen Steinhaufen verehrt wird durch Vermittel— ung des älteſten Anſiedlers, und zwar mit Geflügel, Eiern, Korn und einigen Kupfer- münzen, welche in den Beſitz des dienenden Prieſters übergehen“. Die etwas weiter entwickelten Geſellſchaften in Afrika zeigen uns eine gleiche Einrichtung. Burton erzählt, daß in Dahome „Diejenigen, welchen die «Pflege der Seelen» obliegt, keine regel— mäßige Bezahlung erhalten, ſondern ſehr wohl von den milden Gaben ihrer Ver— ehrer leben können;“ und Forbes ſpricht es noch beſtimmter aus, daß in ihren Tem— peln „alltäglich von den Andächtigen kleine Opfer niedergelegt und von den Prieſtern weggenommen werden.“ Ebenſo hängt im benachbarten Königreich von Aſchanti „das Einkommen der Fetiſchmänner ganz von der Freigebigkeit des Volkes ab. Hälfte der Opfergaben nämlich, welche dem Fetiſch dargebracht werden, gehört den Prieſtern“. Gleiches gilt für Polyneſien. Ellis erwähnt, daß der Doktor auf Ta— hiti faſt ausnahmslos ein Prieſter ſei und fügt hinzu, derſelbe empfange, bevor er ſeine Operationen beginne, eine gewiſſe Ent— ſchädigung, von der, wie man glaubte, ein Theil den Göttern gehören ſollte. Und ſo ſtand es endlich auch in den alten ameri— kaniſchen Staaten. Ein von Oviedo aufge— Die Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 1 „Bruder: opfert Ihr irgend etwas Anderes in Euren Tempeln? „Indianer: Jedermann bringt aus ſeinem Hauſe mit, was er zu opfern wünſcht — Geflügel, Fiſche, Mais oder andere Dinge — und die Knaben nehmen es und ſtellen es in den Tempel hinein. „Bruder: Wer ißt denn dieſe ge— opferten Dinge?“ „Indianer: Der Vater des Tempels ißt ſie, und was übrig bleibt, wird von den Knaben aufgegeſſen“. In Peru ſodann, wo die Verehrung der Todten die Hauptbeſchäftigung der Leben— den bildete und wo das ganze kirchliche Syſtem ſo künſtlich ausgebildet war, hatte die Anhäufung der Gaben für die Geiſter und Götter zahlreiche und reich ausgeſtattete „geweihte Güter“ entſtehen laſſen, von denen die Prieſter aller Grade erhalten wurden. Eine ähnliche Entſtehung ſolcher Güter erkennen wir aber auch bei den alten hiſto— riſchen Völkern. Bei den Griechen „fielen die Ueberreſte des Opfers als Entgelt den Prieſtern zu“ und „Alle, welche den Göttern dienten, wurden durch die Opfer und andere geweihte Gaben unterhalten“. Nicht an— ders bei den Hebräern. Im Leviticus, Cap. II, V. 10 leſen wir: „Und das, was vom Fleiſchopfer übrig bleibt, ſoll Aaron und ſeinen Söhnen gehören“ (den auserwählten Prieſtern); und an anderen Stellen wird dem Prieſter das Fell des Opfers und ſogar das ganze gebratene und geröſtete Opfer zuerkannt. Selbſt die Ge— ſchichte des ältern Chriſtenthums läßt eine gleiche Entwickelung erkennen. „In den erſten Jahrhunderten der Kirche waren jene Deposita pietatis, deren Tertullian erwähnt, ſämmtlich freiwillige Gaben“. Später „war ein genau beſtimmter Unter— ſchriebenes Wechſelgeſpräch enthält die Stelle: halt für den Clerus erforderlich, aber immer 62 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. noch wurden vom Volke jene Gaben dar— gebracht .. . .. Dieſe Gaben (welche be— zeichnet wurden als ewas fromme Chriſten Gott und der Kirche geopfert habens), an— fänglich durchaus freiwillig, wurden ſpäter in Folge der fortlaufenden Entrichtung durch die Sitte zu pflichtigen Abgaben.“ In den Zeiten des Mittelalters kommt es zu einer weiteren Stufe in dieſer Fortbildung. — Abgeſehen von Dem, was für die Communion der Prieſter und Laien erfor— derlich, und dem, was für Lobpreiſungen beſtimmt war, war es urſprünglich Brauch, alle möglichen Arten von Geſchenken dar— zubringen; in etwas ſpäterer Zeit aber wurden dieſe letzteren in das Haus des Biſchofs genommen und ſchließlich gar nicht mehr in die Kirche gebracht.“ Und indem dann ſolche Schenkungen ſich wieder— holten und vergrößerten und beſonders die dem Namen nach Gott, in Wirklichkeit aber der Kirche hinterlaſſenen Vermächt— niſſe dazu kamen, entſtanden die eigentlichen Kirchengüter. gegen die vorſtehende Darſtellung den Ein— wurf erhoben, daß ſie durchgängig nur die von Niedrigſtehenden zur Verſöhnung Höher ſtehender gemachten Geſchenke berückſichtige, während ſie diejenigen Geſchenke, welche die Höhern den Niedrigern machen und welche einen ſolchen Zweck nicht haben, gänzlich ignorire. In der That müſſen dieſe, ob— wohl ſie an dem, was man Herrſchaft des Ceremoniells nennen kann, keinen Antheil bekommen, doch noch kurz beſprochen werden. Der zwiſchen den beiden Arten von Ge— ſchenken hinſichtlich ihrer Bedeutung beſtehende Gegenſatz wird klar erſichtlich, wo das Ge— ſchenkemachen ſehr ausgekünſtelt iſt, wie in China. „Bei „den gebräuchlichen Wechſelbe— | ſuchen zwiſchen Höhern und Niedern oder nach denſelben findet ein Austauſch von Geſchenken ſtatt, aber die von den Erſteren gegebenen werden als Schenkungen dar— geſtellt, die von den Letzteren als Ge— bühren in Empfang genommen: es ſind dies nämlich die chineſiſchen Ausdrücke für die Geſchenke, welche zwiſchen dem Kaiſer und auswärtigen Fürſten ausgewechſelt werden.“ Wenn nun die Macht des Staatsober— hauptes ſich weiter ausbildet, bis daſſelbe ſchließlich das allgemeine Eigenthumsrecht mit wenig oder gar keiner Einſchränkung erlangt, ſo wird es naturgemäß zu einem Stand der Dinge kommen, wo jenes es nothwendig findet, ſeinen Anhängern und Unterthanen einen Theil deſſen zurückzu— geben, was es in ausſchließlichen Beſitz genommen hat. Und ſind die Letzteren ur— ſprünglich durch ihr Geben in eine gewiſſe Unterordnung gekommen, ſo werden ſie nun in einer Hinſicht wenigſtens durch ihr Em- pfangen noch weiter herabgedrückt. Völker, von denen man wie z. B. von den Kookies Ohne Zweifel hat mancher Leſer bereits was ſie beſitzen, ihnen nur durch die Gnade behaupten kann, daß „all das Eigenthum, des Rajah zugeſtanden iſt“, oder! ſolche Völker wie die Dahomeaner, welche mit ihrem Leben wie mit ihren Gütern Beſitz— thum ihres Königs ſind, befinden ſich offen— bar in der Lage, daß die Dinge, welche im Uebermaß nach dem Staatscentrum zu— ſammengefloſſen ſind, ſchon in Ermangelung einer anderen Verwendung wieder nach unten abfließen müſſen; und ſo giebt denn auch in Dahome der König, obgleich kein Staatsbe— amter bezahlt wird, doch ſeinen Miniſtern und Officieren königliche Gnadengeſchenke. Ohne uns jedoch weiter nach Belegen umzuſehen, wird es genügen, wenn wir dieſe Bezieh— ungen von Urſache und Wirkung in Eu— ropa von den älteſten Zeiten an bis zu uns herab verfolgen. Von den alten Ger- manen berichtet uns Tacitus: Häuptling muß ſeine Freigebigkeit beweiſen und ſeine Gefolgſchaft erwartet dies. Das eine Mal verlangt Einer dieſes Kriegsroß, das andere Mal jenen ſiegreichen, vom Blute des Feindes bedeckten Speer. Der Tiſch des Fürſten, ſo ſchmucklos er auch ſei, muß ſtets reichlich gedeckt ſein; dies iſt der einzige Sold Derer, die ihm folgen“. Mit anderen Worten: eine Alles umfaſſende Obergewalt bedingte als ihre einfache Folge Gnadengeſchenke für die von ihr Abhängi— gen. Die Zeit des Mittelalters charakte— riſirte ſich durch eine etwas modificirte Form deſſelben Syſtems. Im dreizehnten Jahrhundert — „damit die Prinzen von Geblüt, das ganze königliche Haus, die hohen Beamten der Krone und Alle .. .. vom Haushalt des Königs mit einer ge— wiſſen Auszeichnung auftreten könnten, gaben ihnen die Könige Kleider, entſprechend dem Range, den ſie einnahmen, und für die Jahreszeit geeignet, zu welcher dieſe feier— lichen Hoflager abgehalten wurden. Dieſe Kleider wurden Livreen („liveries“) ge— nannt, weil fie geliefert („delivered“) wurden“, als des Königs freie Geſchenke: eine Aeußerung, die deutlich beweiſt, wie die Entgegennahme ſolcher Geſchenke in der That Unterordnung bezeichnete. Bis ins fünfzehnte Jahrhundert pflegte der Herzog von Burgund an einem Feſttage den Rittern und Edeln ſeines Hauſes „Geſchenke von Kleinodien und reiche Gaben zu geben .. .. nach der Sitte der damaligen Zeit“. Wahr- ſcheinlich bildeten ſolche Geſchenke nebſt dem täglichen Unterhalt, der Wohnung und den Dienſtkleidungen für ſich und ihre Diener die einzige Entſchädigung für ihre Thätig— keit. Es braucht kaum hinzugefügt zu wer— den, daß auf derſelben Stufe des Fortſchrit— „Der Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 63 tes in Europa das von Königen, Herzögen und Edlen geübte Ausſtreuen von Gaben ins Volk gleichfalls eine Begleiterſcheinung jener unterthänigen Stellung war, in welcher die Entſchädigung, die der Beamte für ſeine | Arbeit abgeſehen vom täglichen Unterhalt empfing, viel mehr die Geſtalt einer Schenk— ung als eines Lohnes hatte. Uebrigens haben wir ſelbſt heutigen Tages noch in den Trinkgeldern und Weihnachtsgeſchenken für die Dienſtboten u. ſ. w. die letzten Ueberreſte eines Syſtems beibehalten, nach welchem die feſtgeſetzte Entſchädigung durch freie Gaben ergänzt wurde — ein Syſtem, das ſelbſt wieder die einfache Folge des früheren Syſtems war, nach welchem Ge— ſchenke überhaupt die einzige Entſchädigung bildeten. So dürfte es denn hinlänglich klar erwieſen ſein, daß ſich aus den von den | Unterthanen dargebrachten Geſchenken ſchließ— lich die Abgaben, Steuern und Sporteln entwickelt haben, während aus den Gaben, welche die herrſchenden Perſönlichkeiten ſpen— deten, mit der Zeit Löhne und Gehälter hervorgingen. Mit kurzen Worten ſeien hier noch die Geſchenke beſprochen, welche zwiſchen Solchen ausgetauſcht werden, die nicht in anerkann— ten Beziehungen von hoch und niedrig zu einander ſtehen. Die Betrachtung derſelben führt uns auf die primitive Form des Geſchenkemachens zurück, wie daſſelbe zwi— ſchen Fremden oder zwiſchen Gliedern ver— ſchiedener Geſellſchaften vorkommt; und angeſichts einiger der hierher gehörigen Thatſachen erhebt ſich eine Frage von großem Intereſſe: ob nicht aus der unter ſolchen Umſtänden gemachten Verſöhnungs— gabe eine andere wichtige Art ſocialer Hand— lungsweiſe hervorgeht? — Der Tauſch— handel nämlich wird keineswegs, wie wir an— 64 zunehmen geneigt find, überall von ſelbſt verſtanden. Cook erzählt, daß es ihm nicht gelungen ſei, irgend welchen Austauſch von Handelsartikeln mit den Auſtraliern ſeiner Zeit zu Stande zu bringen, und fügt hinzu: „Sie hatten in der That keine Idee vom Handel“. Und andere Aeußerungen laſſen vermuthen, daß auf der Stufe, wo der Waarenaustauſch beginnt, noch wenig Ver— ſtändniß für die Gleichwerthigkeit der ge | gebenen und empfangenen Dinge vorhanden iſt. Von den Oſtjaken, welche nach Bell's Bericht „ſie mit einer Fülle von Fiſchen und wildem Geflügel verſorgten“, ſagt Derſelbe: „Man braucht ihnen nur ein wenig Tabak und einen Schluck Branntwein zu geben, und ſie verlangen nichts weiter, da ſie den Gebrauch des Geldes nicht kennen“. Bedenken wir nun, daß anfangs gar kein Mittel vorhanden iſt, um Werthe zu meſſen, und daß die Vorſtellung von Gleichheit des Werthes erſt allmälig durch Uebung ausgebildet werden muß, ſo erſcheint es nicht unmöglich, daß gegenſeitige Ver— ſöhnung durch Gaben der Akt war, aus welchem ſich Tauſchhandel entwickelte. Die Erwartung, daß das empfangene Geſchenk von gleichem Werthe ſein werde wie das gegebene, ſtellt ſich dann erſt allmälig feſt und die ausgetauſchten Artikel verlieren zu gleicher Zeit den Charakter von Geſchenken. Den innigen Zuſammenhang dieſer beiden Formen kann man in der That ſchon aus den im Beginn dieſes Capitels angeführten allbekannten Beiſpielen von den Geſchenken europäiſcher Reiſender an eingeborene Häupt- | linge erkennen; ſo auch wenn Mungo Park ſchreibt: „Ich beſchenkte Manſa Kuſſan (den Häuptling von Julifunda) mit etwas Amber, Korallen und Scharlach, womit er vollkommen zufriedengeſtellt zu ſein ſchien, und er ſandte einen jungen Ochſen als Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Gegengeſchenk“. Solche Vorkommniſſe zeigen uns ſowohl die urſprüngliche Bedeutung des Einführungsgeſchenkes als Verſöhnungs— gabe, wie die Idee, daß das Erwiederungs— geſchenk annähernd denſelben Werth haben müſſe, was bereits eine Art formloſen Tauſchhandels iſt. Laſſen wir jedoch dieſe Speculation bei Seite, ſo iſt hier namentlich auf die Art und Weiſe aufmerkſam zu machen, wie das Verſöhnungsgeſchenk zu einem ſocialen Gebrauch wird. Wie jede andere Art von Ceremonien, welche ja alle von dem Streben ausgehen, den guten Willen irgend eines gefürchteten Weſens, eines ſichtbaren oder unſichtbaren, zu erwerben, ſo durch— läuft auch das Geſchenkemachen eine ganze Reihe von Stadien, bis es zu einem gegenſeitigen Höflichkeitsakt zwiſchen Solchen wird, die, ohne daß thatſächlich Einer dem Andern untergeordnet wäre, ſich doch zu gefallen ſuchen, indem ſie Unterordnung vorgeben. Daß ſelbſt neben der urſprüng— lichen Form deſſelben, die alſo Unterthanen— treue einem Häuptling oder König gegen— über ausdrückt, auch diejenige Form Ver— breitung finden kann, in welcher ſie nur ein Mittel darſtellt, um ſich im Allgemeinen die Freundſchaft mächtiger Perſonen zu ſichern, ſehen wir im alten Peru, wo, wie bereits bemerkt wurde, „Niemand ſich Ata— huallpa näherte, ohne zum Zeichen ſeiner Unterwürfigkeit ein Geſchenk mitzubringen“ und wo auch „die Indianer ſich nie einfallen ließen, vor einen höher Ge— ſtellten zu treten, ohne ein Geſchenk zu bringen“. In Yucatan ſodann erſtreckte ſich der Gebrauch auch auf Gleichgeſtellte. „Bei ihren Beſuchen führen die Indianer ſtets Geſchenke mit ſich, um dieſelben je „ Er vr nach ihrer Stellung wegzugeben; die Be— ſuchten antworteten mit einer andern Gabe.“ In Japan beſonders, wo jo ftreng auf Ceremonien gehalten wird, laſſen ſich dieſe Stadien der Umbildung deutlich erkennen: dort empfängt der Mikado periodiſch ſich wiederholende Geſchenke als Ausdruck der Loyalität; dort begegnen wir der von Mit- ford erwähnten Thatſache, daß „das Be— von demſelben Autor erwähnten Thatſache, daß es „zur guten Sitte gehört, bei Ge— legenheit des erſten Beſuches in einem Hauſe ein Geſchenk für den Eigenthümer Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 65 ſaß in der Eingangshalle ſeines Hauſes; ſie gingen an ihm vorüber und ein jeder Bürger, indem er ſeine Gabe in der Hand hielt, legte dieſelbe beim Vorübergehen zu den Füßen dieſes irdiſchen Gottes nieder. Dieſe Geſchenke beſtanden in Silbermünzen, und der Herrſcher gab dann eine ihren ſchenken der Höhern durch die Niedrigeren eine allgemeine Sitte iſt“, und der ferneren deſſelben mitzunehmen, welcher dann bei der Erwiederung des Beſuches Etwas von gleichem Werthe übergiebt“. Völkern ſehen wir dieſe gegenſeitige Ver— ſöhnung zwiſchen Gleichgeſtellten andere Formen annehmen. Markham berichtet in ſeiner Schilderung der Himalayavölker, daß das Austauſchen der Mützen „für einen ebenſo unzweideutigen Beweis der Freund— ſchaft in den Bergen gilt, als wenn im flachen Lande zwei Häuptlinge ihre Turbane austauſchen.“ Und Morgan ſagt, indem er ſich dabei hauptſächlich auf die Irokeſen bezieht: „Die indianiſchen Völker pflegten, nachdem ſie einen Vertrag abgeſchloſſen, ſtets ihre Gürtel mit einander auszutauſchen, welche dann nicht allein als Beſtätigung des Vertrags, ſondern auch als Andenken an denſelben galten“. Wie das Geſchenkemachen ſchließlich zur allgemeinen Sitte wird, in Folge der Furcht vor Gleichgeſtellten, die ſich feindlich zeigen möchten, wenn ſie übergangen werden, während Andere durch Geſchenke begütigt wurden, können wir ſchon aus der europäiſchen Ge— ſchichte erſehen. So „gab und empfing in Rom alle Welt Neujahrsgeſchenke“. Die Clienten gaben ſolche ihren Patronen; alle Römer gaben ſie dem Auguſtus. „Er Bei anderen Geſchenken gleiche oder ſogar eine größere Summe zurück.“ Wegen ihres Zuſammen— hangs mit heidniſchen Einrichtungen wurde dieſe Sitte, welche ſich in den chriſtlichen Zeiten forterhielt, von der Kirche vielfach verdammt. Schon im Jahre 578 verbot das Concil von Auxerre Neujahrsgeſchenke, welche es mit ſehr ſtarken Worten bezeich— nete. So ſagt Ives von Chartres: „Es giebt Leute, welche teufliſche Neujahrsgaben von Anderen annehmen und ſelbſt ſolche verſchenken.“ Im zwölften Jahrhundert predigte Maurice, Biſchof von Paris, gegen die böſen Leute, welche „ihren Glau— ben in Geſchenke ſetzten und ſagten, daß Keiner während des kommenden Jahres reich bleiben würde, der nicht am Neu— jahrstag ein Geſchenk bekommen hätte“. Trotz aller dieſer kirchlichen Interdikte erhielt ſich jedoch dieſe Sitte durch das ganze Mittelalter hindurch bis zur Neuzeit fort, wo denn die Prieſter ſelber ſo gut wie alle Andern an dieſem Gebrauch der gegenſeitigen Verſöhnung Theil nehmen. Außerdem haben ſich gleichzeitig noch andere ähnliche periodiſch wiederkehrende Ceremo— nien entwickelt; ſo in Frankreich das gegen— ſeitige Beſchenken mit Oſtereiern. Und auch die Schenkungen dieſer Art haben ähnliche Umwandelungen erlitten, wie wir ſie bei den bisherigen Arten nachweiſen konnten: indem ſie in mäßigem Umfang und freiwillig anfingen, ſind die Geſchenke mit der Zeit überreichlich und in gewiſſer Hinſicht pflichtig geworden. Kosmos, Band III. Heft 1. 66 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Stellen wir uns nun noch die Frage, in welcher Beziehung das Geſchenkemachen zu den verſchiedenen geſellſchaftlichen Typen ſteht, ſo iſt in erſter Linie hervorzuheben, daß dieſe Erſcheinungen in den einfachen Geſellſchaften, wo eine Häuptlingswürde noch gar nicht exiſtirt oder noch ſchwankend iſt, kaum vorkommt. Bei herumwandernden führerloſen Stämmen kann ſie ſich offenbar gar nicht feſtſetzen und zu einem Syſtem entwickeln, ebenſo wenig aber auch bei ein— fachen ſeßhaften Stämmen, deren Häuptlinge nur den Namen und keine Macht beſitzen. Wir finden ſie dagegen bedeutend ausgebil— det in zuſammengeſetzten und doppelt zuſam— mengeſetzten Geſellſchaften, ſo in ſämmtlichen halbeiviliſirten Staaten von Afrika, in denen von Polyneſien, in denen des alten Amerika u. ſ. w., wo die dauernde Einrichtung von Häuptlingswürden erſten und zweiten Ranges ſowohl die Veranlaſſung als das Motiv dazu bietet. Und indem wir dieſe That— ſache erkennen, wird uns auch die tiefere Wahrheit verſtändlich, daß das Geſchenke— machen nur in indirekter Beziehung dazu ſteht, ob der ſociale Typus einfach oder zuſammengeſetzt iſt, dagegen direkt mit ſeiner mehr oder weniger vollkommen krie— geriſchen Organiſation zuſammenhängt. Denn das Streben nach Verſöhnung muß um ſo größer ſein, je mehr die zu verſöhnende Perſon gefürchtet wird; daher iſt es vor Allem der ſiegreiche Häuptling und noch mehr der König, der ſich durch Waffen— gewalt zum Herrſcher über zahlreiche Häuptlinge emporgeſchwungen hat, deſſen Freundſchaft man ſich auf's eifrigſte durch Handlungen zu verſichern ſucht, welche gleichzeitig ſeine Habgier befriedigen und Unterwerfung unter ihn ausdrücken. Daraus erklärt ſich nun die Thatſache, daß die Ceremonie der Beſchenkung des Herrſchers vorzugsweiſe in den Geſellſchaften aus— gebildet iſt, welche entweder wirklich kriege— riſchen Charakters ſind oder in denen dauernde kriegeriſche Verhältniſſe während vergangener Zeiten die deſpotiſche Regier— ungsform zur Entwickelung gebracht haben, welche dem Geſchenkemachen ſo günſtig iſt. Daher ferner die Thatſache, daß im ganzen Orient, wo dieſer ſociale Typus durch— gängig herrſcht, die Beſchenkung der im Beſitz der Macht Befindlichen überall zwingendes Gebot iſt. Daher endlich die Thatſache, daß auch in Europa in früheren Jahrhunderten, ſo lange die ſocialen Thä— tigkeiten hauptſächlich kriegeriſch waren und der ganze Aufbau der Geſellſchaft dem ent— ſprach, unterthänige Beſchenkungen der Könige von Seiten Einzelner wie von Seiten ganzer Körperſchaften allgemeine Pflicht waren, während die Freigebigkeit der Höhern gegen ihre Untergebenen, da ſie gleichfalls eine Folge dieſes Zuſtandes der vollſtändigen Abhängigkeit iſt, welche den kriegeriſchen Typus begleitet, nicht minder zur guten Sitte gehörte. Der gleiche Zuſammenhang beſteht aber auch hinſichtlich der Sitte, den Gottheiten Geſchenke zu machen. In den untergegan— genen kriegeriſchen Staaten der neuen Welt hörten die Opfer für die Götter gar nicht auf und ihre Schreine bereicherten ſich immer mehr durch die darin niedergelegten Koſtbarkeiten. Papyrusrollen, Wandgemälde und Sculpturen in Menge beweiſen uns, daß auch bei den alten Nationen des Oſtens, deren Geſammtthätigkeit und geſellſchaftlicher Aufbau ſo ſehr kriegeriſch waren, die Dar— bringungen vor den Gottheiten ſehr reich— lich und häufig ſtattfanden und daß große Summen darauf verwendet wurden, die Orte glänzend auszuſtatten, wo jene ver— ehrt wurden. Ebenſo waren auch in ganz 2 Europa während der früheren kriegeriſchen Zeiten die Geſchenke für Gott und die Kirche viel allgemeiner und mannigfaltiger, als ſie es in den ſpäteren induſtriellen Zeiten geworden ſind. Daſſelbe gilt ſogar von der Sitte, ſich zum Zwecke geſellſchaftlicher Begütigung Geſchenke zu machen. Wir erkennen dies aus einer Vergleichung derjenigen europäiſchen Nationen, welche, im Uebrigen hinſichtlich ihrer Entwickelungsſtufe ziemlich auf der— ſelben Höhe ſtehend, doch in Betreff des Grades, bis zu welchem der kriegeriſche Typus vom induſtriellen zurückgedrängt worden iſt, ſich erheblich von einander unterſcheiden. In Deutſchland, wo zu be— ſtimmten Zeiten wiederkehrende Beſchenkun— gen zwiſchen Verwandten und Freunden zu den allgemeinen Verpflichtungen gehören, und in Frankreich, wo die hieraus erwach— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. * ſende Laſt ſo empfindlich wird, daß manche Leute nicht ſelten zu Weihnachten und Oſtern ihren Wohnort wechſeln, um derſelben zu entgehen, lebt dieſer geſellſchaftliche Brauch in viel größerer Stärke fort als in Eng— land mit ſeiner weniger kriegeriſchen Orga— niſation. Auch von dieſer Art des Ceremoniells können wir alſo wie von den bereits be— ſprochenen Arten ſagen, daß ſie mit der Befeſtigung jener ſtaatlichen Führerſchaft, welche durch kriegeriſche Thätigkeit hervor— gerufen wird, zuerſt beſtimmte Geſtalt ge— winnt, und daß ſie ſich mit der Ausbild— ung des kriegeriſchen Typus des geſellſchaft— lichen Aufbaues weiter entwickelt, um dann mit der Ausbildung des induſtriellen Typus allmälig wieder an Umfang und Bedeut— ung abzunehmen. (Fortſetzung folgt.) Die Ablölung der Menlchenopfer. Von Ernſt Keane. n einer der letzten ſeiner höchſt geiſtvollen Unterſuchungen über den Urſprung der Ceremonien und Gebräuche hat Herbert j Spencer hinſichtlich der Dar- bringung abgeſchnittener Körpertheile auf Gräbern und Altären die Meinung aus— gedrückt, daß dadurch wahrſcheinlich die Unterwerfung und Hingebung der Opfern— den ſymboliſirt werden ſollte, ſofern ent— ſprechende Verſtümmelungen an Sclaven und im Kriege bezwungenen Perſonen all— gemein vorgenommen wurden.) Für eine große Anzahl der hier in Betracht kom— menden Fälle dürfte dieſe Auffaſſung wohl die richtige ſein, aber andererſeits gehören mehrere der dort von Spencer angeführten Beiſpiele unzweifelhaft einer weſentlich ver— ſchiedenen Kategorie an, nämlich einer Ab— löſung der althergebrachten Menſchenopfer, durch Darbringung einzelner Körpertheile. Edward Tylor hat dieſen auf dem ganzen Erdenrund vor ſich gegangenen Ab— löſungsproceß mit der ihm eigenen Umſicht und Quellenkenntniß behandelt, *) aber ) Kosmos, Bd. II. S. 540 flgde. %) Anfänge der Kultur, Bd. II. S. 402 lade. (Deutſche Ausgabe, Leipzig 1873.) gleichwohl einige beſonders wichtige Punkte überſehen, weshalb es mir angemeſſen er— ſcheint, den Gegenſtand noch einmal abge— rundeter und mehr im Zuſammenhange dar— zuſtellen. Zum klareren Verſtändniß dieſes merkwürdigen Ablöſungsvorganges wird es zweckmäßig ſein, einige Worte über die Entſtehung der Opfergebräuche vorauszu— chicken. Zunächſt muß ich hier bemerken, daß ich ſtets die von Lubbock, Tylor, Spencer, ſowie früher ſchon von ein— zelnen deutſchen Forſchern vertretene Anſicht getheilt habe, daß der Urſprung der reli— giöſen Syſteme vorzüglich im Traum— leben des Urmenſchen zu ſuchen ſei. Da ſich aber eine in der pſychologiſchen Analyſe der Ur-Ideen des Menſchengeſchlechts ſo hervorragende Autorität, wie Otto Cas-— pari, dieſer Auffaſſung an verſchiedenen Stellen ſeines bahnbrechenden Werkes) ab— geneigt gezeigt hat, ſo ſehe ich mich veran— laßt, dieſe bereits früher von mir ausge— führte Anſicht mit einigen Worten zu vertheidigen. Auf den erſten Augenblick mag es allerdings ſonderbar erſcheinen, ein ) Urgeſchichte der Menſchheit. 2. Aufl. (Leipzig 1877) Bd. I. S. 349 flgde. | 1 ſeit Jahrtauſenden waches Leben, trotz der offenen Sinne noch immer von den Träu— men ſeiner Kindheit umſchattet zu nennen, aber wenn man ſich wirklich in die Lage des träumenden Urmenſchen vertieft, wird man ſich ſchwerlich der Einſicht verſchließen können, daß die Grundpfeiler aller Reli— gionen, der Glaube an körperloſe Exiſten— zen, an Geiſter, Dämonen und Götter, an den Verkehr mit denſelben und an die Unſterblichkeit der menſchlichen Seele, gar keinen andern Urſprung haben, als die Träume des Urmenſchen und die Reflexion über deren Inhalt. Der Einfluß der Träume auf das wache Leben bietet einen noch lange nicht erſchöpften Forſchungsgegenſtand dar. Die gebildete Welt legt nicht nur keinen Werth auf die Träume, ſondern ſie geht ſo weit, zu behaupten, daß gebildete Menſchen über— haupt nicht träumen; letztere vergeſſen nämlich ihre Träume, eben weil ſie dieſelben keiner Betrachtung würdig erachten. Wenn man nun in die weniger reflektirenden Schichten unſeres Bürgerthums hinabſteigt, ſo findet man die Familie alle Morgen am Früh— ſtückstiſch ihre Träume beſprechend; alle. Mitglieder derſelben haben geträumt. Noch eine Stufe niedriger, und man kann fort— während der Wendung begegnen: „Heute Nacht hat mich mein verſtorbener Mann, Sohn, Vater u. ſ. w. beſucht“, und der Glaube an die überirdiſche, prophetiſche, eingebungsvolle Natur der Träume iſt dort feſt begründet. Sollen wir in dieſer Be— ziehung erwarten, daß die noch eine ganze Reihe von Stufen tiefer ſtehenden Urmen- ſchen klüger geweſen ſeien, als alle dieſe Pfahl— bürger? Im Gegentheil, ſie erlagen der Uebermacht des Traumes vollſtändig, und wir find es, welche die Folgen jenes Tri- umphes des Phantaſielebens über den Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. | =, 69 wachen Zuſtand noch immer mit uns her— umtragen. Erſt da, wo beim Thiere die Fähigkeit der Reflexion über den Traum ganz aufhört, erliſcht auch die Macht des— ſelben; der träumende Hund, der einem Haſen im Schlafe nachjagte, kommt auch im Erwachen wohl nicht zur Erkenntniß, daß die Jagd nicht in dieſer Welt ſtatt— gefunden hat; er unterſcheidet nicht mehr Traum und Wirklichkeit. Anders bei dem Urmenſchen. Der ver— ſtorbene Vater, Gatte, Sohn, Häuptling tritt Nachts munter wie je an das Lager der Seinigen, ſpricht zu ihnen und zer— fließt, eine Weile noch dem offenen Auge des Erwachten ſichtbar, langſam in Luft. Was bleibt dem Naturkinde, welches keine Ahnung von der natürlichen Entſtehung ſolcher Vorgänge beſitzt, übrig, als zu glau— ben, die Verſtorbenen ſeien nicht todt, ſon— dern lebten in einem veränderten Zuſtande weiter; und vielleicht ſollten die ſchwer— gethürmten Steingräber einiger Stämme mit dazu dienen, die Verſtorbenen von ihren häufigen Beſuchen abzuhalten, während zahlreiche Völkerſchaften die Wohnungen den Verſtorbenen gänzlich überlaſſen, weil ſie deren beſtändige Nähe fürchten. Cas— pari fagt*): Man könne von keinem Geiſte träumen, wenn nicht dieſer Begriff vorher auf andere Weiſe ſich gebildet habe. In Wahrheit träumt man auch gewöhnlich nicht von geiſterhaften Weſen, ſondern meiſt nur von Exiſtenzen ſeiner Erfahrung, aber eben aus der ſpätern Reflexion über den Traum, aus der Disharmonie, in welcher deſſen Inhalt mit den Thatſachen des wachen Lebens ſteht, geht der Begriff einer geiſterhaften Exiſtenz der Traum— gebilde mit Nothwendigkeit hervor. Lubbock hat eine Reihe von Ausſprüchen ) A. a. O. I. S. 377. 70 tiefſtehender Völker geſammelt, die ſich alle hinſichtlich ihres Geiſterglaubens direkt auf ihre nächtlichen Erfahrungen beriefen. So erklärten die Veddahs auf Ceylon, daß ſie an Geiſter glaubten, weil ſie ihre ent— ſchlafenen Angehörigen im Traume ſähen, und die Manganjas in Südafrika begrün deten ihren Glauben an ein zukünftiges Leben ausdrücklich auf dieſelbe Thatſache.“) Darauf folgt die weitere Erfahrung, daß der Menſch im Traume entfernte Ge— genden ſieht, Reiſen, Jagden, Kämpfe und andere Abenteuer beſteht, während ihn ſeine Angehörigen verſichern, daß inzwiſchen ſein Körper ruhig an derſelben Stelle liegen geblieben ſei, wo er ihn hingelegt hatte. Der Naturmenſch iſt nicht gelehrt genug, um zu erkennen, daß ſeine Gehirn— faſern ſich einen Scherz mit ihm erlaubt haben, ſondern er folgert mit unumſtöß— licher Gewißheit, daß er ſelbſt ebenfalls ein derartiges unſichtbar davongehendes und umherſchwärmendes Weſen beſitze, wie das— jenige des verſtorbenen Freundes und Ver— wandten, kurz er findet ſeine innere Er— fahrung mit der vermeintlichen äußeren Erſcheinung anderer gleichartiger Exiſtenzen im ſchönſten Einklang, ſo daß der Spiri— tualismus ſich als ein ganz unausweichliches Produkt der Traumerfahrungen darſtellt. Viele Naturvölker glauben ihr körperloſes Doppelweſen beſonders im Schatten oder Spiegelbilde zu erkennen, woher ſich wahr— ſcheinlich die über den ganzen Erdball ver— breitete Angſt derſelben, ſich malen und ihr Spiegelbild hinwegnehmen zu laſſen, und ebenſo die Sorge einzelner Natur— Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. der Daſſelbe berichtet Crank von den Ein— völker herſchreibt, daß kranke Leute, bei denen jenes Doppelweſen beſonders geneigt ſcheint, von dem Körper zu entfliehen, ihren ) Lubbock, Entſtehung der Civiliſation. Deutſche Ausgabe. (Jena 1875.) S. 178 flgde. Schatten hübſch eng bei ſich behalten. Caspari ſcheint aus pſychologiſchen Grün— den daran zu zweifeln, daß das ungebildete Naturkind einen ſolchen fubtilen Begriff, wie den eines geiſtigen Weſens, formen könnte, allein mir ſcheint, daß bei dieſem Vorgange eine wirkliche Abſtraktion kaum vorhanden iſt, und daß es ſich im Gegen— theil bei der urſprünglichen Geiſtertheorie nur um eine allerroheſte Deutung des wirklich Erlebten handelt. So iſt denn auch jene Anſchauung von der Möglichkeit einer Entfernung des Geiſtes vom Körper im Traume bei den meiſten Naturvölkern verbreitet und ſie malt ſich unter Andern in der Vorſchrift deutſcher Sagen, den Schlafenden ja nicht umzukehren, damit die in Thiergeſtalt (Maus, Vogel, Schlange) entſchlüpfende Seele leicht den Rückweg finden könne. Auf dieſe Ideen-Verknüpfungen gründet ſich nun naturgemäß die niedere Religions— form des Manen-Dienſtes, die ſehr weit verbreitet iſt, und früher noch viel allgemeiner verbreitet war. In dieſer Re— ligionsform gelten die Träume als vor— nehmſte Offenbarungen des Ueberſinnlichen, und die Spuren dieſer Ueberſchätzung der nächtlichen Gehirnthätigkeit finden wir ja noch reichlich in der Bibel und in den In— cubationsträumen der claſſiſchen Völker. „Bei den Yorubans in Weſtafrika,“ er— zählt Burton, „werden die Träume für Offenbarungen, welche ihnen die Manen Hingeſchiedenen geben, angeſehen.“ gebornen Madagascars, und von den Natur— völkern Nord- und Südamerikas, ſowie Nordeuropas und -Aſiens iſt es bekannt, daß ſie ſich narkotiſcher Mittel bedienen, um den Traumverkehr mit ihren Manen und Göttern zu befördern. Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer. Eine unmittelbar ſich aufdrängende Frage war, wie und wovon dieſe Manen leben? Natürlich von Speiſe und Trank, lautete die Antwort, und wenn man nun auch an— nehmen konnte, daß der Verſtorbene, wenn man ihm ſeine Waffen ließ, ſich ſpäter auf der Jagd ſelbſt verſorgen könnte, ſo ſchien es doch gerathen, ihm, ehe er ſich in ſeinen neuen Zuſtand gefunden, Speiſe und Trank zum Grabe zu bringen. Dieſe Gewohn— heit, die bei manchen Völkern lange fort— geſetzt wird, ſcheint die primitivfte Form des religiöſen Opfers zu ſein, wie ſie die älteſte und verbreitetſte iſt. Daß die Opfer nicht angerührt werden, kann das Naturkind nicht beirren, denn alle dieſe Dinge haben in ſeiner Phantaſie etwas von ihnen ausgehendes Geiſtiges, von den am Grabe geſchlachteten Thieren ſteigt eine Seele empor, um ſich im Jenſeits jagen und verzehren zu laſſen u. ſ. w. In einem ebenſo witzigen als unverſchämten franzöſiſchen Buche des ſiebenzehnten Jahr— hunderts, in dem 51. Kapitel von Ver— ville's „Moyen de parvenir“ wird ein Bild von den Schmäuſen der abgeſchiedenen Geiſter entworfen, welches in vielen Punkten den Vorſtellungen der Speiſe und Trank opfern— den Kindheitsvölker entſprechen mag. „Erfah— ret denn,“ erzählt einer dieſer muntern Geiſter, „wie wir Abgeſchiedenen tafeln. Unſer guter Wein iſt gar nichts anderes, als der reine Geiſt des Weines, der ſelbſt den Quint— eſſenz-Bereitern entſchlüpft, unſere Braten werden aus den Seelen der Thiere zube— reitet. Ihr, die ihr materieller und kör— perlicher ſeid, eßt die Körper derſelben, wir dagegen die Seelen, welche wir mit dem Duft eurer Saucen, mit den feinſten im Feuer geläuterten Theilen der Gewürze, des Oeles und Salzes zubereiten.“ Vor Allem aber hatte der Verſtorbene a Anſpruch auf den Fortbefig feines Pferdes, ſeiner Sclaven und Sclavinnen und ebenſo ſeines Weibes im Jenſeits: dieſelben wur— den mithin ohne Gnade auf ſeinem Grabe geopfert, mit verbrannt, oder wohl gar lebendig mit ihm verſcharrt. Tylor hat die Beweiſe von der ungeheuren Verbreit— ung dieſes ſchrecklichen und doch ſo un— mittelbar folgerichtigen Gebrauches geſam— melt“) und ich will nur einige der bezeich— nendſten Beiſpiele daraus hervorheben. Ein Bericht von den Leichenfeierlichkeiten ange— ſehener Männer bei den Kajanen auf Bor— neo lautet folgendermaßen: „Sclaven wer— den getödtet, damit ſie dem Verſtorbenen folgen und ihn bedienen. Ehe ſie getödtet werden, ſchärfen ihre Angehörigen ihnen ein, ſich große Mühe um ihren Herrn zu geben, wenn ſie zu ihm kommen, ihn zu behüten und gehörig zu frottiren, wenn er unwohl ſei, immer in ſeiner Nähe zu ſein und allen ſeinen Befehlen zu gehorchen. Dann nehmen die weiblichen Verwandten des Verſtorbenen einen Speer und ver— wunden die Opfer leiſe, worauf die Män— ner ſie zu Tode ſpeeren.“ Auf den Fidſchi— Inſeln beſtand bis vor Kurzem der Ge— brauch, bei der Beſtattung angeſehener Perſonen ſeine Frauen, Freunde und Scla— ven feierlich zu ermorden und damit ſein Grab auszuſchmücken. Die Leichen der Frauen wurden wie zu einem Feſte geſalbt, mit neuen Franſengürteln bekleidet, der Kopf geputzt und verziert, Geſicht und Buſen mit Scharlach und Gelbwurz gepudert, an ſeine Seite gelegt. Bekanntlich iſt in Indien die Wittwenverbrennung, und in China der Selbſtmord der Wittwen noch heute eine ſehr lobenswerthe Handlung in den Augen der Altgläubigen. Auf niederer Culturſtufe ſtehende Völker, bei denen das Leben beſtän— 5) A. a. O. I. S. 451 flgde. 2 12 Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. dig in die Schanze geſchlagen und nicht beſonders hoch geachtet wird, findet man dieſes Verfahren auch ganz natürlich. Wie Caron erzählt, war es noch im ſiebenzehnten Jahrhundert in Japan allgemein üblich, daß beim Tode eines Adligen ſich zehn bis dreißig ſeiner Diener durch das ſogenannte Harakari oder Bauchaufſchlitzen freiwillig den Tod gaben, wozu ſie ſich allerdings bei Lebzeiten durch einen feierlichen Vertrag bei einer gemeinſchaftlichen Schmauſerei ver— pflichtet hatten, um ihrem Herrn im Jen— ſeits weiter zu dienen. Dieſe armen Leute waren, wenn der Herr ſich gut gegen ſie bewieſen hatte, froh, in der andern Welt ein ſo gutes Unterkommen zu finden. Wir finden dieſelbe Sitte auch in Alt— europa bei den Griechen, Galliern, Germa— nen und Slaven. Hygin erzählt, wie die Gattin des Proteſilaus den Scheiter— haufen deſſelben mit beſteigt, und ſo be— ſteigt Brunhild in der älteren Sage mit ihren Dienerinnen den Scheiterhaufen Si— gurds, und Baldr wird mit Diener, Pferd und Sattel verbrannt. Cäſar erzählt, daß die Gallier bei ihren Leichenfeierlich— keiten alle Koſtbarkeiten, Lieblingsſclaven und Hörige, Hausthiere u. ſ. w. mit ver— brannt hätten, und der heilige Bonifacius führt als Beiſpiel der ehelichen Treue bei den Slaven an, daß deren Frauen ihnen auf den Scheiterhaufen ſolgten. Dieſelben Gebräuche fand man noch in den jüngſten Zeiten durch ganz Amerika, Afrika und Aſien. Glaube herrſchend, daß alle Perſonen, die ſie im Leben beſiegt und getödtet haben, ihnen im Jenſeits dienen müſſen; darum der Drang ſo vieler kriegeriſcher Völker, ſo viele Menſchen als möglich zu tödten, und die Opferung der Kriegsgefangenen Bei kriegeriſchen Völkern iſt der | Aber man kann ihnen auch noch Diener nach— ſchicken, und bei den Indianern Nordame— rikas galt es als Freundſchaftsdienſt, einen Scalp auf das Grab des Verſtorbenen zu pflanzen. Bei den Dayaks werden förm— liche Kopfjagden zu dem Zwecke unter— nommen, einem verſtorbenen Verwandten oder Freunde Diener nachzuſenden. Bei den Begräbniſſen mongoliſcher Fürſten galt die Sitte, alle Perſonen, die dem Leichen— zuge zufällig begegneten, den übrigen Menſchenopfern zuzugeſellen. Am längſten erhielten ſich derartige Menſchenopfer natürlich bei den Begräb— niſſen von Häuptlingen und Fürſten und ſteigerten ſich hier nicht ſelten zu großen Maſſenexecutionen. Wir wundern uns nicht, wenn der König von Dahome in das Todtenland mit einem Gefolge zahlreicher Frauen, Eunuchen, Trommler, Sänger und Soldaten einzieht, denn in ſeinem Lande iſt ja das Morden die Hauptſache, aber ſelbſt in verhältnißmäßig friedlichen Ländern war es nicht viel beſſer. Die Japaner erzählen, daß bis zur Zeit des elften Mi— kado Suining Tenno bei dem Begräbniſſe des Kaiſers oder der Kaiſerin deren ge— ſammter Hofſtaat, die männlichen, wie die weiblichen Perſonen, rings um das Grab bis an den Hals lebendig eingegraben wur— den und eine lebendige Schirmhecke bilde— ten, bis ſie einem martervollen Tode er— lagen. Marco Polo berichtet aus dem dreizehnten Jahrhundert, wie ſich die Reiter— garde in den Scheiterhaufen des Königs von Malabar zu ſtürzen pflegte, um ihn im Jenſeits weiter zu beſchirmen. Ganz entſprechende Berichte beſitzen wir aus Alt— mexico, Peru, Bogota und andern halb— civiliſirten Staaten. Bei wilden Völkern geht es darum nicht beſſer her. Mit einem ver— z. B. auf dem Grabe des Patroclus. ſtorbenen Wados-Häuptling wird ein Sclave und eine Sclavin lebendig begraben, jener mit einer Sichel in der Hand, um Holz zur Feuerung zu ſchneiden, dieſe um ihm das Haupt zu halten. Bei den Unyam⸗ wezis wird der Häuptling in einer gewölb— ten Grube, den Bogen in der Hand, auf einen Schemel geſetzt, zu ſeinen Füßen ein | Topf voll einheimiſchen Bieres, und mit ihm werden drei Sclavinnen lebendig be— graben. Der verſtorbene König von Da— home empfängt auch ſpäter von ſeinem Nachfolger beſtändige Botſchaften über alle neueren Regierungshandlungen durch Per- ſonen, denen man die oft ſehr unwichtige Nachricht einſchärft und ſie dann in der freundlichſten Abſicht ermordet. Die todten Häuptlinge bildeten den Uebergang von den Manen zu den Göttern, und viele Forſcher find aus triftigen Grün— den der Meinung, daß ſich die Götter— verehrung erſt aus dem Manendienſte ent— wickelt habe. Jedenfalls iſt der Begriff der Dämonen und Gottheiten erſt aus dem des unſichtbar fortlebenden Menſchengeiſtes entſtanden. Das ſind jedoch entferntere Con— ſequenzen der Traumvorſtellungen, die ſchon eine höhere Geiſtesthätigkeit vorausſetzen; ſie mangeln daher oft, während der Manen— dienſt kaum irgendwo gänzlich fehlte. Manche Dämonen geben ſich unmittelbar als Traum— Quälgeiſter, welche unſerm Alp und dem Vampyr, dem Succubus und Incubus, ent- ſprechen. Die Sorge aber, die man em— pfand, es den Manen an nichts fehlen zu laſſen, damit ſie freundlich und hilfreich ihre Hinterbliebenen umſchwebten, dieſelbe im höhern Grade mit Furcht gemiſchte Sorge trieb dazu, den Dämonen und Göttern ähnliche Gaben zu widmen, wie den Verſtorbenen. Alſo zunächſt Speiſe— und Trank-Opfer. An einer anderen Kosmos, Band III. Heft 1. Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 73 Stelle) habe ich ausführlich darzulegen geſucht, wie man in der aufwärts ſteigen— den Flamme einen Boten und Mittler er— kannte, um die dargebotenen Geſchenke an Stelle der Ueberirdiſchen in Empfang zu nehmen, und den geiſtigen Theil der Ga— ben, welcher den Göttern behagt, nach oben zu tragen, wie ſich daraus die Verehrung des Silik-mulu⸗khi bei den Akkadiern, des Agni bei den Indern, des Mithra bei den Perſern und der anderen Verſöhner- und und Mittlergeſtalten entwickelte. Selbſtverſtändlich gingen nun auch die Thier- und Menſchenopfer aus dem Todten— dienſt in den Götzendienſt über, aber hier vollzieht ſich eine eigenthümliche Wandlung. Wie man aus naheliegenden Ideen-Ver— knüpfungen fehlerfreie Thiere, das erſte junge Gemüſe und Obſt, von Allem das Beſte für die Götter ausſuchte, ſo wurden im Beſondern zur Verſöhnung derjenigen Götzen und Dämonen, die man für böſen Charakters hielt, an vielen Orten der Welt außer Kriegsgefangenen und Sclaven die eigenen Kinder, Jünglinge und Jung— frauen zu Opfern erwählt. Neben den Erſtlingen des Feldes und Viehhofes blutete die menſchliche Erſtgeburt auf den Altären. Insbeſondere fand dies in den Tempeln der Sonnengottheiten ſtatt, die in warmen ſchöpfungen kund, ſo die weit verbreiteten Ländern oftmals als die ſengenden und verwüſtenden Gewalten des Himmels an— geſehen werden. Im alten Babylon ſuchte der Menſch vor dieſer den Todespfeil ſen— denden Strahlengottheit Gnade zu finden, indem er ihr das Leben ſeines erſtgebornen Kindes für das ſeinige anbot. Ein kleines, in der Bibliothek von Niniveh vor wenigen Jahren aufgefundenes Ziegelſteinfragment beſtätigt die Angabe der Bibel (2. Könige, 9 Der Spfergott und die Mittler-Idee. (Voſſiſche Zeitung 1876, Nr. 176.) 10 74 Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer. Cap. 17, V. 31), daß man dem Sonnen gotte von Sippora die Erſtgeburt geopfert hat, es lautet: „Den Sprößling, der aus der Menſchheit hervorwächſt, — den Spröß— ling hat er für ſein Leben hingegeben, — das Haupt des Sprößlings hat er für ſein Haupt hingegeben, — die Stirn des Sprößlings hat er für ſeine Stirn hin— gegeben, — die Bruſt des Sprößlings hat er für feine Bruſt hingegeben.“ Es ſcheint, daß dieſe Verſöhnung des gefürchteten Son— nengottes durch Menſchenopfer ein vorwie— gend ſemitiſcher Zug iſt, wenigſtens fehlt dieſer grauſame Sonnengott in keiner ſemi⸗ tischen Religion. In Sippora hieß er Malik, in Amathus Malika, in Canaan Melech oder Moloch, in Phönizien und Karthago Melkarth, d. h. in allen dieſen Sprachen der König (der Götter). Ihm opferte der König von Moab vor dem Streite ſeinen älteſten Sohn auf der Mauer zum Brandopfer, die Phönizier Kinder der edelſten Familien, ja es ſcheint, daß man bei ſeinem Jahresopfer ausdrück— lich ſolche Eltern beraubte, die nur ein ein— ziges Kind hatten, damit das Opfer, je ſchmerzlicher, deſto größer ſei. Als Helio⸗ gabalus dieſen ſemitiſchen Sonnengott nach Rom überſiedelte, wurden die edelſten Jünglinge zu Opfern für ihn auserſehen. Man ſtellte den von den Griechen und Römern mit Kronos oder Saturn ver— wechſelten Gott als metallne Figur mit in gebückter Stellung vorgeſtreckten Händen dar, auf welche man die Kinder niederlegte, die dann in einen glühend gemachten Schlund hinabrollten. Schon der menſchenfreund— liche Tyrann Gelon von Syracus nahm nach ſeinem Siege über die Karthager (480 v. Chr.) in den Friedenstraktat die Bedingung auf, daß die Menſchenopfer aufhören ſollten, aber noch viel ſpäter be— mühten ſich die römiſchen Gewalthaber um Abſtellung dieſer barbariſchen Sitte. Es bleibt kaum ein Zweifel bei dem tieferblickenden Kritiker, daß es dieſelbe blutdürſtige Gottheit geweſen iſt, welche die Juden bis zu den Zeiten des Moſes unter dem Namen El Schaddai, d. h. der Ver— wüſter oder Vernichter, angebetet haben, und in deſſen ſchrecklichen Dienſt ſie auch ſpäter noch oftmals zurückfielen. Sie war es, die von Abraham und Moſes das Leben der Erſtgeburt verlangte, und der Jephtha, wohl in einem Rückfalle, ſeine einzige Tochter opferte. Die zahlreichen, den Dämonen und Ungeheuern dargebrach— ten Jungfrauen-Opfer gehören ebenfalls hierher. Dieſe grauſamen, offenbar aus dem Manendienſt entſprungenen Menſchenopfer forderten aber mit der Klärung der Reli— gionsſyſteme von ſelbſt zu einer Milderung auf, wozu der Mißbrauch der Prieſter bei— getragen haben mag, die Kinder angeſehener Perſonen, denen ſie feindlich geſinnt waren, als der Gottheit angenehmſte Opfer zu be- zeichnen. In der Iphigenien-Mythe glau- ben wir den poetiſchen Nachklang ſolcher prieſterlichen Racheakte zu ſehen. Ueber— haupt kann man eine allgemeine Ten— denz zur Ablöſung der Opfer aller Art bei allen Völkern conſtatiren, und bei denjenigen, die eine geſchriebene Poeſie beſitzen, kann man dieſe Ablöſung in unendlichen Dichtungskreiſen verfolgen. So z. B. hörte man bald auf, den Ver⸗ ſtorbenen geſchlachtete Thiere und Menſchen ins Grab zu werfen und den Göttern zu verbrennen, man verzehrte, nebſt den dazu gehörigen Getränken, beides ſelbſt, woraus große Leichenſchmauſereien entſtanden, bei welchen die Anthropophagie einen ſtarken Hinterhalt fand. Den Manen und Göttern Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 5 wurden, da es ihnen ja ohnehin nur auf die Seelen der Opfer ankommen konnte, die unbrauchbaren Theile nur noch gleich— ſam als Beweisſtücke dargebracht. Zuletzt verbrannte man auf den Speiſealtären nur noch aus Mehl und Fett hergeſtellte Ab— bilder der Opferthiere nebſt den mit den Eingeweiden und unbrauchbaren Fetttheilen umwundenen Knochen und goß eine knappe Libation in die Flamme. Der Spötter Lucian hat in einem ſeiner göttlichen Göttergeſpräche dieſe Uebervortheilung der Götter durch die jüngere Generation poetiſch dargeſtelltt. Dem Prometheus wird die Schuld an Allem beigemeſſen; nicht dafür, daß er das Feuer vom Himmel geſtohlen, habe ihn Zeus an den Felſen ſchmieden laſſen, ſondern dafür, daß er den Menſchen das böſe Beiſpiel gegeben habe, den Göttern ſtatt der beſten und ſaftigſten Stücke die Knochen hinzuwerfen. Heſiod erzählt denſelben Vorgang als eine Art neuen Bundes zwiſchen den Olympiern und Griechen, bei denen Prometheus die Ver— handlungen leitete: . Als einſt ſich verglichen die Götter und ſterblichen Menſchen, — dort zu Mekone, da theilt' er den mächtigen Stier mit bedachtem — Sinn in Stücke und nahm ſich vor, Zeus' Geiſt zu betrü— gen. — Hierher legt' er das Fleiſch und in glänzendem Fett die Geweide — Nur in der Haut, und deckte ſie zu mit dem Magen des Stieres; — Dorthin legt er des Stieres weißſchimmernde Knochen mit Argliſt — Künſtlich geordnet nieder, bedeckt mit glänzendem Fette. — Jetzo zu ihm nun ſprach Allvater der Menſchen und Götter: — „Japeto's Sproſſe, vortreff— lichſter du von ſämmtlichen Herrſchern, — Lieber, wie haſt du die Theile zerlegt mit befangenem Sinne!“ — Ihm entgegnete wieder Prometheus liſtigen Geiſtes, — Lächelte ſanft, doch ohne die trügliche Kunſt zu vergeſſen: — „Zeus, ruhmvollſter und größter der ewig geborenen Götter, — Wähle du, welchen der Theile der Sinn dir im Herzen gebietet!“ — Sprach's mit betrüglichem Geiſt; doch Zeus, der unend— lichen Rath weiß, — Dieſer erkannt' es und merkte die Liſt und dachte Verderben — Jetzt für die ſterblichen Menſchen, das bald auch ſollte geſchehen! — Drauf mit der Rechten und Linken enthob er das weißliche Stierfett, — Und da ergrimmt' er im Geiſt und Grollen erfüllte das Herz ihm, — Wie er die weißlichen Knochen des Stiers mit der liſtigen Kunſt ſah. — Seither ſieht man den Göttern die Stämme der Menſchen auf Erden — Im— mer die weißlichen Knochen verbrennen auf duft'gen Altären.“ Prometheus wurde für dieſen Streich an den Kaukaſus geſchmiedet, aber der neue Bund war einmal gemacht und es hatte bei demſelben ſein Bewenden. Auf zweierlei iſt hierbei aufmerkſam zu machen; einmal, daß die Vereinfachung des Opfers als „neuer Bund“ bezeichnet wird, und zweitens, daß die Dichter dieſen Vorgang als Ueberliſtung der Götter darſtellen. Zeus war ſo indignirt über das Verfahren, daß er, an Hekatomben gewöhnt, in der Folge lieber bei den freigebigen Aethiopern zu Gaſte ging, die noch nicht ſo raffinirt waren, wie die Griechen. Dieſer Ablöſungsproceß ging in der Folge immer weiter. Die Nothwendigkeit, jene Eingeweide und Fetttheile, wegen des üblen Geruches, den ſie beim Verbrennen bereiteten, vorher mit Spezereien und wohl— riechenden Harzen zu beſtreuen, führte dazu, den eigentlich weſentlichen Theil des Brand— opfers ganz fortzulaſſen, und nur die Zu— 76 Krauſe, Die Ablöſung der Menjchenopfer. that noch in die Opferflamme zu ſtreuen, die Götter mit dem Wohlgeruch abzuſpeiſen. So wurde aus dem Brandopfer das Rauchopfer, welches ſich bis auf den heu- tigen Tag in den katholiſchen Kirchen er- halten hat. In ähnlicher Weiſe ging es mit der Ablöſung der Trankopfer. An die Stelle der vollen Gefäße, die man früher zu den Gräbern und Tempeln trug, traten kleine Schälchen Flüſſigkeit, die man in die Flamme goß, und den Unterirdiſchen pflegten die Griechen bei ihren Mahlzeiten ein „ſtilles Glas“ zu widmen, von welchem man einige Tropfen auf den Boden ſchüttete. Bei den Römern wurde den Todten noch in ſpäterer Zeit ein Fläſchchen Wein in's Grab mitgegeben, Gefäße, deren einge— trockneten Inhalt man ſeltſamer Weiſe häu— fig für „Märtyrerblut“ ausgegeben hat. Im vergangenen Jahre hat man zu Alys— camps bei Arles ein derartiges Opferfläſch— chen aus zugeſchmolzenem Glaſe auf dem großen römiſchen Begräbnißplatze gefunden, ſo daß der Inhalt noch nach mindeſtens fünfzehnhundert Jahren wohlerhalten war und der chemiſchen Analyſe unterworfen werden konnte. Berthelot hat dieſelbe vorgenommen und gefunden, daß man einen Wein ſehr geringer Qualität, wahrſcheinlich ſchon ſauer, als er eingefüllt wurde, für die Manen ausreichend gehalten hat. Natürlich hat unter Allen die Ablöſung der Menſchenopfer in der Erinnerung der Völker die meiſten Spuren zurückgelaſſen. Statt der Eingeborenen ſchlachtete man am Altare der tauriſchen Diana Fremde, an— derswo Sclaven, Kriegsgefangene, ja ſelbſt Verbrecher. In Zeiten der Noth kamen dann freilich, weil man den Zorn der Götter erregt zu haben fürchtete, wieder zeitweiſe Rückfälle vor, und in Karthago warf man nach den Siegen des Agathokles dem Molochbilde mit einem Male zwei— hundert Kinder der edelſten Familien in den Feuerrachen, nachdem man längere Zeit mit gekauften Kindern das Bedürfniß ge— ſtillt hatte. Auch die Ablöſung der Jung— frauen und Keuſchheitsopfer gehört hierher, und in mannigfachen Dichtungen der ſpä— teren Zeit wurde derjenige als Befreier gefeiert, der dieſe Menſchenopfer vielleicht durch Beſiegung des Staates, dem ſie als Tribut zu liefern waren, abgeſtellt hatte. Hierher gehört wahrſcheinlich auch die Per— ſeus- und Theſeus-Mythe. Die häufigſte und zunächſt liegende Ablöſungsform für das Menſchenopfer ſtellt nun die Darbietung eines Theiles für das Ganze dar: die verpflichteten Perſonen geben ſtatt Leib und Blut nur noch ein Glied ihres Körpers oder einen Theil ihres Blutes zur Befriedigung der Manen und Götter her, um den guten Willen zu zeigen. In dieſen Ideenkreis ſcheint mir nun vor Allem, was Spencer und ſogar Tylor entgangen iſt, die Be— ſchneidung der Juden zu gehören. Ihre Mythen deuten es ganz unverkennbar an. El Schaddai, der ſchreckliche Gott Abrahams, verlangt, wie er es in deſſen chaldäiſcher Heimath gewohnt war, das Leben Iſaaks, der Erſtgeburt. Durch den Gehorſam Abrahams läßt er ſich erweichen, macht, wie Zeus mit Prometheus, einen neuen Bund mit ihm, in deſſen Pakten das Erſtgeburt— Opfer aufgehoben und dafür die Beſchneid— ung als Bundeszeichen entgegengenommen wird. Iſaak iſt der erſte Erſtgeborne, an welchem die mildere Praxis geübt wird. Dieſe Deutung könnte zweifelhaft erſcheinen, aber ſie wiederholt ſich nochmals in der Geſchichte des Moſes (Exodus 4, 23 — 26). Wiederum erſcheint El Schaddai und verlangt die Erſtgeburt Moſis. Da nahm Zippora, P oe F u * m. Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 11 \ die Frau des Moſes, einen Stein und beſchnitt das Kind und bei dem gefloſſenen Blute wird ein neuer Bund gemacht, des Inhalts, daß in Zukunft nicht mehr die Erſtgeburt, ſondern an Stelle derſelben die Vorhaut aller männlichen Sprößlinge ge— opfert werden ſolle. Erſt nachdem dieſes Zeichen des neuen Bundes feſtgeſtellt iſt, verſchwindet der ſchreckliche El Schaddai und an ſeine Stelle tritt der mildere Jahve. (Exodus 6, 3.) Faſt noch klarer iſt dieſer Sinn bei den von Spencer ebenfalls anders ge— deuteten Fingeropfern an den friſchen Grä— bern der Familienväter und Häuptlinge. Zum Zeichen der Dienſtbarkeit, welche Frauen und Kinder dem vorangegangenen Fami— lienhaupte im Jenſeits ſchulden, bietet man ihm als paſſendſtes Symbol der Dienſtbar— keit einen Finger. Die Nicobaren verbrennen, wie Hamilton erzählt, mit den Todten zugleich ſein Beſitzthum und ſein Weib muß ſich (offenbar zum Erſatz für ihr Leben) ein Fingerglied abſchneiden laſſen. Natürlich kann dieſe Ceremonie auch zur Rettung denn vor Allem brachte man ja den Todes— gottheiten Menſchenopfer, wie wir ſchon früher geſehen haben; noch der Kaiſer Hadrian glaubte nur durch den freiwilligen Tod ſeines Lieblings (Antinous) die Ge— ſundheit wiedererhalten zu haben, und dieſelbe Sitte fand ſich in Peru. In allen ſolchen Fällen handelte man aber ſpäter den Preis herab; in Indien ſuchte man die Todes— göttin mit einen abgeſchnittenen Finger zu beſänftigen, und an vielen Orten der Welt diente auf Gräbern und Altären ein frei— williger Aderlaß an Stelle des tödtlichen Blutverluſtes. Ja es ſcheint ſogar, daß die weitverbreitete Sitte, ſich bei Todes— fällen in der Familie das Haar kurz zu einer erkrankten Perſon dienen, ſcheeren, nicht ein einfacher Ausdruck der Trauer iſt, in der man ſich des Haares, wie jedes andern Schmuckes, entledigt, ſon— dern urſprünglich in einigen Fällen das Löſungsmittel des den Manen oder der Gottheit verfallenen Hauptes. So hängen die Neuſeeländer nach Polack's Angabe Haarlocken an den Bäumen des als Opfer— platz allgemein anerkannten Begräbnißortes auf und die Sitte der klaſſiſchen Völker, das abgeſchnittene Haar der zur Mannheit herangereiften Jugend der Hauptgottheit des Geburtsortes als Opfergabe zu ſenden, zeigt eine unverkennbare Parallele mit der Hergabe der Vorhaut am Altare. Dieſe ſtellvertretende Bedeutung des Hauptſchmuckes tritt beſonders deutlich in der von römiſchen Autoren vielfach behan— delten Mythe hervor, in welcher ſich Ju— piter von Numa ſtatt der zur Sühne verlangten Menſchenhäupter deren Haar unterſchieben läßt. Ovid hat mit Humor die Unterhandlung des königlichen Ober— prieſters mit dem Gotte, wie die Feilſcherei mit einem jüdiſchen Handelsmann, der viel verlangt, während man ihm wenig bietet, geſchildert. Jupiter eröffnet den Handel: „Bringe zur Sühn' einen Kopf!“ „Ich gehorch'“ iſt des Königs Entgegnung; — „Denn von der Zwiebel den Kopf bring' aus dem Garten ich dir.“ — „Nein, einen menſchlichen Kopf!“ „Du meineſt ſein Haar von dem Scheitel?“ — „Nein, das Leben mein' ich!“ Numa ruft ſchnell: „eines Fiſch's?“ — Lächelnd darauf der Gott: „Nun, fühne nur jo den Blitzſtrahl, — Mann, der Götter ſogar mag im Geſpräche beſtehn“. Der Kirchenvater Arnobius, der den ſeltſamen Handel ebenſo erzählt und Beide hernach einen Lieferungsvertrag auf Zwiebelhäupter und Haare ſtatt der Men— 78 Krause, Die Ablöſung der Menſchenopfer. ſchenhäupter abſchließen läßt, braucht mehrere derlei Geſchlechtes und aus verſchiedenen Schriftſeiten, um die Albernheit dieſes heidniſchen Handels bloszuſtellen. Abge— ſehen von der Redeliſt und Schlagfertigkeit, die den Naturvölkern, wie ihre Dichtungen beweiſen, einen großen Beifall abgewannen, bietet dieſe Mythe allerdings nur von dem entwickelungsgeſchichtlichen Standpunkte eini— gen Gehalt, ſofern ſich darin eben jener auf dialectiſche Schlüſſe begründete Ablöſ— ungsvorgang läſtig gewordener Abgaben malt. Sobald das Menſchenleben, welches den Wilden ſehr wenig gilt, an Werth ge— wonnen hatte, ſuchte man ſich in der That mit allerlei Winkelzügen den hergebrachten Ver— pflichtungen zu entziehen. Hier und da wird das Opfer noch ſcheinbar gebracht, oder in ſeinen Eingangsceremonien nach— geahmt. Bei einigen Indianerſtämmen Nordamerikas legt die Wittwe für einige Augenblicke ihr Haupt neben das ihres Gatten auf den ſchon brennenden Scheiter— haufen und bei den Oſſeten im Kaukaſus wird Gattin und Leibpferd dreimal um das Grab des Verſtorbenen geführt, und beide bleiben ihm ihr Lebelang geweiht; die Frau darf ſich nicht neu vermählen und Niemand des Verſtorbenen Roß be— ſteigen. Sogar die ariſchen Hirtenſtämme am Himalaya, haben, wie H. Wilſon in einer gelehrten Abhandlung nachgewieſen hat, ihre Menſchenopfer (Purucha medha) gehabt, aber man darf ſich nicht wundern, daß ſie bei ihnen ihre Ablöſung ſchneller als irgendwo fanden, da ſie ihren milden Sitten entſchieden widerſtrebten, und es iſt dies um ſo natürlicher, als die Menſchen— opfer überall mit der Einführung eines regelmäßigen Ackerbaues und der Viehzucht verſchwunden find. Eine in der Ydjur— Veda beſchriebene Ceremonie ſtellt ihre Ablöſungsform dar: 185 Perſonen bei Stämmen wurden an elf Pupa's oder Opferpfählen feſtgebunden und erſt nach— dem man einen Hymnus zu Ehren Na— rayana's geſungen, wieder befreit. Als Löſegeld brachte man dann für die Men— ſchen — Butterſpenden dar. Während früher in Indien der Todesgöttin Kali maſſenhaft Menſchen geopfert wurden, haben die Par— ſen und indiſchen Brahmanen ſogar die Thieropfer (Agniſchtoma der Veden) ab— geſchafft. Wie oben die Menſchenopfer der Flamme nur gezeigt wurden, ſo nahm man nach Haug bei der parſiſchen Izeſchne— Ceremonie einige Ochſenhaare und zeigte ſie dem Opferfeuer, ohne daſſelbe durch die Berührung damit zu verunreinigen. Die Brahmanen erſetzen, um kein Thier zu tödten, das vorſchriftsmäßige Opferthier durch eine Nachbildung aus Butter und Mehl. Aehnlich verfuhr man auch bei den Griechen und Römern, und ärmere Leute, die kein Opferthier bezahlen konnten, legten je nach dem Vermögensſtande kleine Nach— bildungen aus Silber, Bronze oder Thon auf dem Altare nieder. Ueberall wo man alte Opferſtätten aufgeräumt hat, fand man dieſe ſtellvertretenden Figuren und oft in ſo großen Mengen, daß man an einen ſchwunghaften Handel mit denſelben vor den Tempelhäuſern denken muß. Noch kürzlich hat man wieder in Olympia Hun— derte ſolcher kleinen Bronzen gefunden, meiſt Ochſen, Kühe, Widder, Pferde dar— ſtellend. Aber auch Hirſche, Haſen und Vögel kommen vor und oft iſt die Arbeit ſo archaiſtiſch, daß man die Species nicht zu beſtimmen wagt. Auch menſchliche Figuren finden ſich darunter in Maſſe, die wohl die Opfernden oder die Hilfe— flehenden, für die man opferte, vorſtellen ſollten. In ähnlicher Weiſe hat man aber Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 79 auch zum Opfer beſtimmte Menſchen ſpäter in effigie den Todten mit ins Grab ge— geben oder zum Opfer verwendet. Heinrich von Siebold, Attache der öſterreichiſchen Geſandtſchaft in Yeddo hat vor kurzem eine Abhandlung über die Tſchutſchi Ningio veröffentlich, worin er die ſchon früher aus— geſprochene Meinung weiter begründet, daß dieſe hölzernen, thönernen oder metallenen Menſchenbilder, die man in Japan häufig beim Nachgraben auf ehemaligen Begräb— nißplätzen findet, nichts anderes ſeien, als ein Erſatz für die daſelbſt ehemals bis an den Hals eingegrabenen Menſchen. Wahrſcheinlich gehören hierher auch die mit Glasperlen und anderm Zierrath ge— ſchmückten menſchenköpfigen Holzpfähle, die Schweinfurth um die Gräber im Bon— golande gepflanzt ſah, wenn man auch jetzt meinte, es ſeien die Portraits der Verſtorbenen. Die Chineſen, welche es in der Ablöſung aller Opfer am weiteſten gebracht haben, geben, wie Doolittle erzählt, den Verſtorbenen papierne Men— ſchenbilder mit ins Grab, ja ſie verbrennen im Voraus Bilder von Boten, die ihre Ankunft im Jenſeits anzeigen ſollen, und ſenden auch papierne Schirm- und Sänf— tenträger vorauf. Auch im alten Europa hat man die in unterirdiſchen Klüften hauſenden Erd— götter, denen ſich noch ein Curtius opferte, die Dämonen der Flüſſe und Seen, wenn ſie übertreten und „raſen, um ihr Opfer zu erhalten“, mit Puppen aus Ruthenge— flecht, Thon oder Metall zu beſänftigen geſucht. Wahrſcheinlich gehören die Metall— ſchätze, die man öfter in der Nähe der Pfahlbauten gefunden hat und die aus ungebrauchten, neuen Gegenſtänden beſtan— den, zu der Mitgift ſolcher Puppen, um das Opfer koſtbarer zu geſtalten. Bei der Ueberſchwemmung des Nils zu Cairo er— richtet man am Ufer einen kegelförmigen Pfeiler aus Erde, den die Fluth bei ihrem Höherſteigen hinwegſpült. Derſelbe wird Aruſeh oder „Braut“ genannt und dieſer Name ſcheint darauf hinzudeuten, daß er ein Erſatzmittel vorſtellt, welches von den humaneren Moslims für die Jungfrau eingeführt wurde, welche man in älteren Zeiten prächtig geſchmückt als Opfer für den Flußgott in den Strom warf, um eine fruchtbare Ueberſchwemmung zu erhalten, oder anderswo ſeine Wuth zu mildern. Zahlreiche Drachen- und Jungfrauenſagen gehören zu dieſer Gruppe von Erinnerun— gen an althergebrachte Menſchenopfer. Im alten Mexico legte man Werth darauf, den Schein ſehr genau zu wahren. Nach den Berichten von Torquemada und Clavigero wurde an den Feſttagen, an welchen in den Tempeln Menſchenopfer ſtatthatten, dieſelben auf getreue Weiſe in den Häuſern nachgeahmt. Man fertigte Menſchenbilder aus Teig, betete ſie an, öffnete die Bruſt und nahm die Herzen heraus, ſchnitt dann den Figuren die Köpfe ab, zertheilte ſie in Stücke und verzehrte ſchließlich die einzelnen Körpertheile. Die in effigie vollzogene Darbringung von Menſchenopfern zur Heilung kranker Per— ſonen beſtand im Alterthum auf weiten Gebieten; die oben erwähnte Darbringung der Bruſt, des Hauptes u. ſ. w. des Sprößlings für Bruſt, Haupt u. ſ. w. des Vaters, fand ihren Abglanz in den goldenen, ſilbernen und bronzenen Votiv— Gliedmaßen, die man im Alterthum vor den Tempeln der Heilsgottheiten feilhielt. Im vergangenen Jahre noch wieder entdeckte man die Spuren ſolcher Kaufläden mit metallenen Votivgliedern in Rom. Heut- zutage iſt man in dieſer Ablöſungsform 80 heidniſcher Menſchenopfer bis auf Wachs— nachbildungen für die chriſtlichen Wallfahrts— kirchen herabgeſunken und ſelbſt das Wachs verfälſcht man, wie die Bruder Schmelzer klagen, auf unverantwortliche Weiſe. Die Chineſen als erſte Repräſentanten des papiernen Zeitalters helfen ſich auch hier mit Papierbildern. Eine ſehr vereinfachte Form ſolcher Menſchenbilder hat Dobrot— worsky kürzlich bei den Ainos, den Ur— einwohnern Japans bemerkt. Dieſelben opfern den Göttern ein Stückchen Holz von 9 — 31 Centimeter Länge, an deſſen oberm Ende ſie einige dünne Spahnlocken abſpalten, und nennen das einen Inau. Den verſchiedenen Göttern werden verſchie— dengeſtaltete Inau's dargebracht und bei den ſorgfältiger geſchnitzten ſieht man jene Haarlocken darſtellenden Spähne ein wirk— liches Menſchenhaupt mit Ohren, Augen, Mund und Naſe umkräuſeln, ja es treten unterwärts Hals und Arme erkennbar her— vor. Mit Recht deutet Dobrotworsky dieſe Inau's als die Stellvertreter ehemaliger Menſchenopfer. Eine ſehr gebräuchliche Ablöſungsform für Menſchenopfer iſt endlich der Erſatz durch Thieropfer, wobei zwar der Schein preis- gegeben, deſto beſſer aber der Sinn (Leben für Leben) gewahrt wurde. In Aegypten ſoll man ehemals dem Typhon alle voth- haarigen Fremden, deren man habhaft werden konnte, geopfert haben, bis König Amaſis alle Menſchenopfer aufhob. An die Stelle der rothhaarigen Menſchen trat nun die rothhaarige Kuh, die auch in dem Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. jüdiſchen Opferceremoniell eine bemerkens- werthe Rolle ſpielt. Die Kühe und Kälber aber, die man nunmehr in Aegypten opferte, wurden, wie Porphyr ius erzählt, zum untrüglichen Zeichen ihrer ſtellvertretenden Bedeutung, mit einem Petſchaft geſiegelt, auf welchem ein knieender Menſch, im Be— griffe den Todesſtreich zu empfangen, dar— geſtellt war. In ähnlicher Weiſe, wurde auch von anderen Völkern durch das Cere— moniell ausgedrückt, daß das Opferthier nur als Stellvertreter diene. Aelian erzählt uns, daß die Tenedier von Alters her dem Dionyſos (— Melkarth) die vor— züglichſte trächtige Kuh erzogen und dieſelbe, wenn ſie geworfen hatte, wie eine Wöch— nerin gepflegt hätten. „Dem neugeborenen Kalbe binden ſie, wenn ſie es zum Opfer führen, Kothurne unter die Füße; der aber, welcher ihm den tödlichen Streich verſetzt, wird zur Sühne mit Steinen ge— worfen und flieht bis an das Meer.“ Der Opferprieſter wurde, wie man ſieht, behan— delt, als ob er dem Melkarth, wie ehemals, ein menſchliches Kind geopfert habe. Eine ähnliche, nur im Zuſammenhange dieſer Ablöſungsceremonien verſtändliche Sitte be— ſchreibt Pauſanias aus dem Dienſte des Jupiter Polieus: Man ſtreuete auf ſeinen Altar Gerſte und Weizen und ließ einen erleſenen Stier in der Nähe los. Während derſelbe von den Körnern fraß, näherte ſich der Opferprieſter, ſchlug ihn mit dem Beile todt, warf aber das Inſtrument ſo— gleich von ſich und ſuchte das Weite. Das Beil aber wurde, wegen des Mordes, vor Gericht gezogen und verurtheilt. Dem Dionyſos und der unterirdiſchen Demeter ſcheinen in Griechenland noch in ſehr ſpä— ter Zeit Menſchenopfer gebracht worden zu ſein und man erzählte, daß der König Erechtheus der Letzteren eigenhändig eine Tochter geſchlachtet habe. In ſpäterer Zeit opferte man ihr Stiere oder Widder über einer Grube, in welcher ein Menſch ſtand, der von dem Blute beſpritzt und dadurch entſühnt wurde. Herakles, den einſt König Buſiris dem Typhon opfern wollte, ſoll die Menſchenopfer in Griechenland abge ſchafft haben. Am längſten ſcheinen ſolche daſelbſt dem Dionyſos in ſeinem Myſterien— dienſte gebracht worden zu ſein und ſelbſt Themiſtokles ſoll ihm, wie Plutarch er— zählt, noch drei Jünglinge geopfert haben. Pauſanias bemerkt ausdrücklich, daß der Bock, der ihm ſpäter dargebracht wurde, an Stelle eines Menſchen angenommen werde. Alſo ganz wie in der Abrahams— Mythe. Am bacchiſchen Feſte des Roh— eſſens wurde das Thier (hier gewöhnlich ein Schwein) wie einſt Dionyſos ſelbſt, von den Titanen in kleine Stücke zerſchnitten und roh von den Opfernden verzehrt. Auch in Italien ſoll Herakles die Menſchenopfer abgeſchafft haben. Den Sabinern, die einem griechiſchen Orakel zu Folge, bisher Krauſe, Die Ablöſung der Menſchenopfer. 81 dius verſichert, daß der Kaiſer Commodus dem in Rom neumodiſchen Gotte zahlreiche Mienſchen geſchlachtet habe. In dieſer Zeit begann das Menſchen— opfer jedoch die religiös-myſtiſche Wendung zu nehmen, welche in der Soma-, Mithras-⸗, Oſiris-, Dionyſos-, Adonis- und Balder- Legende ausgedrückt iſt, die Entſühnung Menſchen (rss) geopfert hatten, lehrte er nach Angabe des Dionyſius von Halikarnaß, dem Numa an Spitzßindigkeit mißverſtanden, es ſeien Lichter (gor«) ge— meint. liche aufboten, um die Menſchenopfer in Karthago und Gallien zu unterdrücken, ſchlich ſich mit dem Mithrasdienſte die Un— ſitte derſelden wieder ein, und Lampri⸗ aller Menſchen durch das einmal vergoſſene Blut, womit naturgemäß alle Opfer auf- hören mußten, oder höchſtens noch als Er— innerungsmahle u. dergl. in gereinigter ſymboliſcher Geſtalt fortdauern konnten. Ob— wohl dieſe Entwickelungsrichtung innig ver— flochten iſt mit der anderweitigen Ablöſung der Menſchenopfer, iſt es hier nicht unſere Abſicht, derſelben zu folgen. Aber auch abgeſehen von dieſer Verklärung der Men— ſchenopfer, würde man in der langſamen, aber ſtetig fortſchreitenden Ablöſung jener Hekatomben von Menſchenleben, die chemals nichts nachgebend, ſie hätten das Orakel auf der ganzen Erde einem Wahne fielen, den fortſchrittlichen Charakter der allgemeinen Während die Römer alles Mög- Cultur⸗Entwickelung anerkennen müſſen und wenn wir es auch darin noch nicht „herr— lich weit gebracht“, — etwas beſſer iſt es jedenfalls geworden. eee Kosmos, Band III. Heft 1. — — . . — . !!!!!! 11 Kleinere Mittheilungen und Journallchau. Die Fortſchritte der ſynthetiſchen Waſſer für ſich erhalten wurde. In beiden Mineralogie und die künſtliche Fällen zeigten die Darſtellung verſchiedener Edelſteine. G. 82 on einem nicht geringen kosmologiſchen IIntereſſe find die neueren Verſuche ver— und Edelſteine nach Zuſammenſetzung und Kryſtallgeſtalt künſtlich darzuſtellen, nicht ſowohl, um die chemiſchen Proceſſe, welche auf dem glühenden und ſich abkühlenden Erdball eintraten, überhaupt künſtlich nachzuahmen, ſondern um dadurch einen Einblick in das Weſen und den Verlauf dieſer Proceſſe zu gewinnen. Das vergangene Jahr hat in dieſer Richtung beſonders bedeutende Leiſt— ungen aufzuweiſen, und hier ſind in erſter Reihe die Verſuche von P. Hautefeuille zu erwähnen, die verſchiedenen Arten der Feldſpathe künſtlich zu erzeugen. Nach— dem es ihm ſchon früher gelungen war, den Natronfeldſpath oder Albit durch Ein— wirkung von Wolframſäure in der Glühhitze auf ein ſehr alkaliſches Thonerde-Natron— Silikat zu gewinnen, iſt ihm dies kürzlich in analoger Weiſe mit dem Orthoklas oder Kali-Feldſpath ebenfalls geglückt; nach einer vierzehntägigen Erhitzung des Ge— nahezu tauſend Grad war menges auf ſämmtliches Silikat in kryſtalliſirten Feld- ſpath übergegangen, der durch Entfernung des wolframſauren Alkalis mit ſiedendem künſtlich hergeſtellten Kryſtalle genau die chemiſche Zuſammen— | I | | | | | ſetzung, Dichtigkeit, Kryſtallform, Spaltbar— keit u. ſ. w. der natürlichen Feldſpathe dieſer Kategorie, obwohl in der Natur wahrſchein— lich eine andre Alkali entziehende feuerbe— ſchiedener Chemiker, allerlei Mineralien ſtändige Säure die Rolle der Wolframſäure | geſpielt haben dürfte.“) Nach einem andern Verfahren ſtellte bald darauf E. Fremy den Diſthen, ein reines kryſtalliſirtes Thonerdeſilikat und auch andre Silikate dar, indem er ebenfalls ſein Augenmerk auf eine langſame Ausſcheidung der Mineralien durch chemiſche Einflüſſe aus einem wochenlang im feurigen Fluſſe erhaltenen Gemenge richtete. Von großer practiſcher Wichtigkeit dürfte die Entdeckung eines Verfahrens werden, die Minerale der Korundfamilie, die als Edel— ſteine ſehr geſchätzt ſind (denn hierher ge— hören Rubin, Sapphir, und diejenigen Smaragde, Topaſe und Amethyſte, die man zum Unterſchiede ihrer weniger ge— ſchätzten Namensvettern „orientaliſche“ Sma— vagde u. ſ. w. nennt), in größeren Kry— ) Die Abhandlungen von Haute— feuille und Fremy wurden in derſelben Sitzung der Pariſer Akademie (3. December 1877) geleſen und ſind abgedruckt in den Comptes rendus T. LXXXV p. 952 u. p. 1029. An demſelben Tage legte Monnier eine Arbeit vor über die künſtliche Gewinnung von Opa— len, indem man eine verdünnte Auflöſung von Oxalſäure vorſichtig auf ſyrupsdickes Natron— Waſſerglas gießt, ſo daß die Kieſelſäure nur langſam durch die Oxalſäure verdrängt wird. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 83 ſtallen künſtlich darzuſtellen. Da dieſe dem Diamanten im Werthe am nächſten ſtehen— den Edelſteine nur aus kryſtalliſirter und mit verſchiedenen Metalloxyden gefärbter Thonerde beſtehen, jo waren ſeit Jahrzehn- ten die Bemühungen verſchiedener Chemiker — wir nennen die Namen Gaudin und Debray, Sainte Claire Deville, Caron und Ebelmann — darauf ge— richtet geweſen, Thonerde zu kryſtalliſiren. Schon durch eine bloße Schmelzung reiner, etwas Chromſäure oder Kobaltoxyd ent— haltenden Thonerde im Knallgasgebläſe war es früher Gaudin gelungen, rubin- und ſapphirartige Schmelzperlen zu erzeugen, aber dieſen Schmelzprodukten fehlte durch— ſichtige Klarheit, und die Bemühungen ſpä— terer Chemiker gingen mit Recht auf eine wirkliche Kryſtalliſation der Thonerde aus. Durch feurige Auflöſung der Thon— erde mittelſt Borax oder Borſäure und langſamer Verflüchtigung der letzteren, gelang es auch wirklich, kleine Thonerdekryſtalle zu gewinnen, aber dieſelben waren zu winzig, um irgend einen Werth als Schmuckſteine beanſpruchen zu können. In Gemeinſchaft mit Herrn Feil ermittelte indeſſen Herr E. Fremy eine Methode, größere Kry— ſtalle zu gewinnen, und indem ſie viertel und halbe Centner Material zwei bis drei Wochen in den Schmelzöfen des Erſtgenann— ten erhitzten, konnten ſie mehrere Kilogramme theils ungefärbter, theils gefärbter Korunde (d. h. Rubinen und Sapphire) gewinnen und der Akademie vorlegen. Das von ihnen als das vortheilhafteſte erprobte Ver— fahren beſteht in der langſamen Wegnahme der Kieſelſäure durch ſchmelzendes Bleioxyd aus einer reinen Thonerde (d. h. Thonerde— Silikat), wobei die übrig bleibende Thon— erde langſam aus der feuerflüſſigen Maſſe auskryſtalliſirt und die Kryſtalle zu einer hinreichenden Größe anwachſen, um in der Edelſteinſchleiferei und Uhrmacherei Anwend— ung zu finden. Man brachte gleiche Ge— wichtsmengen von Thonerde und Mennige in einen feuerfeſten Tiegel, der von einem zweiten umſchloſſen wurde, und ſetzte die— ſelben in einem Glas- oder Porzellanofen einer mehrwöchentlichen, beſtändigen, leb— haften Rothgluth aus. Weil nämlich das Bleioxyd dem Thone der Tiegelwände eben— falls langſam die Kieſelſäure entzieht, wer— den die Wände häufig durchgefreſſen, und deshalb empfiehlt es ſich, einen Doppel— tiegel anzuwenden. Nach dem Erkalten finden ſich im Tiegel zwei Schichten, eine obere, die vorzugsweiſe aus glasartig amorphem Bleiſilikat beſteht, und eine un— tere, kryſtalliniſche, in welcher ſich die Thon— erdekryſtalle in kugeligen Klumpen finden und von ihrer Silikathülle durch ſchmelzen— des Kali oder Bleioxyd, reſp. durch Fluor— waſſerſtoff befreit werden müſſen. Ohne weiteren Zuſatz erhält man farbloſe Ko— rund ⸗Kryſtalle; ſetzt man dem Gemiſch von Thonerde und Mennige zwei bis drei Procent doppeltchromſaures Kali hinzu, ſo erhält man roſen- bis purpurrothe Rubine, und wenn man nur eine kleine Spur die— ſes Salzes, nebſt einer geringen Menge Kobaltoxyd hinzufügt, ſo findet man mehr oder weniger tief gefärbte Sapphire. Dieſe künſtlichen Diamantſpathe, Ru— bine und Sapphire beſitzen nun alle Eigen— ſchaften der natürlichen Edelſteine, ſie zeigen nicht allein deren Kryſtallgeſtalt, Dichtig— keit, Härte und Farbe, ſondern ſie ſind nach den Angaben der Edelſteinſchleifer, denen man einige Proben zur Bearbeitung übergab, ſelbſt härter als dieſe, alſo z. B. für die Uhrmacherei, wo man ſie zu Zapfen— lagern verwendet, noch werthvoller. Die künſtlichen Rubine verlieren, wie die na— 84 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. türlichen, beim Erhitzen ihre roſenrothe Färbung und gewinnen ſie beim Erkalten wieder, nur der Glanz ſchien nicht völlig derjenige der ſchönſten natürlichen Steine zu ſein, obſchon der Unterſchied gering war. Es läßt ſich denken, daß dieſe Mittheilun— gen unter den Juwelieren von Paris eine große Aufregung erzeugt haben, da es ſich gerade um die koſtbarſten, unter Umſtänden höher als der Diamant bezahlten Edel— ſteine handelt. Ihre Fachjournale ſuchen die künſtlichen Steine herabzuſetzen, indem ſie behaupten, die Kunſt werde nie erreichen, wozu die Natur vielleicht Jahrtauſende ge— braucht habe u. ſ. w. Thatſache iſt, daß dieſe künſtlichen Steine ſchon jetzt nach den erſten Verſuchen kaum von den natürlichen, mit denen ſie ja ihrer chemiſchen Natur und Bildungsweiſe nach völlig identiſch ſind, weder durch chemiſche noch durch phyſika— liſche Hilfsmittel ſich unterſcheiden laſſen, und man wird ohne Zweifel Mittel finden, ſie, vielleicht durch Verlangſamung des Pro— ceſſes, noch ſchöner zu erhalten, und auch in andern Farben darzuſtellen, ſo daß ſich hier eine weite Perſpektive für eine neue hoffnungsvollere Alchemie aufthut, als es ihre ältere Schweſter war. Wo hat der Moſchusduft der Schwärmer ſeinen Sitz? I. Unter den Tauſenden europäiſcher Schmetterlingsjäger ſcheint ſich noch keiner dieſe Frage vorgelegt zu haben. Frage wäre ja ſofort auch die Antwort zur Hand geweſen, da man eben einfach der Naſe nachzugehen braucht, um den Aus— gangspunkt eines ſtarken Geruches zu finden. Während in Europa der Winden— ſchwärmer nicht ſelten iſt, von deſſen Mit der ſchloſſen. Männchen man ſeit lange den Moſchus— geruch kennt, habe ich hier heute zum erſten Male ein biſamduftendes Schwärmermänn— chen gefangen, von einer kleinen, nur 0,04 Meter langen Art, deren Namen ich nicht weiß. Es umflog gegen Abend die reich— blüthigen, großen, blauen Dolden eines Agapanthus in meinem Garten. Beim Beriechen ergab ſich ſofort, daß der ſehr kräftige Geruch von der Bauch— ſeite des Hinterleibes ausging. Als ich nun, die Bruſt zwiſchen Daumen und Zeigefinger faſſend, den Schwärmer mit aufwärts gekehrter Bauchſeite feſthielt, be— merkte ich, daß, ſo oft das Thier mit den Flügeln ſchwirrte, jederſeits am Anfange des Hinterleibes ein blonder Haarpinſel biſamduftend ſich ausſpreizte. Beruhigte ſich das Thier, ſo legte ſich der Pinſel wieder in eine Längsrinne, die ſich jeder— ſeits über den größeren Theil der beiden erſten Hinterleibsringe erſtreckte, und ver— ſchwand, indem fi die die Rinne begren- zenden Schuppen über ihm zuſammen— Während der Ruhe war von dem Pinſel nichts, von der Rinne kaum etwas zu ſehen. Letztere läßt ſich am todten Thiere ſichtbar machen durch Zu— ſammendrücken des Hinterleibes von hinten nach vorn; zwiſchen den auseinander weichen— den Schuppen zeigte ſich dann der Boden der Rinne als ſchmaler, nackter Längsſtreif. Alſo wieder — nur an einem neuen Orte — dieſelbe wirkſame Form der Duft— vorrichtungen, die als Träger deutlich wahrnehmbarer Gerüche auf den Flügeln und am Ende des Hinterleibes bei verſchie— denen Tagfaltermännchen gefunden wurde. Ich bezweifle kaum, daß auch die unter Dickköpfen und Nachtſchmetterlingen vor— kommenden „Schienenpinſel“ (Herrich— Schäffer), die z. B. bei den Männchen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. von Pantherodes pardalaria, einem zeit— weiſe hier häufigen, prachtvoll pantherartig, ſchwarz auf gelb gefleckten Schmetterling, mächtig entwickelt ſind, der Verbreitung eines die Weibchen anlockenden Duftes dienen, obwohl ich einen ſolchen noch nicht habe wahrnehmen können. Ob bei den Männchen des Winden— und des Liguſterſchwärmers der Moſchus— duft von der gleichen Stelle ausgeht? Und ob auch die für menſchliche Naſen geruch— loſen Schwärmermännchen ähnliche Duft— pinſel beſitzen? Beides iſt wahrſchein lich. Möge es bald durch Beobachtungen entſchieden werden. II. Obige Vermuthung gründete ſich hauptſächlich auf das Verhalten des Schienen— pinſels bei Pantherodes pardalaria, der am Anfang der Hinterſchiene entſpringend, deren volle Länge erreicht, und ſich für ge— wöhnlich in einer tiefen Längsrinne birgt, die an der Innenſeite der Schiene ſich hinzieht und überdacht wird von eigenthümlichen, ſehr großen Schuppen ihres Randes. Die Ent— faltung des Pinſels ſcheint durch ſehr kräftiges Strecken der Schiene bewirkt zu werden. Jene Annahme hat ſich inzwiſchen beſtätigt. An einem unſerer Schmetterlings— rieſen aus der Familie der Erebiden, mit etwa 0,19 Meter Flügelſpannung, konnte ich einen wenn auch nicht beſonders ſtarken, ſo doch ganz unverkennbaren, eigenthüm— lichen Geruch an den Hinterſchienen des Männchens wahrnehmen. Schlank bei dem | Weibchen, iſt bei dem Männchen dieſer Art die Hinterſchiene ſtark verbreitert (4 Milli- meter breit bei 12 Millimeter Länge), und ihre ganze Innenſeite iſt mit einem dichten Walde von Haaren bedeckt, die ſich zu einer gewaltigen Bürſte aufſträuben können, während ſie in der Ruhe der Schiene dicht anliegen. Dabei liegen zu unterſt, in einer 85 ſeichten Längsrinne, die Haare der Mittel— linie, überlagert von einer dicken Schicht der ſeitlichen Haare, welche dabei ſchief nach der Mittellinie und dem Ende der Schiene zu gerichtet find “). | Wie wahrſcheinlich aus über die ganze Fläche der Flügel verſtreuten Duftſchuppen die mannigfachen, auf beſtimmte Stellen be— ſchränkten Duftwerkzeuge der Flügel her— vorgegangen ſind, ſo läßt ſich auch der Schienenpinſel von Pantherodes unſchwer ableiten aus einer die ganze Innenſeite der Schiene bedeckenden Behaarung, wie ſie das eben erwähnte Erebidenmännchen zeigt, und zwar um ſo unbedenklicher, als auch in der Familie der Erebiden lange, am Anfange der ſonſt unbehaarten Hinterſchie— nen ſitzende Haarpinſel vorkommen. Bei den mir bekannten Dickköpfen fin— det ſich an den Hinterſchienen keine Vor— richtung zur Bergung des Pinſels; dagegen ſah ich bei einer der anſehnlicheren Arten dieſer Familie, wahrſcheinlich einem Anti— gonus, daß der Schienenpinſel in einer durch die Schuppen des Hinterleibes ge— bildeten Furche verſteckt lag. Itajahy, 26. November 1877. Fritz Müller. Cocon-Mimicry? Im erſten Hefte des vierundvierzigſten Jahrgangs von Troſchel's Archiv für ) Dieſem Erebiden ähnlich ſcheint ſich ein javaniſcher Dickkopf, Ismene Oedipodea, zu verhalten, bei deſſen Männchen die Hin— terſchienen ſehr ſtark verdickt („extremely thick) und dicht behaart („very densely hairy“) find. (Doubleday, Weſtwood, Hecoitron, Genera of diurnal Lepidoptera. P. 514.) — Es darf bei dieſer Gelegenheit daran erinnert werden, daß ſchon Linne einer Erebidenart den Namen „odora“ gab; Nähe— res über dieſelbe weiß ich nicht. 86 Naturgeſchichte (1878, S. 20) be richtet Dr. H. Dewitz aus Berlin, in Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. legen ſind; die beiden dem Deckel zunächſt ſtehenden Löcher ſind die größeren, auch einer Arbeit über Venezuelaniſche Schmetter- führen fie in geräumigere Höhlungen, als linge, nach den Beobachtungen Gollmer's, über den Coconbau einer Spinner-Raupe, die beiden andern. Von dem Innern des Cocons ſind die vier Höhlungen gänzlich der den Auſchein einer ſehr eigenthümlichen Mimicry darbietet. lichen Auszug ſeiner Bemerkungen bei. Wir fügen deshalb der Abbildung dieſes Cocons einen wört⸗ „Der Cocon,“ ſagt er, „iſt länglich rund, 0,02 Meter lang, im Verhältniß zur Raupe ſehr klein, faſt wie Leder, in der Wand dick, auf der äußern Seite runzlig, grau, innen geglättet und dunkler gefärbt, an einem Ende abgeſchrägt, und man ſieht hier eine halb— kreisförmige Klappe ſich markiren, welche während des Puppen— lebens geſchloſſen, beim Ausſchlüpfen des Schmetterlings aufge— klappt wird. Obwohl der Deckel, ſo lange er geſchloſſen iſt, mit dem übrigen Cocon ein zuſammenhängendes Ganze bildet und nur durch eine dunklere Linie markirt wird, ſo muß er doch von Hauſe aus beſonders angelegt ſein und nur durch wenig Geſpinnſtmaſſe und Klebſtoff mit den angrenzenden Rändern des Cocons verbunden worden ſein. Letzterer hängt in wagerechter Lage an der untern Seite eines Blattes oder Aſtes, ſo daß der aufgeklappte Deckel nach unten gekehrt iſt. An der dem Boden zugewandten Coconſeite ſieht man vier im Quadrat ſtehende runde Löcher, ſie führen in kleine Höhlungen, welche zwiſchen der äußeren, helleren, und der in— neren, dunkleren Wand der Coconſchicht ge— Cocons von Aides Amanda Cramer. J. Anſicht von unten, uneröffnet. II. Seitenanſicht mit geöffnetem Deckel. getrennt und können nicht als Luftlöcher angeſehen werden. . . . . .. Den Aufbau dieſes ſonderbaren Cocons denke ich mir folgendermaßen: Zuerſt ſpann die Raupe an der Unterſeite des Blattes aus grauen Fäden einen mit den vier Löchern verſehe— nen Cocon, die äußere helle Schicht. Dann wurde die Wand von innen her durch eine zweite, vielleicht nur in Folge eines ſtär— keren Zuſatzes von Klebſtoff dunkler ge— färbte Lage verdickt. Das Thier baute die innere Schicht zwar über die vier Löcher hinweg, nahm jedoch jetzt auf den Deckel Rückſicht, indem es ſeine kunſtvolle Be— feſtigung durch Grat und Nuth anlegte. e Sehr ähnliche Geſpinnſte wie die von Amanda, vielleicht dieſelben, hat ſchon Moritz ( Wiegmann's Archiv, 1836, S. 303) beſchrieben. Er ſagt: „Kleine weißgraue Cocons an Stämmen der im— merblühenden Roſen- und Weingelände ſind von ſo unregelmäßiger, runzliger Ge— ſtalt, daß ſie Auswüchſe, durch einen Cy- nips hervorgebracht, oder Klümpchen geſell— ſchaftlicher Ichneumon-Geſpinnſte zu fein ſcheinen, wozu vollends noch vier tiefe kleine Löcher in der Oberhaut des Geſpinnſtes ſelbſt das Auge des Entomologen täuſchen, der nur noch die Hülle kleiner Inſekten— Geſpinnſte darunter vermuthet.“ Und in der That, im erſten Augenblick weiß man nicht recht, ob man eine von den Inſaſſen verlaſſene, runzlige, holzige Galle, oder ein von Schlupfwespen durchbrochenes, alſo leeres Blattwespen-Cocon vor ſich hat. Verſchiedene Perſonen, denen ich die Ge— ſpinnſte zeigte, waren der Meinung, Schma— rotzer hätten dieſelben durchlöchert. Da die Inſekten ihren Cocon wohl in den meiſten Fällen ſymmetriſch bauen, ſo wurden auch die Löcher in dieſer Weiſe angelegt. Die Cocons ſcheinen jedoch meiſt in wagerechter Lage an der Unterſeite eines Blattes oder Aſtes befeſtigt zu ſein, ſo daß man nur zwei Löcher wahrnimmt, wodurch die Sym— metrie wieder verwiſcht wird und die Täuſch— ung um ſo beſſer gelingt. . . . .. An einen Luftaustauſch iſt bei dieſen Löchern gar nicht zu denken, denn die Höhlungen, in die ſie führen, werden durch die ſehr feſte, pergamentartige, innere Schicht vom Hohlraum des Cocons geſchieden, und dann wäre es ja auch nur nöthig geweſen, die Coconwand an dieſer Stelle ſchwächer an— zulegen, ohne die vier Hohlräume. Selbſt die Annahme, daß die Oeffnungen nur während der erſten Zeit des Verſpin— nens dem Thiere Luft zuführten, iſt un— haltbar, denn man kann dann mit Recht wieder fragen, wozu dienen die Hohlräume und warum bedarf dieſe Raupe der Luft- zufuhr, während andere, welche ebenfalls einen feſten, pergamentartigen Cocon bauen, und gleichfalls einen großen Körper im Verhältniß zur Geſpinnſthöhlung beſitzen, dieſelbe nicht nöthig haben? Wir müßten alſo bei Amanda, wären die Oeffnungen des Luftzutritts wegen da, einen von ihren nächſten Verwandten, den übrigen Cochlio— poden-Raupen, abweichenden inneren Körper— bau annehmen, was doch wohl nicht gut Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 87 denkbar iſt; daß jedoch eine Raupe von derbare Einrichtung erklären können.“ inneren Theilen in Zuſammenhang ſtehen, ihren nächſten Verwandten durch ihre Ge— wohnheiten, ſo weit dieſe nicht mit den ſehr verſchieden ſein kann, liegt auf der Hand. — Bei der Annahme einer Luft- zufuhr ſtehen die vier Höhlungen alſo un— erklärt da. Nehmen wir jedoch eine Nach— ahmung an, ſo haben die Hohlräume ihren guten Grund, ja ſie ſind unentbehrlich, denn die vier Löcher mußten in dunkle Höhlungen führen, ſollten ſie den Schein erwecken, daß der Cocon bereits durchbohrt ſei, indem ſo die innere, die Höhlungen von dem Raume im Cocon trennende Wand dem Auge des Beſchauers aus Lichtmangel verborgen bleibt. Daß vier einfache, die ganze Dicke der Geſpinnſtwand durchboh— rende Löcher dem Thiere durch eindringende Näſſe und kleine Inſckten nachtheilig ge— weſen wäre, iſt wohl klar. . . . .. Hätte die Raupe durch einen ſchwarzen Farbſtoff ſtatt der Löcher ſchwarze Flecken angelegt, wie man an einem Hauſe ſchwarze Schein— fenſter anbringt, ſo wäre die Wirkung bei Weitem nicht eine ſo ſtarke; auch hätte die Speicheldrüſe der Raupe erſt dahin ge— bracht werden müſſen, dieſen ſchwarzen Stoff abzuſondern, was wohl mit größe— ren Schwierigkeiten verknüpft geweſen wäre, da es ſich um die Umwandlung eines in— nern Organs handelt, als den Kunſttrieb der Raupe dahin zu lenken, daß ſie die vier Höhlungen baut. — Es mußte alſo ein geſchloſſener Cocon mit dem vollſtändi— gen Eindruck eines durchlöcherten hergeſtellt werden, und dieſes Problem iſt wohl aufs Einfachſte und Schönſte gelöſt. — Mag man ſich nun für Naturzüchtung oder für eine treibende und lenkende Kraft entſchei— den, in beiden Fällen wird man nur durch die Annahme einer Nachahmung dieſe ſon— 88 „Eriogaster catax und lanestris, die gleichfalls gedeckelte Cocons bauen, laſſen nach Esper und Ratzeburg (Forſtinſekten, 1840, II. S. 134) ein Loch in ihrem Cocon, doch vermuthe ich, daß dieſes die Geſpinnſtwand ebenfalls nicht durchbohrt, ſondern auch in eine kleine Höhlung führt, welche von dem Innern des Cocons getrennt iſt, alſo kein Luftloch vorſtellt, wie Esper meinte, ſondern nur dazu dient, den Feinden die Meinung bei— zubringen, der Cocon ſei leer; auch glaube ich wohl, daß Vögel, durch die Erfahrung belehrt, die von Schlupfwespen durchbohr— ten, alſo leeren Inſektengehäuſe nicht an— rühren und hier durch Nachahmung ge— täuſcht werden.“ Dr. Pizarro's Batrachichthys. Im erſten Bande (Jahrgang 1876) eines neuen braſilianiſchen Journals für Naturkunde (Archivos do Museu Nacio— nal do Rio de Janeiro) wird auf Seite 31 unter dem Titel: „Nota descriptiva de uno pequeno animal extremamente curioso e denominado Batrachichthys“ ein Waſſerthier beſchrieben, welches der Verfaſſer des Artikels, Dr. Pizarro, für ein höchſt merkwürdiges Mittelglied zwiſchen den Fiſchen und Fröſchen betrachtet und der beſonderen Aufmerkſamkeit Dar win's, Haeckel's und anderer Vertreter der Ab— ſtammungslehre empfiehlt. Wenn dieſe „Uebergangsform“ nun auch gerade nicht viel lehrreicher ſein ſollte, als andere Kaulquappen auch, ſo geben wir doch eine Copie ſeiner Abbildung, an deren Treue zu zweifeln keine Urſache vorliegt, weil ſie das Fiſch ſtadium der Fröſche jedenfalls ſehr ein— dringlich vorführt. Wir ſchließen uns näm— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. lich unbedingt der Meinung von Mr. S. W. Garman?) an, daß Dr. Pizarro die Larven einer wahrſcheinlich neuen Art des „Trugfroſches“ aus Paraguay beſchrie⸗ ben hat, und daß dieſer paradoxe Geſelle alſo ſeinem Namen wieder einmal Ehre gemacht hat. Die Trugfröſche, von denen einige Arten auch in Südeuropa vorkommen, zeich— nen ſich nämlich dadurch aus, daß ſie in ihrer Jugend einen unförmlichen Fiſchſchwanz mit ſich umherſchleppen, wie Horaz ſagt: „desinit in piscem rana formosa superne“, welche Unzier fie erſt ſehr ſpät abwerfen, um dann bedeutend verjüngt, als zierlich gewachſene Froſchjunker und- Damen dazuſtehen, denen Niemand ihre ehemalige, ſcheußliche Zwitter— und Drachengeſtalt anſieht, wie die nach— ſtehende Figur einer kleineren Art im aus— gebildeten Zuſtande zeigt. Der Umſtand, daß die älteren Fröſche bedeutend kleiner ſind, als die jungen Larven, aus denen ſie her— vorgehen, hat von der erſten Entdeckung derſelben an, die merkwürdigſten zoologiſchen Träumereien erzeugt. Durch einige nieder— ländiſche Sammler in Surinam hatte ſich zuerſt Albert Seba einige Exemplare, ſo— wohl des ausgebildeten (herangewachſenen darf man hier nicht ſagen) Froſches, als der großen Larven mit und noch ohne Beinen verſchafft. Indem er nun die kleineren Exemplare mit den größeren verglich, kam er zu dem ſehr verführeriſchen Schluſſe, daß die Entwickelung hier nicht, wie bei den anderen Fröſchen, vorwärts, ſondern rückwärts, d. h. in umgekehrter Folge vor ſich gegangen ſei, daß das Thier nämlich als Froſch geboren würde, dann einen Schwanz bekäme, endlich die Beine abwerfe und ſchließlich ein Fiſch werde. Seba theilte ſeine Vermuthungen und Zeichnungen ) The American Naturalist. Oct. 1877. Kosmos, Band III. Heft 1. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Fig. 1 und 2. Dr. Pizarro's Batrachichthys. Fig. 3 und 4. Pseudis minuta. 90 dem Fräulein Maria Sibylle von Merian mit, welche darnach den Froſchfiſch (Rana piseis), wie ihn alſo auch Seba getauft hatte, in der zweiten Ausgabe ihres ſchö— nen Buches über die Verwandlung der Surinam'ſchen Inſekten (und Fröſche), welche erſt zwei Jahre nach ihrem (1717 erfolgten) Tode erſchien, beſchrieben hat. Man er— kennt leicht, daß die ſorgfältige Beobachterin den Jackie, wie ihn die Eingeborenen Su— rinams nennen, nicht mit eigenen Augen in ſeiner Entwickelung beobachtet hat, wie z. B. die Surinam'ſche Wabenkröte, die ſie ausgezeichnet beſchrieb. Sonſt würde ihre Beſchreibung der Entwickelung wohl nicht viel anders ausgefallen ſein, als die— jenige eines anderen ſurinam'ſchen Froſches, die ſie ebenfalls zuerſt gegeben hat: — — — „eenige dagen dar na krygen je bogen, nog wat laater krygen ſe voeten Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. van achter, acht dagen daar na krygen fe nog twee voeten van vooren, de haar uit te huit barſten, vier voeten hebbende, dan rot haar den ſtart af, en zyn alſo Kik— vorſchen, en loopen uit het water land— waarts in 4 Später hat Seba in feinen Thesau- | rus (1734 J. tab. 78) ebenfalls in einer Reihe von Abbildungen dargeſtellt, wie ſich dieſer Froſch allmälig in einen Fiſch ver- wandelt. Auch Lin ns hatte anfangs nebſt andern Naturforſchern den Rana piseis angenommen, aber in der zehnten Ausgabe ſeines Systema Naturae (1758 —59) ſtrich er den Fiſch und nannte das Thier wegen des ſonderbaren Größen-Rückgangs in ſeiner Verwandlung Rana paradoxa. Wagler trennte 1830 die Gattung wegen ihrer Be ſondernheiten von ihren nächſten Verwand- | ten, den Waſſerfröſchen, und nannte ſie in An— betracht der Irrthümer, zu denen ſie ihre erſten Biographen verführt hatte, Trugfroſch fangenſchaft und unter ſonſt ungünſtigen Verhältniſſen, häufig vorkommt. Dr. Jeffries (Pseudis), ein Name, der wie wir ſahen, ſeine volle Berechtigung noch einmal im Jahre 1876 darthat. Daß der Froſchfiſch oder Batrachichthys des Dr. Pizarro allem Anſcheine nach derſelben Gattung angehört, erkennt man leicht bei einer Vergleichung der Larve mit der vorſtehend abgebildeten, ausgewachſenen Pseudis-Art. Wie dieſe hat ſie vorn — um mit Fräulein von Merian zu ſprechen, — Kikvorſchen-voeten und hinten Eenden-voeten d. h. mit Schwimm— haut verbundene Zehen, und, was das merk— würdigſte Erkennungsmerkmal der Gattung Pseudis iſt, der Daumen ihrer Hände iſt den andern Fingern, wie bei einer Men— ſchenhand, gegenübergeſtellt, was ihnen beim Umherklettern gewiß vorzügliche Dienſte leiſtet. Vielleicht, jo bemerkt Mr. Garman, dem wir in dem Mitgetheilten vielfach ge— folgt find, iſt die Täuſchung des Dr. Pi- zarro dadurch befördert worden, daß die Larve des Trugfroſches aus Paraguay be— ſonders lange in ihrem „Fiſchſtadium“ verharrt, wie dies, namentlich in der Ge— Wyman ſoll beiſpielsweiſe den Ochſen— froſch ſieben Jahre in der Gefangenſchaft im Larvenzuſtande erhalten haben, während in der freien Natur die Umwandlung viel ſchneller vor ſich geht. Auch andere Pseudis- Arten ſollen auffallend lange den unförmigen Fiſchſchwanz bewahren, und wenn ſie auch in keiner Weiſe als Mittelformen zwiſchen Fiſch und Froſch zu betrachten ſind, haben ſie jedenfalls das Verdienſt, die phylogenetiſchen Lehren mit beſonderer Augenfälligkeit in ihrer perſönlichen Entwicklung darzuthun. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die fogenannten pſeudo elektriſchen Organe der Bitterfifche. Bekanntlich hatte Darwin die elek— triſchen Fiſche als ſeiner Theorie beſondere Schwierigkeiten darbietend betrachtet,“) aber je genauer dieſe Thiere unterſucht werden, um ſo mehr verlieren ſie für die Anti- Darwinianer an Intereſſe. Beſonders waren es die ſogenannten pſeudo⸗elektriſchen Organe, welche zuweilen für ſich, zuweilen neben anerkannt elektriſch wirkſamen Organen (3. B. im Schwanze der Zitterrochen) vorkommend, ein vollkommen zweckloſes und unerklärliches Daſein zu führen ſchienen. Zwar hatte ſchon früher J. Stark die Angabe ge— macht, daß man auch, wenn man einen Zitterrochen am Schwanze ergreife, einen Schlag erhalte, und Ch. Rolin glaubte die elektriſche Wirkung auch dieſes Organs nachgewieſen zu haben, allein Matteucci und Du Bois-Reymond, die ſich jo genau mit den elektriſchen Fiſchen beſchäftigt haben, wollten höchſtens ganz ſchwache Ströme von dieſen Organen ausgehend bemerkt haben, unfähig als Schlag empfun— den zu werden. Bei anderen Rochen— Gattungen, die ganz analog gebaute Organe beſitzen, leugnete man jede elektriſche Wirk— ung. Nun hat aber Profeſſor Babuſchin aus Moskau den Nachweis geliefert, daß von den ſogenannten „pſeudo ⸗elektriſchen“ Organen der Mormyrus-Arten ganz an— ſehnliche Ströme ausgehen.“) Er nahm dieſe Verſuche auf, weil ihm bei einem früheren Aufenthalte in Aegypten einer ſeiner Leute verſichert hatte, einen elektriſchen Schlag ) Kosmos Band I. ©. 255. ) Du Bois Reymond's Phyſiologie, 1877. Heft 3. Bi... Archiv für 9 von einem Mormyrus-oxyrhynchus er— halten zu haben. In Ermangelung eines Galvanometers oder eines Froſchſchenkels benutzte Profeſſor Babuſchin einen Krö— tenſchenkel zum Nachweis, als er zuerſt in Oberägypten eines größeren Fiſches dieſer Gattung habhaft wurde. „Um keine Zeit zu verlieren,“ erzählt er, „lagerte ich den Kröten-Iſchiadicus ohne Weiteres auf den Körpertheil des Fiſches, wo die elektriſchen Organe ſich finden und ſah zu meiner Be— friedigung, daß mein Krötenſchenkel während fünf Minuten fortwährend hüpfte. Der Fiſch regte ſich dabei nicht. Als ich den Iſchiadicus auf andere Theile des Körpers, welche den Muskeln entſprechen, legte, hörten die Zuckungen auf.“ Es iſt bemerkenswerth, daß der Strom nicht ſoweit auf dem Kör— per des Mormyrus ſich verbreitet, wie es bei Malapterurus der Fall iſt. Wenn der Iſchiadicus auf die Schwanzfloſſen ge— legt wird, bekommt man noch Zuckungen, entfernt man ihn aber nach oben, um nicht mehr als 1 Centimeter vom Organe, ſo hören die Zuckungen auf. Aehnliche Ver— ſuche in vielfach abgeänderter Form wurden mit demſelben Erfolge mehrfach an ver— ſchiedenen Arten von Mormyrus angeftellt, nur bei M. eyprinoides, bei welchem die * Organe ſehr klein ſind, blieb derſelbe aus. Auf Grund dieſer Verſuche und da ſich Herr Babuſchin ſchon früher mit ähn— lichem Erfolge von der Wirkſamkeit des kleineren Organes im Schwanze der Zitter— rochen überzeugt hat, hält er ſich nunmehr für berechtigt zu erklären, daß es pſeudo— elektriſche Organeüberhauptnicht giebt, ſondern nur kleinere und ſchwächere Schläge austheilende, neben deu gefürchte— ten, größeren. Literatur und Kritik. Eine „Philoſophie der Technik“. ON Syſtems gerathen iſt, der windet 900 ſich ſelbſt mit dem beſten Willen nicht mehr ſo leicht davon los. der ſtrammen Disciplin des dialektiſchen Taktſchrittes entzogen hat, behält immer noch, wenn ihn auch andere Kräfte nach einer anderen Richtung ziehen, eine ſtarke Ten- denz bei, ſich im Takte von Theſis, Anti- theſis und Syntheſis, An-Sich, Außer— Sich und An- und Für-Sich zu bewegen. Der trügliche Schein, mit dieſen dialektiſchen Purzelbäumen wirklich einen Fortſchritt im Erkennen und Begreifen zu machen, iſt jo ſtark, daß ihm ſelbſt die bedeutendſten Geiſter, wie z. B. Viſcher, nur allmälig entronnen ſind. Ein eclatautes Beiſpiel dieſes unwiderſtehlichen Zaubers, der in der dialektiſchen Vermittelung und ideellen Uebertäubung der Gegenſätze liegt, begeg— nete mir einſt in Berlin. Ein junger ſtreb— ſamer Mann hatte bei Z. Pſychologie ge— hört, der, im Einklang mit der modernen Betrachtungsweiſe ſich alle Mühe gegeben hatte, zu zeigen, daß zwiſchen den molecu— Auch der Gedankengang deſſen, der mit der Zeit ſich Illuſtrationen in Holzſchnitt. den pſychiſchen Proceſſen eine totale Differenz ſtattfinde. Der Zuhörer, der unglücklicher— weiſe bei dem autodidactiſchen Beginn ſeiner Studien auf Hegels Encyclopädie geſtoßen war, beklagte ſich aber darüber, daß ſein Lehrer es ganz verſäumt habe, Natur und Geiſt dialectiſch zu vermitteln. An dieſes Beiſpiel wurde ich bei der Lectüre der Schrift erinnert, welche den Au— laß zu dieſem Aufſatze abgiebt. Ich will damit nicht von vornherein ein ungünſtiges Vorurtheil gegen das Buch erwecken: ich wollte nur die allgemeine Richtung anzeigen, welcher daſſelbe angehört. Der Titel der Schrift iſt ſpannend: „Grundlinien einer Philoſophie der Technik. Zur Entſtehungsgeſchichte der Cultur aus neuen Geſichtspunkten. Von Ernft Kapp. Mit zahlreichen in den Text gedruckten Braun⸗ ſchweig, Weſtermann, 1877.“ Der Verfaſſer gehört einer in philoſophiſchen Kreiſen wohlbekannten althegeliſchen Familie an und hat lange Zeit in Amerika gelebt, wo er, wie aus dem Philosophical Journal hervorgeht, viel für die Einbürgerung des deutſchen Gedankens gethan hat. Der täg— liche Anblick der in Amerika ja zu ſo dominirender Blüthe gelangten techniſchen Induſtrie mochte in ihm den Gedanken er— laren Vorgängen der äußeren Natur und wecken, auch dieſes Gebiet mit dem Schling— Literatur und Kritik. 93 werk dialectiſcher Begriffsentwicklung zu umſpinnen. Wahrlich, eine merkwürdige Verſchmelzung der abſtracte Hegelianer Arm in Arm mit dem concreten Techniker, und eine frappante Tendenz das mecha— niſche Gebiet der Maſchinenlehre teleologiſch zu deduciren! Doch — entwickeln wir in Kürze den Grundgedanken des Werkes. Was iſt der verſprochene „neue Geſichtspunkt?? Der Verfaſſer verfehlt nicht, uns denſelben recht oft darzulegen: K. geht aus (S. 28) vom „idealen Gebiet der teleologiſchen Welt— anſchauung, welche am ſelbſtbewußten Menſchen Beginn und Ziel der kosmiſchen Entwicklung mißt.“ Das Selbſtbewußtſein entzündet ſich dadurch, „daß das Wiſſen von einem Aeußeren zu einem Wiſſen von einem Innern umſchlägt“ (23). Zur Außenwelt gehören aber vor Allem auch alle künſtlich vom Menſchen geſchaffenen Cultur— producte (24). Auch dieſe und vor Allem dieſe dienen dazu, die Selbſterkenntniß des Subjects zu fördern. Sollen ſie aber dies können, ſo müſſen ſie eben ſo be— ſchaffen ſein, daß aus ihnen das reflecti— rende Subject ſich ſelbſt erkennen kann. Alſo muß das Subject unbewußt ſeine leiblichen Organe in einer ſtofflichen Nach— bildung aus ſich hinausverſetzen, dann kann es den Mechanismus zum Verſtändniß des Organismus rückwärts verwenden (119). Dieſes Princip nennt der Verfaſſer die „Organprojection“, ein „bisher unbeachtet gebliebenes wiſſenſchaftliches Princip“ (82). Seine eigentliche Tendenz iſt, zu zeigen, daß der Menſch in allen Werkzeugen, Geräthen, Maßen, Inſtrumenten, Appa— raten, Architecturwerken, Maſchinen, in der. Sprache und im Staat ſich ſelbſt und ſeine Organe projicirt habe, um vermittelſt der ſo unbewußt als Nachbilder geſchaffenen Artefakte rückwärts ſich ſelbſt zu erkennen und zum Selbſtbewußtſein zu gelangen. Dieſes Princip der Organprojektion wird als ein erklärendes Prineip einge— geführt (z. B. 203). Natürlich erfordert dieſe Hypotheſe als Hilfsannahme das un— bewußte Walten des Inſtinkts: „Dieſes urſprünglichk Begleitetfein der Maſchinen— bildung vom Unbewußten . . . . erklärt die Uebereinſtimmung der Artefakte theils der Form nach mit einzelnen Organen, theils den kinematiſchen Vorgängen nach“ u. ſ. w. Sehen wir nun zu, wie dieſes Princip im Einzelnen durchgeführt wird. In die urſprünglichen Werkzeuge hat der Menſch die Formen ſeiner Organe verlegt und projicirt; die Werkzeuge ſind alſo un— bewußt geſchaffene Nachbilder, denen die Organe zu Vorbildern dienen. Dieſer Ab— ſchnitt (40 — 67) iſt mit intereſſantem und fleißig geſammeltem, ſprachlichem Material illuſtrirt, durch das nachgewieſen wird, daß der Menſch die primitiven Werkzeuge mit Namen ſeiner Organe belegte. (Es laufen dabei jedoch manche Ungenauigkeiten unter: z. B. iſt die Bemerkung [40], daß das Wort „Organon“ im Griechiſchen zunächſt ein Körperglied, ſodann deſſen Nachbildung, das Werkzeug, bezeichne, eine Umdrehung des wirklichen Verhältniſſes: opyavov heißt vielmehr urſprünglich Werkzeug, und erſt relativ ſehr ſpät erfolgte die Uebertrag— ung auf die menſchlichen Glieder; es läßt fi) ſogar exakt nachweiſen, daß dieſe Ueber— tragung erſt von Plato gemacht wurde, wie ſich der Verf. Theaetet 184 D. über⸗ zeugen kann.) Es findet alſo eine unbe— wußte Uebertragung der Form und der Bewegungsgeſetze des Organs auf die me— chaniſche Verrichtung ſtatt, um eine rück— bezügliche Verwendung des Mechanismus zur Erklärung des Organismus zu ermög— 94 lichen. Darum fpielen, ſagt der Verf. S. 65, in der Mechanik der Skeletbewegungen Aus- drücke wie Hebel, Charnier u. ſ. w. eine angeſehene Rolle. So iſt das Weſen der Projektion ein Proceß fortſchreitender, meiſt unbewußter Selbſtentäußerung des Sub— jekts (67). Unter den zahlloſen Beiſpielen müſſen wir diejenigen hervorheben, die der Verf. ſelbſt beſonders auszeichnet. Die Conſtruktion der Camera obscura iſt das von dem Organ aus unbewußt projicirte mechaniſche Nachbild deſſelben, mittelſt deſſen Unterſtützung die Wiſſenſchaft nachträglich in die Vorgänge der Geſichtswahrnehmung hat eindringen können (81). Die achro— matiſche Vorrichtung an Fernröhren (die Zuſammenſetzung des Objektivs aus zwei Prismen, um die Farbenerzeugung an den Rändern des Bildes zu verhindern) iſt ebenſo eine unbewußte Projektion deſſen, was in unſerem Auge durch die Verbind⸗ ung der Linſe mit dem Glaskörper erreicht iſt (83). Dies iſt für den Verf. ein „glänzendes Beiſpiel der Organprojektion“. Das Monochord, das Klavier u. ſ. w., dieſe von Menſchenhand aus Stücken zu— ſammengeſetzten Mechanismen, welche in auffallendſter Uebereinſtimmung mit einem organiſchen Gebilde, dem Ohr und ſeinen Einrichtungen, ohne die geringſte Kennt— niß von deſſen Funktionen, conſtruirt werden konnten (93), ſind ſpätere Nach— bildungen der unbewußten Vorbilder. Jede andere Möglichkeit des Zuſtandekommens iſt ausgeſchloſſen (90); das Corti'ſche Or- gan iſt nicht nur „gleichſam“ ein Saiten— | inſtrument, ſondern hier waltet die Bezieh- ung realer Ab- und Nachbildung. Wir müßten weit den uns zur Verfügung ſtehen— den Raum überſchreiten, wollten wir auch nur die als auffallend vom Verf. bezeich— neten Beiſpiele aufzählen. Nur noch einige Literatur und Kritik. Fälle, welche die Anſicht beſtätigen ſollen, daß das mechaniſche Produkt der Technik ein durch das vom unbewußten Inſtinkt geleitete Subjekt nachgeſchaffenes Abbild des Organiſchen ſei. Die Anordnung der Knochenſubſtanz iſt das bisher unbekannte Vorbild für gewiſſe Werke der Architektur. Das Netz der Blutgefäße iſt das organiſche Vorbild des Eiſenbahnſyſtems. Der Tele— graph iſt ein Nachbild des Nervenſyſtems. Das charakteriſtiſche Merkmal der Organ— projektion iſt das unbewußte Vorſichgehen, (141); da die Erfinder der elektriſchen Te— legraphie nicht den bewußten Vorſatz ge— habt haben, die Nerven plaſtiſch genau nach— zuconſtruiren, ſo — nun ſo war es „das Unbewußte“. Der leibliche Organismus iſt das allgemeine Ur- und Muſterbild aller beſonderen Formen der Maſchinentechnik; die machinale Kinematik iſt die unbewußte Uebertragung der organiſchen Kinetik ins Mechaniſche, und das Verſtehenlernen des Originals mit Hilfe der Uebertragung wird bewußte Aufgabe der Erkenntnißlehre. Der goldene Schnitt, das Proportionsgeſetz des menſchlichen Körpers, wird unbewußt auf die meiſten Artefakte, z. B. die amerikaniſche Axt, die Violine u. ſ. w. übertragen. So ſind alle Artefakte ohne Ausnahme Nach— gebilde unterſchiedlicher organiſcher Bezirke, Sprache und Staat aber ſind Ab- und Nachbildungen des Geſammtorganismus; der leibliche Organismus iſt das Urbild echten Staatslebens. So ſehr wir nun auch den großen Aufwand an Geiſt anerkennen, mit dem die vorgetragenen Gedanken ausgeführt ſind, und obgleich die Schrift in einem noch näher zu bezeichnenden Sinne ein werthvoller und ſchätzenswerther Beitrag iſt, ſo wür— den wir doch uns nicht ſo ausführlich auf dieſelbe hier eingelaſſen haben, wenn es a nicht opportun erſchiene, wieder einmal an einem Beiſpiel zu zeigen, welche Kluft zwi— ſchen Wiſſenſchaft und Dichtung, dere die Maſchinen und wiſſenſchaftlichen zwiſchen cauſaler und teleologiſcher Anſchauung beſteht.“) Gerade der be— ſtechende Reiz, mit dem die Theorie des Verf. theilweiſe vorgetragen iſt, könnte da- zu verführen, in dem Grundprincip eine wirkliche „causa vera“ zu ſehen. Sichten der elektriſche Apparat haben bekanntlich wir nun ſtreng die Thatſachen, die „actuelle Empirie“, wie der Verf. S. 124 ſelbſt ſagt, d. h. alſo die reine unverfälſchte Er— ) Wir vermögen hier dem Herrn Recen— ſenten nicht beizuſtimmen, wenn er den Gegen— ſatz von Wiſſenſchaft und Dichtung mit dem der Teleologie und Ateleologie vermiſcht. Faßt man jede einheitliche Zuſammenziehung von Thatſachen, d. h. jede erklärende Syntheſe, als Dichtung auf (wie Alb. Lange wollte), ſo giebt es gar keine Wiſſenſchaft ohne ſyntheſirende Dichtung. Denn es giebt keine bloße Analyſe ohne eine logiſch geforderte Syntheſe. Der Fehler aber, den der Teleo— loge begeht, iſt der, daß er die zur Syntheſe hintreibende Idee nicht als bloßes Regu— latev, ſondern als mitwirkende Ur- ſache unter der Conſtellation der cauſalen Kräfte betrachtet. Dies ſetzt Recenſent im Folgenden richtig auseinander (ſiehe unten); aber er vergißt, daß ſehr viele menſchliche Kunſtprodukte eine Art von Dichtung und Entſtehung bekunden, bei denen die Abficht,' einer beſtimmten Idee nachzukommen, in ſe— cundärer Weiſe jo zu jagen mitwir— kend wird. Hierin unterſcheiden ſich die Kunſtprodukte von den reinen Naturproduf- ten. Man muß ſich daher vor zwei Fehlern hüten: Erſtens ſoll man nicht, durch falſche Analogien verleitet, die Natur zu einem bloßen Kunſtprodukt geſtalten wollen (ein Fehler, dem Herr Kapp offenbar ſehr nahe kam), aber man darf auch, wie Recen— ſent uns zu verabſäumen ſcheint, nicht ver— geſſen, den gegebenen Zuſammenhang zwiſchen Natur und Kunſt (Sein und Denken ꝛc.) und die hier waltenden Aehnlichkeiten anzudeuten. Anmerk. der Redaktion. Literatur und Kritik. hört dieſer reale Zuſammenhang ſchon auf | fahrung von dem Hypothetiſchen, jo bleibt als empiriſcher Reſt die Thatſache, daß Artefacte im weiteſten Sinne, alſo insbeſon— Apparate und Inſtrumente, einen bedeut— ſamen Beitrag zur theoretiſchen Erklärung des Organismus geliefert haben: die Camera obscura, die Linſe, die Daguerrotypie, die Claviatur, die Pumpe, die Dampfmaſchine, zur Erklärung des Auges, des Ohres, der Herzthätigkeit, des Organismus überhaupt und insbeſondere ſeiner Nervenfunktionen nicht wenig beigetragen. In dieſen Fällen iſt der Zuſammenhang des mechaniſchen Gebietes mit dem organiſchen unbeſtritten und als neueſtes Beiſpiel können wir die durch die Grundgeſetze der Architektur, ins— beſondere der Druck- und Zuglinien er— möglichte Erklärung der inneren Anordnung der Knochenſubſtanz anreihen. Dagegen und wird zu bloßer ſpieleriſcher Analogie bei der Sprache und beim Staat; die Sprache iſt nach der Auffaſſung moderner Forſcher, insbeſondere Steinthals, kein Organismus, und die organiſche Auffaſſung des Staates iſt trotz Plato und Schäffle noch nicht zur Anerkennung gelangt. Von „den beiden Richtungen der Organprojektion“ müſſen wir alſo die zweite ſtrikte als Faktum anerkennen, daß nämlich der Mechanismus zum Verſtändniß des Organismus beige— tragen habe. Anders verhält es ſich mit der erſten Richtung, der ſog. Organprojektion, d. h. der unbewußten Hinausverſetzung der leiblichen Organe und ihrer Einrichtung in die Artefakte. Die Anſicht zwar, daß die Werkzeuge „eine Verlängerung der menſch— lichen Organe“ ſeien, iſt eine alte; allein zwiſchen dieſer Anſicht und der Theorie des Verfaſſers iſt ein himmelweiter u 96 ſchied; denn die letztere poſtulirt die Bildung der einzelnen Artefakte ſei un— bewußt von dem Inſtinkt geleitet geweſen, die Organeinrichtungen hinauszuprojiciren, und wohl zu merken, dies zu dem Zwecke, um dieſe projicirten Nachbilder rückwärts zur Erklärung der Vorbilder zu benutzen. Die größte Scheinbarkeit hat dieſe Anſicht noch bei den einfachſten Werkzeugen, in denen „die Eigenſchaften der ſchöpferiſchen Hand verkörpert ſind.“ Allein auch hier iſt der Gedanke der Projektion ein ſchiefer: zwar liegt direkt nichts Unwahres darin, wenn der Verf. ſagt (43): „Der geſtreckte Zeigefinger mit ſeiner Nagelſchärfe wird in techniſcher Nachbildung zum Bohrer; die einfache Zahnreihe findet ſich wieder an Feile und Säge, während die greifende Hand und das Doppelgebiß in dem Kopf der Beißzange und den Backen des Schraub— ſtockes zum Ausdrucke gelangt.“ Allein die Erklärung dieſer Uebereinſtimmung und die Conſequenzen, die der Verf. daraus zieht, können wir nicht anerkennen; anſtatt einer unbewußten und den oben beſchriebenen Zweck verfolgenden Projektion ſehen wir darin nichts weiter, als theilweiſe eine be— wußte Nachahmung der Organe, theilweiſe aber eine für das findende Subjekt zufällige, objektiv aber ganz natürliche und nothwendige Uebereinſtimmung, für welche wir die An— nahme des Waltens eines Unbewußten überflüſſig und darum falſch finden. Vollends aber geht dieſe Erklärung in die Brüche bei den complicirteren Apparaten; daß der Erfinder der achromatiſchen Einrichtung am Fernrohr, der Pumpe, der architektoniſchen Geſetze, des Monochords unter der Leitung des Unbewußten geſtanden habe und dadurch die Erklärung des Auges, des Herzens, der Knochenſubſtanzanordnung und des Literatur und Kritik. das iſt eine Annahme, die ſich mit unſerer Logik nicht verträgt. Selbſt wenn aber die Artefakte unbewußt von den organiſchen Einrichtungen beeinflußt geweſen wären, — was aber eben geleugnet wurde — iſt doch noch die Verbindung beider Reihen der Nachbildung des Organiſchen im Me— chaniſchen, und der Erklärung des erſteren mit Hülfe des letzteren, eine teleologiſche Willkür, die mit wiſſenſchaftlicher Erklärung nichts zu thun hat. Was Lamarck (vgl. Kosmos, Band J. S. 142) in anderer Hinſicht jagt: daß nämlich die Harmonie, die zwiſchen der Organiſation und den Gewohnheiten der Thiere exiſtirt, uns zwar als vorbe— dachtes Reſultat erſcheine, faktiſch aber blos ein nothwendig herbeigeführtes Reſultat ſei; dies gilt auch mutatis mutandis von un— ſerem Falle. Es gibt zweierlei Auffaſſungsweiſen der Weltvorgänge. Man fragt einmal nach der Complication derjenigen Antecedentien, deren Zuſammenwirken einen Effekt hin— reichend beſtimmt. Wie eine mathematiſche Aufgabe, ſo kann auch dieſe Frage im 5 einzelnen Falle auf zweierlei Weiſe gelöſt werden, ſynthetiſch und analytiſch. Man ſucht entweder direkt nach den Antecedentien einer gegebenen Erſcheinung, und als ſolche gelten nur phyſiſche Vorgänge, im vor— liegenden Fall zuſammen mit pſpchiſchen Prozeſſen, bei denen aber nur individuelle Regungen eine Rolle ſpielen können, kein ſogenanntes „Unbewußtes“ da dieſes im Hartmann'ſchen Sinne von der Philoſophie nicht anerkannt werden kann; oder man denkt ſich die betreffende Erſcheinung als Aufgabe, als Zweck, und fragt rückwärts, welche Bedingungen mußten vorhanden ſein, im Falle man dieſes Ergebniß herbeiführen wollte? So kann man z. B. fragen: falls ein aufrechtgehender Organismus hervor— Cortiſchen Organs habe ermöglichen wollen, gebracht werden ſollte, welche Vorbedingungen mußten dazu erfüllt werden? So kann ja der Mathematiker eine Aufgabe entweder direkt zu löſen verſuchen, oder er kann ſich dieſelbe gelöſt denken, und dann rück— wärts aus der Löſung ſich die Operationen conſtruiren, welche zur Herbeiführung jener Löſung nothwendig ſind. Mit dieſer zweiten Methode der cauſalen Erklärung beſitzt nun die andere Anſchauungsweiſe, die teleologiſche, eine äußerliche Aehnlichkeit; allein während der cauſale Erklärer ſich das Produkt als eine Aufgabe denkt, deren Löſungsbe— dingungen er ſucht, denkt ſich der Teleologe die Wirkung als den objektiv gewollten Zweck und führt dieſen Zweck ſelbſt als ein cauſales Erklärungsprincip ein. Es liegt durchaus nichts Unwiſſenſchaftliches darin, ſich zu fragen: Welche Bedingungen mußten erfüllt werden, damit der Menſch ſeinen eigenen Organismus erkennend be— greifen könnte? Die Antwort wird lauten: Es mußten zuvor die mechaniſchen Grund— begriffe und Einrichtungen bekannt werden, ehe der Menſch ſeinen complicirten Mecha— nismus begreifen konnte. Allein die Teleologie und damit die Dichtung beginnt, wenn man das Begreifen des Organismus durch die Mechanismen nun ſelbſt als ein cauſales Erklärungsprincip einführt, welches das Entſtehen und Schaffen jener Mecha— nismen begreiflich machen ſoll. Man kann Niemand verwehren, die Sache ſo anzuſehen, als ob dieſe Uebereinſtimmung eine vorbedachte und anfänglich gewollte geweſen ſei — es drängt ſich ſogar dieſe Betrachtungsweiſe ſelbſt dem unbefangenſten Forſcher ſehr häufig auf — allein man muß es ent- ſchieden zurückweiſen, daß jene Betrachtungs— weiſe zur Erklärung im Einzelnen herbeigezogen wird. Der point de vue des Verfaſſers, die teleologiſche Betrachtungs— Kosmos, Band III. Heft 1. Literatur und Kritik. kann 97 weiſe, entſteht, wie er ſelbſt ſagt (81), durch eine einfache Umkehrung des natürlichen Verhältniſſes. Es iſt ſchon zum ſo und ſo vielten Male ſeit Leibnitz und Kant den wiſſenſchaftlichen Arbeitern eingeſchärft wor— den, daß das teleologiſche Princip kein Er— klärungsprincip der Dinge ſei; und doch muß man dieſe einfache Wahrheit immer wiederholen, welche Kant trefflich dahin formulirte, daß alle Teleologie nur ein re— gulatives, kein conſtitutives Ele— ment der Wiſſenſchaft ſein könne. Man ſchlechterdings auch nichts dagegen haben, die Welt und ihre Geſchichte gleich— ſam verkehrt anzuſchauen und alles Spätere als Zweck des Früheren zu betrachten — dies iſt eben einfach eine Durchlaufung der Reihe vom anderen Ende aus; allein den Zweck als ein neben den cauſalen Wirk— ſamkeiten noch mitarbeitendes Prin— cip zu betrachten und ihn als Glied in die Cauſalkette einzureihen, dagegen muß immer von neuem proteſtirt werden. Dieſe teleologiſche Anſchauungsweiſe, welche glück— lich durch Kant ihren Ort angewieſen er— hielt, hat nun neuerdings durch die ſchlechte Hypotheſe eines neben der Cauſalität noch wirkſamen Unbewußten ein greifbares Subſtrat erhalten, welches der Verfaſſer der vorl. Schrift anerkennen zu müſſen glaubte. Zu welchen ſeltſamen Reſultaten er dadurch gekommen iſt, indem er von dieſem falſchen Princip aus eine verkehrte Methode befolgte, ſahen wir ſchon oben. Es wären Beiſpiele genug aufzuzählen, wo ſeine Methode in die Brüche geht. Was hat z. B. die ver⸗ meintliche Erkenntniß des Staates als eines organiſch gebauten Ganzen zur Erklärung des menſchlichen Organismus beigetragen? was etwa der Thermometer oder Baro— meter? Und die einfache Conſtatirung der Identität des Baues einer Maſchine mit 13 1 0 98 dem Bau des menſchlichen Organismus ſcheint uns ebenſowenig der Organprojektion zu be— dürfen, als die Conſtatirung der Identität der Gravitation mit der Schwere durch Newton. Man kann, wenn man will, das Hegel'ſche Schema, daß der Geiſt ſich ſelbſt in der Natur entäußere, um ſich aus ihr mit ſich ſelbſt zu vermitteln, auch auf die Technik anwenden, fo lange man ſich bewußt iſt, daß man damit eine teleologiſche Betrach' tungsweiſe anwendet, mit der nichts, auch gar nichts erklärt wird; allein die Ent* ſtehungsgeſchichte der Cultur von dieſem Geſichtspunkte aus zu ſchreiben, ſcheint uns ein verkehrtes Unternehmen, weil die wirklichen Urſachen, wie fie z. B. Ty lor und Hellwald aufzuſuchen beſtrebt ſind, dadurch in den Hintergrund gedrängt werden. Die myſtiſche Intervention des Unbewußten, welches in jedem einzelnen Falle die Hand des Erfinders geleitet haben ſoll, iſt als ein nicht-wiſſenſchaftliches Princip zurückzuweiſen. Wenn wir nun trotz der Anſicht, daß das eigentliche Princip des Verfaſſers und ſeine darausfließende Methode verkehrt ſei, die Schrift deſſelben zur Lek— türe empfehlen, ſo geſchieht dies deßhalb, weil dieſelbe mit Geiſt, wenn auch nicht immer mit kritiſcher Auswahl geſchrieben iſt. Trotz vieler Willkürlichkeiten und ge— ſuchter, bizarrer Aeußerungen (was ſoll z. B. heißen: der Geiſt ſei Selbſtdefinition?) iſt doch die Zuſammenſtellung derjenigen me— chaniſchen Gebiete, welche zur Erklärung des Organismus dienen, eine dankens— werthe Arbeit. Vom Standpunkt der ein— heitlichen Weltanſchauung auf Grund der Entwicklungslehre aus, wie vom Stand— punkte der Methodologie und des Criticis— mus aus müſſen wir aber den „neuen Geſichtspunkt“ des Verf. als einen princi— piell verkehrten bezeichnen: die Nachblüthe Literatur und Kritik. der Hegel'ſchen Dialectik und der Schelling'ſchen Naturphiloſophie findet in unſerer nüchternen und kühlen Zeit keinen Anklang. Straßburg. H. Vaihinger. Ein Buch über die Zoologiſche Philoſophie des 19. Jahrhunderts. Unter den wenigen bedeutenderen Wer— ken von wiſſenſchaftlichem Werthe, welche in jüngſter Zeit in Italien veröffentlicht wurden, nimmt jedenfalls das des Bolog— neſer Profeſſors Dr. Siciliani über die zoologiſche Philoſophie unſeres Jahrhunderts den hervorragendſten Platz ein. Sowohl Charles Darwin als Prof. Haeckel haben ſich dem Verfaſſer gegenüber brief— lich in anerkennendſter Weiſe über ſein Buch geäußert; es dürfte daher auch den weiteren Kreiſen der Leſer des Kosmos von Intereſſe ſein, wenn wir denſelben im Nachfolgenden einen gedrängten Ueberblick über den Inhalt der Siciliani'ſchen Arbeit geben, die der großen Tagesfrage: „wie iſt das Thier— reich entſtanden und wie hat ſich daſſelbe entwickelt“ gewidmet iſt. Um uns dieſen Ueberblick zu verſchaffen, können wir aber nichts Beſſeres thun, als der trefflichen Kritik zu folgen, welche Profeſſor S. Tommaſi aus Neapel vor Kurzem in der Rivista Europea über das vorliegende Werk veröffentlichte, und durch die den Leſern zugleich einer der älteſten und tüchtigſten Verfechter der Evolutionstheorie in Italien in der Perſon des Herrn Kritikers vor— geführt wird. Das ganze Buch Sicilianis beſteht aus Dialogen, die während ſechs Tagen von den Gründern und noch Literatur und Kritik. 99 lebenden Vertretern der Wiſſenſchaften und Philoſopheme gehalten werden. Die Dia— logform iſt vielleicht unglücklich gewählt und jedenfalls am Wenigſten geeignet, um ſolch' gewichtige Gegenſtände, wie ſie die heutige philoſophiſche Zoologie in ihren Bereich zieht, vor einem größeren Publikum zu deſſen Belehrung zu beſprechen, doch iſt es trotzdem der Gewandtheit des Verfaſſers gelungen, dieſe Schwierigkeit faſt gänzlich zu überwinden und uns ein oft treffendes Bild der weltbewegenden Probleme zu entrollen. Vor allem war es natürlich nöthig, daß der Autor uns einen hiſtoriſchen Ueber- blick der Entſtehung und Entwickelung der verſchiedenen Theorien über den Urſprung der Species verſchaffte. Dies thut er in den erſten beiden „Tagen“ ſeiner Dialoge. Nach ihm ſollen ſich die biologiſchen Doktrinen unter drei große typiſche Cate— gorien vertheilen, die in Frankreich von Cuvier, Lamarck und Geoffroy St. Hilaire repräſentirt werden. Die Doktrin des erſteren gründet ſich auf den Begriff freier Schöpfung und wird durch Bedingung der Unveränderlichkeit der Spe- cies zum orthodoxen Dogmatismus. Sici— liani zeigt uns in Thatſachen die In— conſequenzen der Theorie, die mit ihren wiederholten Schöpfungen und auf einander folgenden Erdrevolutionen allen natürlichen Schlüſſen Hohn ſpricht. Der Cuvier ſchen Schule ſtellt er die Lamarck' ſche und Geoffroy'ſche gegenüber. „Für mich“ — bemerkt Dr. Tommaſi an dieſer Stelle — „iſt Lamarck der Vorläufer und wirkliche Gründer des Evo— lutionismus im Gebiete der organiſchen Wiſſenſchaften und es ſcheint mir, daß man ſeine Doktrin in folgenden drei großen Principien zuſammenfaſſen kann. 1) Die innere und natürliche Differenzirung der Species; 2) der Einfluß der phyſiſchen Umgebung, der ſich die Thiere fügen müſſen; 3) die funktionelle Nothwendigkeit, welche die Organe nach dem Zweck der Funktion ſelbſt modificirt.“ Die beiden erſten Punkte hat Siciliani wohl verſtanden und klar dargeſtellt. Doch hätte er bei denſelben und ganz beſonders bei der dritten Idee länger verweilen müſſen, denn dieſelben ſind zum Verſtändniß der Umwandlung der lebenden Formen gar zu wichtig; auch bedarf der Darwinismus — der moderne Transformis- mus — der Ergänzung durch die La- marck'ſchen Ideen, um ſich zur Höhe einer ſtarken und wahrhaft philoſophiſchen Doktrin zu erheben. Die Geoffroy he Theorie ſtellt er als Bindungsglied zwiſchen der Cuvier'- ſchen und Lamarck'ſchen hin, unter Angabe der Geoffroy 'ſchen Ideen über die mögliche Veränderlichkeit in der embryo- genetiſchen Entwickelung, und erzählt den Kampf zwiſchen Geoffroy und Cuvier, wobei er die berühmte Theorie der Ana- logen erwähnt und den Geoffroy'ſchen Begriff der Analogie dem der Homo- logie der heutigen Morphologiſten zu nähern ſucht. Der „zweite Tag“ iſt eine Weiterentwickelung des erſten. Siciliani will in derſelben darthun, daß in allen drei Schulen oder Richtungen eine pro- greſſive Evolution ſtattgefunden hat und läßt dabei den gelehrten Littré mit der ihm eignen Fertigkeit die Geſchichte der zoolo⸗ giſchen Philoſophen Frankreichs von den Vorgängern Lamarck's an vortragen. Hier ſpricht der Verfaſſer dann auch von der Entwickelung jener drei Richtungen in Deutſchland. In einem ſpäteren Capitel kommt er auf den hier nur vorüber— 100 gehend in Betracht gezogenen Id ealis— mus zurück. Im „dritten Tage“ geht er von der Geſchichte der Syſteme zur Kritik der Theorien über, wobei er hauptſächlich be— zweckt, die Nothwendigkeit und große Wich— tigkeit der taxonomiſchen Forſchung in der ganzen Naturphiloſophie zu zeigen, einer Forſchung, die um wiſſenſchaftlichen Werth zu beſitzen, die organiſchen Beziehungen ſtudiren und beſtimmen und dieſe beſonders vom Ge— ſichtspunkt der vergleichenden Morphogenie betrachten muß. Hier treten neue Perſön— lichkeiten, wie Schiff, Moleſchott und Montegazza auf und der Dialog wird lebhaft, geiſtreich und wirklich dramatiſch. Die meiſten Fragen werden nur im Fluge aufgeworfen und berührt; überhaupt iſt dieſes Capitel größtentheis nur ein geiſt— reiches Geplauder, das uns mehr amüſirt und intereſſirt, als belehrt. Der vierte, fünfte und ſechſte Tag bilden den wichtigſten Beſtandtheil des Buches. Ein jeder dieſer Tage iſt in zwei Abſchnitte getheilt. Im erſteren wird uns eine gegebene Theorie von einem ihrer tüchtigſten Vertreter dargeſtellt, wäh— rend in dem zweiten Abſchnitte die Kritik derſelben den Gegnern anheimfällt. Dadurch entſteht ein lebhafter und ſtets zunehmender Kampf, der ſich in ganz dra— matiſcher Weiſe entwickelt. Hierbei hat der unpartheiiſche Verfaſſer, der ſich ſehr wohl in den Discutenten zu perſonificiren ver— ſteht, ein glänzendes Zeugniß ſeines Scharf— ſinns und ſeines vielſeitigen Wiſſens ab— gelegt. Im vierten Tage ringen z. B. zwei der tüchtigſten Athleten der Wiſſenſchaft mit einander, Huxley und Milne Edward«s. Letzterer als Cuvierianer, vertheidigt die Principien ſeiner Schule, deren von Cuvier tapferen, Literatur und Kritik. gelegte Baſis faſt unverändert bleibt, wäh— rend er andererſeits die Methoden zu ver— beſſern und in Einklang mit den neuen Entdeckungen der Wiſſenſchaft zu bringen ſucht. Dagegen zeigt der große engliſche Gelehrte mit feiner und ſtrenger Analyſis die Fehler und Widerſprüche der Neocuvie— rianiſchen Theorie. Der Dialog zwiſchen dem unverſöhnlichen Immutabiliſten und dem nicht mehr verſöhnlichen Transformiſten wird ſo treffend, der Kampf ſo heiß und gewaltig, daß ſchließlich der zweite (Hu x— ley) unter wuchtigen Hieben den, wenn auch aber ſeinen Halt verlierenden Gegner niederſtreckt. In den beiden andern Tagen geht es ähnlich zu. Im fünften tritt der kühne Haeckel auf, um die taxonomiſchen Tafeln des Transformismus zu erklären und zu vertheidigen; er führt die Darwin'ſche Theorie bis zu den äußerſten Conſequenzen und vervollſtändigt ſie ſyſtematiſch, gegen ihn erheben ſich Owen und Baer. Im letzten Tage nehmen ſchließlich zwei italieniſche Hegelianer, Sparenta als ſpe— culativer, Demeis als Naturphiloſoph, Theil am Kampf; ſie vertheidigen die Vaſis der idealiſtiſchen Zoologie, welche von Darwin, Gegenbaur und Anderen ſcharf kritiſirt und zu zerſtören verſucht wird. Dies ſind jedenfalls die ſchönſten „Tage“ des Werkes. Es iſt dem Autor gelungen, in denſelben die heute auf dem Gebiet der organiſchen Wiſſenſchaft kämpfenden, ver— ſchiedenen Schulen in meiſterhafter Weiſe zu perſonifiziren. Es iſt natürlich un⸗ möglich, auch nur im Fluge den Inhalt dieſes zweiten Theiles anzudeuten; der Leſer, dem das Buch aufs Wärmſte empfohlen wer— den kann, wird darin anregende und unter— haltende Belehrung finden; die verſchiedenen naturphiloſophiſchen Doktrinen, die ſich unter Literatur und Kritik. unſern Augen bekämpfen, ſind darin mit einer Lebhaftigkeit, Wahrheit und gewiſſen— haften und exakten Kritik behandelt, die dem Verfaſſer alle Ehre machen. Vielleicht hätte Siciliani, der das Buch durchaus nicht für Gelehrte und Eingeweihte allein ge- ſchrieben, bei der Darſtellung der Theorien, zu deren Verſtändniß ſo manche techniſchen Kenntniſſe erforderlich ſind, durch Beifüg— ung von erklärenden Noten ſeinem Werke einen größeren Leſerkreis verſchafft und auch mehr Intereſſe unter ſeinen Landsleuten für | | die großen, weltbewegenden, naturphiloſo- die geſchichtliche Erkenntniß, indem ſie Ent— Das Werk ſchließt ein Epilog, wo phiſchen Fragen wachgerufen. der Verfaſſer nochmals auf alle ſechs Tage zurückgreift und die Discuſſionen überſicht— lich zuſammenfaßt, um, die reine Kritik verlaſſend, verſchiedene eigne Schlüſſe an— zudeuten, die er in einer weiteren Arbeit auszuführen gedenkt. Dieſe Schlüſſe je— doch, die auf eine vermittelnde, faſt verſöhnende Theorie hinlenken zu wollen ſcheinen, finden durchaus nicht den Beifall des Dr. Tommaſi, der vom poſitiven Darwiniſtiſchen Standpunkte aus die Si— cilianiſche Annahme einer unbeſtimmten ſpontanen Thätigkeit, einer gleichzeitig razio— nellen und irrazionellen, anſcheinend imma— teriellen Kraft, welche teleologiſch die Thier— welt aufbaute, unbedingt als unlogiſch und unphiloſophiſch zurückweiſen muß: denn man würde durch eine ſolche Annahme einfach wieder zum offnen Dualismus zurückkeh— ren. Den poſitiven Naturphiloſophen, zu denen ſich auch wohl Siciliani rechnet, bleibt nichts anderes übrig, als in der Natur zu verweilen, wenn ſie ihren Prin— cipien logiſch folgen; alsdann brauchen | wir nicht lange mehr im Zweifel darüber zu bleiben, zu welcher von den drei Schulen ſie ſich bekennen werden. 11 101 Dr. S. Günther, Studien zur Geſchichte der mathematiſchen und phyſikaliſchen Geographie. Heft 1 und 2. Halle, Nebert 1877. | In neueſter Zeit macht ſich ein lebhaftes Streben geltend, die einzelnen Wiſſenszweige in ihrer geſchichtlichen Entwickelung darzu— ſtellen und wir ſind überzeugt, daß es ein ſehr heilſames Streben iſt. Erſt die wiſ— ſenſchaftliche Erkenntniß des Entwickelungs— ganges einer Wiſſenſchaft führt zum rich— tigen Verſtändniß und zur völligen, ge— rechten Würdigung derſelben. Zugleich iſt ſtehung und Löſung von Problemen, die Wege und Ziele der Forſchung in ver— gangenen Zeiten darlegt, gewiß von an— regendem Einfluß für die gegenwärtige Forſchung auf dem betreffenden Gebiete. Wenn deshalb überhaupt Werke, die ſich die geſchichtliche Behandlung der Wiſſen— ſchaften zur Aufgabe machen, mit Freude zu begrüßen ſind, ſo iſt dies bei vorliegen der Arbeit ganz beſonders der Fall, da auf dem Gebiete, das ſie behandelt, nur Mo— nographien, aber, wenn wir nicht irren, keine, das Ganze umfaſſenden Werke exiſtiren. Dieſes Gebiet iſt die Geſchichte der exacten (mathematiſch-phyſikaliſchen) Erdkunde. Der Verfaſſer beabſichtigt in einer Reihe zwangloſer Abhandlungen die Geſchichte der Hauptprobleme der exacten Erdkunde dar- zuſtellen und hat in den beiden erſten Heften die zwei Fundamentalwahrheiten derſelben in ihrem geſchichtlichen Entwickelungsgange im Mittelalter vorzuführen unternommen. Das erſte Heft beſchäftigt ſich mit dem chriſtlichen Abendlande, das zweite Heft mit den Hebräern und Arabern. Die zwei Fundamentalwahrheiten, die hier behandelt werden, ſind natürlich die Kugelgeſtalt und der Bewegungsmodus unſeres Planeten. | 102 Auf dieſen zwei Wahrheiten beruht nicht nur die ganze Erdkunde, ſondern die ganze Weltanſchauung; insbeſondere die Lehre von der Erdbewegung, die den Standpunkt der Erde im Weltraume anweiſt und den geocentriſchen Irrthum verbannt hat, iſt hier von eminenter Bedeutung. Die Stellung, die Zeiten und Menſchen zu dieſen beiden Problemen einnehmen, iſt deshalb nicht blos für ihre geographiſche, ſondern auch für ihre kulturgeſchichtliche Beurtheilung von großem Werthe und deshalb hat gerade die geſchichtliche Behandlung dieſer beiden Lehren ein weitgehendes Intereſſe. Die Entwickelung derſelben im Mittelalter vor— zuführen, iſt aber ſpeciell dankenswerth, weil über ſie weit weniger allgemein be— kannt iſt, als über die des Alterthums. Der erſte Theil, welcher die Entſtehung und Entwickelung der Lehre von der Erd— rundung und Erdbewegung vorführt, ſteht mit den beiden anderen der Sache nach kaum in einer Verbindung. Dieſer Ent— wickelungsgang iſt ein iſolirter, er ſteht nicht im Zuſammenhang mit dem der Se— miten und Araber, auch nicht mit denen der Griechen. Was den Umfang des vom Verfaſſer behandelten Zeitraumes betrifft, ſo iſt der Anfang deſſelben die Zeit der kirchenväterlichen Omnipotenz, das Ende natürlich Nicolaus Kopernikus. Man kann die vorliegende Arbeit gewiſſermaßen als Fortſetzung zu dem bekannten Werke von Schiaparelli betrachten. Der Verfaſſer ſchildert zunächſt jene erſte Epoche der mittelalterlichen Erdkunde, die er mit Drapes ſehr treffend „pe— triſtiſche Geographie“ nennt, jene Epoche der abenteuerlichen Theoſophie, zu deren unbedeutendem Anhängſel die Erd- und Weltkunde gemacht wurde. Ein Mann, der zuerſt an der Tra— Literatur und Kritik. dition zu rütteln wagte, der Biſchof Vir— gilius von Juvavo, wird von dem Verfaſſer der Vergeſſenheit entriſſen. Der entſchiedene Aufſchwung der Erdkunde fällt in das zehnte und elfte Jahrhundert. Im 13. Jahrhundert war die richtige Lehre von der Erdrundung bereits tief einge— drungen; der Verfaſſer beſpricht die Schrift „Imagine du Monde“ und das Werkchen von Sacro Bosco, welches der Lehre von der Kugelgeſtalt zum durchſchlagenden Erfolge verhalf. Von großem Intereſſe iſt die klare und überſichtliche Darſtellung der Anſichten Dante's, der über die Kugel— geſtalt die allerklarſten Vorſtellungen be— ſaß und den Irrlehren ſeiner Zeit ent— gegentrat. Im Gegenſatz zu Dante zeigt der Verf. wie Columbus irrige Anſichten über die Erde hatte, wie er durch That— kraft und Muth, nicht aber durch wiſſen— ſchaftliche Einſicht zum Ziele kam. Seit dem 16. Jahrh. fand die Kugelgeſtalt keine ernſtlichen Gegner mehr. Der Verf. ſchließt hiermit die geſchichtliche Darſtellung des einen Problems und wendet ſich zu dem noch wichtigeren zweiten, dem der Erd— bewegung. Zunächſt hebt der Verf. hervor, daß vor dem dreizehnten Jahrhundert keine Vorläufer der reformatoriſchen That des Kopernikus zu ſuchen ſind. Bei den Scho— laſtikern, von denen der Verf. mit Recht ſagt, daß ſie bei allen Extravaganzen doch immer einen großartigen Charakter zeigen, ſind die erſten Spuren einer Verbeſſerung der aſtronomiſchen und geographiſchen Lehren zu ſuchen. Der Verf. führt uns nun die Anſichten von Albertus Magnus, Roger Bacon's und Thomas v. Aquin vor und zeigt, daß ſie bezüglich der Lehre von der Erdbewegung nicht weiter kamen. Von großem Intereſſe iſt die ausführliche Dar— ſtellung der Anſichten Dante's; die Ana— Literatur und Kritik. lyſe ſeiner Trilogie zeigt die Unmöglichkeit, ihn als einen Vorläufer des Kopernikus anzuſehen. Dante ſteht hier ganz auf dem Boden ſcholaſtiſcher Denk- und Forſchungs— weiſe. Nun führt uns der Verf. in ein- gehender Weiſe einen Mann vor, der ein hervorragender Vorläufer moderner Phi⸗ loſophie und Wiſſenſchaft iſt: den Cardinal Nicolaus von Cuſa. Der Verf. macht es ſich zur Aufgabe, die gerechte Würdigung, die dieſem tiefſinnigen Denker durch neuere Forſchungen zu Theil wurde, weiteren Kreiſen vorzuführen. Nicolaus Chryphs (Krebs) aus dem Erzſtift Trier war ein ſcharfer Denker und durchaus nicht ohne gediegenes Wiſſen. Er ſpricht der Erde ihre abſolut centrale Stellung ab und ſetzt ſie als Stern mit den anderen Himmelskörpern auf gleichen Fuß. Clemens hat ein Dokument veröffent— licht, welches völligen Aufſchluß darüber giebt, wie Nicolaus von Cuſa ſich die Bewegung der Erde dachte. Der Verf. druckt den intereſſanten Text ab und giebt wichtige Erläuterungen zu dieſem „kosmo— logiſchen Glaubensbekenntniſſe.“ Es ergiebt ſich klar, daß der Cardinal die Rotation der Erde formell correkt ausgeſprochen und die himmliſchen Erſcheinungen mathematiſch richtig erklärt hat. Der letzte große For— ſcher vor Copernikus, den uns der Verf. ſchildert, iſt Leonardo da Vinci, be— kanntlich eines der größten Genies aller Zeiten, der, wie auf ſo vielen anderen Ge— bieten, auch auf dem der mathematiſchen Geographie Hervorragendes leiſtete und ſich hauptſächlich im Jahre 1510 mit dem Probleme der Erdrotation beſchäftigte. Hiermit ſchließt der Verfaſſer ſeine Darſtellung, aus der hervorgeht, daß vor Kopernikus nur von einer Rotation der Erde, aber gar nicht von einer Bewegung um die Sonne die Rede war. 103 Das zweite Heft giebt die geſchicht— liche Behandlung derſelben Probleme bei Arabern und Hebräern. Die Dar- ſtellung der Leiſtungen der Araber bildet den zweiten Abſchnitt der ganzen Arbeit. Zunächſt weiſt der Verf. auf den Gegen— ſatz zwiſchen Arabern und Decidentalen hin, der darauf beruht, daß die Erſteren griechiſche und indiſche Bildungselemente in ſich auf— genommen hatten und deshalb die Lehre von der Kugelgeſtalt von Anfang an rich— tig erfaßten. Der Verf. führt dann einige wichtige arabiſche Mathematiker und Aſtro— nomen vor und zeigt, wie ſie die erſte geo— graphiſche Grundwahrheit gründlich zu er— faſſen verſtanden. Vor allem hebt er die äußerſt wichtige Breitengradmeſſung unter dem Chalifen al Mamun hervor. Nun wendet ſich der Verfaſſer zu einem Kapitel, dem bislang noch nirgends eine ſyſtematiſche Behandlung zu Theil gewor— den. Es ſoll eine Analyſe derjenigen Ar— beiten liefern, die nicht ſtreng ſachgemäßen, ſondern mehr populären Inhaltes und für weitere Kreiſe beſtimmt waren. Die Ausführung dieſes Abſchnittes iſt ſehr ver— dienſtlich und intereſſant. Der zweite Theil der Unterſuchung be— handelt die Lehre von der Erdbewegung. Was zunächſt die tägliche Rotation betrifft, ſo war bei den Arabern keine feſtſtehende und ausgebildete Theorie darüber vorhan— den, aber doch eine Hypotheſe oder Vor— ahnung dieſer Lehre. Der Verf. führt eine Anzahl Stellen an, welche dies bezeugen; insbeſondere führt er einen kurzen Artikel von Sprenger an, der das intereſ— anteſte Zeugniß darlegt, das einem Lehr— buch der arabiſchen Schulphiloſophie ent— nommen iſt. Der Verf. wendet ſich ſchließlich zur Betrachtung derjenigen arabiſchen Forſcher, 104 welche in unbewußter Vorahnung der Lehre von der Bewegung der Erde um die Sonne das herrſchende ptolemäiſche Syſtem an— griffen. Er beſpricht den Bitrogi oder Alpetragius und andere, hebt dann den Philoſophen Abu Bekr Ibnal Cayeg, einen Zeitgenoſſen des Maimonides her— vor, der bisher von der mathematiſch— geſchichtlichen Forſchung nicht beachtet worden iſt, und ſchließt die Betrachtung der ſpaniſch— islamitiſchen Refombewegung gegen das ptolemäiſche Syſtem mit der Schilderung der Leiſtungen des Königs Alphons X., der eine großartige aſtronomiſche Encyflo- pädie herausgab, aber zu keinem Reſultate kam. Aus Allem ergiebt ſich, daß die Araber in der Erkenntniß des zweiten Grundproblems nicht viel erreicht haben. Der dritte Abſchnitt behandelt die Hebräer. Die Lehre von der Kugel— geſtalt der Erde habe ſchon zur Zeit Chriſti bei vielen gebildeten Juden feſtgeſtanden, meint der Verf., giebt aber zu, daß erſt für das nächſte Jahrhundert ein Beweis exiſtire. Jedoch ſcheint uns auch dieſer nicht ganz evident; denn daß von der Größe der Erde nach Paraſangen die Rede iſt, dürfte vielleicht nicht unbedingt die Vor— ſtellung der Kugelgeſtalt involviren. Das nächſte Zeugniß, das der Verfaſſer anführen kann, fällt bedeutend ſpäter, es iſt eine geo⸗ graphiſche Schrift des Rabbi Samuel aus der Zeit zwiſchen 776 und 860. Dieſer kannte bereits die Elementarwahr— heiten der aſtronomiſchen Geographie. Der Verf. giebt ſodann eine Ueberſicht der An— ſichten und Lehren jüdiſcher Gelehrten ſeit Anfang des zwölften Jahrh. Der wichtigſte iſt Abraham ben Chüja, der eine aſtronom. Geographie und Aſtronomie ſchrieb, worin er die Lehre von der Kugelgeſtalt wiſſenſchaftlich behandelte und richtiges Ver- . Literatur und Kritik. ſtändniß dafür zeigt. Außer den wiſſenſchaft— lichen Doktrinen giebt der Verf. auch eine intereſſante Schilderung der Phantaſien und abenteuerlichen Hypotheſen des mittel— alterlichen Judenthums auf dieſem Gebiete. Es folgt nun die Betrachtung über die Stellung der Juden des Mittelalters zu dem zweiten Grundproblem. Da eine ſyſtematiſche Darſtellung dieſes wichtigen Gegenſtandes bislang nicht vorhanden war, ſo iſt es ſehr verdienſtlich, daß der Verf. eine ſolche in ihren Grundzügen zu geben unternommen hat. Die Zeugniſſe für die Lehre von der Erdrotation finden ſich merk— würdiger Weiſe in kabbaliſtiſchen Schriften, vor allem in dem Hauptwerke, dem Buche Sohar. Dies beſpricht der Verf. näher. Was die Lehre von der Bewegung der Erde um die Sonne betrifft, ſo haben die Juden darin nichts geleiſtet; ſie hielten conſervativ am ptolemäiſchen Syſteme feſt. Nur einige ſchwächere, unwichtige Abweich— ungen davon finden ſich; am intereſſanteſten iſt die Kritik des Ptolomäus von Maimo— nides, den der Verf. eingehend behandelt. Dieſer bricht aber zuletzt in die Worte aus: „Et c'est la une perplexite reelle.“ Hiermit ſchließt der Verf. dieſe Arbeit, die eine treffliche und vollſtändige Ueber— ſicht des Entwickelungsganges der aſtrono— miſch-mathematiſchen Geographie im Mittel— alter giebt. Der Verf. hat es verſtanden, das reichhaltige Material trefflich zu ver— werthen, lichtvoll anzuordnen und in ele— ganter anregender Darſtellung vorzuführen. Er hat zugleich mehrere bisher unbekannte Thatſachen an's Licht gezogen und den Grund zur ſyſtematiſchen Behandlung einiger Ge— genſtände gelegt, bei denen ſie bisher fehlte. Wir empfehlen dieſe Schrift auf's Beſte. W 8. WW Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. ER Das Protikenreid, Ernſt Haeckel. ſtehen will, wenn man ſich von der ſelbſtſtändigen Stellung des Pro— tiſtenreichs zwiſchen dem Thierreiche einer— ſeits und dem Pflanzenreiche anderſeits über— zeugen will, ſo muß man vor Allem den autonomen, unabhängigen Zellen— Charakter ihres Organismus gehörig würdigen. Bei allen einzelligen Pro- tiſten, die ihr ganzes Leben als „Zellen— Einſiedler“ zubringen, verſteht ſich das von ſelbſt. Aber auch bei den vielzelligen Pro— tiſten, bei den „Zellenhorden“, finden wir immer die Individualität der locker ver bundenen Zellen gewahrt und vermiſſen jene Abhängigkeit derſelben von einander und vom Ganzen, welche wir in dem wohlorganiſirten Zellenſtaate des Thier— und Pflanzenorganismus antreffen. In dieſer Auffaſſung des Protiſten— Organismus liegt nach unſerer Anſicht der Schwerpunkt ſeines Verſtändniſſes. Es wird daher zunächſt erforderlich ſein, den Be— II. griff der organiſchen Zelle überhaupt feſtzuſtellen. Dieſer Begriff hat ſeit der Begründung der Zellentheorie mancherlei Wandlungen erfahren. Gegenwärtig nimmt man faſt allgemein an, daß zum Begriff der Zelle zwei verſchiedene Beſtandtheile gehören. Erſtens: der eigentliche Zellen— leib, ein lebendiges Stückchen von weichem, eiweißartigem Bildungsſtoff oder Proto- plasma; und zweitens ein davon um— ſchloſſener Zellkern oder Nucleus, ein kleinerer, meiſt feſterer Körper, der ebenfalls aus einer eiweißartigen, aber vom Protoplasma etwas verſchiedenen Materie be— ſteht. Als dritter Hauptbeſtandtheil kommt dazu bei vielen Zellen noch eine äußere Umhüllungshaut oder Schale, die Zell— haut oder Membran. Die meiſten Pflanzenzellen ſind von einer ſolchen Kapſel oder Membran umſchloſſen: Schlauch— zellen. Hingegen ſind die meiſten Thier— zellen hautlos und nackt: Urzellen. Die meiſten Protiſten zeichnen ſich durch die Bildung ganz eigenthümlicher Kapſeln oder Schalen aus, welche ihrem Zellenleibe 3 Kosmos, Band III. Heft 2. 14 106 eine ſehr charakteriſtiſche und mannigfaltige Geſtalt geben. Wenn wir nun zunächſt unter unſern Protiſten diejenige Gattung aufſuchen, welche uns auf der Höhe ihrer Entwickelung die einfachſte Form eines ſolchen einzelligen Or— ganismus, gewiſſermaßen das Ideal der Zelle, darſtellt, ſo treten uns vor allen Andern die berühmten Amoeben entgegen (Fig. 1). Weit verbreitet in unſern ſüßen und ſalzigen Gewäſſern, ſind dieſelben wegen ihrer höchſt einfachen Bildung und ihren bedeutſamen Beziehungen zu anderen Zellen von ganz beſonderer Wichtigkeit. Die Amoeben ſind nackte Zellen ohne Hülle Fig. 1. Eine gewöhnliche Amoebe Haeckel, Das Protiſtenreich. Fig. 2. und ohne beſtimmte Form. Ihr weicher Körper, der nur einen einfachen Zellkern enthält, bewegt ſich langſam kriechend im Waſſer umher. Dies geſchieht dadurch, daß eine wechſelnde Anzahl von veränderlichen, lappenförmigen oder fingerförmigen Fort— ſätzen aus beliebigen Stellen der Oberfläche vorgeſtreckt und wieder eingezogen werden. So ändern die kriechenden Amoeben immer— fort ihre unbeſtimmte Geſtalt. Kommen ſie zufällig mit kleinen Körperchen in Berührung, die zur Nahrung dienen können, ſo drücken fie dieſelben mittelſt der Bewegungen ihrer Fortſätze an einer beliebigen Stelle ihrer Körper⸗Oberfläche in dieſen hinein. r > LT 2 2. Freſſende, amoebenähnliche, farbloſe (Amoeba vulgaris) in zwei auf- einander folgenden Zuſtänden der Bewegung dargeſtellt. Im Proto- plasma liegt der Kern (n) und Blutzellen aus dem Blute einer nackten See— ſchnecke (Thetis leporina). Die Blutzellen führen in der Blutflüſſigkeit lebhafte Bewegungen gleich echten Amoeben aus; und gleich Letzteren einige fremde Körperchen (i). Auch kleinſte Waſſertröpfchen werden ſo verſchluckt. Die einzellige Amoebe kann alſo eſſen und trinken, ohne daß ſie Mund und Magen beſäße. Nachdem die Amoebe durch fortdauerndes Wachsthum eine gewiſſe Größe erreicht hat, zerfällt ihr einfacher Zellenleib durch Theilung in zwei Zellen. Zuerſt theilt ſich dabei der Kern, darauf das Proto— plasma. Auf dieſelbe Weiſe vermehren ſich auch die Zellen, welche Körper zuſammenſetzen, und von erſetzt werden. unſern eigenen denen viele beſtändig verbraucht und durch neue Die größte Aehnlichkeit mit verzehren ſie feſte Farbſtoffkörnchen. den Amoeben haben die farbloſen Blut— zellen, die milliardenweiſe in unſerm Blute kreiſen. Auch dieſe bewegen ſich nach Amoeben-Art, indem ſie ihre unbeſtimmte Form ändern. Auch dieſe können fremde Körperchen in ihr Inneres aufnehmen; wir können fie unter dem Mikroskop z. B. mit Carminkörnchen füttern, mit denen ſie ſich in kurzer Zeit anfüllen (Fig. 2). Von beſonderer Wichtigkeit für die Ent— wickelungsgeſchichte iſt die intereſſante That— ſache, daß auch die Eier der Thiere in ihrer früheſten Jugend nackte, formloſe Haeckel, Das Protiſtenreich. 107 Zellen ſind, welche Amoeben zum Verwechſeln | bei ſie ihre Form beliebig verändern (Fig. 3). ähnlich ſehen und gleich dieſen langſame, Bei den Schwämmen oder Spongien unter— | nehmen diefe amoebenähnlichen Eizellen, lang— unbeſtimmte Bewegungen ausführen, wo— Fig. 3. Jugendliche Eizellen verſchiedener Thiere, amoebenähnliche, nackte Zellen, welche unter langſamer Formveränderung, gleich echten Amoeben, Bewegungen ausführen. In dem dunkeln, feinkörnigen Protoplasma liegt ein heller, bläschenförmiger Kern, und in dieſem ein dunkles Kernkörperchen. — 41 — 4. Eizelle eines Kalkſchwammes (Leucon) in vier verſchiedenen, auf einander folgenden Bewegungs-Zuſtänden. — B1— 8. Eizelle eines Schmarotzerkrebſes (Chondracanthus) in acht verſchiedenen, auf einander folgenden Bewegungs— Zuſtänden. — 01—5. Eizellen der Katze in verſchiedenen Bewegungs-Zuſtänden. — D. Junge Eizelle der Forelle. — E. Junge Eizelle des Huhnes. — F. Junge Eizelle des Menſchen. Alle dieſe amoebenähnlichen Eizellen befinden ſich noch in der erſten Jugend: ſpäter nehmen ſie ſehr verſchiedene Beſchaffenheit an. ſam fortkriechend, oft weite Wanderungen dringlinge im Schwammkörper ſchmarotzend durch den Körper des Schwammes und leben ſollten (Fig. J). find daher früher als „paraſitiſche Amoeben“ Es giebt auch Amoeben, welche ihren beſchrieben worden, welche als fremde Ein- nackten Zellenleib theilweiſe mit einer ſchützen— — 108 Haeckel, Das Protiſtenreich. den Schale umgeben, und dieſe bilden die boſen. Bald ſchwitzen dieſe gepanzerten Gruppe der Arcellinen oder Thekolo— Amoeben eine ſchleimige Maſſe aus, welche Fig. 4. Amoebenähn— liche Eizelle eines Kalkſchwammes (Olyn- thus), weite Strecken im Körper des Letzteren fortkriechend. Fig. 5. Difflugia (oblonga), eine gepan— | zerte Amoebe, welche ihre länglich-eiförmige Schale (a) aus feinſten Sandkörnchen zuſam— menklebt. Aus der ein— fachen Mündung des Ge— häuſes (oder der ineru— Fig. 7. Monocystis ſtirten Zellmembran) tritt (agilis), eine ſchmarotzen— der vordere Theil des de Gregarine aus der weichen Zellenleibes (b) Fig. 6. Quadrula (symmetrica). Leibeshöhle des Regen— | mit feinen wechſelnden Eine gepanzerte Amoebe, deren wurmes. Der langge— Lappenfüßchen vor (e). Schale aus quadratiſchen Plättchen ſtreckte, wurmförmig ſich Im hinteren Theile iſt ein zierlich zuſammengeſetzt iſt. Oben bewegende Körper iſt heller kugeliger Kern mit liegt ein kugeliger Zellkern (n) im eine einfache Zelle mit | zahlreichen Kernkörper⸗ Protoplasma, unten treten mehrere feſter Haut (a), Proto- chen ſichtbar (d). Lappenfüßchen vor (). plasma (b) und Kern (e). ſofort erhärtet und mit Sandkörnchen und Bald wird die ganze Maſſe der erhärteten anderen fremden Körpern zu einer feſten Hülle blos von ausgeſchwitzter organiſcher Kruſte zuſammenbackt (Dikllugia, Fig. 5). Subſtanz gebildet, und dieſe zeigt oft eine & =) jehr zierliche Struktur, indem ſie aus ſechs— eckigen oder viereckigen Täfelchen zuſammen— geſetzt erſcheint (Arcella, Quadrula, Fig. 6). Alle dieſe amoebenartigen Weſen, die Haeckel, Das Protiſtenreich. f echten, nackten Amoeben und die gepanzer- ten, zierlichen Arcellinen, können wir als beſondere Klaſſe unter dem Namen Lappinge oder Lappenfüßler (Tobosa) zuſam⸗ menfaſſen, weil der auszeichnende Charakter dieſer einzelligen Urthiere die Bildung lappen- förmiger Wechſelfüßchen iſt. An ſie ſchließen ſich aber ganz eng die ſonderbaren Weſen an, welche die beſondere Gruppe der Gre— garinen bilden. Alle Gregarinen leben als Schmarotzer oder Paraſiten im Innern anderer Thiere und ſind gewiſſen niederen Würmern ſo ähnlich, daß man ſie früher ſelbſt als Eingeweide-Würmer beſchrieben hat; auch ſtimmen die wurmförmigen Be— wegungen ihres kriechenden Körpers ganz mit denjenigen gewiſſer Würmer überein. Trotzdem iſt ihr ganzer, ziemlich großer, oft mehrere Millimeter langer Körper nichts Anberes, als eine einfache Zelle. trübe, mit feinen Körnchen erfüllte Proto- plasma⸗Leib (b) umſchließt einen Zellkern (e) und iſt von einer feſten, homogenen, ſtruktur— loſen Hülle umgeben (a) Fig. 7. Die flüſſige Nahrung ſchwitzt aus den umgebenden Säften des bewohnten Thieres durch dieſe Hülle oder Zellmembran hindurch und dringt ſo in die Gregarine ein. Man kann die Gregarinen als Amoeben betrach— ten, welche in das Innere von anderen Thieren eingedrungen ſind, ſich hier an paraſitiſche Lebensweiſe gewöhnt und durch Anpaſſung mit einer ſchützenden Hülle um— geben haben. Eine ganz andere Bewegungsform, als die langſam kriechenden Amoeben und Gre— garinen zeigen uns die ſchwimmenden Fla— gellaten, die Geißler oder Geißel— Der zen betrachtet. licher Weiſe eine gelbe oder braune Farbe tragen, ſo werden ſie für echte Thiere er- 109 ſchwärmer. Dieſe intereſſanten Protiſten haben bis auf den heutigen Tag unter einem ganz eigenthümlichen Schickſal zu leiden. Wenn ſie nämlich das Glück haben, grün gefärbt zu ſein, werden ſie von vielen Naturforſchern unbedenklich als echte Pflan- Wenn ſie dagegen unglück— klärt; gewiß ein ſchlagendes Beiſpiel von der Willkür der üblichen Claſſificationen. Zahlreiche Formen dieſer Geißler, die auch oft mit dem vieldeutigen Namen der Mo— naden belegt werden, bevölkern das Sü ß— waſſer, wie das Meer, oft in unglaublichen Maſſen. Wenn im Frühjahr zuweilen plötzlich unſere Teiche ſich mit einer grünen Schleimdecke überziehen, ſo beruht das ge— wöhnlich auf der Entſtehung zahlloſer grüner Euglenen. Ebenſo iſt die ſeltener auf— tretende blutrothe Färbung der Gewäſſer, die zur Sage vom Blutregen, ſowie zu vielen abergläubiſchen Vorſtellungen und Hexenproceſſen Veranlaſſung gegeben hat, durch Milliarden rother Euglenen bedingt. Durch verwandte rothe Protococcus-Formen wird auch der rothe Schnee gebildet, der die Eisberge ſowohl in den Polarmeeren, wie auf unſeren Alpenhöhen bisweilen in weiter Ausdehnung blutroth färbt. Dieſe Protococcen und Euglenen ſind Einſiedler-Zellen, während andere Flagel— laten ſich zu kleinen Geſellſchaften zuſam— menthun. Sie ſchwimmen im Waſſer um- her mittelſt eines feinen fadenförmigen Fort- ſatzes, der wie eine Geißel oder Peitſche hin und hergeſchwungen wird (Fig. 8). Manche ſetzen ſich auch feſt auf dünnen Stielen. Außer der Geißel, ihrem Haupt— Bewegungsorgan, beſitzen manche Geißel— ſchwärmer noch einen Kranz von feinen Wimpern mitten um den Zellenleib; dieſe = — | 110 Haeckel, Das heißen Wimpergeißler (Peridinia, Fig. 9). Von letzteren bilden ſich viele eine Kieſelſchale, die aus zwei ungleichen Hälften beſteht; die größere Hälfte trägt zwei lange Hörner, die kleinere ein Horn; ſchwimmen frei umher. Fig. 8. Phacus (longicauda). Ein Geißel— ſchwärmer mit einer langen ſchwingenden Geißel am vorderen, einem fadenförmigen Anhang am hinteren Ende; hinter erſterem ein rother Augenfleck. Fig. 9. Peridinium (tripus). Ein Wimper- geiler, deſſen dreihörnige Kieſelſchale aus zwei Hälften zuſammengeſetzt iſt. zwiſchen beiden Hälften tritt der Wimper— kranz und die Geißel hervor. Durch die Schwingungen der Geißel werden kleine Nahrungskörnchen dem Zellenleibe der Flagellaten zugeführt und an deren Baſis durch eine Art Zellenmund aufgenommen. Ihre Vermehrung geſchieht meiſtens durch einfache Theilung. Bei vielen finden wir Protiſtenreich. abwechſelnd einen frei beweglichen und einen Ruhezuſtand. Während des letzteren kap— ſeln ſie ſich ein und zerfallen innerhalb der Hülle in vier oder acht Zellen. Dieſe treten ſpäter aus der Kapſel aus und Nahe Verwandte dieſer einzelligen Fla— gellaten ſind auch die grünen ſogenannten Kugelthierchen oder Volvocinen (Fig. 10); grüne Gallertkügelchen, welche die Größe eines Stecknadelknopfes erreichen. In jedem Kügelchen ſind zahlreiche grüne einzellige Flagellaten zu einer Geſellſchaft Fig. 10. Ein Kugelthierchen (VoI Vox glo- bator). Die netzförmige Zeichnung an der Oberfläche der Gallertkugel entſteht dadurch, daß die kleinen grünen, in den Knotenpunkten des Netzes befindlichen Geißelzellen ſich durch feine Fortſätze unter einander verbinden. Im Innern der Kugel ſind 6 Tochterkugeln (junge Colonien) ſichtbar. und durch die gemeinſamen Schwingungen ihrer Geißeln wird die ganze Kugel umherbewegt. Im Innern der Gallertkugeln entſtehen neue Tochter— kugeln. Außerdem vermehren ſich die Vol— vocinen auch geſchlechtlich, wie durch Cohn's ſorgfältige Unterſuchungen dargethan wor— den iſt; ihre Befruchtung geſchieht in ähn— licher Weiſe wie bei vielen Algen; ſie ſchließen ſich dadurch ſchon enger an das Pflanzenreich an. Eine ſehr eigenthümliche Protiſtengruppe, die man auch noch zu den Flagellaten vereinigt; rechnet, ſind die großen blaſenförmigen Noktiluken oder Meerleuchten (Fig. 11). Sie bedecken oft die Meeres- oberfläche in unglaublichen Maſſen, ſtrahlen im Dunkeln ein helles Licht aus und ſpielen eine Hauptrolle bei dem wundervollen Phä— nomen des Meerleuchtens. Die gewöhn— lichen Noktiluken ſind coloſſale rundliche Zellen, welche 1. — 1 Millimeter Durch— meſſer erreichen und die Geſtalt einer Pfirſiche beſitzen. Der Hohlraum der blaſenförmigen Zelle iſt mit wäſſeriger Flüſſigkeit erfüllt, in welcher ſich ver— äſtelte Stromfäden (g) des Protoplasma 7 ec ET LIE 7 N EN 2 EN A 0 5: N ES 8 . \ Fig. 11. Haeckel, Das Protiſtenreich. Eine Meerleuchte (Noctiluca miliaris). 111 bewegen, ausgehend von der Wandſchicht des letzteren, welche innen an der Zell— haut anliegt. Der Kern iſt eiförmig (b). An einer Stelle iſt die Zellhaut von einer Oeffnung, einem Zellmund (Cytostoma), durchbrochen und hier wird Nahrung direct in das Innere aufgenommen. Hier befin— det ſich auch neben der zarten Geißel ein großer peitſchenförmiger, quergeſtreifter Anhang (a), ſowie ein zahnförmiger Fortſatz (d). Die Fortpflanzung erfolgt theils durch einfache Theilung, theils durch eine eigenthümliche Form der Spo— renbildung. 110 4 ER, ne 2 e ver RN W U 4. 1. Die ganze Geißelzelle von oben. 2. Im optiſchen Durchſchnitt: a Peitſchenförmiger Anhang, b Kern, e Furche der Oberfläche, d zahnförmiger Fortſatz, daneben die zarte Geißel, e, k größere Protoplasma-Anſammlung um Neuerdings iſt eine Noktiluken-Form entdeckt worden, welche zum Verwechſeln einer kleinen ſchirmförmigen Meduſe ähn— lich iſt, und gleich einer ſolchen ſich durch Zuſammenklappen des zarten concaven Schirmes ſchwimmend bewegt (Leptodis- cus medusoides, ſ. Kosmos II. S. 567). Während über die einzellige Natur der Geißelſchwärmer und Amoeben heutzutage kein Zweifel mehr beſteht, ſo iſt dieſe da— gegen bis vor Kurzem ſtreitig geweſen bei denjenigen Protiſten, die man heute viel— fach als Infuſionsthierchen im engeren Sinne bezeichnet. Dazu gehören den Kern herum, g, g verzweigte Stromfäden des Protoplasma. die beiden Klaſſen der Wimperthierchen oder Ciliaten (Fig. 12 — 15) und der Starrthierchen oder Acineten (Fig. 16, 17). Maſſenhaft bevölkern fie alle ſtehen— den und fließenden Gewäſſer und ſind auch in allen Infuſionen zu finden. Beſonders die Ciliaten, die Wimper— linge oder Wimperthierchen, er— ſcheinen in einer Fülle von niedlichen For— men; und durch die Anmuth ihrer lebhaf— ten Bewegungen feſſeln ſie uns ſtundenlang an das Mikroskop. Nur einzelne Ciltaten ſind ſchon mit bloßem Auge ſichtbar, ſo z. B. das große Trompetenthierchen (Stentor, 3 Sa Fig. 12); die meiſten find erſt durch das Mikroſkop erkennbar. Zahlreiche kurze Wimperhärchen ſind über den Körper zer— ſtreut und werden willkürlich ſchlagend be— wegt. Wie die Geißeln der Flagellaten, jo find auch dieſe Wimpern der Ciliaten e ll N I 152 2 e 0 100 SH, N N NW. 44 A 1 h Wan Fig. 13. dem Stentor ſind zwei kleine, Haeckel, Das Protiſtenreich. Ein Mai⸗ j glockenthierchen Fig. 12. Ein Trompetenthierchen (Vortice lla micro— (Stentor polymorphus). Oben stoma). Der ein— iſt der große, den Mund um- zellige Leib iſt auf gebende Wimperkranz ſichtbar, einem dünnen Stiele links darunter der lange, roſen- befeſtigt, der ſich kork— kranzförmige Kern. Rechts neben zieherartig zuſam⸗ (Freia elegans). menziehen kann. direkte Fortſätze vom Protoplasma des einzelligen Körpers. Die meiſten Wimper- thierchen bewegen ſich frei ſchwimmend oder laufend mittelſt dieſer Wimpern umher. Es giebt aber auch feſtſitzende Ciliaten, wozu die niedlichen Vorticellen (Fig. 13) Der einzellige Körper iſt in eine ovale, auf Waſſer— bewimperte Zellen ſichtbar, die a Wimperkranz um pflanzen (unten) befeſtigte Hülle ein— aus dem Innern deſſelben aus- den Mund; v con- geſchloſſen, aus deren Oeffnung der geſchwärmt ſind, entweder Junge traktile Blaſe; n Zell- Vordertheil der Zelle mit der Mund— oder Paraſiten (Aeineten— Schwärmer). und Freia (Fig. 14) gehören. Bei dieſen Ciliaten dient der durch die Wimpern er— zeugte Strudel dazu, friſches Waſſer und Nahrung der Zelle zuzuführen. Das Protoplasma des Giliatenkörpers iſt in eine feſtere Rindenſchicht (Exo— kern; k. p zwei Knos- öffnung und zwei großen Wimper— pen, die ſich ablöſen. lappen vortritt. plasma) und eine weichere Markſchicht (En- doplasma) geſondert. In der erſteren be— findet ſich eine beſtändige Oeffnung, eine Art Zellenmund (Cytostoma), durch welchen ſowohl feſte Biſſen als Waſſer— tropfen verſchluckt und in die weichere PP—˙⁰U ͤ D W Haeckel, Das Protiſtenreich. Markmaſſe hineingedrückt werden. Bis- weilen iſt dieſe Mundöffnung zu einem beſonderen gefalteten Schlundtrichter erwei—⸗ tert, ſo z. B. bei dem Fiſchreuſenthierchen (Fig. 15 a). In dem weichen Protoplasma des Innern ballt ſich die verſchluckte Nahr— ung in Biſſen (Fig. 15 c), welche allmälig verdaut und aufgelöſt werden; Ehren— beſondere Magenſäcke und benannte des— halb die Ciliaten „Vielmagenthierchen“ (Po- Iygastriea). Unſere magenloſen Wimper— thierchen können alſo eſſen und trinken, obwohl ſie einfache Zellen ſind. Was aber noch mehr überraſcht, das iſt die Munter⸗ keit und offenbare Willkür ihrer Beweg⸗ ungen, der zarte und ſeelenvolle Charakter ihrer Empfindungen. Gerade wegen dieſer Eigenſchaften werden ſie gewöhnlich als Fig. 15. Ein Reuſenthierchen (Prorodon echte Thiere betrachtet. teres). N zan ähnlichem Schlundtrichter). Daß ſie das nicht Blaſe. ſind, geht aus ihrem feineren Bau und ihrer Entwickelung deutlich hervor. Zeit— lebens umſchließt ihr einfacher Zellenleib nur einen einzigen Kern. Bald iſt dieſer Nucleus rundlich (Fig. 15 d), bald wurſtförmig (Fig. 13 u), bald langgeſtreckt, ſtabförmig oder roſenkranzförmig (Fig. 12). Die Ciliaten ſind alſo wirklich einzellig, wie zuerſt der um die Kenntniß der Pro- tiſten hochverdiente Zoologe Siebold dar— gethan hat. Die Vermehrung der Ciliaten geſchieht durch einfache Theilung; und wie bei jeder gewöhnlichen Zellentheilung zer— fällt zuerſt der Kern, und darauf das Kosmos, Band III. Heft 2. a Mundöffnung (mit fiſchreuſen— e Verſchluckte Nahrungsballen. d Zellkern (mit Kernkörperchen). 113 Protoplasma in zwei gleiche Hälften. Aber auch Fortpflanzung durch Knospenbildung iſt bei vielen Ciliaten zu finden, ſo z. B. bei den Vorticellen (Fig. 13). Außerdem ſcheinen ſich viele durch Sporen zu ver— mehren, d. h. durch junge Zellen, welche ſich im Innern der Mutterzelle bilden und wobei der Kern betheiligt iſt (Fig. 12). berg beſchrieb dieſe Nahrungsballen als Das Intereſſanteſte an den Wimper⸗ thierchen, und diejenige Eigenſchaft, durch welche ſie alle anderen Protiſten übertreffen, iſt der hohe Grad von Empfindlich— keit und Willens-Energie, den ſie bei ihren lebhaften Be⸗ wegungen kundgeben. Wer lange und ein- gehend Ciliaten beob— achtet hat, kann nicht zweifeln, daß ſie eine Seele ſo gut wie die die höheren Thiere be— ſitzen. Denn die See— lenthätigkeiten der Empfindung und der willkürlichen Be⸗ wegung üben fie eben- ſo aus, wie die höhe⸗ ren Thiere; und an dieſen Thätigkeiten allein iſt ja die Seele zu erkennen. Da nun der ganze Leib der Ciliaten blos eine einfache Zelle iſt, ſo gewinnen ſie die höchſte Bedeutung für die Theorie von der Zellſeele, für die Annahme, daß jede organiſche Zelle ihre eigene individuelle „Seele“ beſitzt — oder vielmehr, richtiger ausgedrückt: daß Seelenleben eine Thä— tigkeit aller Zellen iſt. An die formenreiche Klaſſe der Wimper⸗ thierchen ſchließt ſich die kleine Gruppe der nahe— verwandten Starrthierchein oder Acineten b Gontractile an (Fig. 16, 17). Im Gegenfage zu erſteren 114 zeigen dieſe letzteren nur ſehr wenig Beweglich— keit; ſie ſitzen meiſtens zeitlebens auf einem Stiele feſt. Statt der Wimperhärchen treten aus ihrem ſtarren, von einer Hülle umſchloſſe— nen Zellkörper zahlreiche feine, oft büſchel— förmig gruppirte Fortſätze hervor (Fig. 16 p). Dies ſind ſehr feine Saugröhrchen, die am Ende mit einem Saugknöpfchen ver— ſehen ſind. Wenn ein ſchwimmendes Wim— perthierchen unvorſichtig in die Nähe einer ſolchen Acinete geräth, wird ſie von den ſteif ausgeſtreckten Saugröhren der letzteren Fig. 16. Eine Aeineta, auf einem kurzen Stiele (unten) befeſtigt. p Saugröhren der Zelle. » Contractile Blaſen im Protoplasma. e eine Spore. n Zellkern. gewährt ebenſo wie diejenige der Ciliaten das höchſte Intereſſe. An dieſen Infuſions— thierchen zeigt uns die organiſche Zelle deut— lich, wie weit ſie es in ihrem idealen Streben nach thieriſcher Vollkommenheit für ſich allein bringen kann. Wir können ſagen: Die Wimperthierchen ſind der gelungenſte Verſuch der einzelnen Zelle, ſich zu einem wirklichen Thiere zu entwickeln. Aber zu einem echten Thie re gehören ja mindeſtens zwei Keimblätter, deren jedes aus zahl— 3 Haeckel, Das Protiſtenreich. feſtgehalten und ausgeſaugt (Fig. 17). Das Protoplasma des gefangenen Ciliaten (a) wandert langſam durch die Saugröhren (k“) in das Innere der Acinete hinein. Daß auch ſie nur eine einfache Zelle iſt, beweiſt ihr Zellkern (n); im Protoplasma find, wie bei den Ciliaten, oft eine oder mehrere „contraktile Blaſen“ oder Vacuolen ſicht— bar, waſſererfüllte kugelige Hohlräume, die ſich langſam zuſammenziehen und wieder ausdehnen (Fig. 16 v, Fig. 17x). Die anhaltende Beobachtung der Acineten Fig. 17. Eine Aeineta, welche mit ihren Saugröhren (t) ein Wimperthierchen (Euche- lys a) ergriffen hat und daſſelbe ausſaugt. x, v Contractile Blaſen. n Zellkern. reichen Zellen zuſammengeſetzt iſt. Alſo können wir doch die Ciliaten und Acineten nicht als wirkliche Thiere gelten laſſen. Unter allen Protiſtenklaſſen die formen— reichſte und in geologiſcher Beziehung die wichtigſte iſt die wunderbare Klaſſe der Wurzelfüßler oder Rhizopoden. Außer mehreren kleineren Gruppen gehören dahin die kalkſchaligen Thalamophoren und die kieſelſchaligen Radiolarien. Beide Ab- theilungen ſind in zahlloſen, höchſt phan— Haeckel, Das Protiſtenreich. taſtiſch geformten Arten in allen Meeren verbreitet. größten Theile kriechend auf dem Grunde des Meeres, beſonders auf Seetang; die Radiolarien hingegen ſchwimmen in dicht— gedrängten Schaaren an der glatten Ober- fläche des Meeres oder ſchweben in ver— ſchiedenen Tiefen des—⸗ ſelben. Die bekannte⸗ ſten und geologiſch wich— tigſten Rhizopoden ſind die Thalamopho— ren, Kammer— linge oder Kammer— thierchen; ausgezeichnet durch eine feſte, mei⸗ ſtens kalkige Schale, in welche ſich dieſe Ur⸗ thierchen, wie die Schnecke in ihr Haus, zurückziehen können. Bald enthält dieſe Kalk⸗ ſchale nur eine einzige Kammer (Einkam⸗ merige, Monotha- lamia, Monostegia); bald mehrere, durch Thüren mit einander verbundene Kammern (Vielkammerige, Polythalamia, Poly- stegia). Solche zierlich geformte, oft einem Schneckenhaus ähnliche Kalkſchalen haben ſich ſeit vielen Millionen Jahren in ungeheuren Maſſen auf dem Mee— resboden angehäuft und an der Gebirgs- bildung unſerer Erde den wichtigſten An— theil genommen. Schon die älteſten, aus dem Meere abgeſetzten Flötzgeſteine, die Die Thalamophoren leben zum Fig. 18. Nummulites (retieulatus). a, b, e in natürlicher Größe; d,. e, f ſchwach vergrößert. Die linſenförmige Scheibe iſt in a vom Rande aus geſehen, in b und e von der Fläche, e und d im Längsſchnitt (Dickenſchnitt). 115 laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen Schichten, enthalten dergleichen Polythala— mien⸗Schalen und find wahrſcheinlich zum großen Theile aus ihnen gebildet. Das älteſte von Allen iſt das berühmte Eozoon canadense aus den unteren laurentiſchen Schichten, deſſen Poly- thalamien-Natur mit Unrecht in Zweifel gezogen wurde. Die mächtigſte Entwickel⸗ ung erreichen dieſe Rhizopoden jedoch erſt viel ſpäter, während der Kreideperiode und der älteren Tertiär⸗ periode. Jedes kleinſte Körnchen unſerer wei⸗ ßen Schreibkreide läßt uns unter dem Mi- kroſkop zahlreiche fol- cher zierlichen Kalk— ſchalen erkennen. Der Grobkalk von Paris, aus dem viele Paläſte dieſer Weltſtadt erbaut ſind, beſteht ebenfalls zum größten Theile aus ſolchen Kammer- ſchalen. Ein Cubifcenti- meter des Kalkes aus den Steinbrüchen von Gentilly enthält un— gefähr 20,000, ein Cubikmeter demnach ge— gen 20 Mill. Schalen. Die größten Polytha- lamien aber lebten während der älteſten Tertiärzeit, während der Eocän-Periode. Unter ihnen find die Rieſen des Protiften- Reiches, die gigantiſchen Num muliten (Fig. 18), deren ſcheibenförmige Kalkſchalen 116 Der von ihnen erzeugte Nummuliten Kalk, aus dem unter Anderem die egyptiſchen Pyramiden gebaut ſind, bildet die unge— heuren Gebirgsmaſſen des Nummuliten— Syſtems. Dies iſt eins der gewaltigſten Gebirgsſyſteme unſerer Erde, das von Spanien und Marokko bis nach Indien und China hinüberreicht, und an der Bild— ung der Pyrenäen und Alpen, des Liba— non und Kaukaſus, des Altai und Himalaya den bedeutendſten Antheil nimmt. Fig. 19. Gromia (oviformis). von einer biegſamen Schale eingeſchloſſen. fließendes Protoplasma heraus, Haeckel, Das Protiſtenreich. die Größe eines Zweithalerſtückes erreichen. In welchen ungeheuren Maſſen die Po— lythalamien auch gegenwärtig noch unſere Meere bevölkern, geht daraus hervor, daß z. B. der Sand der Mittelmeerküſte an vielen Stellen zur größeren Hälfte aus den Scha— len lebender Polythalamien-Arten beſteht. Schon einer ihrer erſten Beobachter, Bianchi, zählte im Jahre 1739 in einem einzigen Eßlöffel Seeſand von Rimini 6000 Individuen; und derjenige Natur- forſcher, dem wir die genaueſten Unterſuch— ungen über ihre Naturgeſchichte verdanken, Die Hauptmaſſe des eiförmigen einzelligen Körpers iſt Durch die Oeffnung derſelben tritt (unten) welches die ganze Schale umhüllt und von dem nach allen Richtungen bewegliche Fäden ausſtrahlen. der berühmte Anatom Max Schultze, berechnete ihre Menge in einem Eßlöffel Seeſand von Gaeta auf mehr als Hun— derttauſend. Der weiche lebendige Körper der Kam— merthierchen, welcher dieſe wunderbaren Schalen- und Panzer-Bildungen erzeugt, iſt ſtets von höchſt einfacher Bildung: ein Stück formloſes Protoplasma, das zahl— reiche Zellenkerne einſchließt. Von der Ober- 2 des weichen Protoplasma-Leibes ftrah- len hunderte, oft tauſende von äußerſt feinen Fäden aus. Dieſe Schleimfädchen, die den Namen Scheinfüßchen oder Pſeudo— podien führen, ſind ſehr empfindlich und beweglich. Sie können ſich veräſteln, mit einander verſchmelzen, Netze bilden und wie— der in die gemeinſame Centralmaſſe des Körpers zurückgezogen werden. Durch die Zuſammenziehungen dieſer Fäden bewirken die Wurzelfüßler ihre kriechende oder ſchwim— mende Ortsbewegung. Wenn ein anderes Protift, z. B. ein Wimperthierchen oder eine Bacillarie, in den Bereich dieſer Fäden gelangt, ſo wird es von ihnen erfaßt, um— ſchlungen und in das Innere des Proto— plasmakörpers hineingezogen, wo es einer höchſt einfachen Verdauung unterliegt. Wie bei den Amoeben kann jede Stelle der Körperoberfläche dergeſtalt die Aufgabe eines Mundes und Magens übernehmen. Auch die Vermehrung der Wurzelfüßler iſt höchſt einfach. Der weiche Protoplasma-Leib des Kammerthierchens zerfällt in zahlreiche kleine Fig. 20. Polystomella (venusta), ein Polhthalam, deſſen Kammern in einer Haeckel, Das Protiſtenreich. Stückchen. Jedes Stückchen erhält einen Zellkern, bildet alſo eine echte Zelle, und dieſe nackte Zelle ſchwitzt alsbald wieder eine Kalkſchale aus. Die vielgeſtaltige Schale des Acyttarien— Körpers beſteht meiſtens aus kohlenſaurem Kalk, ſeltener aus einer erhärteten organi— ſchen Subſtanz, die mit Sandkörnchen u. dergl. verkittet iſt. Bald beſitzt die Schale nur eine größere Mündung, iſt aber übri- gens undurchlöchert (Imperforata); bald iſt die Schale überall von ſehr zahlreichen . 21. Alveolina (Quoyi). Mehrere Reihen Spirale aufgerollt find, ganz Eur tie bei Nautilus. Aus den feinen Löchern der Schale treten überall bewegliche faden- förmige Scheinfüßchen hervor. En Kammern laufen in einer Spirale neben ein- ander hin. Die durchſchnittenen Wände der Kammern ſind weiß gezeichnet; die Verbindungs— öffnungen mit den darüber liegenden ſchwarz. kleinen Löchern durchbrochen (Foraminifera). Mit Bezug auf die Schalenform unter— ſcheidet man bei den zwei Hauptgruppen: Einkammerige und Vielkammerige. Die Einkammerigen (Monothalamia) ſind verhältmäßig wenig formenreich. Einer ihrer bekannteſten, häufigſten und größten Vertreter iſt die Gromia (Fig. 19). Sie beſitzt eine eiförmige Schale, mit dun— kelbraunem Protoplasma erfüllt, und erreicht die Größe eines Stecknadelknopfes. Die Netze der Scheinfüßchen, welche davon aus- ſtrahlen, kann man ſchon mit bloßem Auge deutlich erkennen. Die Vielkammerigen (Polythala- mia) bilden die Hauptmaſſe der Acyttarien. Die einzelnen Kammern, welche ihre Schale zuſammenſetzen, ſind durch unvollſtändige Scheidewände getrennt, oft ſehr zahlreich. Meiſtens ſind dieſelben mehr oder weniger in Spiralen geordnet. So entſtehen Ge— häuſe, welche die größte Aehnlichkeit mit denjenigen gewiſſer Mollusken, namentlich Cephalopoden, beſitzen (Fig. 20). Daher 118 Haeckel, Das Protiſtenreich. * wurden dieſe Rhizopoden von ihren erſten | Erſt vor 40 Jahren lernte man, zuerſt Entdeckern wirklich für echte, mikroſkopiſche durch Dujardin, ihre wahre Natur Cephalopoden gehalten und auch ſpäter noch kennen, und überzeugte ſich, daß ganz ähn— ihre Organiſation als ſolche beſchrieben. lich geformte Schalen das eine Mal von Sy N N 8 N N N l S NN je MAD © ( Fig. 22. Cyeloelypeus, ein colofjales Polythalam von 3 Centimeter Durchmeſſer, in großen Tiefen des Sunda-Meeres lebend. Man ſieht die eine Hälfte der in der Mitte durchſchnittenen Schale, von der links noch ein Stück der oberen Schicht abgeſchnitten iſt, um in die Kammern hineinzublicken. Fig. 23. Parkeria, ein coloſſales Polythalam von 3 Centimeter Durchmeſſer. Man ſieht blos ein Stück der eiförmigen Schale, ſo durchſchnitten, daß man nach allen Richtungen hin die Zuſammenſetzung des Gehäuſes aus zahlloſen kleinen Kammern erkennen kann. einem höchſt vollkommen organiſirten Weich- häuſe hin, indem innerhalb der Kammern thiere (Nautilus), das andere Mal von ſich wieder parallele Scheidewände bilden einem höchſt einfach gebauten Wurzelfüßler (Fig. 21). Bei den großen Orbituliten (Polystomella) gebildet werden. und Nummuliten liegen ſolche Kammer— Bei manchen Polythalamien laufen reihen ſogar in mehreren Stockwerken über— mehrere Spiralen neben einander im Ge- einander. Die Kammerreihen ſind hier Haeckel, Das Protiſtenreich. 119 bald in zuſammenhängenden Spirallinien, dem gigantiſchen Cyeloelypeus (Fig. 22). wie bei den Nummuliten (Fig. 18) geovd- | Die Gehäuſe dieſer letzteren ſind runde net, bald in concentriſchen Ringen, wie bei Scheiben, welche ſich am beſten mit einem / 9 6% I in Me MI NN U N \ A || X A N 1 N 1 | \ 0 \ Fig. 24. Hastingerina Murrayi. Ein Polythalam, deſſen Kalkſchale überall mit haarfeinen, ſehr langen Kalkſtacheln bewaffnet iſt. Palaſte vergleichen laſſen, deſſen Umfaſſungs⸗ Mehrere Stockwerke liegen übereinander, mauern nach dem Plane eines römiſchen in jedem eine centrale Hauptkammer, um⸗ Amphitheaters gebaut find. geben von vielen ringförmigen Corridoren, 120 und jeder Corridor durch viele Scheide— wände in Kammern getheilt; alle dieſe zahl— reichen Stockwerke, Corridore und Kammern ſtehen durch Thüren mit einander in Ver— bindung und kleine Fenſter in der äußeren Schalenfläche vermitteln die Verbindung Fig. 25. Helios phaera (inermis). Haeckel, Das Protiſtenreich. mit der Außenwelt, indem ſie die feinen Schwimmfüßchen durchtreten laſſen. Zu den größten und am meiſten zu— ſammengeſetzten Polythalamien gehören die Parkerien, deren Gehäuſe größtentheils aus Sandkörnchen zuſammengeſetzt ſind (Fig. 23). Ein Radiolar, deſſen kugelige Gitterſchale aus ſechs— eckigen Maſchen zuſammengeſetzt iſt. Im Innern ſchwebt eine kugelige Centralkapſel, welche einen dunkeln Kern einſchließt, umgeben von kleinen gelben Zellen. Zahlreiche fadenförmige Scheinfüßchen ſtrahlen allenthalben aus, halten ſich an der Gitterſchale feſt und treten durch deren Löcher aus. Während die große Mehrzahl der Tha— lamophoren auf dem Meeresboden kriechend lebt, giebt es auch einige Arten, die an der Oberfläche des Meeres ſchwimmen, und zwar oft in großen Maſſen, mit Radio— larien gemiſcht. Dahin gehören auch die merkwürdigen Pulvinulinen, Globigerinen und Haſtigerinen, letztere durch ihre ſehr langen borſtenförmigen Kalkſtacheln ausge— zeichnet (Fig. 24). Wenn ſchon bei dieſen merkwürdigen Polythalamien die formbildende Kunſt des formloſen Protoplasma unſere höchſte Be— wunderung erregt, ſo wird dieſelbe noch Haeckel, Das Protiſtenreich. geſteigert, wenn wir die nahe verwandten Radiolarien, die „Gitterthiere“ oder Strahlinge, betrachten. Bei dieſen höchſt intereſſanten Wurzelfüßlern treffen wir die größte Mannigfaltigkeit von zierlichen und ſonderbaren Formen an, die überhaupt in der organiſchen Welt zu finden iſt. Ja, alle möglichen Grundformen, welche man nur in einem promorphologiſchen Syſteme aufftellen kann, finden ſich hier wirklich ver- körpert vor. Das Material aber, aus welchem das formloſe Pro⸗ toplasma hier die unendlich mannigfaltigen Skelettheile bil— det, iſt nicht Kalkerde, wie bei den Poly⸗ thalamien, ſon⸗ dern Kieſelerde. Der weiche lebendige Leib der Radiolarien iſt übrigens etwas höher 121 zu Radiolarien entwickeln, verwendet wird, ſo kann man die Centralkapſel auch als Sporenbehälter (Sporangium) der Ra⸗ diolarien betrachten. Sie iſt umſchloſſen von einer Schicht Protoplasma, von welchem nach allen Richt⸗ ungen zahlloſe, äußerſt feine Scheinfüßchen ausſtrahlen. Dieſe verhalten ſich im Uebri— gen ebenſo wie bei den Polythalamien. Gewöhnlich finden ſich im Protoplasma der Radiolarien außerhalb der Centralkapſel noch zahlreiche gelbe Zellen von unbekannter Be⸗ deutung; ſie ent⸗ halten Stärke⸗ mehl. Außerdem bilden ſich bei einigen Radio⸗ larien rings um die Central⸗ kapſel große helle Waſſerbla⸗ fen aus (Va⸗ cuolen), welche von einer ſehr organiſirt, als Fig. 26. Thalassicolla (pelagica). Ein großes nacktes dünnen Gallerte derjenige der Radiolar (ohne Schale). Die innere kugelige Centralkapſel umſchloſſen ſind, . iſt von einem Mantel großer Waſſerblaſen umgeben. An 5 ; Polythalamien. der Oberfläche ftahlen tauſende von feinen Schleimfäden aus. Tonamentlic) bei Denn im Innern des formloſen weichen Protoplasmakörpers findet ſich hier eine beſondere Kapſel, welche von einer feſten Membran umſchloſſen iſt, die Centralkapſel (Fig. 25). In dieſer bilden ſich Maſſen von kleinen Zellen, welche eine bewegliche Geißel er— halten, ſpäter die Kapſel durchbrechen und ausſchwärmen. Da der ganze Inhalt der Centralkapſel zur Bildung dieſer Keime, welche gleich Flagellaten umherſchwimmen und ſich dann Kosmos, Band III. Heft 2. den erbſengro⸗ ßen Thalaſſicollen (Fig. 26). Es giebt auch zuſammengeſetzte Radiolarien (Polycytta⸗ ren). Dieſe bilden größere Gallertklumpen von cylindriſcher oder kugeliger Form, von 1 bis 3 Centimeter Durchmeſſer. Die Gal- lerte beſteht größtentheils aus ſolchen Waffer- blaſen, und in der Oberfläche ſind ältere, im Innern dagegen jüngere Centralfapfeln vertheilt (Fig. 27). Jede der letzteren iſt oft von einer gegitterten Kieſelſchale umſchloſſen (Fig. 28). 16 122 Bei ſehr vielen Radiolarien iſt die Kieſelſchale eine Gitterkugel (Fig. 25, 28, 29, 31); oft gehen lange, regelmäßig ver— Fig. 27. Collosphaera (Huxleyi). Haeckel, Das Protiſtenreich. N) Oo % 2 m! theilte Stacheln davon ab (Fig. 29). Bei den Ommatiden (Fig. 30, 31) finden wir mehrere ſolcher Gitterkugeln concentriſch in Ein zuſammengeſetztes Radiolar mit vielen Central- kapſeln; die inneren kleineren ohne, die äußeren größeren mit Kieſelſchale. Zwiſchen den ausſtrahlenden Fäden ſind zahlreiche kleine gelbe Zellen zerſtreut. Im Centrum der Colonie iſt eine große Waſſerblaſe ſichtbar, umgeben von einem Protoplasma Netz. einander geſchachtelt und den, radiale Stäbe verbun⸗ durch ganz ähnlich dem be— kannten zierlichen Spielzeug, das die Chineſen aus Elfen— bein anfertigen. Es giebt ſolche Gitter— kugeln, die aus zwanzig im Centrum in einander ge— ſtemmten Stacheln zuſam⸗ mengeſetzt ſind; veräſtelte Querfortſätze der Stacheln, Fig. 28. Eine einzelne Kiejel- ſchale (ſtachelige Gitterkugel) von Collosphaera (spinosa). verwandt find die merk— würdigen Acanthome— tren (Fig. 33), ebenfalls mit 20 Stacheln, die nach einem beſtimmten mathe— matiſchen Geſetze regelmäßig vertheilt ſind. Bei noch andern Radio— larien iſt die centrale Gitter- kugel von einem lockeren Kieſel-Schwammwerke um⸗ hüllt und mächtige drei— die in gleichem Abſtande vom Centrum | kantige Stacheln mit ſpiralig gedrehten Kan— abgehen, ſetzen die Gitterſchale zuſammen (Dorataspis, Fig. 32). Den letzteren nahe Fig. 34). ten ragen daraus hervor (Spongosphaera, 1 ˙¹wm.] ⁰¹ʃEußLLʃ ̃6.Üiůu % LX! ⅛ vb] p/¾ö²ʃũl: . ˙L——Uꝛ.! . ⅛ ůͤ¹—nnn 2 Haeckel, Das Protiſtenreich. Fig. 29. Heliosphaera (actinota). Von der Gitterkugel ſtrahlen zwiſchen den Pfeudo- podien zahlreiche Kieſelſtacheln aus; im Innern der Schale die Centralkapſel. Fig. 30. Actinomma (asteracanthion). Die Fig. 32. Doratas pis (bipennis). Die Kieſelſchale, drei concentriſche Gitterkugeln, durch Kieſelſchale wird durch die gabelförmigen ſechs radiale Stäbe verbunden, deren äußere Querfortſätze von zwanzig regelmäßig Enden ſtarke dreikantige Stacheln bilden, da— vertheilten Stacheln zuſammengeſetzt. zwiſchen ſtehen zahlreiche, ſehr feine borſten— förmige Kieſelſtacheln. 124 Haeckel, Das Protiſtenreich. Fig. 31. Haliomma (Wyvillei). Die Kieſelſchale beſteht aus zwei concentriſchen Gitterkugeln, die durch zahlreiche radiale Stacheln verbunden ſind. Zwiſchen beiden Schalen findet ſich die Membran der Centralkapſel, ſo daß die eine innerhalb, die andere außerhalb der letzteren liegt. —— Fig. 33. Xiphacantha (Murrayana). Eine Acanthometra, deren 20 Stacheln kreuz— förmige Querfortſätze tragen. Die Stacheln bilden 5 parallele Zonen von je 4 Stacheln, die gleichweit von einander abſtehen. EEE ˙˙% ² l.: dg Üü¹H̃ n ̃ wq!½ͤ̃ !dz....—˙ Ä ¼½d̃ ! . ²ẽůùu.! ß ßſeõe%E ͤ˖( ¼ ͤ¹ìu¹iunn.“;:il m T ¼—ͥẽflL« ü w Haeckel, Das Protiſtenreich. Eine andere, äußerſt formenreiche Gruppe von Radiolarien, die Cyrtiden oder Helm⸗Radiolarien, bilden Kieſelſchalen von der Form eines Helmes (Fig. 35), einer Haube oder eines Körbchens, mit ſiebförmig durchlöcherter Wand Podocyrtis, Fig. 36). Noch Andere gleichen einem Ordensſtern (Astromma, Fig. 37), einer Sanduhr 125 (Diploconus, Fig. 38), einem dreiſeitigen Prisma (Prismatium, Fig. 39) u. ſ. w. In der großen Abtheilung der Acan— thometren wird das Skelet ſtets aus zwanzig Kieſelſtacheln gebildet, welche im Centrum in einander geſtemmt und nach einem ſehr merkwürdigen mathematiſchen Geſetze vertheilt ſind; dies entdeckte zuerſt Fig. 34. Spongospha era (streptacantha). Neun dreikantige Stacheln ragen aus der kugeligen Centralkapſel hervor, welche von kieſeligem Schwammgeflecht umhüllt iſt und eine centrale Fig. 35. Dictyophimus (Chal- lengeri). Helmförmige Gitterſchale mit drei Füßchen und Gipfelſtachel. Gitterſchale einſchließt. der große Johannes Müller, dem wir überhaupt die erſten genaueren Kennt⸗ niſſe der Radiolarien verdanken. Welche Bedeutung dieſe höchſt mannig— faltigen, zierlichen und ſeltſamen Formen beſitzen; wie das formloſe Protoplasma der Radiolarien dazu kommt, ſie zu bilden, — davon haben wir heute noch keine Ahnung. Neben den Thalamophoren und Ra— diolarien wird noch eine große Anzahl von anderen Protiſten zur Klaſſe der Wurzel— füßler gerechnet. Viele davon leben auch im ſüßen Waſſer. Eines der häufigſten iſt das niedliche ſogenannte „Sonnen— thierchen“, welches vor nun hundert Jah— ren (1776) vom Paſtor Eichhorn in Danzig entdeckt und als „lebendiger Stern“ beſchrieben wurde (Actinosphaerium Eich- hornii, Fig. 40). Haeckel, Das Protiſtenreich. h Fig. 36. Podocyrtis (Schomburgki). Fig. 37. Astro Die helmförmige Gitterſchale ſteht auf drei Die ſchwammige Kieſelſchale hat die Form Füßchen und trägt auf dem Gipfel einen eines Ordenskreuzes. Stachel; das Gitterwerk der drei Abtheilungen iſt ſehr verſchieden. N NN) GH A, fi 2 N , , Fig. 39. Acanthodesmia (prismatium). Neun Kieſelſtäbe ſind ſo verbunden, daß ſie die Kanten eines dreiſeitigen Prisma bilden. ein ſtarker, an Im Centrum ſchwebt eine kugelige Central— Stab ſteht. kapſel, von gelben Zellen umgeben. — „» rn a u me Haeckel, Das Protiſtenreich. Es iſt ein weißes, mit bloßem Auge den. deutlich ſichtbares, weiches Schleimkügelchen, von der Größe eines kleinen Stecknadel— knopfes, oft in Menge auf dem ſchlammi— gen Boden unſerer Teiche und Gräben zu finden. In der Mittel des ſchleimigen und blaſigen Protoplasma-Kügelchens liegen mehrere Zellkerne. Von der Oberfläche ſtrahlen zahlreiche empfindliche und beweg— liche Fäden oder Pſeudopodien aus. Durch dieſe wird, wie bei den übrigen Wurzel- füßlern, die Nahrung aufgenommen. Die Vermehrung iſt erſt kürzlich entdeckt wor⸗ Fig. 40. Das vielzellige große Sonnenthier— chen (Actinosphaerium Eichhornii). Die innere dunkle Markmaſſe (e) enthält viele Zellkerne und einige Nahrungsbiſſen (d). Von der hellen, ſchaumigen Rindenſchicht (b), welche eben einen neuen Nahrungsbiſſen (a) aufnimmt, hc Scheinfüßchen. e) aus. Während das große Sonnenthierchen oder Strahlenkügelchen (Actinosphaerium) einen nackten Rhizopoden darſtellt, der viele Zellkerne enthält, alſo aus vielen ver⸗ einigten Zellen zuſammengeſetzt iſt, zeigt uns dagegen ein anderer, ſehr häufiger Süß— waſſerbewohner, das kleine Sonnen— thierchen (Actinophrys sol) den Orga- 127 Das Sonnenthierchen zieht dabei ſeine Fäden ein, umgiebt ſeinen kugeligen Körper mit einer Gallerthülle und zerfällt in viele einzelne Kugeln. Jede von dieſen enthält einen Kern und ſchwitzt eine Kieſelhülle aus, und jede dieſer kieſelſchaligen Zellen wird ſpäter zu einem neuen Sonnenthierchen. Man kann dieſelben aber auch künſtlich vermehren. Man kann ſie in mehrere Stücke zerſchneiden und aus jedem Stück— chen wird alsbald wieder ein ſelbſtändiges Weſen. Daſſelbe gilt auch von vielen an— dern Protiſten. Fig. 41. Das einzellige kleine Sonnenthierchen (Actino- phrys sol). Im Innern der ſtrahlenden Brotoplasma- Kugel liegt nur ein Zellkern (n). Eine contraktile Blaſe tritt an der Oberfläche des Protoplasma vor (“). nismus der Wurzelfüßler in ſeiner aller— einfachſten Geſtalt (Fig. 41), nämlich als eine nackte einfache Zelle mit einem einzigen Kern; von der Oberfläche deſſelben ſtrahlen viele feine Fäden aus, und indem das Proto- plasma an gewiſſen Stellen Waſſer aufnimmt und wieder abgiebt, bildet es „contractile Blaſen oder Vacuolen.“ (Schluß folgt.) Zur Phyſiologie Neugeborener. Von W. Preyer. I 3. Vom Geruchſinn Neugeborener. | a die Anfüllung der Nafen- sc 8 DR höhle mit einer ſtark riechen— den Flüſſigkeit nicht nur keine Geruchsempfindung, ſondern s für einige Zeit ſogar eine erhebliche Verminderung der Empfindlichkeit für Gerüche zur Folge hat, kann es nicht zweifelhaft ſein, daß vor der Geburt das Säugethier durch keinen objektiven Geruchs— reiz eine Geruchsempfindung erfährt. Denn beim Fötus, der rings von Fruchtwaſſer um— geben iſt, enthält bis zur Geburt die Naſen— höhle keine Luft. Die Grundbedingung für das Zuſtandekommen einer Geruchsempfind— ung durch äußere Reizung, das Einathmen gaſiger Stoffe, fehlt gänzlich. Dagegen iſt die Möglichkeit der Erregung durch innere Reize vorhanden. Der Blutſtrom und die Gewebeſpannung können theils peripher, theils central vor der Geburt ſubjective Gerüche veranlaſſen. Da jedoch derlei Empfindungen noch ſehr wenig unterſucht find, fo iſt einſtweilen nur ihre intra-uterine Möglichkeit feſtgeſtellt. Die Geruchshallu— cinationen bei Erwachſenen, z. B. nach Ge- nuß von ſantonſaurem Natron, die ich ſelbſt erlebte,“) beweiſen, daß durch Einführ— ung kleiner Mengen gewiſſer geruchloſer Stoffe in das Blut eine ſehr ſtarke Er— regung der nervöſen Riechſinnorgane her— beigeführt werden kann. Sonſt ſind ſubjektive Geruchswahrnehmungen durch inadäquate Reizung bei Geſunden ſo ſelten beobachtet, daß man vorläufig von Experimenten bei Neu— geborenen nach dieſer Richtung abſehen muß. Das Neugeborene ſehr ſtark riechende Subſtanzen wohl bemerken, habe ich an 6 Meerſchweinchen, von denen keins älter war als 17 Stunden, ſicher ermittelt. Denn wenn ich übelriechende Stoffe, wie Stink— aſant, in nicht zu kleiner Menge auf den Boden einer horizontalen Glasflaſche brachte, in die das Beobachtungsthier hineinkroch, ſo wurde mit den Vorderfüßen wiederholt die Naſe gewiſcht und gerieben. Ferner ) Archiv für die geſammte Phyſiologie Bonn 1868 des Menſchen und der Thiere. 1. Bd. S. 305. Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. wendeten ſich die Thierchen, nachdem einige Secunden ſehr concentrirte Propionſäure oder Carbolſäure oder Ammoniakwaſſer ihnen vorgehalten worden war, mit einer ſchnellen Kopfbewegung ab. Häufig aber machten ſie hierbei eine ſtärkere Exſpirationsbeweg— ung mit einem eigenen Geräuſch, die ſich wohl nur als ein Nieſen auffaſſen läßt. Den jungen Meerſchweinchen ſcheint dagegen der Geruch des Kamphers nicht unangenehm zu ſein. Denn ſie verweilen lange in einer mit Kampherſtücken halb angefüllten Flaſche, ohne jene abwehrenden Bewegungen auszu— führen. Daſſelbe gilt für Benzod- Harz. Freilich kommt hier die ſchnelle Abſtumpf— ung Neugeborener gegen Gerüche in Be— tracht. Ich prüfte noch eine lange Reihe von anderen riechenden Subſtanzen in dieſer Weiſe, beſonders Thymol, Alkohol, Aether, Chloroform, Blauſäure, Nicotin. Gegen dieſe Riechmittel verhielten ſich aber die Meerſchweinchen am erſten Tage nicht fo decidirt wie gegen die erſterwähnten, wahr— ſcheinlich weil die Verdünnung der Luft zu groß war. Soviel iſt ſicher, daß es falſch iſt, zu behaupten, Neugeborene ver— möchten am erſten Tage noch nicht mittelſt der Naſe angenehme und unangenehme Gerüche zu unterſcheiden. Die Eindrücke müſſen nur ſehr ſtark ſein. Wer geſehen hat, wie ein einen halben Tag altes Meer— ſchweinchen fi einerſeits gegen Asa foe- | tida, andererſeits gegen Kampher verhält, wird nicht zweifeln, daß jenes ihm Un- luſt verurſacht. Tabakrauch, den ich zwei mehr als 12 Stunden, aber noch nicht einen Tag alte, große Meerſchweinchen ein— athmen ließ, bewirkte Augenzwinkern und Zurückziehen des Kopfes. Man iſt nun nicht berechtigt anzu— nehmen, daß eben geborene Säugethiere jene Stoffe mittelſt ihrer Riechnerven per— 129 cipiren, denn das Nieſen, das Wiſchen der Naſe mit den Vorderfüßen, die Abwendung oder Zurückziehung des Kopfes von ſtark riechenden Stoffen einerſeits, die auffallende Gleichgültigkeit gegen weniger intenfive, aber immer noch deutlich riechende Stoffe andererſeits, ſprechen dafür, daß es ſich bei den Experimenten an Eintägigen mehr um Reizung der Naſalzweige des Nervus trigeminus, d. h. der Gefühlsnerven der Naſe, handelt, als des Nervus olfactorius, welcher allein die Geruchsempfindungen vermittelt. Durch andere Thatſachen iſt aber be— wieſen, daß Hunde, Kaninchen und Katzen ſchon in den erſten Lebenstagen riechen können. Es ſind folgende. Biffi durchſchnitt ganz jungen, noch blinden Hündchen die Lobi olfactorii. Die Verwundung wurde gut ertragen und das Lecken der Mutter beförderte die Heil— ung. So operirte Thiere konnten nun, ſo lange ſie blind waren, die Zitzen der Mutter nicht mehr finden. Sie krochen am Bauche derſelben hin und her, indem fie überall zu ſaugen verſuchten — ten- tando qua e la col muso gli oggetti. Meiſt mußte man ihnen den Mund öffnen und die Zitze hineinſtecken. Geſunde blinde Hündchen dagegen finden die Zitzen ſogleich, als wenn ſie dieſelben ſähen. Hiernach iſt kaum zu bezweifeln, daß beim Aufſuchen der Zitzen der Geruch die Jungen leitet, denn taſten konnten die Operirten nach wie vor). Man wird alſo ſchließen dürfen, daß der Nervus olfactorius auch bei eben geborenen Säugethieren erregbar iſt und darum auch bei den obigen Beobacht— ungen mitwirkte. Der Schluß wird durch Gudden beſtätigt. Dieſer Forſcher hat ) Mitgetheilt in Schiff's Lehrbuch der Muskel- und Nervenphyſiologie, Lahr 1858. S. 373. Kosmos, Band III. Heft 2. 17 130 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. blinden, ein bis zwei Tage alten Kaninchen den Riechnerv durchſchnitten ), oder die Naſenöffnung verſchloſſen oder die centralen Theile des Riechſinnorgans exſtirpirt, aber ſeine Aufmerkſamkeit mehr den dadurch herbeigeführten anatomiſchen Aenderungen, als den Störungen der Funktion zuge— wendet. Er conſtatirte nach Verſchließung einer Naſenöffnung oder Entfernen einer Hemiſphäre eine geringere Entwickelung des Riechnerven, des Bulbus olfactorius und des Tractus olfactorius derſelben Seite, als nach 6—8 Wochen das Thier getödtet wurde. Bei Fortnahme des einen Bulbus olfaetorius verſchwindet der Trac- tus olf. faſt ganz. Nach Entfernung beider Bulbi olf., wobei die Verwundung relativ unbedeutend war, gingen die Thierchen, des Geruchſinnes gänzlich beraubt, in Folge mangelhafter Ernährung bald zu Grunde, indem fie ſich „an der Alten und ihren Zitzen, trotz der Erhaltung der Nachhilfe von Seiten der Nexvi trigemini nicht mehr gut zurechtfanden“. Alſo wie bei einfacher Durchſchneidung beider Riechnerven. Wur— den dagegen die Riechorgane intakt gelaſſen und den Neugeborenen beide Augen fort— genommen, ſowie beide Ohren verſchloſſen, ſo entwickelte ſich der Geruchsſinn in ſehr hohem Grade, indem ſich die Bulbi olfae— torii über das gewöhnliche Maß anatomiſch nachweisbar vergrößerten; ähnlich wie die Ohrmuſcheln eines Kaninchens, dem beide Augen nach der Geburt fortgenommen worden waren, eine ſtarke Entwickelung erhielten und das Gehör ſich über die Norm verfeinerte. Aus dieſen Verſuchen ergiebt ſich die Ab— hängigkeit der Organentwickelung von äußerer Reizung, insbeſondere aber, daß Kaninchen ſchon ſehr bald nach der Geburt riechen 9) Archiv für Pſychiatrie 2. Bd. S. 693. können, und von dieſem Vermögen aus— giebigen Gebrauch beim Aufſuchen der Zitze machen. Sonſt wäre es unverſtändlich, wie ſie nach Zerſtörung allein der Riechnerven die Zitze nicht mehr finden und verhungern. Ferner hat Spalding (1875) be- obachtet, daß 4 noch blinde dreitägige Kätz— chen als er ſeine Hand, die ſoeben einen Hund geſtreichelt hatte, ihnen nahe brachte, in ergötzlichſter Weiſe zu fauchen und zu ſpeien begannen. Er ſchließt daraus mit Recht, daß die Katze, noch ehe ſie ihn ſehen kann, Schon den Erbfeind verabſcheut. Hier iſt der Schluß, daß nach drei Tagen die Katze einen entwickelten Geruchſinn beſitzt, anzumerken. Das menſchliche Neugeborene verhält ſich anders als die Thiere. Kußmaul hat ermittelt, daß ſtark riechende Subſtanzen von ſchlafenden Neugeborenen (auch einen Monat vor dem phyſiologiſchen Termin geborenen) unangenehm empfunden werden. Denn er ſah dieſelben, wenn er die Düfte der Asa foetida oder des Dippel'ſchen Oeles ihnen in die Naſe ſteigen ließ, häufig die Augenlider feſter zuſammenkneifen, das Geſicht verziehen, unruhig werden, Kopf und Arme bewegen, erwachen und nach Ent— fernung des Riechmittels wieder einſchlafen. Genzmer bemerkte, daß gut entwickelte, lebhafte Kinder durch ſtarke Geruchsein— drücke zum Schreien gebracht werden. Er verwendete die ſehr übelriechende Aqua foetida antihysterica, welche mit einem Pinſel auf den oberen Rand der Oberlippe wachenden wie ſchlafenden Kindern geſtrichen wurde. Wie viele Stunden oder Tage ſie alt waren, iſt leider nicht angegeben. Die Säuglinge machten, wenn wenig Flüſſigkeit aufgetragen war, Saugbewegungen, wenn mehr, Würgbewegungen; auch wurden die Augen zugekniffen und das Geſicht ver— r ²˙¹A⁰ò̃²˙¹- /t!̃̃ a ͤGyA ß—— 8 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. 131 zogen. Bei dieſen Beobachtungen iſt die Empfindung des Naſſen überſehen worden, und beide Forſcher haben nicht bedacht, daß durch ihre Verſuche keineswegs die Exiſtenz eigentlicher Riechempfindungen beim Neu— geborenen erwieſen iſt. Vielmehr ſpricht der Mangel an entſcheidenden Ergebniſſen des erſteren, ſowie er wachende Säuglinge vornahm, und der Umſtand, daß über— haupt nur ſehr ſtarke Reizmittel verwendet und wirkſam gefunden wurden, auch hier, für eine Erregung des N. trigeminus. g Der Beweis für das Riechvermögen würde erbracht ſein, wenn eine Mutter oder Amme ſich entſchlöſſe, die Warze, an welcher der Säugling bereits einmal geſogen, mit einer riechenden Subſtanz, die nicht ſchmeckt, zu beſtreichen, z. B. Kampher, oder wenn man flüchtige Subſtanzen wie Petrolenm, Weingeiſt, Kölniſches Waſſer, in ſehr kleiner Menge außen an die Saugflaſche oder auf | das Warzenhütchen oder auf die Bruſt brächte. Weigert ſich dann das Kind zu ſaugen und weigert es ſich nicht mehr nach Entfernung des Riechmittes, ſo kann es riechen. Denn bei ſchwachen Gerüchen dieſer Art iſt eine merkliche Erregung der Naſaläſte des N. trigeminus nicht an— nehmbar. Solche Verſuche werden durch die ältere Angabe, daß Säuglinge in den früheſten Tagen des Lebens die Mutter— bruſt verſchmähen, welche zufällig einen fremdartigen Geruch erhalten hat, nicht überflüſſig gemacht. | Daß beim Aufſuchen der Warze ſeitens des nur angelegten, ſonſt nicht unterſtützten Säuglings der Geruchſinn betheiligt ſei, wie bei Thieren, iſt mir nach eigenen Be— obachtungen unwahrſcheinlich. Denn das Kind fährt oft auffallend haſtig und faſt gewaltſam mit dem ganzen Kopfe an der ſteht, bleibt freilich dahingeſtellt. Bruſt hin und her mit offenem Munde und intermittirenden Unterkieferbewegungen, aber erſt am 8. Tage trat dieſes Taton— niren bei dem von mir hieraufhin ge— nau beobachteten Kinde ein. Und ſelbſt in dieſem Fall können die taſtenden Bewegungen durch das künſtliche Anlegen erſt erworben worden ſein. 4. Vom Geſchmackſinn Neugeborener. Die Schmecknerven gehören zu den— jenigen Sinnesnerven, welche bei Säuge— thieren ſchon vor der Geburt unzweifelhaft objektiv erregt werden. Denn mag auch der Mundſchleim für ſich keinen Geſchmacks— reiz abgeben, ſo muß doch die verſchluckte Amniosflüſſigkeit, deren Concentration nicht immer dieſelbe iſt, durch ihn verändert werden, ſowie ſie in den Mund des Fötus gelangt. Und daß der Fötus Fruchtwaſſer verſchluckt, wird nicht mehr bezweifelt *). Ob mit der Erregung der Geſchmacksner— ven ſchon intra-uterin eine Empfindung ent— Auch ob durch innere“ Reize vom Blute der Frucht aus Geſchmacksempfindungen zu Stande kommen können, iſt unſicher. Derartige Geſchmackshallucinationen ſind beim ge— ſunden Erwachſenen noch nicht näher unter— ſucht. Ich habe ſie in ausgeprägter Weiſe durch ſantonſaures Natron hervorrufen können *), aber bei Neugeborenen wird nach dieſer Richtung nicht zu experimentiren ſein, obgleich es mir wiederholt vorgekommen iſt, daß Thiere nach ſubcutaner Injection ſtark ſchmeckender Stoffe, z. B. milchſau— ren Natrons und Blauſäure, wobei nichts in den Mund kam, lebhafte leckende, kauende ) Guſſerow im Archiv für Gynäkologie 3. Bd. 2. Heft: Zur Lehre vom Stoffwechſel des Fötus. ) Archiv für die gef. Phyſiologie. Bonn 1868. 1. Bd. S. 305. 132 Preyer, Zur Phyſiologie Neugeborener. oder ſchluckende Bewegungen machten, als ob ſie etwas ſchmeckten. Es iſt wahr— ſcheinlich, daß hier das Blut in der Zunge die Endigungen der Geſchmacksnerven von innen her erregt. Meine an Menſchen und Meerſchwein— chen angeſtellten Verſuche zur Prüfung, ob Säugethiere am erſten Tage ihres Lebens ſchmecken können, ſind bis jetzt nur bezüg— lich des Süßen erfolgreich geweſen. Ein noch nicht 17 Stunden altes Meerſchwein— chen, dem ich gleichzeitig Thymol, Kampher und Candiszucker in je einem Stück vor— ſetzte, hielt ſich bei letzterem am längſten auf, nagte eine Kante an und begann hierauf ſehr eifrig den Zucker zu lecken. Man ſah deutlich wie es die Zunge vorſtreckte und gegen die glatte Fläche des Kryſtalls ſtrich. Nachdem es Minuten lang dieſe Operation anſcheinend mit großem Behagen fortgeſetzt hatte, nahm ich es fort, nähte ihm beide Augen zu und wiederholte den Verſuch nach 24 Stunden. Zu meinem Erſtaunen unterſchied auch das blinde Thier den Zucker, obwohl es weder das Thymol noch den Kampher angenagt oder beleckt hatte, wahrſcheinlich ver— mittelſt des Geruchs, und wieder begann es den Zucker zu lecken. Andere Meer- ſchweinchen ſah ich am erſten Lebenstage eine ſolche Entſchiedenheit des Geſchmacks oder vielmehr des Geſchmacks und Geruchs nicht bekunden. Aber der eine Fall beweiſt, daß die Empfindung des Süßen — viel— leicht durch die Muttermilch oder das Frucht— waſſer zuerſt, ihm bekannt geworden — am erſten Tage erkannt und angenehm ge— funden wird. Andere Verſuche bei 8— 165 ſtündigen ſeit 2 Stunden von der Mutter getrennten Meerſchweinchen ergaben mir als allgemeines Reſultat, daß concentrirte Löſ— ungen von Weinſäure, von Soda, von Glycerin, in Glasröhrchen in den Mund eingeführt, ebenſo begierig wie Kuhmilch und Waſſer mittelſt energiſcher Saugbe— wegungen verſchluckt wurden. Aber auch das leere Röhrchen bewirkte ebenſolches Saugen. Alſo können die Verſuche, in dieſer Weiſe angeſtellt, nicht viel Sicheres ergeben. Die Berührung als Reflexreizung der Taſt— nerven des Mundes zum Saugen bei Hungernden überwiegt offenbar etwaige Ge— ſchmacksreize. Geſättigte Neugeborene ſaugen aber überhaupt nicht conſtant. Dagegen beobachtete bei menſchlichen Säuglingen Kußmaul 1entſchiedene Geſchmacksreflexe. Er brachte ſehr concentrirte Zuckerlöſung, ſtark bitter ſchmeckende Chininlöſung, aus— geſprochen ſauer ſchmeckende Weinſäurelöſ— ung, ſtark ſalzig ſchmeckende Kochſalzlöſung warm mit einem Pinſel auf die Zunge und zwar ſolchen (auch im 7. und 8. Fruchtmonat geborenen) Kindern, welche noch keine Milch erhalten hatten und ſchließt aus den mimi— ſchen Bewegungen, die dann eintraten, daß der Geſchmacksſinn Neugeborener bereits in ſeinen weſentlichſten Empfindungsformen thätig zu ſein vermag. Genzmer ver— wendete Chininlöſungen und die zu ſolchen Verſuchen ihres ſtarken Geruchs wegen bei Körperwärme wenig geeignete Eſſigſäure. Er fand, daß wenn Eſſigſäure, oder ¼ bis 1- procentige Chininlöſungen auf die Zunge gelangten, das Geſicht wie beim Empfinden des Süßen ſich veränderte und Saugbe— wegungen eintraten. Auch Kußmaul hatte zuweilen die Säuglinge mit dem mimiſchen Ausdruck für Bitteres auf Zucker antworten ſehen. Es läßt ſich alſo noch nicht ſagen, ob neugeborene Menſchen die verſchiedenen Ge— ſchmacksempfindungen ſicher unterſcheiden. Dazu bedarf es noch viel umfangreicherer Verſuchsreihen. Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpallungsähnlichkeit. (Ein Beitrag zum 14. Kapitel von Darwin's „Entſtehung der Arten“) von Wilhelm von Reichenau. N JR Aehnlichkeit in den Reichen 2 IE 5; der Lebeweſen kann aus ver- e ſchiedenen Urſachen enttanden - Findet man — und wir müſſen uns dabei auf eine relative Anſchauungsweiſe beſchränken — bei zwei Lebeweſen eine auffällige Uebereinſtim— mung äußerer und innerer Organe, ſo iſt, wie die Descendenztheorie aufgehellt hat, Abſtammung von einer gemeinſamen Ahnen— form als Grund der Aehnlichkeit zu ver— muthen; beſteht dagegen die Aehnlichkeit mehr obenhin, d. h. erſtreckt ſie ſich nur über äußere Form, Farbe u. ſ. w., ſo iſt eine andere Erklärung hierfür nothwendig und wurde auch in der Uebereinſtimmung der maßgebenden äußeren Bedingungen von Lamarck zuerſt aufgefunden. Darwin hob (1859) hervor, daß die „analogen oder Anpaſſungs-Charaktere“ zur Feſtſtellung der wirklichen Verwandt— ſchaft der in Unterſuchung befindlichen Weſen nur in ſehr geringem Grade von Werth ſeien, um ſo mehr aber als wichtig erachtet werden müßten „für das Gedeihen der be— treffenden Weſen.“ Stark ausgeprägte analoge Charaktere könnten den Natur- forſcher bei ſyſtematiſchen Studien weit eher beirren, als ihm zur Unterſtützung gereichen; ſo habe „Linné, durch den äußeren An— ſchein verleitet, wirklich ein homopteres | Infekt unter die Motten geſtellt.“ — Es leuchtet ein, daß Anpaſſung an ſehr verſchiedene Exiſtenzbedingungen — ſetzen wir z. B. für die eine Form. Baumleben mit Früchtegenuß und Adler als Feinde, für die zweite Form Meeresleben mit Muſchel— nahrung und Haifiſche zu Feinden, — auf die Nachkommen einer und derſelben Urform durch fortgeſetzte Vererbung der erworbenen neuen Anpaſſungs-Charaktere Formen er— zeugen kann, deren urſprüngliche Bluts— verwandtſchaft ernſtlich in Zweifel geſtellt werden könnte. „Wir begreifen ferner,“ ſagt Darwin, „das anſcheinende Para— ö doxon, daß die nämlichen Charaktere analoge ſein können, wenn eine Klaſſe oder Ordnung mit der andern verglichen ad) 134 wird, aber für echte Verwandtſchaft zeugen homologe genannt werden müſſen), wo— fern es ſich um die Vergleichung von Gliedern der nämlichen Klaſſe oder Ord— nung unter einander handelt. So beweiſen Körperform und Ruderfüße der Wale nur eine Analogie mit den Fiſchen, indem ſie in beiden Klaſſen nur eine Anpaſſung des Thieres zum Schwimmen im Waſſer be— deuten. Aber beiderlei Charaktere beweiſen auch die nahe Verwandtſchaft zwiſchen den Gliedern der Wal-Familie ſelbſt; denn dieſe Wale ſtimmen in ſo vielen großen und kleinen Charakteren miteinander überein, daß wir nicht an der Ererbung ihrer all— gemeinen Körperform und ihrer Ruderfüße von einem gemeinſamen Vorfahren zweifeln können. Und ebenſo iſt es bei den Fiſchen.“ Nach der Natur und Wirkung der äußeren Anpaſſungsverhältniſſe kann man zunächſt Waſſer-, Erd- und Luft— Anpaſſuungen unterſcheiden, von denen wir einige der lehrreichſten betrachten wollen: I. Die Anpaſſungen an die Gewäſſer. A. Säugethiere. Echte Anpaſſungen find in der Säuge— thierklaſſe nicht in beſonders großer Zahl und Mannigfaltigkeit vertreten. Die Menſchen und hochſtehenden Affen, Paviane mit inbegriffen, können ohne Unterricht nicht ſchwimmen; kein Wunder daher, daß ſich aus ſo entſchiedenen Landthieren keine Waſſer— formen bildeten. Viele der übrigen Affen der alten und neuen Welt können indeß wenigſtens durch Schwimmen ihr Leben retten oder ſetzen gar freiwillig über ſchmale Flüſſe hinweg. Flederthiere retten, in's Waſſer gefallen, auch gewöhnlich das Leben durch Flattern. Alle übrigen Säugethier— ordnungen begreifen Thiere in ſich, die von Reichenau, Das Thierreich vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. mehr oder weniger mit dem Waſſer ver— traut ſind; demſelben ſpecieller angepaßt haben ſich von Säugethieren folgende. a) In geringerem Grade durch Umbildung vorhandener Charaktere: Die Waſſerſpitzmaus (Crossopus fo— diens). Dem Waſſerleben entſprechen ein— mal das durch Haare verſchließbare Ohr und der dichter gewordene Pelz. Die Zehen ſind auf der Unterſeite nicht mit zarten Wimperhärchen, ſondern mit ſteifen, ſtarken und ziemlich langen Haaren beſetzt; letztere laſſen ſich ausbreiten und beim Laufen glatt anlegen. Mit ſo einfachen Erwerbniſſen iſt die Waſſerſpitzmaus, den Typus der flinken Spitzmäuſe beibehaltend, ein höchſt gewandtes Waſſerthier geworden, welches tauchend mit den Steißfüßen wetteifern kann. Sieht man von gewiſſen anderen tüchtigen Schwimmern, z. B. dem Eisbären, Hermelin, der Wanderratte und Waſſerratte ab, da dieſelben körperlich keine beſonders ausge— ſprochene Waſſeranpaſſung verrathen, ſo können wir b) in auffallenderem Grade entwickelte Waſſerthiere in nach— folgenden Formen vorführen: 1. Die Biſamſpitzmaus (Myogale) mit langer Röhrennaſe, dichtem Pelze, ver— ſchließbaren Ohren, verſchließbarer Naſe, niederen Beinchen mit je fünf durch Schwimm— häute verbundenen Zehen. Die Vorder— füßchen ſind behaart, die hintern beſchuppt, der lange Schwanz iſt am Ende zweiſchneidig zuſammen gedrückt. f 2. Das Waſſerſchwein choerus capybara). Dieſes eigenthüm— liche Nagethier ähnelt in ſeiner Erſcheinung einem kleinen Flußpferde (Hippopotamus) durch den plumpen Bau, das ſtarke Ge— biß und die geſtreckte Form. Die hufartig benagelten Zehen ſtehen am Vorderfuße zu (Hydro- von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. vier, am Hinterfuße zu drei und ſind durch erweiterte Bindehäute (kleine Schwimmhäute) verbunden. 3. Die Biſam ratte (Fiber zibethi- eus) Nordamerikas iſt eine große Wühl— maus mit der Lebensweiſe und den Fähig— keiten des Bibers; ihre Füße ſind mit Schwimmhaaren beſetzt. Nach den Berichten guter Beobachter ſteht die Biſamratte dem Biber nicht an Tüchtigkeit im Schwimmen u. ſ. w. nach, wiewol ſie weder Schwimm— häute, noch eigentlichen Steuerſchwanz befigt. 4. Der Nörz (Vison), eine Ueber— gangsſtufe von den Iltiſſen zur Fiſchotter, gleicht ſeiner Geſtalt nach dem Iltis, doch iſt ſeine Schnauze breiter, das Ohr kleiner und mit Haaren verſchließbar, der Pelz dichter, und die Bindehäute der Zehen ſtellen eine mehr als zur Hälfte reichende, kurzbehaarte Schwimmhaut dar. 5. Das Flußpferd (Hippopotamus amphibius) hat ſich mehr durch die Unge— ſchlachtheit ſeines langgeſtreckten Walzen— körpers, unter deſſen dicker Haut (der die Behaarung mangelt) reichliches Fett vor— handen iſt, dem Waſſerleben angepaßt, als durch beſonders differenzirte äußere Organe. Das Flußpferd neigt als ein ſchweinartiges Thier leicht zur Fettproduction, und letztere iſt ein großer Vortheil für Thiere, welche im Waſſer leben, denn ſie macht den Körper ſpezifiſch leicht, und Maſſenentwicklung hindert in dem flüſſig nachgiebigen Elemente nicht. 6. Der Schwimmbeutler (Chiro- nectes vulgaris), das einzige Beutelthier, welches im Waſſer lebt, aus Südamerika. Der „Papock“ oder „Demerararatte“, wie das Thier auch genannt wird, hat den Typus der Beutelratten beibehalten, jedoch im Waſſerleben an den langzehigen Hinter— füßen Schwimmhäute erworben, die bis zu den Krallen reichen. Die Lebensweiſe ſoll coypus), 135 der unſeres Fiſchotters ähnlich ſein, wenn auch die Backentaſchen nach A. Brehm darauf hindeuten, daß Pflanzennahrung nicht ganz verſchmäht wird. c) Mit hervorſtechenderen Charak— egen; 1. Der Spitzotter (Potamogale ve- lox) von den Flüſſen Weſtafrikas. Ein Inſektenfreſſer ſeiner Verwandtſchaft nach, hat Geſtalt und Lebensweiſe mit den Ottern gemein und einen ſeitlich zuſammengedrückten, langen Steuerſchwanz. 2. Der Sumpfbiber (Myopotamns ein Nager mit den enormen Schneidezähnen und ſtarken Grabkrallen ſeiner Verwandten, der Schrotmäufe (Echimyidae), aber mit großen Schwimmhäuten an den Hinterfüßen und dichtem Waſſerpelze; ſein Schwanz zeigt nichts Beſonderes und da— her taucht das plumpe Thier wohl auch ſchlecht. 3. Der Biber (Castor fiber), eine vollkommene Waſſeranpaſſung, ſo plump ge— baut, wie der vorige. Seine Ohren ſind faſt ganz im Pelze verſteckt, die Augen kleiner und mit entwickelter, verſchiebbarer Nickhaut. Der Schwanz, höchſt muskulös, ſcheidet ſich nicht deutlich vom Rumpfe, iſt von der Wurzel rund, in der Mitte oben und unten platt, über handbreit, beſchuppt und, von oben geſehen, eirund geſtaltet. Er iſt ein kräftiges Steuer, mit welchem namentlich die Tauchbewegung präcis ausgeführt wird. Die Hinterfüße haben große Schwimmhäute. 4. Die Sumpfratte (Hydromys chrysogaster) von Vandiemensland, ein fünfzehiges Nagethier mit Schwimmhäuten an den Hinterfüßen und einem Steuerſchwanze, welcher dreifünftel der Geſammtlänge ein— nimmt, ebenmäßig wie beim Biber und abweichend von allen Landſäugethieren un— merklich aus dem Rumpfe heraustritt (jo Bra) 136 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. ſtark find die Schwanzwurzelmusfeln ent— wickelt) und dünn, nicht platt, ausläuft. 5. Der Fiſchotter (Lutra), ein Mar— der des Waſſers, iſt demſelben ſehr gut an— gepaßt. Der Leib iſt flach, der Kopf platt, ſtumpfſchnäuzig und mit kleinen vorſtehen— den Augen und kurzen, runden Ohren ver— ſehen. Zwiſchen den fünf Zehen der kurzen Füße befinden ſich ſehr ausgebildete Schwimm— häute, und der lange, ſtarke, beim Schwim— men nützliche Schwanz iſt am Ende ſeitlich flach, wie bei dem Spitzotter. Der Pelz iſt wegen ſeiner Waſſerdichte rühmlichſt be— kannt. 6. Das Schnabelthier (Ornitho— rhynchus paradoxus) von Auſtralien. In der allgemeinen Körperform ähnelt dieſe Süßwaſſeranpaſſung ſehr den Ottern, doch ſind alle Körpertheile, einzeln betrachtet, von denen genannter Thiere verſchieden. Der Rumpf und der Schwanz halten die Mitte zwiſchen Biber und Fiſchotter, die kurzen Beine haben fünfzehige Füße, deren vordere die größte Kraft beſitzen und ebenſowol zum Schwimmen, als zum Graben dienen. Bei ihnen erſtreckt ſich die Schwimmhaut ziemlich weit über die Krallen hinaus, iſt aber vorn ſehr biegſam und ſchiebt ſich beim Graben zurück. Die Hinterfüße ſtehen rückwärts, ſind ſehr kurz, ſtark bekrallt und mit kurzer Schwimmhaut verſehen. Der Schwanz iſt platt, breit und am Ende plötzlich abgeſtutzt. Die Naſenlöcher liegen in der Oberfläche des Schnabels, nahe dem Ende, die verſchließbaren Ohrenöffnungen, welchen die äußere Muſchel fehlt, nahe am äußeren Augenwinkel. Die fleiſchige Zunge iſt mit hornigen Zähnchen beſetzt und bildet mit dem Schnabel ein Sieb, wie es der Schnabel der Flamingos, Enten und Säger bei den Vögeln darſtellt. Das Schnabel— thier beſitzt außerdem Backentaſchen, worin förmig, der Hals ſehr kurz und dick, va * die in der Eile gefangene thieriſche Nahrung bis zu einem Momente der Ruhe aufge— ſpeichert wird. Der Pelz iſt dem des Fiſchotter ähnlich, doch durch eine Eigen— ſchaft der Grannenhaare ausgezeichnet, welche als Anpaſſung des Aufenthaltes in ſelbſt— gegrabenen Röhren und zugleich als Waſſer— anpaſſung aufzufaſſen iſt. A. Brehm ſagt darüber: „Die langen Haare würden es, wenn ſie von der Wurzel an bis zur Spitze geradeaus nach dem Schwanze zu gerichtet ſtänden, beim Wühlen ſehr be— läſtigen, zumal wenn es ſich in ſeinem Baue rückwärts drehen wollte, während ſie bei ihrer wirklichen Beſchaffenheit, indem ſie nach der Wurzel zu ſchwächer, nach außen zu ausgebreiteter find, die Spitze leicht in jeder Richtung hin bewegen können, und zu gleicher Zeit, da ſie ſich dicht aufeinander legen, das Waſſer vortreffllich abhalten“. In der Lebensweiſe ſteht das Schnabelthier zwiſchen Otter und Ente: wie jene ſchwimmt und taucht, wie dieſe erbeutet es ſeine Nahrung! — d) Meeres anpaſſungen. Mit dem Aufenthalte in einem größeren Ge— wäſſer trat die Rückkehr zum Lande wegen der eine Schranke bildenden Brandung immer mehr in den Hintergrund. Die Formen werden einfacher, allmälig fiſchförmiger und verlieren dabei die unnöthige Länge der äußeren Organe. Gegen die Gewalt der Wellen und den Temperaturwechſel ſchützt eine ſtarke Haut mit maſſenhaft darunter gehäuftem Fett, welches zudem das ſpezi— fiſche Gewicht dem des Waſſers ungefähr gleichmacht. Als Uebergangsſtufe von den Fiſch— ottern zu den Robben haben wir: 1. den großen Seeotter (Enhydris lutra) anzuſehen; ſein kräftiger Leib iſt walzen Kopf rundlich und ſtumpf, mit großen nach vorne blickenden Augen, ſehr kleinen und tief unten ſtehenden Ohren. An den Vorder— füßen ſind die Zehen verkürzt und mit einer ſchwieligen, unten nackten Haut ver— bunden; ſie dienen noch zum Beſteigen des Landes, wo die Beute verzehrt wird. An den Hinterfüßen nehmen die Zehen von außen nach innen zu an Länge ab und ſind durch eine große Schwimmhaut verbunden (wie beim Ruderfuß der Pelikane). Der Schwanz iſt kurz geworden, tritt aber noch handelnd auf und iſt daher zuſammenge— drückt und kräftig. — Noch entſchiedener ausgeprägte Meeresanpaſſungen ſind: 2. die Robben. Unter den Robben haben die Ohrenrobben (Otariae) noch am eheſten in ihren Formen das Andenken an ihre Landraubthier-Abkunft bewahrt. Der breite, ſtarke Raubthierkopf hat verſchließbare Naſen⸗ und Ohren-Oeffnungen, und die Bindehaut des Auges zieht ſich beim Unter- tauchen wie ein Schiebfenſter querüber; das äußere Ohr iſt, wenn auch kurz, noch vor— handen, und die Gliedmaßen ragen ziemlich weit aus dem Körper hervor. Dieſer iſt mit Woll⸗ und Grannenhaaren bedeckt bis auf die einfach behaarten Extremitäten, deren Unterſeite kahl wurde und deren Zehen bei der großen Länge derſelben, namentlich am Hinterfuße, mit ſehr großen Schwimm- häuten verſehen ſind. Der Schwanz iſt rudimentär. — Zwiſchen den Ohrenrobben und Seehunden, zu welch' letzteren der See-Elephant (Macrorhinus elephan- tinus), ſowie die Mützenrobbe (Stemma- topus eristatus) ebenfalls zu zählen find, während Seebär (Aretocephalus) und Seelöwe (Otaria) zu erſteren gehören, ſtehen die Seeleoparden (Leptonyx). Dem Kopfe fehlen die äußeren Ohren, der Hals iſt noch lang, die Vorderfüße nehmen Kosmos, Band III. Heft 2. von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 137 vom Daumen zum kleinen Finger ſtetig an Länge ab, und die Hinterfüße find einge— ſchnitten wie ein Fiſchſchwanz. — Die ei— gentlichen Seehunde (Phocae) haben kein äußeres Ohr mehr, kurze Gliedmaßen, deren vordere ſie noch recht geſchickt zum Putzen an ihrem Körper verwenden, kurzen Hals und verſchwindenden Schwanz. Der Körper iſt noch dicht behaart. — Die Wallroſſe (Trichechus) haben gleichfalls die äußere Ohrmuſchel verloren und gehörige Floſſenfüße erhalten. Die Behaarung, welche übrigens auch manchen großen Landthieren, z. B. Elefanten und Nashörnern, mangelt, iſt ſehr dünn geworden und im Alter faſt nur noch auf die ſtarken und vielen Schnurrborſten, einer charakteriſtiſchen Entwicklung aller ſeither betrachteten Waſſeranpaſſungen von hervor— ragenderem Charakter, beſchränkt. Die Dicke der Haut und deren Fettunterlage machen das Haar entbehrlich. 3. Die Sirenen (Sirenia) oder Seerinder. Bei den Sirenen oder See— kühen iſt die Waſſeranpaſſung ſehr weit fortgeſchritten; ſo weit, daß kaum noch die Reihe von Thieren erkannt zu werden ver— mag, von welchen dieſe merkwürdigen Miſch— formen, halb Säugethier, halb Fiſch, ab- ſtammen. Das Studium des äußeren und inneren Baues bei Alt und Jung legt es indeß doch ſehr nahe, daß dieſe Thiere von Hufthieren, und zwar von einer Abtheilung! der letzteren herrühren, zu welcher das heute noch fortexiſtirende Flußpferd zu rechnen iſt. Die Sirenen haben einen kleinen Kopf mit dickwulſtiger Schnauze, ſpärliche, kurze und borſtenartige Behaarung, kleine Augen, kleine, tiefliegende Ohröffnungen, ziemlich große Naſenöffnungen und einen mäßig geipal- tenen, eher kleinen Mund. Die Zähne ſind ſehr einfach geworden; viele fehlen den aus— 18 138 gewachſenen Thieren, welche das Junge noch beſitzt. Der Leib der Seerinder ſteht in der Form zwiſchen dem eines Flußpferdes und eines großen Fiſches mitten inne. Die Vordergliedmaßen allein ſind äußerlich noch vorhanden, erſcheinen aber nur zweigliedrig und ſehen wie Floſſen aus, ſo vollſtändig ſind die im Skelet vorhandenen Finger mit der Körperhaut überzogen. Von den Hinter— gliedmaßen findet man nur am Becken des Skelets die Rudimente, äußerlich treten ſie nicht mehr hervor; dagegen endet die ver— längerte Rückenwirbelſäule in einem Fiſch— ſchwanze. Erwähnenswerth iſt, daß die Sirenen ihre Zitzen auf der Bruſt, zwiſchen den Vorderfüßen, haben und das Junge nach Menſchenart mit einer der Floſſen an der Bruſt feſthalten, um es zu ſäugen. Die Nahrung beſteht in See- und Seeſtrand— pflanzen, die Thiere weiden die letzteren, mit der Bruſt und den Vorderfüßen ſich aus dem Waſſer hinaus an's Land ſchaffend, ab, wie Rinder dies thun. Die Bewegung auf dem Lande iſt aber eine ſehr mühevolle. 4. Walthiere (Cetacea). Wahr⸗ ſcheinlich als Fortſetzung einer Reihe der pflanzenfreſſenden Walthiere (Phy- toceta), zu welchen die Sirenen gehören, hat ſich die Ordnung der fleiſchfreſſen— den oder eigentlichen Wale (Sarcoceta) entwickelt. Dieſe ſind faſt ſo vollkommene Waſſeranpaſſungen wie die Fiſche, nur mit dem durchgreifenden Unterſchiede, daß ſie durch Lungen Luft athmen, d. h. daß ſie eben keine Fiſche, ſondern Säugethiere ſind. Das Land, welches die Robben noch regel— mäßig, die Sirenen mitunter beſuchen, iſt ihnen gänzlich fremd geworden. Der Leib iſt denn auch durchaus fiſchartig geworden, maſſig und unbeholfen, ohne alle äußere Gliederung; der Kopf, welcher meiſt ſehr, oft ganz beiſpiellos groß iſt und dabei ein von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. ſehr kleines Hirn hat, geht unvermerkt in den übrigen Körper über; der Hals iſt äußerlich nicht vom Rumpf zu unterſcheiden, und der Rücken trägt gar in vielen Fällen eine wie bei manchen Fiſchen geſtaltete Rückenfloſſe, welche iudeß keine Knochen— ſtrahlen beſitzt, vielmehr nur als eine durch natürliche Zuchtwahl befeſtigte Hautwuche— rung (Fettfloſſe) angeſehen werden kann. Die Vorfüße ſind Handfloſſen, zeigen aber im Skelete den Bau der Säugethierhand, wenn auch mit weit mehr Gliedern ver— ſehen, wie gewöhnlich; die Hinterfüße fehlen gänzlich, der Schwanz trägt wie beim Dujong eine wagrechte, halbmondförmige Finne. Die Knochen ſind ſchwammig und mit öligem Fette durchtränkt, dagegen marklos geworden, und unter der zarten, glatten, mit nur einzelnen Borſten beſetzten Haut liegt eine ſehr dicke Fettſchicht, welche gegen die meiſten äußeren Einflüſſe (Temperatur, Gewicht und Druck des Waſſers, Feinde) Schutz gewährt. Die Walthiere unterſcheiden ſich von allen anderen Säugethieren außer durch die angeführten Umbildungen noch durch die Bildung ihrer Naſe. Dieſe öffnet ſich nämlich nur noch in einer Spalte, dem Spritz— loch; ſie functionirt nicht mehr als Geruchs— organ, denn die Geruchsnerven fehlen, ſie iſt ausſchließlich Luftſchöpfer geworden und hat durch natürliche Zuchtwahl da ihre Stelle erhalten, wo der Kopf des Thieres beim Auftauchen zuerſt an die Oberfläche kommt. Bei den Delphinen, welche ſehr gewandt ſind, iſt das Spritzloch einfach und befindet ſich nicht weit hinten am Oberkiefer, bei den Schnabeldelphinen (Pla- tanista) ift es S- förmig geſtaltet, ebenſo beim Kaſchelot, bei welchem es an der Stelle ſitzt, wo die Naſe anderer Säuge— thiere zu ſein pflegt. Bei den ſchwer— von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. fälligen Bartenwalen liegen die Spritz— löcher auf der höchſten Stelle des Kopfes. faſt oberhalb dem Auge: die Bartenwale haben doppelte Spritzlöcher. B. Vögel. Die Claſſe der Vögel, ebenfalls ſämmt— lich aus Lungenathmern beſtehend, hat ſich in einigen vereinzelten und in einer großen zuſammenhängenden Reihe von Formen dem Waſſerleben in verſchiedenem Grade angepaßt. So vollkommenen Waſſerthieren begegnen wir bei ihnen jedoch nicht, wie bei den Säugethieren die Wale ſie bieten; denn ſämmtliche Waſſervögel bedürfen un— bedingt, wenigſtens zur Brütezeit und zum endlichen Ruhen nach angeſtrengter Arbeit, des Landes. Mit Rückſicht auf die im Körperbau wahrnehmbaren ſpeciellen Cha- raktere und auf die Lebensweiſe ſtellen wir folgende Abtheilungen auf: — J. Der Waſſerthiernahrung angepaßte Landformen. 1. Die Waſſerdroſſel (Cinelus), zur Droſſelfamilie (Turdi) gehörend, ein Waſſerſchlüpfer in des Wortes voller Bedeutung, fliegt über und durch das Waſſer, ſtelzt darin umher und läuft auf deſſen Grunde herum, wie auf dem Lande. Der Droſſel— ſchnabel, nur weiche Waſſerkerfe aufnehmend, wurde biegſam und die Naſenöffnungen von innen durch eine Hautklappe verſchließ— bar. Der hochläufige Fuß mußte auf dem Boden kieſiger Bäche haften und erhielt ſtarkgekrümmte zweiſchneidige Krallen; die Flugthätigkeit trat in den Hintergrund, ſie hat kurze, kräftige Flügel, vortheilhafter zum Leben in Verſtecken. Die⸗Bürzeldrüſe und das Gefieder ſind ſehr entwickelt, waſſervogelartig; die Naſendrüſen ſind auf— fallend groß geworden. Während der Schwanz kurz und das gut einzufettende 139 Gefieder gleich dem der Taucher waſſerdicht wurde, füllten ſich die Knochen wie bei echten Erdvögeln mit Mark und nur der Schädel blieb in geringem Grade luft— führend. Unter dem Wurzelgeniſte und aus dem trüben Waſſer vermag aber auch das beſte Auge die Libellenlarven, die Phryga— neenlarven, zudem in ihrer röhrenförmigen Verkleidung, nicht zu erkennen; da half die Naſe beim Suchen aus: ſie iſt gebaut wie bei den Regenpfeifern und Steinwälzern. Das angenehme Weſen und der herrliche Droſſelſang aber verblieben dem Waſſer— ſchwätzer. N 2. Die Eis vögel oder Fiſcher (Alcedines) ſitzen gewöhnlich auf einem er— höhten Punkte nahe dem Waſſer und ſtürzen ſich von da auf die erſehene Beute, welche meiſt in Fiſchen beſteht, „ſturztauchend“ herab. Mittelſt der Flügel arbeiten ſie ſich mit der im Schnabel gefaßten Nahrung aus dem Waſſer heraus und verzehren darauf dieſelbe. Ihre Schnabelform ähnelt der des Reihers: die Stirn läuft in gleicher Linie mit dem Schnabelrücken fort und bildet ſo die zum Durchſchneiden des Waſſers geeignete Pfeil— oder Keilform, wie ſie auch bei den Schlangen— halsvögeln, Eistauchern und Steißfüßen vorhanden iſt. Im Gerippe fällt das platte Bruſtbein auf; ein ähnliches haben Taucher. II. Eigentliche Waſſervögel. Zu ihnen zählen wir nur die Schwimmer (Natatores), indem die Stelzvögel (Grallatores) an einem anderen Orte Er- wähnung finden. Sahen wir die Waffer- formen bei den Säugethieren durch ein- ſeitige Umbildung gewiſſer Landformen ent⸗ ſtehen, ſo müſſen wir es in dem vorliegendem Falle, welcher die Verwandtſchaftsbeziehungen der Waſſervögel in ſich begreift, geradezu — nach dem jetzigen Stande unſeres rg N 140 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. für eine Unmöglichkeit erklären, dieſe letz— teren von Landvögeln herzuleiten. Ich habe bereits in einer kleinen Schrift *) den Ver— ſuch gemacht, die Waſſervögel und die ihnen nächſtverwandten Stelz- und Hühner— vögel von einer Formenreihe herzuleiten, welche das Reptiliengepräge am deutlichſten bewahrt hat und glaube, daß wir vor der Hand die meiſte Berechtigung für uns haben, wenn wir die einſeitigſten Waſſeranpaſſungen nicht nur für beſonders charakteriſtiſche Um— formungen, ſondern für eine niedere Vogel— ſtufe halten, welche den Ahnen vieler Vogel— familien am ähnlichſten geblieben ſein dürfte. Wir unterſcheiden in der Stufenleiter der Anpaſſung, wobei die Verwandtſchaftsgrade | ohne Rückſicht bleiben: a) Luftwaſſer— vögel, b) Schwimmer und ce) Taucher. a) Luftwaſſervögel. Eine große Anzahl von Waſſervögeln ſucht fliegend ihre Nahrung, welche faſt durchgängig aus Fiſchchen und Weichthieren beſteht. Dieſe Waſſerflieger haben lange Flügel und leichten Körper; ſie vermögen ſich aus einer ge— wiſſen Höhe bis einige Fuß tief unter die Waſſerfläche zu ſtürzen (Stoßtaucher), dann aber hebt ſie ihr eigenes ſpezifiſches Gewicht, gewöhnlich mit einigen Flügel— ſchlägen begleitet, wieder empor. Schwim— mend können dieſe Vögel nicht untertauchen. Hierhin gehören die Sturmvögel (Pro- cellariae), die kaum unter die Woge hinabzudringen verſuchen, dagegen die meiſte Nahrung von der Meeresfläche im Fluge wegnehmen; die Albatroſſe [Diomedeaec) ſah man noch nie ſtoßtauchen. ven (Laridae) und Seeſchwalben (Ster— nae) ſind gewandte Stoßtaucher, ) Die Abſtammung der Vögel und Vogel— leben in den oberbairiſchen Voralpen. Mainz, Diemer. 1876. Die Mö⸗ ebenſo die ruderfüßigen Fiſcherſtöß er (Pisca- trices), zu welchen die Tropikvögel (Phae— ton), Tölpel oder Baſſangänſe (Sula) und Fregatt vögel (Tachypetes) gehören. | Die kleinen Sturmvögel (Procel- laria minor, Thalassidroma, Puffinus) bilden eine eigenthümliche Mittelſtufe; ſie ſind gleichſam Anpaſſungen an die hoch— gehenden Wogen, welche ſie durchfliegen können; die Gattung Thalassidroma, Sturmſchwalbe, verſteht es, auf den Wellen zu laufen oder zu ſitzen und balancirt da— bei mit den Flügeln. b) Eigentliche Schwimmer ohne Tauchvermögen giebt es nicht viele, wenn wir die ſoeben angeführten Stoß— taucher bei Seite laſſen. Die mit gro— ßem, weichfederigem Körper ausgeſtatteten Schwäne (Cygnus) und Pelekane (Pe— lecanus) können nicht untertauchen. Die Schwäne haben ſich mit ihren langen Häl— ſen den ſeichten Flußmündungen, Seen und Sandbänken angepaßt, wo ſie ihre aus Pflanzen und Weichthieren beſtehende Nah— rung vom Grund aufnehmen — „gründeln“. Sie fliegen nur ſehr ſchwer auf, gehen ſel— ten und ungern, dabei ſehr langſam und mit den weit hinten eingelenkten Beinen watſchelnd und unbeholfen auf dem Lande umher. In tiefem Waſſer, ohne zahlreiche Thier- und Pflanzenarten an der Ober— fläche oder dem Rande, vermögen ſie ſich aus dieſen Gründen nicht zu ernähren. Die Pelekane haben einen ſehr leichten Körper und nicht beſonders langen Hals; ſie haben ſich in anderer Weiſe dem Leben auf der Waſſerfläche angepaßt, indem ihr Schnabel zum Fiſchhamen wurde. „Er beſteht,“ um mit Alfred Brehm zu reden, „aus einem Sacke und einem dieſen ſchlie— ßenden Deckel. Erſterer wird gebildet durch — „—— See ee er Me ER sg ne von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. den Untertheil, letzterer hergeſtellt durch den Obertheil. Der Deckel iſt ſehr lang, ganz flach gedrückt und von der Wurzel an bis gegen die Spitze hin ziemlich gleichmäßig breit und hier abgerundet; die Firſte verläuft als deutlich ſichtbarer Kiel ſeiner ganzen Länge nach und geht an der Spitze in einen krallenförmigen, ſtarken Haken über. Inwendig oder auf der Unterſeite iſt dieſer Deckel mit ſcharfen, feinen Gaumenleiſtchen und jederſeits mit einer doppelſchneidigen Längsleiſte durchzogen, welche den Rahmen des Sackes aufnimmt. Der Unterſchnabel beſteht aus den ſehr ſchwachen, dünnen, niedrigen, biegſamen Unterkieferäſten, welche ſich erſt an der Spitze vereinigen und zwi— ſchen ſich einen außerordentlich großen, im hohen Grade dehnbaren Hautſack auf— nehmen.“ e) Das Tauchen, d. h. das Sich— fortbewegen unter der Waſſerfläche, iſt eine Fertigkeit, welche wir bei vielen Schwimm— vögeln vorfinden; hierher gehören: 1. Die Enten (Anates). Dieſe La⸗ mellenſchnäbler tauchen indeß nur ausnahms— weiſe, und zwar die großen Arten ſeltener und weniger geſchickt, als die kleinen. Bei den Gänſen (Anseres), welche ſich nur bei drohender Gefahr unter den Waſſerſpiegel bergen, tauchen die Jungen weit beſſer als die allzu reichfederigen Alten. 2. Die Tauchenten (Fuligulae) ma- chen ihrem Namen Ehre. Unter ihnen giebt es Meervögel, z. B. die Eider— enten arten (Somateriae), welche bis zu bedeutenden Tiefen hinabtauchen. Die Eider— ente (Somateria mollissima), deren Dunen ſo berühmt ſind, taucht nahrungſuchend nach Holboell und Faber bis in eine Tiefe von fünfundzwanzig Faden hinunter und verweilt mindeſtens gegen zwei Minuten ohne Gefahr unter dem Waſſer. Die 141 Prachteiderente (Somateria specta— bilis) ſoll gar fünfundſechzig Faden tief tauchen und im Maximum neun Minuten des Athemholens entbehren können. 3. Die Säger (Mergi' jagen aus— ſchließlich tauchend nach Fiſchen. Ihr Schna— bel iſt hornig gezähnelt, wodurch die glatte Beute ſicher feſtgehalten werden kaun, und ſcheint ſich aus dem gewöhnlichen Lamellen— ſchnabel entwickelt zu haben, da die anderen echten Fiſchwaſſerſchnäbel von vornherein meſſerklingenartig oder raubvogelartig an— gelegt ſind. Zwiſchen Sägern und Enten liegt jedenfalls nahe Blutsverwandtſchaft vor, da ſich der kleine, weiß und ſchwarz gezeichnete Zwergſäger (Mergulus al- bellus) mit der Schellente (Anas elan- gula) fruchtbar paart. | 4. Die Sturmtauder (Puffinus), Verwandte der Albatroſſe und Sturm— ſchwalben, tauchen ausgezeichnet, auf dieſe Art ihre Nahrung erbeutend, und ſind in jeder Beziehung Herren der Wogen. Ihre Naſenlöcher liegen in einer Röhre auf dem Schnabel. 5. Die Scharben (Phalacrocora) und Schlangenhalsvögel (Ploti), be- kannt als gute Fiſchfänger, erbeuten die Fiſche tauchend, und werden erſtere von den Chineſen ſogar wegen ihrer Fertigkeit im Fangen gewiſſermaßen abgerichtet, indem man den gezähmten Vögeln einen, das Hinabwürgen der Beute verhindernden Ring um den Hals legt und ihnen, wenn ſie in den Kahn oder aufs Land ſteigen, den Such abnimmt. Sie find, wie die tiefſchwim— menden und geſchickttauchenden Schlangen— halsvögel, Ruderfüßler mit glattem, etwas den ſchuppenähnlichem Gefieder. Scharben giebt es in allen, die Ploti nur in warmen Zonen. 6. Die Lappentaucher oder Steiß— — 142 füße (Podieipites). Dieſe find ſchon recht einſeitig dem Waſſerleben angepaßt, denn auf freies Land verſetzt, ſind ſie nicht einmal im Stande aufzufliegen, während ſie dies doch von der Waſſerfläche aus nach genommenem Anlaufe recht gut können. Die Flügel ſind ſehr kurz und abgerundet; die Schwanzfedern fehlen ganz oder ſind doch rudimentär geworden; die Füße, am Laufe ſeitlich flachgedrückt, haben vorn drei große Zehen (und nach hinten eine kleine), welche nur unter ſich bis zum erſten Gelenke durch eine Schwimmhaut verbunden ſind, dann bildet eine jede durch ſeitliche Hautverbrei— terung ein Ruder für ſich, ſo daß die Steißfüße, ſtatt gleich den Pelekanen, Schwänen, Enten u. ſ. w. mit zwei ge— ſchloſſenen, ſo zu ſagen mit ſechs Rudern verſehen einherſchwimmen. 7. Die See- oder Eistaucher (Colymbi) können ſchon auf dem Lande nicht mehr laufen, rutſchen nur mit Hilfe des Haͤlſes, Schnabels und der Füße dar— über hinweg, ſchwimmen aber mit den ſchnellſten Fiſchen um die Wette. Die Füße ſind Schwimmfüße, jedoch mit eini— gen beſonders ausgeprägten (Reptil-)Cha— rakteren. Im Uebrigen ähneln die See— taucher ſehr den Steißfüßen. 8. Die Gruppe der Lummen und Alke (Uriae et Aleidae) umfaßt Meeres— taucher, welche auf dem Lande, der Steiß— ſtellung ihrer Beine entſprechend, Sohlen— gänger wurden. Die Flügel ſind klein, aber nur bei einer und zwar der größten Art, zum Fliegen untauglich. Sie ſchwim— men unter der Oberfläche mit den Flügeln und Füßen zugleich, mit erſteren ausgrei— fend und rudernd, mit letzteren ſich vor— wärts ſtoßend. Die Schwanzfedern ſind, wie bei allen Tauchern, ſehr klein und tre— ten kaum in Thätigkeit. von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 9. Die einſeitigſte Waſſergruppe bilden die Floſſentaucher (Aptenodytae). Ihre Geſtalt iſt kegelförmig; der Fuß hat einen ſehr kurzen Lauf, welcher als Sohle beim Gehen dient, vier nach vorn gerichtete Zehen, deren innere ſehr klein und ſcharf— bekrallt iſt, während die drei größten mit Schwimmhaut verbunden ſind. Der Flü— gel gleicht eher einer Floſſe, als einem Fittige, indem er durch Verbreiterung der Haut und ſchuppenartige Bildung der Fe— dern zum Ruderarm geworden iſt. Der Schwanz hat keine Steuerfedern, nur bor— ſtenartige Kiele. Der erwachſene Vogel gleicht überhaupt ſehr dem Neſtjungen, nur mit dem einen Unterſchiede, daß über den Dunen bei ihm die ſchuppenartigen Feder— chen, welche den Kleinen noch mangeln, eine vollkommene Decke bildend, dachziegelartig aufliegen. Sie ſchwimmen nach Art der Waſſerſäugethiere, welche keinen Ruder— ſchwanz beſitzen, und ihre Haut liegt auf einer öligen Fettdecke; ja ſelbſt die Knochen enthalten öliges Mark. Von Flug iſt na— türlich keine Rede; die Bewegung auf dem Lande iſt ein Trappeln; Felſen werden mit Hilfe der Ruderarme erſtiegen. C. Die Reptilien weiſen ebenfalls eine Reihe von Waſſeran— paſſungen auf. Sämmtliche jetztlebende Reptilien ge— hören nämlich dem Luftleben an, ſind ent— weder Erd- (Felſen-), Baum- oder Waſſer— Anpaſſungen. Zwar können alle ſchwim— men, aber alle athmen durch Lungen Luft und alle bedürfen zu ihrer Fortpflanzung des Landes, mit einziger Ausnahme der Waſſerſchlangen. 1. Die Eidechſen (Squamati). Der „Waran“ (Polydaedalus niloticus) hat in ſeiner Form außer einem um ein We— we = BY, I —— a —— von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 7 niges abgeplatteten Schwanze nichts Be ſonderes aufzuweiſen, lebt trotzdem, wie unſere Waſſerſpitzmaus, häufig im Waſſer der Flüſſe, z. B. des Nils, taucht und ſchwimmt vorzüglich, frißt kleine Reptilien, Lurche, Fiſche, Vögel u. ſ. w. und kommt in den meiſten afrikaniſchen Flüſſen vor. Die Meerechſe (Amblyrhynchus eri- status) hat kurze Beine mit kurzen, faſt gleichen Zehen, deren mittlere durch eine derbe Haut am Grunde verbunden ſind, und einen ſeitlich flachen Schwanz. indem ſie die Beinchen dem Körper dicht anſchmiegt und Wellenbewegungen mit Kör— per und Schwanz ausführt; die Nahrung beſteht in Seetangen. Ihr Aufenthalt ſind die Lavafelſen der Galopagosinſeln, nahe dem Strande. 2. Die Panzerechſen oder Kroko— dile (Loricata s. Crocodilia) find ſämmt— lich mit Fortpflanzung durch Eier, welche auf das Land gelegt werden. Ihr Körper zeigt eine Waſſercharakteren. Das Trommelfell liegt unter einer ohrmuſchelartigen Klappe, der Rumpf iſt viel breiter als hoch, der Schwanz iſt lang und ſeitlich ſtark zuſam— mengedrückt, ein ſehr kräftiger Schwimm— und Steuerſchwanz. Die niedrigen Beine haben ſehr entwickelte Füße, deren Zehen durch ganze oder halbe Schwimmhäute ver— bunden ſind. Die Naſenlöcher können ge— ſchloſſen werden und ſind halbmondförmig geſtaltet. Die Krokodile ſind gute Schwim— mer und tüchtige Taucher, lieben es aber, ſich auf dem Lande zu ſonnen. Die Ver— breitung der Gruppe erſtreckt ſich über die Flüſſe und zum Theil auch Meeresarme der warmen Wendekreisländer. Dieſer dient als Schwimmorgan; die Meerechſe ſchwimmt ganz nach Art unſerer Eidechſen, eigenthümliche Süßwaſſeranpaſſungen bemerkenswerthe Menge von 3. Die Schildkröten (Testudinata): Die Sumpfſchildkröten (Paludivagi) bewohnen die Sümpfe und Binnengewäſſer der gemäßigten Zone, können ziemlich flink laufen, ſchwimmen und tauchen gut und ſpazieren ſelbſt ohne Mühe auf dem Grunde der Gewäſſer umher; zu ihnen gehören die Flußſchildkröten (Emydae) mit ein- ziehbarem Kopf und eben ſolchen Gliedmaßen mit vorne fünf, hinten vier Zehen. Die Hinterfüße tragen ſpitzkrallige Nägel und eine Schwimmhaut, die vorderen nur freie Zehen mit Krallen. Zu ihnen gehört die Teichſchildkröte (Emys europaea), welche in Deutſchland, z. B. in der Mark und in Mecklenburg, vorkommt. Die Klappſchildkröten (Cinosternum) ha— ben beweglichen Bruſtpanzer und Bart— fäden, womit die Beute geködert werden dürfte. Die Alligatorſchildkröten (Chelydrae) ſind muthige, tückiſche Thiere mit längerem Halſe, Beinen und Schwanz; ihr Oberkiefer iſt wie ein Adlerſchnabel gebogen und ſie vermögen mit demſelben halbzolltiefe Löcher in ein Ruder zu hacken. Ihre großen Extremitäten ſind nicht unter den ſchuppenartigen Panzer zurückziehbar. Unter ihren Kameraden auffallend durch nur knorpeligen Panzer und unvollkommen verſchmolzene Rippen, ſowie durch die rüſſel— artige Naſe ſtehen die Weichſchildkröten (Trionyches) da. Sie ſchnellen ihren langen Hals auf die erſehene Beute ſchlangenartig oder fiſchreiherartig, wie ein Blitz, vor. Eine vollkommenere Waſſer— thierform, den Pinguinen analog, ſehen wir im Typus der Meerſchildkröte (Oicapoda). Jedes der vier Beine iſt in eine Floſſe umgeſtaltet, namentlich aber ſind die vorderen gewaltige Ruderarme gewor— den. Dieſelben ähneln ſehr denen der Pin— guine und Robben, die Hinterfüße denen > 144 der letzteren mehr als denen der erſteren. Die Zehen werden von einer gemeinſchaft— lichen Haut überzogen und dadurch unbe— beweglich; nur die beiden erſten Zehen eines jeden Fußes tragen Grabkrallen. Der Panzer iſt ziemlich flach, Hals und Extremitäten können nicht darunter verbor— gen werden. Die Augen ſind vorſpringend und die Naſenlöcher klein. 4. Die Schlangen (Ophidia) haben ſich in einigen Formen, jedoch ohne äußer— lich auffallende Merkmale, in ſehr charak— teriſtiſcher Weiſe dem ſtändigen Waſſerleben angepaßt. Eine Abzweigung der furchen— zahnigen Giftſchlangen (Protero— glypha) gehört nämlich dem Meere an, es find dies die Seeſchlangen (Hydri). Ihr Körper hat, oberflächlich betrachtet, Aehnlichkeit mit den Aalen; der Rumpf iſt ſeitlich zuſammengedrückt, der Schwanz meiſt ſehr kurz und ſtellt ein ſenkrecht aus— geſtrecktes Ruder (Steuer) dar. meer, und zwar das indiſche; niemals be— geben ſie ſich auf das Land. Ihre Eier behalten ſie ſo lange bei ſich, bis das Em— bryo beim Legen zerreißt die Eiſchale und das Junge, deren mehrere aus einer Schlange hervorkommen, ſchwimmt ſofort ſelbſtſtändig in dem naſſen Elemente, Beute machend, umher. D. Lurche. Mit wenigen Ansnahmen, bei welchen eine eigenthümliche abgekürzte Entwickel— ung eingetreten iſt, entwickeln ſich noch heute ſämmtliche Lurche im Waſſer, haben anfangs Kiemen und kurz vor Austritt aus dem Waſſer einen großen, breiten Ruder- oder Schwimmſchwanz, welcher bei den Schwanzlurchen, mehr oder minder Alle See- ſchlangen bewohnen ausſchließlich das Welt— reif zum Ausſchlüpfen geworden; von Reichenau, das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. modifizirt, zeitlebens bleibt. Wir ziehen es vor, an dieſer Stelle nur die Froſchlurche (Batrachia) vorzunehmen, da die Schwanzlurche (Hemibatra- chia) wohl paſſender als Sumpf- oder Schlammanpaſſungen anzuſehen ſind. Die Landkröten (Bufones) haben verhältnißmäßig kurze Hinterbeine und kleine, nur wenig ausbreitbare Schwimmhäute an den Hinterfüßen; die Baum- oder Laub- fröſche (Iylae) an ihren langen Sprung- beinen lange Zehen mit ziemlich entwickelter Schwimmhaut, ebenſo die Steppen— fröſche (Aeris). Die Glattfröſche (Ranae), ſchon weit mehr, in einigen Arten ſogar faſt ausſchließlich dem Waſſer- oder doch Uferleben angehörend, haben ſehr ſtarke lange Hinterbeine bei faſt rudimentär gewor— denen Vorderbeinen, an den langen Zehen der erſteren breite Schwimmhäute, welche ein ſehr vollkommenes, ſchnell fördern— des Ruder darſtellen. Die Vorderbeine werden weder zum Springen, noch zum Schwimmen benutzt und haben faſt nur noch den Zweck, dem Körper als Stütze und zur Beibehaltung einer richtigen Stel— lung, ſowie zum Umarmen des Weibchens und als ſchwache Hülfe bei der Nahrungs— aufnahme zu dienen. Die Knoblauch— kröten (Pelobates) kommen in dieſer Bildung wie in der Geſchicklichkeit beim Tauchen und Schwimmen den Fröſchen faſt gleich, ebenſo die kleinen Unken (Bom- binator) mit ganzen Schwimmhäuten an den etwas kürzeren Hinterbeinen. E. Fiſche. Die Fiſche bilden eine Thierklaſſe, welche durchaus nur einſeitige Anpaſſungen an die Gewäſſer aufweiſt. Sie pflan— zen ſich durch (nur ausnahmsweiſe im Mutter- körper zum Ausſchlüpfen kommende) Eier, die in das Waſſer gelegt werden, fort. Ein— zelne gehören nebenbei zu den Schlamm- Anpaſſungen und werden weiter unten be— rückſichtigt werden. F. Inſekten. Die Inſekten gehören im ausgebilde— ten Zuſtande dem Land- und Luftleben an; nur wenige haben ſich dem Waſſer angepaßt, während viele Jugendformen oder Larven dieſer „luftigen“ Weſen, wie Libellen und Eintagsfliegen, durchaus hierher gehören. Als entwickeltes Inſekt oder Imago fin- den wir nur ſolche im Waſſer, welche in den Jugendſtufen in demſelben auch wohnen. Man ſollte hiernach ſchließen, daß ſchon auf früher Entwickelungsſtufe die Trennung in Land- und Waſſerinſekten er— folgte; allein die nähere Betrachtung der einzelnen Gattungen im Vergleich mit ho— mologen Landformen lehrt, daß dies nicht der Fall iſt, daß wir vielmehr ſämmtliche | Waſſerinſekten als ſecundäre Waſſeranpaſſun— gen, d. h. als ſolche aufzufaſſen haben, welche ſich als Landinſekten in Folge äußerer Nothwendigkeit zum Waſſerleben bequemten. Im entwickelten Zuſtande athmen ſämmt⸗ liche Waſſerinſekten Luft durch Tracheen, ja einige ſchützen ſogar ihre bewegungsloſen Eier vor der ſtändig-unmittelbaren Berüh— rung mit Waſſer, wie wir bald ſehen werden. Unter den Käfern (Coleoptera) be— gegnen wir ausgeſprochenen Waſſerformen. Die Schwimmkäfer (Dytieidae) find ohne Zweifel Laufkäfer (Carabieidae), welche ſich dem Waſſer anpaßten; demgemäß blieben die weſentlichſten Theile intact, die allgemeine Körperform aber verbreiterte ſich und wurde flach; „indem der Kopf tief im Halsſchilde ſitzt, dieſes mit ſeinem Hinterrande eng an die Flügeldecken an— ſchließt, Rücken und Bauch fi Kosmos, Band III. Heft 2. von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 145 gleichmäßig wölben und in den Umriſſen mehr oder weniger ſcharfkantig zuſammen⸗ ſtoßen, jo ſtellt dieſer Umriß in ununter— brochenem Verlaufe ein regelmäßiges Oval dar. In gleicher Weiſe werden die Beine, vorzugsweiſe die hinterſten, breit und be— wimpern ſich zur Nachhülfe ſtark mit Haa- ren, denn ſie dienen als Ruder, ihre Hüften ſind meiſt groß, quer, reichen faſt bis zum Seitenrande des Körpers und verwachſen mit dem Hinterbruſtbeine vollſtändig.“ (Taſchenberg.) Neben großer Fertigkeit im Schwimmen und Tauchen fehlt den Dyticiden keineswegs die Flugfähigkeit. Die- ſelbe hat ſich vielmehr, „da ſie faſt aus— ſchließlich in ſtehenden Wäſſern leben, deren manche im Sommer austrocknen“, durch natürliche Zuchtwahl erhalten; im andern Falle würden ſie dem Ausſterben entgegen— gegangen ſein. Die Taumelkäfer (Gyrinus) zeigen eine ganz eigenthümliche Geſtalt und Lebens— weiſe. „Die Vorderbeine, aus freien, kegel— förmigen Hüften entſpringend, haben ſich armartig verlängert, die hinteren, deren Hüften feſt mit dem Bruſtbeine verwachſen, Schienen und Füße je ein rhombiſches Blatt darſtellend, ſind zu förmlichen Floſſen ge— worden. Die Fühler, obſchon zuſammen— geſetzt aus elf Gliedern, deren letztes ſo lang iſt, wie die ſieben vorhergehenden zu— ſammengenommen, erſcheinen doch als bloße Stümpfe. Höchſt eigenthümlich ſind die Augen gebildet, indem jedes von einem breiten Querſtreifen in eine obere und eine untere Partie getheilt wird, ſo daß der Käfer, wenn er umherſchwimmt, gleichzeitig unten in das Waſſer, oben in die Luft, wahrſcheinlich aber nicht in gerader Richtung mit dem Waſſerſpiegel ſchauen kann. . ..“ Die Käfer ſind bekannt durch die merk— ch ſo ziemlich würdigen Curven und Spiralen, welche ſie auf der Oberfläche beſchreiben und welche ſelbſtverſtändlich mit ihrem Gliederbau im innigſten Zuſammenhange ſtehen. Den Schwimmfäfern zunächſt im Körper— bau ähnlich, aber in der Bildung der Mundtheile und Fühler abweichend, iſt die Gruppe der Waſſerkäfer (Hydro- philidae). Bei dem pechſchwarzen Kolben-Waſſerkäf er (Hydrophilus pi- ceus) bildet die untere Körperhälfte in der Längsmitte einen ſehr deutlichen, ſcharfen Kiel, die obere eine gedrungene, glatt ge— wölbte Maſſe, der Adhäſion des Waſſers faſt vollkommen widerſtehend. Die Füße haben ſich an den vier hinteren Beinen ruderartig verbreitert und an der Innen— ſeite dicht bewimpert; Mittel- und Hinter- bruſtbein bilden einen gemeinſamen, flachen, ſtark gefurchten Kiel, welcher ſich in Form einer Lanzenſpitze über die Hinterhüften hinaus erſtreckt. „Intereſſant,“ jagt Taſchen— berg, „geſtalten ſich einige Verhältniſſe in der inneren Organiſation des Thieres. Eine bedeutend große, äußerſt dünnhäutige, ballonartige Luftröhrenblaſe auf der Grenze von Mittel- und Hinterleib iſt neben den übrigen, ſehr zahlreichen Ausdehnungen der Luftröhren geeignet, eine beträchtliche Menge Luft in den Körper aufzunehmen und zu— gleich als Schwimmblaſe zu dienen. Auch der Darmkanal, welcher dem der pflanzen- freſſenden Blätterhörner gleicht und ein langes, dünnes, in allen ſeinen Theile gleich— förmig gebildetes Rohr darſtellt, weicht weſentlich von dem der anderen Waſſerkäfer ab und weiſt auf Pflanzenkoſt hin.“ .. Auffallend complicirt iſt das Legegeſchäft, denn das Weibchen fertigt mittelſt Spinn— ſaft aus den Hinterleibsröhren ein ſeidenes Gehäuſe, in welches die Eier abgelegt werden, worauf der Verſchluß mit einem ebenartigen „Auf dieſen Deckel wird Deckel erfolgt. | 146 von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. | noch eine Spitze gefegt, die Fäden fließen von unten nach oben und wieder zurück und indem die folgenden immer länger wer— den, thürmt ſich die Spitze auf und wird zu einem etwas gekrümmten Hörnchen. In vier bis fünf Stunden iſt das Werk voll— endet und ſchaukelt, ein kleiner Nachen von eigenthümlicher Geſtalt, auf der Oberfläche zwiſchen den Blättern der Pflanzen. Wird er durch unſanfte Bewegungen der Wellen umgeſtürzt, jo richtet er ſich ſogleich wieder auf, mit dem ſchlauchartigen Ende nach oben, in Folge des Geſetzes der Schwere; denn hinten liegen die Eier, im vorderen Theile befindet ſich die Luft.“ Unter den Schnabelkerfen (Rhyn- chota, Hemiptera) haben ſich gewiſſe wanzenartige Thiere, die Waſſerwanzen (Hydrocores), dem Waſſerleben angepaßt. Den Uebergang von den Landwanzen zu den Waſſerwanzen bilden die Waſſerläufer (Hydrodromiei) welche in ihrer Körper— bildung den Landwanzen noch ganz nahe ſtehen und auf der Oberfläche des Waſſers leben. Die Uferläufer (Saldidae) leben ſogar nur am Waſſer, theils auf dem Sande des Ufers, theils auf den Waſſerpflanzen umherlaufend. Ihre Beine haben ziemlich dichtſtehende Wimperhaare, welche das Laufen an feuchter Oertlichkeit begünſtigen. Die Bachläufer (Velia) haben faſt gleich— große, nicht ſehr lange Beine und ge— drungenen, oben leiſtenartig erhobenen Hinter— leib: ſie laufen ſtoßweiſe auf dem Waſſer— ſpiegel und gern gegen den Strom. Sie leben, wie alle Waſſerwanzen, von Inſekten, welche ſie mit ihrem ſpitzen Rüſſel todt— ſtechen. Die übrigen Waſſerläufer (Hydro- metra und Limnobates) zeichnen ſich durch einen ſehr dünnen Körper aus; ſie haben lange Schreitbeine, von denen die vorderen oft verkürzt ſind und deren Fußglieder | durch den eigenthümlichen Gebrauch zum Theil rudimentär wurden oder wegfielen. Im Waſſer und nur zum Luftſchöpfen oder um auszufliegen an die Oberfläche kommend, leben noch die Waſſerſkorpionen (Nepa, Ranatra), Tangwanzen (Naucoris) und die Ruderwanzen (Notonectini). Von den Spinnen (Arachnoidea) hat ſich ein Glied aus der Familie der Sackſpinnen, wenn auch durchaus nicht in der Körpergeſtalt, ſo doch durch Erwer— bung eines beſonderen Vermögens, Luftvor— rath unter die Waſſerfläche mitnehmen zu können, dem Waſſerleben anbequemt. Dies iſt die gemeine Waſſerſpinne (Argy- roneta aquatica), deren Hinterleib mit einem „zarten Reif weißgrauer Sammet— haare“ überzogen iſt. Sie lebt faſt beſtän— dig im Waſſer und athmet durch Lungen— ſäcke und Luftröhren zugleich. Taſchen— berg ſagt: „Die ſchwimmende Spinne bietet einen überraſchenden Anblick, indem eine dünne Luftſchicht ihren Hinterleib um— gibt, welche wie eine Queckſilberblaſe er— glänzt und die Gegenwart der ihrer Kleinheit wegen ſonſt leicht zu überſehenden jungen Thierchen verräth. Dieſe Luftſchicht wird nicht blos von dem Sammetüberzug, wel— cher das Naßwerden der Haut verhindert, feſtgehalten, ſondern überdies noch durch eine Art von Firniß vom umgebenden Waſſer getrennt. Wenn unſere kleine Taucherin ein Neſt bauen will, ſo kommt ſie an die Oberfläche des Waſſers und von Reichenau, Das Thierreich, vom Geſichtspunkte der Anpaſſungsähnlichkeit. 147 reckt, auf dem Kopfe ſtehend, oder den Bauch nach oben gerichtet, die Spitze ihres Hinterleibes in die Luft, breitet die Spinnenwarzen auseinander und huſcht ſchnell wieder in das Waſſer. Auf dieſe Weiſe nimmt ſie unabhängig von dem Silberkleide des Hinterleibes eine kleinere oder größere, der Leibesſpitze anhängende Luftblaſe mit ſich hinab. Mit ihr ſchwimmt ſie an den Pflanzenſtengel, den ſie ſich vor— her als paſſendes Plätzchen für ihre Woh— nung auserkoren hatte und heftet dort die Blaſe an. Dies kann natürlich nur mittelſt des Spinnſtoffes geſchehen, welcher aus den Warzen als eine Art von Firniß hervordringt, mit den Hinterfüßen geordnet wird und die Luft der Blaſe vom Waſſer abſchließt, weil dieſe ſonſt ohne Weiteres wieder nach oben perlen würde. Hierauf wiederholt ſie ihr erſtes Verfahren, holt ſich eine zweite Luftblaſe, welche unten am Stengel durch die zweckmäßige Vergrößerung des ſie haltenden Fadennetzes mit der erſten vereinigt wird und fährt fort, bis allmählig die kleine Taucherglocke mit ihrer Oeffnung nach unten etwa in der Größe einer Wallnuß fertig iſt.“ „Das Weibchen legt ſeine Eier in eine Luftblaſe, welche es dann weiter umſpinnt und heftet dieſes etwas abgeplattet-kugelige Neſtchen an eine Waſſerpflanze oder hängt es in ſeiner Glocke auf.“ Alle übrigen Thierabtheilungen find a priori Waſſeranpaſſungen. Die Herrfhaft des Ceremoniels, Von Herbert Ehrenbezeugungen. > ewis und Clarke erzählen von einigen Schoſchonen, die fie 5 plötzlich überraſchten, unter An— 7 derem Folgendes: „Als die andern Beiden, eine ältere Frau und ein kleines Mädchen, ſahen, daß wir ſchon allzu nahe waren, um ihnen Zeit zur Flucht zu laſſen, ſetzten ſie ſich auf den Boden und ließen die Köpfe hängen, ganz als ob ſie bereits auf den Tod gefaßt wären, der ihrer, wie ſie beſtimmt glaubten, wartete. Dieſelbe Sitte, das Haupt zu ſenken und den Feind zum Zuſchlagen aufzufordern, wenn jede Möglichkeit des Entfliehens ge— ſchwunden iſt, hat ſich auch in Aegypten bis auf den heutigen Tag erhalten.“ Wir erkennen darin ein Streben, durch abſolute Unterwerfung zu verſöhnen, und aus den hierdurch veranlaßten Handlungen gehen die Ehrfurchtsbezeugungen hervor. Als ich im Anfang zur Beleuchtung der Thatſache, daß das Ceremoniell nicht Speneer. allein vor jeder ſocialen, ſondern ſogar vor der menſchlichen Entwickelung geherrſcht habe, das Benehmen eines kleinen Hundes er— wähnte, welcher ſich angeſichts eines ihm Furcht einflößenden großen Hundes auf den Rücken wirft, mag mancher Leſer gedacht haben, ich zöge hieraus eine ziemlich ge⸗ zwungene Folgerung. Die Sache wird aber in anderem Licht erſcheinen, wenn wir er— fahren, daß ein ähnliches Benehmen auch bei menſchlichen Weſen vorkommt. Living— ſtone beſchreibt uns die Begrüßung der Batoka mit den Worten: „Sie werfen ſich auf ihren Rücken zu Boden, und indem ſie von einer Seite zur andern rollen, klatſchen ſie auf die Außenſeite ihrer Schen— kel, um damit ihre Dankbarkeit und Will— komm auszudrücken.“ Mag die Annahme dieſer Stellung, welche gleichſam erklärt: „Du brauchſt mich nicht niederzuwerfen, ich liege ſchon zu Deinen Füßen,“ — mit Ab- ſicht zu dieſem Zwecke ausgedacht ſein oder nicht, jedenfalls iſt ſie das beſte Mittel, ſich vor Gewaltthat zu ſichern. Widerſtand ruft Feindſeligkeit hervor und erregt den Zerſtörungsſinn. Das ſtärkere Thier oder der ſtärkere Menſch wird weniger gefähr— PPP ˙0·¹ 1 a lich, wenn der ſchwächere Theil ſich von ſelbſt unterwirft, weil nun Nichts vorliegt, was die Sucht nach Sieg reizen könnte. Daraus erklärt ſich denn ganz natürlich die Entſtehung dieſer Unterthänigkeitsbezeug— ung durch Niederwerfen auf den Rücken, was wahrſcheinlich eher als jede andere Stellung eine Selbſtvertheidigung unmög— lich macht. Ich ſage wahrſcheinlich, weil ſich allerdings noch eine andere, ebenſo hülf— loſe Stellung anführen läßt, welche noch be— zeichnender vollſtändige Unterwerfung aus— drückt. „In Tonga-Tabu .. . bezeugen die gemeinen Leute ihrem großen Häupt— ling . . . die denkbar größte Ehrfurcht, in— dem ſie ſich vor ihm niederwerfen und ſeinen Fuß auf ihren Nacken ſetzen.“ Das— ſelbe kehrt in Afrika wieder. Laird ſagt, die Boten vom König von Fundah „beugten ſich alle nieder und ſetzten meinen Fuß auf ihren Kopf und beſtreuten ſich mit Staub.“ Und bei alten hiſtoriſchen Völ— kern galt dieſe Haltung, die offenbar durch Beſiegung in der Schlacht entſtanden war, durchweg für diejenige, die man als Aus— druck der Unterwürfigkeit anzunehmen pflegte. Von dieſen primären Ehrenbezeugungen, welche hiernach ſo genau wie nur möglich die Lage des Beſiegten unter dem Sieger nachahmen, ſtammen dann andere Formen ab, welche in mannigfaltiger Weiſe die Unterwerfung des Sclaven unter ſeinen Herrn ausdrücken: die letztere iſt ja auch die einfache Folge der erſteren. Im Orient wurde vor Alters eine ſolche Unterwerfung ausgeſprochen, z. B. als „Ben-hadad's Knechte ſich Sackleinwand um ihre Lenden gürteten und Stricke um den Kopf wanden und zum Könige von Iſrael kamen.“ In Peru, wo der kriegeriſche Organiſations— typus in ſo hohem Maße ausgebildet war, war es ein Zeichen der Demuth, wie uns RR Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 149 Garcilaſſo erzählt, mit gebundenen Händen und einem Strick um den Hals dazuſtehen; mit anderen Worten, man legte ſich ſelbſt diejenigen Feſſeln an, welche ur— ſprünglich den vom Schlachtfeld gebrachten Kriesgefangenen bezeichneten. Neben dieſer Form, ſich als Sclave darzuſtellen, war noch eine andere gebräuchlich bei der An— näherung an den Ynca: Die Unterwürfig— keit mußte dadurch bezeugt werden, daß man eine Laſt trug, und „dieſes Aufſich— nehmen einer Bürde, um vor das Ange— ſicht Atahuallpas zu treten, iſt eine Cere— monie, welche von all den Herren geübt werden mußte, die in jenem Lande herrſchten.“ Dieſe wenigen extremen Beiſpiele habe ich an den Anfang geſtellt, um daran die natürliche Entſtehung der Ehrenbezeugungen als eines Mittels, Gnade zu finden, dar— zuthun — zuerſt von Seiten eines Siegers und dann von Seiten eines Herrſchers. Eine völlig zutreffende Vorſtellung von der Ehrenbezeugung ſchließt jedoch noch ein an— deres Element in ſich. In dem einleiten— den Capitel iſt darauf hingewieſen worden, daß verſchiedene Anzeichen des Vergnügens, welche phyſio-pſychologiſchen Urſprungs ſind und in Gegenwart derjenigen zum Aus— druck kommen, für welche eine Zuneigung beſteht, in Höflichkeitsbezeugungen übergehen können, weil es eben den Menſchen ange— nehm iſt, ſich geliebt zu glauben, ihnen demnach ſolche Zeichen der Zuneigung Ver— gnügen bereiten. Während alſo das Stre— ben beſteht, einen Höhergeſtellten zu ver— ſöhnen, indem man ſeine Unterwerfung unter ihn ausdrückt, findet ſich allgemein das fernere Streben, ihn zu verſöhnen, in— dem man in ſeiner Gegenwart Freude an den Tag legt. Dieſe beiden Elemente der Ehrenbezeugungen wollen wir denn nun im Auge behalten, indem wir jetzt die ver— 150 ſchiedenartigen Erſcheinungen derſelben und ihre ſtaatliche, religiöſe und geſellſchaftliche Verwendung betrachten. Wenn auch mit dem Niederwerfen auf das Geſicht nicht das vollſtändige Aufgeben jeder Vertheidigung verbunden iſt, wie es das Niederwerfen auf den Rücken aus— ſpricht, ſo iſt es doch ausdrucksvoll genug, um es zum Zeichen tiefſter Unterwürfigkeit zu machen; und dem entſprechend finden wir es denn auch als Ehrenbezeugung faſt überall da, wo noch ungemilderter Despo— tismus und ſclaviſche Unterordnung herr— ſchen. Dieſe Sitte beſtand im alten Ame— rika, wo bei den Chibchas „die Leute vor dem Caziken nur erſcheinen durften, indem ſie ſich platt hinwarfen und mit dem Ge— ſicht den Boden berührten.“ So auch in Afrika, wo „ein Borghu-Mann, wenn er den König anredet, ſich ſo platt wie eine Flunder auf den Boden hinſtreckt und, den Staub küſſend, in dieſer Lage ver— bleibt, bis ſein Geſchäft mit ſeinem Herr— ſcher beendet iſt.“ Aſien giebt uns manche Beiſpiele: „Wenn ein Khand oder Panoo eine Bitte vorzubringen hat, ſo wirft er ſich auf ſein Angeſicht nieder, die Hände gefaltet und einen Büſchel Gras oder Stroh im Munde“; und während in Siam „alle Untergebenen vor den Edeln des Landes in ehrfurchtsvoller Niederwerfung verhar— ren, beobachten die Edeln ſelbſt in Gegen— wart des Herrſchers die gleiche kriechende Haltung.“ Aehnliches gilt für Polyneſien. Auf ſein Geſicht niederzufallen iſt ein Zeichen der Unterwürfigkeit bei den Sandwich-In— ſulanern; ſelbſt der König that dies vor Cook, als er dieſem zum erſten Mal be— gegnete. Und in der Geſchichte der alten hiſtoriſchen Völker tritt uns eine Fülle ent— ſprechender Belege entgegen; ſo z. B. wenn Mephiboſeth vor David auf ſein Angeſicht Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. fiel und ihm ſeine Ehrfurcht bezeugte; oder wenn der König von Bithynien vor dem römiſchen Senat ſich auf ſein Geſicht nieder— warf. In manchen Fällen wird die Be— deutung dieſer Lage des Beſiegten vor dem Sieger, welche alſo allgemein als Ausdruck vollſtändiger Unterwerfung dient, noch durch Wiederholung verſtärkt. Bootanu liefert ein Beiſpiel hierfür: „Sie . .. warfen ſich vor dem Rajah neunmal hinter einan— der nieder, was die ihm von ſeinen Unter— thanen gezollte Ehrenbezeugung iſt, ſo oft es ihnen geftattet wird, in feine Nähe zu kommen.“ Jede Art von Ceremonie zeigt die Neigung, durch Abkürzung ihr urſprüng— liches Weſen verdunkeln zu laſſen, und durch ſolche Abkürzung iſt auch dieſe tiefſte aller Ehrenbezeugungen zu einer minder tiefen geworden. Um eine Niederwerfung des ganzen Körpers auszuführen, muß man faſt mit Nothwendigkeit eine Stellung durchlaufen, in welcher der Körper auf den Knien ruht, während das Geſicht ſchon den Boden berührt, und noch mehr iſt beim Wiederaufſtehen das Anziehen der Knie die unumgängliche Vorbereitung, um den Kopf zu erheben und ſich auf den Füßen aufzurichten. Deshalb darf dieſe Stellung wohl als eine unvollſtändig aus— geführte Niederwerfung betrachtet werden. Dieſelbe iſt ſehr allgemein verbreitet. Bei den Völkern der Negerküſte „iſt es Brauch, daß ein Eingeborner, wenn er ſeinen Vor— geſetzten beſuchen geht, oder auch ihm zu— fällig begegnet, ſofort auf die Knie fällt und dreimal nach einander die Erde küßt, dann in die Hände klatſcht, ſeinem Herrn Guten Tag oder Gute Nacht zuruft und ihn beglückwünſcht.“ Laird erzählt uns, wie der König des Braß- Volkes, um feinen untergeordneten Rang zu bezeugen, niemals ei mit dem Könige der Ibos ſprach, „ohne auf ſeine Knie zu fallen und mit ſeinem Haupte den Boden zu berühren.“ In Embomma am Congo „befteht die Be— grüßung darin, daß man in die Hände klatſcht, und ein Untergebener wirft ſich zugleich auf die Knie nieder und küßt die Spange am Knöchel des Höheren.“ Oft wird die in dieſer Ceremonie liegende Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Erniedrigung noch dadurch verſtärkt, daß man auf die Berührung des Bodens mit der Stirn beſonderen Nachdruck legt. Am unteren Niger „werfen ſich die Männer zum Zeichen großer Ehrfurcht nieder und ſchlagen ihren Kopf gegen den Boden.“ Wenn in früheren Zeiten der Kaiſer von Rußland gekrönt wurde, ſo huldigten ihm die Adeligen, indem ſie „das Haupt nieder— beugten und damit zu ſeinen Füßen auf den bloßen Grund aufſchlugen.“ In China beſteht gegenwärtig von den acht an Unter— würfigkeit ſich ſteigernden Ehrenbezeugungen die fünfte im Niederknien und den Kopf auf den Boden Schlagen, die ſechſte im Nieder— knien und dreimal den Kopf Anſtoßen, was verdoppelt die ſiebente und verdreifacht die achte giebt; dieſe letztere wird aber nur dem Kaiſer und dem Himmel erwieſen. Vor Alters hatte bei den Juden eine Wiederholung ſolcher Art eine ähnliche Be— deutung. Indem ich daran erinnere, daß dieſe Ceremonie verſchiedentlich vorkommt, wie z. B. wenn Nathan „ſich vor dem Könige mit ſeinem Angeſicht bis zur Erde herunterbeugt“, oder wenn Abigail vor David und Ruth vor Boas daſſelbe thaten, füge ich die andere Stelle bei, daß „Jakob ſich ſiebenmal zur Erde niederbeugte, bis er zu ſeinem Bruder kam.“ Nach dem Vorhergehenden läßt ſich ſchon vorausſehen, daß dieſe Lage des Be— ſiegten, welche der Sclave vor 151 und der Unterthan vor ſeinem Herrſcher annimmt, auch den Verehrer vor ſeiner Gottheit charakteriſiren werde. Der Orient liefert uns aus Vergangenheit und Gegen— wart mannigfache Belege. Daß die voll— ſtändige Niederwerfung gebräuchlich war, mochte das zu verſöhnende Weſen ſichtbar oder unſichtbar ſein, erſehen wir aus der Aeußerung in den jüdiſchen Geſchichten, daß „Abraham auf ſein Angeſicht niederfiel“ vor Gott, als er den Bund mit ihm machte, aus dem Umſtand ferner, daß „Nebukadnezar auf ſein Angeſicht fiel und Daniel anbetete“, und daß, als Nebukad— nezar ein goldenes Bildniß aufſtellte, der Tod einem Jeden angedroht wurde, „der nicht niederfalle und es anbete“. Auch die unvollſtändige Niederwerfung vor den Königen kehrt der Gottheit gegenüber gleichermaßen wieder. Wenn ſie vor ihren Götzenbildern ihre Anbetung verrichten, ſo berühren die Mongolen die Erde dreimal mit der Stirne, die Kalmücken aber nur einmal. So pflegen auch die Japaneſen „in ihren Tempeln auf die Knie nieder zu fallen und langſam und mit großer De— muth das Haupt ganz bis auf den Boden herab zu neigen“. Und aus den Abbild— ungen von ihren Gottesdienſt verrichtenden Muhammedanern iſt Jedermann mit einer ähnlichen Stellung bekannt. Von der gänzlichen Niederwerfung auf den Rücken oder das Geſicht oder der halben Niederwerfung auf die Knie werden wir zu mehreren anderen Stellungen über— geleitet, welche jedoch alle darin überein— ſtimmen, daß ſie eine verhältnißmäßige Unfähigkeit zu jedem Widerſtand ausdrücken. In einzelnen Fällen iſt es geſtattet, dieſe Lage zu verändern, wie in Dahome, wo „die höchſten Beamten ebenſo vor dem ſeinem Herrn.] König liegen, wie die Römer auf dem 152 Triclinium. Von Zeit zu Zeit drehen fie ſich auf dem Bauche nach der andern Seite oder ſie erleichtern ſich die Sache, indem fie «auf allen Vierens ſtehen.“ Duran verſichert, daß „die kauernde Stellung . . . bei den Mexicanern ein Zeichen der Ehr— erbietung war, wie bei uns etwa das Beugen der Knie“. Unter den Neucaledo— niern gilt das Kriechen als Ausdruck der Ehrfurcht, ſo auch in Fidſchi und in Tahiti. Andere Abänderungen in Stellungen dieſer Art bedingt die Nothwendigkeit, ſich fortzubewegen. In Dahome „pflegen ſie, wenn ſie ſich dem Könige nähern, entweder gleich Schlangen zu kriechen oder auf ihren Knien vorwärts zu rutſchen“. Wenn die Siameſen vor einem Höhergeſtellten ihren Platz verändern müſſen, ſo „ſchleppen ſie ſich auf ihren Händen und Knien herum“. Aehnlich auch in Cambodſcha: „Wenn irgend Jemand der königlichen Perſon ſich zu nähern hatte, um ihr Etwas zu geben oder einem Rufe Folge zu leiſten, ſo ſchrieb die Cambodſchaniſche Etiquette, die Entfern— ung mochte noch ſo groß ſein, eine kriechende Vorwärtsbewegung auf Knien und Ellbogen vor.“ In Java muß ein Untergebener „mit auf die Ferſen niedergelaſſenem Hintern ſich entfernen, bis er ſeinem Vorgeſetzten aus dem Geſichte iſt“. Aehnliches iſt auch den Unterthanen eines Zulu-Königs vor— geſchrieben — ſogar ſeinen Weibern. Din— garn's Weiber ſagten, „ſo lange er im Hauſe weile, ſei es ihnen niemals geſtattet, aufzuſtehen, ſondern ſie müßten ſich be— ſtändig auf ihren Händen und Knien herumbewegen“. Und in Loango ſcheint die Ausdehnung dieſer Stellung auf den häuslichen Kreis nicht auf den Hof be— ſchränkt zu ſein: die Weiber im Allgemeinen „dürfen nicht anders mit ihnen (ihren Männern) ſprechen, als auf bloßen Knien, Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. und bei einer Begegnung mit ihnen müſſen ſie auf ihren Händen kriechen“. Ein be— nachbarter Staat liefert uns ein Beiſpiel für Abſtufungen in dieſen Formen theil— weiſer Niederwerfung und zugleich den Beweis, daß die Bedeutung dieſer Ab— ſtufungen wohl verſtanden wird. Burton erzählt nämlich, daß die „Dakro“, ein Weib, welches Botſchaften vom König von Dahome an den Meu überbringt, auf allen Vieren vor dem König erſcheint. „Der Regel nach geht ſie auch auf allen Vieren zum Meu: vor Niedrigerſtehenden aber kniet ſie nur, während dieſe vor ihr zu Vierfüßlern werden.“ Damit kommen wir von ungefähr zu einer ferneren Abkürzung der urſprünglichen Niederwerfung, aus welcher eine der am weiteſten verbreiteten Ehrenbezeugungen her— vorgeht. Wie wir von der ganz ausge— ſtreckten Lage zu derjenigen des muham— medaniſchen Beters mit die Erde berühren— der Stirne übergeleitet werden, ſo von dieſer zu der Stellung auf allen Vieren und von da durch Aufrichtung des Körpers zum einfachen Knien. Daß das Knien an zahlloſen Orten und zu allen Zeiten eine der Formen ſtaatlicher, häuslicher und reli— giöſer Ehrenbezeugung war und noch iſt, bedarf keines Beweiſes. Wir heben blos hervor, daß es überall in der Vergangen— heit wie in der Gegenwart mit deſpotiſcher Regierungsform verbunden erſcheint; ſo in Afrika, wo „ihre (der Dahomeaner) Kniee, weil ſie ſo fortwährend die Kniebeugung auf dem harten Boden ausführen, mit der Zeit faſt ſo hart werden, wie ihre Ferſen“; ſo in Japan, wo „die Beamten, wenn ſie das Angeſicht des Kaiſers verlaſſen, auf ihren Knien rückwärts hinausgehen;“ ſo in China, wo „die Kinder des Vice— königs . . . als fie an ihres Vaters Zelt vorbeigingen, auf die Kniee fielen und ſich mit nach der Erde gewendetem Geſicht drei— mal verbeugten“; und ſo auch im mittel alterlichen Europa, wo die Hörigen vor ihren Herren, die Vaſallen vor ihrem Suzerain knieten und noch im Jahre 1444 die Herzogin Iſabella von Burgund, als ſie die Königin beſuchte, während ihres Eintritts dreimal auf ihre Knie niederfiel. Ohne uns bei dem Uebergang vom ſich auf beide Kniee Niederlaſſen, zu dem auf einem Knie, was als weniger unter— thänige Stellung der völligen Aufrichtung ſchon näher kommt, aufhalten zu wollen, wird es genügen, mit einem Worte noch des Uebergangs vom Knien auf einem Knie zum bloßen Beugen der Kniee zu ge— denken. Daß dieſe Ceremonie in der That eine Abkürzung iſt, zeigen uns am beſten die Japaneſen: „Bei einer Begegnung bezeugen ſie ihre Ehrfurcht durch Beugen des Knies, und wenn ſie Jemand eine außergewöhnliche Eyre erweiſen wollen, jo ftügen ſie ſich auf das Knie und verbeugen ſich bis auf die Erde hinab. Dies wird jedoch in den Straßen nie gethan, wo ſie vielmehr nur eine Bewegung machen, als ob ſie nieder— knien wollten. Wenn ſie eine Perſon von Rang begrüßen, ſo beugen ſie ihre Knie ſo weit, daß ſie mit ihren Fingern den Boden berühren.“ Daſſelbe ſehen wir ebenſo gut oder noch beſſer in China, wo die dritte der wohlabgegrenzten Abſtufungen in den Ehren- bezeugungen erläutert wird als Beugen des Knies, während die vierte wirkliches Nieder— knien iſt. Es iſt einleuchtend, daß die Form, welche ſich unter uns bei dem einen Geſchlecht in Geſtalt des „Knixes“ forterhalten hat, und diejenige, welche bis vor kurzem dem andern Geſchlecht als „Kratzfuß“ bekannt Kosmos, Band II. Heft 2. Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 153 war (der in einem Rückwärtsſchleifen des rechten Fußes beſtand), alle beide nichts Anderes als die allmälig ſich verwiſchenden Reſte des auf einem Knie ſich Niederlaſſens darſtellen. Es bleibt nur noch die damit verbun⸗ dene Verbeugung des Körpers zu beſprechen. Iſt dieſelbe einerſeits die erſte Bewegung, welche durchlaufen werden muß, wenn eine vollſtändige Niederwerfung ausgeführt wer— den ſoll, ſo iſt ſie anderſeits auch die letzte Bewegung, welche noch fortbeſteht, wenn die Niederwerfung Stück um Stück be- ſchnitten wird. An vielen Orten finden wir Hindeutungen auf dieſen Umbildungs— prozeß. „Bei den Sooſoos pflegen ſelbſt die Frauen eines vornehmen Mannes, wenn ſie mit ihm ſprechen, ſich mit dem Körper zu verbeugen und eine Hand auf jedes Knie zu legen; daſſelbe geſchieht, wenn er vorübergeht.“ Hat man in Samoa „ein Zimmer zu paſſiren, in dem ein Häuptling ſitzt, ſo gilt es für unehrerbietig, aufrecht hindurchzugehen: man muß die ganze Zeit mit tief verbeugtem Körper gehen“. Von den alten Mexicanern, welche bei einer Ver- ſammlung ſich vor ihrem Häuptling duckten, leſen wir, daß, „wenn ſie ſich zurückzogen, dies nur mit geſenktem Haupte geſchehen durfte“. Und endlich finden wir in dem ſchon oben citirten chineſiſchen Ceremonien— ritual, daß die Ehrenbezeugung Nummer zwei, weniger demüthig als das Beugen des Knies, in einer tiefen Verbeugung mit gefalteten Händen beſtand. Vergegenwär— tigen wir uns ſolche Thatſachen und be— denken wir, daß es zwiſchen dem unter- würfigen Salaam des Hindu, der tiefen Verbeugung, welche in Europa große Ehr— furcht bezeugt, und der ſchwachen Neigung des Kopfes als Ausdruck der Achtung ganz unmerkliche Uebergänge giebt, ſo können wir 20 Er, 154 auch nicht bezweifeln, daß ſelbſt das ver— trauliche und manchmal kaum wahrnehmbare Kopfnicken nichts Anderes iſt, als die letzte Spur der urſprünglichen Niederwerfung. Dieſe verſchiedenen Abkürzungen, welche wir eintreten ſehen, wo es ſich um Er— weiſung ſtaatlicher und geſellſchaftlicher Ehren handelt, kommen ebenſo auch bei den reli— giöſen Ehrenbezeugungen vor. So erzählt uns Baſtian von den Congo-Negern: wenn fie mit einem Höhergeſtellten zu ſprechen haben, jo... „knieen fie nieder, wenden das Geſicht halb auf die Seite und ſtrecken die Hände gegen die angeredete Perſon aus, um ſie bei jeder neuen An— rede zuſammenzuſchlagen. Sie hätten ſo geradezu den ägyptiſchen Prieſtern Modell ſitzen können, als dieſe ihre Darſtellungen auf den Wänden ihrer Tempel machten, ſo treffend iſt die Aehnlichkeit zwiſchen dem, was dort abgemalt iſt und dem, was hier thatſächlich vor ſich geht.“ — Und ähnliche Analogien könnten wir den europäiſchen Reli— gionsgebräuchen entnehmen. Da haben wir das Niederſinken auf beide Kniee, auf ein Knie und all die Verbeugungen und Ver— neigungen in gewiſſen Ceremonien und beim Ausſprechen des Namens Chriſtus. Wie bereits erläutert wurde, iſt die vollſtändige Ehrenbezeugung ein Akt, in dem ſich nicht nur Unterwürfigkeit, ſondern auch eine gewiſſe Befriedigung ausſpricht. Um den Höheren auf möglichſt wirkſame Weiſe zu verſöhnen, muß zu gleicher Zeit ausgedrückt werden: „Ich bin dein Sclave“ und — „Ich liebe Dich“. noch andere Belege. der König von Karague „bis auf ſeinen Einzelne der oben citirten Beiſpiele haben bereits die Vereinigung dieſer beiden Faktoren erkennen laſſen. Wie wir dort ſahen, pflegen die Batoka, wenn ſie die Lage ergebenſter Unterthänigkeit annehmen, zugleich mit ihren Händen in rhythmiſchen Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Schlägen auf die Schenkel zu klatſchen. In anderen der aufgezählten Fälle wurde das in die Hände Klatſchen, was gleichfalls Freude andeutet, als eine in Afrika den Aus— druck der Unterwürfigkeit begleitende Ceremo— nie beſchrieben; und viele ähnliche könnten noch beigefügt werden. Von den Adligen, welche ſich dem König von Loango nähern, er— zählt Aſtley: „Sie klatſchen zwei oder dreimal in die Hände und werfen ſich dann zu ſeiner Majeſtät Füßen in den Sand, indem ſie darin zum Zeichen ihrer Ergeben— heit hin und her rollen!“ und Speke berichtet, wie die Diener des Königs von Uganda „ſich in einer Reihe auf den Bauch warfen und gleich Fiſchen ſich ſchlän— gelten; . . . . und während ſie fortfuhren, ſich hin und her zu wälzen, ſchlugen ſie mit ihren Beinen um ſich, rieben ihre Ge— ſichter und patſchten mit den Händen auf den Boden.“ Wenn die Balonda vor ihrem Vorgeſetzten auf die Kniee fallen „ſo ſetzen ſie die Begrüßung durch Klatſchen mit den Händen fort, bis die Großen vorübergegangen ſind;“ und ein gleicher Gebrauch der Hände findet ſich in Dahome. — Noch eine andere rhythmiſche Beweg— ung von gleicher Bedeutung muß erwähnt werden. Wir ſahen bereits, daß das Hüpfen als natürlicher Ausdruck der Freude bei den Feuerländern für eine freundſchaft— liche Begrüßung gilt und daß daſſelbe als Zeichen der Ehrerbietung gegen den König in Loango wiederkehrt. Afrika giebt aber Grant erzählt, daß Kopf ganz verdeckt im Thorweg ſeiner größten Hütte ſaß und die Begrüßungen ſeiner Leute entgegennahm, welche einer nach dem andern aufſchrien und vor ihn hin ſprangen, indem ſie ihm Treue ſchwu— ren.“ Man denke ſich nun ſolche hüpfende Bewegungen allmälig etwas mehr geregelt, wie ſie es höchſt wahrſcheinlich im Laufe der Entwickelung werden und ſie ſind zu dem Tanz geworden, mit dem ſo oft ein Herrſcher begrüßt wird; ſo in dem oben erwähnten Beiſpiel vom Könige von Bo— gota, ſo auch in dem Falle, deſſen Williams in ſeinem Bericht über Fidſchi gedenkt, wo ein niederer Häuptling und ſein Gefolge, wenn ſie vor des Königs Angeſicht traten, „einen Tanz ausführten, welcher damit endigte, daß fie dem Somo-ſomo-König ihre Keulen und ihre Oberkleider zum Geſchenk machten.“ Von den übrigen vorgeblichen Zeichen freudiger Erregung, welche gewöhnlich einen Beſtandtheil der Ehrenbezeugung bilden, iſt das Küſſen am auffälligſten. Daſſelbe muß natürlich Formen annehmen, die ſich mit der demüthigen Niederwerfung oder ähnlichen Stellungen vertragen. In der That finden wir auch, wie ſchon aus eini— gen früheren Beiſpielen erſichtlich war, das Küſſen der bloßen Erde, wo man nicht nahe genug an den Höheren herankommen kann oder darf, um ſeine Füße oder ſeine Kleidung zu küſſen. noch beigefügt. „In Eboe herrſcht die Sitte, daß die vornehmen Leute, wenn der König ausgeht, und ebenſo gut auch inner- halb des Hauſes, auf die Erde niederknieen und fie dreimal küſſen, während er vor⸗ und als die Geſandten der übergeht;“ alten Mexicaner zu Cortez kamen, „be— rührten ſie erſt den Boden mit den Händen Dies galt im und küßten ihn dann.“ alten Orient für ein Zeichen der Unterwerf— ung des Beſiegten unter den Sieger; ja es wird berichtet, dies ſei ſo weit getrieben worden, daß man ſelbſt die Fußtapfen des Pferdes eines Siegers küßte. Abyſſinien, wo ein extremer Despotismus herrſcht und Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Einige andere ſeien 155 | die Ehrenbezeugungen ſehr kriechend find, bietet uns eine andere Modification. In Schoa iſt es ein Zeichen der Ehrfurcht und Dankbarkeit, das nächſte beſte unbe— lebte Ding, das einem Höheren oder einem Wohlthäter gehört, zu küſſen. — Von dieſen Formen gehen wir zum Lecken und Küſſen der Füße über. Drury erzählt uns, daß das Belecken der Knie unter den Malagaſſen für ein Zeichen der Ehr— erbietung gilt, jedoch nicht eine ſo tiefe Erniedrigung andeutet, wie das Belecken der Füße; und indem er die Rückkehr eines malagaſſiſchen Häuptlings aus dem Kriege beſchreibt, macht er die Bemerkung: „Er hatte ſich kaum vor ſeiner Thüre nie— dergeſetzt, als ſein Weib auf Händen und Knien kriechend herauskam, bis ſie zu ihm gelangte, worauf ſie ſeine Füße leckte; als ſie dies gethan, wurde daſſelbe von ſeiner Mutter wiederholt, und alle Weiber in der ganzen Stadt begrüßten ihre Männer auf die gleiche Weiſe.“ Sclaven u. ſ. w. übten daſſelbe ihren Herren gegenüber. So im alten Peru, wo ſchrankenloſe Unterord— nung herrſchte: „Wenn die Häuptlinge vor ihn (Atahuallpa) traten, erwieſen ſie ihm große Ehren, indem ſie ihm Füße und Hände küßten.“ Und daß dieſe höchſte Huldigungsform im Orient allgemeiner Brauch war und noch iſt, wird durch viele Thatſachen bewieſen. In den aſſpriſchen Urkunden erwähnt Sanherib, daß Men— ſchen von Samaria heraufkamen, um ihm Geſchenke zu bringen und ſeine Füße zu küſſen. „Seine Füße zu küſſen“ gehörte mit zu der Verehrung, welche Chriſto von jenem Weibe mit der Büchſe voll Salbe gezollt wurde; und daß das „ihn bei den Füßen Faſſen“ von Seiten der Maria Magdalena, was ſich unzweifelhaft mit Küſſen derſelben verband, nichts Außerge— 156 wöhnliches war, erſehen wir aus der Schil— derung einer ähnlichen Handlung von Seiten des ſunamitiſchen Weibes gegen Eliſa. Heutigen Tages noch küſſen bei den Ara— bern Untergebene die Füße, die Knie oder die Kleider ihrer Vorgeſetzten. Dem Schah und dem Sultan die Füße zu küſſen, iſt gegen— wärtig eine in Perſien und der Türkei übliche Ehrenbezeugung; und Sir R. K. Porter erzählt, wie ein Perſer aus Erkenntlichkeit für ein Geſchenk „ſich auf den Boden warf, meine Knie und Füße küßte und vor Freu— den ſo laut weinte, daß der Ausdruck ſeines Dankes dadurch erſtickt wurde.“ Das Küſſen der Hand iſt ein viel weniger demüthigender Brauch als das Küſſen der Füße, weil es eine minder voll— ſtändige Niederwerfung nöthig macht. Dieſer Unterſchied in der Bedeutung wird in weit von einander entfernten Ländern anerkannt. Wenn in Tonga Jemand einen höherge— ſtellten Verwandten begrüßt, ſo küßt er der Perſon die Hand, iſt es aber eine ſehr hoch— ſtehende Perſon, ſo küßt er ihr die Füße.“ Und d' Arvieux berichtet, daß die Frauen, welche den arabiſchen Prinzeſſinnen zu dienen haben, ihnen die Hände küſſen, wenn dieſe ihnen die Gunſt erweiſen, ſie nicht die Füße oder den Saum des Gewan— des küſſen zu laſſen. Ueberhaupt iſt dieſer Brauch als Ausdruck liebender Unterwerf— ung ſo allgemein verbreitet, daß jedes weitere Beiſpiel überflüſſig wäre. Was bedeutet es aber, wenn die eine Verbeugung machende Perſon, ftatt des Andern Hand zu küſſen, die eigene küßt? Iſt das eine das Symbol des andern und etwa ſo gemeint, daß es die unter den vorliegenden Umſtänden größtmögliche An— näherung an jenes iſt? Es ſcheint dies ein etwas gewagter Schluß zu ſein; aber mehrere Zeugniſſe ſprechen dafür. So ſagt Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. d'Arvieux in einer von Prof. Paxton citirten Stelle: Ein Orientale erweiſt einer Perſon von höherer Stellung ſeine Ehrfurcht, indem er ihre Hand küßt und dieſelbe an ſeine Stirne führt; iſt aber der Vornehme in herablaſſender Stimmung, ſo zieht er ſeine Hand weg, ſobald der Andere ſie berührt hat; dann legt der Untergebene ſeine eigenen Finger an die Lippen und nachher an ſeine Stirne“. Dies macht es meiner Anſicht nach unzweifelhaft, daß die verbreitete Sitte, einem Andern eine Kuß— hand zuzuwerfen, urſprünglich den Wunſch oder die Geneigtheit ausdrückte, ſeine Hand zu küſſen. Die Uebertragung aller dieſer Ceremonien von den lebenden Gebieten auf die Manen Verſtorbener, auf Götter, Heilige und deren Statuen iſt unmittelbar naheliegend. Clavigero ſchildert uns die mexica— niſche Ceremonie der Eidesleiſtung und ſagt: „Indem ſie dann den höchſten Gott oder irgend einen andern, den fie ganz be— ſonders verehrten, anriefen, küßten ſie ihre eigenen Hände, nachdem ſie damit die Erde berührt hatten.“ In Peru wurde dieſer Brauch noch mehr abgekürzt, indem der zu küſſende Gegenſtand ganz wegfiel. D' Acoſta ſagt: „Die Anbetung der Götter beſtand darin, daß man die Hände ausbreitete, mit den Lippen ein ſchwaches Geräuſch machte, als ob man küſſen wollte, und ſie dann frug, was ſie wünſchten, indem man zu gleicher Zeit das Opfer darbrachte“; und Garcilaſſo, welcher der Libation einiger Tropfen gedenkt, die bei einer gewöhnlichen Mahlzeit vor dem Genuß des Trankes der Sonne geſpendet wird, fügt hinzu: „Zu gleicher Zeit küßten ſie die Luft zwei- oder dreimal, was . . . bei dieſen Indianern für ein Zeichen der Verehrung gilt.“ Endlich ſtellen auch tanzende Bewegun— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. gen, die, wie wir geſehen haben, an ſich ein natürlicher Ausdruck der Freude, zum Höflichkeitsbeweis vor einem ſichtbaren Herr— ſcher werden, ſpäterhin gleichfalls eine Ver— ehrungsform des unſichtbaren Herrſchers dar. Als Beiſpiel nenne ich nur das Tanzen Da— vids vor der Bundeslade; und bei den Grie— chen war das Tanzen ſogar urfprünglih eine religiöſe Ceremonie: von den älteſten Zeiten an war die „Verehrung Apollo's mit einem religiöſen Tanz, Hyporchema ge— nannt, verbunden“. Dann finden wir den Bericht, daß König Pipin „gleich König David, ſeines königlichen Purpurs ver— geſſend, in ſeiner Freude die koſtbaren Ge— wänder mit Thränen benetzte und vor den Reliquien des heiligen Märtyrers hertanzte.“ Und endlich wiſſen wir, daß im ganzen Mittelalter religiöſe Tänze in den Kirchen gebräuchlich waren. Um eine andere Reihe von verwandten Gebräuchen erklären zu können, müſſen wir auf die Niederwerfung in ihrer urſprüng— lichſeen Form zurückgehen. Die Menſchen können nicht vor ihrem Könige ſich im Sande wälzen oder wiederholt ihren Kopf gegen die Erde ſchlagen oder vor ihm krie— chen, ohne ſich ſelbſt zu beſchmutzen. In Folge deſſen wird der hängengebliebene Staub oder die Erde als begleitendes Merk- zeichen der Unterwerfung anerkannt, woraus ſich der Brauch entwickelt, dieſe Betäubung | willkürlich auf ſich zu nehmen und im eif— rigen Beſtreben nach Begütigung dieſelbe abſichtlich noch größer zu machen. Die Verbindung dieſes Brauches mit dem Act der Niederwerfung iſt uns bereits gelegent— lich bei einigen Fällen aus Afrika entgegen— getreten, und Afrika liefert noch andere deutliche Beiſpiele. „In den Congo-Län— dern,“ ſagt Burton, „wirft man ſich vor jedem Banza oder Dorfhäuptling nieder, die 159 Erde wird gefüßt und Staub auf Stirn und Arme geſtreut.“ Und derſelbe erzählt uns, daß die Dahomeaniſche Begrüßung aus zwei Handlüngen beſtehe: ſich nieder— zuwerfen und Sand oder Erde auf das Haupt zu ſtreuen. Ebenſo leſen wir, daß „ſie (das Kakanda-Volk am Niger) ſich bei der Begrüßung eines Fremden beinah bis auf die Erde bücken und mehrmals Staub auf ihre Stirne ſtreuen.“ Und indem Li— vingſtone die peinliche Genauigkeit ſchil— dert, welche die Balonda in ihren Sitten zur Schau tragen, ſagt er: „Wenn die Untergebenen auf der Straße ihren Oberen begegnen, ſo fallen ſie ſofort auf die Kniee und reiben Staub auf ihre Arme und Bruſt. Während einer Anrede an eine Reſpect verlangende Perſon griff der Sprechende alle zwei oder drei Secunden ein wenig Sand von der Erde auf und rieb ſich die Oberſeite ſeiner Arme und ſeiner Bruſt damit ein . . . Wenn ſie aber ganz außerordentlich höflich ſein wollen, ſo bringen fie eine Maſſe Aſche oder Pfeifen- thon in einem Stück Haut herbei, nehmen ganze Hände voll davon und reiben ſich damit die Bruſt und die Vorderſeite ihres Oberarmes ein.“ Ueberdies können wir beobachten, daß hier ſo gut wie in allen andern Fällen die Ceremonie allmälig einer Abkürzung unter— liegt. Von denſelben Balonda berichtet Li- vingſtone: „Die Häuptlinge führen das Manöver, ſich Sand auf die Arme zu reiben, ebenfalls aus, aber indem ſie blos thun, als ob ſie etwas Sand aufhöben.“ Und am untern Niger bedecken ſich die Leute lihre Köpfe], wenn ſie ihre Niederwerfungen ausführen, wiederholt mit Sand oder we— nigſtens machen ſie alle die Bewegungen, als ob ſie ſolches thäten. Sobald eine Frau eine ihrer Bekannten bemerkt, kniet ſie ſo— 158 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. fort nieder und thut, als ob ſie abwechſelnd chen bis zum äußerſten Extrem gingen, Sand auf jeden Arm ſtreute.“ Daß dieſe Ceremonie auch in Aſien in der gleichen Abſicht befolgt wurde und noch wird, iſt ebenfalls klar. So wurde ſie als Ausdruck der ſtaatlichen Demüthigung von den Prie- ſtern beobachtet, welche, als ſie Florus um Schonung für die Juden anzuflehen kamen, „Staub in großer Maſſe auf ihre Häupter geſtreut hatten und die Bruſt mit nichts als zerriſſenen Fetzen bedeckt zeigten.“ Und in der Türkei kann man noch heutzutage Zeuge dieſes Brauches in abgekürzter Form ſein. Bei einer Truppenrevue pflegen ſelbſt die zu Pferde ſitzenden Officiere, indem ſie ihre Vorgeſetzten begrüßen, „der Form nach die Vorſchrift zu erfüllen, ſich Staub aufs Haupt zu ſtreuen“, und wenn gewöhnliche Leute eine Carawane von Pilgern auf— brechen ſehen, ſo „machen ſie wenigſtens die Geberde, als ob ſie Staub auf ihren Kopf würfen.“ Die Urkunden der Hebräer beweiſen, daß dieſes vor ſichtbaren Perſonen übliche Zeichen der Unterwerfung auch vor unſicht— baren Perſonen gemacht wurde. Mit den andern Begräbniß-Ceremonien verband ſich auch das Beſtreuen des Hauptes mit Aſche. Daſſelbe wurde aber auch gethan, um die Gottheit zu verſöhnen, wie denn z. B. „Joſua ſeine Kleider zerriß und vor der Lade des Herrn auf ſein Angeſicht zur Erde niederfiel bis zum Abend, er und die Aelteſten von Iſrael, und ſie ſtreuten Staub auf ihre Häupter.“ Auch heute noch kommt ein ähnlicher Gebrauch unter den Katholiken bei Gelegenheit ganz be ſonderer Demüthigung vor. Eine ähnliche Ableitung geſtattet auch die Ceremonie des Händefaltens. Aus den Gebräuchen eines Volkes, bei welchem die Unterwürfigkeit und alle Zeichen einer ſol— vollzogen wird. wurde bereits ein Beiſpiel herausgegriffen, welches die natürliche Entſtehung dieſer Halt— ung andeutet. Im alten Peru galt es für ein Zeichen demüthiger Unordnung, mit ge— bundenen Händen und einem Strick um den Hals zu erſcheinen, d. h. der Zuſtand von Kriegsgefangenen wurde nachgeahmt. Als der König von Uganda den Beſuch der Capitäne Speke und Grant erwiderte, „ſaßen ſeine Brüder, eine ganze Bande kleiner Spitzbuben, einige mit Handſchellen, hinter ihm. . . . Es wurde erzählt, der König ſei, bevor er auf den Thron kam, ſtets in Eiſen gefeſſelt herumgegangen, wie dies jetzt ſeinen kleinen Brüdern widerfährt.“ Und von den Chineſen andrerſeits erzählt uns Doolittle, daß „am dritten Tage nach der Geburt eines Kindes . . . die Ce— remonie der Feſſelung ſeiner Handgelenke . . . Dieſe Dinger werden getragen, bis das Kind vierzehn Tage alt iſt . . . manchmal aber auch . . . mehrere Monate oder ſogar ein Jahr lang . . . Sie glauben, ein derartiges Binden der Hände ſei geeignet, das Kind davor zu bewahren, daß es in ſeinem ſpätern Leben ſtreitſüchtig werde.“ Solche Hinweiſe auf den Urſprung des Brauches, verbunden mit ſolchen Beiſpielen davon abgeleiteter Sitten, drängen uns zu dem Schluſſe, daß das Erheben der gefal— teten Hände als Theil jener primitiven Ehrenbezeugung, welche abſolute Unterwür— figkeit ausdrücken ſoll, in der That ein Dar— bieten der Hände war, auf daß ſie gebun— den werden könnten. Die oben beſchriebene Haltung des Khonds zeigt uns den Act in ſeiner ur— ſprünglichen Form; und wenn wir dann bei Huc leſen, daß „der mongoliſche Jäger uns begrüßte, indem er ſeine gefalteten Hände zur Stirne erhob,“ oder bei Drury, vornehmen Manne nähern, die Hände in bittender Weiſe emporhalten, ſo können wir nicht bezweifeln, daß dieſe Haltung der Hände jetzt Ehrfurcht ausdrückt, weil ſie Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. daß die Malagaſſen, wenn ſie ſich einem urſprünglich Unterwerfung bezeichnete. Von den Siameſen, die in ihren ſtaatlichen Ver- hältniſſen jo gedrückt und in ihren Gebräu- chen jo ſervil find, ſagt La Soubere: „Wenn Du Deine Hand einem Siameſen entgegenſtreckſt, um ſie in die ſeinige zu legen, ſo drückt er ſeine beiden Hände in die Deine, als ob er ſich ganz und gar in Deine Gewalt geben wolle.“ Daß aber das Darbieten beider Hände die hier aus- geſprochene Bedeutung hat, ergibt ſich aus anderweitigen Belegen. In Unyanynembe: „wenn Zwei von ihnen einander be— gegnen, ſo legt der Wezee ſeine beiden Hände mit der Innenfläche zuſammen und dieſe werden dann von dem Watuſi (einem Angehörigen einer mächtigeren Race) ſanft gedrückt;“ und in Sumatra „beſteht die Be— grüßung in einer Verbeugung des Körpers, wobei zugleich der Untergebene ſeine gefal— teten Hände zwiſchen diejenigen des Höher— geſtellten legt und dieſelben hierauf zu ſeiner Stirne emporhebt.“ Dieſe Beiſpiele er- innern uns daran, daß ein ähnlicher Act früher in Europa als Unterwürfigkeitszeichen galt. Wenn der Vaſall ſeinem Lehensherrn huldigte, ſo ſank er auf die Kniee und legte ſeine gefalteten Hände zwiſchen diejenigen des Letzteren. Wie hier abermals eine als Ausdruck ſtaatlicher Unterordnung dienende Haltung zur religiöſen Verehrungsform wird, braucht kaum noch erörtert zu werden. Wir finden im Orient beim mahommedaniſchen Anbeter dasſelbe Falten der Hände über dem Haupte, was, wie wir geſehen haben, ebendaſelbſt 159 Ehrfurcht vor einem lebenden Oberherrn bezeugt. Bei den Griechen „werden die olympiſchen Götter in aufrechter Stellung mit erhobenen Händen angebetet, die Mee— resgötter mit horizontal, die Götter des Tartarus mit nach unten gehaltenen Händen. Und das Erheben der mit einander zuge— wendeten Flächen gefalteten Hände, was vormals in ganz Europa von dem gemeinen Manne verlangt wurde, wenn er einen Vor— nehmen ſeines Gehorſams verſichern wollte, lehrt man bei uns noch den Kindern als Haltung beim Gebet. Ebenſowenig darf zu bemerken unter— laſſen werden, daß ein ähnlicher Gebrauch der Hände ſelbſt in den alltäglichen geſell— ſchaftlichen Verkehr herabſteigt. Der Zu— ſammenhang läßt ſich im fernen Oſten noch heute deutlich verfolgen. „Wenn die Sia— meſen einander begrüßen, ſo falten ſie die Hände und erheben ſie vor's Geſicht oder über den Kopf.“ Die erſte und am we— nigſten unterthänige unter den acht Ab— ſtufungen der Ehrenbezeugungen in China beſteht darin, die Hände zuſammenzulegen und vor die Bruſt zu erheben. Selbſt bei uns laſſen ſich noch Reſte dieſer Form er— kennen. An einem gefälligen Ladendiener oder einem übereifrigen Wirth kann man gelegentlich beobachten, wie er die etwas er— hobenen Hände zuſammenlegt und loſe gegen einander reibt, in einer Weiſe, die wohl die Vermuthung über die Herkunft von jenem primitiven Zeichen des Gehorſams er— wecken kann. Im Anſchluß hieran kommt eine andere Gruppe von Ehrenbezeugungen, die etwas verſchiedenen, wenn auch verwandten Ur— ſprungs iſt, zur Behandlung. Die bisher beſprochenen beeinflußen die Kleidung des Unterworfenen nicht direkt; aber gerade aus den Veränderungen der Kleidung, ſei es in 160 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. ihrer Anordnung, Beſchaffenheit oder Art, entſpringt gleichfalls eine ganze Reihe cere— monieller Gebräuche. Der Beſiegte, vor ſeinem Beſieger in den Staub hingeſtreckt und ſelbſt ſein Eigen— thum geworden, verliert natürlich zugleich den Beſitz alles deſſen, was er an ſich trägt. Der geringere Verluſt ſeines Eigenthums iſt an den größern ſeiner eigenen Perſon ge— knüpft, und ſo liefert er nicht nur ſeine Waffen aus, ſondern gibt auch dem Sieger, wenn er es verlangt, jedes Stück ſeiner Kleidung hin, daß des Nehmens werth iſt, während letzterer dieſe Dinge oft aus demſel— ben Grunde ſich aneignet, weshalb er auch die Waffen nimmt: denn da das Gewand manchmal die Haut eines grimmigen Thieres oder ein mit Trophäen verzierter Mantel iſt, liefert es gleich den Waffen eine neue Zugabe zu den Beweiſen ſeiner Tapferkeit. Auf jeden Fall iſt es klar, daß, auf wel— chem beſonderen Wege auch der Gebrauch entſtanden ſein mag, einem Beſiegten ſeine Kleider zu nehmen, die theilweiſe oder voll— ſtändige Nacktheit des Kriegsgefangenen die Zeugniſſe für ſeine Unterjochung bekräftigt. Daß dies die vor Alters im Orient herr— ſchende Anſchauung war, erſehen wir aus deutlichen Beweiſen. In Jeſaias, Cap. XX 2—4 leſen wir: „Da ſprach der Herr: Gleichwie mein Knecht Jeſaia nackend und barfuß geht, drei Jahre lang zum Zeichen .. . alſo wird der König zu Aſſyrien hintreiben das gefangene Aegypten und das vertriebene Mohrenland, beides Jung und Alt, nackend und barfuß.“ Auch fehlt es nicht an Zeugniſſen von andern Raſſen, daß die Wegnahme und die Hin— gabe der Kleidung dem entſprechend zum Zeichen ſtaatlicher Unterwerfung und in einigen Fällen ſogar zum Höflichkeitsgebrauch geworden iſt. In Fidſchi, an dem für die “ Bezahlung des Tributs feſtgeſetzten Tage „ſtreifte der Häuptling von Somo-Somo zuerſt ſeine Gewänder ab, ſetzte ſich dann nieder und löſte ſogar die Schleppe oder die Decke, welche von ungeheurer Länge war, von ſeinem Leibe. Er gab ſie dem Sprecher hin, welcher ihm dafür ein Stück überreichte, das nur eben groß genug war, um die Blöße zu bedecken. Alle übrigen Somo-Somo⸗-Häuptlinge, welche ſämmtlich, wenn ſie auf den Platz traten, eine Schleppe von mehreren Ellen Länge hatten, entkleideten ſich vollſtändig, ließen auch ihre Schleppen zurück und gingen hinweg . . . indem fie alſo nackend das ganze Somo-Somo Volk verließen.“ Ferner leſen wir, daß während Cook's Aufenthalt auf Tahiti zwei Männer von höherem Range „an Bord kamen und ſich Jeder feinen beſondern Freund auswählten ... Dieſe Ceremonie beſtand darin, daß ſie einen großen Theil ihrer Kleider ſich ab— nahmen und ſie uns umhingen.“ Auf einer andern polyneſiſchen Inſel, Samoa, finden wir ſodann dieſen Höflichkeitsact er— heblich abgekürzt: blos der Gürtel wird abgenommen und als Geſchenk überreicht. Wenn wir ſolche Thatſachen als Schlüſſel verwenden, ſo kann kaum ein Zweifel da— ran beſtehen, daß dieſe Auslieferung des Gewandes es iſt, woraus jene, in mehr oder weniger weit gehender Entblößung des Körpers beſtehenden, Ehrenbezeugungen ent— ſtanden ſind. Wir finden alle möglichen Grade der Entblößung, die überall in gleichem Sinne aufgefaßt wird. Aus Ibn Batula's Bericht über ſeine Reiſe nach dem Sudan im vierzehnten Jahrhundert citirt Herr Tylor die Stelle, daß „Frauen nur in unbekleidetem Zuſtand vor das An— geſicht des Sultans von Melli treten dürfen und ſelbſt des Sultans eigne Töchter ſich dieſer Sitte fügen müſſen;“ und wenn wir natürlich doch noch erhebliche Zweifel hin— ſichtlich der Exiſtenz einer ſolchen Ehren— bezeugung hegen, welche dergeſtalt bis zu ihrem urſprünglichen Extrem getrieben wird, ſo heben ſich auch dieſe, wenn wir in Speke leſen, daß heutigen Tages noch am Hofe von Uganda „ſplitternackte aus— gewachſene Frauen als Diener fungiren.“ Andere Theile von Afrika zeigen uns un— vollſtändige, wenngleich immer noch ſehr erhebliche Entkleidung als Ehrenbezeugung. In Abyſſinien müſſen die Untergebenen in Gegenwart ihrer Oberen den Körper bis auf den Gürtel herab entblößen; „ſolchen gleichen Ranges gegenüber jedoch wird blos der Zipfel des Kleides für kurze Zeit ge— lüftet.“ Daſſelbe kehrt in Polyneſien wieder. Die Tahitier entkleiden „den Körper bis zu den Lenden in Gegenwart des Königs“, und Forſter berichtet, daß auf den Ge— ſellſchafts inſeln im Allgemeinen „die niedern Volksklaſſen in Gegenwart ihrer höchſten Häuptlinge aus lauter Ehrfurcht ihr Ober— kleid ablegen.“ Wie dieſe Ehrenbezeugung einer ferneren Abkürzung unterliegt und ſich zugleich von den Herrſchern auf andere Perſonen ausdehnt, erſehen wir deutlich bei den Eingebornen der Goldküſte. Cruickſhank ſchreibt: „Sie begrüßen auch die Europäer und gelegentlich ebenſo einander, indem ſie mit der rechten Hand ihr Kleid ein wenig von der linken Schulter herabziehen und ſich zu gleicher Zeit zierlich verbeugen. Wenn ſie ſich ſehr ehrfurchtsvoll zu bezeigen wünſchen, ſo entblößen ſie die Schulter vollſtändig und halten das Gewand erſt unterhalb der Arme, ſo daß der Körper der Perſon von der Bruſt an aufwärts unbekleidet bleibt.“ Und von denſelben Völkern bemerkt Burton, daß „in ganz Yoruba-Land Kosmos, Band III. Heft 2. Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. nehmen des Hutes.“ 161 9 und an der Goldküſte das Entblößen der — Schultern daſſelbe bedeutet wie bei uns das Hutabziehen.“ Daß die Entblößung des Hauptes, hier ſchon vermuthungsweiſe mit der Entblößung des Oberkörpers verglichen, in der That urſprünglich dieſelbe Bedeutung hatte, dürfte kaum in Frage gezogen werden. Selbſt in gewiſſen europäiſchen Gebräuchen iſt die Verwandtſchaft zwiſchen den beiden Formen erkannt worden; wie denn z. B. Ford be— merkt, daß „in Spanien den Mantel Ab— legen fo viel bedeutet wie . . . unſer Ab— Sie iſt aber auch in Afrika ſelbſt zu erkennen, wo in Dahome beide mit einander verbunden ſind: „Die Männer entblößten ihre Schultern, zugleich ihre Mützen und großen Schirmhüte ab— nehmend“, ſagt Burton in der Schilderung ſeines Empfangs daſelbſt. Wir finden daſſelbe in Polyneſien, wo auf Tahiti an- geſichts des Königs nicht blos die Kleider bis auf die Lenden herabgeſtreift, ſondern auch der Kopf entblößt wird. Hiernach ſcheint es, daß das bekannte Hutabziehen bei den europäiſchen Völkern, das bei uns ſogar häufig auf eine bloße Berührung des Hutes, ja auf eine entſprechende Handbewegung zu— ſammenſchrumpft, gleichfalls ein Ueberbleibſel jener Formalität der Selbſtentkleidung iſt, wodurch der Gefangene die Hingabe Alles deſſen, was er hatte, ausdrücken wollte. Auch das Entblößen der Füße iſt ein Brauch von gleichem Urſprung, wie dies bei den Eingebornen der Goldküſte deut— lich zu erkennen iſt; denn während dieſe, wie wir ſahen, zum Zeichen ihrer Ehrer— bietung theilweiſe den Oberkörper entkleiden, löſen ſie zugleich die Sandalen von ihren Füßen „als Kundgebung ihrer Ehrfurcht“, ſagt Cruickſhank: ſie fangen alſo den Körper an beiden Enden ſeiner Hüllen zu | 162 entledigen an. Ueberall im alten Amerika hatte das Entblößen der Füße einen ähn— lichen Sinn. In Peru „trat kein Herr, ſo mächtig er auch ſein mochte, in reicher Kleidung vor das Angeſicht des Ynca, ſon— dern nur in demüthigem Anzug und barfuß;“ und in Mexico „beſtand für die Könige, welche Vaſallen des Montezuma waren, das ſtrenge Gebot, ihre Schuhe abzulegen, wenn ſie ihm unter die Augen kamen;“ ja die Wichtigkeit dieſes Aktes war ſo groß, daß, da „Michoacan von Mexico unabhängig war, der Herrſcher den Titel Cazonzi, d. h. beſchuht, annahm“. Aehnliche Berichte von aſiatiſchen Völkern haben uns längſt mit dieſem Brauch bekannt gemacht. In Burmah „iſt ein Europäer, wenn er dem König begegnet oder mit ſeinem Gefolge zuſammentrifft, ſelbſt in den Gaſſen und auf den Landſtraßen verpflichtet, ſeine Schuhe auszuziehen.“ Und ebenſo muß in Perſien Jedermann, der vor das königliche Angeſicht tritt, ſeine Füße entblößen. Eine Beſtätigung aller dieſer Erklär— ungen bietet die noch ſelbſtverſtändlichere Auffaſſung gewiſſer Gebräuche, denen wir abermals in jenen Geſellſchaften begegnen, wo außerordentlich ſtarke Kundgebungen der Unterwürfigkeit gefordert werden. Ich meine das Gebot, vor dem Angeſicht des Herrſchers in grober Kleidung — in der Kleidung der Sclaven zu erſcheinen. So oft im alten Mexico Montezuma's Hofleute, um ihm zu dienen, „in ſeine Gemächer traten, hatten ſie zuerſt ihre reichen Gewänder abzulegen und gewöhnlichere Kleidung an— zuziehen . . . und nur barfuß und mit ge— ſenkten Augen war es ihnen geſtattet, vor ſein Angeſicht zu treten.“ So war es auch in Peru: Neben dem Geſetz, daß ein Unter— than, ſo mächtig er auch ſein mochte, vor dem Ynca nur mit einer Laſt auf dem Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Rücken erſcheinen durfte, zum Zeichen ſeiner Knechtſchaft, und neben dem Geſetz, daß er barfuß ſein müſſe, zum ferneren Zeichen ſeiner Knechtſchaft, beſtand noch, wie wir geſehen haben, das Geſetz, daß „kein Herr, ſo vornehm er auch war, in reichen Kleidern vor das Angeſicht des Anka treten durfte, ſondern nur in beſcheidenem Anzuge“, aber— mals Knechtſchaft ausdrückend. Ein ähn— licher, obgleich nicht ſo weit gehender Brauch herrſcht in Dahome, wo gleichfalls eine ſtrenge Autokratie und uneingeſchränkte Unterwerfung unter dieſelbe beſteht. Die höchſten Unterthanen, des Königs Miniſter, dürfen „auf Pferden reiten, ſich in Hänge— matten tragen laſſen, ſeidene Gewänder tragen und ein zahlreiches Gefolge halten mit großen Sonnenſchirmen von eigner Form, mit Fahnen, Trompeten und andern muſikaliſchen Inſtrumenten. Aber beim Ein— tritt in das königliche Thor werden alle dieſe Inſignien bei Seite gelegt.“ Selbſt im mittelalterlichen Europa wurde die Unter— ordnung unter einen Sieger oder einen Höherſtehenden durch ein ſolches Ablegen der Theile der Kleidung und anderen Zu— behörs ausgedrückt, die auf die Würde irgend welchen Bezug hatten, und man erſchien dem entſprechend in verhältnißmäßig ärm— lichem Zuſtand, wie er mit der Knechtſchaft übereinſtimmend war. So z. B. in Frank— reich, wo im Jahre 1467 die Behörden einer eroberten Stadt, die ſich einem ſieg— reichen Herzog ergeben hatte, „mit ſich nach ſeinem Lager dreihundert der angeſehenſten Bürger im bloßen Hemde, barhäuptig und barbeinig herausführten, welche ihm die Schlüſſel der Stadt übergaben und ſich ſelbſt ihm auf Gnade und Ungnade aus— lieferten.“ Und ſogar die Leiſtung der Lehnshuldigung war mit Gebräuchen von ähnlicher Art verbunden. Saint Simon beſchreibt eines der ſpäteſten Beiſpiele dieſer Art und nennt unter andern dabei befolgten Ceremonien die Hingabe des Schwertes, der Handſchuhe und des Hutes, wozu er bemerkt, daß dies geſchähe, „um den Vaſall in Gegenwart des Oberherrn aller Zeichen ſeiner Würde zu entkleiden“. Verſöhnungsakte dieſer Art dehnen ſich gleich ſolchen anderer Art von dem gefürch— teten Weſen, das ſichtbar iſt, auch auf das gefürchtete Weſen aus, das nicht mehr ſicht— bar iſt — auf den Geiſt und den Gott. Wir erinnern blos daran, daß bei den Juden das Bußethun in Sack und Aſche geſchah, um den Geiſt zu verſöhnen; ſodann erfahren wir, daß dieſe Sitte noch heute im Orient fortlebt, wie denn Herr Salt von einer trauernden Frau ſchreibt, daß ſie mit Sackleinwand bekleidet und mit Aſche beſtreut geweſen, oder wie Burck— hardt „die weiblichen Verwandten eines geſtorbenen Häuptlings durch alle Haupt— ſtraßen laufen ſah mit halbentblößtem Köcper und das bischen Kleidung, was ſie noch anhatten, aus Lumpen beſtehend, während der Kopf, das Geſicht und die Bruſt faſt ganz mit Aſche bedeckt waren.“ So ermahnt auch Jeſaias, der ſelbſt das Bei— ſpiel dazu giebt, die widerſpenſtigen Iſrae— liten, mit Jehovah Frieden zu ſchließen: „Geißelt Euch, entblößet Euer Haupt und gürtet Sackleinwand um Eure Lenden!“ Auch an Parallelen für das Entblößen der Füße fehlt es nicht. Dieſer Brauch galt bei den alten Juden für ein Zeichen der Trauer, wie uns dies das Gebot in Ezechiel, Cap. XXIV, 17 lehrt: „Heim⸗ lich magſt du ſeufzen, aber keine Todten— klage führen; ſondern du ſollſt deinen Schmuck anlegen und deine Schuhe an deine Füße anziehen;“ und ebenſo war bei den Hebräern das Ausziehen der Schuhe Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. ein Akt der Verehrung. Von den Peru— anern, welche barfuß vor das Angeſicht des Yuca traten, leſen wir, daß „Alle, ausge— nommen der König, ihre Schuhe auszogen, zweihundert Schritte bevor ſie die Thore (des Tempels der Sonne) erreichten; aber der König behielt ſeine Schuhe an, bis er an die Thore kam.“ Endlich gilt daſſelbe auch von der Entblößung des Hauptes. Neben manchen anderen Ceremonien, zur Verſöhnung des lebenden Herrſchers dienend, wird dieſe letztere auch beobachtet, um den Geiſt des gewöhnlichen und ebenſo den des außergewöhnlichen Todten zu verſöhnen, welcher vergöttert und dauernd verehrt wird. Dahin gehört das Entblößen des Hauptes am Grabe, wie es auch bei uns noch Brauch iſt, während in manchen Län— dern ſogar die den Hut abziehen, welche nur einem Leichenbegängniß begegnen. Da— hin gehört ferner das Abnehmen des Hutes vor den Bildern von Chriſtus und der Madonna draußen und im Hauſe, das Niederknieen und Entblößen des Kopfes in katholiſchen Ländern, wenn die Hoſtie vorübergetragen wird, und das Abnehmen der Kopfbedeckung beim Betreten geweihter Stätten in allen Ländern. Endlich dürfen wir auch den Umſtand nicht übergehen, daß die Ehrenbezeugungen dieſer Gruppe, welche man urſprünglich nur den am meiſten gefürchteten höchſten Perſonen, mit der Zeit aber auch den we— niger Mächtigen erwies, ſich allmälig gleich- falls weiter ausdehnen, bis ſie ganz allge— mein werden. Einige der oben angeführten Citate haben nebenbei ſchon gezeigt, daß in Afrika theilweiſe Entblößung der Schulter als Begrüßung zwiſchen Gleichgeſtellten gilt und daß ein ähnliches Abnehmen des Mantels in Spanien den gleichen Zweck erfüllt. So entſteht denn auch aus der 164 Sitte, barfuß vor das Angeſicht eines Königs und in einen Tempel zu treten, ein ganz allgemeiner Höflichkeitsbeweis: die Damaras legen ihre Sandalen ab, bevor ſie das Haus eines Fremden betreten; ein Japaneſe läßt ſeine Schuhe an der Thüre ſtehen, ſelbſt wenn er nur in einen Laden geht; „beim Eintritt in ein türkiſches Haus gilt es als ſtändige Regel, die Ueberſchuhe oder Galoſchen am Fuße der Treppe zu— rückzulaſſen.“ Und in Europa ſodann, wo das Entblößen des Hauptes eine Ceremo— nie bei der Lehenshuldigung und bei reli— giöſer Verehrung war, iſt dies gegenwärtig zu einem Achtungsbeweis geworden, den man ſogar einem Arbeiter beim Eintritt in ſeine Hütte ſchuldet. Auch die Zeichen vorgeblicher Freude entwickeln ſich zu Höflichkeitsformen, wo keine Rangesverſchiedenheiten beſtehen. So berichtet Grant: „Wenn in dem Toorkee— Lager eine Geburt vorkam ..... jo ver— ſammelten ſich die Weiber vor dem Thore der Mutter, um durch Händeklatſchen, Tan— zen und Schreien ihre Freude auszudrücken. Ihr Tanz beſtand darin, daß ſie in die Luft ſprangen, ihre Beine in höchſt unge— ziemender Weiſe von ſich warfen und mit den Ellbogen ihre Seiten bearbeiteten.“ Und wo es die Umſtände geſtatten, werden dann ſolche Achtungsbeweiſe gegenſeitig aus— getauſcht: Bosman erzählt uns, daß, wenn an der Sclavenküſte „zwei Perſonen von gleicher Stellung einander begegnen, alle Beide gleichzeitig auf ihre Knie nieder— fallen, in die Hände klatſchen und ſich gegenſeitig begrüßen, indem ſie einander einen guten Tag wünſchen.“ Und es kommen Fälle vor, wo ſolche Gegenſeitigkeit der Complimente, ſogar in Form von Nieder— werfung, ſelbſt zwiſchen Freunden beſteht. Unter den Moskitos, jagt Bancroft, Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. „wirft ſich Einer dem Andern zu Füßen und dieſer hebt ihn dann auf, umarmt ihn und fällt ſeinerſeits nieder, um nun unter des Erſteren Beiftund wieder aufzuſtehen und von ihm herzlich umarmt zu werden.“ Solche extreme Beiſpiele liefern eine ſichere Beſtätigung, wenn es deren überhaupt be— darf, für den Schluß, daß die gegenſeitigen Verbeugungen und Knixe und das Hutab— ziehen, wie ſie bei uns gebräuchlich ſind, nur Ueberbleibſel der urſprünglichen Nieder— werfung und Beraubung des Kriegsgefan— genen darſtellen. 0 Hinſichtlich des Handkuſſes unter Gleich— geſtellten ſei noch aus Niebuhr eine Aeußerung über einen nah verwandten Ge— brauch citirt: „Wenn ſich zwei Araber der Wüſte begegnen, ſo ſchütteln ſie ſich mehr denn zehn mal die Hände. Jeder küßt dann ſeine eigene Hand und wieder— holt beſtändig die Frage: Wie geht es Dir? ... In Yemen thut Jeder, als ob er des Andern Hand zu ergreifen wünſchte, während er die eigene zurückzieht, um das Empfangen gleicher Ehre zu vermeiden. Um ſchließlich dem Wettſtreit ein Ende zu machen, geſtattet dann der ältere von Beiden dem Andern, ſeine Finger zu küſſen“. Dürfen wir nun hierin nicht vielleicht die Quelle des Händeſchüttelns erblicken? Je mehr das Mißlingen des Beſtrebens Bei— der, die Hand des Andern zu küſſen, das im Voraus erwartete Reſultat iſt, wird dieſe Bewegung allmälig einen regel— mäßigeren und rhythmiſcheren Charakter annehmen. Jedenfalls beſteht ein viel größerer Unterſchied zwiſchen dem einfachen Händedruck, auf welchen dieſe Begrüßung oft reducirt erſcheint, und dem altväteriſchen herzlichen Händeſchütteln, als zwiſchen die— ſem und der Bewegung, welche zu Stande — kommen muß, wenn ſich ein Jeder beſtrebt, die Hand des Andern zu küſſen. Welcher Art alſo auch immer die Ehren— bezeugung ſein mag, jedenfalls hat ſie die— ſelbe Wurzel wie die Trophäen und Ver— ſtümmelungen. Ganz in die Hände des Siegers gegeben, welcher entweder einen Theil ſeines Körpers zum Andenken an den Sieg abhaut und ihn dadurch tödtet oder aber ſich mit einem minder wichtigen Theil begnügt und ihn nur als Unter— worfenen kennzeichnet, liegt der beſiegte Feind vor Jenem hingeſtreckt da, ſei es auf ſeinem Rücken, ſei es mit deſſen Fuß auf ſeinem Nacken, mit Staub oder Schmutz bedeckt, waffenlos und mit zerriſſenen Gewändern oder auch des trophäengeſchmückten Mantels beraubt, der ſein Stolz war. Dadurch werden die Niederwerfung, die Beſchmutzung mit Staub und der Verluſt der Kleidung als beiläufige Folgen der Beſiegung gleich der Verſtümmelung zu anerkannten Beweiſen derſelben, woraus dann zu allererſt die er— zwungenen Unterwürfigkeitsbezeugungen von Sclaven gegen ihre Herren, von Unterthanen gegenüber ihren Gebietern, ſodann die frei— willige Annahme einer unterthänigen Stell— ung vor den Vornehmeren und endlich ſo— gar jene Höflichkeitsbewegungen hervorgehen, welche, obwohl Unterordnung ausdrückend, doch unter Gleichgeſtellten beobachtet werden. Daß alle ſolche Ehrenbezeugungen im kriegeriſchen Weſen wurzeln, iſt eine Folge— rung, die ganz mit der Thatſache überein— ſtimmt, daß ſich dieſelben in der That in gleichem Maße entwickeln, als der kriege— riſche Typus einer Geſellſchaft ausgeprägt iſt. Derartige Unterwerfung bezeugende Haltung und Bewegung kommen nicht bei führerloſen Stämmen und ſolchen mit noch unbeſtimmter Häuptlingsmacht vor, wie es die Feuerländer, die Andamaneſen, die Tas— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 165 manier und die Eskimos ſind; und die Be— richte über Etiquetteformen bei den wan— dernden und noch faſt gar nicht organiſirten Gemeinſchaften von Nordamerika erwähnen nichts oder nur Unbedeutendes von Hand— lungen, welche Knechtſchaft oder Unterord— nung ausdrücken ſollen. Allerdings giebt es in Indien gewiſſe einfache und durch Friedensliebe ausgezeichnete Geſellſchaften ohne ſtaatliche Organiſation, bei denen de— müthige Ehrenbezeugungen vorkommen, wie z. B. die Todas. Bei der Hochzeit legt eine Todabraut ihren Kopf unter den Fuß des Bräutigams. Da aber Ausnahmen von dieſer und von noch weniger ausge— prägter Art nur bei ſeßhaften, Viehzucht oder Ackerbau treibenden Stämmen zu be— obachten ſind, deren Vorfahren jene Mittel— ſtufen zwiſchen dem wandernden und dem ſtationären Zuſtand, während welcher im Allgemeinen kriegeriſche Thätigkeit vor— herrſchte, bereits durchlaufen haben, ſo dürfen wir wohl mit Recht vermuthen, daß dies blos übriggebliebene Ceremonien ſind, die ihre urſprüngliche Bedeutung verloren haben, und dies um ſo mehr, als in dem ange— führten Falle weder jene geſellſchaftliche, noch jene häusliche Unterordnung beſteht als deren Ausdruck ſie doch erſcheinen könn— ten. Dagegen finden wir in den durch kriege— riſche Ereigniſſe zur Verſchmelzung und in— nerer Befeſtigung gebrachten Geſellſchaften, welche den kriegeriſchen Organiſationstypus erlangt haben, das ſtaatliche wie das ge— ſellſchaftliche Leben ganz außerordentlich durch unterthänige Ehrenbezeugungen charakteriſirt. Fragen wir zunächſt, in welchen ſchwachent— wickelten Geſellſchaften die kriechenden Nie— derwerfungen und das ſich Ducken und Winden vor den Vornehmen am meeſten herrſcht, ſo iſt die Antwort nicht zweifel— haft. Wir finden ſie in dem kriegeriſchen, 2 CE A 166 cannibaliſchen Fidſchi, wo die Gewalt des Herrſchers über ſeine Unterthanen und ihr Eigenthum unbeſchränkt iſt und wo das Volk in einigen Sclavendiſtrikten ſelbſt der Anſicht iſt, es ſei aufgezogen worden, um verſpeiſt zu werden; wir finden ſie in Ugan— da, wo beſtändig Krieg herrſcht, wo die Einkünfte von der Plünderung benachbar— ter Stämme wie der eigenen Unterthanen herſtammen und wo von dem König, wenn er um ſich ſchießt, geſagt wird: „da ſeine Hoheit kein Wild fand, das er ſchießen konnte, ſchoß er viele Leute nieder;“ und wir finden fie in dem bluttriefenden Da- home, wo die benachbarten Geſellſchaften überfallen werden, um mehr Köpfe zur Ausſchmückung des Königspalaſtes zu er— halten, und wo Jedermann bis hinauf zum höchſten Miniſter des Königs Sclave iſt. Was etwas weiter vorgeſchriltene Staaten betrifft, ſo kommen ſie in Burmah und Siam vor, wo der aus früheren Zeiten überlieferte kriegeriſche Typus wenigſtens die Gewalt des Monarchen ebenfalls ohne jede Einſchränkung gelaſſen hat; in Japan ferner, wo, entſprechend einem während der Kriege vergangener Zeiten entwickelten und befeſtigten Despotismus, ſtets dieſe kriechenden Ehrenbezeugungen jedes Stan— des gegen den über ihm ſtehenden beobachtet werden, und in China, wo bei einer ähn— lichen Regierungsform von gleicher Abſtam— mung immer noch das Geſetz in Kraft iſt, daß man ſich vor dem höchſten Herrſcher faſt platt auf die Erde werfen und mit der Stirne auf den Boden aufſchlagen müſſe. Gleiches gilt auch vom Küſſen der Füße als Ehrenbezeugung. Dies war ſtehender Gebrauch im alten Peru, wo das ganze Volk unter der Organiſation und der Zucht der Regierung ſtand. Es herrſcht in Ma dagaskar, wo kriegeriſcher Aufbau und Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Thätigkeit der Geſellſchaft ſehr beſtimmt ausgeprägt ſind. Und bei mehreren Völ— kern des Oſtens, die heute noch wie von jeher unter autokratiſcher Herrſchaſt leben, beſteht auch dieſe ceremonielle Form gegen— wärtig noch ſo ungeſchmälert wie in den älteſten Zeiten. Nicht anders verhält es ſich ſodann mit dem vollſtändigen oder theilweiſen Abnehmen der Kleider. Die extremſten Formen dieſes Brauches kommen, wie wir ſahen, in Fidſchi und Uganda vor, während für die etwas mildere Form, das Entblößen des Körpers bis auf die Lenden herab, Beiſpiele aus Abyſſinien und Tahiti angeführt werden konnten, wo die könig— liche Gewalt, wenn auch immer noch groß, doch nicht mehr ſo rückſichtslos mißbraucht wird. Und dies beſtätigt ſich endlich auch hinſichtlich des Entblößens der Füße. Dies war im alten Peru und im alten Mexico eine dem König ſchuldige Ehrenbezeugung, wie ſie es heute noch in Burmah und in Perſien iſt: — alles Länder, deren despo— tiſche Regierungsformen ſich aus kriegeriſchen Verhältniſſen hervor entwickelt haben. Die— ſelben Beziehungen laſſen ſich zum Schluß auch in Betreff der übrigen extremen Ehren— bezeugungen herausfinden: daß man Staub aufs Haupt ſtreut, grobe Kleider anlegt, mit einer Bürde belaſtet eintritt und ſich die Hände bindet. Vergleichen wir nun noch die Gebräuche der europäiſchen Völker, wie ſie in früheren Zeiten herrſchten, als der Krieg das Haupt— geſchäft des Lebens war, mit denen, welche wir gegenwärtig unter uns beobachten, wo der Krieg aufgehört hat, dieſe große Rolle zu ſpielen, ſo tritt dieſelbe Wahrheit zu Tage. Ueberdies läßt ſich beobachten, daß ſelbſt zwiſchen den kriegeriſcheren und den weniger kriegeriſchen Nationen von Europa entſpre— — tQ—— 8 è1 o —0—d—————— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. chende Verſchiedenheiten beſtehen: auf dem Continent werden alle dieſe Ehrenbezeugun— gen ausführlicher und eifriger befolgt als in England. Dafür laſſen ſich Zeugniſſe bei— bringen; denn von Seiten der höheren Stände, welche eben jenen herrſchenden Beſtandtheil des geſellſchaftlichen Baues bilden, der hier ſo gut wie überall aus kriegeriſchem Weſen hervor— gegangen iſt, wird dieſen Formen nicht blos bei Hofe, ſondern auch im Privatverkehr weit mehr Aufmerkſamkeit geſchenkt als von Seiten der das induſtrielle Element bilden— den Claſſen, bei denen gegenwärtig kaum mehr als die Verbeugung und das Kopf— nicken zu ſehen iſt. Und dann läßt ſich die bezeichnende Thatſache beifügen, daß bei den vorzugsweiſe kriegeriſchen Beſtand— theilen unſerer Geſellſchaft, der Armee und der Marine, nicht blos eine Menge vor— geſchriebener Ehrenbezeugungen viel regel— mäßiger und ſtrenger beobachtet wird als bei irgend einem anderen Stande, ſondern daß überdies bei dem einen von ihnen, der Marine, die ſich ja ganz beſonders durch die abſolute Herrſchaft ihrer höheren Offi— ciere charakteriſirt, noch ein Brauch fort— beſteht, der in gewiſſen Sitten barbariſcher Geſellſchaften ſeine nächſte Parallele findet: in Burmah iſt es geboten, „bei der An— näherung an den Palaſt ſich mehrmals niederzumerfen;“ die Dahomeaner führen dieſe Ceremonie vor dem Thore des Pa— laſtes aus; in Fidſchi iſt eine tiefe Ver— beugung das vorgeſchriebene „Zeichen der Ehrfurcht, das man einem Häuptling oder ſeinem Gehöfte oder einer Häuptlings-Nie— derlaſſung zu erweiſen hat;“ und geht man an Bord eines engliſchen Kriegsſchiffes, ſo iſt es Sitte, vor dem Hinterdeck den Hut abzunehmen. Be 167 Auf ein Minimum find diefe Ceremo— nien in unſerem Begräbniß- und Kirchen— Ceremoniell herabgedrückt. Hier ſind die Ehrenbezeugungen für die Todten, abge— ſehen von dem Entblößen des Hauptes am Grabe, vollſtändig verſchwunden und ſo ergeht es auch den im Cultus vorkommen— den Ceremonien dieſer Art. Selbſt das Niederknieen als religiöſe Verehrungsform iſt bei uns ziemlich außer Gebrauch ge— kommen; und die unkriegeriſchſte unter unſern Secten, die Quäker, kennt überhaupt gar kein religiöſes Ceremoniell mehr. Der innere Zuſammenhang, den wir hier für dieſe Erſcheinungen ebenſo wie früher für ſo manche ähnliche aufdecken konnten, ſtellt ſich endlich auch ſofort als der allein naturgemäße dar, wenn wir be— denken, daß kriegeriſche Verhältniſſe, an ſich ſchon mehr gewaltſamer Natur, mit Noth— wendigkeit den ſteten Gegenſatz von Befehlen— den und Gehorchenden bedingen, und daß alſo, wo ſolche Verhältniſſe herrſchen, ſprechende Zeichen der Unterordnung gefordert werden müſſen, während umgekehrt induſtrielle Ver— hältniſſe, mögen ſie ſich in den Beziehungen zwiſchen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder zwiſchen Verkäufer und Käufer ausprägen, welche ja ſtets nur auf gegenſeitigem Ein— verſtändniß beruhen können, in ſich nichts Zwingendes haben, und daher, wo ſie vor— herrſchen, blos auf Erfüllung der contract— lich eingegangenen Verpflichtungen Nachdruck gelegt werden kann; und daraus ergibt ſich dann von ſelbſt eine immer mehr um ſich greifende Abnahme im Gebrauche von Zeichen der Unterordnung. (Fortſetzung folgt.) 8 Kleinere Mittheilungen und Journallchau. Der Mars und ſeine Monde. ie Beobachtungen, zu denen Mars während ſeiner außeror— dentlichen Annäherung an die Erde in den Monaten Auguſt, Septem— der | ſcheint, als Wagenlenker zu begleiten (Ilias ber und Oktober vorigen Jahres den Aſtronomen und den Aſtrophyſikern Ge— legenheit bot, dürften nun ziemlich voll— ſtändig der Oeffentlichkeit übergeben worden der hauptſächlichſten Ergebniſſe derſelben verſuchen. monde.“) Der Vorſchlag, dieſelben Romu— lus und Remus zu taufen, hat nicht den Beifall des Entdeckers Prof. Aſaph Hall Zunächſt noch einige Nachträge zu der frühern Mittheilung über die Mars gefunden, er hat ihnen vielmehr die Namen photometriſche Vergleichung der relativen zweier anderen Kinder des Kriegsgottes, Deimos und Phobos (Schrecken und Furcht), beigelegt. Von ihnen ſagt nämlich Heſiod: . . . doch dem Ares, Welcher die Schilde zerbricht, gab Schrecken und Furcht Kythereia, Gräßliche Kinder; ſie jagen der Männer ge— dichtete Reihen, In dem entſetzlichen Kampf mit dem ſtädte— verheerenden Ares. Die Benennung iſt inſofern nicht übel u) Kosmos II. S. 159. gewählt, als bei Homer Ares, im Augen— blicke, wo er ſich anſchickt, zur Erde herab— zuſteigen, dieſen ſeinen Kindern aufträgt, die Pferde anzuſchirren und ihn, wie es N19) Einer Publication”) des Profeſſor Eduard C. Pickering in Cambridge ent— nehmen wir, daß der auf der Sternwarte des Harward-College angeſtellte Verſuch, die Durchmeſſer dieſer kleinſten aller be— fein und wir können eine Zuſammenfaſſung kannten Himmelskörper nach ihrer Lichtſtärke zu ſchätzen, für den äußern Mond (Dei— mos) einen Durchmeſſer von 5,9—6 eng— liſchen Meilen und für den inneren Mond (Phobos) von 6,5—7 engliſchen Meilen, alſo ein Verhältniß von 9: 10 ergeben hat. Dieſe Schätzungswerthe ſind, da es ein andres Mittel nicht gab, durch eine Lichtſtärken der Monde mit der des Planeten ſelbſt bewerkſtelligt worden, und es wurde dabei angenommen, daß den Trabanten ein gleiches Vermögen, das Sonnenlicht zurück— zuſtrahlen, zukomme, wie der Oberfläche des Planeten ſelbſt. Die Dauer einer Rotation des Mars beſtimmte Luiz Cruls auf dem Obſervatorium von Rio Janeiro I *) American Journal of Science V. XV. Jan. 1878. aus der Bewegung der in dieſer Zeit ausgezeichnet genau zu verfolgenden Flecken zu 24 Stunden 37 Minuten und 34 Secunden, alſo 12 Secunden mehr, als Beer und Mädler früher gefunden hatten.“) Mannigfacher als die rein aſtronomiſchen ſind die aſtrophyſiſchen Ergebniſſe geweſen, für deren Zuſammenſtellung wir hauptſäch— lich einigen Berichten der Monthly Notices of the Royal Astronomical Society (Vol. XXVIII. 1 und 2) verpflichtet ſind. Die Spektral-Analyſe wurde von Maunder in Greenwich angewendet, um die Beſchaffen— heit der Mars-Atmoſphäre zu ergründen und am 23. Auguſt und 26. September konnte das Spektrum mit dem des in gleicher Höhe ſtehenden Mondes verglichen werden. Es zeigten ſich beide Male neben den Fraunhofer'ſchen Linien ſchwache ver— waſchne Streifen, die um ſo beſtimmter auf das Vorhandenſein einer dünnen Atmoſphäre gedeutet werden können, als von den acht, im Marsſpektrum beobachteten Streifen nur drei im Mondſpektrum vorkom— men. Die verſchiedenen Theile des Planeten gaben ein in der Intenſität der Farben— abtheilungen wechſelndes Spektrum, wäh— rend die Streifen dabei völlig oder beinahe dieſelben blieben. So erſchien im Spektrum der Randtheile das rothe Ende blaſſer, während das Violet ſich von allen Theilen gleich ſtark erwies und ſich ebenſo weit erſtreckte wie im Spektrum des Mondes. Die dunklen Flecken, z. B. der große „Dawes-Ocean“, ergaben ein dunkleres Spektrum, namentlich im rothen und gelben Theile. Im Uebrigen blieben dieſe Flecke ſich außerordentlich gleich, ſo daß man an— nehmen muß, Wolkenbildungen und andre Urſachen, ſachen, welche die Klarheit der Mars⸗ ) Comptes Comptes rendus T. LXXXV. p. 1060. Kosmos, Band III. Heft 2. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 169 atmoſphäre ſtören könnten, müßten verhält— nißmäßig ſehr ſelten ſein. Auf der Green— wicher Sternwarte hat man in allen klaren Nächten der Oppoſitions-Periode Zeich— nungen der Flecken und ſonſtigen Erſchein— ungen vorgenommen und dabei nur ſo geringe Aenderungen bemerkt, daß man nicht ſicher iſt, ob dieſelben nicht von ge— ringen Trübungen unſerer eigenen Atmo— ſphäre, welche die zarteren Details ver— wiſchen, herrühren könnten. Nur gegen den Rand des Planeten ſchienen ſich geringe Aenderungen der Mars— Atmoſphäre bemerkbar zu machen. Etwa 4“ vom Rande verſchwinden die Zeichnungen, die man auf Oberflächen-Bildungen des Planeten bezieht, in der Regel gänzlich, und der Rand erſcheint als hellerer Ring, deſſen Glanz ſich aber an einigen Tagen bis zum gänzlichen Verſchwinden mäßigte. Ein leichter Wechſel der Atmoſphären— Durchſichtigkeit ließ ſich auch aus dem ver— ſchiedenen Anſehen der Farbe, ſowohl der dunkleren Flecken als der helleren Partieen, erkennen. Die Farbe der dunklen Flecke wechſelte zwiſchen blaugrau, olivengrün und kobaltblau, die der helleren Theile zwiſchen orange, gelb und ſcharlach. Zuweilen ſchienen kleinere helle Flecken neu aufzu— treten, die möglicherweiſe auf Wolkenbild— ungen gedeutet werden können. Ganz übereinſtimmende Ergebniſſe lie— ferten die unter viel günſtigeren Beding— ungen von Nacht zu Nacht entworfenen Zeichnungen der unter Green's Leitung ſtehenden Sternwarte von Madeira. Die nach dem Rande und nach den Polen hin allmälig erblaſſenden Details blieben ſich durch vierzig Nächte, wie die Zeichnungen beweiſen, mit geringen Abweichungen gleich. Die beiden Pole ſind bekanntlich ſtets mit einer mehr oder weniger ſchimmernden Decke umgeben, deren weißer Glanz ſich deutlich von dem vorwiegend rothen Lichte der Scheibe abhebt, und deshalb auf ziemlich weit ſich erſtreckende Maſſen von Polareis bisher gedeutet wurde. Dieſe blendend weiße Maſſe erlitt am Südpol während der vorjährigen Beobachtungs-Periode eine be— trächtliche Verminderung, ſo daß ſie nach den Beobachtungen Cruls in Rio de Janeiro am 13. October nicht mehr die Hälfte ihrer früheren Ausdehnung beſaß und nicht mehr den Rand des Planeten erreichte. Dieſe auch auf den andern Sternwarten beobachtete Verminderung der weißen Maſſen, mögen dieſelben aus Eis, Schnee, oder nur aus Wolken beſtehen, iſt ſehr erklärlich, da in dieſer Zeit der betreffende Pol vor— wiegend von der Sonne erwärmt wurde, d. h. ſeinen Sommer hatte. Am Rande dieſer weißen Polarzone zeigten ſich öfter auch einige iſolirte weiße Flecke, wie Eis— berge oder an hohen Bergen haftende Wolken, und andrerſeits bemerkte man Zerklüftungen des Randes der weißen Zone, als ob dort dunklere Thäler oder Fjorde ſich hinein— erſtreckten, während zugleich vorgeſchobene und ſelbſt ganz getrennte weiße Maſſen am Rande ſichtbar wurden. 6 Am 21. Auguſt machte man auf Ma— deira eine ſehr intereſſante Beobachtung, die auf lebhafte meteorologiſche Proceſſe in der Mars-Atmoſphäre hindeutete. Man bemerkte nämlich eine Reihe von Linien, die eine Meridian-Richtung zeigten und dem Pole zuſtrebten; dieſelben laſſen ſich vielleicht auf das Hinfließen kalter Luft— wegungen alſo, die unſern Paſſaten ver— gleichbar geweſen wären. ſtröme nach dem Aequator deuten, Luftbe- Alle dieſe Beobachtungen führen zu kosmologiſchen, noch mit phyſikaliſchen Grün- Schlüſſen, die im Allgemeinen nicht erheblich | von den bisherigen Anſichten abweichen. In den leicht in Einklang bringen laſſen. Auch 170 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. einem hohem Maße iſt dies indeſſen der Fall hinſichtlich der Beobachtungen und Folgerungen des Herrn John Brett, dem ein ausgezeichneter Reflector zur Verfügung ſteht. Dieſer Beobachter bemerkte zuerſt am 28. September, daß die weiße Kuppe des Poles einen deutlichen Schatten nach Oſten auf den Planeten warf, und damit ſtimmt die ältere Beobachtung, die man bisher für eine Augentäuſchung (durch ſogenannte Irra— diation) gehalten hat, daß dieſe weiße Maſſe ſich beiderſeits, im Profil geſehen, über den Rand des Planeten erhebt. Brett ver— muthet nunmehr, daß dieſe weiße Maſſe mit der Veſte des Planeten gar nicht zu— ſammenhänge, ſondern über derſelben ſchwebe, er nimmt an, daß ſie aus Dunſt- oder Wolkenmaſſen beſtehe, die ſich darum einzig an den Polen zeigen, weil dieſe vielleicht die einzigen Regionen des Planeten dar— ſtellen, die kühl genug ſind, um eine an— ſehnlichere Verdichtung des Waſſerdampfes der Mars-Atmoſphäre zu geſtatten. Da man den Mars wegen der gleichbleibenden Zeichnung ſeiner Oberfläche für einen feſten Weltkörper halten muß, ſo nimmt Brett wenigſtens an, daß er ſich noch in Roth— gluth befinde, und erklärt ſich ſo den tief— rothen Schein der centralen Theile. Die ihre Form beibehaltenden dunklen Flecken müßten dann natürlich für alles andere eher, als für Meeresbecken angeſehen werden. Die zwar andauernde aber keineswegs ſehr vollkommene Durchſichtigkeit der Atmoſphäre erklärt er ſich durch die höhere Temperatur derſelben, welche eine Verdichtung des Waſſer— dampfes, außer an den Polen, nirgends geſtatten möge. Dieſe Annahmen würden ſich aber, wie dem Referenten ſcheinen will, weder mit erſcheint eine viel wahrſcheinlichere Deutung dieſer neuen Forſchungsergebniſſe naheliegend genug. Wenn man nämlich im Gegentheile annimmt, daß die Atmoſphäre des Mars nur verhältnißmäßig wenig Waſſerdampf enthält, ſo wird die Wolkenbildung faſt ganz auf die Polargegenden beſchränkt werden, welche letzteren unter ihrer ſelten ſchwinden— den Wolkendecke mit ewigem Eiſe bedeckt ſein mögen. Der beobachtete Farbenwechſel ſowohl der dunklen, als der hellen Flecke deutet unverkennbar auf einen Zuſammen— hang mit atmoſphäriſchen Aenderungen. Wahrſcheinlich haben wir hier überhaupt at— moſphäriſche Farben, wie Himmelbläue und Morgenroth. Die helleren Theile der Mars— oberfläche ſchimmern gelblich oder röthlich, die dunkleren bläulich durch das trübe Mittel. Daß die rothe Färbung nicht etwa dem Geſtein des Mars eigenthümlich iſt, wird durch den Umſtand widerlegt, daß die Marsmonde (obwohl aus gleicher Maſſe beſtehend?) kein rothes, ſondern rein weißes Licht zurückwerfen, eben weil ſie wahrſchein— lich keine Atmoſphäre beſitzen. Es läßt ſich ſogar annehmen, daß die Erde vom Mars aus an vielen Tagen ein ähnliches Ausſehen darbieten wird, wie dieſer uns, nämlich Wolkenmaſſen, die ſich im Winter von den Polen bis in die gemäßigte Zone erſtrecken, gleichbleibende Klarheit dagegen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. giebt es in der ſüdeuropäiſchen und orien— 171 Die geſchlechtliche Zuchtwahl im Pflanzenreiche. Die meiſten Schriftſteller, welche ſich über die Entſtehung der Pflanzenarten aus- geſprochen haben, ſcheinen der Anſicht geweſen zu ſein, daß die Bildung neuer Typen verhindert werde, ſo lange die Möglichkeit freier Kreuzung zwiſchen den beginnenden Abänderungen beſtehe. Sie haben daher angenommen, daß eine räumliche oder zeitliche Trennung der ver— ſchiedenen Formen ſtattfinden müſſe, wenn ſich aus denſelben neue Arten herausbilden ſollen, da nur in dieſem Falle eine jede von ihnen ungeſtört ihren eigenthümlichen Entwickelungsgang verfolgen könne. Daß eine räumliche Trennung die Einwirkung zweier Pflanzenformen auf einander ver— hütet, verſteht ſich von ſelbſt. Denſelben Erfolg muß indeß auch eine zeitliche Trenn— ung, d. h. eine Verſchiedenheit der Blüthe— zeiten, haben. Von beſonderer Wirkſam— keit iſt natürlich die Einſchiebung einer Ruheperiode oder Vegetationspauſe zwiſchen die urſprünglich nahe bei einander liegen— den Blüthezeiten verwandter Formen. So taliſchen Flora einige Gattungen (Crocus, Bulbocodium, Erica), deren Arten theils im Herbſte, theils im Frühjahr blühen. nur in den Aequatorial-Gegenden. Freilich dürften dabei Trübungen der Erdkarte auch in den Aequatorialgegenden häufiger vor- kommen, aber dies kann recht wohl auf einen durchſchnittlich größeren Waſſergehalt unſerer Atmoſphäre bezogen werden. Auch auf dem Erdbilde wird ſich im Polarſommer die weiße Wolkenſchicht dieſer Zonen ver- kleinern. In dieſem Falle iſt offenbar die Einwirk— ung der frühen und ſpäten Arten auf einander vollſtändig unmöglich. Die Blüthe— zeiten nahe verwandter Arten oder ver— ſchiedener Exemplare einer und derſelben Art rücken übrigens auch mitten im Som— mer manchmal beträchtlich aus einander. Unter Umſtänden keimen die früh gereiften Samen einer Pflanze eher als die ſpät gereiften, ſo daß die aus erſteren hervor— gehenden Keimpflanzen vor Eintritt des 172 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau Winters bereits ſehr kräftig entwickelt ſind und daher im nächſten Jahre auch eher zur Blühreife gelangen. Frühes Blühen kann ſomit manchmal erblich werden, ohne daß ſich die Conſtitution der Pflanze ſelbſt irgendwie verändert. Bei einer wirklich ho— mogenen Art wird dies Verhalten an und für ſich zu keinen Abänderungen führen; dagegen kann es bei variablen Formen mit beginnender Sonderung der Raſſen von großer Bedeutung werden und die Ent— wickelung ſelbſtſtändiger Typen weſentlich begünſtigen. Die Erſcheinung der Ver— frühung oder Verſpätung der Blüthezeit iſt beſonders durch A. Kerner näher gewürdigt und als Aſyngamie bezeichnet worden. Es iſt indeß wichtig, verſchiedene Reihen von Thatſachen aus einander zu halten. So giebt es z. B. von allen Getreidearten klimatiſche Varietäten, welche den Lebenskreislauf von der Keimung bis zur Fruchtreife in ungewöhnlich kurzer Zeit vollenden. In Gegenden mit rauhem Klima (Gebirgslagen, nordiſche Länder) entſtanden, behalten ſolche Varietäten die Schnellwüchſig— keit wenigſtens durch eine Reihe von Ge— nerationen auch unter milderen Himmels— ſtrichen bei. Entſprechende Erfahrungen machte Kerner bei Alpenpflanzen aus höheren Lagen. Solche unter klimatiſchem Einfluſſe erworbene Unterſchiede in der Blüthezeit ſtehen im Allgemeinen nicht im Zuſammenhange mit einer Neigung zu morphologiſcher Abänderung. Dagegen pflegen conſtante und erbliche Unterſchiede in der Blüthezeit bei Pflanzen, die unter gleichen Verhältniſſen wachſen, untrennbar verbunden zu ſein mit Eigenthümlichkeiten der äußeren Bildung. Es läßt ſich in ſolchen Fällen nicht entſcheiden, ob die Verſchiebung der Blüthezeit als Urſache oder als Symp- | tom einer beginnenden Abänderung aufzu— = faffen iſt. Vielleicht ift fie manchmal beides zugleich; jedenfalls kann auch das Symptom oder die Eigenſchaft für die raſchere Aus— prägung und Fixirung einer neuen Form beſonders wichtig werden.“ So treffend viele Bemerkungen Ker— ner's über die Bedeutung der Aſyngamie auch ſind, ſo geht dieſer Autor doch gewiß zu weit, wenn er glaubt, daß Variationen, welche nicht räumlich oder zeitlich iſolirt ſeien, ſchwer zu Ausgangspunkten neuer Arten werden könnten, weil ſie durch Kreuz— ungen mit den Stammformen zuſammen— fließen müßten. Dieſe Meinung kann ich nicht theilen. Als Beiſpiel führt Kerner die Gattung Rubus an, in welcher es keine aſyngamiſchen Individuen gebe. Allein die Formenkreiſe der Rubi verhalten ſich nicht anders als die der Gattung Hiera- cium, aus welcher Kerner gerade die erſten Beiſpiele von Aſyngamie entnommen hat. Weit entfernt, die Bedeutſamkeit der Aſyngamie für die Bildungsgeſchichte der Arten in Abrede ſtellen zu wollen, bin ich doch der Anſicht, daß die Natur ein noch einfacheres Mittel beſitzt, um einer Ver— miſchung beginnender Arten entgegen zu wirken. Viele Beobachter haben ſich dar— über gewundert, daß man verhältnißmäßig ſelten Miſchlinge zwiſchen den nächſtver— wandten Formen antrifft, ja man hat aus ſolchen Wahrnehmungen die Regel ableiten wollen, daß ein gewiſſer Betrag von ſpe— cifiſcher Verſchiedenheit die Baſtardbildung begünſtige. Beſonders nachdrücklich iſt dieſe Behauptung durch Alexis Jordan aus— geſprochen worden, ohne Zweifel den beſten Kenner der engſten Formenkreiſe. Die Regel hat indeß auch ihre Ausnahmen, da z. B. Phyteuma spieatum und Ph, nigrum, ſowie die verſchiedenen Taraxacum- Raſſen beim Zuſammentreffen an denſelben — ͤ ß . W- Standorten faſt immer deutliche Miſch— formen liefern. Auch bei vielen Kultur— pflanzen iſt nach den Erfahrungen der Gärtner Reinzucht und IJſolirung noth- wendig, wenn man die Raſſen beſtändig erhalten will. Jene Regel hat ſomit nur eine beſchränkte Gültigkeit und geſtattet zahlreiche Ausnahmen; die Thatſachen, auf welche ſie ſich bezieht, werden ſich ferner bei näherer Unterſuchung wahrſcheinlich ſehr wohl erklären laſſen, ohne daß man nöthig hat, eine ebenſo myſteriöſe wie capriciöſe Regel zu Hilfe zu nehme. Unmittelbarer Umſchlag der einen Form in die andere, ſowie Fortpflanzung durch Selbſtbefruchtung ſind gewiß als häufige Urſachen des Fehlens von Zwiſchenformen anzuſehen. Weitere Fingerzeige für die Beurtheil— ung dieſer Thatſachen giebt die Beobachtung der zufällig entſtandenen Baſtarde zwiſchen je zwei nicht allzu nahe verwandten Arten. Wer nach Hybriden ſucht, wird dieſelben verhältnißmäßig ſelten an ſolchen Plätzen antreffen, wo zwei zur Kreuzung geneigte Arten in großer Menge durch einander wachſen. Viel leichter erfolgt die Baſtard— bildung dort, wo die eine der Stammarten häufig, die andere ſparſam vorhanden iſt. Die Erklärung dieſer Erſcheinung iſt nicht ſchwierig. Läßt man den eigenen Blüthen— ſtaub des betreffenden Exemplars unberück— ſichtigt, ſo wird bei dichtem Durcheinander— wachſen und gleicher Häufigkeit beider Arten jede Narbe durchſchnittlich ebenſo viel frem— den Blüthenſtaub der eigenen Art wie der fremden Art erhalten. Von der iſolirt wachſenden Pflanze wird dagegen jede Narbe außer dem Blüthenſtaub des eigenen Exem⸗ plars nur ſolchen der fremden Art em— pfangen. Offenbar ſind in dieſem letzten Falle die Ausſichten für die Baſtardbild— ung viel günſtiger. Es verſteht ſich übri— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Art Anwendung, ſobald für jede der gens von ſelbſt, daß auch in Bezug auf die Wahrſcheinlichkeit von Hybridiſationen eine zeitliche Iſolirung ebenſo wirkt wie eine räumliche. Einzelne verfrühte oder verſpätete Blüthen der einen Art können natürlich leicht hybridiſirt werden, wenn die andere Art noch in vollem Flor ſteht. Alles was von dem Verhalten ver— ſchiedener Arten zu einander gilt, findet auch auf zwei verſchiedene Raſſen derſelben Blüthenſtaub der eigenen Raſſe eine größere Befruchtungsfähigkeit beſitzt als der der fremden. Falls dieſe Vorausſetzung zu— trifft, können zwei gleichzeitig blühende nächſtverwandte Pflanzenformen in größter Menge durch einander wachſen, ohne daß eine nennenswerthe Zahl von Blendlingen entſteht. Für jede der Raſſen kann der Blüthenſtaub der anderen durchaus geeignet zu vollkommener Befruchtung ſein, ohne daß in Wirklichkeit Kreuzung ſtattfindet; der Grund dieſer Erſcheinung liegt einfach darin, daß für jede Raſſe der eigene Blüthenſtaub den fremden an Wirkſamkeit noch übertrifft. Jedes Inſekt, welches eine Blüthe beſucht, wird in derſelben gewöhn— lich einige Pollenkörner aus mehreren früher beſuchten Blüthen auf der Narbe zurücklaſſen; von dieſen gleichzeitig zugeführten Pollenkör— nern verſchiedener Abſtammung werden nur die geeignetſten die Befruchtung wirklich voll— ziehen. Es findet daher auf der Narbe ein Wettkampf zwiſchen den verſchiedenen Pollenſorten ſtatt und der Ausgang dieſes— Wettkampfes hängt von der geſchlechtlichen Anpaſſung zwiſchen Blüthenſtaub und weib— lichen Organen ab. Für jede Modification im Bau und im Chemismus eines Stem- pels und einer Narbe muß eine beſtimmte Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes die denk— bar größte Befruchtungsfähigkeit 3 174 Es gründet ſich dieſe Behauptung aller— dings auf eine bisher nicht mit voller Schärfe zu beweiſende Annahme, nämlich darauf, daß in der That merkliche Unter— ſchiede in der Wirkſamkeit verſchiedener Pollenſorten, die den Formen einer und derſelben Art entſtammen, vorhanden ſind. Solche Unterſchiede ſind bisher nur in wenigen Fällen beſtimmt nachgewieſen wor— den, aber alle bekannten Thatſachen ſprechen dafür, daß ſie ganz allgemein vorhanden ſind. Es genügt, an einige bekannte Er— fahrungen zu erinnern. Der Blüthenſtaub der eigenen Art iſt im Allgemeinen ſtets wirkſamer als der einer fremden. Auch in Fällen, in welchen bei Ausſchluß des eigenen Pollens eine Hybridiſation leicht und ſicher erfolgt, findet eine ſolche doch niemals ſtatt, ſobald fremder Blüthenſtaub der eigenen und der fremden Art gleich— zeitig auf die Narbe gelangen. Anderer— ſeits giebt es eine Anzahl Pflanzen, deren Stempel durch den Blüthenſtaub der eigenen Blüthe oder ſelbſt des eigenen Exemplars entweder gar nicht oder doch nur ſchwierig befruchtet werden können. In ſolchen Fällen erfolgt nicht ſelten Hybridiſation leichter als Selbſtbefruchtung. Aus dieſen Thatſachen erhellt, daß ſowohl zu ferne, als auch in geſchlechtliche Verbindung erſchwert oder ſelbſt ganz verhindert. Ein anderer be— achtenswerther Umſtand iſt, daß bei Ge— wächſen mit dimorphen oder trimorphen Blüthen die größeren Pollenkörner ſtets zur Befruchtung der längeren Griffel be— ſtimmt ſind, die kleineren zur Befruchtung der kürzeren. Auch durch Vergleichung der betreffenden Organe bei nahe verwandten Arten findet man, daß größere Pollenkörner und längere Griffel einander zu entſprechen pflegen. Da in dieſen Fällen nur die ab— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſolute Griffellänge in Betracht kommen kann, ſo iſt es z. B. auch in hohem Grade wahrſcheinlich, daß ein üppiges, großblumiges, daher auch langgriffliges Exemplar einer beſtimmten Art leichter durch etwas größere Pollenkörner derſelben Art befruchtet werden wird, als durch die normalen. Es handelt ſich in dieſen Fällen offenbar um ein rein mechaniſches Moment; weit ſchwieriger iſt es, die chemiſche oder conſtitutionelle Affinität zwiſchen den Sexual— organen zu beurtheilen. Da jedoch, wie gezeigt, derartige Verſchiedenheiten beſtehen, ſo iſt an der Richtigkeit der oben gemachten Vorausſetzung nicht zu zweifeln: Für jede Abänderung in den weiblichen Organen muß eine entſprechende Abänderung im Blüthenſtaube die größtmögliche Befrucht— ungsfähigkeit beſitzen. Kehren wir zu dem Ausgangspunkte unſerer Betrachtungen zurück, ſo wird nach den vorſtehenden Auseinanderſetzungen die Fixirung der Varietäten einer variabeln Art nicht nur durch räumliche oder zeitliche Trennung ihrer Blüthen erfol— gen können, ſondern auch durch geſchlecht— liche, alſo dadurch, daß jede einen ihr beſonders angepaßten Blüthenſtaub erwirbt. Daß ſich innerhalb plaſtiſcher Arten unter manchen Fällen zu nahe Verwandtſchaft die den zahlloſen Abänderungen derartige in— timere Anpaſſungen zwiſchen den Sexual- organen einzelner Varietäten herausbilden können, wird man gewiß nicht für un— wahrſcheinlich halten. Daß ſich ſolche An— paſſungen wirklich herausgebildet haben, wird man glaublich finden, wenn man die oben angeführte Erfahrung berückſichtigt, Seelſtbefruchtung und Kreuzbefruchtung geben daß fo viele nahe verwandte Formen jo wenig Neigung zu gegenſeitiger Hybridiſa— tion zeigen. Die Erfahrungen Darwin's über der Hoffnung Raum, daß es gelingen wird, durch richtig geleitete Verſuchsreihen be— ſtimmte Aufſchlüſſe über die Wirkſamkeit verſchiedener Pollenſorten auf die weiblichen Organe verſchiedener Raſſen derſelben Art zu gewinnen. Ein wiſſenſchaftlicher Ver— ſuchsgarten würde höchſt fruchtbare Forſch— ungen über dieſe Fragen ermöglichen. Wenn die obigen Erwägungen richtig ſind, ſo laſſen ſich aus denſelben noch einige Folgerungen ableiten. Es läßt ſich näm— lich daraus ſchließen, daß geſellig entſtan— dene Raſſen nicht leicht durch einander hy— bridiſirt werden können und zwar deshalb nicht, weil eine ſexuelle Sonderung zu ihrer Entwickelung nothwendig war. Haben ſich jedoch zwei Formen unter dem Schutze der Aſyngamie oder ſtandörtlicher Trennung zu beſonderen Raſſen entwickelt, ſo iſt es nicht nothwendig, daß ſie den eigenen Blü— thenſtaub unbedingt dem fremden vorziehen. Es iſt z. B. der Fall denkbar, daß der Blüthenſtaub der einen Form dem der anderen entſchieden überlegen iſt und zwar nicht nur für die eigene, ſondern auch für die fremde Raſſe. Vielleicht bieten uns die beiden Weidenarten Salix fragilis und 8. alba ein Beiſpiel dieſer Art. Die in Bergthälern Europas heimiſche Knackweide (S. fragilis) wird häufig durch Flüſſe, gelegentlich auch durch Menſchen, in die Ebenen hinabgeführt und trifft dort mit der wahrſcheinlich Anfangs durch Anbau verbreiteten weißen Weide (S. alba) zu— ſammen, durch welche ſie in ausgedehnteſtem Maße Hybridifirt wird. Die echte Knack— weide würde in den Ebenen allmälig ver— ſchwinden, wenn ſie nicht durch Zuzug aus den Bergthälern erſetzt würde. Die organiſche Lebensthätigkeit richtet ſich auf zwei Zwecke: Selbſterhaltung und Fortpflanzung. Da von jeder Species Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 173 nur ein Theil der möglichen Nachkommen— ſchaft zur Entwickelung gelangen kann und da bei den ſexuell differenzirten Organis— men ſtets ein Ueberſchuß von männlicher Befruchtungskraft vorhanden iſt, ſo muß nothwendig ſowohl ein Kampf ums Daſein als auch ein Kampf um die Fortpflanzung ſtattfinden. Der Kampf um die Fort— pflanzung nimmt ſehr verſchiedene Formen an. Im Pflanzenreiche tritt er in zweier— lei Geſtalt auf, nämlich als Wettkampf um die Transportmittel, die den Blüthenſtaub auf die Narbe bringen, und als Wettkampf um die Vollziehung der Befruchtung zwi— ſchen den auf die Narbe gelangten Pollen— körnern. Der Wettkampf um die Trans— portmittel iſt vielfach ſtudirt worden; die Blüthen haben durch ihn Geſtalt, Farbe, Nectar und Duft erhalten. Der Wett— kampf auf der Narbe kann direct nur auf den Blüthenſtaub und allenfalls auf die weiblichen Organe von Einfluß ſein. Da er aber dahin führt, daß die Befrucht— ung zwiſchen den einander am beſten ange— paßten Organen ſtattfindet, ſo begünſtigt er diejenigen Exemplare und diejenigen Raſſen, welche Inhaber ſolcher gut ange— paßten Organe ſind, und hindert deren Vermiſchung mit anderen Raſſen. Im Thierreiche herrſchen ganz analoge Verhält— niſſe. Gleich wie der Kampf um das individuelle Daſein die natürliche Ausleſe und dadurch die natürliche Züchtung zur Folge hat, ſo bedingt der Kampf um die Fortpflanzung die geſchlechtliche Ausleſe und geſchlechtliche Züchtung. Der Begriff der geſchlechtlichen Zuchtwahl iſt bisher weit enger gefaßt worden, weil man zunächſt namentlich die Entwickelung der ſexuellen Charaktere ins Auge gefaßt hatte. Die Herausbildung der acceſſoriſchen Geſchlechts— merkmale iſt jedoch nur eine einzelne Wirk— 176 ung des Kampfes um die Fortpflanzung, ſo daß ſich meiner Anſicht nach die hier vorgeſchlagene Erweiterung des Begriffes der geſchlechtlichen Züchtung von ſelbſt rechtfertigt. Die in vorſtehenden Zeilen näher betrachtete Erſcheinung des Wett— kampfes der Pollenkörner auf derſelben Narbe iſt indeß der geſchlechtlichen Zucht— wahl in engerem Sinne, wie ſie bei den höheren Thieren ſtattfindet, durchaus ana— log, allerdings abgeſehen von dem Um— ſtande, daß bei den Thieren oft ein activer Kampf ſtattfindet und daß der Wettkampf unter ihnen oft durch ein äſthetiſches, alſo ein pſychiſches Moment entſchieden wird. Der weibliche Theil nimmt bei Thieren wie bei Pflanzen nur dadurch am Wett— kampfe theil, daß er gewiſſe Nebenbuhler begünſtigen kann. Dies mehr paſſive Ver— halten des weiblichen Elements läßt einen Vergleich zu, der freilich nur einſeitig iſt, aber einen Theil der betreffenden That— ſachen ſcharf beleuchtet. Der Wettkampf der verſchiedenartigen Pollenkörner auf den verſchiedenen Narben läßt ſich nämlich ver— gleichen mit dem Wettkampfe zwiſchen ver— ſchiedenen Sämereien auf verſchiedenen Bodenarten. Wie die beſondere Beſchaffen— heit eines jeden Bodens beſtimmte Säme— reien und die daraus hervorgehenden Pflan— zen begünſtigt oder ausſchließt, ſo begünſtigt oder hindert auch die Beſchaffenheit der Griffel und Narben die Keimung und die Wirkſamkeit gewiſſer Pollenſorten. Die nothwendige Folge davon iſt eine genaue geſchlechtliche Anpaſſung, wie im anderen Falle die Anpaſſung zwiſchen den verſchie— denen Bodenarten und den eigenthümlichen Floren, welche auf ihnen gedeihen. Bremen. W. O. Focke. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Vorkeime von Gymnogramme leptophylla Desv. Am Schluſſe einer längeren Arbeit über die Entwickelungsgeſchichte der Gymno- gramme leptophylla, eines Mittelmeer- Farns, der jedoch auch verſprengt im üb— rigen Europa z. B. in Meran und in Jerſey vorkommt, und ſich dadurch aus— zeichnet, daß ſeine Vorkeime durch adventive Sproſſungen ausdauernde krauſe Raſen bilden, während die Wedel (dev ſonſt aus— dauernde Theil der Farnkräuter) nach der Sporenbildung alsbald abſterben, macht Dr. Carl Goebel einige für die Stamm— geſchichte der Farne intereſſante Bemerkungen, die wir in faſt wortgetreuem Auszuge mit— theilen wollen: „Man hat bisher die Vorkeime ledig— lich als Träger der Sexualorgane der Farne aufgefaßt. Die Beobachtung der Vorkeime von Gymnogramme leptophylla (und Osmunda regalis) zeigt aber, daß dem Prothallium unter Umſtänden auch eine ganz ſelbſtſtändige Vegetation zukommt. Daß dieſe unterbleibt, wenn ein Embryo entwickelt wird, das hat ſeinen einfachen phyſiologiſchen Grund darin, daß dieſer jetzt alle Nährſtoffe, welche vom Prothallium aſſimilirt werden, in Anſpruch nimmt. Es iſt dies ein ähnliches Verhältniß, wie das, welches eintritt, wenn das Wachsthum einer phanerogamiſchen Blüthenachſe durch eine Terminal-Blüthe beendigt wird ... Es iſt nicht zu verkennen, daß das Verhältniß zwiſchen geſchlechtlicher und un— geſchlechtlicher Generation bei dem be— ſprochenen Farn ein andres iſt, als bei den meiſten andern Farnen. Die geſchlecht— liche Generation iſt es hier, die eigentlich dauernd vegetirt, auf ihr erſcheint die un— geſchlechtliche, wie das Moosſporogonium Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. auf dem Moospflänzchen. Dieſe unge— ſchlechtliche Generation hat einen ſehr ein— fachen Bau und eine ſehr begrenzte Exiſtenz. Die zarten durchſcheinenden Wedel beſtehen aus drei Zellſchichten. Die Blattfläche wird von der beſchreibenden Botanik als kahl be⸗ zeichnet, ſie zeigt aber, namentlich auf der Oberfläche, außer den bei den Farnen ſo häufigen Drüſenhaaren, lange ſpitze, ein— bis zweizöllige Haare ... chen iſt kaum angedeutet . . . und erreicht ſelten eine größere Länge als 5 Millime— ter .. . die ganze ſporenbildende Generation bei Meran im October nur Prothallien Das Stämm⸗ und im Mai iſt die Pflanze abgeſtorben. An kräftigen Herbarien-Exemplaren tragen ſchon die allerunterſten Blättchen, die un— getheilt, rundlich ſind, einzelne Sporen— häufchen; die ganze Farn-Pflanze geht alſo hier in der Sporenbildung auf. Es er— innert dieſes Verhältniß an das bei den Mooſen vorkommende Verhältniß zwiſchen geſchlechtlicher und ungeſchlechtlicher Gene- ration. Iſt es doch gerade der Umſtand daß bei den Mooſen die geſchlechtliche Gene- ration das eigentlich Vegetirende, die un- geſchlechtliche dagegen ein vorübergehendes, nur zur Sporenbildung beſtimmtes Glied iſt, was die Kluft zwiſchen Mooſen und Gefäßkryptogamen als eine ſo tiefe erſcheinen läßt. Auf der Seite der Mooſe zeigt An- thoceros allein eine Annäherung an die bei den Gefäßkryptogamen (d. h. den Farnen und Bärlapp-Gewächſen) ſtattfindenden Ver— | hältniſſe. Das Sporogonium von Antho- ceros nämlich wächſt in feiner baſalen Partie fort und bildet hier neue Sporen, während 1. zeitig. Hat ſo bei Anthoceros die ungeſchlecht— liche Generation eine Eigenthümlichkeit, die an das lange andauernde Wachsthum der— ſelben Generation bei den Gefäßkrypto— gamen erinnert, jo hat andererſeits Gymno- gramme leptophylla eine ungeſchlechtliche Generation, die faſt ausſchließlich der Pro— duction von Sporen dient. Dagegen iſt hier wie bei Anthoceros und den Mooſen im Allgemeinen die geſchlechtliche Generation das eigentlich Vegetirende, die geſchlechtliche Generation iſt es, die perennirt. Außer- dem aber zeigt dieſelbe auch eine höhere vegetirt nur wenige Monate; Milde ſah morphologiſche Differenzirung, als ſonſt von Farnprothallien bekannt iſt, eine Differen- zirung, die an diejenige der Vorkeime von Osmunda regalis erinnert. Will man auch keinen Werth darauf legen, daß Gymno- gramme flächenbürtige Adventivpſproſſen be— ſitzt, wie Anthoceros punctatus, betrachtet man ferner das Auftreten einer beſondern, Archegonien tragenden Sproſſung bei ymno— gramme als reine Anpaſſungserſcheinung (an die Scharf geſchiedenen Herbſt- und Früh— jahrs-Vegetationsperioden der Mittelmeer— länder), ſo iſt doch nicht zu verkennen, daß die bei Gymnogramme und Osmunda auf- tretende Verzweigung des Prothalliums ein Merkmal höherer morphologiſcher Dif— ferenzirung iſt. Durch dieſe ſchließen ſich dieſe Prothallien, wie ſchon in ihrem Habitus an die ſogenannten Lebermooſe, ſpeciell an Anthoceros und Pellia an ... In der That gleichen die dichotom verzweigten Osmunda-Vorkeime ganz einem Thallus von Pellia epiphylla. Allerdings iſt das Prothallium gewöhn— lich nur der Träger der Geſchlechtsorgane. die des oberen Theiles längſt gereift ſind. Bei den übrigen Mooſen dagegen wird das Sporogonium ein für alle Mal fertig ge | Faßt man aber in's Auge, wie in der Reihe der Archegoniaten die geſchlechtliche Gene— ration, die bei den Mooſen noch relativ hoch bildet und entwickelt ſeine Sporen gleich- differenzirt iſt, immer mehr zurücktritt, je 8 Kosmos, Band III. Heft 2. 23 zu > 178 höher die ungeſchlechtliche Generation aus— gebildet iſt — ein Verhältniß, welches man ſich durch eine Rückbildung der geſchlecht— lichen Generation erklären kann —, ſo wird es kaum zweifelhaft ſein, daß man auch die Farnprothallien in ihrer jetzigen Form als theilweiſe rückgebildete Nachkömmlinge einer lebermoosähnlichen Stammform wird auf— zufaſſen haben. In den oben beſchriebenen Fällen aber ſehen wir, daß es Farnpro— thallien giebt, die in der That noch eine lebermoosähnliche Differenzirung zeigen. (Botaniſche Zeitung, 35. Jahrgang Nr. 42, 43, 44. — 1877.) Zum Schluſſe wollen wir nicht unterlaſſen, darauf auf- merkſam zu machen, daß dieſe Beobachtungen eine gute Unterſtützung bilden für die unſres Wiſſens zuerſt von Dr. Hermann Müller | könnten. In der That giebt es ein ſolches ausgeſprochene Anſicht über das genealo— giſche Verhältniß der Farne zu den Leber- ſchwach duftender Blume. Allein auch dieſe mooſen. (Kosmos I. S. 104.) In Blumen gefangene Schwärmer. Die Arten der im wärmeren Aſien heimiſchen Gattung Hedychium werden ausſchließlich durch Schmetterlinge befruchtet, wie ihre lange enge Blumenröhre beweiſt. Eine der hier eingeführten Arten, mit | leuchtend rothen geruchloſen Blumen, hat, ſich in wunderbar vollkommener Weiſe der Uebertragung des Blüthenſtaubes durch die Flügel langrüſſelicher Tagfalter angepaßt; ſie iſt bis jetzt die einzige Pflanze, bei der man dieſe eigenthümliche Art der Beſtäub— ung beobachtet hat. *) Eine zweite Art, mit größeren, rein Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. das Maß der Tagfalterrüſſel weit über— ſteigender Blumenröhre, wird fleißig beſucht von Schwärmern mit entſprechend langem Rüſſel. Doch wird dieſen Schwärmern der Zugang zum Honig nicht ſelten ver— ſperrt durch unberufene Gäſte. Ein ſchmales kurzflügliges, ſchwarzes Käferchen, das ſich in Menge auf allen möglichen Blumen einzufinden pflegt, dringt häufig auch in die Blumenröhre des weißen Hedychium und neben ihm bleibt dann kein Raum für den Rüſſel der Schwärmer. Falls in der Heimat der Hedpchien ein ähnlicher Käfer gleich häufig die Arbeit der die Beſtäubung vermittelnden Schwär— mer ſtört, würde die natürliche Ausleſe die Entſtehung engerer Blumenröhren begünſti— gen, in denen keine Käfer ſich feſtſetzen engröhriges Hedychium mit hellgelber, für Käfer unzugänglichen Blumenröhren haben ihre Gefahren, — für die Schwär— mer, wie für die Blumen. Ineidit in Seyllam, qui vult evitare Charybdim. Größere Schwärmer mit langem und verhältnißmäßig dickem Rüſſel vermögen dieſen in die enge Röhre wohl einzuführen, aber nicht — oder doch nicht immer — wieder herauszuziehen und ſind dann einem langſamen Hunger— tode preisgegeben. Macrosilia rustiea und Antaeus ſcheinen nicht ſelten dieſem Schick— ſale zu erliegen; andere Schwärmer habe ich noch nicht als Gefangene des Hedychium getroffen. Einer meiner Freunde fand ein— mal in ſeinem Garten die eiförmigen Blü— tenähren dieſes Hedychium ringsum be— weißen, beſonders Abends ſtark duftenden Blumen und etwa 0,1 Meter langer, alſo Vergl. Hermann Müller in: Nature, Vol. XIV. p. 173. — 1876. hangen mit gefangenen, zum Theil ſchon todten Schwärmern. Ich ſelbſt ſah noch vor Kurzem (am Morgen des 30. Januar) ein Männchen von Maerosilia Antaeus zwiſchen den Blumen des gelben Hedychium Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. hangen; es ſchien todt; doch als ich die Blütenähre abſchnitt, begann es wieder zu ſchwirren und, anſehnliche Duftpinſel am Grunde des Hinterleibes entfaltend, einen ſtarken Geruch zu verbreiten, der mehr an den der Beutelratten als an Moſchus er- Welche vergeblichen Anſtrengungen innerte. das Thier ſchon gemacht hatte, um ſich zu befreien, dafür zeugte der Zuſtand der Blume, in deren Röhre fein Rüſſel feſtſaß. Blumenblätter, Staubbeutel, Narbe waren vollſtändig zerſtört und nichts übrig ge— blieben, als die dickwandige und durch feſte Deckblätter geſchützte Blumenröhre. Alle An— I | | | | | | | | | ſtrengungen aber ſchienen nur dazu gedient zu | haben, den Rüſſel immer tiefer in die enge Röhre hineinzuzwängen; denn es war der 90 Millimeter lange Rüſſel nicht nur bis zum Grunde der 65 Millimeter langen Blumenröhre vorgedrungen, ſondern ſeine Spitze hatte ſich ſogar von da in einer Länge von 8 bis 10 Millimeter wieder aufwärts gebogen. — Während ſonſt ſüßer Nectar die Kerfe lohnt, die als Liebesboten den befruchtenden Staub von Blume zu Blume tragen, führt hier die Begegnung von Schmetterling und Blume zu gegenſeitigem Verderben. Wie mag es in der Heimat des Hedychium ſein? Ob auch dort in gleicher Weiſe ge— fährdete Schwärmer leben und ob dieſe etwa die Gefahr kennen und meiden gelernt haben? Ich empfehle dieſes Beiſpiel der an den Honig ſpendenden Blumenröhren zum Ver— derben der Blume und zu eigenem lang— ſamen Hinſterben aufgehängten Schwärmer zur Beachtung erſtens frommen Gemüthern, die auch in den Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Kerfen das Walten einer all— weiſen, allgütigen Vorſehung zu bewundern lieben, und zweitens Freunden des nie irrenden Unbewußten, denen zufolge „das Hellſehen 11708, des Inſtinktes ja gerade immer ſolche Punkte betrifft, welche die bewußte Wahrnehmung überhaupt nicht zu erreichen vermag“. “) Hier wäre ein ſolcher Punkt, „für welchen der Mechanismus der ſinnlichen Erkenntniß nicht ausreicht“; die todtbringende Enge der Blu— menröhre, zu der ein einladend weiter Ein— gang führt, iſt von außen nicht zu erkennen; aber kein unbewußtes Hellſehen warnt den Schwärmer und kein Gott erlöſt mitleidig die nutzlos verſchmachtenden Opfer. Itajahy, 28. Februar 1877. Fritz Müller. Die Ackerbau treibenden Ameiſen in Texas. Herr H. C. MeCook hat der Aka— demie der Naturwiſſenſchaften in Philadel— phia über die Gewohnheiten dieſer höchſt ſonderbaren und intereſſanten Ameiſen (Myrmica molefaciens Buckley M. bar- bata Smith) eine Arbeit eingereicht, aus der die nachſtehenden Einzelheiten entnommen ſind. Der Verfaſſer hatte im Sommer 1877 an einem Orte unweit Auſtin in Texas auf dem Tafellande im Südweſten des Colorado-River und ſeines Nebenfluſſes Barton-Creek inmitten einer großen Anzahl der Hügel dieſer Ameiſen Aufenthalt ge— nommen, um ihre Gewohnheiten ſorgſam zu ſtudiren. Aus der ſchwarzen und zähen Bodenſchicht, deren Tiefe von wenigen Zoll bis zu drei Fuß ſteigt, tritt hier und da Kalkſteinfelſen hervor. Die Anſiedlungen der Ameiſen waren ſehr zahlreich und längs der Wege auf den Feldern, ſowie auch auf den Straßen und Fußpfaden, ſelbſt in den Gärten und Höfen von Auſtin; ja eine * Hartmann, Philoſ. des Unbewußten. VI. Aufl. S. 368. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 180 derſelben wurde ſogar auf dem ſteinge— pflaſterten Hofraume eines dortigen Hotels beobachtet. Es ſind gewöhnlich flache, kreis— förmige Landſtücke, mit hartem oder locke— rem Boden, von denen einzelne in ihrem Centrum niedrige Hügel aufweiſen, die aus Kieskörnchen von 2—3 Gran Gewicht aufgeſchichtet ſind. Die Feldſtücke wechſeln in der Ausdehnung, gewöhnlich haben ſie einige Fuß Durchmeſſer. Drei bis ſieben Wege ſtrahlen von ihnen aus und führen in das umgebende Pflanzendickicht. Dieſe Straßen ſind oft von beträchtlicher Länge und während der Werkſtunden mit einem Gewimmel kommender und gehender Ameiſen bedeckt. Die Letzteren halten während der Mittagshitze Sieſta, indem ſie allgemein gegen zwölf Uhr ihre Arbeit abbrechen und nicht vor zwei oder drei Uhr Nach— mittags zu derſelben zurückkehren. Die geſammelten Samen wurden ſtets von der Erde aufgenommen, es waren hauptſächlich die Samen kleiner Wolfsmilchgewächſe, Rubiaceen und Gräſer. Die Ameiſen bewährten ſich als echte Schnitter. Die Samen wurden durch die Centralpforten in die Speicher eingeführt. Sie werden dort geſchält und die Hülſen herausgebracht, um in abgeſonderten Haufen aufgeſchichtet zu werden, die auch bei der ſorgfältigſten Unterſuchung keinen Samen mehr finden ließen. Am meiſten ſcheinen ſie ein Gras, Aristida stricta, zu bevorzugen und es ſcheint ſogar, daß ſie dies für ihren Bedarf anſäen, obwohl dies der Berichterſtatter nicht ſelbſt beobachtet hat. (Andere Natur— forſcher haben nicht nur die Ausſaat, ſondern auch das Reinhalten und Jäten der Getreidefelder beobachtet. Red.) Da— gegen hat Mr. MeCook die innere Ein— theilung des Hügels in Wohn- und Spei— cherräume genau beſchrieben. Es mag noch So bemerkt werden, daß dieſe Ameiſen im Kriege ſehr geſchickt und daß ihre Angriffs— mittel faſt ſo ſchlimm als diejenigen der Wespen ſind. Auch erwieſen ſie ſich trotz ihrer friedlichen Beſchäftigung ſo wohl be— wandert in den Kriegswiſſenſchaften, daß Herr MeCook mehr als eine Nieder— lage von ihnen erlitten haben würde, wenn er nicht eine kleine Armee (von zwei Mann) ins Feld geführt hätte, welche mit den Angriffsluſtigen kämpfte, während er ihre Speicher, Ammenſtuben und den Palaſt ihrer Königin verwüſtete, um uns Kund— ſchaft darüber zu verſchaffen. Herr Pro— feſſor Leidy fügt dieſer in den Denk— ſchriften der Akademie erſchienenen Arbeit die Bemerkung hinzu, daß er während eines früheren Sommers die Gewohnheiten einer verwandten Art (M. occidentalis) in den Felſengebirgen ſtudirt und ſie ganz den hier beſchriebenen entſprechend gefunden habe, nur daß jene Art auch Hausthiere hielt und eine ſchöne große Schildlaus wegen ihrer Zucker-Produktion pflegte. (Nature No. 439 March 1878.) Das Embryonalkleid der Fußhühner. In einer werthvollen Arbeit über die Entwickelungsgeſchichte der Vogel— feder“) veröffentlicht Prof. Dr. Theodor Studer aus Bern ſeine bei Gelegenheit der „Gazellen“- Expedition auf der Inſel Neu - Britannien gemachten Beobachtungen über die Entwickelung der Fußhühner. Die eigenthümliche Gruppe der Megapodier oder Fußhühner, deren Verbreitung ſich auf die auſtraliſche Region beſchränkt, zeichnet ſich bekanntlich durch die eigenthümliche Brut— *) eitfcheift für wiſſenſchaftliche Zoologie. Band XXX. Heft 3. 1878, — pflege aus, die von derjenigen der übrigen Carinaten?) beträchtlich abweicht. Während dieſe in einem mehr oder weniger geſchütz— ten Neſt durch ihre Körperwärme, die ſie dem Ei mittheilen, den Embryo lebens— und entwickelungsfähig erhalten, überlaſſen die Megapodier dieſes Geſchäft bald der durch die Gährung faulender Subſtanzen, in die ſie die Eier hüllen, hervorgebrachten Wärme, bald dem von den Strahlen der tropiſchen Sonne durchglühten Sande. So ſcharrt Megacephalon Maleo Tem. und Leiopa ocellata Tem. Haufen von Blät— tern, Humus, faules Holz und ähnlichen Stoffen zuſammen, um in Gemeinſchaft die Eier hineinzulegen, während Megapodus Freyeinetti Tem. Löcher in den Sand ſcharrt, um dort die hineingelegten Eier ſich ſelbſt zu überlaſſen. Sie nähern ſich alſo darin den Gewohnheiten der Reptilien, während ſogar die Strauße, die im Körper— bau denſelben unter allen Vögeln entſchieden am nächſten ſtehen, wenigſtens zeitweiſe dem Brutgeſchäfte obliegen. Durchgängig ſind die Eier der Fuß— hühner im Verhältniß zu ihrer Körper— größe enorm groß und enthalten ein Dotter— material, welches dem Embryo erlaubt, ſich noch im Ei bis zu einer hohen Stufe zu entwickeln. Während, ſo weit bekannt, die Jungen aller übrigen Vögel beim Verlaſſen des Eies mit einem eigenthümlichen gleich— artigen Dunengefieder, dem Embryonal— gefieder, bekleidet ſind, tragen die Mega— podier ſchon vom erſten Tage an ihr de— finitives Gefieder, deſſen Beſtandtheile in ) Carinaten oder kielbrüſtige Vögel wird die größere Abtheilung der lebenden Vögel im Gegenſatze zu den Ratiten oder Strauß⸗ vögeln genannt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 181 Jungen ſchon vom Ei weg zu fliegen im Stande ſind. Es fragt ſich nun, ob das embryonale Dunenkleid, das ſich, wie ge— ſagt, ſonſt bei den Neſtjungen aller Vögel findet, hier gar nicht zur Entwickelung kommt, oder ob daſſelbe noch im Ei ſich entwickelt und abgeworfen wird, bevor der Vogel das Ei verläßt. Im letzteren Falle würde die Anſicht von der großen phylo— genetiſchen Bedeutung des Embryonalgefie— ders, welche Prof. Studer ſchon früher ausgeſprochen hat, erheblich verſtärkt wer— den, denn man hätte es dann mit einem Gebilde zu thun, welches eine phy— ſiologiſche Bedeutung nicht haben kann. Während des Aufenthalts Sr. Maj. Corvette Gazelle auf der Inſel Neu-Bri— tannien im Norden von Neu-Guinea hatte Herr Prof. Studer Gelegenheit, den Em— bryo von Megapodius Freyeinetti zu be— obachten und an dieſem die angeregte Frage zu prüfen. Die Gazelle ankerte am 12. Auguſt 1875 in Greatharbour, einer Seiten— bucht der Blanchebay im Nordoſten der Inſel. Die Umgebung des faſt kreisrunden Hafens iſt vulkaniſchen Urſprungs, im Weſten erheben ſich drei Vulkankegel, von denen alte, mit Gras und Buſchwerk bewachſene Lava— ſtröme nach dem Ufer ziehen, an dem überall aus Spalten heißes Waſſer und Schwefelwaſſerſtoffgaſe dringen. Im Norden dehnt ſich eine Ebene mit Untergrund von ſchwarzem Augitſand und mit hohem Gras und vereinzelten Palmen beſtanden, aus. Hier war der Hauptaufenthalt der Mega— Deck-, Schwung- und Steuerfedern nebſt Unterdunen differenzirt ſind, ſo daß die podier. Dieſelben, meiſt ein Hahn begleitet von zwei bis drei Hennen, trieben ſich im hohen Graſe herum und flogen nur auf— geſcheucht kurze Strecken weit, um bald wieder auf niederen Bäumen ſich nieder— zulaſſen. 182 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Beim Betreten des Landes fielen bald Löcher im Sande auf, welche in einen kurzen 1—2 Fuß langen Gang führten, jo weit, daß man bequem die Hand einführen konnte. Im Grunde deſſelben fanden ſich, loſe im Sande verſcharrt, 2 — 3 große, länglich ovale Eier von gelblich brauner Farbe. Einzelne waren friſch gelegt, andere ent— hielten Embryonen, die leicht als zu Me— gapodius gehörend zu erkennen waren. Der von der Sonne durchwärmte ſchwarze Lavaſand hatte die hohe Temperatur von 38-40 C. und kühlte ſich während der Nacht nur wenig ab. Das Ei iſt im Verhältniß zum Vogel, der vom Schnabel bis zur Schwanz— ſpitze 40 Centimeter mißt, ſehr groß. Sein Längsdurchmeſſer beträgt 85 Millimeter, der größte Querdurchmeſſer in der Mitte 50 Millimeter. Friſch ausgekrochene Junge fanden ſich am 16. Auguſt. Die Thierchen waren mit dem Federkleid der Alten bis auf die Steuerfedern bedeckt, liefen raſch im hohen Graſe umher und waren im Stande, auf— geſcheucht eine kurze Strecke zu fliegen. Keine Spur von Embryonaldunen war an ihnen zu entdecken. In einigen Eiern fan— den ſich Embryonen von 60 — 70 Milli— meter Länge, alle Beobachteten im gleichen Entwickelungsſtadium. Ihre Form war voll— kommen ausgebildet, der ganze Kör— per bedeckt mit haarartigen, ſchwarz pigmentirten Gebilden, von 0,5 — 1 Centimeter Länge, die mit den Federkeimen, welche das Hühnchen beim Ausſchlüpfen zeigt, die größte Analogie darboten. Dieſe Gebilde ſtaken nur loſe in der Haut und fielen ſchon bei etwas derber Berühr— ung aus.. Die anatomiſche Unter— ſuchung ergab durchweg Uebereinſtimmung mit dem Bau der Embryonaldunen und zwar ſpeciell derjenigen der Hühnervögel. . . Alſo auch bei den Megapodiern ſehen wir ein vorläufiges Embryonalgefieder auftreten, das aber phyſiologiſch nicht mehr zur Gelt ung kommt, ſondern noch im Ei abgeſtoßen wird, um dem definitiven Gefieder Platz zu machen, mit dem der Vogel das Ei verläßt. Bei der Conſtanz, mit welcher bei den Vögeln ein überall gleichartiges Embryonalgefieder auftritt, kann man ſich der Vermuthung nicht enthalten, daß das— ſelbe einen Zuſtand der Hautbedeckung repräſentirt, welcher vielleicht den Vorläu— fern unſerer Vogelwelt in früheren Perioden eigen war. . Hinſichtlich der Pinguinfedern bemerkt der Verfaſſer in derſelben Arbeit: „Iſt ſo— mit die Uebereinſtimmung der Pinguin— federn mit anderen Vögeln anzunehmen, fo bietet doch die Befiederung des Pinguins Verhältniſſe dar, die mehr einen embryo— nalen Charakter tragen und vielleicht dieſe eigenthümliche Vogelform als einen ältern Ty— pus dürfen beanſpruchen laſſen. Erſtens iſt das Federkleid noch gleichmäßig über den gan— zen Körper verbreitet, ohne in beſtimmten Formen angeordnet zu ſein. Dieſes findet ſich in der übrigen Vogelwelt nur bei gewiſſen Ratiten, dem Apteryx, Dromaeus und bei den jungen Vögeln mit Embryonaldunen. Zweitens ſind mit Ausnahme der Steuer— und Schmuckfedern bei gewiſſen Arten ſämmtliche Federn blos mit lockern Fahnen nach Art der Dunen verſehen, und nicht in verſchiedene Federformen geſondert, wie ſolche bei anderen Vögeln eine Sonderung in Deck- und Dunenfedern bedingen. Wichtig iſt in Hinſicht auf die Ver— hältniſſe der Ruderſchwingen der Fund eines foſſilen Pinguins, Palaeeudyptus antarcticus Huxl., in tertiären Sandſteinen Neuſeelands (Hector, on the remains of Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. a gigantie Pinguin, Transactions and Proceed. of the New-Zealand Instit. Vol. IV. 1871.) Es iſt intereſſant, daß bei dieſer gigantiſchen Form der Humerus noch nicht die Verkürzung und Verbreiter— ung beſitzt, wie bei unſeren jetzt lebenden Pinguinen. Während bei dieſen der Hu— merus flach und nach dem diſtalen Ende zu verbreitert iſt, dabei die Länge des Fe— mur nicht erreicht, iſt er bei jenem ein Sechstheil länger als der Femur und nach dem diſtalen Ende der Diaphyſe verſchmä— lert. Wir dürfen daraus vielleicht den Schluß ziehen, daß die Anpaſſung der vordern Extremität als Ruderwerkzeug noch nicht ſo weit gediehen war, wie bei den jetzigen Arten, und damit die Federbedeckung der— ſelben noch nicht ſo ſchuppenartig knapp anliegend war, wie dies zur Ueberwindung des Widerſtandes im Waſſer nothwendig iſt, alſo dieſe Modification des Körpergefieders erſt als eine ſpäter erworbene betrachtet werden dürfte.“ Darwinismus und Talmud. In einer Reihe leſenswerther Artikel, die im laufenden Jahrgange des „Jüdi— ſchen Literaturblattes““) erſchienen ſind, hat Herr Dr. Placzek in Brünn eine Reihe merkwürdiger Stellen aus der Agada und andern Theilen des Talmud hervorgehoben und commentirt, welche be— weiſen, daß das jüdiſche Gelehrtenthum — wie andererſeits auch von den Arabern bekannt iſt — ſchon ſehr früh ein allmä— liges Werden des Menſchen und der ge— ſammten Natur, ſowie eine Anpaſſung an ) Herausgegeben von Rabbiner Dr. Moritz Rahmer. Robert Frieſe, Leipzig. 1878. No. 1, 6, 7, 9 und folg. . verſchiedene Lebensbedingungen, alſo eine allmälige Veränderung derſelben ins Auge gefaßt hat. Wir heben aus der ausführ— lichen und gedankenreichen Arbeit in Kürze einige der Sätze hervor, die uns am merk— würdigſten erſchienen find. Das biogenetiſche Grundgeſetz auf den Menſchen angewendet, kann in einer noch allgemeineren Faſſung in dem Satze gefunden werden: . „Alle Formen der Schöpfung, der or— ganiſchen und unorganiſchen, wiederholen ſich bei der Bildung des Menſchen.“ (Aboth. d. R. N. 31; ähnlich Jalkuth Reu- beni 9. a.) Der Blick der Agadiſten errieth ſchon in der ganzen Schöpfung eine Stufenfolge vom Niedern zum Höhern. (Ber. Rabba 19; Bechai zu P. Wajakhel; Pardess 180a.) Die Ahnung, daß die geiſtige Ent— wickelung des Menſchengeſchlechts unermeß— liche Zeiträume durchzumachen hatte, bis ſie bei einem Abraham oder einem Moſes anlangen konnte, ſpricht aus der Midraſch— Erklärung des Pſalmverſes 105, 8: „das Wort gebot er dem tauſendſten Geſchlechte.“ Nach der bibliſchen Chronologie war es jedoch das 26ſte; die Lücke wird durch die ſeltſame Bemerkung ausgefüllt: „974 Gene— rationen wurden vernichtet“ (Ber. Rabba 28), oder nach der Verſion des Talmud (Chagiga 13b) „hätten fo viele Geſchlech— ter erſchaffen werden ſollen“. Nach einem Andern wird unter dem „tauſendſten Ge— ſchlechte“ Abraham gemeint. Dann wären 980 Generationen der Vernichtung anheim— gefallen oder — der Vergeſſenheit. Dem Adam theilt der Talmud thie— riſches Weſen und einen Schweif zu (Bera- choth 61a. Erubin 18. a) Nav Je— huda jagt: „Der Menſch ward zu einem thieriſchen Weſen, d. h. anfangs hatte der Menſch einen Stumpf oder Schweif, wie E 184 ein Thier; doch Gott nahm ihm dann denſelben der menſchlichen Würde wegen.“ An einer andern Stelle heißt es: Adam wurde aus dem von allen Weltgegenden zuſammengeleſenen Staube erſchaffen (damit er ſich überall acclimatiſiren könne.) (Synh. 38. n.) In Beziehung auf die Farbe der Urmenſchen waren die Talmudiſten nicht der Anſicht Prichard's, daß Adam vielleicht oder gar wahrſcheinlicherweiſe ein Neger geweſen ſei, ſondern ſie theilten die Anſicht der meiſten Darwiniſten, daß die dunkel— farbigen Stämme Abkömmlinge hellfarbiger Menſchen ſeien. Es gibt dafür manche Gründe, unter denen ſich auch der befin— det, daß die neugebornen Negerkinder bei— nahe dieſelbe Hautfarbe aufweiſen, wie neu— geborne Kaukaſier. So meint denn auch der Talmud, Cham ſei zu Anfang von ähnlicher Hautfarbe geweſen, wie ſeine Brü— der und habe erſt ſpäter die ſchwarze Farbe angenommen. Zum Belege nachfolgende Stellen: „Nach dem Fluche Noachs erſt ward Cham jo mißgeſtaltet.“ (Ber. Rabba 36.) „Cham ward geſtraft an ſeiner Hautfarbe.“ (Synhedrin 108 b; Tanchuma 12.) Die Schriftſtelle: „Verändert der Kuſchite ſeine Haut?“ (Jerem. 13, 23) deutet der Tal- mud (Sabbat 107 b) dahin: „Die Haut des Kuſchiten kehrt nicht zurück,“ d. h. zu ihrer urſprünglichen hellen Farbe — ein Beweis alſo für die rabbiniſche Anſchauung von einer erfolgten Umbildung der chami— tiſchen Race. Die Abſonderlichkeit der Ku— ſchiten wird übrigens auch auf die Depra— virung der Sitten bezogen. (Ber. Rab. 36. M. Schocher Tow zu Psalm 7.) Einen beſonders lebhaften Ausdruck ge— winnen die Anſichten von dem Anpaſſungs— ver mögen der lebenden Weſen an ihre Um— gebung in dem Zwiegeſpräche zwiſchen Rabbi Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.“ Hillel und jenem Wichte, der eine Wette um 400 S. eingegangen war, den ſanften Rabbi in Ungeduld oder Zorn zu verſetzen. (Sabbat 31 a.) Es war vor einem Sab— bat, und Hillel gerade beſchäftigt, zu deſſen Empfange ſich vorzubereiten, als jener Spötter ihn mit frechem Wort meh— reremal aus dem Hauſe rief und in der Abſicht, ihn zu reizen, die nach ſeiner Mei— nung geringfügige Frage an ihn richtete: „Warum ſind die Köpfe der Babylonier ſo ſeltſam rund?“ Hillel antwortete ruhig: „Eine hochwichtige Frage, haft du da, mein Sohn, gethan. Wiſſe, die Köpfe der Ba— bylonier ſind ſo geſtaltet, weil ſie keine klugen Hebammen haben“ (d. h. entweder weil dieſe die Köpfe der Kinder nicht mit der nöthigen Vorſicht behandeln, oder weil ſie die weichen Schädelknochen der Kinder durch künſtliche Preſſungen umgeſtalten). „Warum ſind die Augen der Tarmudier (Steppenbewohner) eng geſchlitzt?“ „Auch das iſt eine gar wichtige Frage, entgegnet Hillel. Ihre Augen ſind ſo eng geſchlitzt, weil fie in ſandiger Gegend leben.“ („Ihr Wohnort hat, erklärt Raſchi, eine ſolche Veränderung bei ihnen hervorgebracht, daß die Spalte ihrer Augenlider nicht ſo groß iſt, als bei uns, damit der Flugſand ſie nicht beläſtige.“) „Warum ſind die Füße der Afrikaner ſo breit und platt?“ fragte jener endlich. „Du haſt wieder, meint Hillel, eine ſehr bedeutſame Frage an mich gerichtet: weil ſie in ſumpfigen Ge— genden wohnen.“ („Sie waten barfuß im Waſſer, und daher breiten ſich ihre Füße immer mehr aus, damit ſie nicht in den Tümpeln verſinken,“ bemerkt Raſchi zu dieſer Stelle). Prägnanter als Rabbi Hillel und der gelehrte Commentator des 11. Jahrhunderts kann man die Anpaj- ſung an beſondere örtliche Verhältniſſe durch Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. vortheilhafte Abänderungen des Körperbau's in der That kaum ausdrücken. Und es ſteht dem Manne, von dem es heißt: „Es gab keine Wiſſenſchaft, die er nicht betrieben, ſogar alle Sprachen; er verſtand, was Berge, Hügel und Thäler künden, was ſich | Bäume und Kräuter, wilde und zahme Thiere erzählen“ (Soferim 16. 9.), dem naſeweiſen Jungen gegenüber, vorzüglich, alle dieſe Fragen für hochwichtig zu erklä— ren Auch die beſonderen Körperbeſchaffen— heiten der Thiere werden im Talmud von gleichem Geſichtspunkte aus erklärt. „Wa— rum hat das Kameel einen kurzen Schweif?“ „Weil es von Dornen ſich nährt.“ „Zwi- boldt's und Ritter's Verdienſt iſt es, ſchen Dornengeſtrüpp umherſtreifend, würde ein längerer Schweif an den Dornen hän- | gen bleibend, es arg beläſtigen.“ Raſchi. „Warum hat das Rind Schweif?“ lebend, die Mücken ſich vom Leibe halten muß.“ „Warum zieht das Huhn, wenn es die Augen ſchließt, das untere Augen- lid über das obere?“ „Weil es auf dem uud darüber. Dachgebälke ſchläft. Der aufſteigende Rauch einen langen „Weil es an feuchten Orten 0 würde es ſonſt blenden.“ (Sabbat 77 b.) Das klingt zum Theil ſehr im Sinne Lamarck's, obwohl, wie der Verfaſſer zugiebt, alle dieſe Citate auch zu Gunſten einer teleologiſchen Theologie verſtanden werden können. N Land und Leute. Ein ganz ähnliches Thema, wie das in den vorſtehend angezogenen Talmudſtellen behandelte, lag einem Vortrage zu Grunde, den Prof. Dr. Kirchhoff aus Halle gegen Ende Februar 1878 in Berlin gehalten hat, und „das deutſche Land als Mitbildner des deutſchen Volkes“ betitelt hatte. Wir Kosmos, Band III. Heft 2. entnehmen einem Zeitungsreferate einige kurze Andeutungen über den Gedankengang des Vortrages. „Auf dem Zuſammenwirken von Ab— ſtammung, Bodenbeſchaffenheit und geſchicht— licher Entwickelung“ begann der Vortragende, „baſirt die körperliche und geiſtige Aus— ſtattung der Stämme und der Nationen. Zwei dieſer Faktoren entziehen ſich der er— ſchöpfenden wiſſenſchaftlichen Betrachtung. Von dem Daſein des Menſchen kennen wir nur wenig, vollkommen überblicken wir da— gegen die Beſchaffenheit des Grund und Bodens und die damit vielfach zuſammen— hängenden klimatiſchen Einflüſſe. Hum— die engen Beziehungen der Geographie zur Völkerkunde erkannt zu haben. Sehen wir darauf hin die Stammes ⸗-Unterſchiede in Deutſchland an, ſo ſpringt zuerſt der Gegen— ſatz zwiſchen den Bewohnern der Ebene und denen der Berge in's Auge. In den Alpen wohnt ein Hünengeſchlecht. Jeder vierte Rekrut im Militairbezirk Tölz mißt 6 Fuß Soweit die Wetterzone der Berge reicht, wohnen Rieſen. In der ganzen Münchener Hochebene iſt außergewöhnliche Körpergröße zu Hauſe. Aber auch der ſandige Boden der Ebene iſt dem körper— lichen und geiſtigen Gedeihen ſeiner Be— wohner zuträglich. Der Menſchenſchlag der ſandigen Geeſt und der fetten Marſch unter— ſcheidet ſich erheblich. Hier große und hagere, dort unterſetzte und gedrungene Geſtalten. In den Städten pflegen die Körper ſich länger zu ſtrecken, als auf dem platten Lande, Auge und Haar der Städter dunkeln im Verlauf der Generationen. Auch ende— miſche Krankheiten bringt die Bodenbeſchaffen— heit mit ſich. Die ſumpfreichen Niederungen an den Ufern der Nordſee ſind die Heimath des Marſch- oder Wechſel-Fiebers, welches 24 186 ſich, dem Laufe der größeren Ströme fol— gend, auch noch weit in das Land hinein— ſtreckt. Kropf und Cretinismus ſind die Plagen des Gebirges. Sie ſind im Hima— laya nicht minder verbreitet als in den Alpen, wo Juvenal ſie ſchon kennt. Nur Mangel an Luft und Licht ſind die Ur— ſachen des Cretinismus, wie ſie in den dumpfen Thälern der mittleren Bergregio— nen vorhandeu ſind. In den höheren Re— gionen, wo ein friſcher Luftzug herrſcht, findet ſich dieſe körperliche und geiſtige Ver— krüppelung nicht. Die Natur des Bodens übt einen tiefgreifenden Einfluß auf die ganze Geſtaltung des Lebens aus. Wohn— ung, Nahrung, Kleidung, geiſtige Thätigkeit ſtehen mit ihr in engem Zuſammenhange. In den Bergen blüht die Viehzucht, in der Ebene der Ackerbau, in den Flußniederungen der Han— del. Die Kunſt gedeiht nur kümmerlich an den Ufern des deutſchen Meeres, wo dagegen die Rebe an den Berglehnen emporſteigt, da haben ſtets Dichtung und Geſang geblüht.“ Aehnliche Beziehungen, zwiſchen Körper— geſtalt und Lebensweiſe, wie ſie Herr Prof. Kirchhoff in feiner Rede erwähnte, hat man ſehr oft zu bemerken geglaubt, aber ſchon Montaigne hat darauf hingewieſen, wie vorſichtig man in ſolchen Schlüſſen ſein muß, wenn ſie nicht dem Schuh des The ramenes (der auf alle Füße paßte), glei— chen ſollen. Der genannte ausgezeichnete Kritiker verweiſt zur Illuſtration (Essais III. 9) auf zwei Aeußerungen über die Urſachen einer und derſelben Körperbildung, in denen ſich zwei berühmte Autoren ſtark widerſprechen. Torquato Taſſo ſagt nämlich in ſeiner Vergleichung Italiens mit Frankreich („Paragone dell' Italia alla Francia,“ nella parte prima delle Rime e Prose. Ferrara 1585. p. 11). „Die franzöſiſchen Edelleute haben im Allgemeinen Nur und Dinku). (Im Herzen Afrikas. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ziemlich ſchmächtige Beine im Vergleiche zu dem übrigen Körper, aber man muß die Urſache hiervon nicht auf's Gerathewohl der Eigenthümlichkeit des Klimas (del eielo) zuſchreiben, ſondern der Art ihrer Leibes— übung: Da ſie nämlich faſt fortwährend zu Pferde ſitzen, ſtrengen ſie die untern Theile nur wenig an, ſo daß die Natur dorthin auch nicht viel Nahrungsſtoff gelangen läßt. Im Gegenſatze hierzu ſagt aber Sueton (Caligula c. 3): „Zu der übrigen Wohlgeſtalt des Germanieus paßten ſeine dünnen Beine nicht recht, doch gewannen dieſelben allmälig an Kraft und Fülle durch tägliches Reiten nach dem Früh— ſtück.“ Man würde dieſe direkt entgegen— ſtehenden Meinungen allenfalls vereinen können, wenn man annehmen dürfte, daß der eine den Oberſchenkel, der andere den Unterſchenkel gemeint hätte, aber beide be— zeichnen ausdrücklich den letzteren (gamba und erus). Daher kann man es dem alten Montaigne nicht verübeln, wenn er die Geſchmeidigkeit des menſchlichen Geiſtes be— wundert, durch die er ſich allen Erſchein— ungen anpaßt, überall eine Erklärung findet. Zu der Bemerkung des Profeſſor Kirch— hoff, daß die Bewohner der fetten Marſch— gegenden hager und groß ſeien, ſtimmt ſehr wohl eine Beobachtung Schweinfurth's, auf die ich um ſo lieber in dieſem Zuſam— menhange hinweiſen will, weil ſie die vor— hin mitgetheilte Talmud-Bemerkung über afrikaniſche „Sumpffüße“ erläutert. „Nir— gends in der Welt“ ſagt Schweinfurth Leipzig 1874. S. 128) „ſcheint ſich das Geſetz der Natur, demzufolge gleiche Exiſtenzbedingungen ana— loge Formen unter den verſchiedenſten Thier— arten hervorbringen, mehr zu bewahrheiten, als hier (nämlich im Lande der Schilluk, „Daß Menſchen und Thiere in vielen Gebieten, deren phyſikaliſche Beſchaffen— heit ſie in grellen Gegenſatz zu den Nachbarländern ſtellt, etwas Gemeinſchaft— liches in der Summe ihrer Merkmale und eine gewiſſe Harmonie in ihrem Cha- rakter darbieten, läßt ſich nicht bezweifeln. Eines der frappanteſten Beiſpiele für einen derartigen Parallelismus bieten im Gegen— ſatze zu dem ſteinigen und felſigen Innern des Gebietes, die Völker, welche an dieſen ſumpfigen Flußniederungen anſäſſig find: Schilluk, Nuer und Dinku. Als Menſchen, ſagte ſchon früher Heuglin, machen fie den Eindruck des Flamingo unter den Vö— geln und gewiß, er hat Recht: es ſind Sumpfmenſchen, die vielleicht auch eine An— deutung von Schwimmhaut zwiſchen den Zehen zeigen würden, erſchienen dieſe nicht durch den Plattfuß erſetzt und die ebenſo bezeichnende Verlängerung der Ferſe. Da— zu kommt noch ihre ſonderbare Gewohn— heit, nach Art der Sumpfvögel auf einem Beine zu ſtehen und das andere mit dem Knie zu unterſtützen. So pflegen ſie in dieſer Stellung bewegungslos ſtundenlang zu verharren. Ihr gemeſſener, langer Schritt im hohen Schilf iſt dem des Storches zu vergleichen. Dürre und langſchüſſige Glied— maßen, ein ebenſo verlängerter dürrer Hals auf dem ein kleiner und ſchmaler Kopf ruht, vervollſtändigen dieſe Uebereinſtimm— ung.“ Daß das Sumpfland mit ſeinem decimirenden Einfluß ſich bald einen aus— geprägten, dem Miasma entwachſenen Typus Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 187 erzieht, iſt leicht verſtändlich; in der von den Menſchen mit Vorliebe gewählten Stell— ung der Sumpfvögel, die den letzteren durch den beſonderen Mechanismus des Vogel— beins ſehr erleichtert wird, dürfte indeſſen wohl nur die zur Gewohnheit gewordene Nachahmung eines alltäglichen Vorbildes zu erkennen ſein. „Blumen der Luft.“ Mit Bezug auf dieſen von Jean Paul ihrer glänzenden Farben wegen den Tag- Schmetterlingen beigelegten Namen (Vergl. Kosmos I. S. 260) ſchreibt Herr Dr. Fritz Müller aus Itajahy in einem Privatbriefe vom 1. März c.: „Im vergangenen Monat machte ich einen mehrwöchentlichen Ausflug nach dem Hochlande im Norden unſerer Provinz, Sao Bento im Quellgebiete des Rio negro, der mir recht hübſche Ausbeute, aber faſt nur von ſpeciell lepidopterologiſchem Inter— eſſe lieferte. Häufig war dort der von Boisduval als très rare bezeichnete Papilio Grayi, deſſen Männchen wirklich auch in Betreff des Geruches als „Blume der Luft“ bezeichnet werden kann. Der von den Hinterflügeln ausgehende Duft iſt ſo ſtark und ſo würzig, daß ich den Schmetterling wie eine Blume, zum ge— legentlichen Daranriechen in der Hand ge— tragen habe.“ Carl Mägeli über die Speciesfrage der Spalt— pilze, über den Kampf um's Daſein bei den letztern und über die natür— liche Zuchtwahl bei der Differen— zirung des Menfchengeſchlechts. mutations-Theorie mehr als eines und geben Sachen der Abſtammungslehre ſich ent— ſchieden die größten Verdienſte erworben hat, wird ſeit langer Zeit von ſchlecht⸗ unterrichteten Gegnern der Darwin'ſchen auf botaniſchem Gebiet in Lehre nichts deſto weniger mit großem Pathos zu den ihrigen gezählt. Aller— dings geſteht Nägeli dem Darwin ſchen Zuchtwahl-Princip nicht die ganze hohe Bedeutung zu, wie ſie Darwin in den erſten Auflagen ſeiner „Entſtehung der Arten“ betont hat. Es iſt ja bekannt, daß Darwin ſelbſt — nachdem er die Nägeli'ſchen Abhandlungen geleſen — ſich zu einer Conceſſion herbei ließ, obſchon gerade unter ſeinen deutſchen Anhängern ſich wenig Luſt zeigte, der Nägeli'ſchen „Vervollkommnungs-Theorie“ er bewährte Pflanzen-Phyſiologe, welcher im Streit um die Trans- Literatur und Kritik. der ſchwerwiegendſten Voten abge⸗ Darwins behaupten — die Zuchtwahllehre des Engländers in Frage ſtellen könnte. Auch in der neueſten Arbeit Nägeli's“) ſind wiederum für die Descendenzlehre und Zuchtwahl-Theorie einige ſehr intereſſante Geſichtspunkte enthalten. Der Verfaſſer, welcher ſich zehn Jahre lang mit der Unter— ſuchung der Spaltpilze beſchäftigte, ehe er ſeine epochemachende Theorie von den nie— dern Pilzen und den Infektionskrankheiten der Oeffentlichkeit übergab, beſpricht ge— legentlich auch die in neueſter Zeit mit Lebhaftigkeit ventilirte Speciesfrage der Spaltpilze. Er gelangte zu folgendem Reſümé: Die Frage von der ſpecifiſchen Ver— ſchiedenheit der Spaltpilze gewährt ſchon deshalb ein hohes Intereſſe, weil dieſe Organismen ſehr verſchiedenartige Zer— ſetzungen bewirken; dieſe Frage ſteigert ſich aber zur höchſten Bedeutung, wenn wir — wie das jetzt in den wiſſenſchaftlichen Kreiſen geſchieht — annehmen, daß die Contagien und Miasmen ſelbſt nichts An— deres ſind, als Spaltpilze. Gegenüber der Anſicht Cohn's, welche auch diejenige vieler Aerzte geworden iſt, und wonach jede ) Die niedern Pilze in ihren Be— ziehungen zu den Infektionskrankheiten und inſoweit der Geſundheitspflege (München, bei Olden— | beizupflichten, daß fie — wie die Gegner burg 1877). Literatur und Kritik. Function der Spaltpilze durch eine beſondere Species vertreten ſei, verhält ſich das aus zahlreichen Experi⸗ menten gewonnene Reſultat eher ablehnend als zuſtimmend. „Ich habe ſeit 10 Jahren wohl tauſende von verſchiedenen Spalthefe— formen unterſucht und ich könnte (wenn ich Sarcine ausſchließe) nicht behaupten, daß auch nur zur Trennung in zwei ſpecifiſch verſchiedene Formen Nöthigung vorhanden ſei“ (S. 20). Wir laſſen Nägeli in der Folge ſelbſt reden. „Alle Spaltpilze ſind kurze Zellen (vor der Theilung etwa 1½ mal, nach derſelben 3/4 ſo lang als breit); fie zeigen fi) bald ſchwärmend, bald ruhend; die Verſchieden— heiten beſtehen bloß in der ungleichen Größe und darin, daß die Zellen ſich nach der Theilung von einander lostrennen oder daß ſie zu Stäbchen und Fäden verbunden bleiben, welche bald gerade, bald mehr oder weniger ſchraubenförmig gewunden ſind. Nun habe ich bei der nämlichen Zer— ſetzung oft einen ziemlich weiten Formen- kreis der anweſenden Spaltpilze oder, mit andern Worten, ein Gemenge von mehreren Formen, die man gewöhnlich ſpecifiſch oder ſelbſt generiſch trennt, beobachtet, anderſeits bei ganz verſchiedenen Zerſetzungen dem Anſcheine nach durchaus die gleichen Spalt pilze gefunden. Dieſe Thatſache iſt der Behauptung, daß jeder Zerſetzung eine ſpecifiſche Pilzform zukomme, durchaus un— günſtig. £ Eine andere ſehr beachtenswerthe That— ſache iſt die, daß die Spaltpilze auch Ver— bindungen zerſetzen, welche in der Natur entweder nicht, oder doch nur in der Art vorkommen, daß eine Zerlegung durch Spalt— pilze dort nicht ſtattfindet. Eine ſolche Ver⸗ bindung iſt das Glycerin, welches zwar beim Keimen von fetthaltigen Samen ent— — — 189 ſteht, aber das Zellgewebe nicht verläßt und im Naturzuſtande vielleicht nie Ver— anlaſſung zu einem beſondern Gährungs— proceß gibt. Wo kamen nun, als zum erſten Mal künſtlich dargeſtelltes Glycerin in Gährung gerieth, die Spaltpilze her, wenn dieſelben ſpecifiſch verſchieden ſind? Ich bin überzeugt, daß es unter den vielen Kunſtprodukten der organiſchen Chemie noch manche giebt, welche durch die gewöhulichen Spaltpilze eigenthümliche Zerſetzungen er- leiden. Endlich iſt noch eine äußerſt wichtige Thatſache zu erwähnen, nämlich die Um⸗ wandlung der beſtimmten Hefennatur eines Pilzes in eine andere. Dieſelbe iſt zwar ſchon längſt den Hausfrauen bekannt, welche wiſſen, daß gekochte Milch nicht ſauer, ſondern bitter wird; fie wurde aber in der Wiffen- ſchaft nicht beachtet. Man kann den ſäure— bildenden Spaltpilzen durch verſchiedene Behandlung (Erwärmen, Austrocknen, Züch— ten in ſchlechterer Nährlöſung) das Ver— mögen, Säure zu bilden, ganz oder theil— weiſe nehmen, ſo daß ſie eine zuckerhaltige Nährlöſung nur noch ſchwach ſauer machen oder dieſelbe auch vollkommen neutral laſſen. Man kann dann dieſen umgeſtimmten For— men durch Cultur das urſprüngliche Ver— mögen wieder anzüchten. Wenn ich ſage — fährt Nägeli fort — daß die uns bekannten morphologiſchen Eigenſchaften der Spaltpilze und ihr Ver— mögen, verſchiedene Zerſetzungen zu be— wirken, eine generiſche und ſpecifiſche Unter— ſcheidung nicht rechtfertigen, und daß ſelbſt die Möglichkeit vorliege, alle Formen in eine einzige Species zu vereinigen, ſo liegt es mir doch fern, dieſe Behauptung wirk— lich auszuſprechen. — — — So ſehr ich auf der einen Seite überzeugt bin, daß die Spaltpilze ſich nicht nach ihren Hefen— er 190 wirkungen und ihrer Formbildung ſpeeifiſch gliedern, und daß man viel zu viele Arten unterſchieden hat, ebenſowenig iſt es mir auf der andern Seite wahrſcheinlich, daß alle Spaltpilze eine einzige naturhiſtoriſche Art darſtellen. Ich möchte vielmehr ver— muthen, daß es einige wenige Arten giebt, die aber mit den jetzigen Gattungen und Arten wenig ge— mein haben und von denen jede einen be— ſtimmten, aber ziemlich weiten Formenkreis durchläuft, wobei verſchiedene Arten in ana— logen Formen und mit gleicher Wirkung auftreten können“ (S. 22). Nägeli iſt der Anſicht, daß jede der wirklichen Spaltpilz-Species nicht blos als Micrococeus und als Bacterium, als Vibrio und als Spirillum auftreten kann, ſondern daß jede wirkliche „Art“ auch ver— ſchiedene Zerſetzungen, wie Milchſäurebil— dung, Fäulniß und verſchiedene Krankheits— formen des menſchlichen und thieriſchen Körpers zu bewirken vermag. Er hält es für denkbar, daß dieſe kleinen, der wiſſen— ſchaftlichen Forſchung ſo ſchwer zugänglichen Organismen durch Anpaſſung einen mehr oder weniger ausgeſprochenen Character er— halten, indem ſie während vieler Genera— tionen die gleichen Nährſtoffe aufnehmen und die gleiche Gährwirkung ausüben oder indem ſie keine Gelegenheit finden, irgend eine Gährung zu vollbringen. Dabei wür den die verſchiedenen, aber ſehr veränder— lichen Spaltpilzarten morphologiſch doch eine beſtimmte Form (Mierococeus, Bac- terium 2c.) bevorzugen, indeß fie phyſio— logiſch für die eine Gährungs- oder Zer— ſetzungsform tauglicher würden, als für andere Funktionen. Den verſchiedenen äu— ßern Verhältniſſen entſprechend würden ſich ſonach Spaltpilzformen von ungleich ſtar— kem Gepräge und ungleicher Conſtanz aus— Literatur und Kritik. bilden. Der nämliche Spaltpilz würde ein— mal in der Milch leben und Milchſäure bilden, dann auf Fleiſch und hier Fäulniß bewirken, ſpäter im Wein und daſelbſt Gummi erzeugen, nachher in der Erde, ohne Gährung hervorzubringen, endlich im menſch— lichen Körper, um hier bei irgend einer Erkrankung ſich zu betheiligen. Er würde an jedem Ort ſeine Natur den neuen Ver— hältniſſen nach und nach anpaſſen. Da die Wiſſenſchaft zur Bezeichnung verſchiedener Formen und Vorgänge ver— ſchiedener Namen bedarf, ſo wird es trotz der Wahrſcheinlichkeit, daß die verſchiedenen Spaltpilzſpecies die Fähigkeit beſitzen, ganz ähnliche Geſtalten anzunehmen, doch zweck— mäßig fein, auch fürderhin von Micrococcus— formen, von einer Vibrionenform, einer Bac— terienform, einer Spirillenform u. ſ. w. zu reden. Es darf dabei nur nicht über— ſehen werden, daß die mit dieſen Namen belegten Objekte ſehr veränderlich ſind und fortwährend ſich in einander verlieren.“ Das Hauptgewicht des Nägeli'ſchen Buches liegt in ſeiner praktiſchen Bedeutung für die Geſundheitspflege; denn wenn ſeine Anſicht über die Natur der Spaltpilze rich— tig iſt, ſo nimmt die gleiche Pilzart im Laufe der Generationen abwechſelnd ver— ſchiedene, morphologiſch und phyſiologiſch ungleiche Formen an, welche im Verlaufe von Jahren und Jahrzehnten bald die Säu— erung der Milch, bald die Butterſäure— bildung im Sauerkraut, bald das Lang— werden des Weines, bald die Fäulniß der Eiweißſtoffe, bald die Zerſetzung des Harn— ſtoffes, bald die Rothfärbung ſtärkemehl— haltiger Nahrungsmittel (blutende Hoſtien“ und „blutendes Brod“) bewirken und bald Diphterie, bald Typhus, bald recurri— rendes Fieber, bald Cholera, bald Wech— ſelfieber, bald Gelbfieber erzeugen. 3 Literatur und Kritik. Dieſer ungeheuren Veränderlichkeit in Form und Funktion der Spaltpilze kommt namentlich auch der Umſtand zu ſtatten, daß ſich dieſe Organismen mit einer bei— ſpielloſen Energie vermehren; denn es iſt conſtatirt, daß ſich ein Spaltpilzchen in ſehr günſtiger Nährlöſung bei einer Temperatur von 37 Grad alſo bei der menſchlichen Körperwärme, jeweilen inner— halb 20—25 Minuten zu theilen vermag, ſo daß unter den günſtigſten Verhältniſſen in Zeit von 24 Stunden 58 — 72 Gene⸗ rationen auf einander folgen können. Iſt das Abänderungs- und Anpaſſungs— vermögen, wie es bei der einzelnen Gene— ration zum Ausdruck gelangt, auch nur ſehr klein, ſo ſummirt ſich der Erfolg des— ſelben in kurzer Zeit durch zahlloſe Gene— rationen eben doch zu einer enormen Größe. Nägeli führt dieſen Punkt nicht aus; aber es ergibt ſich für den Anhänger der Descendenz-Theorie von ſelbſt die Wahr ſcheinlichkeit, daß ſich bei den niedern Pil- zen der Schizomyceten -Gruppe das, was man im höhern Pflanzenreich eine neue „Art“ nennen würde, in viel kürzerer Zeit bilden wird, als bei den höhern Gewächſen. Wenn letztere zur Bildung einer neuen Art Spaltpilze befähigt ſein, in wenig Jahren oder in wenig Jahrzehnten „neue Species“ zu bilden. Dauer der Spaltpilz-Species eine viel kür— zere ſein, als die Dauer einer Pflanzen-Art höherer Ordnung. Will man aber ſolchen kurzdauernden Spaltpilz-Species den Na— men „Art“ nicht zuerkennen, ſo kämen wir zu dem Schluß, daß alle dieſe Spaltpilz— formen in ewiger Abänderung begriffen ſind und daß hier die naturhiſtoriſche Spe— cies im gewöhnlichen Sinne uns wie | Queckſilber zwiſchen den Fingern entſchlüpft. 191 Bei Anlaß der Beſprechung aller Lebens— bedingungen der niedern Pilze kommt Nägeli unter Nr. 6 zu einem Moment, das „bis jetzt faſt gar nie berückſichtigt wurde.“ Und doch iſt die Kenntniß des— ſelben zur Erklärung einer Menge von Thatſachen unbedingt nothwendig. Es iſt die Mitwirkung von Pilzen aus andern Gruppen, die auf analoge Lebensbedingun— gen angewieſen ſind. Kaum iſt — ſeit die Darwin'ſche Lehre von der natürlichen Zucht— wahl beſteht, der „Kampf um's Da— ſein“ mit dem Wohlbefinden, dem Ge— ſundsheitszuſtand des Menſchen in ſo nahe Beziehung gebracht worden, wie in Nägeli's Buch von den niedern Pilzen, das ja nicht verfehlen wird, wegen ſeiner eminent prak— tiſchen Bedeutung auch den Weg zu jenen Gegnern Darwin's zu finden, die Nägeli als ihren Mitkämpfer betrachteten. „Der Kampf ums Daſein wird bei den niedern Pilzen ebenſo heftig und wie der Erfolg zeigt, mit viel ener— giſcheren Mitteln geführt, als bei allen andern Pflanzen.“ (S. 31.) Nägeli weiſt zuerſt an einigen Bei— ſpielen aus der höhern Pflanzenwelt nach, wie dort im Kampf ums Daſein die eine Jahrtauſende beanſpruchen, ſo dürften die von zwei verwandten Pflanzen je nach Standort und anderweitigen Verhältniſſen über die andere den Sieg davon trägt oder Dementſprechend dürfte die unterliegt. (Rhododendron ferrugineum und ‘Rh. hirsutum auf kalkarmem und kalkreichem Boden, Primula officinalis und Primula elatior auf trockenem und feuch— tem Standort.) „Das gleiche Geſetz be— herrſcht das Gebiet der niedern Pilze. Eine Gattung, die unter beſtimmten Verhält— niſſen ganz gut gedeiht, wird durch eine andere Gattung, die hier als die bevor— zugtere erſcheint, verdrängt, während die erſtere unter andern Verhältniſſen im Rn 192 Gegentheil die letztere zu verdrängen ver— mag.“ — Hiefür wird vom Verfaſſer ein ſchlagender Beleg in's Feld geführt: Wenn von den drei niedern Pilzgruppen der Spalt-, Sproß- und Schimmelpilze Keime in eine beſtimmte zuckerhaltige, neutral rea— girende Nährlöſung gebracht werden, ſo nehmen allein die Spaltpilze in ausgiebiger Weiſe überhand und veranlaßen Milch— ſäuregährung. Wird dagegen der nämlichen Nährlöſung ½% Weinſäure zugeſetzt, ſo werden die Sproßpilze Sieger über die beiden andern Pilzgruppen und veranlaſſen weingeiſtige Gährung. Verſetzt man endlich die gleiche Nährlöſung mit 4 oder 5% Weinſäure, ſo ſiegt die Schimmelpilzgruppe über die beiden andern. In allen drei Fällen ſind es die Keime von mindeſtens zwei verſchiedenen Pilzgruppen, die ſich je— weilen in der betreffenden Nährlöſung zu entwickeln und zu vermehren im Stande wären, wenn man ſie der Concurrenten entledigte. Das Experiment beweiſt alſo auch bei den niedern Pilzen die Exiſtenz des struggle for life. Ein dritter Punkt von entwicklungs— geſchichtlichem Intereſſe, auf den Nägeli in ſeinem Buch von den niedern Pilzen im Vorübergehen eingeht, betrifft die Diffe— renzirung unſeres eigenen Geſchlechtes. Da und dort ſpricht der Verfaſſer von einer Anpaſſung unſeres Organismus an die Einwanderung dieſer und jener in unſern Körper gelangenden niedern Pilze. Letztere treten unter Umſtänden mit den lebenden thieriſchen Zellen unſeres Körpers in Con— currenz; ſiegen die lebenden Gewebe über die eingewanderten Spaltpilze, ſo bleibt unſer Organismus vor Erkrankung ver— ſchont; dies findet in den meiſten Fällen wirklich ſtatt, da wir annehmen müſſen, daß fortwährend auf den verſchiedenſten Literatur und Kritik. Wegen Spaltpilze in unſern Körper ge— langen und dort zu vegetiren und ſich zu vermehren ſtreben. Da unſer Organismus alſo den meiſten Spaltpilzformen gegenüber Sieger bleibt, ſo dürfen wir wohl von einer Anpaſſung in dieſem Sinne reden. Allein in gewiſſen Fällen, wo unſere Conſtitution gegenüber beſtimmten Spalt— pilzformen geſchwächt erſcheint, werden die letztern Sieger, und die Concurrenz zwiſchen Spaltpilz und lebendem thieriſchem Gewebe ſchlägt in dem Sinne aus, daß Erkrankung erfolgt‘, z. B. Ausbruch von Wechſelfieber, Typhus, Cholera, Gelbfieber, Diphtherie, Blattern, Maſern ze. Je nach— dem die eingewanderten Spaltpilze, welche Anſteckung zu verurſachen vermochten, im ſumpfigen Boden entſtanden ſind oder von einem mit einer anſteckenden Krankheit be— hafteten thieriſchen Organismus herrühren, ſpricht man von Miasmenpilzen (Boden— pilzen) und von Contagienpilzen (Kranken— pilzen). Nun ſucht der Phyſiologe die höchſt praktiſche Frage zu beantworten: Können wir mit unſern Sinnen die inficirende Luft, welche uns die Spaltpilze zuführt, an ge— wiſſen Merkmalen erkennen? — Die Ant- wort fällt verneinend aus; denn das Ge— ſicht, unſer menſchliches Auge gibt uns wegen der Kleinheit der Miasmen- und Contagienpilze keinen Aufſchluß darüber, ob in einer Atmoſphäre Spaltpilze vorhanden find oder nicht. Von den andern Sinnes- organen kann nur noch das Geruchsorgan in Frage kommen, und von dieſem weiſt Nägeli nach, daß es uns ebenfalls über die Spaltpilze der Luft keinen Aufſchluß gibt; denn die Miasmen- und Contagien— pilze können nur im trockenen Zuſtand durch die Luft fortgetragen und in unſern Körper verſchleppt werden, alſo als Staub zur Anſteckung Veranlaſſung geben. Trockener Literatur und Kritik. Staub riecht aber nicht. Die Miasmen | und Contagien find durchaus geruchlos; die Malaria iſt mit dem Geruchsſinn nicht | wahrnehmbar und Contagienpilze, welche in übelriechenden Subſtanzen vorhanden ſein können, wie ſie es wirklich ſind, z. B. in Choleraſtühlen u. ſ. w., vermögen ſo lange nicht in die Luft zu gelangen, als jene übelriechende Subſtanz feucht iſt; mit dem Austrocknen der letztern ver— ſchwindet aber der üble Geruch, ſo daß die wirkliche Gefahr der Anſteckung — entgegen der landläufigen Meinung — erſt dann eintritt, wenn keine übeln Ge— rüche mehr von der inficirenden Subſtanz aufſteigen. Nägeli zeigt ganz überzeugend, daß die Miasmen- und Contagienpilze wohl meiſtens in kurzer Zeit von den Fäulnißpilzen verdrängt werden, daß ſie in faulenden, übelriechenden Subſtanzen alsbald in unſchädliche gewöhnliche Fäulniß— pilze übergehen, daß alſo gerade ſtark faulende Subſtanzen am wenigſten verdächtig ſind. Das widerſpricht aber der bisherigen An— ſchauung von Aerzten und Laien. es iſt nicht das erſte Mal, daß die Wiſſen— ſchaft ein landläufiges Vorurtheil als ver— nunftwidrig unmöglich gemacht hat. Und wenn die Gegner der Nägeli'ſchen Theorie den Einwand in's Feld führen, daß der Menſch doch von Natur einen inſtinctiven Widerwillen gegen übelriechende Subſtanzen beſitze und daß dieſer Widerwille ſtark für einen berechtigten Verdacht gegen ſtinkende, faulende Stoffe ſpreche, ſo begegnet Nä— geli dieſem Einwand folgendermaßen: Gegen den ſowohl von der Theorie als der Erfahrung bewieſenen Satz, daß die Gefährlichkeit einer Atmoſphäre unabhängig iſt von dem Geruche, den ſie verbreitet, und daß die hauptſächlichſte Wirkung einer ſt inkenden Luft in der Beleidigung unſerer Allein Naſe und unſeres äſthetiſchen Gefühles be— ſteht, — gegen dieſen Satz könnte man einen phyſiologiſchen Einwurf machen, der nicht mit Stillſchweigen übergangen werden kann. Unſere Sinne ſind ohne Zweifel gewiſſermaßen als die Wächter der Geſund— heit zu betrachten; ſie zeigen uns im Allge— meinen an, was für den Organismus vor— theilhaft oder nachtheilig iſt. Man könnte nun daraus den Schluß ziehen wollen, daß der Geſtank faulender Stoffe, weil er uns widrig iſt, eben deshalb nothwendig auch ſchädlich ſei. Wir müſſen hier zuvörderſt eine nicht hierher gehörige Seite der Frage von der Beſprechung ausſchließen, nämlich den un— beſtreitbaren Umſtand, daß Alles, was auf unſere Sinne unangenehm einwirkt und dadurch das Nervenſyſtem afficirt, in gleichem Maße auch das allgemeine Wohlbefinden beeinträchtigt. Darum handelt es ſich jetzt nicht, ſondern um die Frage, ob über dieſe ſelbſtverſtändliche Wirkung hinaus eine übel— riechende Luft noch in ſpecifiſcher Weiſe der Geſundheit Schaden bringe. Zunächſt iſt zu bemerken, daß jener Grundſatz, unſere Sinne bezeichneten durch ihr Wohlbehagen oder Mißbehagen, was uns zuträglich oder ſchädlich ſei, doch in ſeiner Allgemeinheit auf ziemlich ſchwachen Füßen ſteht. Wir ſehen dies deutlich am Geſchmacksorgan und theilweiſe auch am Ge— ruchsorgan. Mit wohlſchmeckenden Speiſen und Getränken macht man ſich krank und mit bittern und widrigen Medicinen kurirt man ſich wieder. Gewiſſe Speiſen werden erſt gegeſſen, nachdem ſie Zerſetzungsproceſſe, bei denen fi) viele Spaltpilze bilden, durd- gemacht haben und dadurch gewiß nicht zuträglicher, wenn auch nicht ſchädlich, geworden find. Der Feinſchmecker ver— langt, daß am Wildpret und an einigen 8 Kosmos, Band III. Heft 2. 25 194 Käſeſorten die begonnene Fäulniß bemerk— lich ſei. Dennoch hat die Ausbildung unſeres Geſchmacks- und Geruchsorgans im Großen und Ganzen gewiß die Bedeutung, die man ihr zuſchreibt. Aus den Forſchungen der neuern Zeit auf phylogenetiſchem Gebiet, welche wir vorzüglich Darwin verdanken, geht unbeſtreitbar hervor, daß die Sinnes— organe ſich als nützliche Einrichtungen aus— gebildet haben. Demnach muß auch der ſo allgemein vorhandene Abſcheu vor Stoffen, welche nach Fäulniß riechen und ſchmecken, und die Vorliebe für wohl— ſchmeckende und wohlriechende Subſtanzen eine naturgeſetzliche Urſache haben. Es ſind nützliche Inſtinkte, welche ſich in der langen Geſchichte des Men— ſchengeſchlechts unter einfachen Verhältniſſen durch Anpaſſung ausgebildet haben, die aber für unſere complicirten, durch Cul— tur vielfach veränderten hältniſſe nicht mehr ausreichen und in manchen Beziehungen mit denſelben ſelbſt in Widerſpruch gerathen ſind. Nägeli fügt hier in Form einer Anmerkung bei, daß dieſes Nicht-mehr-aus- reichen und In-Widerſpruch-gerathen das Schickſal aller natürlichen Anpaſſungen ſei, „aller jener Eigenſchaften, die ſich unter dem Einfluß von beſtimmten Umſtänden durch eine unendlich lange Generationsreihe ausgebildet haben und conſtant geworden ſind. Unter veränderten Verhältniſſen wer— theilig, — vererben ſich aber vermöge der erlangten Conſtanz noch durch eine lange Zeitperiode.“ Gewiß dürfte es ein Leichtes ſein, dergleichen Inſtinkte, die unſerm Ge— 1 ſchlechte als ſchädliche Erbtheile noch an— Literatur und Kritik. Ver⸗ den fie überflüſſig, zuweilen ſelbſt nach- haften, zu mehreren namhaft zu machen. Nach jeder großen Anſtrengung, welche unſere Körperkräfte bis zur höchſten Er— hitzung in Anſpruch nimmt, drängt unſer Organismus inſtinktiv nach plötzlicher Ab— kühlung und doch bekommt uns dieſe in der Regel ſehr ſchlecht, ja in vielen Fällen führt ſie plötzlichen Tod herbei, während der Hund, der Affe und andere höhere Säugethiere die plötzliche Abkühlung ſehr leicht ertragen. Die Natur hat bei der Differenzirung des Menſchengeſchlechtes aus behaarten Vorfahren uns das natürliche Haarkleid abgeſtreift; das inſtinktive Drän— gen nach plötzlicher Abkühlung bei jedes— maliger Erhitzung iſt uns aber geblieben, eine beſtändige Gefahr für den Unvorſich- tigen und Unbedachtſamen. Nägeli findet für unſern Widerwillen gegen übelriechende Stoffe folgende vein- darwiniſtiſche Erklärung: Der Abſcheu vor dem Fäulnißgeſchmack hat ſich ohne Zweifel dadurch ausgebildet, daß die Lebensmittel im Allgemeinen mit der zunehmenden Fäulniß immer mehr die Eigenſchaft verlieren, den Körper zu nähren und ihn als Genußmittel anzuregen. Indi— viduen, die gegen den Fäulnißgeſchmack gleichgültig ſich verhielten oder denſelben gar liebten, mußten als weniger leiſtungs— fähig zu Grunde gehen und hatten ſomit keine Nachkommen, die ihre Geſchmacks— eigenthümlichkeit erbten. Würden die Lebens— mittel durch die Fäulniß an Nähr- und Genußwerth gewinnen, fo hätte ſich noth— wendig der Geſchmack des Menſchen ſo ausgebildet, daß er ein faules Ei als De— licateſſe betrachtete. Aus dem gleichen Grunde iſt uns der Fäulnißgeruch widerwärtig; das Geruchs— organ zeigt uns die Gefahr an und warnt das Geſchmacksorgan. Individuen mit einer | für die Fäulniß empfindlichen Naſe mußten unter übrigens gleichen Umſtänden die beſſer genährten ſein. Dieſer Erklärungsgrund reicht vollfommen aus, um unſern Abſcheu vor dem Geſtank begreiflich zu machen. Es iſt aber möglich, fährt Nägeli fort, daß noch eine andere Urſache einwirkte, um das Geruchsorgan in dieſer Richtung auszubilden. Die Fäulnißpilze ſind zwar viel weniger gefährlich, als die Miasmen— und Contagienpilze; in größerer Menge aber verurſachen ſie ebenfalls krankhafte Störungen. Der Aufenthalt an Orten, wo fortwährend Fäulnißproceſſe ſtatthaben, wo ſtets auch ausgetrocknete Fäulnißſtoffe ſich befinden, wo vielleicht auch Miasmen ſich bilden, iſt demnach ungeſund. Solche Stätten mochte es im Urzuſtande wohl geben, wo die noch halbwilden Menſchen die Jagdthiere verzehrten und wo ſich Ab— fälle und Auswurfsſtoffe anhäuften. Die Luft an dieſen Orten war nicht nur mit übelriechenden Gaſen, ſondern auch mit ſchädlichen Keimen beladen. Diejenigen In dividuen, welche durch ihr Geruchsorgan veranlaßt wurden, ſolche Stätten bald zu verlaſſen, mußten im Vortheil ſein gegen— über denjenigen, denen ihre Naſe erlaubte, ſich daſelbſt aufzuhalten und ſich zur Ruhe hinzulegen. Aber wenn auch der Widerwille vor dem Fäulnißgeruch aus dem zuletzt ge— nannten Grunde entſtanden iſt, ſo folgt daraus keineswegs, daß eine übelriechende Luft die Trägerin von ſchädlichen Keimen ſein müſſe. Es folgt daraus blos, daß in der Urzeit des Menſchengeſchlechtes unter urſprünglichen und natürlichen Verhältniſſen Fäulnißgeruch und Anſteckungsſtoffe nicht ſelten zugleich auftraten. Der Widerwille vor dem Fäulnißgeruch erklärt ſich dann aus dem auch anderweitig conſtatirten Um— Be... Literatur und Kritik. ſelbe Schlachtfeld betritt. ſtande, daß es dem Menſchen an einem Sinnesorgan für die Wahrnehmung der Infektionsſtoffe mangelt und daß deswegen der Organismus ſich bei der Anpaſſung der Sinnesorgane daran gewöhnte, die— jenigen wahrnehmbaren Verhältniſſe zu verabſcheuen, welche einſt am häufigſten mit den Infektionsſtoffen vergeſellſchaftet waren. In unſerer Zeit könnte die Lage der Dinge eine ganz andere, ſelbſt entgegengeſetzte ge— worden ſein; es könnte in Folge veränder— ter Einrichtungen der Fäulnißproceß (der an und für ſich in Sachen der Anſteckung durch Infektionsſtoffe ganz gefahrlos iſt) zeitlich von dem Austrocknungsproceß (der allein gefahrbringend werden kann) ge— trennt ſein, ſo daß ſtinkende Luft immer unſchädlich, die geruchloſe dagegen mehr oder weniger gefährlich und unſer nicht vortrefflich angepaßtes Geruchsorgan jetzt in dieſem Punkte ein falſcher Rathgeber geworden wäre. (S. 150.) In der That iſt das Nägeli'ſche Buch, deſſen Schwerpunkt im mediciniſchen und hygieniſchen Intereſſe liegt, reich an Erfahrungsſätzen, welche dieſe letztere Aus— einanderſetzung als die wiſſenſchaftlich wahr— ſcheinlichſte erſcheinen laſſen. So weiſt der Verfaſſer an anderer Stelle nach, daß es eine durchaus verkehrte Praxis iſt, Schlacht— felder mit vielen verſcharrten Menſchen— und Thierleichen nur ſo lange als gefährlich betrachten, zu als ſich der üble Leichengeruch, den man ganz irrig einen „verpeſtenden“ nennt, geltend macht, während man kurz nachher, wenn die Gerüche ſchweigen und die Luft „rein“ iſt, ganz unbeſorgt das— Die Miasmen entwickeln ſich erſt nach vollendeter Fäul— niß und können erſt dann die Luft wirklich verpeſten, wenn der Fäulnißproceß und die Entwickelung ſtinkender Gaſe in Folge der 196 Literatur und Kritik. Austrocknung aufgehört haben. Nach der | zu gelangen. Das Buch verliert dadurch Nägeli'ſchen kende Luft ev. weit verdächtiger, als die ihr an gleicher Stelle vorangegangene übel— riechende Atmoſphäre. Zürich. Dr. Arnold Dodel-Port. Entwickelungsgeſchichte des Welt— und Erdgebäudes und der Orga— nismen. Im Sinne einheitlicher Welt— anſchauung nach dem heutigen Stande der Naturerkenntniß, leicht faßlich dar— geſtellt von J. Aug. Piväny. Plauen im Vgtl. A. Hohmann 18 77. Unter den Büchern über Darwinismus und Entwickelungsgeſchichte, die in neuerer Zeit wie Pilze aus dem Boden ſchießen, gehört das vorliegende Werk zu der leider großen Zahl derjenigen, welche der neuen Lehre mehr ſchaden als nützen werden. Wir verkennen keineswegs die guten Abſichten und den Fleiß des Verfaſſers, der auf noch nicht dreihundert Dftavfeiten eine ge— drängte Ueberſicht deſſen zu geben verſuchte, was in den Werken von Lyell, Vogt, Büchner, Darwin, Häckel, Jäger und anderer Vertreter der neuen Weltan— ſchauung enthalten iſt, aber wir können diesmal keine günſtige Löſung der Aufgabe conſtatiren. Was zunächſt abſtößt, iſt die ungemeine Trockenheit der Aufzählung, wir hören eine Maſſe Thatſachen, aber der Darſtellung fehlt Individualität und Leben. Sodann können wir der Eintheilung keinen Beifall zollen, da faſt die Hälfte des kleinen Buches ausſchließlich der Entwickelung der unorganiſchen Welt gewidmet iſt, während die Entwickelung der Pflanzen- und Thier— welt auf wenigen Seiten abgethan wird, um raſch zum Menſchen und zur Aufzähl— ung der ſogenannten Entwickelungsgeſetze Theorie iſt die nicht ſtin- alle Anſchaulichkeit und Wirkung, zumal es auf jede erläuternde Illuſtration ver— zichtet hat. Indeſſen würde dieſe Eintheil— ung an ſich einen ernſten Tadel nicht her— ausfordern, wenn nicht alle die Hypotheſen und Schlüſſe der vorgenannten und andrer Autoren als ſichere Thatſachen geſchildert würden, die genau ſo ſich vollzogen haben ſollen, wie die Gewährsmänner den Her— gang als möglicherweiſe oder ſehr wahr— ſcheinlich geſchehen, darſtellten. Dem Autor derartiger Werke liegt die ernſte Pflicht ob, immer durchblicken zu laſſen, daß das Meiſte, was wir zu wiſſen glauben, nur Hypotheſe, wenn auch Hypotheſe von oft ſolcher Wahrſcheinlichkeit iſt, daß ſich alle andren Anſichten daneben wie Hallucina— tionen darſtellen. Aber der Verfaſſer geht jo weit, ſogar Anſichten wie die Bolger’- ſchen über Vulkanismus, mit eben der Sicherheit als Thatſachen darzuſtellen, wie etwa die Kant-Laplace'ſchen Welt— bildungshypotheſen u. A. Solche Werke müſſen nothwendig auf das große Publi— kum irreführend, auf den Unterrichteten verſtimmend wirken, und ſie ſind es zum guten Theil, welche bei einer großen An— zahl gebildeter Laien die Mißſtimmung gegen die neuen Lehren unterhalten. Die Selbſtgewißheit des Verfaſſers ſteigert ſich an zahlloſen Stellen ſeines Werkes zu Rechnungen über die Dauer beſtimmter kos— miſcher Vorgänge, Rechnungen, die faſt immer das Ergebniß von Mißverſtändniſſen, willkürlicher Annahmen, und das verräthe— riſche Zeichen mangelnder Vorſicht und Selbſtkritik ſind. So leſen wir z. B. auf S. 59 mit geſperrter Schrift: „Es be— durfte daher eines Zeitraumes von 114 Millionen Jahren, bis das ſalzloſe Urmeer durch den Zufluß von Süßwaſſer zu ſeinem Literatur und Kritik. jetzigen Kochſalzgehalte gelangen konnte.“ Was ſoll uns nun dergleichen? erſtens iſt es ſehr fraglich, ob ein ſalzfreies Urmeer überhaupt exiſtirt hat, da mög— Denn licherweiſe der Erdball ſich vorher mit einer Kruſte flüchtiger Salze bedeckt hatte, ehe ſich die Waſſerdampfmaſſen in flüſſiger Geſtalt auf ihm niederſchlugen, zweitens iſt jene überflüſſige Rechnung auf den Salz— gehalt der jetzigen Flüſſe geſtützt, und drittens vermögen wir den beſtändigen Salz— verluſt der Meere nicht in beſtimmten Zah— len ausdrücken. Eine Rechnung aber, bei der man von vornherein ſagen muß, daß das Reſultat vielleicht mit zehn multiplicirt, oder durch hundert dividirt werden muß, um der Wahrheit näher zu kommen, die iſt mehr als überflüſſig. ſagt uns in der Vorrede, daß das Werk keineswegs eine bloße Compilation ſei, ſondern daß es auch beſonders wichtige eigene Ergänzungen der kosmiſchen Theorie bringe, und er macht uns insbeſondere auf zwei derſelben im Voraus aufmerkſam, die wir deshalb kurz betrachten wollen. Auf Seite 32 glaubt er der Mehrzahl der heute lebenden „Phyſiker und Natur— philoſophen“ ein Licht darüber aufſtecken Der Verfaſſer zu ſollen, wie ſie ſich die im Weltall zer— | ſtreute Urmaterie, ehe fie ſich zu Welt- | körpern ballte, zu denken haben. Der Ver⸗ daß die faſſer bildet ſich nämlich ein, Männer der Wiſſenſchaft in dem Irrthum befangen wären, der Weltſtoff ſei ehemals durch eine ungeheure Glut in dem dünnſten Dampf aufgelöſt geweſen. Referent muß geſtehen, daß er dieſe Anſicht zum erſten Male in dem Pivany'ſchen Buche ge— funden hat, daß der Verfaſſer ſomit wohl ein Hirngeſpinnſt bekämpft, deſſen alleiniger Urheber er ſelber iſt. Die zweite große Entdeckung finden wir auf S. 122 mit 197 geſperrter Schrift wiedergegeben, wie es denn der Verfaſſer liebt, halbe und ganze Schriftſeiten durch geſperrten Druck hervor— zuheben. „Ich behaupte“, ſagt der Ver— faſſer emphatiſch, „daß die Lebenserſchein— ungen (im eben verſtorbenen Organismus) nur deshalb aufgehört haben, ſich zu mani— feſtiren, weil eben das Eiweiß des leben— digen Organismus nicht mehr das Eiweiß des todten Organismus iſt, weil es eine Veränderung ſeiner chemiſchen Conſtitution erlitten hat, weil es in einen andern allotropen, muthmaßlich in einen polymeren Zuſtand übergegangen iſt.“ Dieſem wohl auf Mißverſtändniſſen der Jäger'ſchen Auf— ſtellungen beruhenden Orakelſpruche gegen— über, müſſen wir bemerken, daß ein Orga— nismus jedenfalls bereits in Folge viel geringerer Umſetzungen ſeiner Beſtandtheile zu Grunde gehen müßte, als durch eine ſo totale Umſetzung, wie ſie der Begriff der Polymerie oder der Allotropie verlangt. Solche Divinationen in geſperrter Schrift verſtimmen unſäglich und bieten dem Geg— ner beſtändigen Stoff zu höhniſchen Apo— ſtrophen. Zum Unglücke häufen ſich der— artige Mißverſtändniſſe in Cardinalfragen. Auf S. 138 leſen wir, natürlich wieder in geſperrter Lapidarſchrift: „Wenn wir in zwei Individuen, die nicht von einander abſtammen, Aehnlichkeiten und Verſchieden— heiten in dem Baue ihres Körpers wahr— nehmen, ſo ſind die erſteren von einem gemeinſchaftlichen Vorfahren ererbt, die letzteren während des Lebens der beider— ſeitigen Ahnenreihe bis zurück zu dem ge— meinſchaftlichen Vorfahren durch Anpaſſung erworben worden.“ Laſſen wir den mehr als ſonderbaren Eingangsſatz dieſes „Ge— ſetzes“ unkritiſirt, und verſuchen wir uns darnach z. B. die Aehnlichkeit aller Waſſer— thiere und aller Waſſerpflanzen unter ein— * 198 Literatur und Kritik. ander zu erklären. iſt hier umgekehrt die Aehnlichkeit durch Anpaſſung erworben; der Verfaſſer hat keinen Unterſchied zwiſchen Homologie und Analogie zu machen verſtanden. So ſehen wir ihn leider nur allzu oft ſeine Autori— täten übertrumpfen und über das Ziel hinwegſchießen. Gleich im Eingange finden wir behauptet, daß ſich auf keinem aus dem Alterthume ſtammenden Gemälde auch nur eine Spur von violetter Farbe befinde. Eine ſolche Behauptung hat weder Geiger, noch Gladſtone oder Magnus auf— geſtellt, im Gegentheile man kennt ſolcher Gemälde in großer Zahl, und nicht etwa blos ein einziges, wie der Verfaſſer ſich nachträglich verbeſſernd, hinzuſetzt. Auch liegt darin nicht der Schwerpunkt der Frage, denn ein Maler der blau- oder violettblind wäre, könnte recht gut blaue und violette Pigmente verwenden, ſobald ſie ihm einen ähnlichen Eindruck verurſachen, wie die entſprechenden Naturgegenſtände. Wir wiſſen z. B., daß ältere Maler in Folge einer Gelbfärbung der Augenflüſſigkeiten und weil fie dann Blau und Voolett weniger deutlich empfinden, nun erſt recht anfangen, dieſe Pigmente in den grellſten Nüancen zu verwenden, und von dem engliſchen Genremaler Mulready iſt es bekannt, daß er in ſeinem Alter die Vegetation blau, den menſchlichen Körper violett malte, eben weil er den violetten Farbſtoff nicht ſo ſah, wie die Mehrzahl der geſunden Menſchen. — — — Unſere Beurtheilung ſeines Buches wird dem Verfaſſer und vielleicht auch manchem unſrer Leſer ſehr Wie wir leicht ſehen, hart erſcheinen. Wenn ein Parteiorgan fo ſtreng urtheilt, was ſollen dann die Gegner ſagen? Indeſſen die Sache iſt die, daß wir hier nicht mit kleinen Fehlern und Mißgriffen zu rechten haben, denen jeder Autor mehr oder weniger unterworfen iſt, ſondern mit Grundſchäden, die unſerer Sache mehr Nachtheil bringen als man wohl glaubt. i Andachten von Wilhelm Jordan. Frankfurt a. M. Selbſtverlag von W. Jordan. 1877. (In Commiſſion bei F. Volckmar. Leipzig.) Der „ſo weit die deutſche Zunge klingt,“ rühmlichſt bekannte Rhapſode und Wieder— erneuerer der Nibelunge bietet in dieſem elegant ausgeſtatteten Bande eine Reihe didactiſcher Gedichte, meiſt epiſcher Form, welche die darwiniſtiſche Weltanſchauung poetiſch zu verklären beſtimmt ſind. Die Grundſtimmung der Gedichte iſt eine reli— giöſe und alſo ihrem Titel entſprechend: Der Gedanke des Verfaſſers vom „alten und neuen Glauben“, daß Kunſtformen einen Erſatz für Ideale bieten könnten, die in andrer Form verloren gegangen ſind, ſcheint als Leitmotiv darin nachzuwirken. Die Gedichte bergen in kerniger, edler Sprache einen Schatz erhebender und ver— ſöhnender Gedanken, die auf den Leſer, wenn er ſich nur erſt an die Neigung des Verfaſſers, unſre Sprache zu bereichern, ge— wöhnt hat, vollauf die beabſichtigte Wirkung hervorbringen. Wir empfehlen das Buch unſern Leſern angelegentlichſt. Offene Briefe und Antworten, Profeſſor Frohſchammer und die Freiheit der Wiſſenſchaft. ni | it Bezug auf meinen Auffag über die Virchow 'ſche Rede an der letzten Naturforſcherverſammlung zu Mün— chens) erhalte ich von Herrn Profeſſor Dr. J. Frohſchammer ein berichtigendes Schreiben, welches ich mit um ſo größerem Vergnügen hier zum Abdrucke bringe, als daſſelbe einen vermeintlichen Gegner in einen nüchteren, objektiven Beurtheiler, ja zum Theile ſogar in einen Anhänger der Ideen umſtempelt, welche in dieſem Organe ſelbſt vertreten werden. Daß damit auch alle Folgerungen hinfällig ſind, die ich an den vermeintlichen Standpunkt des gedachten Herrn Profeſſors knüpfte, iſt ſelbſtver— ſtändlich. Ich laſſe alſo das fragliche Schreiben hiermit folgen. Friedrich v. Hellwald. München, den 23. Febr. 1878. Hochgeehrter Herr! Erſt jetzt iſt mir das Quartal-Heft der Zeitſchrift „Kosmos“ Okt — Dez. 1877 zugekommen und ich finde darin von Ihnen einen Artikel, betreffend die Freiheit der Wiſſenſchaft und Virchow's Vortrag bei Kosmos, Band II. S. 172. der Münchner Naturforſcher-Verſammlung. Daſelbſt heißt es: „Leute, welche z. B. tagtäglich gegen den römiſchen Jeſuitismus donnern wie Joh. Huber, Frohſchammer und der ganze Reſt der lebensunfähigen altkatholiſchen Sekte ſcheinen ſich gar nicht bewußt zu ſein, daß ſie ſelbſt in ihrem Kampfe gegen Darwin und ſeine Schüler in vollſtem Maße einem wiſſenſchaftlichen Jeſuitismus huldigen ꝛc.“ Sie erklären mich hier alſo für einen Altkatholiken und für einen Bekämpfer Darwins. Beides iſt durchaus unrichtig und unberechtigt. Ich habe den Altkatholicismus ebenſo für lebens— unfähig und für ſchwächliche Halbheit er— klärt wie Sie und zwar nicht erſt jetzt, ſondern ſchon bei ſeinem Entſtehen, im Jahre 1871 in der „Augsb. Allg.-Ztg.“ und anderwärts, wie Sie leicht aus meinem Buche: Ueber die religiöſen und kirchenpoli— tiſchen Fragen der Gegenwart erſehen könnten. Die Altkatholiken reſp. die Führer derſelben Huber, Friedrich, Zirngiebl x. haſſen daher kaum Jemanden ſo ſehr, wie mich und zeigen ihre gehäſſige, erbitterte Geſinnung ſo oft es nur möglich. Man mag meine Schriften und mein Streben kritiſiren und beurtheilen, wie es beliebt, aber Niemand hat das Recht mich als Altkatholiken zu bezeichnen — ſei es zu Lob oder Tadel. 5 200 Offene Briefe und Antworten. Was die Darwin'ſche Lehre betrifft, ſo war ich (was freilich ignorirt wird) der erſte in Deutſchland, der davon eine ein— gehende Darſtellung und Kritik publicirt hat (in meiner philoſophiſchen Zeitſchrift „Athenäum“ 1862). Damals gab es noch keine unermeßliche Darwin-Literatur und es war noch nicht möglich aus 99 Schriften mit Leichtigkeit eine hundertſte zu fabriciren wie jetzt. Darwin ſelbſt nahm Kennt— niß von meiner ausführlichen (mehr als 100 Seiten umfaſſenden) Abhandlung und ſchrieb mir im Herbſte 1862 einen freund— lichen Brief, in welchem er ausdrücklich die Richtigkeit meiner Darſtellung ſeiner Lehre anerkannte und mir ſeinen Dank dafür ausſprach, daß ich trotz meiner kritiſchen Bemerkungen doch ſo vielfach die Größe und das Verdienſt ſeines Werkes anerkannt habe. Seitdem hat ſich meine Anſicht nicht ungünſtiger, ſondern eher günſtiger geſtaltet. Als Hypotheſe habe ich allerdings Darm in's Lehre bezeichnet — aber ſo bezeichnen Sie dieſelbe doch auch ſelbſt noch immer — ſogar in dem in Frage ſtehenden Artikel. Darwin ſelbſt kann Kritik ganz wohl ver— tragen, er verlangt nicht blinde kritikloſe Annahme ſeiner Anſichten, als ſeien dieſe ein neues Glaubensſyſtem. Ein princi— pieller Bekämpfer der Descendenzlehre und ſelbſt der Darwin'ſchen Form der— ſelben war ich nie, wenn ich auch nicht Würden Alles ohne Weiteres annahm. oder wollten Sie mein neueſtes Werk: 1 Die Phantaſie als Grundprincip des Welt— proceſſes, 1877, kennen, ſo würden Sie auch wiſſen, daß dieſem Verſuche eines philoſophiſchen Syſtems durchaus die Des— cendenzlehre zu Grunde liegt und eine um— faſſende Ausführung derſelben iſt. Unter dieſen Umſtänden darf ich von Ihrer Gerechtigkeitsliebe wohl erwarten, daß Sie das Unrecht, welches Sie mir in Ihrem Artikel öffentlich zugefügt haben, bei nächſter Gelegenheit auch öffentlich gut zu machen ſuchen werden. Unter die Gegner der Freiheit der Wiſſenſchaft werden Sie mich aber wohl’ nicht deshalb ſchon zählen, weil ich nicht alle Ihre Anſichten theile. Ich habe für die Freiheit der Wiſſenſchaft in München gekämpft durch meine Schrift: Ueber die Freiheit der Wiſſenſchaft, 1861, als dies noch gefährlich war und man noch nicht con amore eine Cauſerie darüber vor einem dankbaren Publicum veranſtalten konnte, wie Virchow gethan. Die Schrift hat mir Verfolgungen genug zugezogen, Opfer genug gekoſtet und mich nahezu um meine Stelle gebracht. Zum Dank dafür wird dieſelbe jetzt ignorirt und ich ſelbſt gar noch als Gegner der freien Wiſſenſchaft hingeſtellt! Genehmigen Sie die Verſicherung beſonderer Hochachtung, mit der ich bin Ihr ergebener e Prof J. Frohſchammer. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Zur Experimental-Achhetik, Bon Ruclolf Nedtendacher. uftad Theodor Fechner hat zum erſten Male in ſei— Zi nem Schriftchen „Zur experi— A mentalen Aeſthetik“ (Leipzig, Hirzel, 1871) und in ſeiner „Vorſchule der Aeſthetik“ (Leipzig, Breitkopf u. Härtel, 1876) eine ſowohl für den Philoſophen wie für den Künſtler bedeutungsvolle Car— dinalfrage, von neuen Geſichtspunkten aus— gehend, zu löſen verſucht, die Frage näm— lich: Ob es möglich ſei, eine Grundform der Schönheit aufzuſtellen; ob es ein Größenverhältniß gebe, welches in der Anſchauung als ein an ſich äſthetiſch Werth— vollſtes vor Anderen vorzuziehen ſei; ob mit einem Wort eine Schönheit an ſich, eine Schönheit à priori exiſtire? Die Künſtler ſtellten meiſtens als einen Fundamentalſatz die Behauptung auf, ab— geſehen von Rückſichten der Verwendung ſei jedes Verhältniß äſthetiſch gleichgültig; Kant, Schiller, Herbart dagegen glaubten die Schönheit gerade von jeder Rückſicht auf die Verwendung der Verhält— niſſe befreien zu müſſen, um ſie in ihrer vollen Reinheit zu gewinnen. Fechner nun iſt der Ueberzeugung, dieſe Kernfrage müſſe auf experimentellem Wege der Löſung näher gebracht werden. Fechner verwirft die früheren Verſuche, eine ſolche abſolute Schönheitsform, Schönheitslinie, ein Schön— heitsverhältniß feſtzuſtellen, indem fie auf Grund falſcher Vorausſetzungen gemacht worden ſeien. Daß der Kreis die Linie abſoluter Vollkommenheit, die Kugel die abſolute Schönheitsform, Quadrat und gleichſeitiges Dreieck die ſchönſten Figuren, die fünf ſtereometriſch regelmäßigen die ſchönſten Körper ſeien, daß endlich das Verhältniß 1:1 oder 1: 2 allen anderen vorgezogen werden müſſe, wird ſtets denen am ein— leuchtendſten ſein, welche von dem Vor— urtheil befangen ſind, die Schönheit müſſe in der Einfachheit liegen; die genaunten Formen, Figuren, Verhältniſſe entſprechen dieſer Anforderung an die Schönheit voll— ſtändig. Wer hingegen die Schönheit durch die Einheit in der Mannigfaltigkeit for— mulirt wiſſen will, dem werden die Ellipſe, die Spirale, ein dreiachſiges Ellipſoid, ein complicirteres Verhältniß, wie z. B. das— Kosmos, Band II. Heft 3. — EUR Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 202 jenige des goldenen Schnittes, als voll— kommenſte Principien der Schönheit gelten können. anſichten gegründeten Hypotheſen über das allgemeine Schönheitsprincip wendet ſich Fechner, indem er durch das Experiment erſt die Gültigkeit dieſer Hypotheſen be— wieſen haben will. klar, daß, wenn es ein ſolches abſolutes Princip der Schönheit gäbe, daſſelbe über- all dann nachweisbar ſein müßte, wenn wir ein äſthetiſches Urtheil durch das Prä— dicat ſchön fällen; in der Natur- wie in der Kunſtſchönheit müßte dieſes Grund— princip ſich entdecken laſſen und Zeiſing glaubte, in dem Verhältniß des goldenen Schnittes dieſes geheimnißvolle Grundprin- Das Ber- | cip wirklich entdeckt zu haben. hältniß vom goldenen Schnitt, welches wir zukünftig, wie Fechner gethan, durch das Zeichen © abkürzungshalber ausdrücken wollen, bedeutet bekanntlich, daß ſich der klei nere Theil (minor) einer Ausdehnung zum größeren (major) verhalten ſolle wie dieſer zur Summe beider; in eine Formel ausgedrückt b würden wir jagen; — =, in en 1 jagen: , ap: in Zahlen 1 11803 Zeiſing legt dieſem Verhältniß einen wahrhaft un— endlichen Werth bei und ſucht in der Kunſt aller Zeiten und Völker, in den Natur— gebilden und Naturwiſſenſchaften, in der Geſtaltung der Erde und der Bewegung der Sterne nach Beiſpielen der Verwend— ung dieſes Princips. Wo die Wirklichkeit einmal nur in grober Annäherung auf das Verhältniß vom goldenen Schnitt paßt, da nimmt Zeiſing zu dem, wie Fech— ner ſagt, bis zu gewiſſen Grenzen freilich zuzugeſtehenden Satze ſeine Zuflucht: „Daß überhaupt die realen Erſcheinungen die Idee nie ganz erreichen und gewiſſe Abweichun— So viel iſt jedenfalls gen ſogar nothwendig werden, wenn der Gegen dieſe auf theoretiſche Vor- innere Reichthum der Idee in mannigfacher Erſcheinung zu Tage treten ſoll.“ Fechner ſagt dagegen: Wie kann ein Verhältniß überhaupt noch als ein Ideal— Verhältniß der Wohlgefälligkeit gelten, wenn Abweichungen von ihm es an Wohlgefäl— ligkeit übertreffen? Fechner ſagt ferner, es ſei ſehr zu verwundern, daß ein Prin— cip, welchem Zeiſing eine ſo außerordent— liche Bedeutung zuſchreibt, ſeither Jeder— mann verborgen bleiben konnte. Fügen wir bei, wenn Zeiſing Recht hätte be— halten wollen, ſo hätte er doch alle anderen denkbaren Verhältniſſe von 1 zu einer an— deren Größe, als eben im Weltall weniger oft vorkommend als das Verhältniß vom goldenen Schnitt, nachweiſen müſſen, und das wäre ihm wohl ebenſo wenig gelungen, als das Problem, den goldenen Schnitt als in den meiſten Fällen verwendet zu conſtatiren. Fechner verlangt mit Recht, daß man das Grundprincip der Schönheit zunächſt nur auf die Schönheit in der Anſchauung beziehen ſolle, denn man dürfe nicht a priori ein muſikaliſch als wohlgefälligſt erklärtes Schwingungsverhältniß auch als ein in der Anſchauung am günſtigſten Erſcheinendes an— nehmen. Selbſtverſtändlich darf die Er— forſchung dieſes Grundprincips der Schön— heit nicht auf den Vergleich von Qualitäten und Intenſitäten der Temperatur, des Ge— ruchs, Geſchmacks und Taſtgefühls ausge— dehnt werden, die wir ja an und für ſich aus dem Bereich des Schönen in das des Angenehmen verweiſen. Auch geſteht Fech— ner höheren philoſophiſchen Geſichtspunkten kein Recht zu, ohne Weiteres als Ausgangs— punkte zur Auffindung des geſuchten Schön— heitsprincips zu dienen. Was nun die Feſtſtellung des Schön— Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 203 heitsprincips mittelſt praktiſcher Verſuche anbelangt, ſo läßt ſich an einem concreten Fall am beſten erläutern, worin ſeither Fehler gemacht wurden; man ſuchte z. B. das Princip der formalen Wohlgefälligkeit vom menſchlichen Körper abzuleiten, wählte alſo als Unterſuchungsobjekt ein zu Com— plicirtes, welches nicht blos durch die Erſcheinung der Form, ſondern auch aus anderen, außerhalb der Form liegenden Gründen wohlgefällig erſcheint. Man wählte anſtatt des rein formellen menſch— lichen Körpers, wie er uns in den Werken der Plaſtik vor Augen tritt, als Unter— ſuchungsobjekt den wirklichen Menſchen, alſo die nicht unter den einfachſten Bedingungen angeſchaute Form. Der menſchliche Körper iſt an und für ſich ungeeignet zur Ableit— ung eines einfach formulirten Schönheits— princips, weil ſeine Abtheilungen zu wenig Beſtimmte ſind, um ihre Dimenſionen mit Ausſchluß jeder Willkür oder Anlegung eines Maßſtabes genau zu gewinnen und auf Grund ſicherer Maße die Verhältniſſe zu prüfen. Will man von Erfahrungsreſultaten das Schönheitsprincip ableiten, ſo muß man die Verſuche 1) mit einfachen Objekten vornehmen, z. B. mit einem Rechteck oder Parallelepipedon, 2) man muß das Objekt als reine Form der Unterſuchung zu Grunde legen, d. h. alſo von jedem Zweck abſtra— hiren, dem es im Leben dienen ſoll und kann, von jedem Stoff, in welchem wir es anzuſchauen gewohnt ſind; man muß mit einem Worte die direkte Wohlgefällig— keit des Unterſuchungsobjekts im Auge ha— ben und von jeder Steigerung oder Min— derung derſelben durch aſſociative Vorſtell— ungen ganz abſehen. Will man die reine Wohlgefälligkeit des Verhältniſſes Rechteckes im Vergleich mit anderen prüfen, eines ſo darf man demnach nicht an ein Buch oder eine Thür denken, zu welchem wir es verwendet, nicht daſſelbe als eine Platte von Gold, Holz, Marmor unterſuchen, in welchen Stoffen es zur Erſcheinung kommt, ſondern man muß auf die reine Form oder das Verhältniß ſeine Aufmerkſamkeit richten. Man muß drittens ohne Vorurtheil und Vorausſetzung den Verſuch beginnen, man darf nicht experimentiren, um das ſchon zum Voraus angenommene Princip bewei— ſen zu wollen, ſondern das Princip ſoll ſich erſt aus der Unterſuchung ergeben. 5 Nach Aufſtellung dieſer Grundſätze, nach welchen die Experimente vorgenommen werden ſollen, beſpricht Fechner in ſeiner Vorſchule der Aeſthetik die Einwürfe, welche gegen die Nützlichkeit ſolcher Experimente erhoben werden können. Den Einwurf, daß ſelbſt die iſolirt vorgeſtellten oder angeſchauten Verhältniſſe und Formen, welche in dieſer Weiſe äſthe— tiſch am vortheilhafteſten erſcheinen, in ihrer Verwendung, in ihrer relativen Lage zu anderen Verhältniſſen und Formen dieſes Vortheils verluſtig werden könnten, daß ſomit die an ſich wohlgefälligſten Formen und Verhältniſſe in ihrer Anwendung ſich nicht feſthalten ließen, widerlegt Fechner nach Vorausſchickung einiger Beiſpiele in vier Sätzen. Als Belege für obigen Einwurf führt er an, ein Kreis in einem Quadrat ge— zeichnet ſei wohlgefälliger, als ein um ein Quadrat gezeichneter; ein Kreis paſſe beſſer wie eine Ellipſe in ein Quadrat, eine Ellipſe beſſer als ein Kreis in ein Rechteck. Wenn Fechner aber von dieſen Beiſpielen ausſagt (Experimental-Aeſthetik), dieſes Mehr oder Weniger der Wohlgefälligkeit ſei ganz unabhängig von Nebenvorſtellungen und ergäbe ſich aus der reinen Anſchauung, 204 Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. ſo ſcheint er unſeres Erachtens zu irren. An dieſe einfachen Figuren des Kreiſes oder Quadrats, der Ellipſe oder des Rechtecks knüpfen ſich bei ihrer Zuſammen— ſtellung neue Vorſtellungen des Berührens und Durchſchneidens, alſo ſolche, welche Fechner als aſſociative Faktoren im Ge— ſammteindruck bezeichnet. Die Tangente hat in ihrem Berührungspunkt mit einer Curve auf einen Moment, in einem keeinſten Theil der Linie, eine Gemeinſamkeit mit dem Bildungsgeſetze der Curve, die Stetig— keit der Krümmung geht hier in eine an— dere von unendlich großem Radius über. Anders die Linie, welche die Stetigkeit der Curve unterbricht, momentan hemmt, ihrem Bildungsgeſetz alſo widerſpricht. Drei Punkte der Curve fallen mit drei Punkten der Tangente faſt zuſammen, wenn die Abſtände der Punkte unendlich klein ſind; ſie fallen ganz zuſammen, wenn der Krümmungs— halbmeſſer der Curve unendlich groß wird. Das Quadrat, welches vom Kreis um— ſchrieben iſt, trifft deſſen durch die Eckpunkte gezogene Tangenten unter Winkeln von 450, daran wird nichts geändert, wenn man auch den Halbmeſſer des Bogens un— endlich klein oder groß annimmt. Der oben erwähnte Einwurf, ſowie ein anderer, welcher Fechner gemacht wurde, daß nämlich Bildungszuſtand, Alter, Geſchlecht und Individualität das äſthetiſche Urtheil beeinfluſſen werden, ſomit alle Ex— perimentirungsverſuche in Frage ſtellen müſſen, iſt ihm nur ein Sporn, die Sache ſelbſt möglichſt zu klären, um das Princip reiner zu gewinnen. Blicken wir uns in dem Zimmer um, in welchem wir uns gerade befinden, ſo ſehen wir bei Allem, was zur Verwendung gekommen, gewiſſe Formen und Verhältniſſe dominiren, indem ſie die Hauptgeſtalt, das Hauptverhältniß der Objekte beſtimmen: ſie veranlaſſen uns, unſere Aufmerkſamkeit vor Allem auf das Ganze zu richten und die Einzeltheile zunächſt außer Acht zu laſſen, ebenſo wie die nicht zum Gegenſtand ge— hörige Umgebung. Bald ſehen wir die Gegenſtände von dieſer losgetrennt, wie die Bilder und Spiegel durch einen Rahmen, bald ſehen wir ſie als Mobilien ihren Platz und damit ihre Umgebung ändern, bald ſchaffen wir ihnen, z. B. den Kunſt— werken, eine gleichgültige Umgebung, damit die Sache ſelbſt deſto reiner zur Wirkung komme. Da die Wohlgefälligkeit durch den Einfluß der Umgebung auf die Zuſammen— ſtellung von Formen und Verhältniſſen geändert wird, ſo werden wir gezwungen, ſtets die größtmögliche Wohlgefälligkeit her— zuſtellen, alſo unter der unendlichen Anzahl möglicher Combinationen von Formen und Verhältniſſen die günſtigſten auszuſuchen; daraus ergiebt ſich aber die Aufgabe, nach den Urſachen und Bedingungen zu forſchen, welche das Endreſultat, die wohlgefälligſte Wirkung, hervorgebracht haben; wir ent— decken damit die Geſetze des Wohlgefälligſt— wirkenden, wir lernen den äſthetiſchen Mittelpunkt ſo zu ſagen kennen, in wel— chem ſich, dem Schwerpunkt einer Maſſe vergleichbar, die Fähigkeit einer Combina— tion von Formen und Verhältniſſen, äſthe— tiſch zu wirken, concentrirt. Oder anders ausgedrückt, wir finden gleichſam die Aſſym— ptote als einer Grenzlinie, das Ideal, welchem ſich die Schönheit der zu unter— der Schönheit in der Anſchauung deſto ſuchenden Combinationen nähert, oder von welchem ſie ſich entfernt, wir finden die Maxima und Minima, die höchſten und niedrigſten Grade ihrer äſthetiſchen Werthe in Bezug auf eine feſte Norm ihrer Be— urtheilung. Der Erwachſene von höherer i ) ::.. — A a nn und mittlerer Bildung wird uns bei der Unterſuchung ſolcher Verhältniſſe im All— gemeinen als der Urtheilsfähigſte gelten. Das etwa ſind Fechner's Einwend— ungen zur Widerlegung der Widerſprüche gegen den Werth der äſthetiſchen Experi— Controlirens mancher äſthetiſcher Anſichten, Behauptungen, Theorien zuertheilen will, als daß er ſich von ihnen einen beſondern praktiſchen Gewinn verſpricht; denn dem Gefühl des Künſtlers traut er unter allen Umſtänden die größte Sicherheit in der Beurtheilung einzelner Fälle zu. Sehen wir nun einmal zu, wie Fech— ner experimentirt und was ſich aus den Experimenten ergab. Nach ihm ſind drei verſchiedene Methoden des Experimentirens möglich: Entweder man läßt viele Perſonen zwiſchen den hinſichtlich ihrer Wohlgefällig— keit zu vergleichenden Formen oder Form— verhältniſſen wählen, oder man läßt das nach ihrem Geſchmack Wohlgefälligſte durch ſie ſelbſt herſtellen, oder endlich, man mißt im Gebrauch vorkommende Formen und Verhältniſſe und ſucht die Gründe ihrer Wohlgefälligkeit im Vergleich mit den ge— wonnenen Zahlenwerthen zu erforſchen. Fechner dehnte ſeine Unterſuchungen zunächſt auf drei einfache und zugleich leichtverſtändliche Beiſpiele von Formen und Verhältniſſen aus: 1. Auf die Theilung einer geraden Linie in zwei Theile; Auf die Figur des Kreuzes; 3. Auf das Rechteck und deſſen eigen— thümlichſtes Specimen, das Quadrat. Die Frage iſt im erſten Falle: Iſt die Gleichtheilung der Geraden vortheilhafter oder äſthetiſch weniger günſtig als jede andere, und wenn das Letztere der Fall iſt, wo liegt das äſthetiſch Centrum, wel— 1 . Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. mente, welchen er mehr die Rolle des 205 ches Theilungsverhältniß iſt das günſtigſte? Im zweiten Falle handelt es ſich um das gleicharmige oder ungleicharmige Kreuz; iſt das zweite äſthetiſch günſtiger wie das erſte? und, falls man bejahend antwortet, welches ungleicharmige Kreuz iſt das Schönſte? Endlich drittens, iſt das Quadrat oder ein anderes Rechteck das Schönſte, und zwar, welches iſt das Wohlgefälligſte? Die Endergebniſſe von Fechner's Unterſuchungen ſind, kurz geſagt, folgende: 1. Die horizontale Gerade ſieht ſym— metriſch getheilt, alſo halbirt, am vortheil- hafteſten aus. Die Theilung der Verti— calen konnte nicht ſo vorgenommen werden, daß ſich ein äſthetiſches Maximum ergeben hätte, die Beantwortung der Frage blieb unbeſtimmt in Bezug auf die Verticale. 2. Ueber das gleicharmige Kreuz ſpricht ſich Fechner nicht aus; bei dem ungleich— armigen iſt dasjenige Verhältniß das beſte, bei welchem der Querbalken ſich zum Längs— balken wie 1: 2 verhält. 3. Unter den Rechtecken iſt das Qua— drat das ungünſtigſte von allen; ebenſo ſind die ſehr langen Rechtecke äſthetiſch un— vortheilhaft. Ja ſogar ſcheint es, daß das Quadrat ſelbſt von den ihm zunächſt ſtehen— den Verhältniſſen an Schönheit überboten wird. Das günſtigſte Verhältniß iſt beim Rechteck dasjenige des goldenen Schnittes, bei welchem ſich alſo die kleinere Seite zur größeren verhält wie dieſe zur Summe beider. Ein weiteres Ergebniß der Unterſuch— ungen Fechner's war dasjenige, daß unter allen Vierecken das Rechteck am wohlgefälligſten iſt, und daß jedes geringe Abweichen vom Parallelismus der Seiten unvortheilhafter iſt als ein noch beträcht— licheres Abweichen vom goldenen Schnitt— Verhältniß. Mit der Unterſuchung der Rechtecke verfuhr Fechner auf folgende Weiſe: Um ſtets die relative Lage der Nedt- ecke zu einander wechſeln zu können, ſchnitt er zehn Cartonblätter aus; damit die Farbe keinen Einfluß auf die Wahl ausüben könne, damit ferner jede ſonſtige Täuſchung ver— mieden werde, verwendete Fechner weißen Carton und gab den Blättern genau den— ſelben Flächeninhalt, welcher einem Quadrat von 80 Millimeter Seite entſprach. Dieſe den Experimenten zu Grunde gelegten Recht— ecke hatten die Seiten-Verhältniſſe: 1:1 (Quadrat), 6: 5; 5: 4; 4: 3; 29:20; 32% O % 1% ( Das goldene Schnitt-Rechteck würde nahezu dem Werthe 34: 21 entſprechen. Mit dieſen Rechtecken wurde während mehrerer Jahre in der Weiſe operirt, daß verſchiedenen Perſonen die in beliebiger und bei jedem Verſuch wechſelnder Lage auf einer ſchwarzen Tafel ausgebreiteten Rechtecke zur Auswahl vorgelegt wurden mit dem Er— ſuchen, ſich über das ihnen am wohlgefäl— ligſten oder häßlichſten erſcheinende Verhält— niß auszuſprechen. Da es Fechner um ein Durchſchnitts— urtheil als desjenigen der Wahrheit ſich wohl am meiſten nähernden zu thun war, ſo wurden die Rechtecke nur Perſonen aus den gebildeten Ständen und von reiferem Alter aber von verſchiedenſtem Geſchmack, verſchiedenſtem Charakter und verſchieden— ſtem Lebensberuf vorgelegt; die Urtheile ſeitens des männlichen und weiblichen Ge— ſchlechts wurden getrennt verzeichnet und ſummirt, um die Verſuchsergebniſſe in Pro— centſätzen auszudrücken. Fechner theilt in einer Tabelle die ſehr merkwürdigen Reſultate ſeiner Expe- rimente mit, zugleich berichtet er aber auch über das Verhalten der Perſonen den Ver— 206 Redtenbacher, Zur Elementar -Aeſthetik. ſuchen gegenüber, welches mir zum Voraus entſcheidender zu fein ſcheint als die Zahlen— werthe der Tabelle ſelbſt: „Die Meiſten erklärten von vornherein, je nach der Ver— wendung könne dieſes oder jenes Rechteck das wohlgefälligſte ſein.“ Dieſes erſte Majoritätsurtheil ſpricht ſomit ganz entſchieden gegen die Bevorzug— ung des goldenen Schnitt-Verhältniſſes. Auch auf die von Fechner geſtellte Frage, ob die Perſonen nicht, ganz abge— ſehen von jeder Rückſicht auf Zweck und Bedeutung, eines dieſer Rechtecke wegen ſeiner Seitenverhältniſſe bevorzugen würden, lau— tete das Majoritätsurtheil im gbeichen Sinne wie das frühere: „Entweder Alle oder die größere Mehrzahl verweigerten hienach ein Urtheil, weil kein Unterſchied zu finden ſei.“ Alſo iſt das Durchſchnittsurtheil auch bei der Gegenprobe zu Ungunſten der An— nahme gefällt worden, daß es ein abſolut wohlgefälligſtes Verhältniß gäbe, und die Verweigerung eines Urtheiles oder die Be— hauptung, die Verwendung des Rechteckes entſcheide über ſeine Wohlgefälligkeit, be— ruhte ohne Zweifel nicht auf einer Vor— eingenommenheit zu Gunſten eines Dogma, ſondern ſie war eben die naturgemäßeſte Antwort auf die geſtellte Frage. Wie konnte nun Fechner zu den früher angegebenen Verſuchsreſultaten gelangen, nachdem doch die Majorität ſich ganz an— ders entſchieden hatte, als er dort ſagte? Fechner theilt mit, der Reſt der Per— ſonen, welcher ein beſtimmtes Bevorzugungs— urtheil zu Gunſten eines der zehn Rechtecke gefüllt habe, habe ſich ihnen gegenüber ſo eigenthümlich verhalten, daß die Ordnung in der Reihenfolge der Bevorzugungen keine zufällige ſein könne. Uns will nun ſcheinen, als ſeien die Experimente nicht vollſtändig — — T Redtenbacher, Zur Elementar-Aeſthetik. genug gemacht worden, und als ließe ſich aus Fechners Tabelle gerade das Gegen— theil von dem herausleſen, was er gefunden haben will. Er müßte das Gegenexperiment machen und tauſenden von Perſonen das Rechteck vom goldenen Schnitt mit der Be— hauptung vorlegen, es ſei von allen Recht— ecken das Schönſte; das Ergebniß der Zuſtimmung oder des Widerſpruchs müßte mit entſcheiden, ob die erſten Verſuche richtig waren. Geſetzt den Fall, daß die Summe der Vorzugsurtheile bei weiblichen wie männ— lichen Perſonen unbedingt dem goldenen Schnitte ſich zuwende, die Summe, der Ver— werfungsurtheile dem Verhältniß 1: 1 oder 5: 6 entſpräche, wer bürgt uns denn dafür, daß unſer ſo gewonnenes Reſultat ein ſolches von abſoluter Giltigkeit ſei? Denkbar wäre es ja an ſich ſchon, daß, die Möglichkeit vollſtändiger Experimente vorausgeſetzt, für verſchiedene Zeiten und Völker ſich ver— ſchiedene Geſchmacksnormen ergäben; viel— leicht würde für verſchiedene Städte eines Landes, für verſchiedene Berufsleute in einer Stadt, für verſchiedene Arbeiter eines Be— rufs ein anderes Normalrechteck als das ſchönſte gelten, und das wäre um ſo eher möglich, da ja eine abſolute Abſtraktion der Anſchauung von Nebengedanken kaum gefordert werden kann. Fechner theilt ja ſelbſt in ſeiner Experimentaläſthetik mit, die Leute hätten ſtets bei Auswahl eines Rechteckes an ein Buch, eine Thür, ein Kartenblatt, einen Pfefferkuchen ꝛc. gedacht, und es ſei ihnen ſchwer gefallen, die reine Form zu prüfen, von jeder Verwendung derſelben zu abſtrahiren. Auch ſcheinen mir gerade die nebenſächlichen Ergebniſſe von Fechners Verſuchen ſehr ſchwer— wiegend zu ſein, um den Werth der Tabelle zweifelhaft zu machen oder beſſer geſagt, 207 ihr eine andere Auslegung aufzunöthigen. Die Nebenreſultate feiner Experimente faßt Fechner mit folgenden Worten zuſammen: „Fräulein A. V., von ſehr gutem Ge— ſchmack nannte unter Bevorzugung von O die beiden längſten Rechtecke 2:1 und 6:5 „„leichtſinnige Formen““ und erklärte das kurze 6: 5, indem fie es ſolidariſch mit jenem verwarf, für „„gemein.““ An dem— ſelben Rechtecke wurde mehrfach getadelt, daß es faſt wie ein Quadrat ausſehe und doch keins ſei; ja der blinde Herr von Ehrenftein nannte es nach Anleitung des Taſtgefühls eine „„heuchleriſche Form““. Was nun das Urtheil des Fräuleins von ſehr gutem Geſchmack anbelangt, ſo iſt das— ſelbe zwar recht geiſtreich, aber wer kann verſtehen, was das Fräulein eigentlich ſagen wollte? Oder ſollte ich der Einzige ſein, dem es nicht gegeben iſt, den Sinn dieſer dunkeln Worte zu errathen? Das Urtheil des Herrn von Ehren— ſtein iſt kein Geſchmacks-, ſondern ein Taſt— urtheil, welches hier gar nicht in Betracht kommt; für das Taſtgefühl beiſpielsweiſe wird vielleicht die Formvollendung eines dreiachſigen Ellipſoides auf einem anderen Achſenverhältniß beruhen, als für die An— ſchauung. Was das mehrfach getadelte Rechteck 5: 6 anbelangt, ſo pflegen wir ferner allerdings das Ideal über jede Annäherung an daſſelbe zu ſtellen; in der Kunſt ſind ſolche Annäherungswerthe wie 5: 6 anſtatt 1:1 indeſſen kaum entbehrlich, ja ſogar oft willkommen, um beſondere Wirkungen zu erzielen; ſo z. B. paßt ein Spitzbogen, der ſich ſehr ſtark dem Halbkreis nähert, für ein Feſtungsthor oder einen Tunnel ſehr gut und ſieht pikanter aus, als der Rundbogen. Stichbogen, welche faſt dem Halbkreis gleich— kommen, wirken in der Architektur ſehr un— ‚•I/ r m günſtig, ſehr flache dagegen, welche ſich wenig von der geraden Linie entfernen, können einem Brückenbogen, einer Fenſterüberdeckung den Charakter elaſtiſchſter Spannung verleihen. Die feineren Nuancen von einfachen Formen und Verhältniſſen ſpielen bei den Maß— werken des gothiſchen Bauſtiles eine ſehr wichtige Rolle, und an ſolchen wie anderen Architekturformen läßt ſich ſo recht erkennen, wie gefährlich für das äſthetiſche Urtheil | jedes eigenſinnige Feſthalten an einem Dogma wird. Wie Fechner weiter mittheilt, ſagte Buchbinder Wellig, unter ſchwankendem Vorzug zwiſchen O und 23: 13, von den kürzeſten Formen 1: 1, 6: 5, 5:4, 4: 3, „ſie hätten kein Verhältniß.“ Dieſer Mann hat ohne Zweifel an Bücher gedacht, als er ſein Geſchmacksurtheil fällte; quadratiſche Bücher find häßlich; 6: 5, 5: 4, 4:3 eignen ſich für Salonwerke, die auf den Tiſch gelegt werden, nicht ſchlecht. Goldener Schnitt und 23: 13 paſſen ſicherlich ſehr gut zu Oktavbänden; Wellig hatte es wohl meiſtentheils mit ſolchen zu thun. „Eine Dame zog das Verhältniß 2: 1 vor, „„weil es ſo ſchön ſchlank ſei““. Der goldene Schnitt wurde von mehreren Per— ſonen bei der Bevorzugung für das „„no— belſte““ Verhältniß erklärt.“ Soweit Fechner. 2: 1 ſchlank zu nennen, will mir nicht ganz behagen; offenbar hätte dieſelbe dann dieſes Verhältniß zu „corpulent“ genannt, wenn man ihr auch Rechtecke von größeren Verhältniſſen vorgelegt hätte als 2 e n . f. Zu Notizbüchern und Viſitenkarten paßt das goldene Schnittverhältniß recht gut; Letztere mögen mehrere Perſonen wohl im Auge gehabt haben, als ſie O für „nobel“ erklärten. Eine Viſitenkarte von 6400 U % . Redtenbacher, Zur Elementar -Aeſthetik. Millimeter Flächeninhalt und dem O Ver— hältniß hat allerdings etwas ſehr Nobles, beſonders wenn eine hübſche Grafenkrone und ein langer Name mit allerlei Prädicaten daraufſteht. Alle dieſe, von Fechner mitgetheilten und einigermaßen ſeitens der gefragten Per— ſonen begründeten Urtheile ſcheinen doch darauf hinzudeuten, daß die betreffenden Leute ſich von allerlei Nebengedanken nicht frei zu machen wußten. Um noch einmal auf meine frühere Behauptung zurückzukommen, Fechners Verſuche ſeien nicht vollſtändig genug ge— weſen, um ein die Kernfrage entſcheidendes Endergebniß zu gewinnen, ſei doch noch daran erinnert, daß Fechner über das Verhältniß 2: 1 nicht hinausging. Die Experimentaläſthetik müßte, um ganz ſicher zu ſein, unterſuchen, ob unter den Rechtecken, welche über dem Verhältniß 2:1 liegen, noch bedeutende Bevorzugungen möglich ſind, welche, ähnlich wie es beim goldenen Schnitt-Verhältniß der Fall iſt, ſich durch eine einfache Formel ausdrücken laſſen. Was würde man denn gegen die Auf— faſſung einwenden können, daß das Quadrat und das O Rechteck als Grenzwerthe zu betrachten ſeien, jenes als ein Minimum, dieſes als das erſte Maximum unter einer Reihe Anderer, welche ſich zwiſchen dem Verhältniß 1: 1 und unendlich: 1 auf— finden ließen? Wäre es nicht möglich, daß dem 1: 1 und dem Verhältniß a 777 ee drittes äſthetiſch günſtigſtes Verhältniß entſpräche nach der Formel amt 5 alſo — 3 wo 7 die TU Tr TU T & Ludolph'ſche Zahl bedeutet; ein Rechteck, 3 Redtenbacher, Zur Elementar = Vejthetif. deſſen größere Seite, verglichen mit der Kleinere, ſich wie 1415. 1 .ver- hält, könnte ja ſehr wohl als äſthetiſch vortheilhafter erſcheinen als ein anderes vom Verhältniß 3: 1. Dieſe Gleichung hätte ja eben ſoviel Eigenartiges wie die Gleichung vom goldenen Schnitt. Frägt man ſich einmal, ob denn Fech— ners ſo einfache Unterſuchungsbeiſpiele wirk— lich ſolche ſind, welche mit Ausſchluß irgend welcher Nebengedanken eine äſthetiſche Be— urtheilung erfuhren; frägt man ſich, ob ſie nicht ſchon von ſelbſt zu Vorurtheilen ver— leiten, die das äſthetiſche Urtheil beeinfluſſen, ſo ſteigen gar bedenkliche Zweifel in die Zuverläſſigkeit der Experimente und ihre Ergebniſſe auf. Wenn wir auf dem Papier eine horizon— tale Linie halbiren, ſo theilen wir ſie ſo, daß die Vorſtellung eines Gleichgewichtes der Theile in Bezug auf den Theilungs— punkt durch eine Figur veranſchaulicht wird. Wir können zwar dieſe zweite Vor— ſtellung eines Gleichgewichtes von der erſten einer Gleichtheilung der geraden Linie im Geiſte trennen, nicht aber in der Anſchau— ung; die unvortheilhafte Erſcheinung der ungleichen Theilung einer Linie wird ferner ebenſo aufgehoben, ſobald wir uns an ihren Enden verticale Linienkräfte verſinn— bildlichen, welche das Gleichgewicht in Be— ziehung auf den Theilungspunkt herzuſtellen im Stande ſind, wie wir ja auch in der Architektur keine abſolute Symmetrie, wohl aber ein Gleichgewicht der Maſſen verlan— gen, um dem äſthetiſchen Urtheil zu genügen. Die ungleiche Theilung einer Verticalen wird uns ſtets als das Bild eines Stabili— lätsverhältniſſes erſcheinen und dann beſſer wirken als die indifferente Gleichtheilung, falls nicht durch das Ueberwiegen des Ober— theiles die Vorſtellung von einem Ueber— a 209 gewicht, einem labilen Zuſtand hervorge— rufen wird, was in der Kunſt auch berechtigt ſein kann. Wird ein Kreuz unrichtig ge— theilt, ſo geht eben die ganz beſtimmte Vorſtellung eines Kreuzes verloren, und deshalb verwerfen wir dieſe Figur. Fechner ſtellte ſich die Aufgabe, in ein Rechteck von beliebigem Verhältniß drei ſich rechtwinklich oder unter 45 ſchneidende Linien ſo zu verzeichnen, daß ſie ein richti— ges Verhältniß haben; um eine direkte An— wendung des Problems zu geben, möge es in die Form gefaßt ſein: ein Steinmetz von künſtleriſch gebildetem Auge wolle ſein Steinmetzzeichen auf einem Quaderſtein ſo anbringen, daß es am wohlgefälligſten er— ſcheine. Hier richtet ſich das Theilungs— verhältniß vollſtändig nach der Figur des Rechteckes; die Abſtände der Endpunkte der Linien von der Contour desſelben ſpielen eine ebenſo wichtige Rolle wie ihr Theilungs— verhältniß. Läßt man den einen Quer- balken rechtwinklig, den anderen unter 45° den Verticalbalken ſchneiden und zeichnet das Rechteck parallel zu den normal ſtehenden Balken, ſo beurtheilt das Auge nicht nur die Theilungsverhältniſſe, ſondern auch die getheilte Figur des Rechtecks ſelbſt, und es kann der Fall eintreten, daß man, unzu— frieden mit dieſer, durch einen an der richtigen Stelle angebrachten Punkt das mangelhafte Verhältniß corrigirt; der Stein— metz von geübtem Auge hätte vielleicht ſtatt eines Punktes den Anfangsbuchſtaben ſeines Namens auf der Quaderfläche angebracht. Setzt man dieſelbe Figur des ebengenannten Steinmetzzeichens nicht parallel mit dem Rechteck, ſondern ſchief zu demſelben, jo verlangt das Auge vielleicht die Markirung zweier iſolirter Punkte in der getheilten Fläche, damit ein Gleichgewicht der Maſſen entſtehe. Läßt man das Rechteck ganz weg, Kosmos, Band III. Heft 3. 210 jo iſt die Figur des Steinmetzzeichens dann am wohlgefälligſten, wenn eine Harmonie der Längen der Theile und der Winkel (45 9 ſieht etwas zu ſpitzig aus) in Bezug auf eine ſichtbare oder ideale Achſe erzielt wird, die durch den Schwerpunkt der Figur geht. Bei dieſem Beiſpiel, welches gewählt wurde, um von der uns gewohnten Figur des Kreuzes ganz zu abſtrahiren, erkennt man ſehr bald, ſowie man einige Verſuche macht, daß das äſthetiſche Maximum unter allen Umſtänden mit den Gleichgewichts— verhältniſſen der Maſſen einer abgetheilten Figur in Bezug auf eine Axe, beſſer geſagt ihren Schwerpunkt, zuſammenfällt. An anderen Orten hat Fechner über ſeine Verſuche, unter allen möglichen Ellipſen diejenige herauszufinden, welche uns als äſthetiſch am vollkommenſten gilt, be— richtet. Im erſten Augenblick giebt man nur zu leicht zu, daß ſehr flachgedrückte Ellipſen ſowie ſolche, welche ſich dem Kreis nähern, ungünſtiger wirken als eine gewiſſe normale Ellipſe, deren Krümmungsänderung ſtetiger erſcheint, wie bei jenen. Hier iſt es nun offenbar ſehr fraglich, ob denn die Figur einer Ellipſe uns in der Anſchauung ohne alle Nebenvorſtellungen, als eine reine An— ſchauung vorſchwebe, oder ob wir ſie uns nicht vorſtellen als Veranſchaulichung eines Bewegungsgeſetzes. Denken wir uns zwei leuchtende Punkte elliptiſche Bahnen be— ſchreiben, welchen verſchiedene Axenverhältniſſe | bis dahin und ſpäter ſoviel mit meiner entſprechen, und nehmen wir an, daß die Wege, welche jeder Punkt in jeder Zeiteinheit zurücklegt, alſo die Geſchwindigkeit bei beiden Ellipſen und auch bei jeder einzelnen von ihnen, conſtant bliebe; würde uns dies leuchtende Linienſpiel wohl bei einer flachen Ellipſe weniger ſchön erſcheinen, als bei der Normalellipſe oder bei einer ſchwachen Abweichung vom Kreis? Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. Können wir uns die Ellipſe und ihr Spezimen, den Kreis, überhaupt als reine Anſchauung vorſtellen oder haben wir nicht vielmehr ſtets dieſelben als entſtanden durch die Bewegung eines Punktes um einen an— deren nach einem beſtimmten Geſetz, als entſtanden aus der Durchdringung zweier Cylinder, Kegel, Ellipſoide ꝛc. im Auge? Die erſte Definition des Kreiſes, welche das Centrum als nicht gehörig zu der Curve umgeht, die Definition, daß der Kreis eine Curve von ſtets conſtant bleiben— der Krümmung ſei, enthält ja ſchon die Vorausſetzung einer Bewegung. Und können wir uns ein Rechteck, um auf dieſes endlich zurückzukommen, anders denken als con— ſtruirt aus zwei Linienpaaren, welche ſich rechtwinklig ſchneiden? Reine Anſchauungen, mit welchen die Geometrie operirt, beſtehen doch wohl nur in der Vorſtellung, aſſociiren ſich aber mit anderen, ſowie wir ſie mit dem Bleiſtift auf Papier oder in weißem Carton fixiren wollen. Im Jahre 1872 zeichnete ich zum erſten— mal das Rechteck vom goldenen Schnitt auf, nachdem mir die Zeiſing'ſche Behauptung, dasſelbe ſei principiell das äſthetiſch werth— vollſte, ſchon 1868 durch Lotze's Ge— ſchichte der Aeſthetik bekannt war. 1868 hatte ich gerade meine nach allen Richtungen hin und bei den beſten Lehrkräften gepflo— genen Architekturſtudien beendet, hatte mich Kunſt und der Praxis beſchäftigt, daß ich mir ſchon einiges Urtheil über das goldene Schnitt-Rechteck zutrauen durfte, als ich mit ſeiner Conſtruction durch Fechners Experimentaläſthetik bekannt wurde. Nicht wenig war ich im erſten Augenblick über dieſe Figur betroffen, ſie war mir ganz neu und ich wußte keine rechte Ver— Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. 211 wendung für ſie, ſie war mir zu neutral. Als Verhältniß für Thür oder Fenſter war mir das Rechteck nicht ſchlank genug, quergelegt als Form eines Atlas oder Oel— bildes zu lang, als Zeitungsformat zu hoch oder zu niedrig, je nachdem, kurzum ich wußte kein Beiſpiel ſeiner direkten Ver— wendung, und, ich mochte abſtrahiren von Nebenvorſtellungen, ſoviel ich nur wollte, es gefiel mir gar nicht. Heute kann ich in ihm ebenſowenig als im Quadrat mehr als ein neutrales Verhältniß erblicken, ich möchte Beide, wenn der Vergleich nicht zu gewagt iſt, als Knotenpunkte in einer Reihe möglicher anderer Verhältniſſe betrachten, die man bei Fechners Experimenten nicht als äſthetiſch Vortheilhafteſte betonte, ſon— dern eben, wie Fechner verlangt, als ſolche, bei welchen Nebenvorſtellungen nur in ſehr geringem Maaße ſich geltend machten. Es ſei auch mir geſtattet, einige Ver— ſuchsreſultate anzuführen. Vor mir liegen vier Briefkarten auf dem Tiſch. Die holländiſche mißt 122: 87, die franzö— ſiſche 120: 80, die ruſſiſche 128 : 86, die deutſche 146: 90 mm. gefällt mir entſchieden am beſten, die anderen ſind mir für eine Briefkarte zu lang im Verhältniß zur Breite. Die deutſche Karte gefällt mir weniger wie die franzöſiſche und die ruſſiſche; zwiſchen dieſen Beiden kann ich eine oder keine Entſcheidung treffen, je nachdem ich die Vorder- oder Rückſeite betrachte. Suche ich nach Gründen über mein augenblickliches Geſchmacksurtheil, ſo muß ich vor Allem entſchieden ſagen, daß mir die holländiſche Briefkarte unbedingt beſſer gefällt, wie die anderen. Die Karten ſind alle beſchrieben, und zwar die hollän— dieſes diſche und die deutſche der Quere, die an- deren der Länge nach. Die holländiſche Die deutſche Karte iſt aus Mainz zu— geſendet; eine Zweite, die ich hier kaufte, mißt 91: 144 mm. und gefällt mir auf- fallend viel beſſer als die erſtere, ja ſie rangirt direkt nach der holländiſchen. Be— trachte ich ihre unbeſchriebene Rückſeite, ſo kommt mir das Verhältniß unvollkommener vor, als das der bedruckten Vorderſeite. Die bedruckte, beſchriebene und abgeſtempelte Vorderſeite der franzöſiſchen Karte gefüllt mir entſchieden beſſer, als die äquivalente ruſſiſche, die Rückſeiten derſelben gefallen mir beide nicht, ich kann keiner den Vorzug geben. Eine Hinneigung zu einem der vier Länder kann meine Wahl nicht beeinflußt haben, ebenſowenig kann meine Bevorzugung aus der Erinnerung an die Adreſſanten entſprungen ſein, da ſie mir als Freunde ziemlich gleich werth ſind. Unterſuche ich, in wie weit ſich die Karten dem Verhältniß des goldenen Schnitts nähern, ſo ergiebt ſich, daß gerade die Karte mir am beſten gefällt, welche ſich am weiteſten von ihm entfernt; denn das Verhältniß der Karten iſt folgendes: holländiſche Karte 122:87 1,42 ruſſiſche „ franzöſiſche „„ 5 zweite deutſche „ = 141:90 1,56 erſte deutſche „ 146: 90 1,62 Die erſte deutſche Karte, welche den O nur wenig überſchreitet, gefiel mir weniger als die ruſſiſche und die franzöſiſche, welche nach der andern Seite hin ſtärker von O abweichen; die zweite deutſche Karte gefiel mir immer noch beſſer als der goldene Schnitt. Der Unterſchied der Vorder- und Rückſeite einer und derſelben Karte kommt offenbar auf Rechnung einer optiſchen Täu- ſchung, inſofern die Linien, die gedruckte Aufſchrift und die Briefmarke der Karte alſo als aſſo— die Anſchauung beeinflußen, Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. ciative Faktoren das Urtheil mit beſtimmen; jo müßte ihre Größe und Dicke eine an— ſonſtige angeführte Differenzen meines Ge— ſchmackurtheils wurden theilweiſe durch die gedruckten Rändchen hervorgerufen, welche der deutſchen Karte fehlen. Ich habe mir nachträglich noch eine Briefkarte aus Trieft | mit italieniſchem Druck und öſterreichiſchem Wappen verſchafft; fie hat faſt daſſelbe Format wie die holländiſche Karte, gefällt mir aber beſſer wie dieſe; Trieſter-Karte os Fe Aus dieſen Experimenten folgere ich zunächſt, ohne die Unumſtößlichkeit dieſer Folgerung behaupten zu wollen: 1. Daß jede verwendete Grundfigur, jedes Größenverhältniß gleichgültig iſt. 2. Daß ſie eine äſthetiſche Bedeutung | | erſt gewinnen durch einen Zweck, dem fie dienen. Dieſer Zweck iſt Fechners aſſo— ciatiwer Faktor. 3. Daß ein Zweck (in unſerem Falle bei einer Poſtkarte verwendet zu werden) am vollſtändigſten erreicht wird, wenn die Grundfigur, alſo unſer Rechteck, ſich dem Flächeninhalt nach einer beſtimmten Grenze nähert, die ſich ganz aus dem praktiſchen Gebrauch ergiebt. Je nach dem Flächen— inhalt muß das Verhältniß des Rechteckes ſich ändern. 4. Daß dieſer zweckmäßigſten Größe ein ganz beſtimmtes Verhältniß als äſthetiſch Vollendetſtes entſpricht. Wir haben auf das Material gar keine Rückſicht genommen; anſtatt des Kartons könnte man eben ſo gut matt emaillirtes dünnes Stahlblech, mit Kreidegrund über— zogenes Pergament, dünnes Holz ec. zur Anfertigung von Briefkarten verwenden. Das Stahlblech würde elaſtiſcher und ſchwerer ſein, als der Carton, der dünne Holzſpan leicht und zerbrechlich; wollten ſolche Poſt— karten dem Zweck vollſtändig entſprechen, dere ſein, als diejenige der gewöhnlichen | Briefkarten, und damit würde das äſthetiſch— günſtige Verhältniß ſich ebenfalls ändern. Wollte man die Karten mit einem gedruck— ten Rand oder einer Umrahmung verſehen, ſo müßte deren Breite ſich nach der Größe und dem Verhältniß der Fläche richten. Ich folgere ſomit: 5. Daß das äſthetiſche Centrum ſich mit der Anzahl der aſſociativen Faktoren ändert. Die Schönheit iſt ſomit eine Funk— tion F einer Grundform oder Grundan— chauung A, welche unter den verſchiedenſten Bedingungen a, b, c, d . . . als aſſociativer Faktoren, zu einem Zweck 2 angewendet wird. Faßt man die aſſociativen Faktoren a, b, c, d.. . zuſammen zu einer gemein— ſchaftlichen Reſultante R, ſo iſt der Aus— druck der Schönheit 8 = F (A, R, 2). Man wird zugeben müſſen, daß dieſe For— mulirung der Schönheit beſſer auf jeden einzelnen, der Unterſuchung zu unterwer— werfenden Fall paßt, als das Dogma vom goldenen Schnitt. Was ſoll ein ſolches Dogma überhaupt bedeuten? Das Ding an ſich, die Schönheit an ſich, die in unſerem Menſchenleben ebenſoviel Sinn hat, als die ſittliche That an ſich oder das Lebensglück an ſich, die Wahrheit an ſich, die kein Menſch gethan, genoſſen, erkannt hat. Sollte Fechner, der Freund des Paradoxon, welcher gerade mit Vorliebe falſche Theorien ad absurdum zu führen ſucht, wirklich an dem Dogma vom goldenen Schnitt feſthalten und uns nicht vielmehr mit ſeiner Experimentaläſthetik zu täuſchen geſucht haben? Als Objekte, welche ſich beſonders für die Experimentaläſthetik eignen, möchte ich die Kryſtallformen halten; bei ihnen denken wir kaum an einen Zweck, dem ſie dienen ſollen, und die aſſociativen Faktoren kommen nur inſofern in Betracht, als die nicht zur reinen Anſchauung der Form gehörigen Eigenthümlichkeiten wirklicher Kryſtalle, der Glanz und die Durchſichtigkeit, die Farbe und das Lichtbrechungsvermögen, eher die reine Auſchauung zu verſtärken als zu ſchwächen im Stande ſind. Verzerrte Kryſtallformen ſehen unvor— theilhafter aus, als regelmäßig geſtaltete. Die kryſtalliniſche Wirkung kommt am voll— ſtändigſten zur Geltung, wenn die Kryſtalle durchſichtig und glänzend, ſchwarz und glän— zend, undurchſichtig-metallglänzend find. Dieſe Eigenſchaften gehören eigentlich zur Grundvorſtellung, welche wir uns vom Weſen des Kryſtalles machen, wie ja ſchon der Sprachgebrauch in kryſtallklar, kryſtall— hell, kryſtallglänzend zu erkennen giebt. Bei den modernen, in Kryſtallform aus Glas geſchliffenen Briefbeſchwerern dient nicht die Form derſelben einem Zweck, ſondern blos das Gewicht des Stoffes; ihre Er— ſcheinung iſt rein auf die Wohlgefälligkeit in der Anſchauung berechnet, ebenſo wie diejenige geſchliffener Edelſteine. Dftaöder und Würfel find als End— punkte einer Reihe von unendlich vielen Combinationen zwiſchen Beiden zu betrach— ten, deren Mittelpunkt die bekannte, aus ſechs Quadraten und acht gleichſeitigen Drei— ecken beſtehende Combination bildet, welche weder den Würfel noch das Dftaöder vor— herrſchen läßt. Bei dem Kryſtall ſpielen nach den Flächen die Ecken die Hauptrolle, in zweiter Linie kommen die Kanten in Betracht. Daher ſehen enteckte Oktaßder und Würfel weniger günſtig aus als entkantete. Im Dftaöder, treffen die Achſen mit den Ecken zuſammen; die Dftaödereden find wichtiger als die Würfelecken, daher ſehen enteckte Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. Dftaöder weniger vortheilhaft aus als enteckte Würfel. Die Dodefaöder, Ikoſite— traöder ſehen enteckt weniger gut aus, als entkantet. Zuſchärfung der Kanten durch doppelſchneidige Flächenpaare, Zuſpitzungen der Ecken durch die Flächengruppen der Ikoſitetraßder wirken ſchöner als die Ent- eckungen und Entkantungen, weil ſie die reine Anſchauung der Grundform weniger ſtören. Combiniren ſich die letzteren mit den erſteren, ſo kann die reine Anſchauung ſehr gehoben werden, da die Ecken und Kanten, erſt wenn ſie durch Flächen er— ſetzt werden, überhaupt zur Anſchauung in der Wirklichkeit kommen. Ein ofta- driſcher Diamant kann durch ſeine lebhafte Strahlenbrechung ſehr gefällig wirken (ſo die Berühmtheit des Limburger Domſchatzes), ſchwarz dagegen wird er der Enteckung und Entkantung bedürftig ſein. Ein Würfel oder Dftaöder von durchſcheinendem Stoff kann ganz bleiben, weil das Durchſcheinen des Lichtes an den Ecken und Kanten ſchon die Anſchauung hebt. Schwach kryſtalliniſch eingeſenkte oder erhöhte Flächen vermehren die plaſtiſche Wirkung der Grundform oder auch den Glanz und die Reflexwirkungen (beſonders bei Metallglanz), können daher die reine Anſchauung verſtärken. Sowie aber alle dieſe Zuthaten die Grundgeſtalt vollſtändig aufheben, ſo daß die Kryſtallform der Kugel ſich nähert, jo wird die Grundanſchauung verwiſcht. Daher wird man den Facettenſchliff, welcher dem natürlichen Vorkommen des Diamants in der Form des Achtundvierzigflächners entſpricht, nur bei ſtark glänzenden und lichtbrechenden Stoffen anwenden wollen. Das Thema „Aeſthetik der Kryſtallformen“ ließe ſich weiter verfolgen; dieſe Grund— principien ihrer Wohlgefälligkeitsverhält— niſſe mögen hier genügen. Wollte man 214 fragen, welche Combination aller ganzen Grundformen des regulären Syſtems (aljo abgeſehen von den Hälften des Dftaöders und der Vierundzwanzig- reſp. Achtundvier— zigflächner) als ein äſthetiſches Maximum zu betrachten wäre, ſo würde man wohl eine Rangſtufe dieſer Kryſtallformen in Bezug auf das Vorherrſchen der einzelnen Elemente in der Combination annehmen müſſen, bei welcher das Dftaöder vorzu— herrſchen hätte. Ein Diamant, in dieſer Weiſe geſchliffen, würde ſich dem Brillant— ſchliff nähern, ein ſchwarzer Diamant würde zur Erhöhung ſeiner Erſcheinung wahr— ſcheinlich eine andere Rangſtufenreihe der genannten Grundformen erfordern. Von den Kryſtallformen ſei geſtattet auf mehrere andere, in der Baukunſt ihre Rolle ſpielenden Formen überzugehen und über ſie einige Bemerkungen zu machen. Ich behauptete, die reine Anſchauung des Würfels als durchſichtigen, lichtbrechenden, farbloſen Kryſtalles würde verſtärkt durch ſchwache Zuſchärfung und Abſtumpfung der Kanten und Ecken, wobei die Zuſchär— fung in erſter, die Abſtumpfung in zweiter Linie ſtehe; die Verſtärkung der reinen Anſchauung beruhe darauf, daß anſtatt der immateriellen Ecken und Kanten reflektirende und die Lichtbrechung verſtärkende Flächen aufträten, ſomit alſo außer den glänzenden Flächen des Kryſtalles auch die wichtigſten geometriſchen Punkte ſeiner Geſtalt hervor— gehoben würden, in welchen das Zuſam— mentreffen ſeiner Flächen ſtattfindet. Dieſer Verſtärkung der reinen An— ſchauung dagegen würde nun jede Abrun— dung der Kanten und Ecken entgegenwirken, als dem Weſen des Kryſtalles wider— ſprechend. Ein Steinquader, welcher un— durchſichtig, ſchwach lichtbrechend und reflek— Redtenbacher, Zur Experimental-Aeſthetik. tirend iſt, wird anders behandelt werden müſſen, als der durchſichtige Stoff, will man die reine Anſchauung verſtärken. Bei glänzendem Metall ſind ſchwache Abrun— dungen von Ecken und Kanten zuläſſig, weil die durch ſie hervorgerufenen Glanzlichter und die Reflexe im Halbſchatten im Verein mit den ſpiegelnden Flächen die Immate— riellität der reinen Form tilgen; davon macht man in den verſchiedenſten Zweigen der Kunſtinduſtrie bekanntlich Gebrauch. Die ganze Behandlungsweiſe von weißem Marmor richtet ſich nach dem Grade ſeiner Transparenz; die feinſten Nuancen ſeiner Geſtaltung kommen zur Wirkung; nicht ebenſo verhält es ſich mit gewöhnlichem Hauſtein, mit Holz und Backſtein. Will man die Ecken und Kanten von Quadern, Balken, Backſteinverbindungen beſonders her⸗ vortreten laſſen, ſo genügen die Abſtumpfun— gen, Abrundungen und Enkkantungen durch einfaches Schrägen nicht, es werden vielmehr erſt durch Hohlkehlen in Verbindung mit convexen Formen die gewünſchten Effekte erzielt. Der romaniſche und gothiſche Bau— ſtil macht, wie von den Hohlkehlen, ſo auch von den Abſchrägungen verſchiedenſter Nei— gungsverhältniſſe reichlicheren Gebrauch, als die in ſüdlichen Ländern entſtandenen übrigen Bauweiſen, in denen, Dank der um die Hälfte ſtärkeren Intenſität des Sonnenlichts, man mit einfacheren Mitteln ſein Ziel erreichen kann. Das ſind nun längſt bekannte Dinge, welche indeſſen immer nur ein und daſſelbe bezeugen: daß es keine abſolut wohlgefäl— ligen Formen, Verhältniſſe ꝛc. giebt, ſondern daß die Wohlgefälligkeit ebenſo ſtets von anderen Faktoren abhängig iſt, wie der Schatten eines Gegenſtandes von ſeiner relativen Stellung zum Licht. Rs . 2 Hafen, die 05 oft zu den i N Wurzelfüßlern gerechnet wird, bilden die ſogenannten Schleim— pilze oder Myxomyceten, von Anderen auch Pilzthiere oder Mycetozoen genannt. Schon dieſer doppelte Name be— zeichnet ihre zweifelhafte Protiſten-Natur. Sie leben in zahlreichen verſchiedenen Arten an feuchten Orten, im abgefallenen Laube der Wälder, zwiſchen Moos, auf faulendem Holze und dergl. Früher galten ſie all— gemein als Pflanzen, und zwar für Pilze, weil ihr reifer Fruchtkörper täuſchend dem blaſenförmigen Fruchtkörper der Gaſtro— myceten oder Blaſenpilze ähnlich iſt (Fig. 43 B). Dieſer Fruchtkörper bildet kugelige oder länglich runde, oft auf einem Stiele feſtſitzende Blaſen, meiſt von der Größe eines Stecknadelkopfes oder eines Hanf— kornes, bisweilen aber auch von mehreren Zoll Durchmeſſer. Die derbe äußere Hülle der Fruchtblaſen umſchließt ein feines Mehl, das aus Tauſenden von mikroſkopiſchen Zellen beſteht. Dies ſind die Fortpflanz— ungszellen oder Sporen. Das Protiſtenreich. Von Ernſt Haeckel. IM. Während aber bei den Blaſenpilzen, wie bei allen anderen echten Pilzen, ſich aus dieſen Sporen die charakteriſtiſchen Pilzfäden oder Hyphen, lange dünne Faden— ſchläuche entwickeln, entſtehen daraus bei den Myxomyceten ganz andere Keime. Aus der feſten Zellmembran einer jeden Spore ſchlüpft nämlich, ſobald dieſe ins Waſſer gelangt, eine nackte, lebhaft bewegliche Zelle aus (Fig. 42, 1—3). Anfangs ſchwimmt dieſe Zelle mittelſt eines langen Geißel— fadens, den ſie peitſchenförmig nach Art der Geißelſchwärmer hin und her ſchwingt, frei im Waſſer umher (Fig. 42, 4, 5). Später ſinkt ſie zu Boden und nimmt die Form einer Amoebe an (Fig. 46, 6, 7). Ganz gleich einer echten Amoebe kriecht ſie umher, indem ſie veränderliche Fortſätze ausſtreckt und wieder einzieht. Auch nimmt ſie nach Art der Amoeben ihre Nahrung auf. Viele ſolcher amoeboiden Zellen können nun ſpäterhin zuſammenfließen und mit einander verwachſen (Fig. 42, 8 11). Dadurch entſtehen große Protoplasma -Netze mit vielen Kernen (Syncytien, Fig. 42, 12). Indem ihre Kerne ſich auflöſen, 216 Haeckel, Das werden ſie zu kernloſen Plasmodien (Fig. 43 4). Solche große Plasmodien, oft ganz coloſſale Protoplasma Netze, kriechen 7 + Fig. 42. Fig. 43. Myrompceten. die glänzend gelben (oft mehrere Fuß großen) Protoplasma -Geflechte von Aethalium, Zu den größten Plasmodien gehören Protiſtenreich. gleich einem rieſigen Rhizopoden langſam umher und ändern beſtändig ihre unbe— ſtimmte Geſtalt. Keimung einer Myxomyceete (Physarum album). 1. Eine Keimzelle oder Spore. 2. Aus der dunkeln Hülle der Spore tritt die nackte Zelle hervor (3). Dieſe ver— wandelt ſich in eine Geißelzelle (4, 5) und darauf in eine Amoebe (6, 7). Mehrere Amoebeu fließen zuſammen (8, 9, 10, 11) und bilden ſo ein Plasmodium (12). RER A. Ein größeres Plasmodium (von Didymium leucopus). B. Eine reife Frucht (von Areyria incarnata). geplatzt und das Haarfaden-Geflecht (Capillitium, ep) hervorgetreten iſt. C. Dieſelbe, nachdem die Wand (p) welche die Lohbeete der Gerbereien durch— ziehen und unter dem Namen „Loh— blüthe“ allen Gerbern bekannt ſind. Haben die Plasmodien durch Wachsthum und Nahrungsaufnahme eine gewiſſe Größe erreicht, ſo ziehen ſie ſich auf einen kuge— ligen, birnförmigen oder kuchenförmigen Haufen zuſammen, umgeben ſich mit einer Hülle und das ganze Protoplasma zerfällt in zahlloſe kleine Sporen, zwiſchen welchen ſich meiſtens (jedoch nicht immer) ein Ge— flecht von äußerſt feinen Haarfäden aus— breitet (Capillitium, Fig. 43 cp). Wenn dieſe Fruchtkörper (Fig. 43 B) ganz reif ſind, platzt die äußere Hülle (Fig. 43 0); das Capillitium wird vorgetrieben und das feine Sporen-Pulver zerſtreut. Obgleich nun dieſe blaſenförmigen Fruchtkörper mit ihrem Sporenpulver und Capillitium die größte Aehnlichkeit mit den— jenigen von gewiſſen echten Pilzen beſitzen, haben ſie doch mit dieſen letzteren keine Spur von Verwandtſchaft, wie ihre gänz— lich verſchiedene Entwickelung zeigt. Will man überhaupt die Myxomyceten in nähere Beziehung zu irgend einer anderen Orga— nismen-Gruppe bringen, ſo bleiben nur die Rhizopoden übrig. In der That glei- chen die kriechenden negfürmigen Plasmodien dev Myxomyceten jo ſehr gewiſſen nackten Wurzelfüßlern (Lieberkühnia), daß man ſie gar nicht unterſcheiden kann. Es giebt kein paſſenderes Objekt, um ſich die merk— würdigen Strömungen in dem kriechenden nackten Protoplasma unmittelbar vor Augen zu führen, als die Plasmodien der gemeinen Lohblüthe, die im Frühjahr auf den Loh— beeten der Gerbereien ſehr leicht zu haben iſt und die Lohe in Form von gelben, rahmähnlichen Schleimhäuten durchzieht. Bringt man ein wenig von dieſem gelben Protoplasma in einer feuchten Kammer auf ein Glasplättchen, ſo iſt letzteres ſchon nach 10 — 20 Stunden von einem feinen Faden⸗Netz überſponnen, in deſſen Fäden — Kosmos, Band III. Heft 3. Haeckel, Das Protiſtenreich. hat. 217 man unter dem Mikroſkop die lebhafte Protoplasma-Strömung prächtig verfolgen kann. Im Anſchluß an die Myxomyceten müſſen wir hier auch auf die echten Pilze (Fungi) einen Blick werfen, mit welchen man die erſteren früher irrthümlich vereinigt Die echten Pilze, welche in ſo zahl— reichen, anſehnlichen und mannigfaltigen Formen in unſern Wäldern und Feldern, auf Pflanzen- und Thierkörpern ſchma— rotzend leben, werden oft auch als Schwämme bezeichnet. Sie haben aber mit den echten Schwämmen oder Spongien gar nichts zu thun; denn dieſe letzteren, wozu der ge— wöhnliche Badeſchwamm gehört, und welche ſämmtlich — mit einziger Ausnahme des Süßwaſſer-Schwammes, Spongilla, — im Meere leben, ſind echte Thiere und be— ſitzen ein Darmrohr mit Mundöffnung u. ſ. w. Die Pilze dagegen bilden eine gänzlich verſchiedene und ſehr eigenthümliche Klaſſe von niederen Organismen. Zwar gelten ſie heute noch allgemein als echte Pflanzen. Allein in den wichtigſten anatomiſchen und phyſiologiſchen Beziehun— gen weichen ſie ſo ſehr von allen übrigen Pflanzen ab, daß es wohl richtiger iſt, ſie als eine ſelbſtſtändige Klaſſe von Pro- tiſten zu betrachten. Ernährung und Stoffwechſel der Pilze iſt thieriſch, nicht pflanzlich. Sie bilden kein Protoplasma, kein Chlorophyll, kein Stärkemehl, keine Celluloſe, wie die echten Pflanzen. Viel— mehr bedürfen ſie wie die Thiere, zu ihrer Exiſtenz und Ernährung vorgebildetes Pro— toplasma, welches ſie aus dem Körper an— derer Organismen, lebender und todter Thiere, Pflanzen und Protiſten, entnehmen. Die Fortpflanzung der Pilze iſt meiſtens ungeſchlechtlich, und auch da, wo ſie ge— ſchlechtlich erſcheint, ganz eigenthümlich. Das 5 218 Haeckel, Das Protiſtenreich. Form-Element, aus dem fi der Körper kernloſe Cytode, die ſogenannte Hyphe aller Pilze aufbaut, iſt nicht eine echte, oder der „Pilzfaden“. Durch ſeitliche kernhaltige Zelle, wie bei allen Thieren [Sproſſung und fortgeſetzte Theilung in und Pflanzen, ſondern eine fadenförmige, einer Axe, bilden ſie verzweigte gegliederte , 5. a] Fig. 44. Ein Champignon, aus der Ord— Fig. 45. Eine Diatomee oder nung der Hutpilze (Hymenomycetes). Bacillarie (Surirella A. Das Fadengeflecht Mycelium), aus ver- dentata). Die Schachtelzelle äſtelten und netzförmig verbundenen Reihen iſt vom Rande geſehen, ſo von Pilzfäden (Hyphen) gebildet (m). Aus daß man ſieht, wie die bei— dem Myeelium ſproßen ſolide birnförmige den Schalenklappen (s u. d) Fruchtkörper hervor (I), in welchen ſich ein über einander greifen, gleich ringförmiger Luftraum bildet (II, III, . einer Schachtel (s) und ihrem Unterhalb ſondert ſich der Stiel (IV, st), Deckel (d). In der Mitte oberhalb der Schirm des Hutes (), von der Kern (n), p Protoplasma. welchem die Hymenium Rippen in den Luft⸗ raum hineinwachſen (V. 1); der untere Boden des Luftraums platzt ſpäter und hängt als Schleier (Velum) vom Rande des Hutes herab. Fäden, und zahlloſe ſolche Pilzfäden, in | geſtielte „Hut“ oder Schirm unſerer großen langen Ketten an einander gereiht, fi ver- Hutpilze, z. B. vom Champignon äſtelnd und netzartig verbindend, ſetzen alle (Fig. 44), iſt blos der Fruchtkörper, Organe der Pilze zuſammen. Der bekannte welcher ſich zur Zeit der Reife aus einem = — ar — = > — rennen) unſcheinbaren Fadengeflechte, dem Mycelium (Fig. 44, I m) entwickelt; die ſtrahligen, Haeckel, Das Protiſtenreich. | f | blattförmigen Rippen, welche ſich an der Unterſeite des regenſchirmähnlichen Hutes bilden, ſind von der Fruchthaut (Hyme— nium) überzogen, in welcher ſich ungeſchlecht— lich die Fortpflanzungs-Cytoden („Sporen“) bilden. Je genauer man die eigenthümliche Anatomie und Keimungsgeſchichte der Pilze verfolgt, je unbefangener man ſie vergleicht, deſto mehr überzeugt man ſich, daß dieſe merkwürdigen Organismen keine echten Pflanzen ſind, ſondern eine ganz ſelbſt— ſtändige Klaſſe von neutralen Protiſten darſtellen. Daſſelbe gilt von der formenreichen Klaſſe der Kieſelzellen (Diatomeae oder Bacillariae), die auch gewöhnlich zu den Pflanzen gerechnet werden. Dieſe zier— lichen kleinen Organismen bevölkern in un— geheuren Maſſen die ſüßen und ſalzigen Gewäſſer unſeres Erdballs. In großen Mengen angehäuft, bilden ſie gewöhnlich einen gelben oder gelbbraunen Schleim, der Steine, Waſſerpflanzen u. ſ. w. überzieht. Bald ſind die Diatomeen einzeln lebende Einſiedlerzellen, bald Colonien oder Ge— ſellſchaften (Coenobien), welche aus vielen gleichartigen, locker verbundenen Zellen zu— ſammengeſetzt erſcheinen. Viele Diatomeen ſitzen feſt; die meiſten aber bewegen ſich in ganz eigenthümlicher Weiſe, langſam ſchwimmend oder fort— rutſchend, im Waſſer umher. Die Organe dieſer Ortsbewegung ſind noch gänzlich un— bekannt, vielleicht feinſte Wimperreihen. Das Charakteriſtiſche an dem Zellen— körper der Diatomeen iſt die eigenthümliche Kieſelſchale, in welcher ihr Zellenleib eingeſchloſſen iſt. Dieſe Schale iſt aus zwei Hälften zuſammengeſetzt, welche ſich zu wie einander genau ſo verhalten, eine todten 219 Schachtel zu ihrem Deckel (Fig. 45). Die kernhaltige Zelle, welche in dieſer Schachtel lebt, theilt ſich in zwei Hälften, und jede Hälfte bildet ſich zu ihrem Schachteldeckel eine neue Schachtel. Dieſer Proceß wiederholt ſich mehrfach, wobei na— türlich jede folgende Generation kleiner wird. Schließlich aber entſteht eine Gene— ration, welche beide Schalenhälften abwirft, wieder bis zur Größe der erſten, größten Generation heranwächſt, und ſich nun mit einer neuen Kieſelſchachtel erſter Größe um— giebt. Wegen der unendlich mannigfaltigen und zierlichen Geſtalt dieſer Kieſelſchale, ſowie wegen ihrer äußerſt feinen Skulptur, ſind die Diatomeen ſehr beliebte Unter— haltungs-Objekte für mikroſkopiſchen Form— genuß. Wenn ſich die Kieſelſchalen der Diatomeen maſſenhaft auf dem Grunde der Gewäſſer anſammeln und zu Stein verkitten, können ſie ganze Gebirgs— ſchichten zuſammenſetzen, ſo z. B. den Po— lirſchiefer, das Bergmehl u. ſ. w. Während die meiſten, bisher von uns betrachteten Protiſten-Gruppen große und formenreiche Klaſſen darſtellen, giebt es nun noch eine Anzahl von kleineren, iſolir— ten, bisweilen nur durch eine oder wenige Formen repräſentirten Protiſten, deren Ein— reihung in das Syſtem ſehr ſchwierig iſt. Dies gilt z. B. von den ſonderbaren La— byrinthulen, Geſellſchaften von locker verbundenen, einfachen, ſpindelförmigen, gel— ben Zellen, die in einer eigenthümlichen Fadenbahn umherrutſchen. Eine andere Gruppe, intereſſant wegen ihrer Mittel— ſtellung zwiſchen verſchiedenen Protiſten— Klaſſen, bilden die Catallakten, durch die Gattungen Synura und Magosphaera repräſentirt. Sie bilden ſchwimmende Gallert— kugeln, zuſammengeſetzt aus einer Anzahl birnförmiger gleichartiger Zellen, welche mit 220 ihren ſpitzen inneren Enden im Centrum der Gallertkugel vereinigt ſind. Später löſen ſich dieſe Zellgeſellſchaften oder Coenobien auf. Die einzelnen iſolirten Zellen ſchwim— men noch eine Zeit lang ſelbſtſtändig um— her und können jetzt mit Ciliaten verwech— ſelt werden. Dann aber ſinken ſie auf den Meeresboden A Fig. 46. Küſte. Fig. 47. einer Amoebe. erhalten bewegliche Wimpern und verbinden ſich wieder zu einer Flimmerkugel. dreht ſich die Kugel rotirend um ihren Mittelpunkt, ſprengt ihre Hülle und ſchwimmt wieder frei in der Form umher, von wel— cher wir ausgegangen ſind (Fig. 46). Das Intereſſe dieſer merkwürdigen Protiſten liegt alſo weniger in beſonderen Eigenthümlich— Haeckel, Das Protiſtenreich. nieder und verwandeln Magosphaera (planula), eine ſchwimmende Flimmerkugel von der norwegiſchen A von der Oberfläche, B im Durchſchnitt. Nun ſich in amoebenähnliche Zellen. Gleich echten Amoeben kriechen dieſe umher, freſſen, wachſen und kapſeln ſich ſchließlich ein; der Zellenkörper zieht ſich kugelig zuſammen und umgiebt ſich mit einer Gallerthülle. Innerhalb derſelben theilt ſich die Zelle ſpäter wiederholt in 2, 4, 8, 16, 32 Zellen u. ſ. w. Dieſe werden birnförmig, B. Protamoeba (primitiva), ein Moner mit lappenförmigen Pſeudopodien, gleich A kriechend, B in Theilung begriffen, Ca, Ob in zwei Hälften getheilt. | keiten, als vielmehr in der neutralen Mittel— ſtellung, welche ſie zwiſchen Amoeben, In— fuſorien und Volvocinen einnehmen, und wodurch ſie dieſe verſchiedenen Protiſten— Klaſſen verknüpfen. Wir nennen ſie daher „Mittlinge oder Vermittler“ (Catal- lacta). Werfen wir einen vergleichenden Rück— blick auf alle bisher betrachteten Protiſten— Klaſſen, ſo ſehen wir, daß darin die orga— niſche Zelle bald ganz ſelbſtſtändig auftritt, und als Einſiedler-Zelle (Monoeyta) den ganzen Organismus repräſentirt, bald mit ihresgleichen ſich zu lockern Geſellſchaf— ten verbindet und einfache Zellen-Ge— meinden oder Zellen-Horden (Coenobia) 3 4 / U ö j 5 . f' 1 . nismen ohne Organe“. Ihr ganzer leben— diger Leib beſteht in völlig entwickeltem Zuſtande nur aus einem einfachen Proto— plasma-Stückchen, welchem ſelbſt der Kern, der Charakter der echten Zelle, noch fehlt. Bezüglich ihrer Bewegungen gleichen dieſe denkbar einfachſten Organismen bald den Amoeben (Fig. 47), bald den Wurzel— füßlern (Fig. 48), bald den Geißelſchwär— mern (Fig. 50). Sie vermehren ſich in einfachſter Weiſe durch Theilung. Von der größten theoretiſchen Bedeutung ſind ſie für Haeckel, Das Protiſtenreich. 76 N 779 HI } 1 40 1 1 Fig. 48. Protomyxa aurantiaca, ein Moner mit wurzelförmig veräſtelten, fadenartigen Pſeudopodien, gleich einem Rhizopoden. darſtellt. Nun iſt aber hiermit keineswegs die tiefſte Stufe der Organiſation erſchöpft, welche uns die organiſche Welt darbietet. Vielmehr treffen wir noch unterhalb dieſer einzelligen Protiſten jene niedrigſte und un— vollkommenſte Klaſſe von Organismen an, die wir als Moneren bezeichnen (Fig. 47, 48). Nee \\ Die Moneren find wahre „Orga- die dunkle Frage von der erſten Entſtehung des Lebens auf unſerer Erde. Denn nur Moneren können im Beginn des organiſchen Lebens auf unſerm Planeten durch Urzeug— ung entſtanden ſein; nur Moneren können die älteſten Stammeltern aller übrigen Or— ganismen ſein. Gerade in dieſer Beziehung ſind die Moneren des Tiefſeegrundes, und vor Allem der berühmte Bathybius (Fig. 49) vom höchſten Intereſſe. Eine ſehr wichtige und intereſſante Monerengruppe bilden die Zitterlinge (Vibriones oder Bacteria, Fig. KR Haeckel, Das Obgleich dieſe winzigſten Körperchen, die zu den allerkleinſten Organismen gehören, meiſtens von den Botanikern zu den Pflan— zen gerechnet und als „Spaltpilze (Schizomycetes)“ den echten Pflanzen an— gereiht werden, geſchieht das doch ohne jeden genügenden Grund. Mindeſtens haben die— jenigen Zoologen, welche ſie als einfache Thiere betrachten, ebenſo viel Recht dazu. Die Bakterien ſind eben echte Proti— ſten, und zwar kleinſte Moneren, deren höchſt einfache Organiſation und ganz neu— Fig. 49. Bathybius (Haeckelii). Ein Plasmodium aus den Tiefen des Oceans. Die veräſtelten Plaſſon-Ströme, durch deren Verbindung das Netz entſteht, ändern ſich beſtändig. Die Bewegung der Bakterien iſt meiſtens ſehr lebhaft, zitternd oder wimmelnd, viele ſind korkzieherartig gedreht und ſchrauben ſich im Waſſer fort (Fig. 50, 3). In einem einzigen Waſſertröpfchen können Mil lionen ſolcher kleinſten Organismen vereinigt ſein. Irgend welche Organiſations-Ver— hältniſſe, namentlich ein Zellkern, find an denſelben nicht nachzuweiſen; ſie ſind daher auch nicht wirkliche Zellen, ſondern kern— loſe Cytoden, gleich den anderen Mo neren. Ihre Fortpflanzung geſchieht in Protiſtenreich. traler Charakter ſie weder dem Thierreich, noch dem Pflanzenreich anzuſchließen geſtattet. Die Bakterien ſind meiſtens ſtabförmige Körperchen, die ſich lebhaft im Waſſer be— wegen. Als Organe der Bewegung iſt bei einigen größeren Formen eine äußerſt feine, ſchwingende Geißel erkannt, die an beiden Enden des Stäbchens vortritt, ſo bei Spi— rillum (Fig. 50, 4). Wahrſcheinlich iſt eine ſolche auch bei den kleineren Vibrionen vorhanden und nur wegen ihrer außer— ordentlichen Zartheit nicht wahrzunehmen. > SE) Fig. 50. Zitterlinge (Bacteria), ſehr ſtark vergrößert. 1. Sarcine, eine ein⸗ fachſte Cytode, im menſchlichen Magen ſchmarotzend, welche ſich durch kreuzförmige Theilung vermehrt. 2. Bacillus, gerade Stäbchen. 3. Vib rio, korkzieherartig ge— wundene Stäbchen. 4. Spirillum, eben ſolche Spiralſtäbchen, die aber an beiden Enden eine äußerſt feine, ſchwingende Geißel tragen. einfachſter Weiſe durch Theilung. Oft zer— fällt jedes Stäbchen in eine große Anzahl hinter einander gelegener Stückchen. Die große Bedeutung der Bakterien beſteht darin, daß ſie die Zerſetzung und Fäuluiß der organiſchen Flüſſigkeiten be— wirken, in welchen ſie ſich aufhalten. Sie ernähren ſich von den organiſchen Subſtan— zen (namentlich eiweißartigen Körpern), die in ſolchen Flüſſigkeiten aufgelöſt ſind. Wahrſcheinlich ſind ſie die Urſache vieler der ſchlimmſten, anſteckenden und epidemiſchen 2 Haeckel, Das Protiſtenreich. Krankheiten. So iſt es neuerdings nament— lich vom Milzbrand und den Blattern feſt— ohne willkürlichen Zwang weder zum Thier— geſtellt, daß nur Bakterien, die im Blute der milzbrandkranken und blatternkranken Thiere leben, die Uebertragung dieſer tödt— lichen Krankheiten bewirken. Ueberblickt man unbefangen prüfend und vergleichend die Maſſe von verſchieden- artigen Urweſen, die wir in unſerem Protiſten— reiche vereinigt haben, ſo ſcheint die Selbſt— ſtändigkeit dieſes letzteren keines weiteren Beweiſes zu bedürfen. Denn es exiſtirt noch heute eine ungeheure Menge von for— menreichen, mikroſkopiſchen Weſen, die wir N Fig. 51. fläche. B im Längsſchnitt. Uebrigens ſcheint gegen das Thierreich hin eine feſte und klare Abgrenzung des Protiſtenreiches ſchon jetzt ſicher gewonnen zu ſein. Denn bei allen echten Thieren entwickelt ſich der Leib aus zwei urſprüng— lichen Zellenſchichten, die unter dem Namen der Keimblätter bekannt ſind. Aus dem äußeren oder animalen (Exo— derma oder Hautblatt, Fig. 51) ent- ſtehen die Organe der Empfindung und Bewegung; aus dem innern oder vegeta— reich noch zum Pflanzenreich rechnen können. Aber das natürliche Verhältniß dieſer bei— den großen Lebensreiche zu jenem neu— tralen, zwiſchen Beiden mitten inne ſtehenden Protiſtenreiche wird noch Gastrula (Darmlarve) eines Kalkſchwammes, Olynthus. e äußeres Keimblatt (Hautblatt oder Exoderm). Keimblatt (Darmblatt oder Entoderm). vielfacher Durchforſchung und Klärung be— dürfen. Insbeſondere wird die Ent— wickelungsgeſchichte der Protiſten noch viel genauer und umfaſſender zu erforſchen ſein. Denn vor allem die Entwickelungs— geſchichte wird hier, wie überall, der „wahre Lichtträger“ für das Verſtändniß der bio— logiſchen Erſcheinungen ſein. A von der Ober— i inneres o Urmund. g Urdarmhöhle. tiven Keimblatte (Entoderma oder Darm— blatt, Fig. 51) die Organe der Ernähr— ung. Das letztere umſchließt eine ernäh— rende Höhle, die erſte Anlage des Magens oder den Urdarm (g), und dieſer öffnet ſich nach außen durch eine einfache Mund— öffnung, den Urmund (o). Die bedeut— ungsvolle Keimform, welche uns den Thier— leib dergeſtalt, blos aus zwei Keimblättern gebildet, vor Augen führt, iſt die Gaſtrula (Darmlarve oder Becherkeim). Dieſe Gaftrula ift das wahre Thier in einfachſter Form. Denn Haeckel, Das Protiſtenreich. f (Fig. 53), die Gliederthiere (Fig. 54), | | bei allen echten Thieren fängt die Ent- wickelung des Eies zur verſchiedenartigen Thierform mit der gleichartigen Bildung dieſer Gaſtrula an. Die niederſten Pflan— zenthiere, die Phyſemarien (Fig. 56), wie die Schwämme (Fig. 51), die niedrigſten Würmer (Fig. 52), ebenſo die Sternthiere | | | | ebenfo wie die Weichthiere (Fig. 55), ja ſogar die niedrigſten Wirbelthiere (Fig. 57), durchlaufen in früheſter Jugend dieſe Ga— ſtrula-Keimform; die anderen Thiere bilden zweiblättrige Keimformen, die nur als abgeänderte Gaſtrula-Keime betrachtet werden können; ſo auch die Säugethiere, mit Inbegriff des Menſchen (Fig. 58); Fig. 52—57. Gaſtrula von ſechs verſchiedenen Thieren. Fig. 52. (B) Wurm (Sagitta)- Fig. 53 (0) Seeſtern (Uraster). Fig. 54 (D) Krebs (Nauplius). Fig. 55 (E) Schnecke (Lymnaeus). Fig. 56 (A) Pflanzenthier (Gastrophysema). Fig. 57 (F) Wirbelthier (Amphioxus). — Ueberall bedeutet: e Hautblatt (Exoderm). i Darmblatt (Entoderm). d Urdarm. o Urmund. überall baut ſich der echte Thierleib ur— ſprünglich aus zwei Keimblättern auf. Hingegen erhebt ſich kein einziges Protiſt zur Produktion von Keimblättern und zur Bildung einer Gaſtrula. Weniger klar und ſcharf läßt ſich unſer Protiſtenreich gegen das Pflanzeureich hin abgrenzen. Doch dürften auch hier die Verhältniſſe der individuellen Entwickelung und des feineren Baues die Handhabe liefern, mit deren Hülfe wir die Grenz— linie ziehen können. Auch bei den echten Pflanzen ordnen ſich die Zellen, welche den Körper zunächſt aufbauen, in beſtimmter Weiſe zu Zellenreihen oder Zellenſchich— ten: und die charakteriſtiſche einfachſte Pflanzenform der Art bildet den ſogenann— ten Thallus oder das „Zellenlager“. — —— — —— — ——2 ne Haeckel, Das Protiſtenreich. Bei den niederen Pflanzen bleibt der Thal— lus als ſolcher zeitlebens beſtehen, bei den höheren ſondert oder differenzirt er ſich in Stengel und Blätter. Auch vermehren ſich alle echten Pflanzen auf geſchlechtlichem Wege, während dies bei den Protiſten nicht der Fall iſt. Eine abſolute Grenze freilich zwi- ſchen den drei organiſchen Reichen können und wollen wir nicht feſtſtellen. Denn auch die echten Pflanzen, wie die echten Thiere, durchlaufen in ihrer früheſten Ent— wickelung, als einzel— liges Ei, als einfacher Zellenhaufen u. ſ. w. niedere Formzuſtände, welche gewiſſen Pro- tiſten gleichen. Nach unſerem biogenetiſchen Grundgeſetze müſſen wir daraus den Schluß ziehen, daß ſämmtliche Organismen, Thiere, Protiſten und Pflan⸗ zen, von höchſt ein— fachen einzelligen Or⸗ ganismen abſtammen; und wenn wir dieſe älteſten Stammformen heute lebend vor uns hätten, würden wir ſie jedenfalls für neutrale Protiſten erklären. a Eine gute negative Charakteriſtik der Protiſten, gegenüber den echten Thieren und den echten Pflanzen, läßt ſich darauf grün- den, daß ſie weder eine Gaſtrula mit zwei Keimblättern bilden, wie die erſteren, noch einen Thallus oder ein Prothal- lium, wie die letzteren. Damit in Zu— ſammenhang ſteht der Umſtand, daß die Protiſten niemals wirkliche (aus vielen (Kaninchen). höhle ausfüllt. . Fig. 58. Gaſtrula eines Säugethieres e Hautblatt (Exoderm). i Darmblatt (Entoderm). d eine centrale Entoderm-Zelle, welche die enge Urdarm— o eine Entoderm-Zelle, welche die Urmundöffnung verſtopft. Ebenſo wie beim Kaninchen verhält ſich wahrſcheinlich auch die Gaſtrula beim Menſchen. Erfahrung bleibt uns für die Erkenntniß Zellen zuſammengeſetzte) Gewebe und Organe bilden, wie alle echten Thiere und Pflanzen. Auch iſt es ſicher von großer Bedeutung, daß die große Mehr- zahl aller Protiſten ſich ausſchließlich auf ungeſchlechtlichem Wege fortpflanzt (durch Theilung, Knospenbildung, Sporen— bildung). Aber ſelbſt bei den wenigen Protiſten, welche ſich bereits zur geſchlecht— lichen Zeugung in einfachſter Form erheben, geht der Gegenſatz zwiſchen männlichen und weiblichen Theilen nie— mals ſo weit, wie es bei allen echten Thieren und Pflanzen der Fall iſt. Sie repräſentiren in jeder Beziehung jene niedere älteſte Bildungsſtufe, welche jedenfalls der Ent- wickelung echter Thiere und echter Pflanzen vorausgegangen ſein muß. Dieſe Betrachtungen führen uns auf den- jenigen Weg, auf welchem allein eigent— lich das Verhältniß der drei organiſchen Reiche zu einander entſcheidend aufgeklärt werden kann, auf den Weg der Stam— mesgeſchichte oder Phylogenie. Wenn wir ganz genau wüßten, wie ſich das or— ganiſche Leben auf unſerem Erdball von Anfang an entwickelt hat, wie die Thiere, Protiſten und Pflanzen urſprünglich ent— ſtanden ſind, dann würden wir auch das Verhältniß der drei Reiche zu einander klar und unzweideutig beurtheilen können. Aber der ſichere Weg der unmittelbaren Kosmos, Band III. Heft 3. 29 226 Haeckel, Das Protiſtenreich. dieſes wichtigen Verhältniſſes auf ewig ver— ſchloſſen. Kein lebendes Weſen und keine Schöpfungsurkunde kann uns erzählen, wie jener älteſte Entwickelungsgang des orga— niſchen Lebens vor vielen Millionen von Jahren begonnen und wie er ſich weiter— hin zunächſt geſtaltet hat. Tauſende von Arten und Gattungen, Millionen von Ge— nerationen ſind ins Grab geſunken, ohne uns ſichtbare Spuren ihrer Exiſtenz hinterlaſſen zu haben. Und gerade die wichtigſten von Allen, die älteſten und einfachſten Formen, konnten wegen des Mangels harter Körper— theile keine Verſteinerungen zurücklaſſen. Aber wenn uns auch der ſtreng empi— riſche Weg der Erkenntniß in dieſer hoch— wichtigen Urſprungsfrage unwiderruflich ver— ſchloſſen iſt, ſo bleibt uns doch hier, wie überall, zur Ausfüllung unſerer Erkenntniß— lücken der Weg der wiſſenſchaftlichen Hy— potheſe offen. Wenn dieſe hiſtoriſche Hypotheſe ſich in umfaſſender Weiſe Geſellſchaften von gleichartigen Zellen. auf die bisher erkannten wiſſenſchaftlichen Thatſachen ſtützt, jo iſt fie in der Natur- geſchichte der Lebeweſen ebenſo berechtigt, Wiſſenſchaften. Und wie uns die allgemein anerkannten geologiſchen Hypotheſen dazu geführt haben, eine befriedigende Einſicht in den Entwickelungsgang unſeres Erdballs zu gewinnen, ſo werden auch die phylo— gründen, Licht über den Entwickelungsgang des Wir können hier nicht auf eine Be— gehen, welche über dieſen Entwickelungsgang aufgeſtellt worden ſind. Nur auf diejenige Vorſtellung wollen wir ſchließlich noch einen wie in der Geologie, in der Archäologie, der Culturgeſchichte und anderen hiſtoriſchen | genetiſchen Hypotheſen, die wir auf die von Darwin reformirte Descendenz-Theorie organiſchen Lebens auf der Erde verbreiten. leuchtung und Begründung aller der ver- ſchiedenen phylogenetiſchen Hypotheſen ein- flüchtigen Blick werfen, welche heut zu tage am meiſten innere Wahrſcheinlichkeit für ſich hat. Danach müſſen wir annehmen, daß das Leben auf unſerem Planeten mit der ſelbſtſtändigen Entſtehung der allerein— fachſten Protiſten aus anorganiſchen Ver— bindungen begonnen hat. Dieſe älteſten Lebeweſen der Erde werden den noch heute exiſtirenden Moneren ähnlich geweſen ſein: einfachſte lebende Protoplasma-Stück— chen ohne jegliche Organbildung. Daraus werden ſich zunächſt durch Sonderung eines Kernes im Innern einzellige Protiſten gebildet haben, und zwar hüchſt einfache, formloſe und indifferente Zellen, gleich den Amoeben. Indem einige von die— ſen einzelligen Protiſten, von geſelligen Neigungen getrieben, ſich daran gewöhnten, in kleinen Geſellſchaften vereinigt zu leben, werden die erſten vielzelligen Organismen entſtanden ſein, und zwar zunächſt auch nur wieder einfache Zellenhorden, lockere Nun iſt es wohl wahrſcheinlich, daß dieſe älteſten und einfachſten Entwickelungs— vorgänge des organiſchen Lebens ſich an zahlreichen verſchiedenen Stellen des jugend— lichen Erdballs gleichzeitig und unabhängig von einander wiederholt haben. So können alſo verſchiedene und vielleicht zahlreiche Formen von Protiſten unabhängig von einander entſtanden ſein; zuerſt einzellige, ſpäter vielzellige. Durch den allgemeinen Kampf ums Daſein, der auch unter dieſen Protiſten frühzeitig ſich geltend machte, werden dieſelben allmälig zu höherer Son— derung und Vervollkommnung angetrieben worden ſein. Als wichtigſter Vorgang iſt ſicher die gegenſätzliche Sonderung von thieriſchen und pflanzlichen Lebensproceſſen hervorzuheben. Die einen Protiſten began— nen mehr an thieriſche, die andere an pflanzliche Lebensweiſe ſich anzupaſſen, und mit der Lebensweiſe in Wechſelwirkung ent— ſtand die charakteriſtiſche Körperform. Eine dritte, conſervative Gruppe von Protiſten behielt den urſprünglichen neutralen Cha- rakter bei. Indem jene Anpaſſungen ſich im Laufe der Zeit durch Vererbung befeſtig— | ten, bildeten ſich neben einander die drei großen organiſchen Reiche aus. Mit Beziehung auf den Stoffwechſel und die Ernährung würden wir freilich ſagen können, daß dieſe älteſten Bewohner unſeres Planeten Pflanzen waren, — richtiger: Protiſten mit pflanzlichem Stoff— wechſel; Protiſten, welche gleich echten Pflan— zen aus Waſſer, Kohlenſäure und Ammo- niak die wichtigſte „Lebens-Baſis“, das und dieſes Plaſſon ſonderte ſich ſpäter in Protoplas— | Plaſſon, zuſammenſetzten, ma und Nucleus. Die älteſten Thiere hingegen — oder richtiger: die älteſten Protiſten mit thieri— ſchem Stoffwechſel, waren Paraſiten, ſchmarotzende Protiſten, welche es bequemer fanden, fi” das von anderen Protiſten gebildete Protoplasma anzueignen, als ſelbſt ſolches zu bilden. Da eben urſprünglich viele Protiſten-Stämme ſich unabhängig von einander entwickelt haben können, von verſchiedenen autogonen Moneren abſtam— mend, ſo können auch dieſe Anpaſſungen ſich mehrmals (polyphyletiſch) wiederholt haben. Aber auch wenn wir dieſe viel— ſtämmige (polyphyletiſche) Hypotheſe ver— werfen und wenn wir mehr zu der ein— ſtämmigen (monophyletiſchen) Annahme hin— neigen, daß der Urſprung aller lebenden Weſen auf eine einzige gemeinſame Stamm— form zurückgeführt werden muß, auch dann werden wir doch im Ganzen wieder zu ähnlichen Vorſtellungen über das Verhält— niß der drei Reiche gelangen. Auch in Haeckel, Das Protiſtenreich. ten. 227 dieſem Falle werden wir annehmen müſſen, daß jene älteſte urſprüngliche Stammform eine einfachſte Cytode, ein Moner war, und daß ſich aus den Nachkommen jenes Moners zunächſt einfache Zellen entwickel— Dieſe Zellen werden ſich wieder in thieriſche und pflanzliche geſondert haben, und ſo wird ſich nach einer Richtung hin das Thierreich, nach einer anderen das Pflanzenreich ausgebildet haben, zwei ge— waltigen, weit verzweigten Stämmen ver- gleichbar. Aber aus der gemeinſamen Wurzel, in der dieſe beiden großen Stämme zuſam— menhängen, haben ſich außerdem noch zahl— reiche niedere und indifferente Wurzelſchöß— linge ſelbſtſtändig entwickelt; und dieſe bilden zuſammen unſer Reich der Protiſten. Jedenfalls bleibt ſo viel ſicher, daß Thier— reich und Pflanzenreich nur in ihren voll— kommeneren Formen ſich ſchroff gegenüber ſtehen, in ihren niederen Formen dagegen durch das Protiſtenreich untrennbar zuſammenhän— gen. Die wiſſenſchaftliche Begründung dieſer wichtigen Anſchauung iſt uns erſt durch die großartigen Fortſchritte der letzten 40 Jahre möglich geworden. Aber mit dem Genius des Propheten hat ſchon vor 70 Jahren einer unſrer tiefblickendſten Naturphiloſophen, Deutſch— lands genialſter Dichter, dieſelbe Anſchauung ahnungsvoll ausgeſprochen. In Jena ſchrieb Goethe 1806 den merkwürdigen Satz nieder: „Wenn man Pflanzen und Thiere in ihrem unvollkommenſten Zuſtande be— trachtet, ſo ſind ſie kaum zu unterſcheiden. So viel aber können wir ſagen, daß die aus einer kaum zu ſondernden Verwandt— ſchaft als Pflanzen und Thiere hervortre— tenden Geſchöpfe nach zwei entgegengeſetzten Seiten ſich vervollkommnen, ſo daß die Pflanze ſich zuletzt im Baume dauernd und ſtarr, das Thier im Menſchen zur höchſten Beweglichkeit und Freiheit ſich verherrlicht.“ — — . — — Die Königinnen der Meliponen. Von Dr. Fritz Müller. ie ſchönſte unter den ſtachelloſen Honigbienen des ſüdlichen Bra- ſiliens iſt die Coyrepü oder große Mandacaia. Sie hat etwa die Größe einer europäi— ſchen Honigbiene; ihre etwas geringere Länge wird durch größere Breite auf— gewogen. Kopf und Bruſt ſind glänzend ſchwarz, der oben unbehaarte Hinterleib rothbraun, mit vier dottergelben Quer— binden geziert. Im April 1873 entnahm ich einem hohlen Baumſtamme ein Volk dieſer ſchönen Biene, um es in meinem Garten lebend zu beobachten. Nachdem ich Brutwaben und Honigtöpfe und mit ihnen die größte Zahl der Bewohner herausge— nommen hatte, bemerkte ich zwiſchen den in der Höhle des Baumes zurückgebliebenen bunten Erbauern des Neſtes etwas kleinere Bienen, deren einfarbiger, glänzend brauner Hinterleib mit eigenthümlich ſeidenartig glänzenden, bräunlichen, hinterwärts gerich— teten Haaren bekleidet war. Sie waren im ganzen Ausſehen ſo verſchieden, daß ich gar nicht an die Möglichkeit dachte, ſie öknnten derſelben Art angehören. Ich fing | neun dieſer Bienen; alle waren Weibchen, wie die zwölfgliedrigen Fühler und die einfachen Fußklauen bewieſen (bei den Männ— chen der Meliponiden ſind die Fußklauen geſpalten); allein ihre Hinterſchienen beſaßen nicht die nackte, glänzende, vertiefte Außen— fläche, das „Sammelkörbchen“, in welchem die Arbeiter der Meliponen den Blüthen— ſtaub heimtragen. Die Außenfläche der Hinterſchienen war gewölbt und behaart, zum Blüthenſtaubſammeln kaum tauglich. Dies legte den Gedanken nahe, es ſeien „Kukuksbienen“, die ihre Eier in die mit Futterbrei gefüllten Brutzellen ihrer Ver— wandten einſchmuggeln. Unter den Hum— meln kennt man ja eine ganze Anzahl ſolcher ſchmarotzenden Arten. Bald darauf erhielt ich ein Volk einer zweiten Melipona-Art, der Gurupü. Sie iſt ſo groß wie die vorige Art, matt ſchwarz und auf der ganzen Oberſeite, auch des Hinterleibes, mit dichter, ſenkrecht abſtehen— der, bräunlicher oder ſchwärzlicher Behaar— ung bekleidet. Nach wenigen Wochen ging dieſes Volk zu Grunde, wahrſcheinlich weil wegen Weiſelloſigkeit die älteren Arbeiter Müller, Die Königinnen der Meliponen. ſich zerſtreut hatten; die zurückgebliebenen Drohnen und jüngeren Arbeiter mußten dann Hungers ſterben, nachdem ſie die vor— handenen Vorräthe aufgezehrt hatten. Eines Tages vermißte ich die Wache am Flug— loche, es flogen keine Bienen mehr, dagegen liefen zahlreiche Ameiſen aus und ein. Ich fand bei Unterſuchung des Stockes todt oder ſterbend 294 meiſt noch nicht ausge— färbte Arbeiter, 59 Drohnen, die dagegen faſt alle ſchon ausgefärbt waren, und 21 zum Theil noch in den Brutzellen einge⸗ ſchloſſene Weibchen, täuſchend ähnlich den bei den Coyrepü gefundenen, wie ſie durch die außen gewölbten und behaarten Hinterſchienen von den Arbeitern, und höchſt augenfällig durch die braungelbe, ſeiden— glänzende, hinterwärts gerichtete Behaarung des Hinterleibes von allen übrigen Be— wohnern des Stockes ſich unterſcheiden. Eine eingehendere Unterſuchung, die mein Bruder Hermann Müller vor— nahm, ergab, daß dieſe abweichenden Weib— chen der beiden Stöcke verſchiedenen Arten angehörten, von denen jede trotz des ganz verſchiedenen Ausſehens in vielen Punkten ſich eng anſchloß an die Arbeiter, in deren Geſellſchaft ſie gefunden worden war. Im Freien habe ich nur einmal ein ſolches Weibchen gefangen, ſo ähnlich den früher geſehenen, daß mir bei oberflächlicher Betrachtung kein Unterſchied auffiel; indeß wollte ein glücklicher Zufall, daß daſſelbe, wie mein Bruder feſtſtellte, einer dritten Art angehörte, und ſich ebenſo an unſere dritte größere Melipona-Art, die Mondury (Melipona Mondury Smith = Fulva Lep.) anſchloß, wie die beiden erſteren an die große Mandagaia und die Gurupn. Häufiger als die genannten drei größe— ren iſt hier eine vierte, kleinere (6 bis 7,5 eillimeter lange) Melipona-Art, die eben— — 229 falls den Namen Mandacaia führt und beſonders durch ihre außergewöhnliche Ver— änderlichkeit merkwürdig iſt. Kopf und Bruſt ſind matt ſchwarz, der oberſeits un— behaarte, glänzende Hinterleib iſt bald ganz ſchwarz, bald ſchwarz mit röthlichem Grunde, bald braunroth, bald röthlich, und auf dem Rücken mit vier, ſeltener fünf, gelben oder auch weißlichen, ununterbroche— nen oder mehr oder weniger breit unter— brochenen Querlinien gezeichnet. Das Schild— chen iſt bald glänzend ſchwarz, bald gelb. Die Kinnbacken (Mandibeln) ſind bald ganz— randig, bald mehr oder minder deutlich ge— zähnt, ſo daß nach dieſem Merkmal, durch welches Latreille die Gattungen Meli- pona und Trigona unterſchied, von den Arbeitern dieſer Art einige zu Melipona, andere zu Trigona gehören würden. Von dieſer Art beſaß ich gegen Ende des Jahres 1874 drei Völker, alle mit ſchwarzem, quergeſtreiftem Hinterleib, zwei auch mit ſchwarzem Schildchen, während bei dem dritten gelbe und ſchwarze Schildchen in ungefähr gleicher Häufigkeit vorkamen. Am 31. Oktober 1874 ſah ich zum erſten Male auch bei dieſer Art ein Weib— chen, welches durch einfarbig braunen Hinter- leib mit hinterwärts gerichteter, ſeidenglän— zender, gelbbrauner Behaarung in dem Ge— wimmel der Arbeiter ſich bemerklich machte; es war etwas kleiner als dieſe. Bald fand ich dieſe Weibchen auch in den beiden an— deren Stöcken, und zwar in der Farbe des Schildchens übereinſtimmend mit den Ar— beitern des betreffenden Volkes. Unter dem Volke, deſſen Arbeiter bald ſchwarze, bald gelbe Schildchen trugen, fing ich fünf ſol— cher Weibchen mit ſchwarzem und ebenfalls fünf mit gelbem Schildchen. Nach dieſem Funde war natürlich nicht mehr daran zu denken, daß dieſe Weibchen 230 fremde Eindringlinge, daß ſie Kukuksbienen fein könnten; es waren ohne Frage Weib- | chen der Art, bei welcher ſie lebten. Ob jungfräuliche Königinnen oder ob etwa ein beſonderer Stand heiliger Jungfrauen), die, ohne von einem Manne zu wiſſen, Drohneneier legen, wie die von Vogel beobachteten „Drohnenmütterchen“ der ägyp— tiſchen Bienen, kann ich noch nicht endgültig entſcheiden; da jedoch bis auf den rieſig angeſchwollenen Hinterleib mein Bruder die Königin der Coyrepu völlig übereinſtim— mend fand mit den kleinen Weibchen des— ſelben Volkes, ſo iſt das Erſtere mir wahr— ſcheinlicher So haben wir denn hier vier Melipona— Arten, deren fruchtbare Weibchen, ſeien es Königinnen oder heilige Jungfrauen, über— raſchend ähnlich ſind, während die unfrucht— baren Weibchen (Arbeiter) und die Männ— chen (Drohnen) jeder Art ſich weit von denen der übrigen Arten und von den frucht— baren Weibchen der eigenen Art entfernen. ſein? Daß die Weibchen mehrerer verwandten Arten einander ſehr ähnlich, die Männchen dagegen von einander und von den eigenen Weibchen ſehr verſchieden ſind, kommt auch bei den Schmetterlingen vor, und man darf in dieſem Falle annehmen, wie Dar— win überzeugend nachgewieſen hat, daß die unanſehnlicheren Weibchen die urſprüngliche Zeichnung und Färbung bewahrten, wäh— rend die Männchen ihr glänzendes Kleid der von den Weibchen geübten geſchlecht— lichen Ausleſe verdanken. Auch bei unſeren ) Ich ſchlage dieſe in der chriſtlichen Mythologie ſeit lange in gleichem Sinne üb— langathmigen Fremdwortes: „parthenogene— tiſche Weibchen“. Müller, Die Königinnen der Meliponen. Wie mag dieſes Verhalten zu erklären: liche deutſche Bezeichnung vor an Stelle des Meliponen wird man die übereinſtimmende Tracht der fruchtbaren Weibchen als Erb— theil einer gemeinſamen Stammform an— ſprechen dürfen, und man würde ebenſo die Bedenken der geſchlechtlichen Ausleſe zu— ſchreiben, wenn es ſich eben nur um die Männchen handelte. Das Auffallendfte aber in dieſem Falle iſt nicht die Verſchiedenheit der Männchen, ſondern daß die unfrucht— baren Weibchen das Gewand der Männ— chen und nicht das der fruchtbaren Weib— chen tragen. Drohnen und Arbeiter ſtim— men in Größe, Geſtalt und Färbung faſt vollſtändig überein; nur die Farbe des Ge— ſichtes iſt bisweilen abweichend; außerdem fehlen den Drohnen die Sammelkörbchen der Hinterſchienen, ihre Fußklauen ſind geſpalten, ihre Fühler dreizehngliedrig. Leider iſt — und damit fehlt jedem bei ſtachelloſen Honigbienen noch nicht feſt— geſtellt, wodurch die Entſtehung der drei verſchiedenen Stände bedingt iſt, und ſie ſtehen in ihrem Bau und namentlich auch in ihrer Brutpflege den ſtachelbewehrten Honigbienen der alten Welt nicht nahe ge— nug, um ohne Weiteres das bei letzteren Erforſchte auf ſie übertragen zu dürfen. Die in einſchichtigen wagerechten Waben an— geordneten Brutzellen ſind bei den Meli— ponen ſämmtlich von gleicher Größe, mögen ſie für Männchen, fruchtbare oder unfrucht— bare Weibchen dienen (bei den nahe ver— wandten Trigonen kommen beſondere, ſehr große „Weiſelwiegen“ vor). Die Brut⸗ zellen werden mit Futterbrei gefüllt, bevor das Ei gelegt wird, und ſobald dies ge— ſchehen, ſofort geſchloſſen. Wenn alſo aus den Eiern Weibchen oder Männchen her— vorgehen, je nachdem ſie befruchtet werden oder nicht, ſo kann wenigſtens die Königin Verſchiedenheit der Männchen ohne große Erklärungsverſuche der ſichere Boden — * nicht durch verſchiedene Größe der Zellen veranlaßt werden, die Befruchtung zu voll— ziehen oder zu unterlaſſen, und wenn die Entwickelung der Weibchen zu Königinnen oder Arbeitern bedingt iſt durch verſchiedene Ernährung der Larve, ſo könnte dabei nur die Beſchaffenheit, nicht aber die Menge des Larvenfutters in Betracht kommen. In einem wichtigen Punkte ſtimmen übri— gens die Meliponen mit den europäiſchen Bienen überein: Die fruchtbaren Weibchen entwickeln ſich raſcher, die Drohnen lang— ſamer als die Arbeiter, und dieſe Ueber— einſtimmung ſpricht allerdings zu Gunſten der Annahme, daß auch die Urſachen, welche die Entſtehung des einen oder des anderen der drei Stände bedingen, dieſelben ſein mögen. Iſt dies aber der Fall, ſo muß es um ſo befremdender erſcheinen, daß die von den Drohnen gezeugten fruchtbaren Töchter das Gewand des Vaters nicht erben, während die von der Königin vaterlos er— zeugten Söhne es erhalten. Es iſt kaum denkbar, daß Arbeiter und Drohnen unabhängig von einander daſſelbe von dem der Königin ſo weit verſchiedene Ausſehen erlangt haben; vielmehr wird daſſelbe von einem der beiden Stände er— worben und dann auf den andern über- tragen worden ſein. ———ů — — ä ——U—— —— —— ——— — ů — —— ——! Müller, Die Königinnen der Meliponen. 231 Die Annahme, daß die Arbeiter zuerſt die alterthümliche, von der Königin ziemlich treu bewahrte Tracht ablegten, und daß von ihnen aus die neue Tracht auf die Drohnen überging, würde die weitere, durch nichts zu ſtützende Annahme fordern, daß nicht nur in ſeltenen Ausnahmefällen, wie bei der europäiſchen Biene, ſondern regel— mäßig die Arbeiter der Meliponen Drohnen- eier legen. Bei weitem wahrſcheinlicher ſcheint es, daß, wie bei vielen Schmetterlingen, zu— nächſt die Männchen der verſchiedenen Arten durch geſchlechtliche Ausleſe ſich immer weiter von einander und von ihren Müttern ent— fernten. Die ganz eigenthümliche und bis jetzt wohl beiſpielloſe Weiſe der Vererbung, durch welche dieſe allmälig anwachſende Ver— ſchiedenheit der Männchen in gleichem Grade auch auf die unfruchtbaren, aber gar nicht auf die fruchtbaren Weibchen übertragen wurde, dürfte vielleicht damit in Zuſammen⸗ hang ſtehen, daß Drohnen und Arbeiter daſſelbe, die Königinnen aber ein anderes Larvenfutter erhalten. Doch ſtatt weitere unbeweisbare Mög— lichkeiten aufzuſuchen, will ich lieber einfach geſtehen, daß ich eine befriedigende Erklär— ung bis jetzt nicht zu geben weiß. f Die Herrſchaft des Ceremoniells. Von Herbert Spencer. VI. Anredeformen. / 5 as die Verbeugung durch eine 3 Handlung, das drückt die An— 5 redeform durch Worte aus. Wenn beide gemeinſamer Ab— fa ſind, ſo durfte man dies ſchon im Voraus annehmen, und daß erſteres der Fall iſt, läßt ſich in der That nach— weiſen. Es treffen ſich Beiſpiele, wo beide Formen unterſchiedslos gebraucht werden, da eben die eine das Aequivalent der andern darſtellt. So bemerkt Capitän Spencer von den Polen und ſlaviſchen Schleſiern: „Keine Eigenthümlichkeit im Auftreten kennzeichnet vielleicht dieſe beiden Völker beſſer, als ihre unterwürfige Art, irgend eine Freundlichkeit anzuerkennen; denn ihr Ausdruck des Dankes iſt das ſervile „Upa— dam do nög* (ich falle zu Euren Füßen), was keineswegs eine bloße Redensart ſein ſoll: man braucht ihnen die Kleinigkeit von ein paar Pfennigen zu ſchenken, und ſie fallen buchſtäblich nieder und küſſen einem und zum König: die Füße.“ Hier wird alſo die Stellung des Be— | fiegten vor feinem Sieger entweder that— ſächlich angenommen, oder er bekennt ſich in Worten dazu, und gegebenen Falls kann die wörtliche Darſtellung als Erſatz für die wirklich ausgeführte Handlung gelten. Andere Zeugniſſe führen uns Worte und Handlungen in ähnlicher Verknüpfung vor, ſo z. B. wenn ein türkiſcher Höfling, über— haupt gewöhnt, unterwürfige Verbeugungen zu machen, den Sultan anredet: „Mittel— punkt des Weltalls! Deines Sklaven Haupt liegt zu Deinen Füßen!“ — oder wenn ein Siameſe, der ſich alltäglich den kriechend— ſten Niederwerfungen unterzieht, zu ſeinem Vorgeſetzten ſagt: „Herr und Wohlthäter, zu deſſen Füßen ich liege,“ zu einem Für— ſten aber: „Ich, die Sohle Deines Fußes,“ „Ich, ein Stäubchen an Deinen geheiligten Füßen.“ Oder noch beſſer, wenn ein Siameſe aus dem Gefolge des Königs ſagt: „Hoher und vortrefflicher Herr, ich, Dein Sklave, bitte darum, die königlichen Befehle entgegennehmen und ſie auf mein Gehirn, auf den Scheitel meines Kopfes legen zu dürfen,“ womit abermals in Worten jene abſolut unterwürfige Stell— ung angedeutet wird, bei der das Haupt unter dem Fuße des Siegers liegt. Es mangelt aber auch aus näher ge— legenen Ländern nicht an Beiſpielen, welche dieſe Erſetzung wirklich ausgeführter Ehren— bezeugungen durch ein bloßes Bekenntniß der Bereitwilligkeit dazu beleuchten. In Rußland muß ſelbſt in der gegenwärtigen Zeit eines gemäßigten Despotismus eine Petition ſtets mit den Worten beginnen: „Der und der ſchlägt ſeine Stirn“ (auf die Erde), und Bittende werden deshalb „Stirnſchläger“ genannt. Am Hofe von Frankreich war es bis zum Jahre 1577 noch Sitte, daß die Einen ſagten: „Ich küſſe die Hand Euer Gnaden,“ Andere aber ſogar: „Ich küſſe Euer Herrlichkeit Füße.“ Und in Spanien, wo mancherlei aus ver— gangenen Zeiten überkommene orientalijche Gebräuche noch fortbeſtehen, können wir ſelbſt heutigen Tages noch hören: „Wenn man aufſteht, um Abſchied zu nehmen, ſo muß man einer Dame gegenüber ſagen: „Meine Dame, ich lege mich zu Ihren Füßen,» worauf fie entgegnen wird: „Ich küſſe Ihre Hand, Herr.»“ Uebrigens ließ ſich ſchon aus dem, was vorher gegangen iſt, in der That entnehmen, daß die Anredeformen ſolchen Urſprungs und Charakters ſein würden. Neben an— dern Mitteln, um den Sieger, den Herrn oder den Beherrſcher zu verſöhnen, werden natürlich auch Anreden verſucht werden, welche mit dem Bekenntniß der Beſiegung, d. h. mit der wörtlichen Wiederholung der um ſich dann zu den verſchiedenartigſten Redeweiſen zu entwickeln, welche alle den Zuſtand der Knechtſchaft laut anerkennen. Die Folge davon wird alſo ſein, daß die mit derſelben verbundenen Lage beginnen, m Spencer, Die Herrſchaft des Cęremoniells. 233 Anvedeformen im Allgemeinen, da fie von ſolchen Originalen abſtammen, ſämmtlich die Angehörigkeit oder Unterwerfung unter die angeredete Perſon mehr oder weniger deutlich ausdrücken werden. Unter den begütigenden Redeweiſen giebt es einige, welche, ſtatt die natürliche Folge einer Niederlage, die Niederwerfung, dar— zuſtellen, vielmehr den damit verbundenen Zuſtand ausdrücken, in welchem der Be— ſiegte der Barmherzigkeit des Angeredeten anheimfällt. Eine der ſeltſamſten Formen dieſer Art kommt bei den cannibaliſchen Tupis vor. Während einerſeits ein Krieger ſeinen Feind anſchreit: „Möge jegliches Unglück über Dich, mein Fraß, kommen,“ wurde andererſeits von dem gefangenen Hans Stade bei der Annäherung an eine Behauſung verlangt, daß er die Worte ſpreche: „Ich, Eure Speiſe, bin gekommen.“ An anderen Orten nimmt dieſe wörtliche Hingabe des Lebens wieder andere Formen an. So wird verſichert, daß in Rußland während früherer Jahrhunderte die Bitt- ſchriften an den Czaar mit den Worten anfingen: „Laß unſere Köpfe nicht abhauen, o mächtiger Herr, weil wir es gewagt haben, Dich anzureden, ſondern höre uns!“ Und obwohl ich keine direkte Beſtätigung dieſer Aeußerung habe finden können, ſo erhält ſie doch eine indirekte Stütze in der heute noch gebräuchlichen Redensart: „Wer zum Czaar geht, der wagt ſeinen Kopf,“ und nicht minder in dem Verschen: „Meine Seele Gott, Mein Land gehört mir, Mein Kopf dem Czaar, Mein Rücken Dir!“ Statt des Bekenntniſſes ſodann, daß der Redende nur von dem wirklichen oder vorgeblichen Oberherrn geduldet fortlebe, finden wir die Verſicherung des Sprechen— Kosmos, Band III. Heft 3. 30 234 den, daß er ſich perſönlich als Eigenthum des Angeredeten betrachte, oder ſeinen Beſitz zu deſſen Verfügung ſtelle, oder beides. Afrika, Polyneſien und Europa liefern Zeugniſſe hierfür. Haus eines Serracolet (Binnenlandnegers) betritt, ſo kommt dieſer heraus und ſagt: „Weißer Mann, mein Haus, mein Weib, | ſache jo gut wie verdunkelt, daß das Wort meine Kinder gehören Dir.“ Auf den Sandwichinſeln pflegt ein Häuptling, den man frägt, wem das Eigenthumsrecht über ein ihm angehöriges Haus oder Canoe zu— ſtehe, zu antworten: „Es gehört Euch und iſt. Wenn alſo, wie dies in der Bibel ſo mir.“ In Frankreich lautete die höfliche Anrede, welche im fünfzehnten Jahrhundert ein Abbé auf ſeinen Knieen liegend an die Königin richtete, wenn dieſelbe ſein Kloſter beſuchte: „Wir übergeben und opfern Dir die Abtei mit allem, was darinnen iſt, unſere Leiber wie unſer Eigenthum.“ Und gegenwärtig gilt in Spanien, wo die Höf— lichkeit erfordert, daß alles, was ein Gaſt bewundert, ihm ſogleich angeboten werde, folgende Regel: „Der Ort, von welchem man (einen Brief) datirt, ſoll von rechts— wegen bezeichnet werden als . . . . dies Euer Haus, wo es auch immer ſein mag; man darf nicht ſagen: dies mein Haus, da man eben ausdrücken will, daß man es auch ſeinen Vater „Saul's Knechte“ nennt. ſeinem Correſpondenten zur Verfügung ſtelle.“ Allein dieſe Formen, einen wirklichen oder vorgeblichen Höhern anzureden, indem man denſelben indirekt der Unterordnung unter ihn mit ſeinem Körper und ſeiner Habe verſichert, ſind nur von nebenſächlicher | Bedeutung im Vergleich zu den direkten Verſicherungen der Sklaverei und Knecht— ſchaft, welche, obgleich in barbariſchen Zeiten in Gebrauch gekommen, doch durch die Jahrhunderte der Civiliſation bis auf die gegenwärtige Zeit herab fortbeſtanden haben. Die bibliſchen Erzählungen haben uns Wenn ein Fremder das ſpricht. Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. damit vertraut gemacht, daß das Wort „Knecht“ ganz gewöhnlich von Seiten eines Unterthanen oder eines niedriger Stehenden auf ſich ſelbſt angewendet wird, wenn er mit einem Herrſcher oder einem Höhern In unſern Zeiten der Freiheit haben die durch tägliche Gewöhnung feſt— geſetzten Gedankenverbindungen die That— „Knecht“, wo es in der Ueberſetzung alter Geſchichten gebraucht wird, „Sklave“ be— deutet, geradezu das Verhältniß bezeichnet, in welches ein Kriegsgefangener gerathen häufig vorkommt, die Ausdrücke „Dein Knecht“ oder „Deine Knechte“ einem König gegenüber gebraucht werden, ſo ſind die— ſelben von Rechts wegen als Bezeichnung für denſelben Zuſtand der Unterjochung zu nehmen, welcher etwas weitläufiger durch die im letzten Kapitel angeführten Wendungen angedeutet wird. Offenbar pflegten dieſes ſelbſterniedrigende Wort nicht blos die eigentlichen Diener zu gebrauchen, ſondern auch ganze beſiegte Völker und ſelbſt Unterthanen im Allgemeinen, wie dies z. B. daraus erſichtlich iſt, daß der dem König Saul noch unbekannte David, als er mit dieſem redet, ſowohl ſich ſelbſt als Und ähnliche Verwendungen des Wortes dem Herrſcher gegenüber haben ſich bis in die jüngſten Zeiten herab erhalten. Schon ſehr frühe aber kam es dazu— daß ſolche Betheuerungen der Knechtſchaft, die man urſprünglich nur vor dem einen Inhaber der höchſten Gewalt ausſprach, auch ſolchen von untergeordneter Macht gewid— met wurden. Als die Brüder Joſephs in Aegypten vor dieſen gebracht wurden und ſich vor ihm fürchteten, nannten ſie ſich ſelbſt ſeine Knechte oder Sklaven; und nicht blos — dies, ſondern ſie ſprachen auch von ihrem Vater ſo, als ob er in demſelben Verhält— niß zu ihm ſtünde. Ueberdies finden ſich Zeugniſſe, daß dieſe Anredeform ſogar in den Verkehr zwiſchen Gleichgeſtellten über— ging, wo es ſich um Erlangung einer Gunſt handelte, wofür wir z. B. auf Buch der Richter, Cap. XIX, 19 verweiſen. Wie unter den europäiſchen Völkern eine ähn liche Unterwürfigkeit Platz gegriffen hat, braucht wohl kaum näher erörtert zu wer— den; Beiſpiele für einige der durchlaufenen Stufen werden genügen. Unter den fran— zöſiſchen Höflingen war im ſechszehnten Jahrhundert die Redensart gebräuchlich: „Ich bin Ihr Knecht und der beſtändige Sklave Ihres Hauſes,“ und bei uns ſelbſt waren in früheren Zeiten viele derartige Betheuerungen der Knechtſchaft im Schwange, wie z. B.: „Ganz zu Ihrem Befehl,“ „Stets zu Ihrer Hochehrwürden Verfüg— ung,“ „In vollkommenſter dienſtbarer Un— terthänigkeit“ u. ſ. w., während in un— ſeren Tagen dieſe Formen nur ſelten und dann meiſtens in ironiſchem Sinne wirklich ausgeſprochen werden und ihre Vertreter nur noch im ſchriftlichen Verkehr hinter— laſſen haben: „Ihr gehorſamer Diener,“ „Ihr unterthäniger Diener“ — und ſelbſt dieſe finden in der Regel nur dann An— wendung, wenn es ſich darum handelt, einen gewiſſen Abſtand aufrecht zu erhalten, weshalb fie dann oft im Grunde eine ges rade entgegengeſetzte Bedeutung bekommen. Daß dieſelben verſöhnenden Worte auch für religiöſe Zwecke im Gebrauch waren, iſt eine allbekannte Wahrheit. In der jüdiſchen Geſchichte werden die Menſchen ebenſo gut als Knechte Gottes wie als Knechte des Königs dargeſtellt. Von den benachbarten Völkern wird dort berichtet, daß ſie ihren verſchiedenen Gottheiten ganz Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 235 auf dieſelbe Weiſe dienen, wie die Sklaven ihren Herrn Verehrung zollen. Und es finden ſich manche Beiſpiele, wo dieſe Be— ziehungen zum ſichtbaren und zum unſicht— baren Herrſcher auf ganz gleichlautende Weiſe ausgedrückt werden; ſo wenn wir leſen: „Der König hat die Bitte ſeines Knechtes erfüllt,“ an einer andern Stelle: „Der Herr hat ſeinen Knecht Jacob erlöſt.“ Somit hat der Ausdruck „Dein Knecht“, wie er jetzt bei uns im Gottesdienſt ge— braucht wird, eine ganz analoge Geſchichte gehabt, wie alle anderen Elemente des re— ligiöſen Ceremoniells. Hier dürfte es denn auch beſſer als irgend anderswo am Platze ſein, darauf aufmerkſam zu machen, daß das Wort „Dein Sohn“, einem Herrſcher, einem Höhergeſtellten und ſonſt einer Perſon ge— genüber angewendet, urſprünglich durchaus für gleichbedeutend mit „Dein Knecht“ gilt. Wenn wir bedenken, daß in den roheſten Geſellſchaften die Kinder blos unter Duld— ung der Eltern leben, und daß in den patriarchaliſchen Gemeinweſen, von denen die civiliſirten Geſellſchaften Europas ab— ſtammen, der Vater volle Gewalt über Leben und Tod ſeiner Kinder beſaß, ſo wird uns ſofort einleuchtend, daß die Be— theurung, eines Andern Sohn zu fein, nichts Anderes bedeutet, als daß man ſein Knecht oder Sklave ſei. Wir kennen Beiſpiele aus der alten Zeit, welche uns die Gleichwer— thigkeit beider Ausdrücke bezeugen, wie wenn Ahas Boten zu Tiglath-Pileſar, dem Könige von Aſſyrien, ſandte und ihm ſagen | ließ: „Ich bin Dein Knecht und Dein Sohn; komm herauf und rette mich.“ Und es mangelt nicht an neueren Zeugniſſen, die wir jenen mittelalterlichen Zeiten ent— nehmen können, wo, wie wir ſchon früher ſahen, ein Herrſcher oft ſich ſelbſt einem 236 mächtigeren Herrſcher zur Adoption anbot, wodurch er zu ihm in das Verhältniß kindlicher Knechtſchaft trat und ſich ſeinen Sohn nannte. Dies thaten z. B. Theo— debert I. und Childebert II. den Kaiſern Juſtinian und Mauritius gegenüber. — Endlich erfahren wir auch, daß an einigen Orten dieſer Ausdruck der Unterordnung gleich wie alle übrigen ſich ausgebreitet hat, bis er zu einer gewöhnlichen Höflichkeits— form wurde. „Ein Samoaner kennt kaum eine eindringlichere Redeweiſe, als wenn er ſich ſelbſt den Sohn des Angeredeten nennt.“ Von dieſen Höflichkeitsphraſen, welche Erniedrigung des Sprechenden ausdrücken, gelangen wir zu ſolchen, die eine andere Perſon erhöhen ſollen. Jede Art für ſich allein iſt ſchon ein Bekenntniß relativer Unterordnung, aber noch viel nachdrücklicher wird dieſe Betheuerung, wenn beide Arten ver— bunden werden, wie es gewöhnlich geſchieht. Auf den erſten Blick erſcheint es keines— wegs ſehr einleuchtend, daß auch Lobesreden gleich den übrigen Verſöhnungsmitteln ſich auf das Verhalten des Beſiegten gegen den Sieger zurückführen laſſen ſollten; aber es fehlt uns nicht an Beweiſen, daß ſie in der That auf dieſe Weiſe entſtanden ſind, ſicherlich wenigſtens in vielen Fällen. Die geſchlagenen Feinde des ſiegreichen Ramſes II. ſchicken ihren Bitten um Gnade die lob— preiſenden Worte voraus: „Fürſt, der Du Dein Heer ſchützeſt, tapfer mit dem Schwerte, Bollwerk Deiner Truppen am Tage der Schlacht, König, gewaltig an Kraft, großer Sovran, Sonne, mächtig in Wahrheit, Liebling des Ra, gewaltig in Siegen, Ram— ſes Miamon.“ Offenbar beſteht dann auch kein Unterſchied zwiſchen ſolchen von den denjenigen, welche ſpäter von denſelben Leuten im Zuſtand eines dauernd unter— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. jochten Volkes ausgehen, oder auch den ge— wöhnlichen Lobreden der Unterthanen vor ihren kriegeriſchen und despotiſchen Herr— ſchern. So gelangen wir unmittelbar zu den rühmenden Redensarten, wie ſie an den König von Siam gerichtet werden: „Mächtiger und heiliger Herr!“ „Gött— liche Barmherzigkeit!“ „Göttliche Ord— nung!“ „Herr des Lebens!“ „Beherr— ſcher der Erde“ u. ſ. w., oder wie ſie vor dem Sultan gebräuchlich ſind: „Der Schatten Gottes!“ „Glorie des Univer— ſums!“ oder vor dem chineſiſchen Kaiſer: „Sohn des Himmels!“ „Herr von zehn— tauſend Jahren!“ oder wie ſie vor ungefähr zwei Jahren die Bulgaren an den Kaiſer von Rußland richteten: „O geſegneter Car!“ „Glückſeliger Czar!“ „Rechtgläu— biger, mächtiger Czar!“ oder endlich wie diejenigen, mit denen in früheren Zeiten jede Anrede an den franzöſiſchen Monarchen begann: „O Hochgnädiger! o Großmäch— tiger! o ſehr Barmherziger!“ Und mit dieſer Verſöhnung durch direkte Schmeichelei verbinden ſich zumeiſt auch andere Formen, in denen die Schmeichelei indirekt ausge— ſprochen iſt, indem Bewunderung alles deſſen geheuchelt wird, was der Herrſcher ſagt. Die Höflinge des Königs von Delhi hielten ihre Hände empor und ſchrieen: „Wunder, Wunder!“ nach jeder gewöhnlichen Rede; oder wenn er am hellen Tage ſagte, es ſei Nacht, ſo antworteten ſie: „Schauet den Mond und die Sterne!“ Und in früheren Zeiten pflegten die Ruſſen auszurufen: „Gott und der Fürſt haben es gewollt!“ „Das kann nur Gott und der Fürſt wiſſen!“ Wurden demnach ſolche Lobreden ur— ſprünglich nur vor den Höchſten gebraucht, Beſiegten dargebrachten Lobpreiſungen und | fo ſtiegen fie doch natürlich bald zu Men— ſchen von geringerer Gewalt und von da immer tiefer hinab. Einen Beleg dafür — Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. finden wir in den Anredeformen, welche um das ſechszehnte Jahrhundert in Frank— reich gebräuchlich waren: vor einem Cardi— nal „Hochberühmter und Hochzuverehren— der“; vor einem Biſchof „Hochwürdiger und Hochberühmter“; vor einem Herzog „Hochberühmter und hochzuverehrender Herr, mein vielgeehrter Meiſter“; vor einem Mar— quis „mein hochberühmter und vielgeehrter Herr“; vor einem Doktor „Tugendreicher und Ausgezeichneter“. Und aus der Ver— gangenheit unſers eigenen Volkes laſſen ſich ja genug ſolcher höflicher Redensarten auf— zählen, welche auch von Leuten niedern Ranges beanſprucht wurden: „Hochehrwür— diger“ galt für Ritter und manchmal auch für Barone, „Hochedler“ oder „Ehren— feſter“ für Edelleute; und ſelbſt bei Raths— herren und bei gewöhnlichen mit „Herr“ angeredeten Leuten waren ähnliche Lobes⸗ titel, wie z. B. „der Hochwerthe und Ehr— würdige,“ „der Ehrwürdige, Tugendſame und Hochwerthe“ gebräuchlich. In Ver— bindung mit ſolchen ſchmeichelhaften Bei- namen verbreiteten ſich aber auch Schmei— cheleien von ausführlicherer Form, ganz be— ſonders im Orient, wo ja beides bis zum Aeußerſten getrieben wird. Auf einer chi— neſiſchen Einladungskarte iſt das in vollem Ernſte an eine ganz gewöhnliche Perſon gerichtete Compliment zu leſen: „Zu wel— cher Höhe des Glanzes wird Ihre Gegen— wart uns emporſteigen laſſen!“ Taver— nier, welchem ich das oben erwähnte Bei— ſpiel einer kaum glaublichen Schmeichelei vom Hofe von Delhi entnommen habe, fügt hinzu: das gemeine Volk über;“ und nachdem er geſchildert, auf welche Weiſe er ſelbſt mit Menſchen des Alterthums von ganz über— menſchlicher Macht verglichen worden ſei, erwähnt er noch, daß ſogar ſein militäri— „Dieſes Laſter geht ſogar in ſcher Begleiter den größten Eroberern gleich— geſetzt und von ihm geſagt worden ſei, er mache die Welt erzittern, wenn er ſein Pferd beſteige, — eine Redeweiſe, die un— gefähr auf gleicher Stufe ſteht wie das Beiſpiel, welches Herr Roberts aus dem Orient von der einer gewöhnlichen Perſon gegenüber beobachteten Höflichkeit anführt: „Mein Herr, es giebt nur zwei Weſen, welche etwas für mich thun können; das erſte iſt Gott und das zweite ſind Sie.“ Wenn wir dann ferner leſen, daß zu Tavernier's Zeiten im ganzen Orient die Redensart gebräuchlich war: „Des Königs Wille geſchehe!“ — was unmittel— bar an unſer Wort erinnert: „Gottes Wille geſchehe!“ — ſo lenkt dies unſere Aufmerkſamkeit darauf, wie durchaus über— einſtimmend viele der an die Könige und an die Gottheiten gerichteten Verherrlich— ungsreden lauten. Wo der kriegeriſche Geſellſchaftstypus hoch entwickelt iſt und dem Monarchen nicht blos erſt nach ſeinem Tode, ſondern ſchon lange vorher Göttlich— keit beigelegt wird, wie vor Alters in Aegypten und Peru und gegenwärtig noch in Japan, China und Siam, da kommt es natürlich ganz von ſelbſt dazu, daß die lobpreiſenden Redewendungen, die man an den ſichtbaren Herrſcher und nachher an den unſichtbar gewordenen Herrſcher richtet, im weſentlichen dieſelben ſind. Und haben ſie die äußerſte Grenze der Ueberhebung mit Bezug auf den König ſchon zu deſſen Lebzeiten erreicht, ſo können ſie ſelbſtver— ſtändlich kaum noch weiter gehen, wenn dieſer geſtorben und vergöttert worden iſt. Die auf ſolche Weiſe bedingte weſentliche Uebereinſtimmung aber erhält ſich dann auch auf ſpäteren Entwickelungsſtufen fort, wo ſich der Urſprung der Gottheiten längſt nicht mehr unmittelbar nachweiſen läßt. 238 In der vollſtändigen Ehrenbezeugung vermiſchen ſich, wie wir ſahen, zwei Ele— mente, von denen das eine Unterwerfung, das andere Zuneigung ausdrücken ſoll; und zwei ganz entſprechende Elemente treten auch in der vollſtändigen Anredeform zu— ſammen. Mit den Worten, welche auf Verſöhnung abzielen, indem ſie den Sprechen— den erniedrigen oder den Angevedeten er— höhen oder beides zugleich, werden Worte verflochten, die Anhänglichkeit an die be treffende Perſon kundgeben Glück— wünſche für ihr Leben, ihre Geſundheit und ihr Wohlergehen. Betheuerungen der Theilnahme an der Wohlfahrt und dem Glück eines Anderen ſind natürlicherweiſe noch früher entftanden als Betheuerungen der Unterwerfung. Eben— ſo wie jenes Herzen, Küſſen und Lieb— koſen, wodurch ſich die Zuneigung kund— giebt, auch als Höflichkeitsgebräuche ſelbſt bei Wilden ohne jede Regierung oder gegen— jeitige Unterordnung vorkommt, ſo gehen auch freundliche Anreden der Zeit nach ſolchen voraus, die das Bekenntniß der Unterwerfung enthalten. genindianern - in Bei den Schlan— Nordamerika wird ein Fremder mit den Worten bewillkommnet: „Es iſt mir ſehr angenehm, ich bin ſehr erfreut“; und in Südamerika finden wir die Araucanier, deren geſellſchaftliche Organiſation noch nicht durch kriegeriſche Verhältniſſe zum Zwangstypus entwickelt worden iſt, bei die Formalität bei einer Begegnung, welche „10—15 Mi— nuten in Auſpruch nimmt“, aus eingehen— den Nachfragen nach dem Wohlergehen, aus mancherlei Beglückwünſchungen und Bei leidsbezeugungen beſteht. Dieſes Element in der Begrüßung er hält ſich dann ſelbſtverſtändlich fort, wäh— rend die zum Ausdruck der Unterwerfung denen Erde herab zu machen.“ lichen Völkern, Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. dienenden Handlungen und Redeweiſen in Gebrauch kommen. Wir ſahen bereits, daß in Verbindung mit knechtiſchen Ehrenbezeug— ungen gute Wünſche und Gratulationen an einen Höhergeſtellten gerichtet werden bei verſchiedenen Negervölkern, an der Küſte wie im Innern; unter den Fulahs und Abyſſiniern finden wir kunſtreich aus— gedachte Erkundigungen über das perſön— liche Wohlergehen des Angeredeten und das Befinden ſeiner Angehörigen. Aſien aber, wo ſich der kriegeriſche Geſellſchaftstypus weit höher entwickelt hat, iſt es vor Allem, das uns auch die höchſte Entwickelungsſtufe dieſer Redeformen darbietet. Von ganz hyperboliſchen Redeweiſen ausgehend, wie „O König, mögeſt Du ewig leben!“ gelangen wir zu Begrüßungen von Gleich— geſtellten, welche in ähnlicher Weiſe das lebhafteſte Mitgefühl ausdrücken; ſo bei den Arabern, welche ihren Eifer kundzu— geben ſuchen, indem ſie raſch nach einander mehrere Minuten lang wiederholen: „Gott ſei Dank, wie geht es Euch?“ und die zum Beweis ihrer guten Erziehung gelegent— lich das ſich anſchließende Geſpräch durch 3. B.: . Bez die abermalige Frage unterbrechen: „Wie geht es Euch?“ — So auch bei den Chineſen, welche auf einer gewöhnlichen Viſitenkarte, die zur Anmeldung des Be— ſuches dem Portier abgegeben wird, fol— gendermaßen ganz direkt ihre Zuneigung ausſprechen: „Der zärtliche und aufrichtige Freund Eurer Herrlichkeit und der un— ermüdliche Schüler Eurer Lehre ſtellt ſich hiermit vor, um ſeinen Beſuch abzuſtatten und ſeine Verbeugung ſelbſt bis auf die Unter den weſt— in deren geſellſchaftlicher Organiſation die perſönliche Macht niemals eine ſolche Höhe erreicht hat, ſind auch die Betheuerungen der Zuneigung und ängſt— er. N Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. =. lichen Fürſorge zu weniger ſtarken Ueber— | tikaliſchen und ſonſtigen Abänderungen der treibungen gelangt, und je mehr die Frei— heit zunahm, deſto mehr traten jene zurück. Im vierzehnten Jahrhundert pflegte in Frankreich an der königlichen Tafel „jedes— mal, wenn der Herold ausrief: «Der König trinkt!» die ganze Geſellſchaft ihre Wünſche auszuſprechen und zu rufen: „Lang lebe der König !?“. Und obſchon in andern Ländern ſo gut wie bei uns dieſelbe oder eine ähnliche Form des Wunſches jetzt noch gebräuchlich iſt, ſo kehrt ſie doch bei weitem nicht mehr ſo häufig wieder. Gleiches gilt auch von den im geſellſchaftlichen Verkehr Vornehmeren den Rücken zuzukehren. Ebenſo ausgeſprochenen guten Wünſchen. Es iſt dabei intereſſant, zu beachten, wie neben dieſen ganz allgemein ver— breiteten Redeformen, in welchen die göttliche Hülfe zu Gunſten der begrüß— ten Perſon angerufen wird — wie z. B. in dem „Möge Gott Euch ſeine Gunſt erweiſen!“ der Araber, in dem „Gott er— halte Euch geſund!“ der Ungarn, oder in dem „Gott ſchütze Euch!“ der Neger und neben ſolchen, die durch Erkundigungen nach dem Geſundheitszuſtand, dem Wohlergehen und dem Glück des Betreffenden die Theil— nahme bezeichnen ſollen und die gleichfalls weit verbreitet ſind, noch gewiſſe andere vorkommen, deren Eigenthümlichkeit von den Verhältniſſen des Orts hergenommen iſt. Dahin gehört das orientaliſche „Friede ſei mit Euch!“ das aus jenen ſtürmiſchen Zeiten herſtammt, wo Friede das große Deſideratum war; ein anderes iſt das: „Wie ſchwitzt Ihr?“ das die Aegypter gebraucht haben ſollen, und noch wunder— licher iſt die Frage: „Wie haben Euch die Mosquitos zugeſetzt?“ welche nach Hum— boldt am Orinoco die Morgenbegrüßung bildet. f Es bleiben endlich noch jene gramma— Sprache zu erörtern übrig, welche gleichſam auf Umwegen den Angeredeten erhöhen oder den Sprechenden erniedrigen. Die— ſelben zeigen gewiſſe Analogien mit andern Theilen des Ceremoniells. Wir haben ge— ſehen, daß, wo außerordentliche Unterwürfig— keit herrſcht, der Gewalthaber, ſofern er ſich nicht ganz unſichtbar hält, bei Strafe des Todes nicht angeblickt werden darf; und aus dieſer Vorſtellung, daß es eine unverzeihliche Frechheit ſei, eine höherſtehende Perſon anzuſchauen, iſt jedenfalls in man— chen Ländern der Gebrauch entſtanden, einem giebt der Gebrauch, vor einem verehrten Menſchen den Boden oder irgend einen Jenem gehörenden Gegenſtand zu küſſen, eigentlich zu verſtehen, daß die untergeord— nete Perſon ſo tief unter Jenem ſtehe, daß ſie ſich nicht einmal die Freiheit nehmen dürfte, ihm auch nur die Füße oder das Gewand zu küſſen. In ganz ähnlichem Sinne nun zeigen die als Höflichkeitsaus— druck verwendeten Sprachformen theilweiſe die Eigenthümlichkeit, daß ſie eine direkte Be— ziehung zu der angeredeten Perſon vermeiden. Beſondere Modificationen der Sprache, als deren gemeinſames Reſultat ſich die Aufrechterhaltung eines beſtimmten Abſtandes zwiſchen Höhern und Niedern ergiebt, ſind weit verbreitet und kommen ſchon auf eini— gen verhältnißmäßig ſehr frühen Entwickel— ungsſtufen vor. Von dem herrſchenden Volke unter den Abiponen leſen wir, daß „die Namen der zu dieſer Claſſe gehörenden Männer alle mit „in“ endigen, und die— jenigen der Frauen, welche gleichfalls dieſer Ehre theilhaftig ſind, mit „en“. Dieſe Sylben muß man ſelbſt den Hauptwörtern und Zeitwörtern anhängen, wenn man mit ihnen ſpricht.“ Ferner „enthält die Sprache 240 der Samoaner «ein beſonderes und unver— änderliches Vocabular von Wörtern, welche die Höflichkeit im Verkehr mit Höhern anzu⸗ wenden gebietet.“ Bei den Javanern „iſt es unter keinen Umſtänden irgend Jemand, von welchem Rang er auch ſein mag, geſtattet, ſeinen Vorgeſetzten in der gewöhnlichen oder Volksſprache des Landes anzureden“. Und hinſichtlich der alten mexicaniſchen Sprache erfahren wir durch Gallantin, daß es „eine beſondere Form derſelben giebt, die Ehrfürchtige genannt, welche die ganze Sprache durchdringt und in keiner anderen gefunden wird ... Dies hält man für die einzige (Sprache), in welcher jedes von einem Niedrigeren geäußerte Wort ihn an ſeine ſociale Stellung erinnert“. Die allgemeinſte unter den indirekten Sprechweiſen, welche durch die Etiquette in die Redeformen eingeführt worden ſind, ſcheint ihre Wurzel in dem primitiven Aber⸗ glauben hinſichtlich der Eigennamen zu haben. Von der Vorſtellung ausgehend, daß der Name eines Menſchen einen Be- ſtandtheil ſeiner Individualität bilde und daher der Beſitz ſeines Namens irgend welche Gewalt über ihn verleihe, zeigen die Wilden beinahe überall ein Widerſtreben gegen die Mittheilung ihrer Namen und vermeiden in Folge deſſen auch in der Unter- haltung den Gebrauch derſelben, wodurch fie einem Zuhörer verrathen werden könn— ten. Mag dies nun die einzige Urſache ſein oder außerdem noch das Gefühl mit⸗ wirken, daß man ſich, indem man den Namen eines Menſchen ausſpricht, eine gewiſſe Freiheit gegen dieſen herausnehme, jedenfalls iſt es eine Thatſache, daß bei 1 0 5 allen Völkern die Namen eine Art von Heiligkeit erlangen und einen Namen un— und in China, Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Höheren. Eine wunderliche Folge davon iſt die, daß, da auf früheren Stufen die Perſo⸗ nennamen von Gegenſtänden hergenommen wurden, die Namen ſolcher Gegenſtände außer Gebrauch geſetzt und andere dafür eingeführt werden müſſen. Bei den Kaffern „darf eine Frau das I-gama (dem bei der Geburt gegebenen Namen) ihres Mannes oder eines ſeiner Brüder nicht öffentlich ausſprechen, noch darf ſie das verbotene Wort in ſeinem gewöhnlichen Sinne brau- chen ... Das I-gama des Häuptlings wird ganz aus der Sprache des Volkes ausgeſchieden“. Ferner: „Da der erbliche Name des Häuptlings von Pango-Pango (in Samoa) jetzt Maunga oder Berg heißt, ſo darf in ſeiner Gegenwart dies Wort nie zur Bezeichnung eines Berges gebraucht werden, ſondern man muß dafür einen höfiſchen Ausdruck ... an die Stelle ſetzen.“ Aber auch da, wo Eigennamen von weiter entwickelter Art in Gebrauch ſind, finden ſich immer noch ähnliche Ein⸗ ſchränkungen in der allgemeinen Anwendung derſelben; ſo in Siam, wo „der Name des Königs von keinem Unterthan aus⸗ geſprochen werden darf; derſelbe wird ſtets durch irgend eine Umſchreibung bezeichnet, wie etwa «der Meiſter des Lebens», «der Herr des Landesd, «das Oberhaupt?“ — wo „eder alte Mann des Hauſesd, «der Vorzügliche Ehrwürdige > und verehrter großer Fürſts die Aus- drücke ſind, mit denen ein Beſucher den Vater ſeines Wirthes benennt“. In Verbindung mit dem Vermeiden des Eigennamens beim Verkehr mit einem Höhern findet ſich, wie ſchon einige der obigen Beiſpiele zeigen, ein Vermeiden der nöthig zu nennen für verboten gilt, ganz perſönlichen Fürwörter, welche gleichfalls eine allzu direkte Beziehung mit dem an- beſonders dem Niedrigeren im Verkehr mit geredeten Individuum herſtellen würden, W Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. als daß ſie zuläſſig wären, wo es auf Beobachtung eines beſtimmten Abſtandes ankommt. Wie bereits angeführt wurde, wird in Siam, wenn man nach des Königs Befehlen frägt, die Pronomialform ſo viel als möglich vermieden, und daß dieſer Gebrauch bei den Siameſen ganz allgemein iſt, geht aus der Bemerkung des Paters Bruguiere hervor, daß fie „zwar per— ſönliche Fürwörter haben, dieſelben aber ſelten brauchen“. Auch bei den Chineſen iſt dieſer Styl in der Anrede in den alltäg- | lichen Verkehr herabgeſtiegen. „Wenn ſie nicht intime Freunde ſind, ſo ſagen ſie nie— mals «Ih» und «Ihr», was eine grobe Unhöflichkeit wäre. Statt z. B. zu ſagen: Ich anerkenne ſehr den Dienſt, den Ihr mir erwieſen habts, pflegen fie vielmehr zu ſagen: «der Dienſt, welchen der Herr oder der Doktor für ſeinen geringſten Diener oder Schüler gethan, hat mich außerordent— lich gerührt ).“ Endlich kommen wir noch zu jenen Abänderungen im Gebrauche der Fürwörter, welche dazu dienen, den Höhern zu erheben und eines iſt auf die Frauen beſchränkt. .. und den Niedrigen herabzudrücken. „Ichs und «mich werden im Siameſiſchen durch verſchiedene Wörter ausgedrückt, je nachdem es ſich um den Verkehr erſtens zwiſchen einem Herrn und ſeinem Sclaven, zweitens zwiſchen einem Sclaven und ſeinem Herrn, * 7 „ . | drittens zwiſchen einem gemeinen Mann und | einem Adligen und viertens zwiſchen Per- ſonen gleichen Ranges handelt, und ſchließ— lich gibt es noch eine Anredeform, die nur von den Prieſtern angewendet wird.“ Noch weiter iſt dies Syſtem bei den außerordent— lich ceremonienreichen Japaneſen ausgebildet. „In Japan hat jeder Stand ſein ihm eigenthümliches „Ich?, das kein anderer Stand brauchen darf, und ein anderes gehört ausſchließlich dem Mikado an . 241 Es gibt acht Fürwörter der zweiten Perſon, welche ſpeciell für Dienſtboten, Schüler und Kinder gelten.“ Wenn auch im Weſten die durch veränderte Anwendung der Pronomial— formen ausgedrückten Unterſchiede nie jo weit gegangen ſind, ſo waren ſie doch deut— lich genug zu erkennen. In Deutſchland „wurden in frühern Zeiten .. . alle Unter— gebenen nur in der dritten Perſon Sing. mit «Er» angeredet“, d. h. alſo: eine ab— weichende Form, durch welche der Unter⸗ gebene nicht direkt angeſprochen, ſondern nur erwähnt wurde, als ob man mit einer andern Perſon ſpräche, diente dazu, um ihn von dem Sprechenden entfernt zu halten. Und daneben finden wir die umgekehrte Thatſache, daß „die Untergebenen ohne Aus— nahme die dritte Perſon Plur. gebrauchen, wenn ſie ihre Vorgeſetzten anreden“: eine Form, die einerſeits dem Vorgeſetzten durch Anwendung der Mehrzahl höhere Würde beilegt, zugleich aber auch durch ihre ver— hältnißmäßige Indirectheit den Abſtand vom Untergebenen vergrößert, und welche, nach— dem ſie als Verſöhnungsmittel der Gewalt— haber angefangen, gleich allen übrigen ſich immer weiter verbreitet hat, bis ſie zum allgemeinen Begütigungsmittel geworden iſt. In der engliſchen Sprache, welche einer derartigen mißbräuchlichen Anwen— dung von Fürwörtern, die zur Erniedrig— ung dienen ſollen, entbehrt, findet ſich nur die Einführung des „Ihr“ ſtatt des „Du“, welche, einſtens eine aus Höflichkeit angebrachte Uebertreibung, gegenwärtig in Folge ihrer Ausbreitung durch alle Stände die ceremonielle Bedeutung vollſtändig ver— loren hat. Offenbar aber hing ihr noch etwas von dieſer Bedeutung an zu der Zeit, als die Quäker daran feſthielten, aus- ſchließlich das „Du“ zu brauchen; daß jenes Kosmos, Band III. Heft 3. 242 in noch frühern Zeiten aber dazu diente, Anſpruch auf äußerlichen Reſpekt verleihen eine beſtimmte höhere Würde beizulegen, läßt ſich aus der Thatſache erſchließen, daß während der merovingiſchen Periode in Frankreich, als ſich dieſer Gebrauch nur erſt theilweiſe feſtgeſetzt hatte, die Könige den Befehl erließen, daß man ſie nur im Plural anrede. Wer ſich aber gar nicht denken kann, daß, wenn er mit „you“ (Ihr) angeredet wird, dies einſt den Sinn hatte, die angeredete Perſon zu erhöhen, der wird genügenden Anhalt dazu finden, wenn er dieſe Verkehrung der Sprache in Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. | Solche anreden, deren Stellung ihnen den würde.“ Dieſe Fälle weiſen ſchon deutlich genug auf die allgemeine Thatſache hin, daß, wo keine Unterordnung beſteht, auch nicht jene Redeformen ſich ausbilden, welche die angeredete Perſon erhöhen und die ihrer primitiven und noch ausdrucksvolleren Geſtalt in's Auge faßt, wie ſie z. B. in Schranke kennt und wo zugleich die Phraſen voll Schmeichelei und Unterwürfigkeit, welche Samoa vorkommt, wo man zu einem Häupt— ling ſagt: „Seid Ihr beide gekommen?“ oder: „Geht Ihr beide fort?“ Da die Anredeformen in Worten aus— drücken, was die Ehrenbezeugungen durch Handlungen andeuten, ſo werden ſie natür— ſprechende erniedrigen. Wo ſich dagegen eine abſolute perſönliche Herrſchaft findet, da nehmen auch die Selbſtdemüthigungen und die Erhöhungen Anderer durch Worte ganz übertriebene Formen an. Geſellſchaftliche Organismen wie der— jenige von China ſind es beſonders, wo die Gewalt des „Kaiſerlichen Höchſten“ keine zuerſt im Verkehr mit den Herrſchern ge— braucht wurden und ſpäter ſich allgemeiner lich auch dieſelben allgemeinen Beziehungen zu den verſchiedenen Geſellſchaftstypen zeigen. Dieſer Parallelismus ſoll hier noch kurz dargelegt werden. Burton ſagt in ſeiner Schilderung der Dakotahs, welche jeder ſtaatlichen Or— ganiſation entbehren und nicht einmal dem Namen nach Häuptlinge kannten, bevor die Weißen anfingen, Standesunterſchiede zwiſchen ihnen zu machen: — „Ceremonien und Gebräuche in unſerem Sinne des Wortes haben ſie nicht;“ und er führt als Beiſpiel an, daß ein Dakotah das Haus eines Fremden mit einem einfachen Ausruf betrete, der nichts weiter als „Gut!“ bedeute. Bailey bemerkt von den Veddahs, daß ſie „beim Anreden Anderer keine der Höflich— keitsformen brauchen, die im Singaleſiſchen ſo außerordentlich verbreitet ſind: das Für— wort «to», Du, kommt allein in Anwen— dung, mögen ſie mit einander ſprechen oder verbreiteten, ſoweit in's Extrem getrieben worden ſind, daß man, um ſich nach dem Namen eines Andern zu erkundigen, die Form anwendet: „Dürfte ich es wagen, zu fragen, welches Euer edler Vorname und Euer erhabener Name iſt?“ worauf die Antwort lautet: „Der Name meiner kalten (oder armen) Familie iſt — —, und mein unedler Name iſt — —.“ Und fragen wir ferner, wo die am meiſten ausgekünſtelten Abänderungen im Gebrauche der Fürwörter vorkommen, welche durch das Ceremoniell veranlaßt werden, ſo finden wir ſie bei den Japaneſen, bei denen unaufhörliche Kriege vor langen Zeiten ſchon einen Despotis— mus feſt eingewurzelt haben, der göttliches Anſehen erlangte. Auch wenn wir nun noch das Europa der Vergangenheit, das ſich durch ſociale Gebilde charakteriſirt, welche durch fort— währende Kämpfe entwickelt und dieſen an— gepaßt waren, mit dem modernen Europa vergleichen, in welchem zwar noch Kämpfe in großem Maaßſtab vorkommen, die aber doch viel mehr nur eine zeitweilige als eine dauernde Form der geſellſchaftlichen Thätig— keit bilden, ſo bemerken wir, daß die Höf— lichkeitsausdrücke gegenwärtig nicht nur viel ſeltener gebraucht werden, ſondern auch ſelbſt viel weniger übertrieben ſind. Nicht minder tritt dieſer Gegenſatz hervor, wenn wir die modernen europäiſchen Geſellſchaften, welche in höherm oder geringerem Grade für Kriegszwecke organiſirt ſind, neben einander ſtellen, oder wenn wir innerhalb der letzteren die regulativen Beſtandtheile, welche kriege— riſchen Zuſtänden ihre Entwickelung ver— danken, mit den induſtriellen Beſtandtheilen vergleichen. So ſehr auch der Gebrauch einer unter— thänigen Höflichkeitsſprache bei unſern herr— ſchenden Claſſen in der neueren Zeit abge— nommen hat, ſo bleibt derſelbe doch noch viel erheblicher als bei den induſtriellen Claſſen, ganz beſonders bei denjenigen, welche keine direkten Beziehungen mit den herrſchenden Claſſen beſitzen. Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 243 Dieſer Zuſammenhang iſt offenbar in dieſem Fall ſo gut wie in den früheren nothwendig bedingt. Wollte man behaupten, daß in Verbindung mit dem erzwungenen Gehorſam, den eine kriegeriſche Organiſation fordert und der überhaupt alle Theile einer auf kriegeriſche Thätigkeit eingerichteten Geſell⸗ ſchaft durchdringt, ganz naturgemäß Anrede⸗ formen vorkämen, welche nicht Unterwerfung ausdrückten, und wollte man gar umgekehrt behaupten, daß mit dem lebhaften und un- gezwungen vor ſich gehenden Austauſch von Erzeugniſſen, Geld, Arbeitsleiſtungen u. ſ. w., welcher das Leben einer induſtriellen Geſell— ſchaft charakteriſirt, naturgemäß allerhand übertriebene Lobpreiſungen Anderer und knechtiſche Herabwürdigung der Sprechenden ſelbſt ſich verbänden, ſo läge die Ungereimt— heit einer ſolchen Behauptung klar zu Tage. Die Ueberzeugung von der Unrichtigkeit dieſer hypothetiſchen Behauptung aber wird ander— ſeits dazu beitragen, uns die Richtigkeit der entgegengeſetzten, hier verfochtenen Anſicht deutlich vor Augen zu führen. (Fortſetzung folgt.) DIE — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Das Relief der Gebirgsſtöcke und die Grundform der Erofions-Chäler. 9 60 ‚ine vielfach, beſonders unter den fi 85 8 AH frage dreht ſich darum, ob das Relief der bergigen Gegenden mehr durch Eruption und Aufſchüttung der Maſſen neben einander, oder mehr durch nachträg— liche Ausſpülung und Auswaſchung be— dingt ſei. Man nimmt wohl jetzt allge— mein an, daß die große Mehrzahl z. B. der Alpenthäler ihre Geſtalt hauptſächlich den Eis- und Waſſerſtrömungen verdanken, die wir noch jetzt, wenn auch in wahrſchein— 7 \9 Furchungen folgen ſehen. Es iſt merk— würdig, daß man bei einer ſo vielfachen Beſchäftigung mit dem Gegenſtande über die Reliefform dieſer Thäler ziemlich all— gemein Anſichten verbreitet findet, die, wie Herr Dr. Theodor Fuchs kürzlich ge— | | | | ihrer Aufgabe in der Weiſe, daß ſie die Eroſionsfurche ſpitz beginnen und in dem Maße, als die Waſſermaſſe zunimmt, immer breiter werden laffen. In der Wirklichkeit iſt die Sache aber gerade umgekehrt, denn engliſchen Geologen erörterte Streit- jedes Eroſionsthal iſt oben in ſeinem An— fange breit und wird nach unten zu ſchmäler. Ein Jeder vermag ſich leicht zu überzeugen, daß dieſer birnförmige Typus nicht nur den kleinen Regenriſſen der Wände eines Bahndurchſtichs, ſondern auch den Alpen- thälern zukommt, in denen er ſeine Sommer- friſche ſucht. Alle beginnen ſie oben mul— den- oder keſſelförmig und werden immer ſchmäler, um oft durch eine ſchmale Spalte in ein weiteres Thal oder in die Ebene zu lich ſehr vermindertem Umfange, ihren zeigt hat,) den Thatbeſtand geradezu um kehren. Die meiſten Menſchen und ſogar die meiſten Kartographen, wenn ſie das zu einem Bache oder Fluſſe gehörige Ero ſionsthal zu zeichnen haben, entledigen ſich ) Jahrbuch der k. k. geologischen Reichs— anſtalt. Band XXVII. 1877. S. 453. ab münden. Selbſt die Canons, jene tiefen, ſchluchtartigen Spalten, welche das ſtrömende Waſſer in die Plateauländer einſchneidet, machen keine Ausnahme von dieſer Regel, denn auch hier beginnt jede einzelne mit einem weiten, circusförmigen Keſſel und gewinnt erſt im weiteren Verlaufe ſeinen Einſchnitts-Charakter. Dieſe eigenthümliche Geſtaltung der Canons iſt bereits von Charles Darwin in ſeinen „Geolo— giſchen Beobachtungen über die vulkaniſchen Inſeln“, von denen wir kürzlich eine neue deutſche Ausgabe erhalten haben, charakteriſirt worden; er beſchreibt g — — — T1⁊[— a dort?) (S. 138) in Neu-Süd⸗Wales große Thäler dieſer Art, die ſich oben zu mehrere Meilen breiten und amphitheatraliſch von hohen Felsklippen umgebenen Buchten öffnen, und am Ausgange unten ſo eng werden, daß ſie einen für Menſchen und Vieh gleich unpaſſirbaren Spalt bilden. Einen im All— gemeinen ähnlichen Eindruck erhalten wir aber auch überall bei uns. „Wenn man,“ ſagt der Verfaſſer, „aus dem Flachlande kommend, ſich einem Gebirge, z. B. den Alpen oder Karpathen, nähert, ſo ſtellt ſich daſſelbe dem Beſchauer als eine geſchloſſene Mauer dar, und vergebens ſucht das Auge nach den Thälern, welche den Blick in das Innere des Gebirges eröffnen würden. Durch eine ſchmale Thalenge, oft durch eine wahre Felsſpalte, betritt man das Innere der Gebirgswelt; kaum hat man aber dieſelbe hinter ſich, ſo beginnt das Thal ſich zu erweitern, die Bergwände treten zu beiden Seiten immer mehr und mehr zurück und ſchließlich gelangt man in einen weiten Thalkeſſel, aus dem es weiter keinen Ausweg giebt, als rechts und links über die Bergjoche. Es iſt dies der all— gemeine Charakter aller Gebirgsthäler, die durch Eroſion gebildet ſind, und gewiß wird Jeder, der das Gebirge aus eigener Anſchauung kennt, ſich ſofort zahlreicher Beiſpiele erinnern, welche dieſer Schilder— ung entſprechen. Wenn man ſich einen halbkugeligen Gebirgsſtock vorſtellt, der durch ſtrahlenförmig herabrinnende Ge— wäſſer erodirt wird, ſo wird derſelbe bei Annahme einer birnförmigen Geſtalt der Eroſionsthäler einen mittleren Kern erhal— ten, von welchem radienartig eine Anzahl ) Mit einer Karte und vierzehn Holz— ſchnitten. Ueberſetzt von V. Carus. Stutt- gart, 1877. Schweizerbart'ſche Buchhand— lung (E. Koch). Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 245 a von Speichen auslaufen, welche ſich ſämmt— lich nach außen zu verbreitern. Indem nun die einzelnen Thäler ſich hinten immer mehr verbreitern, werden nach und nach die radien— förmigen Scheidewände in der Nähe des Centralſtockes immer mehr und mehr ſchwin— den und ſchließlich theilweiſe abgetragen wer— den, jo daß der erodirte Gebirgsſtock ſchließ— lich die Geſtalt eines centralen Wipfels an— nimmt, der von einem Kranze niedriger Berge umgeben wird, von deren jedem ein ſattelförmig eingeſenkter Grat zum Central— ſtock hinüberführt. Wenn man eine Karte des Montblanc oder des Monte Roſa be— trachtet, ſo findet man, daß dieſelben that— ſächlich die im Vorhergehenden theoretiſch ab— geleitete Reliefform beſitzen und daß dieſelbe in allen ähnlichen Fällen mit der größten Regelmäßigkeit wiederkehrt. Es iſt wohl klar, daß dieſe Auseinanderſetzungen von größter Wichtigkeit für die kartographiſche Dar— ſtellung von Gebirgsreliefen ſind. Wenn man eine beliebige unſerer bisherigen Karten vornimmt und auf derſelben die Darſtellung des Gebirgsterrains betrachtet, ſo bemerkt man Folgendes: So weit die Reliefformen wirklich nach der Natur auf— genommen ſind, zeigen die Thäler aus— nahmslos die vorbeſprochene mulden- oder birnförmige Geſtalt; ſowie man aber in das feinere Detail kommt, welches nicht mehr aufgenommen, ſondern nach einer ge— wiſſen Schablone manirirt iſt, erhalten die Thalfurchen ſofort die entgegengeſetzte Ge— ſtalt, indem ſie ſämmtlich ſpitz beginnen und im weitern Verlaufe breiter werden. Würde man eine derartige Karte mit zweier— lei einander diametral entgegengeſetzten Thal— formen als den wirklichen Ausdruck der vorhandenen Verhältniſſe annehmen, ſo würde man natürlich vollkommen irre gehen, in— dem man ſelbſtverſtändlich für die beiden 2 246 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau verſchiedenen Thalformen auch zwei verſchie— dene Urſachen ſuchen würde. In Wirklich- lichkeit iſt jedoch nur einerlei Thalbildung vorhanden, indem alle Thalbildungen von dem kleinſten Waſſerriſſe an bis zu den großen Hochgebirgsthälern dieſelbe birn— förmige Geſtalt beſitzen und mithin auch alle auf dieſelbe Urſache, nämlich auf die Eroſion, zurückgeführt werden können. Die Urſache dieſer birnförmigen Geſtalt der Eroſionsthäler iſt wohl bereits in ihrer erſten Anlage zu ſuchen. Bei jedem Erd— ſturz oder Regenriß fällt eine birn- oder keilförmige Terrainmaſſe, deren Spitze nach vorn gekehrt iſt, heraus, und indem nun die Eroſion in dem hintern Theile der ſo gebildeten Aushöhlung mehr Angriffspunkte findet als vorne, muß das Thal bei dem allmäligen Zurückweichen immer breiter und breiter werden. (Dazu kommt wohl, daß die von oben herabgeſchwemmten Maſſen den untern Lauf des Thales ausfüllen und den Waſſerlauf nöthigen, ſich dort tiefer einzuſchneiden; oft mag auch die untere kluftartige Oeffnung die Wirkung eines ehemaligen Waſſerfalles ſein, wie z. B. die Schlucht, aus der die Sallenche ihre präch— tige Cascade bei Martigny ergießt. Ref.) Man kann mit dem Verfaſſer nur wünſchen, daß ſeine Betrachtungen von Seiten unſerer Kartographen praktiſch verwerthet würden, denn dadurch würden unſere Gebirgskarten gewiß einen viel einheitlicheren und natur— gemäßeren Ausdruck erhalten, als 15 gegen— wärtig beſitzen. Leuchtende Bacterien. In einer vor zwei Jahren erſchienenen Schrift: „Die Nekrobioſe in morphologiſcher Beziehung“, wurde von den Herren Kar— ſten und Nüeſch die Anſicht aufgeſtellt, daß die Bacterien, Vibrionen, Hefenzellen u. ſ. w. keine ſpecifiſche Selbſtſtändigkeit beſitzen, ſondern aus dem pathologiſch ver— änderten Inhalt thieriſcher und pflanzlicher Zellen entſtehen, und ſie nennen dieſe ver— meintliche Umbildung der kleinſten, im Zellſaft ſchwimmenden Körnchen Nekro— bioſe, gleichſam ein Leben nach dem Tode. — Der lebende Menſchen- und Thierkörper enthält keineswegs, wie Billroth, Ti— gel, Friſch wollen, in Blut und Gewe— ben Bacterienkeime, aber dieſelben ſollen auch nicht von außen eingeführt werden, ſondern die Bacterien entſtehen ihrer Anſicht nach erſt nach dem Tode aus den kleinſten Bläschen des Protoplasma, und zwar durch eine Umbildung derſelben und nicht durch generatio aequivoca. In einem neueren Artikel in der „Gäa“ (1877, Heft 9) „Ueber das Leuchten des Fleiſches geſtorbener Thiere“ führt Nüeſch an, daß noch nie, obſchon mehrere Beob— achter die Bacterien für Pilzformen halten, eine wirkliche Pilzvegetation an denſelben beobachtet worden iſt, nie auch etwas auf ſexuelle Proceſſe Deutendes; — die Bacte— rien erfüllen die Arbeit, die complicirten Verbindungen der Pflanzen- oder Thier— körper in einfachere zurückzuführen und dieſe Körper hierdurch zu zerſtören, welche ſonſt, nach Cohn's Bemerkung, Form und Miſchung Jahrtauſende bewahren würden, wie etwa die Mumien, oder die Mammuth— leichen im Eiſe. — Durch die Bacterien, von welchen manche auch pathologiſch ſo wichtig ſind, entſtehen bei der Verweſung Fäulniß und Gährung, ſowie, als Bildungs— und Ausſcheidungs-Produkte derſelben, Gaſe und Farbſtoffe, wie der anilinartige Farb— ſtoff der blutenden Hoſtien, der blaue Farb— | ftoff des Lackmus, blaue, gelbe und rothe .. en * Milch, grüner und gelber Eiter u. ſ. w. Aber neben den Pigmentbacterien giebt es auch leuchtende. Im April 1877 wurde Dr. Nüeſch durch einen Schreckensruf des Dienſtmädchens veranlaßt, in die dunkle Vorrathskammer zu gehen; dort ſah er twa ein Dutzend in einer Schüſſel liegende Schweinscoteletten mit grünlichem Lichte ſo hell leuchten, daß umſtehende Perſonen ſich erkennen konnten und die Zeit am Minuten-, ja ſogar am Secundenzeiger ab— geleſen werden konnte. zeigte eine Menge kleiner, meiſt kugeliger Bacterien, nebſt „hefenartig vergrößerten“, ſowie die prachtvollſten Octasder und re— gulären Säulen. Von den unzähligen leuchtenden Punkten und Strichen bewegten ſich einzelne hin und her. Von Fäulniß, üblem Geruch u. dergl. war nichts zu be— merken. — Der Schlächter, von dem die Coteletten bezogen worden waren, theilte mit, daß ſeit mehreren Wochen alles Fleiſch, auch Ochſenfleiſch, in ſeinem Verkaufsladen leuchtend werde, ohne daß er dafür einen Grund anzugeben vermöge und obwohl er auf größte Reinlichkeit der Räume halte. Fleiſch aus anderen Localitäten der Stadt zu derſelben Zeit bezogen, leuchtete durch— aus nicht, während in ſeinem Locale, wel— ches Dr. Nüeſch beſuchte, die Hälfte der geſchlachteten Ochſen, Kühe und Schweine prächtig leuchtete; am intenſivſten war das grünlich weiße Licht an den Uebergangs— ſtellen des fetten zum magern Fleiſch. — - Die leuchtende Maſſe breitete ſich in con— centriſchen Kreiſen binnen 3 — 4 Tagen immer weiter über die Fleiſchſtücke aus, konnte mit dem Meſſer auf die verſchieden— ſten andern Theile von Thierkörpern, aber nur wenn ſie roh waren, übertragen wer— den und vermehrte ſich daſelbſt raſch, was hingegen auf gekochtem Eiweiß und gekoch— Das Mikroskop 247 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ten Kartoffeln nur ſehr langſam geſchah; friſches oder altes Blut leuchtete nie. — Beim Eintritte der Fäulniß, wo die eigent— lichen Fäulnißbacterien auftreten, verſchwand das Leuchten ganz, und faſt augenblicklich, wenn einem Präparat Carbol-Salicyl— Schwefelſäure oder Weingeiſt zugeſetzt wurde. — Im Local des Schlächters dauerte das Leuchten etwa von Oſtern bis Pfingſten, wo die mittlere Temperatur 10“ nicht überſtieg; unentſchieden bleibt, ob es dann in Folge der ſteigenden Wärme oder der — zum Desinficiren angewandten Carbolſäure und Chlordämpfe verſchwunden iſt. Herr Dr. Nüeſch glaubt, früher ſei nur ein einziges Mal und zwar um Oſtern 1592 zu Padua leuchtendes Fleiſch beobachtet und von Fabricius ab Aquapendente unterſucht worden, aber nach den Mittheil- ungen von Henze und Valentin iſt ſolches auch 1868 in einem Hauſe zu Bern und in Heidelberg auf der Anatomie be— obachtet worden, und Fleiſch von todten Seefiſchen hat man ſogar ziemlich häufig leuchten ſehen. (Mittheilungen der natur— forſchenden Geſellſchaft in Bern. Nr. 923 — 936. Bern 1878. S. 24.) G. de Saporta's Unterſuchungen über die ſogenannten Noeggerathien. Die älteſten Erdſchichten, welche Pflan— zenreſte bergen, weiſen neben der über— wiegenden Zahl von Gefäßkryptogamen (d. h. Farnen, Schafthalmen und Bärlapp— Gewächſen) eine nur kleine, aber nach und nach zunehmende Schaar Samen tragender Gewächſe auf. Außer den Nadelhölzern erſcheinen einige Pflanzen mit breiteren Blättern, Cordaites, Pothocites, An- thocithes und namentlich die Noegge— 8 1 rathien, Pflanzen, die man anfangs für Palmen und andere monocotyliſche Ge— wächſe hielt und damit die ſtufenweiſe Ausbildung des Pflanzenreiches gewiſſer⸗ maßen in Frage ſtellte. Daß dieſe Pflan— zen, abweichend von den Kryptogamen, Samen trugen, beweiſen die ſchon in den Steinkohlenſchichten zahlreich vorkommenden Samen, auf denen man die Pflanzengattungen Rhabdocarpus, Trigonocarpon u. A. begründet hat, obwohl dieſe Samen wahr— ſcheinlich größtentheils zu den obigen, ſchon nach ihren Blättern anderweitig benannten Pflanzenarten gehörten. Da jene Pflanzen— formen ihres Gleichen in der heutigen Welt nicht mehr beſitzen, vollkommen aus- geſtorben find, jo war eben der Phantafie ein weiter Spielraum gegeben; heute iſt Pflanzen des Steinkohlenwaldes nicht zu den höheren Abtheilungen der Mono- und Dicotyledonen gehört haben, ſondern zu jener Uebergangsklaſſe der Urſamen— Pflanzen (Archispermae), welche die anſcheinend blüthenloſen Gewächſe (Krypto— gamen) mit den offen blühenden (Phanero— gamen) vermitteln. Zu dieſer wegen ihrer Uebergangs— natur doppelt lehrreichen Abtheilung gehö— ren von den heute lebenden Pflanzen die Zapfenbäume oder Nadelhölzer (Coniferae), die Gnetaceen, und die Sagobäume oder Palmenfarne (Cy— cadeae); den letzteren glaubte man nun— mehr jene erwähnten merkwürdigen breit— blättrigen Samenpflanzen der Primärzeit am beſten anreihen zu können. Am frühe— ſten wurde dies mit den Noeggerathien verſucht, die in großen Maſſen und man— nigfachen Formen vorkommen und z. B. in Saarbrücken den Hauptbeſtandtheil gan— zer Kohlenflötze bilden. Es find Blatt— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. fiedern von zum Theil anſehnlicher Größe und mannigfachem Umriß, die der deutſche Paläontologe Sternberg zu Ehren des um den deutſchen Bergbau hochverdienten Bergrath Jacob Noeggerath benannte, und die im Allgemeinen den Umriß eines halbaufgeklappten Damenfächers mit engen, mehr oder weniger parallelen Adern zeigen. Der berühmte franzöſiſche Paläontologe Brongniart ſtellte die Noeggerathien wie geſagt, zu den Cycadeen, nicht aber ohne dabei zu bemerken, daß eine volle Uebereinſtimmung allerdings nicht vorhan— den ſei und daß man ſie vielleicht als be— ginnende, den Reigen eröffnende Cycadeen betrachten dürfe. Die Sagobäume oder Cycadeen gehören für die Evolutionstheorie zu den intereſſan— man indeſſen darüber einig, daß alle jene teſten Ueberbleibſeln der Vorzeit, da ſie noch heute im Habitus, wie in ihrer Ent— wickelung und im anatomiſchen Bau drei ſonſt unvereinbar ſcheinende Familien ver— binden, nämlich die Farne, Nadelhölzer und Palmen (vergl. Kosmos I. S. 536); ſie nehmen unſer ferneres Intereſſe in An— ſpruch als Charakterpflanzen der Jurazeit, in welcher ſie den geſammten Erdball in allen Zonen ſchmückten und ſeinen Wäldern gewiß das Hauptgepräge gaben (Kosmos II. S. 561). An dieſer hiſtoriſchen Be— deutung nehmen nun die Noeggerathien um ſo mehr Theil, als ſie, wie erwähnt, die Vorgänger derſelben geweſen zu ſein ſcheinen, da man zweifelloſe Cycadeen bisher erſt in triaſiſchen Schichten gefunden hatte, wäh— rend der Oolith dann das Zeitalter ihrer reichſten Entfaltung, jo recht die Herrſchafts— Epoche der Cycadeen bezeichnete. In der Kreidezeit waren ſie noch zahlreich, obwohl die Abnahme merklich iſt; in den tertiären Schichten hat man auffallender Weiſe keine oder doch nur vereinzelte Cycadeen-Reſte gefunden, und heute bewohnen fie, meift in Geſellſchaft ihrer alten Kameraden, der baumartigen Farne, einen ſchmalen Gürtel der warmen Zone, der ſich mit geringen Unterbrechungen um die Veſte der Erde herumlegt. Trotz alledem war die Ge— ſchichte der Cycadeen noch immer ſo lücken— haft, daß ſie den Gegnern der Evolutions— Theorie geradezu als Operationsfeld dienen konnte, wie nachſtehende Bemerkungen be— weiſen mögen. Der ausgezeichnete Paläo⸗ phytologe C. W. Williamſon in Man- cheſter ließ ſich darüber noch vor drei Jahren wie folgt, aus:“) „Welches auch,“ ſchrieb er, „wenn wir die Urflora betrachten, die Schwierigkeiten (der Evolutionstheorie) ſein mögen, noch größere warten unſer, wenn wir von den älteren Schichten zu den jüngeren empor— ſteigen. Die Erſcheinung der Cycadeen in der meſozoiſchen Epoche ſtellt eine der erſten und ausgeprägteſten dieſer Schwierigkeiten dar. Woher ſind ſie gekommen? Ich finde keine Pflanze, die den Anſchein erwecken könnte, einen Uebergang zwiſchen irgend— welchen paläozoiſchen Pflanzen zu den voli- thiſchen Cycadeen zu bilden. Wenn die ſelt— ſame Stangeria des ſüdlichen Afrika, deren Farnblätter auf dem Stamm einer Cycadee ſitzen und wahre Cycadeenfrüchte bringen, in den permiſchen und triaſiſchen Felſen gefunden worden wäre, ſo würde man ſie als prächtiges Beiſpiel eines zwiſchen Far— nen und Cycadeen ſtehenden Gliedes haben citiren können. Unglücklicher Weiſe erſcheint dieſe anſcheinend verallgemeinerte Form am Ende der Geſchichte, zu einer Zeit, wo man nichts mehr damit anfangen kann, während ſie im Anfange derſelben höchſt werthvoll geweſen wäre. Wir finden keine Stangeria in den Uebergangsſchichten, noch 9 Revue seientifigue IV, p. 1067. 1875. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 249 irgend eine andere Pflanze, die geeignet wäre, als Stützpunkt des Ueberganges von den Steinkohlenpflanzen zu den ooli- thiſchen Cycadeen genommen zu werden.“ Wir können an dieſem Raiſonnement nicht vorübergehen, ohne zu conſtatiren, wie höchſt ungerecht die Gegner der Evolutionstheorie zu verfahren pflegen. Der Umſtand, daß noch heute eine Pflanze exiſtirt, die das vollkommene Ausſehen eines Farnbaumes mit der primitiven Blüthenbildung der Cycadeen vereint, wird uns hier gleichſam zum höhnenden Beweiſe hingeworfen, daß früher ſolche Uebergangsformen nicht exiſtirt hätten. Alexander Braun hat in ſeiner in demſelben Jahre erſchienenen Arbeit über die Cycadeen ?) darauf hingewieſen, daß man die Stangeria betrachten dürfe wie ein doppelt gefiedertes Pterophyllum mit verſchmolzenen Segmenten, und er vergleicht fie der Gattung Anomozamites, alſo un: mittelbar zweien ausgeſtorbenen Gattungen, welche der meſsozoiſchen Landſchaft ihre eigenſte Phyſiognomie verliehen haben. Aber auch alle übrigen heute lebenden Cycadeen ſind trotz der ungezählten Jahr— tauſende, die ſeit ihrem erſten Auftreten verfloſſen ſind, in der Entwickelung ihrer Wedel und ihrer Blüthen am Blattrande noch immer ſo farnähnlich, daß man den obigen Ausſpruch gauz unbegreiflich finden muß. Nach den Erfahrungen, die wir in allen Regionen des Thier- und Pflanzen— reiches machen können, neigten freilich die Uebergangsformen vorzugsweiſe zum Aus⸗ ſterben, und die überlebenden Glieder können unmöglich eine ſo geſchloſſene Reihe bilden, wie fie die Gegner der Evolutionstheorie unter Nichtachtung aller maßgebenden Ver— hältniſſe immer wieder verlangen. n den Monatsberichten der Berliner Akademie. Kosmos, Band III. Heft 3. 250 Während höchſtens lebender Cycadeen bekannt ſind, Schimper ſchon 175 foſſile Arten auf, die ſich auf 18 Gattungen vertheilen, und dabei ſind meiſtens nur die ſicher beſtimm— baren gezählt worden. Zu ihnen müſſen aber nach Brongniart außer den Noeg— gerathien, von denen wir gleich ausführ— licher berichten, noch die gänzlich ausgeſtor— benen Erzeuger der nicht von den Nadel— hölzern ſtammenden Steinkohlenſamen (Car— polithen) gerechnet werden, da es lauter or— thotrope Samen von dem Bau der Archi— ſpermenſamen ſind. Nach dieſen Samen kommen zu der oben angeführten Anzahl noch 96 Arten Urcycadeen, die ſich auf fünf gänzlich ausgeſtorbene Gattungen vertheilen. Auch Cordaites, deſſen Arten im Stein— kohlenwalde unſere Yucca- und Aloeform vertrat und deshalb von Weiß zu den Monocotylen gerechnet werden, gehörte nach Brongniart zu den Ur-Cycadeen, von denen man die verſchiedenſten Monocotyle— donen-Zweige abzuleiten verſucht wird. Ganz vor kurzem iſt übrigens in der Darlington— Grube eine Cordaites-Art mit erhaltenen Blüthen gefunden worden, deren Unterſuch— ung abzuwarten iſt.“) Nach dieſer Einleitung kommen wir nun zu den neuen Unterſuchungen über die Noeggerathien des franzöſiſchen Paläophy— tologen G. de Saporta, über welche derſelbe ſeit Ende März dieſes Jahres der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften zu wiederholten Malen Bericht erſtattet hat. Dieſelben haben, um es im Voraus zu ſagen, das lehrreiche Reſultat ergeben, daß die bisher unter dem Gattungsnamen Noeggerathia vereinigten foſſilen Pflanzen theils zu den Farnen, theils zu den Cycadeen, theils zu den Coniferen, theils zu einer 10 American Journal of Science. April 1878. hundert Arten zählt Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. mitten zwiſchen den beiden letztgenannten Archiſpermen-Abtheilungen ſtehenden Gruppe gehörten, die Saporta „Subeoniferae* tauft. So ſehr alſo glichen ſich damals die Blattformen gewiſſer Farne, Cycadeen und Coniferen, daß man ſie bisher in eine Gattung zuſammenwerfen konnte! Insbe— ſondere lehrreich war die letzte Mittheil— ung des genannten Forſchers über Noeg- gerathia expansa und cuneifolia Brongn. die wir gewöhnlich als typiſch in den Wer— ken über Paläontologie (4. B. bei d'Or— bigny und Carl Vogt) abgebildet fin- den und die aus den permiſchen Sand— ſteinen vom Uralgebiete ſtammen.“) Dieſe Arten waren von einem mächti— gen Wuchſe, weshalb man in der Regel nur Bruchſtücke ihrer wedelförmigen Blätter findet. Viel ſeltener bekommt man voll— ſtändige Exemplare vor Augen, nach denen man eine Reſtauration der Pflanze ver— ſuchen könnte. Die Abſchnitte haben ſämmt— lich keilförmigen Umriß, d. h. ſie breiten ſich aus ſpitzem Baſiswinkel oben wie ein ſchmaler Fächer aus, oder theilen ſich in kleinere Zipfel und Segmente mit immer gleichem Stielwinkel. Die Haupttheilungen ſind ſtets dichotom (d. h. zweigabelig) und Spindeln wie Blattfläche bieten häufige Beiſpiele dichotomer Theilung; indeſſen be— gegnet man auch fiederartigen und tricho— tomen Einſchnitten. Die von der Ader— ung genommenen Kennzeichen — welche wegen ihrer großen Beſtändigkeit für die Paläontologie ſehr wichtig ſind — ſind auch hier ſehr gleichmäßig, die Adern gehen nicht von den Blattwurzeln aus, ſondern man unterſcheidet auf jedem vollſtändigen Segment eine Mittelrippe, von welcher der Länge nach die Seitennerven dicht hinter ) Comptes rendus T. LXXXVI. p. 869. 1878. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. einander abgehen, um ſich unter einem mehr oder weniger ſpitzen Winkel fächerförmig auszubreiten, wobei ſie ſich immer von Neuem dichotomiſch theilen. . .. Die eben beſchriebenen Eigenthümlich— keiten kommen faſt nur bei Farnen vor. Bei den Arten der foſſilen Gattung Sphe— nopteris und namentlich auch bei der foſ— ſilen Gattung Eremopteris findet man, wenn auch in verkleinerter Geſtalt, eine jenen Noeggerathien durchaus ähnliche Blatt— bildung wieder; es findet ſich bei ihnen nicht allein die allgemeine Dichotomie des Wedels, ſondern auch die Bildung kleiner, an den unterſten Gablungen vorkommender ohrförmiger Fiederchen, ſowie die Theilung in keilförmige Segmente und die Aderung wieder. Unter den lebenden Farnen weiſen die Wedel von Asplenium furcatum Thnb. und einiger Spaltfarne oder Schizäaceen, wie Aneimia villosa Humb. et Bonpl. und A. adiantifolia Sw. eine ähnliche Bildung auf. Herr von Saporta ftellt deshalb die vermeintlichen Ur-Cycadeen vom Ural zu den Farnen und zwar in die Nähe der Schimper 'ſchen Gattung Ere- mopteris unter dem Namen Psygmo- phyllum. Referent kann hierbei nicht die Bemerkung unterdrücken, daß ihm aus der angedeuteten Vergleichung keineswegs die Farnnatur dieſes Psygmophyllum bewieſen erſcheint, denn das Blatt der jetzt lebenden und weiter unten zu erwähnenden Salis— buria adiantifolia (Ginkgo biloba) hat ebenfalls Geſtalt und Aderung eines Farn— krautes, und Niemand würde, wenn es nur im foſſilen Zuſtande bekannt wäre, die Conifere darin ſogleich erkennen. Dieſen farnartigen „Noeggerathien“ ſchließt ſich eine kleinere Form aus den Berg- werken von Malaſinski im Gouvernement Perm an, die ſich, bei im Allgemeinen ähnlicher Geſtalt, doch noch dadurch unter— ſcheidet, daß die Nerven unter einander anaſtomoſiren, d. h. Netze und Schlingen bilden, wodurch dieſe foſſilen Reſte zuweilen den untergetauchten und unfruchtbaren We— deln der Farngattungen Ceratopteris Brongn. und Parkeria Hook., die in Sumpfſtationen der wärmeren Zone vor— kommen, ſehr ähnlich werden. Es iſt des— halb dieſe vorweltliche Pflanzenform von den oben genannten getrennt und Dicho— neuron Hookeri Sap. getauft worden. Indeſſen darf man nicht fürchten, daß alle ſogenannten Noeggerathien nunmehr unter die Farne verwieſen werden müßten, denn gerade die beiden älteſten derſelben, ſowohl der Zeit ihres Auftretens wie der Namengebung nach, Noeggerathia foliosa Sternb. und N. rhomboidalis Vis., die in den mittleren Steinkohlenſchichten Böh— mens vorkommen, mußten trotz aller habi— tuellen Uebereinſtimmung mit den Vorge— nannten auch von Saporta als echte Cycadeen anerkannt und daher im Beſitz ihres rechtmäßigen und wohlerworbenen Taufnamens nach dem deutſchen Geologen belaſſen worden. Damit iſt alſo die Ehre derjenigen Naturforſcher gerettet, welche die Noeggerathien als Ur-Cycadeen bezeichneten. Dagegen neigt eine fernere Art, Noeg— gerathia Goepperti Liehtw. — und das iſt wiederum ſehr lehrreich — bei mancher Uebereinſtimmung mit den Cycadeen fo ſehr zu den Coniferen hinüber, daß Saporta für ſie eine beſondere Mittelfamilie auf— ſtellen mußte, die er Subeoniferae nennt. Er hat dieſelbe, welche in permiſchen Schichten Rußlands und Böhmens vor— kommt, entſprechend ihrer neuen Stellung umtaufen müſſen und Dolerophyllum Goepperti benannt. In dieſe Zwiſchen— klaſſe werden wahrſcheinlich noch manche Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. andere Cycadeen umziehen müſſen, ſo z. B. die permiſche Gattung Stenzelia ( Me- dullosa elegans), welche A. Braun in ſeiner vorhin erwähnten Arbeit über die Stellung der Cycadeen eine Mittelform | zwiſchen Cycadeen, Coniferen und Mono- cotyledonen nennt. Drei andere ſogen. „Noeggerathien“ erwieſen ſich bei genauerer Unterſuchung als offenbare Coniferen aus der Gruppe der farnblättrigen Zapfenbäume (Salis— burieae), nämlich die nunmehrigen Gink- gophyllum flabellatum (Lindl. et Hutt.) Sap. aus engliſchen Steinkohlenſchichten, G. Grassetti Sap. aus permiſchen Schich— ten von Lode ve (Depart. Herault) und G. kamenskianum Sap. aus permiſchen Schichten Rußlands. Die Gruppe der farn- und cycadeen-blättrigen Zapfenbäume, von deren Schönheit heute nur der einzige überlebende Ginkgo- Baum Chinas Kunde giebt, hat ſomit zu den mannigfachen in jüngerer Zeit beſchriebenen neuen Arten (vergl. Kosmos II. S. 562) einen weite— ren, ſehr nachdenklichen Zuwachs erhalten, und an Stelle jener einzigen, nach Wil— liamſon nicht vorhandenen Urcycadee ſehen wir dem Dunkel der Vorzeit ganze Reihen entſteigen, die ſie mit den Farnen nach der einen und mit den Nadelhölzern nach der andern Seite vermitteln. Möge es Herrn de Saporta gefallen, bald die näheren, mit Abbildungen erläuterten Details ſeiner Unterſuchungen, von denen die Denkſchriften der Akademie nur Aus— züge brachten, zu veröffentlichen und uns damit in den Stand ſetzen, die Vermuth— ungen, die unwillkürlich dabei aufſteigen, näher zu prüfen. Ueber den Einfluß des Auftretens höherer Lebensformen auf den Bau der älteren Krokodil-Arten las Profeſſor Owen eine intereſſante Ab— handlung in einer Februarſitzung der Lon— doner Geologiſchen Geſellſchaft, aus welcher wir das Nachſtehende entnehmen: Zunächſt im Allgemeinen auf den Einfluß der Um— gebung und äußeren Einwirkungen auf den Bau der Lebeweſen hinweiſend, bemerkte er, daß bei den Raubthieren auch auf die Ver— änderung ihrer Beute Rückſicht zu nehmen ſei. Er folgerte, daß kaltblütige Waſſer— thiere in größerem Verhältniſſe den meſo— zoiſchen als den neozoiſchen Krokodilen zur Nahrung gedient haben würden, und brachte damit den wohlmarkirten Unterſchied in Verbindung, welchen dieſe beiden Gruppen in ihrem geſammten Baue darbieten. Die meſozoiſchen Krokodile haben doppelhöhlige, die neozoiſchen nur vorn gehöhlte Wirbel, und da dieſe letztere Eigenthümlichkeit der Wirbelſäule ſie befähigt, ſich auch in der Luft bequem zu bewegen, mag ſie mit dem ver— mehrten Auftreten von Landſäugethieren in der Tertiärzeit, denen die Krokodile ans Ufer folgten, in Verbindung gebracht wer— den. Die meſozoiſchen Krokodile waren in einen viel vollſtändigeren und ſtärkeren Hautpanzer eingehüllt, als ihre Nachfolger, zweifellos zum Schutze gegen die großen Ichthyoſaurier, Pleſioſaurier und andere Raubreptile, die mit ihnen das Waſſer be— wohnten. Seit aber dieſe mächtigen Räuber am Ende der Secundärzeit verſchwunden ſind, iſt die Panzerung der Krokodile ge— ringer geworden und die Verminderung des Gewichtes und der Steifigkeit hat ihnen die zur Erlangung von Landthierbeute er— forderliche Behendigkeit verliehen. Der Unterſchied in der Stellung der 2 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. und andere damit in Verbindung ſtehende Naſen- und Gaumenbildungen ſtehen an— ſcheinend mit der von den jüngeren Kro— kodilen erworbenen Fähigkeit in Verbind— ung, ein kräftiges Säugethier untergetaucht zu halten, ohne dem Waſſer Zutritt zu den an die Spitze der Schnauze hinauf— gerückten Naſenlöchern und der Luftröhre zu geſtatten. Aus demſelben Grunde iſt Owen umgekehrt geneigt, ſogar jenen groß— ſchnäuzigen Krokodilen der Purbeckſchichten (3. B. Goniopholis erassidens und simus) die ſo wohl befähigt ſcheinen, mit großen und kräftigen Säugethieren zu kämpfen, eine Fiſchnahrung zuzuſchreiben. Die ge— ringe Größe der Schläfengruben bei ter— tiären und jetzt lebenden Krokodilen wird von Owen als ein fernerer Beweis der— ſelben Anpaſſungsrichtung betrachtet. Dieſe Oeffnungen wurden nämlich verringert durch die fortſchreitende Verſtärkung des knöcher— nen Daches der Schläfenhöhlen, welche ihrerſeits mit der Vermehrung der Schläfen— muskeln an Maſſe und Kraft in Verbind— ung ſteht, denn dieſe ſpielen beim Zubeißen und Feſthalten die Hauptrolle. Die Unter— ſchiede in der Länge und Stärke der Kiefer ſprechen für dieſelbe Entwickelungsrichtung. Ferner waren die vorderen Gliedmaßen kürzer bei den meſozoiſchen als bei den neozoiſchen Krokodilen, dadurch andeutend, daß die erſteren in ihren Gewohnheiten ſtrenger an das Waſſer gebunden waren. Von allen Krokodilen werden die Vorder- d. h. das neue Individuum f beſteht aus den Körper gezogen, wobei kürzere Glied- aus väterlichen Elementen 5, aus miütter- glieder beim ſchnellen Schwimmen eng an maßen weniger hinderlich ſind als längere. Auf der andern Seite mußten ſie weniger zur Fortbewegung auf dem Lande geeignet ſein. Als indeſſen die das Ufer beſuchen— den Säugethiere in der Tertiärzeit häufiger wurden, ſahen ſich die Krokodile häufig verſucht, Angriffe auf ſolche vorübergehende Landbeute zu machen, und dadurch mögen die Vorderfüße an Größe und Kraft bei den neozoiſchen Arten allmälig zugenommen haben. (Nature. No. 436. 1878.) Profefor Mantegazza's Meogeneſis und ſeine Anſichten über die geſchlechtlichen Formunterſchiede der Thiere. Um den Haupteinwürfen gegen die na— türliche Zuchtwahl zu begegnen, hat Dr. Mantegazza, einer der geiſteichſten Vorkämpfer des Darwinismus in Italien, eine neue ſupplementäre Theorie aufgeſtellt, die, wenn auch bisher von ihrem Gründer nur angedeutet, uns doch ſchon in ihrem Embryonal-Gewande einer kurzen Erwähn— ung werth erſcheint. Nach Herrn Mantegazza könnten wir die Theorien der Geneſis der lebenden Formen ſämmtlich auf zwei Formeln, eine empirische und eine wiſſenſchaftliche, zurück— führen. Nach der erſten wäre das Kind oder das neue Individuum gleich der Hälfte des Vaters plus der Hälfte der Mutter, oder 8 2 während die wiſſenſchaftliche Formel des neuen Individuums ſich wie folgt ergäbe: 8 . X X der Summe dreier unbekannter Größen; lichen Elementen P; und aus ataviſchen Elementen at. Jemehr väterliche und mütterliche Cha— raktere das Individuum aufweiſt, um ſo mehr gleicht es ſeinen Eltern, der Species Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. & oder der Varietät, der es angehört; während, wenn die elterlichen Elemente ſich in Größe faſt auf Null reduciren und das ataviſche Element vorherrſcht — d. h. die Summe aller ataviſchen Elemente, aller organiſchen Möglichkeiten, — dann differirt das Kind bedeutend und mit einem Male von ſeinen Eltern; wir haben alsdann ein Monſtrum, eine Varietät, eine neue Species, je nachdem wir dieſes neue Geſchöpf betrachten, welches Mantegazza als durch Neogeneſis entſtanden betrachtet und folgendermaßen formulirt: f= E & + EAA wobei mit E, E', E“ evanescente (verſchwindbare) Größen bezeichnet werden. Aehnliche Ideen ſind bereits von Prof. Delpino in feinem Neomorphismus, ſowie auch von Mivart angeregt worden. Doch unterſcheiden fie ſich von denen Mante— gazza's darin, daß Erſtere die neuen Charaktere nicht von den Eltern, noch von den Ahnen ableiten, während Mante— gazza glaubt, die ſcheinbare Neuigkeit be— ſtehe nur in den verſchiedenen Proportionen, in welchen das elterliche Element und der große kosmiſche Atavismus das neue In— dividuum bilden. Es iſt Faktum, daß das Kind ſtets vom Vater und der Mutter verſchieden iſt, aber der Grad der Verſchie— deuheit kann unendlich klein oder unendlich groß ſein. digere, der die Geſetze der gewöhnlichen Vererbung giebt, während der zweite die Ausnahme, die Neogeneſis, bildet. Sind die Monſtroſitäten, reſp. die neuen Cha— raktere, dem Individuum oder der Species nicht ſchädlich, keine Deformitäten, um die ſexuelle Zuchtwahl zu verhindern, fo ſteht der Transmiſſion derſelben durch Vererb— J 5 7, Al E ung nichts entgegen und können fo der Aus- Der erſte Fall iſt der beftän- | gang für neue Varietäten und Species werden. Auf dieſe Art könnten wir uns erklären, wie in einem geringeren Zeitraume große Umwandlungen ſtaltgefunden, weshalb wir in den Erdſchichten viele Intermediär-Formen vermiſſen müſſen. Man könnte der Neogeneſis vorwerfen, ſie bedinge einen Rückſchritt in der Ent— wickelung der lebenden Weſen und ſei des— halb der Evolutionstheorie entgegengeſetzt. Doch iſt dem nicht ſo. Dieſes fatale Re— ſultat des Rückſchrittes ergiebt ſich nur dann, wenn die neuen Charaktere gleich— zeitig monſtrös und pathologiſch, wenn fie den Lebensbedingungen des betreffenden In— dividuums conträr ſind. Es iſt keiner Pflanze ſchüdlich, wenn deren Blätter ihre Form ändern, wenn die Blüthen Farbe wechſeln oder die Anzahl der Staubgefäße ſich modificirt. Dem unter unſern Augen gebildeten Pfau ſind die neuen Charaktere, die ihm dem Namen Pavo nigripennis einbrachten, durchaus nicht ſchädlich. In vielen Fällen ſind ſogar die durch Neogeneſis erſchienenen Charaktere ſehr nützlich, ver— leihen dem Individuum neue Fähigkeiten und Kräfte, erhalten ſich durch natürliche Ausleſe und durch Vererbung. Ferner darf man den Begriff des Wortes Atavismus nicht zu eng faſſen: es bleibe wohl ver— ſtanden, daß das ataviſche Element die Summe aller ataviſchen Elemente, aller organiſchen Combinations— möglichkeiten iſt, nicht die einfache Rückkehr zu einem alten, durch die natürliche Selektionstheorie ausgemerzten Charakter.“) ) Anmerk. der Redaktion. Würde es nicht doch richtiger ſein, in dieſem dritten Faktor, der die elterlichen Anlagen modificirt, vielmehr das Wirken der neuen Lebensbeding— ungen, der immer ſich verändernden Welt zu ſuchen? In dem angezogenen Beiſpiel des Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Vom großen Lebensbaume divergiren tauſend Zweige; aber obwohl das Werk der Umwandlung unaufhörlich und langſam vor ſich geht, ſo häufen ſich von Zeit zu Zeit in einem Individuum ſolche und ſo viele Differenzen, daß ſie eine neue Form bilden; neu jedoch nur durch die verſchie— denen Proportionen der väterlichen, mütter— lichen und ataviſchen Elemente, die ſie ent— hält, die ſie aber, von äußeren Umſtänden begünſtigt, neuer Kräfte und neuer Aus— dehnung fähig machen. Wie die anſcheinend entgegengeſetzten Begriffe von Sterblich— keit und Fruchtbarkeit nur diverſe Momente ein und deſſelben Phänomens ſind, ſo ſind die unbegrenzte fortwährende Veränderlichkeit der Individuen und die Beſtändigkeit der Species nur diverſe Mo— mente derſelben Thatſache, die ſich nicht widerſprechen, ſondern ergänzen, und mehr denn je erſcheint in dem unendlichen, tauſend— fachen Reichthum von Formen klar und ganz die große Einheit der Materie! Dr. Mantegazza, findet ferner, daß die Darwin'ſche Theorie der ſexuellen Zuchtwahl, ſo meiſterhaft ſie auch von dem großen engliſchen Gelehrten durchgeführt wurde, dennoch manche Lücken zeige, zu deren Ausfüllung andre Factoren herbeige— zogen werden müßten. Zunächſt formulirt ſchwarzrückigen Pfaues, der an den verſchie— denſten Orten Europas ſeit Jahrhunderten immer wieder erſcheint und jedesmal eine bedeutende Neigung zeigt, die alte Raſſe zu verdrängen, iſt es vielleicht richtiger, ſtatt eines Rückſchlages, eine neue Form zu vermuthen, die von der neuen Zeit und Heimath geſchaf— fen wird, und ſich gerade deshalb ſo aus— gezeichnet bewährt. Schon der Umſtand, daß dieſer ſchwarzrückige Pfau einen ſo merk— würdigen Federwechſel durchläuft, ſcheint mir der verbreiteten Anſicht, daß man es hier mit Atavismus zu thun habe, nicht günſtig. 255 er die Einwürfe gegen die ſexuelle Zucht— wahl unter folgenden ſechs Abſchnitten. I. Der Liebes kampf in der Thier— welt exiſtirt; oft erringt das Männchen die Siegespalme erſt nach blutiger Schlacht: aber das Weibchen verfällt unvermeidlich dem Sieger; ſelbſt wenn es auch den Be— ſiegten vorziehen wollte, ſo müßte es den— noch dem ſtärkeren Männchen unterliegen. Mit wenigen Ausnahmen, wie Darwin auch ſelbſt zugiebt, verfolgen bei faſt allen Thieren die Männchen die Weibchen mit großem Eifer. Wenn alſo in dieſen Fällen das Männchen kämpft, wählt und erobert, wozu nützt ihm dann der ganze Apparat der vielfältigſten Schönheit, mit dem die Natur es ausgeſtattet? Nach Bertlett laſſen die Affen zur Brunſtzeit jedes Männchen, ſelbſt von andren Species, zur Begattung zu; wenn dieſe Thatſache auch nur unter anormalen Umſtäuden, d. h. während der Gefangenſchaft der Thiere in zoologiſchen Gärten, feſtgeſtellt wurde, fo verliert ſie dennoch nicht ihren Werth und zeigt uns, daß die Auswahl ſeitens des Weibchens ſehr ſchwierig iſt. Weshalb ſoll ſich auch das Männchen ſchön machen müſſen? Kann daſſelbe doch nach erfolgter Eroberung das Weibchen auch ohne deſſen Zuſtimmung befruchten; während im Männchen beſondere phyſiſche Bedingungen der Geſchlechtsorgane dazu nöthig ſind. Sollten die Schönheit oder andere äſthetiſche Elemente, wie der Geſang und verſchiedene pſychologiſche Kundgeb— ungen, zur Liebeserregung dienen, ſo hätten ſie ſich im Weibchen finden müſſen, um beim Männchen die geſchlechtlichen Kräfte wach zu rufen. Es iſt begreiflich, daß ſich beim Männchen die Hörner, Nägel, Klauen, Muskel, überhaupt alle offenſiven und de— fenſiven Waffen aus geſchlechtlicher 8 — — 256 entwickeln und verbreiten: dagegen bleibt der Zweck aller andren ſecundären geſchlecht— lichen Charaktere, die einem äſthetiſchen Range angehören, unverſtändlich. II. Der Geruch iſt bei vielen Säuge— thieren par excellence der erregende Sinn der Geſchlechtsorgane und macht den ganzen äſthetiſchen Apparat von Farben und Formen, mit denen die meiſten Männ— chen geziert ſind, vollſtändig unnütz. Wenn aber das Männchen faſt immer ſucht, ver— folgt und erwirbt, warum iſt daſſelbe ſo reichlich mit geſchlechtlichen Gerüchen verſehen? Sollte nicht vielmehr das keuſche, zurück— gezogene, verborgene Weibchen dieſe Gerüche, dieſe Ausdünſtungen von ſich geben, um dem Gefährten den Weg zur Liebe anzu— deuten? Mantegazza hat während zwei Jahren verſchiedenen Generationen von Kaninchen gleich nach deren’ Entwicklung die Augen ausgeſtochen, aber die Liebe ent— wickelte ſich in dieſen Blinden ohne Hinder— niß, denn ſie beſaßen ihre Geruchsorgane. Schiff hat dagegen den neugeborenen Hunden die Geruchsnerven außer Gebrauch geſetzt und unter andern Folgen zeigte ſich auch die, daß das Männchen nicht das Weib— chen aufzufinden wußte. III. Die Schönheit des Männchens variirt zu ſehr auch in nahverwandten Vogelſpecies, um deren Urſprung durch bloße geſchlechtliche Zuchtwahl erklären zu können. Geſtehen wir den Thieren auch den feinſten äſthetiſchen Sinn zu, ſo finden wir es doch ſchwierig zu glauben, die ver— ſchiedenſten Formen, die entgegengeſetzten Farben ſeien einzig und allein das Reſul— tat des ſpeciellen Geſchmacks verſchiedener Weibchen, die ſich im übrigen unter ſich ſo ſehr gleichen. Widerſteht uns denn nicht die Annahme, die Feder des Pfaues oder Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. diesvogels ſei durch die geſchlechtliche Aus— wahl des Weibchens entſtanden, während das faſt immer intelligentere Männchen es iſt, welches das Weibchen liebt und das— ſelbe als Kriegstrophäe erringt, ſich aber mit den beſcheidenſten und gewöhnlichſten Tinten in ſeiner Gefährtin begnügt? IV. Die Zähmung, ſowie manche an— dere äußeren Bedingungen der Nahrung, Farbe ꝛc. ändern gar ſchnell das Geſchlechts— kleid; wäre daſſelbe das Ergebniß langer Jahrhunderte geſchlechtlicher Zuchtwahl, ſo müßte es doch tief in der Species einge— graben bleiben. Genügt nicht der Albinis— mus, um in den Thieren verſchiedenſter Natur die reichſten und ſchönſten Farben— ſpiele zum Verſchwinden zu bringen? Und vielleicht iſt der Albinismus blos die Folge einer geringen hiſtologiſchen Modification der Pigment erzeugenden Organe. V. Bei den meiſten Fiſchen findet keine Berührung der Geſchlechtsorgane ſtatt, und obgleich man behaupten könnte, das Weib- chen gebäre ſeine Eier nur dann, wenn es ein gefälliges Männchen in der Nähe ſieht, ſo muß man andrerſeits auch die Schwie— rigkeit einer wirklichen und eigentlichen Se— lektion anerkennen, wenn man beobachtet, in welchem wilden Durch- und Ueber- einander die Männchen zur Laichzeit die Weibchen verfolgen. Und doch beſitzen die Fiſche ſehr wichtige ſecundäre ſexuelle Cha— raktere. VI. Der wichtigſte Einwurf gegen die geſchlechtliche Zuchtwahl dürfte jedoch aus der Beobachtung der poly gamiſchen Thiere folgen, bei denen die ſecundären ſexuellen Charaktere ſehr tief und bedeut— ſam ſind. Wenn unter ſo vielen Männ— chen, die um den Beſitz eines Harems kämpfen, nur Eines Sieger bleibt, ſo auch das ſtrahlende Prachtgefieder des Para- braucht daſſelbe für die Weibchen gewiß nicht das ſchönſte Männchen zu fein, da ja nicht die Schönheit, ſondern die Kraft ihm die Sultansrechte verſchafft; und be— ſitzt es dieſelben einmal, ſo gehören die eroberten Weibchen ihm ganz und gar; es führt ſie zur Weide und zur Ruhe wie ein Hirt und König. Und ferner wäre hier noch zu bemerken: Wenn ſo viele Männchen ſterben oder von den Weibchen (unter den polygamiſchen Thieren) fern bleiben, wie kommt es, daß immer mehr Männchen als Weibchen geboren werden? Dieſe Schwierigkeiten, welche der ge— ſchlechtlichen Zuchtwahl-Theorie entgegen— ſtehen, dürften den denkenden Darwinianer wohl zu weiteren Forſchungen anregen, um auch den Schleier dieſer Naturerſcheinungen zu lüften. Dr. Mantegazza hat ſelbſt einen Verſuch zur Erklärung einiger der von ihm angeführten, in die Darwin'ſche ſexuelle Selektionstheorie nicht hineinpaſſenden Thatſachen gemacht. Es ſcheint ihm ein— facher zu ſein, die geſchlechtliche Charakter— verſchiedenheit durch die ſpecielle Natur der ſpermatiſchen Abſonderung (Secretion) zu erklären, welche bei ihrer Erſcheinung zur Pubertätszeit durch die Reabſorption alle Gewebe durchdringt, deren Ernährung be— deutſam modificirt und dadurch neue For— men, neue Farben, neue anatomiſche und phyſiologiſche Charaktere zum Vorſchein bringt. Bei den unmannbaren Thieren gleichen ſich Männchen und Weibchen oft ſo ſehr, daß deren Unterſcheidung ſchwer fällt, wie auch das Alter oft die ſecundären ſexuellen Charaktere verſchwinden oder wenigſtens undeutlicher werden läßt. Auch die Ver— ſchneidung (Caſtration) verhindert beim Männchen die Entwickelung jener Charak— tere, die es von ſeiner Gefährtin ſo ſehr verſchieden macht. Andrerſeits erſcheint bei “ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. vielen Thieren das Hochzeitskleid nur zur Liebes- oder Brunſtepoche, alſo gleich— zeitig mit der Abſonderung des Sperma oder des Eies und mit ihr verſchwindet es auch wieder. Die Barthaare erſcheinen auf dem Kinn des mannbaren Menſchen, die Sporen entwickeln ſich ſtärker auf den Beinen des Hahns; Hörner, Farben, Ge— ſang, Gewebe und Funktionen modificiren ſich, ſobald der Teſtikel in Thätigkeit tritt und der abſorbirte Theil der Samenfeuch— tigkeit eine neue ſtarke Aktion auf die Er— nährung der hiſtologiſchen Elemente aus— übt. Wenn bei den Ameiſen und Bienen und bei ſo vielen anderen Inſekten ein verſchiedener Nahrungsſtoff genügt, das Geſchlecht einer Larve zu ändern, wenn eine amerikaniſche Weide (Salix humilis) in Folge des Stiches von zehn verſchiede— nen Inſekten zehn diverſe Gallen erzeugt, warum ſoll dann nicht eine ſo potente Feuchtigkeit, wie der Same, die Ernähr— ung der dadurch beeinflußten Gewebe mo— dificiren, warum nicht auch die Seeretion des Eierſtockes den Organismus des Weib— chens verändern und ſo ſecundäre ſexuelle Charaktere produciren? Bei den polyga— miſchen Thieren müſſen die geſchlechtlichen Unterſchiede tiefer ſein, denn da das Männ— chen viele Weibchen zu befruchten hat, jo muß auch die ſpermatiſche Abſonderung um ſo ſtärker und lebhafter vor ſich gehen und den ganzen Organismus durchdringen. Freilich genügt in vielen Fällen die natürliche Zuchtwahl zur Erklärung der Unterſchiede in Farben und Formen, be— ſonders bei den Schmetterlingen und bei den Vögeln, die ihre Eier im offenen Felde brüten; doch ſind dies ſecundäre, nebenſächliche Gründe, die nur einige That— ſachen ſexueller Differenzirung erklären. Die Haupturſache iſt nach Dr. Mantegazza Kosmos, Band III. Heft 3. die ſpermatiſche Secretion, die nothwen— diger Weiſe die verſchiedenſten ſecundären ſexuellen Charaktere nach ſich zieht, welche letztere ſich dagegen nicht entwickeln oder kaum angedeutet werden, wenn man durch Amputation der Teſtikeln vor der Pubertät verhindert, daß der Same ſich entwickklle und folglich den Organismus gründlich modificire. Wäre dem nicht ſo, weshalb ſollten dann nicht die von ſo vielen Generationen durch geſchlechtliche Zuchtwahl in einem Individuum angehäuften Keime auch nach der Verſchneidung (Ca— ſtration) im Männchen erſcheinen? Wenn dieſe Theorie auch immer nur eine Hypo— theſe iſt, ſo ſcheint ſie doch den phyſiolo— giſchen Geſetzen der Ernährung des Orga— nismus angemeſſen und kann auch auf expe— rimentellem Wege unterſucht werden. Florenz. 3. E Zilliken⸗ De Maillet's Phantaſien über die Umwandlung der Arten. in Lothringen, (an welchem Orte, habe ich nicht in Erfahrung bringen können) geboren. In ſeiner Jugend lag er eifrig dem Studium alles Wiſſenswerthen ob: Seine Schriften ver— zum Generalconſul von Aegypten ernannt, benutzte er ſeine Mußeſtunden, um ſich in ſeiner Art naturgeſchichtlich zu bethätigen und in ſeinem exaltirten Kopfe die wunder— lichen Hirngeſpinſte auszubrüten, mit denen wir uns im „Kosmos“ gar nicht beſchäf— tigen dürften, wären ſie nicht von einigem hiſtoriſchen Intereſſe und wären ſie nicht mit den Lehren eines Lamarck zuſammen— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. geſtellt worden. Im Jahre 1709 über— nahm Maillet das Conſulat von Livorno, 1715 machte er im Auftrage der franzö— ſiſchen Regierung eine Reiſe nach den Han— delsplätzen der Barbarei und der Levante und zog ſich nachher mit einer anſehnlichen Penſion ins Privatleben zurück. Er ſtarb im Jahre 1738 in Marſeille. Zwei kleinere Abhandlungen De Maillet's über Aegypten und Aethio— pien ſind mir nicht zu Geſicht gekommen. Vor mir liegt fein bekanntes Buch: „Tellia- med ou Entretiens d'un philosophe in- dien avec un missionaire frangais sur la diminution de la mer“, neue Auflage, 2 Bände, 1755, in welchem er unter dem Namen Telliamed (Buchſtabeninverſion von De Maillet) als indiſcher Philoſoph ſein Syſtem darlegt. Die Schrift iſt nie zu Lebzeiten De Maillet's erſchienen, ſondern nach ſeinem Tode von einem Un— genannten in, wie dieſer ſelbſt ſagt, umge— arbeiteter Form herausgegeben worden. Von vorn herein iſt es charakteriſtiſch, daß De Maillet ſein Buch einem ge— wiſſen Cyrano de Bergerac, Ver— faſſer von Reiſen auf Sonne und Mond, Benoit de Maillet wurde 1659 widmet und ſich, mit Recht, „den ſehr treuen Nachahmer“ dieſes „närriſchen“ Menſchen nennt. Ueber die Vergangenheit der Erde phantaſirt er nämlich ganz ebenſo, wie jener über Zuſtände auf Sonne und Mond. rathen große Gelehrſamkeit. Im Jahre 1692 Die Verſteinerungen ſind es, die die volle Aufmerkſamkeit Maillet's in erſter Linie auf ſich ziehen. Was bedeuten ſie; wie ſind ſie zu Stande gekommen; wo fin— den ſie ſich; was lehren ſie uns? Sind ſie wirklich blos Figurenſteine, Naturſpiele, Produkte kindlicher Beluſtigungen des Schöp— fers, ſeine eigenen lebenden Geſchöpfe auch in Stein nachzubilden? Oder ſind ſie etwa, wie Langy in Luzern (es iſt wohl Nikolas Lang gemeint) glaubt, da— durch entſtanden, daß von Organismen ſich Keime in irgend einer Weiſe loslöſten, in die Luft gelangten, durch Poren in das Innere der Felſen eindrangen und dem Material, in welches ſie geriethen, den Im— puls gaben, ſich zu entſprechenden Verſtei— nerungen zu geſtalten? Nein, ſo können die Verſteinerungen nicht entſtanden ſein. Iſt es nicht von vorn herein wahrſchein— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wirklich, und zwar alle, unter Waſſer ge— bildet. Am Boden der Gewäſſer entſtehen beſtändig Niederſchläge, von den feſten Be— ſtandtheilen, die das Waſſer an verſchieden Orten ablöſt, herrührend. Dieſe Nieder— ſchläge umhüllen die am Grunde des Waſſers licher, daß ſie wirkliche Ueberreſte von Thieren und Pflanzen ſind, die an der be— treffenden Stelle gelebt haben? Wie ſteht es dann aber mit der Thatſache, daß Ver— ſteinerungen von Meeresthieren an Orten, die jetzt gar nicht mehr vom Meere bedeckt ſind, angetroffen werden, daß fie ſich über all auf dem Feſtlande, ja auf den höchſten Bergen vorfinden? Ja, die große Mehrzahl der Verſteinerung beſteht aus Meevesformen. Die angezogenen merkwürdigen Ver— hältniſſe erklären ſich nach Telliamed ganz leicht und natürlich durch die Annahme, daß alle Orte, wo ſich Verſteinerungen vorfinden, früher einmal vom Meere bedeckt geweſen ſind. Im Anfang war die Erde mit Waſſer bedeckt und nirgends ragte Feſtland aus demſelben hervor. Im Schoße des Urmeeres bildeten ſich allmälig Gebirge, deren Gipfel durch ein allgemeines Zurück— ſinken des Waſſers nach und nach frei wurden. Im Verlaufe vieler Jahrtauſende hat das beſtändige Abnehmen des Meeres den ge— genwärtigen Zuſtand der Erde herbeige— führt. Dieſe Abnahme geſchieht auch heute noch und unſere ausgedehnten Meere werden über kurz oder lang kleinere Binnenwaſſer— becken bilden. Dies der kurze Sinn der langen Rede Telliamed's. Auf die phantaſtiſche Begründung dieſer Anſicht kön— nen wir nicht eingehen. Die Verſteinerungen haben ſich alſo @ liegenden Ueberreſte von Thieren und Pflan— zen, ſie erſtarren, nachdem ſie vom Waſſer verlaſſen. So ſind die Ueberreſte von Madreporen, Korallen, Auſtern, Röhren von Röhrenwürmern zu Verſteinerungen geworden. So haben ſich die durch Fäul— niß macerirten Gerippe von Fiſchen, Wall— fiſchen u. |. w. am Boden der Gemwäſſer verſteinert. Landthiere müſſen irgendwie ins Waſſer gerathen und ertrunken ſein, denn neben verſteinerten Waſſerthieren ſind auch Schlangen und Eidechſen, in einem Falle ſogar ein mitten in einem Felſen befindliches Ei mit noch flüſſigem Inhalt und verſteinerte Federn bekannt geworden. Man hat die verſteinerten Skelette ertrun— kener, rieſenhafter Menſchen gefunden und verſteinerte Schiffe mit Rudern, Ankern u. ſ. w. (doch hat man dieſe nur aus der Ferne geſehen), die offenbar im Urmeere Schiffbruch gelitten. Es erzählen uns alte Ueberlieferungen, alte Aufzeichnungen, hauptſächlich die hei— lige Schrift, von einer allgemeinen Sünd— fluth, die in kurzer Zeit die Spitzen der höchſten Berge erreichend und in kurzer Zeit wieder! zurücktretend alles Lebende zu Grunde richtete. Können die Ver— ſteinerungen nicht von einer ſolchen allge— meinen Sündfluth herrühren? Doch nein, es herrſcht Ordnung in der Lage und Vertheilung der Foſſilien, es herrſcht Ordnung in der Struktur der ſie einſchlie— ßenden Schichten. Ueberdies iſt eine allge— meine Sündfluth mit der darauf ſchwim— menden Arche Noah überhaupt ein Unſinn. — — — — — — — = — = 260 Woher kamen denn die Waſſer jo ſchnell und wohin liefen ſie ſo raſch ab? Wie konnten die Fiſche und andere Waſſerthiere zu Grunde gerichtet werden, da ſie ſich ja ſtets in ihrem Elemente befanden? Wie konnte Noah von allen Arten, auch den in ganz entfernten Ländern lebenden, je ein Pärchen in ſeine Arche aufnehmen? Zugegeben, daß er ſogar Raum für Elephanten, Rhi— noceros, Kamele u. ſ. w. in ſeiner Arche hatte, ſo ſcheint es doch ſonderbar, daß er alle ſehr kleinen, faſt unſichtbaren Organis- men zuſammenbrachte und insbeſondere die ſo ſehr läſtigen Wanzen, Flöhe, Läuſe und Milben in der Arche cultivirte. Kurz, die ganze Geſchichte von der allgemeinen Sündfluth und der Arche Noah erſcheint Telliamed durchaus nicht plauſibel und er führt ſie auf locale Ueberſchwemmungen zurück. Im Anfange, als noch die ganze Erd— oberfläche von den Waſſern bedeckt war, exiſtirten nur ſehr wenige Waſſerthiere und Waſſerpflanzen. Dieſe ſelbſt entſtanden höchſt wahrſcheinlich aus Keimen, die von anderen Himmelskörpern auf unſere Erde gelangt waren leine Anſicht, die ja neuer— dings wieder geltend gemacht wird). Wie aber find nachher aus den Waſſerorganis— men Landorganismen entſtanden? Die Antwort iſt leicht! Das Waſſer iſt ja nur condenſirte Luft und die Luft ver— dünntes Waſſer! Ferner: haben wir nicht im Waſſer die Analoga aller auf dem Lande lebenden Weſen? Finden ſich nicht im Meere Kräuter, Sträucher, Bäume; giebt es da nicht z. B. Meeräpfel, Meer— birnen, Meerroſen? Ja, Telliamed hat ſogar eigenhändig eine Traube aus dem Meere gezogen und er überzeugte ſich, daß eine Beere daran reif und ſchmackhaft war! In Bezug auf die Thiere findet in der Luft. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Von ganz die nämliche Analogie ſtatt. den Waſſerthieren kriechen und gehen die einen auf dem Boden des Meeres: ſie ent ſprechen denjenigen Formen, welche auf dem Feſtlande umherlaufen; die anderen, wie die Fiſche, fliegen im Waſſer, wie die Vögel Ja ſogar ganz im Einzel— nen finden ſich alle Analogien in Farbe, Geſtalt, Art der Lebensweiſe, z. B. zwi— ſchen Fiſchen und Vögeln. In Anbetracht dieſer Fülle allgemein bekannter und aner— kannter Thatſachen erſcheint es für jeden vorurtheilsloſen, vernünftig denkenden Men— ſchen ſelbſtverſtändlich, daß ſich beim Sin— ken des Urmeeres und Freiwerden des Feſtlandes diejenigen Formen, die allmälig an die Luft geſetzt wurden, an das neue Medium gewöhnten. Waren es auch nur wenige unter Tauſenden, ſo konnten doch dieſe wenigen ihr raſch umgewandeltes Ge— ſchlecht durch Fortpflanzung vermehren und ausbreiten. Daß der Uebergang von der Luftathmung im Waſſer zur Luftathmung auf dem Lande ſehr wohl möglich iſt, lehren uns ja die Amphibien, denen es ganz gleich— gültig iſt, ob ſie auf dem Lande oder im Waſſer leben. Laſſen wir Telliamed in einer ſeiner Ausführungen ſelbſt reden: „Es konnte vorkommen und es kommt ja, wie wir wiſſen, ziemlich oft vor, daß beflügelte und fliegende Fiſche beim Jagen oder beim Ver— folgtwerden, aus Raubluſt oder Todesfurcht, vielleicht auch durch Wellen an das Ufer. geworfen, ins Schilfdickicht oder auf Raſen fielen, von wo ſie nicht mehr ins Meer zurückgelangen konnten. In dieſem Falle erlangten ſie vielleicht ein größeres Flug— vermögen. Ihre nicht mehr vom Waſſer gebadeten Floſſen ſpalteten und krümmten ſich in Folge der Trockenheit. Während ſie an ihrem neuen Wohnorte einige Nahr— ungsmittel zum Unterhalte vorfanden, ver— längerten ſich die von einander losgelöſten Strahlen ihrer Floſſen, bekleideten ſich mit Bärten, oder richtiger geſprochen, es ver— wandelten ſich die Häute, welche ſie vorher mit einander verbanden. Der von dieſen zerriſſenen Häutchen gebildete Bart wurde größer; die Haut bedeckte ſich unmerklich mit Flaum von derſelben Farbe, die ſie ſelbſt hatte; der Flaum wurde entwickelter. Die kleinen Floſſenfedern am Bauche, die zu gleicher Zeit mit den anderen Schwimm— floſſen die Ortsbewegung der betreffenden Fiſche im Waſſer vermittelten, wurden Beine und dienten zum Gehen auf dem Lande. Andere kleine Veränderungen in der Geſtalt gingen Hand in Hand. Schnabel und Hals verlängerten ſich bei den einen, bei den anderen verkürzten ſie ſich; ähnliches geſchah mit dem übrigen Körper. Im Ganzen aber blieb Uebereinſtimmung mit Anm. der Red. Unſer geehrter Mit— arbeiter ſcheint uns hier doch den Telliamed nicht nach Verdienſt zu würdigen. Es darf nicht vergeſſen werden, daß in der langen Nacht von Lucrez bis auf Goethe dieſe Traumphantaſie denn doch die erſten Ahnun— gen der Entwickelung höherer organiſcher For— men aus niederen brachte. Wie tief ſtand der in den Naturwiſſenſchaften ſonſt ſo wohl erfahrene Voltaire unter Maillet, als er deſſen Anſichten von dem ehemaligen Leben der verſteinerten Thiere beſpöttelte, und allen Ernſtes behauptete, die verſteinerten Muſcheln und Ammonshörner der Gebirge ſeien von darüber ziehenden Pilgern verloren worden; ja noch in unſerm Jahrhundert gab es Leute, welche die Verſteinerungen für alles Andere eher als für die Reſte lebendiger Thiere hal- ten wollten. De Maillet eilte ſeiner Zeit weit voraus, und im Uebrigen hat er ja ſeine Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 261 | der erſten Form; auch iſt und bleibt fie (die Uebereinſtimmung) immer leicht er— kenntlich.“ Auch des Menſchen Urſprung iſt nicht verſchieden von demjenigen der Landthiere und Landpflanzen. Wie dieſe aus ent— ſprechenden Waſſerformen hervorgingen, ſo entſtand der Menſch aus Waſſermenſchen. Solche Waſſermenſchen exiſtiren wirklich; zahlreiche Beobachtungen beweiſen es un— zweifelhaft; aufgenommene ausführliche Pro— tocolle erhärten die Beobachtungen. Ja, wir finden alle Stufen: Waſſermenſchen, deren Hinter- oder Unterleib in einen mit Schuppen bedeckten Fiſchſchwanz endigt; Waſſermenſchen von unſerer Form, aber mit Schwimmhäuten zwiſchen Fingern und Zehen u. ſ. w. So die Umwandlung der Arten nach De Maillet! Bern. Dr. Arn. Lang. Meinungen im Gewande einer Phantaſie vor— getragen, ſo daß uns ihre romanhafte Faſſung nicht überraſchen kann. Die oben erwähnten „Reiſen in den Staaten der Sonne und des Mondes“ von C. de Bergerac gehören trotz ihrer phantaſtiſchen Geſtalt zu den aus— gezeichnetſten Werken der älteren franzöſiſchen Literatur. Der Verfaſſer, ein Schüler Gaſ— ſendi's, hat mit ebenſo viel Geiſt als Witz die Thorheiten der irdiſchen Philoſophie in dieſen Reiſen gegeißelt, und auf die Inquiſi— tion, welche Galilei zum Widerruf zwang, iſt nie eine köſtlichere Perſiflage gemacht wor— den, als jene Epiſode der Mondreiſe, in welcher die Mondbewohner den ſie beſuchen— den Erdenbürger zwingen, ſeine Behauptung, die Erde ſei eine bewohnte Welt, um die ſich der Mond drehe, öffentlich zu widerrufen. Bergerac's Werke verdienen noch heute geleſen zu werden. K. ——H—k — 2 — —v —hZͥ — Neal Fiteratur und Kritik. „An’est ce que la matière?“ ieſe difficile Frage richtete, wie be— kannt, einſt der tapfere Korſe an einen 9 der von ihm jo verachteten „Deutſchen Ideologen“, an Jacobi, und als dieſer im Moment keine Antwort zu finden wußte, wandte ihm Napoleon ohne Weiteres verächtlich den Rücken zu. Verhalten des großen Tyrannen wie das des Philoſophen in dieſem Falle ſticht merklich ab von dem Verfahren jenes indiſchen Despoten und ſeines Aſtrologen, zwiſchen denen, wie erzählt wird, einſt die Frage nach dem wahren Weſen Gottes zur Sprache kam. bat ſich eine Bedenkzeit aus, welche er ſich ſtets verlängern ließ, und der Despot war klug genug, das Schweigen auch als eine Antwort zu nehmen. Muß ſich auch die Philoſophie die Be— denkzeit für jene Frage in infinitum ver- Erkenntnißkraft Schall das Begreifen erzeuge. längern laſſen? — Eine Antwort hierauf ſuchen wir in der vor uns liegenden Schrift von Johannes Huber, „Die Forſch— ung nach der Materie.“ München, 1877, Ackermann. — Sehen wir, welchen Aufſchluß ſie uns über dieſe geben vermag. Wichtig genug iſt dieſe; um— faßt doch dieſe Frage Napoleons an Jacobi, das Ding trägt, | nebſt der andern Frage des Pilatus an Chriſtus — „Was iſt Wahrheit?“ — faſt Alles, was wir zu wiſſen wünſchen. Auch die Tyrannen können mehr fragen, als die Weiſen beantworten können. Doch was will jene Frage? Fragen wir erſt die Frage, was ſie denn frage? Was wollen wir wiſſen, wenn wir fragen: Was iſt die Materie? Wenn Das das Kind bei dem Anblick eines ihm. bis dahin unbekannten Weſens oder Dinges fragt: was iſt das? und wir antworten ihm mit einem beliebigen Namen, den ſo beruhigt es ſich wohl dabei — auf kurze Zeit. Wir ſagten ihm vielleicht, der von ihm ſinnlich empfundene Der gefragte Sternfundige | Gegenſtand, der ihm die verwunderte Frage erpreßte, was er denn ſei? ſei ein Hund, oder eine Roſe, oder ein Schiff. Das Kind beruhigt ſich dabei, und wie das Kind, ſo beruhigte ſich die Menſchheit und beruhigen ſich noch heute Tauſende bei dem Namen, als ob ihm eine verborgene innewohne, als ob der Aber all- mälig erwacht das Bewußtſein, daß der Name nur ein Symbol iſt für die Sache, eine Münze mit verſchwindend geringem Frage zu ſetzung klar iſt, Erkenntnißwerth, der nur noch da vorhan— den iſt, wo der Etymologie die Zuſammen— ein Wort, das nur der Fr Erinnerung, nicht der Erkenntniß dient. Da erwacht die quälende Frage von Neuem: Was iſt das? Was iſt „Hund“, „Roſe“, „Schiff“? Und die Gefragten befinden ſich oft in nicht geringer Verlegenheit, wie ſie dem fragenden Kinde begreiflich machen ſollen, was denn der Gegenſtand ſei. Denn wenn ſie auch ſo hochgebildet ſind, um etwa Abſtracta, wie Pflanze, Thier, Gegenſtand zu gebrauchen, wie iſt damit dem gedient, dem dieſe Abſtracta zuletzt ſelbſt wieder Räthſel ſind? Dann muß oft ein Gleichniß, ein Bild, ein charakteriſtiſches Attribut dazu dienen, um die Neugierde zu be— friedigen. Aber auch das Attribut iſt ein allgemeinerer Begriff oder eine allgemeinere Anſchauung, die dem fragenden Subjekte ſchon bekannt ſein muß; und ſo, ſehen wir, bleiben zwei Arten von Antworten übrig auf die Frage: man bringt das Unbekannte, was zur Frage reizt, entweder unter einen höheren Allgemeinbegriff, oder man ver— gleicht es mit einem anderen bekannten Dinge. Und ſehen wir genauer zu, ſo ſind dieſe beiden Arten Antworten einer und derſelben Gattung. Denn da auch der Allgemeinbegriff eine Sammlung von Ueber— einſtimmungen, von Gleichförmigkeiten der Beſchaffenheit iſt, ſo iſt das Begreifen durch ihn auf daſſelbe Princip baſirt wie das Begreifen durch Analoges, Aehnliches — auf die Gleichheit. All unſer Begreifen iſt ein Zuſammenfaſſen von Gleichheiten; begriffen iſt oder ſcheint etwas, wenn es mit einem anderen, uns faktiſch oder nur ſcheinbar mehr Bekanntem gleich geſetzt iſt. Wenden wir das Geſagte auf unſeren vorliegenden Fall an, indem wir alſo fragen: „Was iſt die Materie?“ ſo kann unſere Abſicht ebenfalls nur dahin gehen, etwas zu finden, wodurch wir die Materie zu begreifen vermögen, alſo eine Vorſtell— Literatur und Kritik. ung, mit der wir das gleichſetzen können, was wir Materie nennen. Nur wenn es uns möglich iſt, ein ſolches Etwas zu fin— den, kann die Materie als begriffen gelten. Denn wir fragen ja nicht „wie iſt die Materie“, d. h. wir fragen nicht nach ihren Beſchaffenheiten, ſondern wir fragen, „was iſt fie”? d. h. was für einer Art der Dinge, welcher Klaſſe von Gleichförmig— keiten des Seins iſt ſie zuzuzählen? Hier iſt nun aber darauf aufmerkſam zu machen, daß dieſer Proceß begrifflicher Reduktion ſeine Grenzen hat, an denen jeder weitere Reduktionsverſuch ſcheitert; d. h. das Begreifen muß ein Ende haben, weil wir die letzten Gleichförmigkeiten, zu denen wir gelangen, nicht weiter auf andere reduciren, können. Selbſt wenn es uns gelänge, alle Dinge auf ein letztes Element zu reduciren, ſo müßte ja eben dieſes ſelbſt unbe— greiflich ſein, weil es nicht mehr unter einen höheren Begriff ſubſummirt werden kann. Es könnte uns wohl begreifbar er— ſcheinen, wenn nämlich dieſes letzte Ele— ment uns das bekannteſte wäre, was in unſere Erfahrung tritt, aber dieſer Schein darf nicht über die Thatſache hinwegtäuſchen, daß dieſes Element zwar wohl wißbar aber eben doch faktiſch unbegreiflich iſt. Gehen wir mit dieſen methodologiſchen Principien an die genannte Schrift und ſſehen wir, wie weit fie uns mit dem Be— greifen der Materie führt. Sie zerfällt in eine Einleitung, in einen erkenntniß— theoretiſchen und in einen metaphyſiſchen Theil. Jene Einleitung ſtellt das Problem und theilt die hiſtoriſchen Notizen mit; der erkenntnißtheoretiſche Theil behandelt im Allgemeinen die Frage: ob die Materie ſei; der metaphyſiſche Theil: was dieſelbe ſei? Durch die ganze Schrift aber zieht fi) bald mehr oder minder offen die Po- 263 5 ) 264 lemik gegen den Materialismus und damit natürlich die Frage: Kann man die Ma— terie zum Weltprincip erheben, wie man mit den Idealiſten den Geiſt oder den Willen oder gar nach neueſter Verſion die Phantaſie zum Weltgrund zu machen beſtrebt iſt? Und das iſt eben die Frage, ob man die Phänomene, deren Complex die Welt ausmacht, aus dem ma— teriellen Element als alleinigem Princip ab— leiten könne? Neuerdings hat ſich nun aber bei der Unmöglichkeit dieſer Ableitung die Theorie der Seelenhaftigkeit der Materie wieder erhoben, alſo eine neue Auflage des Hylozoismus. Wir freuen uns, auch den ſcharfſinnigen Kritiker, der die genannte Schrift uns vorlegt, auf die— ſem Wege zu ſehen, und ſchöpfen daraus die Hoffnung, daß die Kluft, welche die ſogen. moniſtiſche Anſchauung von den An— hängern des alten Idealismus noch ſcheidet, immer mehr ausgefüllt werde, wozu ja durch Fechner, Lange, Wundt u. A. ſchon der beſte Anfang gemacht iſt. Es ſind zwei Wege, auf denen man zu dieſem Reſultat gelangt, einmal der erkenntniß— theoretiſche Weg, durch den wir zu dem Ergebniß geführt werden, daß die Ma— terialität ein phänomenales Daſein beſitzt, und nichts als eine ſubjektive Form iſt, in der unſere Senſationen von uns aufgefaßt werden. Wir haben ja zunächſt nur Sen— ſationen, und es iſt eine bloße Hypoſtaſirung unſerer Empfindungszuſtände, wenn wir dieſelben loslöſen von dem Boden unſerer Subjectivität und als caput mortuum des Bewußtſeins ſtehen laſſen. Es iſt gleich— ſam eine unnatürliche Zerſetzung unſerer Empfindungen, wenn wir ſie von der Nabelſchnur, mit der ſie an unſer Bewußt— ſein, als ihren Geburtsort, geknüpft ſind, | losreißen und auf ſich ſelbſt ftellen. Gehen Literatur und Kritik. wir vom menſchlichen Bewußtſein aus, fo löſt ſich die Welt in Senſationen, in ein Spiel von Empfindungen und Empfindungs— verhältniſſen auf. Huber hat dieſe er— kenntnißtheoretiſche Analyſe ſehr ſcharfſinnig an allen Vorſtellungen durchgeführt, welche mit dem Begriffe der Materie enger zu— ſammenhängen, an Raum, Zeit, Kraft und Bewegung. Unſere ganze Vorſtell— ungswelt entſteht nur aus umgeprägten Senſationen. Huber kommt hier mannig- fach ſelbſtſtändig auf dieſelben Reſultate, welche durch Mill's Examination of Sir Hamilton's Philosophy neuerdings die Hume 'ſche Gedankenwelt wieder zu Ehren bringen. Dieſen Empfindungen ent— ſprechen nun nach Huber objektive Kraft- bewegungen, Aktionen von immateriellen Kraftcentren, welche eben die von unſerer Auffaſſung unabhängige Welt der Dinge darſtellen. So kommen wir denn alſo zu der Vorſtellung, daß die Welt aus Kraft— ſtrömungen, Kraftbeziehungen be— ſtehe, die wir uns ſowohl aus erfenntniß- theoretiſchen Gründen, als nach dem Princip der Analogie als weſensverwandt mit dem Pſychiſchen denken müſſen, und der Grund, den Huber in Uebereinſtimm— ung mit den Naturforſchern dafür geltend macht, iſt die Nothwendigkeit, den elemen— taren Proceſſen pſychiſche Werthe, wenn auch von noch ſo geringer Intenſität, zuzuſchreiben, weil ſonſt das Auftreten der pſpchiſchen Phänomene bei den höheren Organismen ohne zureichenden Grund wäre. Wenn uns nun alſo auch nach dem Geſetz der Erhaltung der Kraft eine Umwandlung oder Transformation chemiſcher, elektriſcher, alſo phſiſcher Kräfte im Organismus in pſy— chiſche Phänomene vorzugehen ſcheint, ſo iſt dies eben nur ein trüglicher Schein, da nach dieſer Anſchauung ſämmtliche phyſiſche Proceſſe von pſychiſchen Vorgängen begleitet und geleitet wären. Es findet in dem Nervenſyſtem immer nur eine Transforma— tion in phyſiſche Proceſſe ſtatt, nicht direkt in pſychiſche, und die letzteren Phänomene träten dann alſo nur im menſchlichen Ge hirn ſtärker auf, als in den übrigen Atom- complexen. keine faßbare Formel für das Verhältniß des Phyſiſchen und Pſychiſchen gegeben, und zunächſt kommen wir über ſolche Unbeſtimmt— ſeite des Seeliſchen ſei, nicht hinaus. Auch eine andere Schwierigkeit hat Huber mehr herausgeſtellt, als gelöſt: auf der einen Seite wird das Materielle erkenntniß— theoretiſch als bloße Erſcheinung, als bloßes Phänomen für unſere Auffaſſung behandelt, und dann beſtünden überhaupt nur immaterielle Kräfte, und alle räumli— chen Phänomene beſtänden nur in unſerer ſub jectiven Vorſtellung; auf der an— dern Seite wird das Materielle im meta— phyſiſchen Sinne als Erſcheinung eines hinter ihm wirkenden Immateriellen vorge— ſtellt, oder als unaufhörlicher Begleiter des— ſelben, aber eine von unſerer Auf— faſſung unabhängige räumliche Wirklichkeit beſitzend. Hierin beſteht ja die enorme Schwierigkeit, die der ſpinozi— ſtiſchen, auch von Huber mit Scharfſinn und Eleganz vertretenen Anſicht gegen— überſteht: Das Materielle, das nach dieſer Anſicht die Kehrſeite des Geiſtigen iſt, oder nach einem Ausdruck Fechner's: das ſich zum Geiſtigen verhält wie das Concave zum Convexen an derſelben Curve, — daſſelbe Materielle, das alſo hier als unabhängige Wirklichkeit gefaßt wird, wird doch andererſeits wieder zur bloßen phänomenalen Exiſtenz herabgedrückt, wie die ſecundären Eigenſchaften Farbe, Freilich hat uns auch Huber Literatur und Kritik. 265 Ton u. ſ. w. Dieſe Schwierigkeit, welche ja bekanntermaßen ſchon bei Spinoza ſelbſt hervortritt, iſt durch die neueſte Phaſe dieſer Frage, die durch die Conſtatirung des Geſetzes der Erhaltung der Kraft ge— kennzeichnet iſt, nur verſchärft worden. Dies iſt der Punkt, auf den alle Unterſuchungen zu richten ſind, wie ſich die Materie als Erſcheinung im erkenntnißtheo— retiſchen Sinn (d. h. als unſere Sen— ſation) zu der Materie als Erſcheinung heiten, wie daß die Materie die Außen- im metaphyſiſchen Sinn (d. h. als Außenſeite des Seeliſchen) verhalte. Huber huldigt hier einem erkenntniß⸗theoretiſchen Realismus, der wenigſtens bis auf Weite— res jedenfalls die natürlichſte und nüchternſte Anſchauung iſt. Die pſychiſchen Impulſe der Monaden (oder nach Caspari Syn— aden) vollziehen ſich in wirklichen räum— lichen Bewegungen, die auch unabhängig von unſerer Vorſtellung ſtattfinden. Da— gegen, gegen eine ſolche Verabſolutirung, d. h. Loslöſung der Raumvorſtellung von einem vorſtellenden Subjekt und Verſelbſt— ſtändigung des Raumes, erhebt freilich die Erkenntnißtheorie ganz gewichtige Bedenken, die ſich auch Huber durchaus nicht ver— hehlte, und an anderen Stellen will er nur die relative Wirklichkeit des Raumes und damit des Materiellen anerkennen, d. h. denſelben nur eine Wirklichkeit zugeſtehen, ſo lange ſie das Correlat zum vorſtellenden Subjekt bilden. Wer wird ſchließlich uns aus dieſem labyrinthiſchen Cirkel heraus- helfen? Einerſeits bilden wir uns die Vorſtellung der vom Subjekt unabhängigen Dinge, die wir ſchlechterdings nicht anders als im Raume exiſtirend uns denken kön— nen; und andererſeits ſchrumpft dieſe Raum— vorſtellung ſammt ihrem ganzen materiellen Inhalt zu einer bloßen Funktion des Sub— jekts zuſammen. Dieſe Antinomie, deren Kosmos, Band III. Heft 3. 266 Literatur und Kritik. Stachel niemals ſo bitter gefühlt wurde, terie als eines ſtarren, lebloſen Etwas, das als gerade jetzt, wird nun verſchärft durch die rein objektive Betrachtung des Seien- den; denken wir uns mit Huber das Seiende als exiſtirend in zwei Formen, der der Innerlichkeit und der der Aeußerlich— keit, ſo bleibt auch hier die Frage, wie denn dieſe beiden Formen zuſammenhängen? Auf der einen Seite wird das Pſpychiſche, auf der anderen das Phyſiſche als das Primitive, Beſtimmende gedacht; und außer— dem iſt die Verdoppelung der Welt durch dieſe Vorſtellung doch ein bedenklicher Ge— danke. Denn weder der Gedanke, daß dieſe Dualität eine abſolute, objektive und von unſerer Vorſtellung unabhängige, noch der andere, daß dieſelbe auf die Rechnung unſerer ſubjektiven Vorſtellungsformen zu ſetzen ſei, läßt ſich widerſpruchslos und befriedigend durchführen. Wir geben aber zu, daß die Huber'ſche Vorſtellung für unſere heutige Erkenntnißſtufe diejenige iſt, die die meiſte Befriedigung und jedenfalls einen Ruhepunkt für das Denken gewährt. Fragen wir nun aber, wie die Beant- wortung des Problems: was iſt die Ma— terie? ausgefallen ſei, und vergleichen wir dieſe mit den obigen methodologiſchen Prin— cipien, ſo ergiebt ſich, daß das Begreifen deſſen, was wir Materie nennen, nicht etwa durch einen höheren Allgemeinbegriff, unter den Materie ſubſumirt würde, zu Stande gebracht werden ſoll, ſondern durch die Re— duktion auf das beliebte Schema von Innen und Außen, alſo ſchließlich von Seele und Leib, von Weſen und Erſchein— ung, wobei immer noch die Zweideutigkeit bleibt, ob dieſer Erſcheinung eine außer— halb des vorſtellenden Subjekts ſelbſtſtän— dige Exiſtenz zuerkannt wird. Damit wird nun allerdings, worauf ja die ganze neuere Philoſophie ausgeht, der Begriff der Ma- auch außer unſerer Vorſtellung vorhanden ſein ſoll, überwunden und die Carteſianiſche Anſchauung definitiv beſeitigt. So ſympa— thiſch uns nun auch dieſes Ergebniß iſt, ſo können wir doch Huber's Behauptung, daß dieſes Reſultat durch ein dem Empfin— den und der Erfahrung gegenüber ſelbſt— ſtändiges Denken erreicht ſei, keineswegs zugeben. Dieſe Vorſtellung des Innen und Außen iſt eine ſo allgemeine Erfahrungs— thatſache, daß ſie keineswegs Reſultat eines „reinen Denkens“ iſt, das ja doch ohne— dies durch die neuere Philoſophie zum Mythus geworden iſt. Und wenn Huber meint, ohne ein ſolches „reines Denken“ wäre die Wiſſenſchaft gar nicht möglich, wenn dem Empfinden gegenüber nicht ein ſelbſtſtändiger Begriff wirkſam wäre, ſo iſt darauf zu erwidern, daß alles Denken nur ein Formen und Verbinden des Erfahrungs— inhaltes iſt. Nicht das „reine Denken“ entdeckt die Scheinhaftigkeit der Sonnen— bewegung oder des gebrochenen Stabes im Waſſer, ſondern dieſe ſcheinhaften Erfahr— ungen werden als ſolche erkannt oder eli— minirt, weil ſie anderen Erfahrungen wider— ſprechen. Auch das ſogenannte An-ſich der Materie, die Empfindung, wird nur auf Grund einer Analogie mit anderen Er— fahrungen ſtatuirt, weil die gewöhnliche Vorſtellung eines ſtarren Etwas, das durch Bewegungsanſtöße aus ſeiner trägen Ruhe aufgerüttelt wird, mit anderen Erfahrun— gen nicht übereinſtimmt. Nachdem wir ſo die materielle Welt auf Bewegungen von Kraftcentren reducirt haben, ſo bleibt, wenn wir überhaupt einmal dieſe Thatſachen „begreifen“ wollen, uns nichts übrig, als jene Bewegungsgeſetze auf Empfindungs— geſetze, jene Kraftcentren auf Empfindungs- centren zu reduciren. Es iſt dann jene Literatur und Kritik. Einheit hergeſtellt, die das Ideal aller moniſtiſchen Tendenz iſt, welche alle Phä— nomene auf ein Urphänomen zurückführen will, womit aber noch nicht der Monismus in jenem anderen Sinne geſetzt iſt, daß dieſe Kraftmittelpunkte wiederum als Efful- | gurationen einer abſoluten Weltkraft, oder als Schöpfungen eines abſoluten Geiſtes angeſehen werden. Conſequenz noch zieht, ſo möge mit weni— gen Worten darauf hingewieſen ſein, daß der Sprung von der Atomſeele zur Welt— ſeele, und nun vollends zu einem Weltgeiſt ein ſehr gewagter und gewaltſamer ift. Wir halten dieſe ganze Tendenz, das Viele wieder auf ein Ureins zurückzuführen, für einen ſchwer zu rechtfertigenden Trieb des Geiſtes; es iſt vielleicht nur ein Schein des Begreifens, kein wirkliches Begreifen, das uns dadurch zu Stande kommt, um ſo mehr, als ebenſo viele Gründe gegen als für einen ſolchen abſoluten Weltgeiſt ſprechen. Auch hier gelangen wir eben auf eine jener Antinomien, deren einſeitige Löſung kritiſch Ob es einer ſpätern nicht erlaubt iſt. Menſchheitsperiode gelingt, dieſe Antino— mien zu überwinden, wie es uns gelang, manche Antinomien des Alterthums, z. B. über das Weſen der Sprache, zu löſen? Die Vorſtellung, daß der Menſchengeiſt die Potenzirung niederer Empfindungs— ſummanden ſei, die uns den Schein der Materie erregen, ſo daß alſo die Welt der Schein iſt, „den eine Welt immaterieller Energien in uns hervorzaubert“, wird von Huber in ſcharfſinniger und umſichtiger Weiſe vertreten; und der Panpſychismus zählt ja neuerdings viele Anhänger, wie man dieſe Anſchauung ſtatt Hylozoismus zu nennen beliebt hat. Auch Zöllner in der Einleitung zu den „Principien einer elektrodynamiſchen Theorie 267 der Materie“ hat einen weitern Schritt auf dieſem Gebiete gethan, zu dem er ſchon in ſeinem Kometenbuch jo bedeutſame Beiträge lieferte. Er erklärt die Annahme einer „inanimate, brute matter“ für ein höl— zernes Eiſen oder einen kugeligen Würfel. Ob aber ſeine Behauptung, daß es be— greiflich ſei, wie beſeelter, leben- Da Huber auch dieſe diger Stoff ohne irgend eine ſonſtige Vermittelung auf einen andern Körper ohne gegenſeitige Berührung wirken könne, ſtich— haltig ſei, möchten wir billig bezweifeln. Wir halten es hierüber lieber mit Denen, welche die Unbegreiflichkeit aller dieſer letzten Phänomene behaupten. Nur wenn man mit Zöllner und Huber die Einheit des Weltbewußtſeins annimmt, ließe ſich vielleicht eine ſolche Begreiflichkeit effektuiren. Aber dieſer An— nahme einer durch- und übergreifenden Ein— heit der pſychiſchen Elemente, oder mit an— deren Worten — eines einheitlichen Welt— geiſtes, möchten wir nicht ohne Weiteres beiſtimmen, ſo ſehr wir mit dem Verfaſſer gegen den Materialismus vulgaris gemein— ſame Sache machen. Schon die Re— duktion aller phyſiſchen Phänomene und Proceſſe auf pſychiſche Werthe und Geſetze, falls ſie einmal bis ins Detail ausgeführt und nicht blos als allgemeines Poſtulat aufgeſtellt wird, iſt ein Reſultat, welches den gemeinen Materialismus vernichtet. Die weitere Frage, ob nun eine Einheit und was für eine in dieſem conſtitutio— nellen Syſtem pſychiſcher Elemente anzu— nehmen ſei, iſt eine von den bisher be— ſprochenen weſentlich zu trennende; wie auch Huber ſie erſt am Schluſſe und blos anhangsweiſe behandelt.“) Wer ſich für das Und gerade auch vom Standpunkt des Theismus aus, den der Verfaſſer vertritt, in— dem er in derſelben Weiſe wie neuerdings ja 268 Einzelne all dieſer Fragen intereſſirt, den verweiſen wir auf Huber's Schrift ſelbſt, die wir der Beachtung aller Leſer als einen anregenden Beitrag zu dem Problem der Materie empfehlen, deſſen einzelne Seiten mit Geſchick und Eleganz behandelt ſind. Insbeſondere iſt die Schrift ſehr dazu ge— eignet, zu der Klärung und Schlichtung der auf dieſem Gebiete herrſchenden Con- troverſen beizutragen und iſt ein erfreuliches Zeichen einer conciliatoriſchen Geſinnung. Str. i. E. H, N Phyſiologie und Descendenztheorie von E. v. Hartmann. (2. Auflage. Berlin 1877.) Von Dr. G. Seidlitz, Privatdocent in Königsberg.“) Werkes, die beſte Kritik der Philoſophie des Unbewußten enthaltend, 1872 anonym er— ſchien, war es zunächſt nicht unwahrſcheinlich, daß E. v. Hartmann ſelbſt der Verfaſſer fein konnte; *) denn das Ganze machte mehr »falſchen“ Standpunkt der Naturforſcher geſtellt, um zu zeigen, daß er ihn „voll— den Eindruck eines Correktivs als einer vernichtenden Polemik, ſicherte der Philo— wieder Weismann, die ſchöpferiſche Kraft an den Anfang der Dinge ſtellt, ſcheint es uns nicht nur nicht geboten, ſondern ſogar ge— fährlich, der empiriſchen Welt eine ſolche Ein— heit zuzuſchreiben, da dann entweder neben Gott noch ein Weltgeiſt geſetzt wird, oder jener ganz in dieſem in pantheiſtiſchem Sinne aufgehen müßte. Eingeſandt im Oktober 1877. *) Vergl. m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 18. Literatur und Kritik. ſophie des Unbewußten in ſchonender Weiſe eher einen ehrenhaften Rückzug als ſchmach— vollen Untergang. Der anonyme Autor entſchuldigte und erklärte ſo natürlich die Irrthümer und Mängel der Philoſophie des Unbewußten, verfiel ſogar ſtellenweis ſelbſt in Ddiefelben,*) ſo daß man unwill— kürlich an einen Selbſtkritiker denken mußte, der zu beſſerer Einſicht gelangt, nur noch mit dem öffentlichen Bekenntniß zögert. Einen totalen Rückfall konnte man aber nach einer ſolchen vorzüglichen und ſach— gemäßen Selbſtkritik nicht erwarten, und mußte daher den Gedanken, Hartmann ſei der Anonymus, gänzlich von der Hand Das Unbewußte vom Standpunkt der weiſen, als ſpätere Schriften von ihm, na— mentlich fein „Wahrheit und Irr— thum des Darwinismus“ deutlich zeigten, daß er nach wie vor feſt in dem Sattel feines teleologiſchen Steckenpferdes ſaß. Die Möglichkeit, daß Jemand im Stande iſt, ſeine Irrthümer klar und deut— lich aus einander zu ſetzen, um ſchließlich doch bei ihnen zu verharren, durfte man Als die erſte Auflage des vorliegenden von einem Mann wie Hartmann nicht vorausſetzen. Jetzt freilich muß man an dieſe Möglichkeit glauben, da der Autor in der Vorrede zur zweiten Auflage erklärt, er habe nur „ſcheinbar“ ſich auf den kommen beherrſche“. Man wird ſich nun— mehr der Erwartung nicht ganz zu ver— ſchließen brauchen, vielleicht künftig einmal wieder umgekehrt den Standpunkt der Phi— loſophie des Unbewußten vom Autor als „falſch“ und als „ſcheinbar eingenommen“ bezeichnet zu ſehen. Es erſcheint dieſe * Z. B. S. 70 (2. Auf . 870, wo er von einem „Weltwillen“ und von einer „metaphyſiſchen Wurzel der Welt“ ſpricht. Erwartung um ſo gerechtfertigter, als in der anonymen Schrift thatſächlich kein Satz aus der „Philoſophie des Unbewußten“ als falſch bezeichnet wurde, ohne den aus— führlichen Nachweis, daß und warum er falſch ſei, während gegenwärtig (in der Vorrede und den Anmerkungen zur zweiten Auflage) die unmotivirten Vorausſetzungen der Philoſophie des Unbewußten bis zur Er— müdung einfach wiederholt und der Stand— punkt des Anonymus ſchlechtweg, ohne jeden Beweis, verworfen wird. So heißt es z. B. S. 276: „Die Gegenſchrift ſchießt dadurch über das Ziel hinaus, daß ſie ſich auf den Standpunkt einer mecha— niſtiſchen Naturphiloſophie ſtellt, und durch den Nachweis natürlicher Vermittelungen die Wirkſamkeit teleologiſcher Principien in und neben der mechaniſchen Vermittelung widerlegt zu haben beanſprucht.“ — Daß dieſer Standpunkt verwerflich ſei, wird hier einfach als ſelbſtverſtändlich vor— ausgeſetzt, wahrſcheinlich weil auf den vor— hergehenden Seiten zum Ueberfluß wieder— holt wurde, daß die Philoſophie des Un— bewußten auf einem anderen zu ſtehen und die Wirkſamkeit teleologiſcher Prin— cipien hinter und neben den mechaniſchen zu poſtuliren geruhe. — Zu unſerer Verwunderung müſſen wir aber S. 260 die Worte leſen: „Wir find noch weit ent- fernt zu verſtehen, wie alle Naturerſchein— ungen durch Mechanik der Atome zu erklären ſeien; daß aber alle nur hieraus und aus keinen anderen Eigen— ſchaften der Natur zu erklären ſeien, iſt als das ſicherſte Nefultat zu betrachten, deſſen die moderne Natur— wiſſenſchaft ſich zu rühmen hat.“ — Iſt das nicht reine mechaniſtiſche Naturphiloſophie? Wie damals der Anonymus einige Rück— fälle zu Irrthümern des Unbewußten, ſo | Literatur und Kritik. 269 ſcheint jetzt die Philoſophie des Unbewußten an bedenklichen Recidiven zum anonymen Standpunkt zu leiden. Doch man kann wie geſagt kaum wiſſen, welcher Stand— punkt ſich ſchließlich als der allereigentlichſte des vielgeprüften Autors entpuppen wird. Für die Sache ſelbſt iſt das übrigens ganz gleichgültig; denn an der objektiven Wahr: heit kann Nichts geändert werden, wenn auch ihr eifrigſter Verfechter noch ſo oft ſeine Stellung zu ihr ändert oder ſie gar verläugnet. Daher verliert die Schrift des Anonymus dadurch Nichts von ihrem Werth, daß der Autor nachträglich ſein Kind für illegitim erklärt. Unſer Urtheil,“) daß fie die beſte philoſophiſche Leiſtung im Sinne der Selektionstheorie ſei, bleibt unerſchüttert, und die vereinzelten Irrthümer, auf die wir ſchon bei der erſten Beſprechung des Werkes hinwieſen, “) find jetzt naturgemäß als Rückfälle zu Irrthümern des Unbewußten erklärlich und um ſo leichter zu entſchuldigen. Ueber den S. 21— 250 unverändert wieder— gegebenen Text der erſten Auflage iſt gegen— wärtig Nichts weiter zu ſagen, dagegen ſind die Angriffe des unnatürlichen Vaters, die er S. 253 — 361 hinzugefügt, zurück zu weiſen. Wir finden im Ganzen zwölf Vor— würfe, die wir einzeln unterſuchen wollen, ob ſie geeignet ſcheinen, den Standpunkt der Gegenſchrift zu erſchüttern. 1. Der erſte Vorwurf (S. 276) iſt der ſchon erwähnte, daß der anonyme Autor auf dem mechaniſtiſchen Standpunkt ſtehe, während der teleologiſche der allein richtige ſei. Dieſer Vorwurf kann einfach als petitio principii zurückgewieſen werden. ) Vergl. meine „Darwin'ſche Theorie“, 2. Aufl. S. 16, 17 u. 21. %) Vergl. Augsb. Allg. Ztg. 1873. Nr. 1. Beilage. U 2. Der zweite Vorwurf (S. 279) tadelt, daß der anonyme Schriftſteller die Philoſophie des Unbewußten vom Stand— punkt der Descendenztheorie anzugreifen verkündige, in der That aber dieſes vom Standpunkt der Selektionstheorie thue, und ſomit nicht nur ſich einer Verwechſelung ſchuldig, ſondern auch einen ganz „in der Luft ſchwebenden“ Angriff mache; denn die Selektionstheorie ſei bekanntlich von der Philoſophie des Unbewußten ver— worfen und nur die Descendenztheorie anerkannt worden. — Alſo weil die Phi— loſophie des Unbewußten die Selektions— theorie nicht anerkennen will, iſt jede Kritik von dieſem Standpunkt aus „in der Luft ſchwebend?!! — Was aber die „Ver— wechſelung“ anbelangt, ſo iſt es durch— aus ſtatthaft die allgemeine Bezeichnung Descendenztheorie zu wählen, da die Se— lektionstheorie eine echte Descendenztheorie und zwar augenblicklich die anerkannteſte Descendenztheorie iſt, — namentlich iſt dies ſtatthaft, wenn man den Unterſchied? zwiſchen dem allgemeineren und dem ſpe— cielleren Begriff fo genau ſeſtſtellt, wie der Anonymus es gethan. Und dieſes Ver fahren nennt Hartmann (S. 280) „eine für den Standpunkt des Darwinismus typiſche Confuſion“! Solche „Confuſionen“, die bei gleichzeitiger ſchar— fer Begriffsbeſtimmung einen ſpecielleren Be— griff unter den allgemeineren ſubſummiren, kann man ſich ruhig als „typisch“ vor— werfen laſſen. Schlimmer dagegen ſind die Confuſionen, die man leider nur zu oft in den Schriften der Gegner entdeckt. Dieſelben richten ihre Angriffe angeblich immer gegen die „Darwin'ſche Theorie“ (einer ſogar gegen die „Darwin'ſchen Theo— rien“). Sieht man aber genauer zu, ſo wird man bald gewahr, daß ſie die Dar Literatür und Kritik. | win'ſche Seleftionstheorie oft nicht einmal kennen, ſondern gegen irgend eine beliebige andere Descendenztheorie, im beſten Falle gegen die Lamarck'ſche Anpaſſungstheorie, bisweilen aber auch nur gegen ſelbſtge— ſchaffene (und darum leicht zu bekämpfende) Windmühlen, polemiſiren. Einige Autoren ſind hierin ſo hartnäckig, daß ihnen das Betonen der reinen Darwin'ſchen Lehre als etwas ganz Neues erſcheint, und ſie ſich daher das gänzliche Schwinden ihrer Lieblingsangriffspunkte nicht anders als durch ein „Einlenken“ oder „Rück— zug“ des Gegners erklären können. So macht es z. B. Wigand auf der vor— letzten Seite ſeines bekannten Werkes, was in die Sach- und Literaturkenntniß, der ſein grauſamer dreibändiger Vernicht— ungskrieg gegen den Darwinismus den Urſprung verdankt, einen tiefen und einiger— maßen entſchuldigenden Einblick gewährt.“) Ein anderes und zwar ein ſehr erfreu— liches Beiſpiel von Verwechſelung lieferte jüngſt Prof. Teichmüller in Dorpat.“) Er unterſuchte nämlich die philoſophiſchen Principien „des Darwinismus“ und entdeckte dabei, daß derſelbe „als wiſ— ſenſchaftliche Theorie für ver— loren betrachtet werden müſſe.“ — Seinen Ausführungen muß man im Allgemeinen beiſtimmen; denn erſtens iſt die von ihm bekämpfte Theorie wirklich ) Dabei muß rühmend anerkannt wer— den, daß der Autor im 3. Bande ſich alle Mühe gegeben hat, die Literatur wenigſtens zum Theil kennen zu lernen. Wenn noch ein 4. und 5. Band in Ausſicht ſtänden, was leider nicht der Fall zu ſein ſcheint, da der Autor ſchon im 3. von uns Abſchied nimmt, ſo würde er ſich vielleicht allmälig noch zur vollen Beherrſchung des Stoffes aufſchwingen. ) Feſtrede zur Jahresfeier der Univer— ſität Dorpat. 12. Deebr. 1876. ‚ unhaltbar, — nur iſt nicht recht klar, war- um man ſie gerade „Darwinismus“ nennen ſoll, — und zweitens verkündet er S. 90 als Erſatz ſeine Theorie, die nicht nur eine Descendenztheorie iſt, ſon— dern auch durch hogiſche Unbeſtreit— barkeit imponirt. Wir würden nicht zögern, dieſe vortreffliche Theorie, die wir natürlich acceptiren, nach ihrem Verkündiger die Teichmüller'ſche Theorie zu nennen, — leider ſteht dem aber im Wege, daß ſie nicht ganz neu, ſondern nur ein wichtiger Faktor”) aus einer anderen Theorie iſt, die man bereits voreilig nach ihrem erſten Urheber die Darwin'ſche genannt hat. 3. Der dritte Vorwurf (S. 282) ſoll dem Anonymus daraus erwachſen, daß er S. 24 (2. Aufl.) die „natürliche Zucht— wahl“ die wirkende Urſache des Ueberganges genannt habe. Die „Aus— leſe im Kampf ums Daſein“ ſei aber niemals causa efficiens, ſondern nur ne— gative Bedingung, wie ſchon Wigand durch ſein vortreffliches Gleichniß des Mä— cenatenthums erläutert habe, und eine mit— wirkende Bedingung dürfe nicht mit der poſitiven causa efficiens des Vorganges verwechſelt werden. Der Vorwurf wäre ſchlagend, wenn er die Selektionstheorie irgendwie träfe. Die Natur ausleſe iſt ganz richtig keine causa effieiens, ſondern nur die negative Bedingung des Ueberlebens, welches die direkte Folge individueller Vor— theile iſt. Dieſe individuellen Vortheile ſind dagegen die poſitive causa efficiens des einmaligen Ueberlebens, und ſind ihrer— ſeits poſitiv verurſacht durch angeborene individuelle Variation, die wiederum direkte Folge ungleicher Vererbung der Merkmale ) Erklärung der angebornen individuellen Abweichung durch ungleiche Vererbung. Literatur und Kritik. iſt. Wer hat denn aber jemals dieſe po— ſitiven causge efficientes mit den nega— tiven Bedingungen der Naturausleſe ver— wechſelt? Der Anonymus nicht, und die Selektionstheorie auch nicht. In dem an— gezogenen Ausſpruch, der die „natürliche Zuchtwahl“ als die „Urſache des Ueber— ganges“ bezeichnet, iſt nämlich ſelbſtver— ſtändlich unter „Uebergang“ nicht etwa die individuelle Variation, ſondern das Reſul— tat der ganzen Naturzüchtung, alſo die Ausrüſtung verſtanden, und unter „natürliche Zuchtwahl“ nicht die einmalige einfache Naturausleſe, ſondern die ganze complicirte Natur züchtung,“) mit allen in ihr enthaltenen Faktoren, von denen einige als negative Bedingungen, andere als causae effieientes zu bezeichnen find, Die Behauptung, daß die Naturausleſe die individuelle Variation verurſache, wäre in der That mehr als eine Ver— wechſelung, ſie wäre ein Nonſens, der aber dem Anonymus grundloſer Weiſe unter— ſtellt wird. Wenn Wigand in abſo— luter Unkenntniß der Selektionstheorie ihr einen ſolchen Nonſens unterſtellt, und dann durch ſein vortreffliches Mäcenaten— gleichniß ſchlagend widerlegt, ſo läßt ſich das eben als Mißverſtändiß entſchul— digen. Hartmann aber mußte doch von ſeiner anonymen Zeit her den richtigen Sachverhalt noch im Gedächtniß haben, andernfalls hätte er die Gegenſchrift auf— ) Die Unterſcheidung zwiſchen Natur— ausleſe und Naturzüchtung wird Hartmann ſich ſchon bemühen müſſen in meiner „Dar— win'ſchen Theorie“ ſelbſt nachzuleſen, falls es ihn intereſſirt; die Unterſcheidung zwiſchen Ausrüſtung und Anpaſſung aber in meinen „Beiträgen zur Descendenztheorie“. Die ge— nauen Sachregiſter, deren ich mich befleißigt habe, erleichtern das Auffinden. 212 merkſamer ſtudiren ſollen, ehe er an ſeine eigene Widerlegung ging. S. 283 fährt Hartmann fort: „Die Urſachen ſind eine beſtimmt gerichtete Variation, welche gewiſſe Modificationen des Typus erzeugt, und eine Fortdauer dieſer Variationsrichtung in der Vererbung. Dieſe Urſachen ſind nach dem Eingeſtänd— niß des Darwinismus ſchlechthin unbekannte Faktoren.“ — Der zweite Satz klingt ganz ſo, als ob beide im Sinne des Darwinis— mus geſprochen ſeien. Dem iſt aber nicht ſo. Der erſte Satz enthält im Gegentheil eine ganz andere, eine teleologiſche Descendenztheorie, wie fie etwa Snell, Huber oder Hartmann formuliren würden, und von den in derſelben genann— ten zwei Urſachen, „beſtimmt (d. h. plan— mäßig) gerichtete Variation“ und „Ver— erbung“, weiſt der Darwinismus nur die erſte als einen ſchlechthin unbekann— ten Faktor zurück, acceptirt dagegen die zweite als eine wohlbekannte, em— piriſch conſtatirte Thatſache. An Stelle des erſtgenannten, „ſchlechthin unbekannten“ Faktors, mit dem nur die Teleologen ganz munter operiren, hat nun Darwin ſich erlaubt, zwei andere bekannte That— ſachen als Faktoren einzuführen: die an— geborene Ungleichheit der Indi— viduen und die Vertilgung durch feindlichen Einfluß. Wir haben jetzt ſtatt einer beſtimmt gerichteten Va— riation nach jeder Generation zahlreiche, verſchieden gerichtete individuelle Variationen, von denen erſt durch jedesmalige Ausjätung eine beſtimmte (aber nicht voraus beſtimmte, ſondern die augenblicklich paſ— ſendſte) Variation übrig bleibt. Das Reſultat iſt daſſelbe, nur daß die Teleo— logie einen unbekannten Faktor „Plan— mäßigkeit“ einführt, während der Darwi— Literatur und Kritik. nismus das rein mechaniſche Prin— cip der Selektion für ſeine Erklärung des Vorganges benutzt. Merkwürdig iſt, daß Hartmann in der ganzen Auslaſſung (S. 282 — 283) dieſes wichtigſte Princip des Darwinismus vollſtändig igno— rirt, während es ihm doch zur Zeit ſeiner anonymen ſchriftſtelleriſchen Thätig— keit ganz bekannt geweſen iſt. Darf man ſo ſeine eigenen Kenntniſſe verleugnen, nur um conſequent einen alten Standpunkt zu behaupten? Demſelben Motiv iſt wohl der Ausſpruch (S. 283) entſprungen: „Der Darwinismus habe nicht das Geringſte dazu gethan, um die Frage nach den Ur— ſachen der Typenumwandlung einer Ent— ſcheidung im Sinne der mechaniſtiſchen Welt— auffaſſung näher zu rücken, als ſie es vor ſeinem Auftreten war; .. . er habe dieſe Urſachen nicht erklärt, und ſie auch nicht als rein mechaniſches Princip enthüllt.“ Dieſer Behauptung gegenüber muß nochmals daran erinnert werden, daß die einzigen von der Selektionstheorie euthüllten Principien keine anderen ſind als Erb— lichkeit, Ungleichheit der Indivi— duen“!) und Vertilgung durchäußere Einflüſſe. Sind das nun nicht rein mechaniſche, oder ſind es etwa metaphyſiſche Principien? 4. Der vierte Vorwurf (S. 284 — 285) tadelt den Anonymus, daß er der Natur- wiſſenſchaft das Recht zuſpreche, jede meta— phyſiſche Aushilfe von der Hand zu weiſen, „denn die Prätenſion des Natur- forſchers, durch ſeine exakten Forſchungen in ) Auf welche Weiſe die angeborene Un— gleichheit der Individuen durch ungleiche Ver— erbung und dieſe durch den fortſchreitenden Stoffwechſel der Eltern verurſacht wird, habe ich ausführlich in meiner „Darw. Theorie“ 2. Aufl. S. 93—95 erörtert. der materiellen Grundlage der Welt die philoſophiſche Erklärung derſelben über— flüſſig machen zu können, ſei für den den— kenden Menſchen noch weit komiſcher als der Verſuch, die Wirkung der ſixtiniſchen Madonna naturwiſſenſchaftlich aus Farbſtoff, Lichtſtrahlung u. ſ. w. erklären zu wollen.“ Welcher Naturforſcher erhebt denn ſolche Prätenſionen, wie die geſchilderten? So viel mir bekannt, würde ein heutiger Natur- forſcher ſich der Aufgabe, die ſixtiniſche Madonna naturhiſtoriſch zu „erklären“, auf die Weiſe entledigen, „daß er die reli— giöſen und ethiſchen Ideen entwickelte, auf denen das Werk beruht, die culturhiſtori— ſchen Verhältniſſe, durch welche es bedingt iſt und die äſthetiſchen Begriffe, welche ſeine Wirkung auf das Gemüth des Be— ſchauers verſtändlich machen“, — alſo ge— rade ſo wie Hartmann es von einem Philoſophen erwartet, und Niemand würde ſagen, daß das keine Erklärung im Sinne der Naturwiſſenſchaften ſei; denn „religiöſe und ethiſche Ideen“, „culturhiſtoriſche und mythologiſche Verhältniſſe“, ebenſo wie „äſthetiſche Grundbegriffe“ ſind keine metaphyſiſchen Principien, ſondern der naturhiſtoriſchen Erforſchung und Er- klärung durchaus zugängliche Objekte, deren ſich die neuere Anthropologie und Pſycho— logie längſt bemächtigt hat. Speciell die Stellung des Darwinismus zu dieſen Fragen hätte Hartmann unter Ande— rem auch z. B. aus Carneri's „Sitt- lichkeit und Darwinismus, drei Bücher Ethik, Wien 1871“ erſehen können, einem Buch, das er nirgend berückſichtigt, geſchweige denn widerlegt hat. Ebenſo ſcheint Hartmann nicht be— merkt zu haben, daß ſeit bald 20 Jahren die Naturwiſſenſchaften ſich nicht mehr dar— Literatur und Kritik. 273 auf beſchränken, „exakte Forſchungen“ und Beſchreibungen zu liefern, ſondern im Gegentheil jo frei find, philoſophiſche Erklärungen zu ſuchen und zu finden, durch welche die von gewiſſen Philoſophen feſtgehaltenen metaphyſiſchen Aushülfen de facto überflüſſig geworden ſind. Philo— ſophiſche Erklärungen weiſen alſo die Naturforſcher nicht von der Hand, wohl aber metaphyſiſche. In dem ganzen Excurs von S. 283 bis S. 285 wirft Hartmann aber dieſe beiden grundver— ſchiedenen Begriffe unaufhörlich durch ein— ander und ſucht die Unentbehrlichkeit der metaphyſiſchen Erklärung durch die Unumgänglichkeit der philoſophiſchen Methode zu beweiſen. Solch ein qui pro quo iſt dem Anonymus wahrlich nie paſſirt, und ebenſowenig hat derſelbe ſich je einen ſo unmotivirten Analogieſchluß zu Schulden kommen zu laſſen, wie der S. 284 285 gezogene, der Menſch ſei eben— ſo gut ein Kunſtprodukt wie die ſixtiniſche Madonna, vom Menſchen als Mikrokosmus könne man getroſt auf den Makrokosmus ſchließen, folglich müſſe der Urheber der Welt ein Künſtlergeiſt ſein. Sollte man auf dieſem Wege logiſcher Analogie— ſchlüſſe nicht ebenſo gut ergründen können, daß der Urheber der Welt Raphael ge— heißen haben müße? Es liegt hier wiederum der bereits den Teleologen Bianconi, Wigand und Krönig vorgehaltene*) Fehler zu Grunde, der einem Philoſophen von Fach nicht widerfahren dürfte, Gleichniſſe für Beiſpiele auszugeben und die gewollte Zweckmäßigkeit der Induſtrismen mit der gewordenen Zweckmäßigkeit der Natur- produkte in einen Topf zu werfen. Un— bekannt konnte dieſer Fehler Hartmann 3 Vergl. m. „Beitr. z. Desc.“ S. 44. Kosmos, Band III. Heft 3. =——— nicht fein; denn als Anonymus hat er ihn nachdrücklich gerügt und vortrefflich zwiſchen den beiden auf ganz verſchiedenen Urſprung hinweiſenden Arten der Zweckmäßigkeit unterſchieden. 5. Eine fünfte ſcharfe Rüge erfährt der Anonymus S. 287 dafür, daß er an— geblich die Differenz des Unorganiſchen und Organiſchen durch ein bloßes „oder auch“ überſprungen und den Uebergang vom einen zum anderen durch Summation zahl— loſer unerheblicher Minimalſchritte habe „erſchleichen“ wollen. — Der Anonymus iſt aber von dieſer Beſchuldigung frei zu ſprechen; denn wenn man die incriminirte Stelle (S. 39 d. 2. Aufl.) nachlieſt, ſo gewahrt man mit Erſtaunen, daß das ver— dächtigte „oder auch“ gar nicht vom Un— organiſchen zum Organiſchen hinüber führt, ſondern blos zwiſchen „vorüber— gehender Annäherung der organiſchen Materie an die organiſche Form“ und „vorübergehendem Eintritt in dieſelbe“ vermittelt. Bon unorganiſcher Materie iſt in dem ganzen Satze nicht einmal die Rede, und die „minimalen Schritte“ verhelfen den vorgebildeten organiſchen Ver— bindungen zu organiſcher Form. Bei einer noch jo rigoroſen Selbſtkritik bleibt es immer wünſchenswerth, daß man ſich nicht Vergehen zur Laſt lege, die man gar nicht begangen hat, — der platoniſche Dialog artet ſonſt zu leicht in tendenziöſe Spiegelfechterei aus. Bei Gelegenheit der Frage, ob man die generatio aequivoca durch Summa— tion minimaler Schritte erklären dürfe, hätte Hartmann mit Nutzen G. Jaeger's betreffende Theorie“) ſtudiren könnnen. Statt deſſen findet man dieſelbe nirgends von Eine kurze Zuſammenfaſſung derſelben iſt auch in meiner „Darw. Theorie“ gegeben. Literatur und Kritik. ihm auch nur erwähnt, geſchweige denn widerlegt. 6. Der Anonymus ſoll ſich auch S. 40 (der 2. Aufl.) der „bei dem Darwinismus ebenſo wie bei dem älteren Materialismus ſtereotyp wiederkehrenden“ Verwechſelung von negativer Bedingung und po— ſitiven Urſachen ſchuldig gemacht haben, indem er nur die Möglichkeit der Ent— ſtehung der erſten Organismen aus unor— ganiſchen Kräften ohne metaphyſiſche Nach— hülfe — gezeigt, nicht aber poſitive Urſachen für dieſen Vorgang angegeben habe (S. 287). — Hier iſt es wiederum zu bedauern, daß nicht G. Jaeger's aus— führlichere Theorie der Generatio aequi- voca zum Gegenſtande der Kritik gemacht worden iſt. Da hätte man doch erfahren, ob die in derſelben verwertheten treibenden Urſachen, nämlich Wärme, Feuchtig— keit, Elektricität, chemiſche Wahl— verwandtſchaft, am Ende auch nur „negative Bedingungen“ ſind. Wenn die „ftereotype Verwechſelung“ des Darwinismus und Materialismus darin beſteht, die Eigenſchaften der Dinge als pofitive Urſache ihrer Wirkung auf einander und des erfolgenden Reſultates zu betrachten, ſo kann man ſich auch dieſen Vorwurf ſchon gefallen laſſen. 7. Auf S. 42 (der 2. Aufl.) ſagt der Anonymus, jede Funktion jet phylo— genetiſch früher da, ehe das ihr jpecifiich dienende Organ ſich entwickelt, was weſent— lich dazu beitrage, viele Räthſel (in Bezug auf die erſte Anlage von Organen) auf mechaniſchem Wege (mittelſt der Selektions— theorie) zu löſen. Hiergegen glaubt Hart— mann S. 288 erinnern zu müſſen, daß eine Funktion, die früher als ihr Organ vorhanden iſt, nicht aus dieſem Organ ab— geleitet werden dürfe; denn das Prius rr. nn. Literatur und Kritik. könne nie durch das Poſterius cauſal erklärt werden. — Das iſt unzweifelhaft richtig und darum eben ſuchen die Naturforſcher ſtets das Spätere durch das Frühere cauſal zu erklären: die causae finales über⸗ laſſen wir gern den Teleologen. Auch der Anonymus iſt dieſem Grundſatz treu ge— blieben; denn er will ja gerade die ſpätere Ausbildung eines ſpecifiſchen Organes durch die früher vorhandene Funktion erklären, — und nicht umgekehrt. 8. Zum achten Vorwurf giebt der Anonymus dadurch Veranlaſſung, daß er S. 42 (der 2. Aufl.) die Entwickelung aller ſpecifiſchen Dispoſitionen und Organe aus den Fähigkeiten des Protoplasmas (in Folge von Arbeitstheilung und Vervoll— kommnung durch Naturzüchtung) ableitet. — „Hier ſei die mechaniſche Vermittelung mit dem ſchöpferiſchen Princip ()) verwechſelt“, meint Hartmann S. 288; „denn letztere bedürfe zwar einer materiellen Baſis und finde dieſelbe im Protoplasma, das noch tabula rasa ſei; aber je leerer die Tafel, deſto weniger könne die Funk— tion des Schreibens () und die Schrift— züge aus der Beſchaffenheit der Tafel (!) erklärt werden, deſto mehr be- dürfe es dazu der Annahme eines Schrei— bers.“ — Mit ſolch unverblümter peti— tio prineipii und mit ſolchen, durch ein bloßes Wortſpiel („tabula rasa“) herbei— gezogenen, ſonſt in keiner Hinſicht paſſenden Gleichniſſen beweiſt man wahrlich Nichts. 9. „Es ſei ein Irrthum, meint Hartz | mann S. 289, daß die Aufzeigung der allmäligen mechaniſchen Vermittelung des zweckmäßigen Reſultats irgend etwas gegen | nicht beſſer poltern, — ein Beweis, daß ſeinen teleologiſchen Charakter beweiſe.“ — „Beweiſen“ läßt ſich zwar überhaupt Nichts gegen die teleologiſche Auffaſſung, ſelbſt gegen ihre naivſte Regen ſchickende und Haare zählende Form nicht, weil ſie eben Glaubensſache iſt, — aber über- flüſſig läßt fie ſich machen und aus— ſchließen kann man ‚fie aus wiſſen— ſchaftlichen Betrachtungen. Kant's Satz, daß der Mechanismus allein die einzige wirkliche Erklärung liefere, und die einfache logiſche Conſequenz, mit einer wirklichen und richtigen Er- klärung auch befriedigt zu ſein, ſind bei denkenden Menſchen bereits zu ſehr zur Geltung gelangt, um jetzt noch durch die Philoſophie des Unbewußten fortdisputirt werden zu können. 10. Einen verhältnißmäßig nur kleinen Putzer bekommt der Anonymus S. 295 dafür, daß er S. 63 (der 2. Aufl.) „ſtillſchweigend die Unmöglichkeit voraus— ſetzt, daß die irdiſche Entwickelung jemals in den Strom einer Entwickelung von höherer Individualitätsſtufe einmünden und in letzterer aufgehobenes Moment werden könne. Die Unmöglichkeit ſei aber nicht unglaublicher, als es vor 100 Jahren die Telegraphie und die Spektral— analyſe waren.“ — Das klingt ja faſt, als ob es uns gemahnen ſolle, es nicht für „unglaublich“ zu halten, wenn wir Hart— mann nächſtens unter den Spiritiſten | jehen. Dieſer Erinnerung bedarf es übri— gens kaum. Auch S. 267 wird ja der Geiſterklopferei geradezu das Wort geredet, als einer „heilſamen Reaktion (sic!) gegen die epidemiſche, durch die blendende Neuheit des Darwinismus unter— ſtützte Anſteckungskraft des Un— glaubens an den Geiſt“ (sch) *) Man könnte von der Kanzel herab mein Urtheil (Darw. Th. 2. Aufl. S. 242) über Hartmanns Verwandtſchaft mit den Dunkelmännern nicht falſch war. 276 Erwähnt mag hier noch werden, daß ebenda S. 268 der zeitgemäßen Verur— theilung des „Materialismus“ wieder einmal mit einer gründlichen Verquickung vonpraktiſchemundphiloſophiſchem Idealismus reſp. Materialismus nachge— holfen wird). Doch find wic an dieſes Manöver ſeitens der philoſophiſchen Idealiſten **) zu ſehr gewöhnt, um uns dar— über zu wundern. Dagegen iſt ein anderes qui pro quo neu und verdient hervorge— hoben zu werden Hartmann ſagt S. 268, um zu zeigen, daß die materia- ) Ueber die ſcharfe und nachdrückliche Unterſcheidung dieſer grundverſchiedenen Begriffe, die der Anonymus ſeiner Zeit vor— nahm, verlautet hier nichts, noch weniger wird dieſelbe als falſch nachgewieſen. Literatur und Kritik. praktiſch mit dem Herzen als Ideale feſt— i | liſtiſchen Philoſophen und die Na— turforſcher“) dem praktiſchen Ma— terialismus verfallen müſſen: „Es iſt widerſinnig, Ideen, die der Verſtand als Illuſionen durchſchaut zu haben glaubt, doch halten zu wollen, als ob ſie nicht Illuſio— nen, ſondern Wahrheit wären.“ Man lernt doch immer etwas zu! Ich hatte bisher gemeint, es wären Idealiſten geweſen, welche die Entdeckung machten, daß ihre Ideen und Vorſtellungen reine ) Das nachdrücklichſte und geſchickteſte Beiſpiel dieſer Taktik lieferte jüngſt mit gutem Erfolge Profeſſor Huber. ſchüre: „Die ethiſche Frage“ München 1875 (zuerſt in der Augsb. Allg. Z. 1875 Nr. 23—25 erſchienen) zeigte er ſchlagend, wohin die Tendenzen des „Materialismus“ und „Darwinismus“ zielen, daß ſie nichts Anderes im Schilde führen, als die Menſch— heit ihrer Ideale zu berauben und damit eine allgemeine Zerſtörung von Cultur und Geſittung einzuleiten. Wäh- rend einſt Zöckler ähnliche Beſchuldigungen ohne nähere Motivirung ausſprach (worauf ich, Darw. Th. 2. Aufl. S. 249, geantwortet habe) unternimmt es Huber, Alles das mit wörtlichenſeitenlangen Citaten zu be— legen, aus denen der empörendſte Cynismus ſo nackt und ſchroff hervortritt, daß die Ur— heber und Verbreiter ſolcher Lebensanſchau— ungen unzweifelhaft als höchſt kulturfeindliche, gefährliche Menſchen gebrandmarkt daſtehen. Huber hat nur zu ſagen vergeſſen, daß dieſe Citate nur den praktiſchen Materia— lismus betreffen, mit dem philoſophiſchen aber ebenſowenig zu thun haben wie mit dem Darwinismus, daß ſie auch gar nicht von Vertretern des philoſophiſchen Materialismus In feiner Bro- Illuſionen ſeien, denen nicht die Spur einer oder des Darwinismus herrühren, ſondern vielmehr von Leuten, die den Darwinismus nicht einmal kannten (Moleſchott, Mathilde Reichard, Schuricht), da ihre Schriften früheren Datums ſind. Durch das Verſchweigen dieſes ziemlich wichtigen Thatbeſtandes wird dem unbefangenen Leſer, der es verabſäumt auf die Jahreszahlen zu achten, der Irrthum nahe gelegt, es ſeien die Vertreter der heutigen materialiſtiſchen und darwiniſtiſchen Philoſophie, gegen die ja die Broſchüre theilweis gerichtet iſt, nun auch wirklich Urheber oder mindeſtens An hän⸗ ger jenen eitirten cyniſchen Anſchauungen. Einem Irrthum ſollte man lieber vorbeugen als Vorſchub leiſten. Ebenſo iſt die Taktik Hubers, daß er die Beſtrebungungen eines Carneri, Reuſchle, Dulk, Wundt, Zöllner u. ſ. w. (vergl. m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 5— 10 u. S. 188-194), — die gerade darauf ausgehen, Sittlichkeit, Tugend, Rechtsgefühl, Nächſtenliebe, Pflichttreue, Pa— triotismus u. ſ. w. als höchſte Errungen— ſchaften der Menſchheit durch die Dar— win'ſche Theorie zu erklären und zu ſtützen, — einfach ignorirt, wohl nur darauf zurück— zuführen, daß die Broſchüre eben das Gegen— theil beweiſen ſollte. Sie iſt daher praktiſch, aber nicht ethiſch zu nennen. Doch der Zweck heiligt das Mittel! ) Auch dieſe zwei Begriffe werden von Hartmann immerfort durcheinander ge— worfen. Literatur und Kritik. wahrhaftigen realen Welt zu Grunde liege, während die Materialiſten im Gegen— theil für die Realität ihrer Ideen und Vorſtellungen eingetreten ſeien, da dieſelben durch ſinnliche Wahrnehmungen vermittelſt des Denkorganes vollbrachte Abſtraktio— nen einer wirklichen realen Welt und daher ebenſo wie die aus den Ideen entſprungenen Ideale keine bloßen Illu— ſionen, ſondern reine Wahrheit wären. Wie man ſich doch täuſchen kann, wenn man kein Philoſoph, ſonden ein einfacher Naturforſcher iſt! 11. Bei der Erklärung der erſten Anfänge einer neuen Funktion wirft Hartmann S. 324 dem Anonymus vor, über das eigentliche Problem mit dem ſcheinbar harmloſen Satz „iſt aber ein ſolcher Verſuch erſt ein Mal gelungen“, — hinweggeſchlüpft zu fein. Wir können die Abſichten des Anonymus natürlich nicht ſo gut beurtheilen als Hartmann, haben aber ſ. Z. gemeint, er drücke ſich an der betreffenden Stelle ſo kurz aus, nicht um „hinüber zu ſchlüpfen“, ſondern um ſich ſtillſchweigend auf die genugſam bekannte Anſicht der Darwin'ſchen Theorie zu ſtützen, daß beiſſogenannter Neubildung einer Funktion niemals von wirklicher Neubildung die Rede ſei, ſondern ſtets von einer Umbildung, von einem Funk— tionswechſel.“) Der erſte minimale Schritt zu ſolchem Funktionswechſel, ebenſo wie ſein ſpäterer Zuwachs (bei jeder Genera— tion progreſſiver Naturzüchtung) fällt ins Bereich der ungleichen Vererbung, iſt alſo materiell — cauſal begründet. 12. Die ſocialen Inſtinkte der ) Einer ausführlichen Auseinanderſetz⸗ ung kann ich mich hier enthalten, indem ich auf meine Beiträge zur Descendenztheorie. S. 167 verweiſe. geſchlechtsloſen Individuen der geſelligen Inſekten ſeien durch die Selektionstheorie nicht erklärbar, meint Hartmann S. 340, weil hier alle Individuen, die der Ein— wirkung der Gewohnheit unterworfen ſind, nicht an der Fortpflanzung theilnehmen, alſo auch ihre erworbenen Prädispoſi— tionen nicht vererben können. Ganz recht! Eine Vererbung erwor— bener Fertigkeiten iſt hier in der That völlig ausgeſchloſſen, nicht aber eine Selektion angeborener (in der Königin jedesmal latent bleibender) Fertigkeiten. Es iſt dieſes Beiſpiel einer der ſchlagend— ſten Beweiſe für die Darwin 'ſche Selek— tionstheorie und gegen die Lamarck'— ſche Anpaſſungstheorie und daher auch von mir längſt in dieſem Sinne Haeckel gegen— über verwerthet *). Dies ſind, ſo weit ich finden kann, die 12 hauptſächlichſten Angriffe, durch welche die Stellung des Anonymus als unhaltbar nachgewieſen ſein ſoll. Die übrigen Anmerkungen les find ihrer im Ganzen 260) betreffen theils untergeordnete Neben— ſachen, theils wiederholen ſie blos das Thema: „Nachweis der mechaniſchen Ver— mittelung ſchließt die Möglichkeit teleologiſch— metaphyſiſcher Eingriffe nicht aus.“ Jedenfalls iſt der Verſuch, ſeinen anonym eingenommenen Standpunkt nachträglich als „falſch“ zu discreditiren, Hartmann ſchlecht gelungen. Dann folgt S. 365— 406 die Pole— mik gegen O. Schmidt, die ein merk— würdiges Gemiſch von Recht und Unrecht darſtellt. Recht hat Hartmann z. B. ent⸗ ſchieden S. 366, wo er Schmidt vor— ) Vergl. m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 146. I 3 278 wirft, die Zweckmäßigkeit rundweg läugnen zu wollen, und nicht wenigſtens die ge ſcheiden will, während doch jede Erklärung wordene im Sinne der Selektionstheorie zu acceptiren. Ferner S. 378, wo er Schmidt's Kritik eine zu gereizte nennt.“) Auch wo er ſich dagegen ver— wahrt, G. Carus als Autorität reſp. als Quelle benutzt zu haben. Ferner dürfte Hartmann in dem Discurs über die enthirnten Fröſche (S. 390-392), über die Weinbergſchnecke und die Hundeeſſer (S. 394), über die zerſchnittenen Inſekten (S. 394 395), über die fleiſchfreſſende Pflanze Dionaea (S. 399 — 401), über die geköpften Heuſchrecken (S. 401-403) und über die Hydra (S. 403404) zum Theil Recht haben. Unrecht dagegen hat Hartmann z. B. ©. 367 (auch S. 371374), wo er ſich aufs hohe Pferd ſchwingt und nur teleologiſch-metaphyſiſche Erklärungen als echte philoſophiſche gelten laſſen will, während Schmidt ganz richtig, wie wir ſeit Kant gewohnt ſind, nur die mecha— niſche als wirklich befriedigende und ſomit echt philoſophiſche Erklärung betrach— tet. Ferner S. 369 — 370, wo es heißt, der Darwinismus menge in die natur— wiſſenſchaftliche Erklärung teleologiſche Ge— ſichtspunkte, weil die Utilität eine unter— geordnete Form der Teleologie ſei, — als ob die auf gewordener naturhiſto— riſcher Zweckmäßigkeit beruhende Utilität irgend etwas mit der gewollten teleo— logiſchen Zweckmäßigkeit zu ſchaffen hätte!“) Dann hat Hartmann S. 370 ) Beiläufig bemerkt iſt aber Hartmanns Antikritik noch um Vieles reicher an perſön- lichen Ausfällen und an ungehörigen Verun- glimpfungen, z. B. S. 381—382. % Der Anonymus hatte das ſo klar und präciſe aus einander gehalten! Literatur und Kritik. Unrecht, wo er zwiſchen naturphiloſophiſcher und naturwiſſenſchaftlicher Erklärung unter— eo ipso ein philoſophiſcher Akt iſt. Haeckel hat das in ſeiner generellen Morphologie vortrefflich auseinander geſetzt, hätte alſo widerlegt, aber nicht ſtillſchwei— gend übergangen werden ſollen. Ebenſo iſt Hartmann S. 377 im Unrecht; denn Schmidt's „Proteſte“ ſind z. Th. ſehr gegründet, wenn auch zugegeben werden muß, ſie hätten vielleicht noch beſſer be— gründet werden können. — S. 382 nennt Hartmann den Od- Reichenbach einen „anerkannten Naturforſcher“. Sollte dieſe Aeußerung nicht auf irgend einer Namensverwechſelung beruhen? Der (ver- ſtorbene) Od- Reichenbach iſt mir nie als Naturforſcher bekannt geworden.“) Pſychologiſch beurtheilt, iſt er dadurch zu entſchuldigen, daß er mehr von Anderen getäuſcht wurde, als er Andere abſicht— lich täuſchen wollte; immerhin aber über— nahm er durch die Publication die Verant— wortung für den von ihm inaugurirten Od-Schwindel. Das genügt aber nicht, um den Namen „Naturforſcher“ zu ver— dienen. Oder ſollte in Hartmanns Augen die famoſe, wenn ich nicht irre, in Prag erſchienene „Pſyche, Zeitſchrift für Odwiſſenſchaft und Geiſter— kunde“ auch kein Schwindel, ſondern am Ende gar ein „anerkanntes naturwiſſen— ſchaftliches Journal“ geweſen ſein? — Un— recht hat Hartmann ferner S. 395 — 397, wo er feine Cruſtaceen-Abſtamm— ung der Fiſche zu beſchönigen und zu ent— ſchuldigen ſucht, ſtatt ſie einfach ſogleich als ) Als Chemiker, namentlich wegen ſeiner Theer-Unterſuchungen anfänglich von Ber— zelius und Liebig anerkannt, iſt er nach— her von Letzterem zurückgewieſen worden. Red. 8 lapsus calami*) einzugeſtehen und die Seite zu ſparen. Das größte Unrecht endlich begeht Hartmann am Schluß S. 405 — 406, wo er triumphirend ausruft: „Wenn das von Schmidt Vorgebrachte Alles oder auch nur das Wichtigſte von dem iſt, was gegen die naturwiſſenſchaftlichen Grundlagen der Philoſophie des Unbewußten von fach— männiſcher Seite vorgebracht werden kann, ſo müſſen dieſelben ſich einer nahezu un— antaſtbaren Solidität erfreuen. Dieſe erſte ausführliche Kritik der Philoſophie des Unbewußten aus der Feder eines wirk— lichen Naturforſchers iſt ein trauriges testimonium paupertatis für die ge— ſammte heutige Vertreterſchaft der Natur— wiſſenſchaft und eine dringende Aufforder— ung, die erlittene Scharte ſo bald als möglich auszuwetzen d. h. zu den zeit- bewegenden Problemen der Philoſophie eine minder unfähige Stellung zu gewinnen.“ Gegen den erſten dieſer zwei Sätze iſt zu erinnern, daß die Naturwiſſenſchaft es als ſelbſtverſtändlich betrachtet, wenn Grund— lagen (alſo Thatſachen), die man ihr ent— lehnt, ſofern man ſie nur richtig entlehnt, ſich einer unantaſtbaren Solidität erfreuen. Ob aber jedes auf dieſen Grund— lagen errichtete Gebäude ebenfalls ſolid ſei, iſt eine ganz andere Frage, die in Bezug auf die Philoſophie des Unbewußten ent ſchieden zu verneinen iſt. Mit dem Nach— weis, daß die Prämiſſen richtige ſind, iſt für die Richtigkeit der Schlußfolgerungen noch Nichts bewieſen. Wohl aber iſt das Gegentheil nachgewieſen worden, nämlich daß die Philoſophie des Unbewuß— ten aus den richtigſten naturhiſtoriſchen Prämiſſen falſche Theorien aufbaut und 99 Aufmerksam habe ich auf denſelben ſchon 1870 a. a. O. S. 171 gemacht. . Literatur und Kritik. 279 zwar hat das der Anonymus in dankens— werther Ausführlichkeit nachgewieſen. Ob derſelbe ein „wirklicher Naturforſcher“ war, iſt ganz gleichgültig. Durch ſeine erſchöpfende Kritikwaren und ſind die „wirklichen Na— turforſcher“ ähnlicher ausführlicher Müh— waltung jedenfalls enthoben; denn nachdem er alle Fehler der falſchen Rechnung aufge— deckt (was ihm, wie wir jetzt wiſſen, beſſer gelingen mußte, als jedem Anderen) iſt Alles geſchehen was zu wünſchen war. Es wird ſich daher jetzt wohl kaum Jemand dazu finden, gegen die bereits abgethane Philoſophie des Unbewußten nochmals auf— zutreten, blos um dem glücklichen Autor nicht den Ruhm zu laſſen, die beſte Kritik ſeiner Philoſophie ſelbſt geliefert zu haben. Dieſer Ruhm ſoll ihm nicht ſtreitig gemacht werden; denn es war gewiß eine feine ſtrategiſche Maßregel, durch eine erſchöpfende Kritik allen anderen vorzubeugen und nachher zu triumphiren, man habe keine anderen Angriffe erfahren. Weniger fein dagegen iſt es, den Umſtand, daß das Urtheil der Naturforſcher ſich auf Zu— ſtimmung zur anonymen Kritik oder auf Schweigen beſchränkte, für „Unfähig— keit“ und für eine „Scharte“ zu er⸗ klären. Das Maß dieſer Grobheit (sit venia verbo) wird nur übertroffen von der Selbftüberhebung *), mit welcher die Erfindung des Unbewußten ein „zeit— bewegendes Problem“ genannt wird. Daß man auch aus anderen Gründen als aus Unfähigkeit ſchweigen könne, z. B. weil man einer Sache nur geringe oder ephe— Beide Mittel ſind nicht gerade zweck— mäßig gewählt zur Herbeiführung der S. 18 angekündigten Verſöhnung zwiſchen Natur— wiſſenſchaft und Philoſophie: denn es giebt Wenige, die ſich durch ſolch' rauhe Schale angezogen fühlen, dem Kern objectiv gerecht zu werden. 280 Literatur und Kritik. en mere Bedeutung zuſchreibt, iſt dem Autor der welterſchütternden Philoſophie des Un— bewußten natürlich nicht in den Sinn ge— kommen. Uebrigens haben nicht einmal alle Na— turforſcher geſchwiegen. Abgeſehen von Stiebeling's ausführlicher Zurückweiſ— ung, (die durchaus nicht in allen Punkten ſo mißrathen war, wie in der Inſtinkt— frage) iſt kurze Kritik einzelner Irrthümer der Philoſophie des Unbewußten gelegent— lich mehrfach geübt worden.“) Die Ver— lagshandlung verſteht es ja ſo vortrefflich, die „öffentlichen Urtheile“ zu ſam— meln und zu verwerthen, ſofern ſie Lob ſpenden. Sollten ihr die tadelnden gänz— lich entgangen ſein? Was Hartmann's Schrift „Wahr— heit und Irrthum des Darwinismus“ be- trifft, ſo ſind die darin enthaltenen Angriffe gegen die Selektionstheorie ſchon ſo oft vorgebracht und zurückgewieſen worden, daß man nunmehr aufhören kann, ſie bei jedem neuen Vorbringer aufs Neue abzuſchlachten. Zu einer wiederholten Verarbeitung faſt aller aufgeworfenen Einwände hatte ſich ohnehin jüngſt eine willkommene Gelegen— heit geboten!“), bei der gerade die Teleo— logie (die ja die einzige Differenz zwiſchen Hartmann und uns bildet) ausführlich ihre Rechnung gefunden hat. Einem un— parteiiſchen Leſer dürfte es daher nicht ſchwer fallen, die Wahrheit und den Irr— thum des Darwinismus gegen die ent— ſprechenden Beſitzthümer der Gegner abzu— wägen. ) Vergl. z. B. m. Darw. TA. 1. Aufl. S. 190, 191, 195—196, 211, und 2. Aufl. S. 18, 242, 244, und Beitr. z. Desc. S. 53 u. 166. ) Vergl. Baer u. d. Darw. Theorie in m. Beitr. z. Descendenz-Th. Leipzig. 1876. Zwei neue Schriften über Goethe's Verhältniß zur Evolutions-Theorie. J. Goethe ein Gegner der Des— cendenz-Theorie. Eine Streit— ſchrift gegen Ernſt Haeckel von J. Th. Cattie, Docent der Zoologie und Botanik an der Realſchule zu Arnheim. — Utrecht 1877. J. L. Beijers. II. Goethe's Verhältniß zur Na— turwiſſenſchaft und feine Bedeut- ung in derſelben. Nebſt einigen bis— her ungedruckten Fragmenten von Goethe. Von Dr. S. Kaliſcher. (Separat-Abdruck aus dem 33. Bande der Hempel'ſchen Goethe-Ausgabe.) Berlin 1878. Guſtav Hempel (Bern— ſtein u. Frank). Sehr bald nach dem Erſcheinen des grundlegenden Darwin'ſchen Werkes machten ſich einzelne Stimmen vernehmbar, welche darauf hinwieſen, daß Goethe im Großen und Ganzen die Natur mit ganz ähnlichen Augen angeſchaut habe wie Lamarck und Darwin, daß er zumal die Entwickelung der höheren Lebensformen aus den niederen mit aller möglichen Beſtimmtheit verkündet habe. Der Erſte, welcher darauf hinwies, war wohl Dr. H. Meding in einer 1861 erſchienenen kleinen Schrift: „Goethe als Naturforſcher in Beziehung zur Gegenwart.“ Eine eingehendere Vergleichung der Goethe'- 1 ſchen mit der Darwin'ſchen Naturauffaſſung veröffentlichte ſodann ein franzöſiſcher Schrift— ſteller E. Caro in einer Arbeit, die zu— erſt in der Revue des deux mondes (Novemb. 1865) und im Jahr darauf als beſonderes Werk in erweiterter Geſtalt (La Philosophie de Goethe) erſchien. Zur ſelben Zeit hatte auch Haeckel in ſeiner 1866 erſchienenen „Generellen Morpho— Vorgänger Darwin's hingeſtellt, und ſpä— Literatur und Kritik. ter in ſeiner Schöpfungsgeſchichte an ver- ſchiedenen Ausſprüchen Goethe's dargethan, daß dem großen Dichter eine ähnliche Welt— anſchauung ſich erſchloſſen hatte, wie dem großen britiſchen Naturforſcher. Wenn ſich gegen dieſe Auffaſſung Literarhiſtoriker und fromme Patrioten ge- wendet hätten, ſo würde man ſich nicht weiter gewundert haben, denn dieſe hätten vielleicht ein wirkliches Herzensintereſſe ge— habt, Goethe wegen einer ähnlichen Vor— gängerſchaft in Schutz zu nehmen und bei dem Mangel an völliger Uebereinſtimmung in den Aeußerungen des tiefblickenden Dich— ters hätten ſie genug Ausſicht gehabt, die Sache in den Augen ihrer Parteigänger ſiegreich durchzufechten. Merkwürdiger Weiſe indeſſen rührt die anſehnliche Reihe von Proteſten, die gegen Haeckel's Deutung der Goethe'ſchen Naturanſchauung in Journalen und ſelbſtſtändigen Schriften eingelegt worden iſt, von lauter Anhängern Darwin's her, als ob letzterem ein Zu— ſammentreffen mit den Anſichten eines der erhabenſten Geiſter aller Zeiten zum Nach— theil gereichen könnte. Osc. Schmidt, Carl Semper, Robby Koſſmann, O. Zacharias, Th. Cattie und andere Gegner Haeckel's in der erwähnten Frage, ſchienen als gleichzeitige Anhänger, Kenner und Bewunderer Darwin's und Goe— the's gewiß vorzugsweiſe befähigt, in dieſer Frage ein gerechtes Urtheil abzugeben, und es wird uns ſchwer werden, zu verſtehen, weshalb ſie dennoch nicht das Richtige ge— troffen haben. Die Erklärung liegt darin, daß jeder einzelne der meiſt aphoriſtiſchen Ausſprüche Goethe's für ſich betrachtet, allerdings verſchiedene Auslegungen zulaſſen mag. Die * „ logie“ Goethe neben Lamarck als einen bilderreiche Sprache eines Dichters iſt eben nicht die exakte eines Naturforſchers; an eine ſtrenge Terminologie nicht gewöhnt, braucht ſie daſſelbe Wort zu andern Zeiten in einem ganz verſchiedenen Sinne, und wenn man nun die zweite Anwendungsart in den erſten Satz einſchiebt, iſt es leicht, dieſem einen vielleicht ganz entgegengeſetzten Sinn beizulegen. Als Oscar Schmidt in ſeiner Schrift: „War Goethe ein Dar— winianer?“ dieſe Frage mit Nein! beant— wortete, ging er hauptſächlich von der An— ſicht aus, daß Goethe, wo er von den Umwandlungen, Entwickelungen u. ſ. w. eines Typus ſpricht, damit nur die Wand— lungen der Idee und des Bauplanes ge— meint habe, der verſchiedenen Thier- und Pflanzenformen zu Grunde liegend ge— dacht werden könne. Wir werden aber nachher ſehen, daß Goethe in aller Wirklichkeit die Entwickelung höherer Formen aus niedriger ſtehenden in Er— wägung gezogen hat, und O. Schmidt hat dies auch nachträglich (Deutſche Rund— ſchau, April 1876) ausdrücklich zugegeben, wobei er aber bei der Meinung verharrt, Goethe habe eine ſolche Auffaſſung ab— gelehnt. Unbedenklich darf den Gegnern ſo viel zugegeben werden, daß Goethe weder die Lamarck'ſchen noch die Darwin'ſchen An— ſichten in aller Schärfe getheilt oder vor— weg genommen habe, allein das iſt auch nie behauptet worden. Wenn man aber das ganze Dichten und Trachten Goethe's um das Verſtändniß der lebenden Natur ins Auge faßt, wenn man nicht die einzel— nen Worte, an denen ſich deuteln läßt, ſondern die Geſammtrichtung ſeines Stre— bens zum Ausgangspunkte der Beurtheil— ung nimmt, ſo wird es trotz der Dunkel— heit mancher Ausdrücke und trotz der ſo Kosmos, Band III. Heft 3. zur baaren Unmöglichkeit, die evolutioniſti— ſchen Tendenzen der Goethe'ſchen Naturan— ſchauung zu verkennen. Dennoch kommt Cattie in ſeiner oben erwähnten Schrift, gerade wie vor ihm Semper und Koſſmann, zu dem mit fettem Druck hervorgehobenen End— urtheil, daß Goethe ein Anhänger des Dogmas von der Conſtanz der Arten geweſen ſei. „Aus den oben entwickelten Gründen,“ ſagt Cattie, „glaube ich feſt und ſicher behaupten zu können, daß Goethe nicht Mitbegrün— der der Descendenz-Theorie, ſondern vielmehr ein Gegner derſelben geweſen iſt.“ Ref. bekennt ſich abſolut unfähig, derartige Ver— irrungen der Kritik zu verſtehen; derſelbe Denker, der nicht müde geworden iſt, über das Conſtanz-Dogma zu fpötteln, der die endliche Erſchütterung deſſelben durch Etienne Geoffroy de St. Hilaire als ein Ereigniß begrüßt hat, gegen wel— ches er die Juli- Revolution für Bagatelle erklärte, derſelbe Mann ſoll nun zu einem Anhänger des Conſtanz-Dogmas gemacht werden! Die Beweisführung Cattie's für dieſe horrible Entdeckung iſt ſo heiter, daß ſie uns die Trauerfeierlichkeit an dem Grabe des geſunden Menſchenverſtandes überwinden helfen mag, ſie lautet in Kürze folgendermaßen: Goethe hatte unter dem Titel „Probleme“ einige Aphorismen hin— geworfen, unter denen ſich auch folgende Bemerkung befindet: „Die Idee der Me— tamorphoſe iſt eine höchſt ehrwürdige, aber zugleich auch höchſt gefährliche Gabe von oben. Sie führt ins Formloſe, zerſtört das Wiſſen, löſt es auf. Sie iſt gleich der vis cen— trifuga und würde ſich ins Unendliche ver— lieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zu— gegeben, ich meine den Specificationstrieb, Literatur und Kritik. erklärlichen Schiefheit mancher Aufſtellungen das zähe Beharrungsvermögen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine vis centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlichkeit etwas anhaben kann.“ Man wird Haeckel zugeben müſſen, daß dieſe Worte einen tiefen Sinn erhalten, wenn man die Metamorphoſe oder vis centrifuga — Variationstrieb oder An— paſſung, d. h. Umwandlungstendenz im Allgemeinen, den Specificationstrieb oder die vis centripeta —= Vererbungstendenz (Beharrungsvermögen des Gewordenen) ſetzt, und daß ſie einen andern Sinn nicht leicht haben können. Das Manuſcript, welches außer dieſem Satze noch anderes Aehnliches enthielt, ſandee Goethe an den Profeſſor der Botanik Ernſt Meyer in Königsberg, zu welchem er, ohne ihn perſönlich zu kennen, eine lebhafte Zuneig— ung empfand, mit der Bitte, ſeine Mein— ung darüber zu ſagen, die er dann als Zeugniß reiner Sinn- und Geiſtesgemein— ſchaft mit abdrucken wolle. Ernſt Meyer befand ſich aber diesmal nicht in voraus— geſetzter reinſter Sinnesgemeinſchaft mit Goethe. Er machte von der Beurtheiler— Rolle, die ihm Goethe zugeſchoben, den rechtſchaffenen Gebrauch und ſchrieb mit be— ſonderem Bezug auf Goethe's Ketzereien, die auch im Obigen durchblicken, offenbar mißbilligend: „. . . Aus innigſter Ueber⸗ zeugung behaupte ich feſt: gleicher Art iſt, was gleichen Stammes iſt. Es tft un— möglich, daß eine Art aus der andern her— vorgehe.“ Meyer iſt alſo unzweifelhaft ein Anhänger des Conſtanz-Dogmas, und daraus profitirt nun Cattie Folgendes: Da Goethe (che er wußte, was Meyer ſagen würde) ihre beiderſeitige Sinn— und Geiſtesgemeinſchaft hervorgehoben und Meyer's Antwort ausdrücklich mit ab— drucken gelaſſen hat, ſo habe er offenbar — Be En EEE dieſelbe Anſicht gehabt, quod erat demon- strandum. Man ſieht aus dieſem Falle, daß man in Hinblick auf allzu grobe oder allzu feine Geiſter unter ſeinen Leſern nie— mals vorſichtig genug ſein kann. Goethe hat in einer Zeit, wo die Gegenſätze noch nicht auf einander platzten, ahnungslos ſeine Meinung und die des wiſſenſchaftlichen Gegners nach einander abdrucken laſſen, wie er es vorher verſprochen, und dachte wohl, die Ueberſchrift: „Problem und Erwiederung“, ſowie ſeine ſonſt klar aus— geſprochene Meinung würden ihn vor Miß— verſtändniſſen ſchützen. Auch nennt er nach- träglich (S. 153 Band 33 der Hempel’- ſchen Ausgabe) die Erwiederung nur ſinn— voll, aber nicht ſeinem Sinne gemäß und fügt hinzu: „Beiderſeitige Aeußerun— gen möchten auch fernerhin Betrachtungen aufregend“ wirken. Man könnte das Letz— tere für eine Ueberſetzung des Leibſpruches gerechter Kritiker: audiatur et altera pars! halten, und wird eingeſtehen, daß wenn die entgegengeſetzte Meinung Goethe's auch nicht ausdrücklich aus zahlreichen anderen Aeußerungen hervorginge, er dennoch nicht mit Meyer identificirt werden dürfte. Auf die anderen Wortklaubereien Cat tie's wollen wir nicht weiter eingehen, und widerſtrebender Meinung, ſich ſchließlich voll— nur nach gebührender Bewunderung des erhabenen Standpunktes, von welchem er einige darwiniſtiſch klingende Behauptungen Goethe's „albernes Geſchwätz“ nennt, | bemerken, daß feine Schrift, ebenſo wie die Literatur und Kritik. Semper und Koſſmann'ſche, offenbar | nicht beſtimmt iſt, die Wahrheit über Goethe's Stellung zur Descendenztheorie an den Tag zu bringen, ſondern nur um einiges Gift gegen Haeckel auszu— ſpritzen, dem es als eine der ſchlimmſten „Fälſchungen“ in der Geſchichte der Philoſophie ausgelegt wird, Goethe zum | | | 283 Vorgänger Darwin's geſtempelt zu haben. Wenn den Tataren oder Hindoſtanern, ſo erzählt Rob. Shaw, eine Mücke in den Thee fällt, ſo tauchen ſie dieſelbe vor dem Weitertrinken und Herausfiſchen erſt unter, indem ſie ſagen, der eine Flügel des Thieres ſei giftig, aber unter dem andern Flügel ſitze das Gegengift, und man müſſe immer beides zugleich genießen, dann ſchade keines. Wir wollen ihrem Beiſpiele folgen und nun die zweite Schrift betrachten, die in der That als das wirkſamſte Gegengift der erſteren betrachtet werden kann. Die Ausgabe der naturwiſſenſchaftlichen Schriften Goethe's, welche Dr. S. Kaliſcher veranſtaltet hat, iſt von der Kritik mit Recht als die beſte und voll— ſtändigſte, welche exiſtirt, bezeichnet worden, wir haben alſo hier nicht das Urtheil eines Sonntags-Goetheaners, der auch einmal ſeine naturwiſſenſchaftlichen Schriften durch— blättert hat, zu erwarten, ſondern das eines Mannes, der dieſe Schriften in allen Aus— gaben verglichen, durchgearbeitet und mit zahlreichen Ergänzungen bisher ungedruckter oder unaufgenommener Theile verſehen hat. Und hierbei wollen wir im Voraus con— ſtatiren, daß der Verfaſſer, trotz anfänglich ſtändig zu der Auffaſſung Haeckel's be— kehrt und eine Reihe neuer Stützen für dieſelbe beigebracht hat. Da der Streit einmal ſo viel Staub aufgewirbelt hat, ſo wollen wir aus der eben ſo gründlichen wie ausführlichen Beweisführung Kali— ſcher's diejenigen Stellen herausheben, welche keinen Zweifel an der wahren Meinung Goethe's beſtehen laſſen. Als Goethe feine naturwiſſenſchaftlichen Studien begann, beherrſchte das durch Leibnitz, Haller, Bonnet, Linne und 284 alle namhaften Denker der Zeit angenom⸗ mene Dogma von der Panſpermie die ich doch leider bemerken, daß die ſtarre Wiſſenſchaft, nach welcher alle Formen von Ewigkeit an erſchaffen wären, und in der embryonalen Entwickelung nur wachſen und phoſe enthüllen ſollten. Dieſer Anſchauung trat zuerſt Caſpar Friedrich Wolff in ſeiner 1759 erſchienenen Theorin generationis | entgegen, lehrend, daß die Entwickelung des Einzelweſens eine Folge von Neubild— ungen darſtelle, wie ja jeder ſehen könne. Wolff's Stimme verhallte ſpurlos, und erſt als Goethe in der Pflanzen— metamorphoſe denſelben Werdeproceß nachwies und unermüdlich immer wieder betonte, befreundeten die Geiſter ſich all- mälig mit der Theorie der Epigeneſe, die erſt ſehr ſpät die Alleinherrſchaft errang. Mit Recht konnte' daher Helm— holt „Ueber Goethe's naturwiſſenſchaftliche Arbeiten“ (Populäre wiſſenſchaftliche Vor— träge, 1. Heft) ſagen: „Ihm gebührt der große Ruhm, die leitenden Ideen zuerſt vorgeſchaut zu haben, zu denen der einge— ſchlagene Entwickelungsgang der genannten Wiſſenſchaften (von der organiſchen Natur) hindrängt und durch welche deren gegen— wärtige Geſtalt beſtimmt wird.“ Wie vollkommen Goethe ſich in die Gedanken Wolff's, den er ſeinen „vor— trefflichen Vorarbeiter“ nennt, eingelebt hatte und wie hoch er ſchon im Jahre 1792 auf den Standpunkt hinabſah, den man ihm heute zuſchieben möchte, zeigt auf das Klarſte eine humoriſtiſche Bemerkung in ſeiner „Campagne in Frankreich“, in welcher er die Unmöglichkeit ſchildert, ſeine Ideen den Conſtanzdogmatikern jener Zeit begreiflich zu machen. „Wenn ich,“ berichtet „meine morphologiſchen Gedanken, ſo ge läufig ſie mir auch waren, in beſter Ord— er, Literatur und Kritik. nung und, wie es mir ſchien, bis zur kräftigſten Ueberzeugung vortrug, ſo mußte Vorſtellungsart, nichts könne werden, als was ſchon ſei, ſich aller Geiſter die vorangelegten Theile in der Metamor- | bemächtigt habe. In Gefolg deſſen mußt ich denn auch wieder hören, daß alles Lebendige aus dem Ei komme, worauf ich denn mit bitterem Scherze die alte Frage hervorhob, ob denn die Henne oder das Ei zuerſt geweſen? Die Einſchachtel— ungslehre (d. h. die der von dem Conſtanz— Dogma unzertrennliche Panſpermie) ſchien ſo plauſibel und die Natur mit Bonnet zu kontempliren, höchſt erbaulich.“ Merk— würdiger Weiſe iſt es Goethe verborgen geblieben, daß ein Zeitgenoſſe von ihm, Lamarck, denſelben Ideen (daß die ganze Natur geworden, nicht erſchaffen ſei) hul— digte, wie er, ſonſt würde er ſich ebenſo innig an denſelben angeſchloſſen haben, wie vorher an Wolff und ſpäter an Geof— froy de Saint-Hilaire. In dem berühmten Streite des letzteren mit Cuvier, der Goethe ſo außerordentlich intereſſiren mußte, harrte er trotz des ſcheinbaren Sieges des letztgenannten großen Zoologen treu auf Seiten des Beſiegten aus, und Iſidor Geoffroy de Saint-Hi— laire (der Sohn) war beſſer unterrichtet, als die oben genannten deutſchen Goethe— Kritiker, als er den deutſchen Dichter in ſeiner „Allgemeinen Naturgeſchichte“ (1854 — 62) Band II. S. 406 einen „bis zum Extrem“ gegangenen Anhänger der Lehre von der Veränderlichkeit der Arten nannte. Wir ſehen aus dieſem Allen wie vollauf Haeckel Grund hatte, die Stellen Goe— the's, die er in der „Schöpfungsgeſchichte“ abgedruckt hat, ſo zu deuten, wie er ſie gedeutet hat, denn dies iſt die einzig mög— liche Deutung, ſobald man Goethe's 3 ER Literatur und Kritik. Naturanſchauung im Ganzen betrachtet. Wo Goethe von einem Urtypus, vom Ur— thier und von der Urpflanze ſpricht, da hatte er Abſtraktionen der Wirklichkeit im Auge und keine leeren philoſophiſchen Conſtruktionen. Es iſt gerade dieſe Ver— ſchmelzung der ontogenetiſchen mit den phy⸗ logenetiſchen Schlüſſen, die Goethe's Naturanſchauung ſogar über diejenige La— marck's erhebt. Zu den von Haeckel citirten Nach— weiſen bringt Kaliſcher eine Nachleſe, die jede weitere Discuſſion ausſchließt. In den von Riemer mitgetheilten Aphoris— men ſagt Goethe: „Die Natur kann zu Allem, was ſie machen will, nur in einer Folge gelangen. Sie macht keine Sprünge. Sie könnte zum Exempel kein Pferd machen, wenn nicht alle übrigen Thiere vorauf— gingen, auf denen ſie wie auf einer Leiter bis zur Struktur des Pferdes heranſteigt. So iſt immer Eines um Alles, Alles um Eines willen da, weil ja eben das Eine auch das Alles iſt.“ Damit man nicht etwa auch hier eine ſinnloſe ſyſtematiſche Stufenleiter hineinzudeuten verſucht ſei, möge man die Bemerkungen Goethe's über den von Dr. Jäger 1820 beſchriebenen foſ— ſilen Stier von Stuttgart vergleichen, in denen es heißt: „Auf allen Fall läßt ſich das alte Geſchöpf als eine weitverbreitete untergegangene Stamm raſſe betrachten, wovon der gemeine und indiſche Stier als Abkömmlinge gelten dürften.“ Wir werden nachher ſehen, wie er ſich die all— mälige Umwandlung der ſehr abweichenden Schädel- und Knochenbildung dieſer Thiere ausmalt. Sehr ſchön ſchildert der angeb— zurückzieht.“ liche Anhänger des Conſtanz-Dogmas das ſcheinbare zeitweiſe Stillſtehen der Bildung in der Erſcheinung, indem er in ſeinen Bemerkungen über d' Alton's Faulthier⸗ 285 und Dickhäuter-Werk ſagt: „Wir glauben auch (d. h. wie d' Alton) an die ewige Mobilität aller Formen in der Erſcheinung. Hier kommt jedoch zur Sprache, daß gewiſſe Geſtalten, wenn ſie einmal generiſirt, ſpecificirt und individua— liſirt ſind, ſich hartnäckig lange Zeit durch viele Generationen erhalten und ſich auch ſelbſt bei den größten Abweichungen immer im Hauptſinne gleich bleiben.“ D' Alton und Pander hatten nämlich in der Ein— leitung ihres Werkes die fortlaufende Um— wandlung der Thiere in der Zeit und nach den örtlichen Verhältniſſen unumwunden ausgeſprochen, und Goethe erklärt, wie man ſieht, ausdrücklich ſeine Meinungs— übereinſtimmung mit dem ſehr weiſen Zu— ſatz, daß die Umwandlung nicht eine fort— während ſichtbare ſei, ſondern daß die ſpeciali— ſirten Formen viele Generationen hindurch die einmal gewonnene Geſtalt beibehalten. Aber auch den Menſchen erklärte Goethe als unzweifelhaft aus dem Thier— reich hervorgegangen. Die Auffindung des Zwiſchenkiefers beim Menſchen gab ihm, wie er an Knebel ſchrieb, einen neuen Beleg, daß „der Menſch auf's Nächſte mit den Thieren verwandt ſei“. „Ich war völlig überzeugt,“ erklärt er in den Tag- und Jahresheften 1790, „ein allgemeiner, durch Metamorphoſe ſich erhebender Typus gehe durch die ſämmtlichen organiſchen Geſchöpfe durch, laſſe ſich in allen ſeinen Theilen auf gewiſſen mittleren Stufen gar wohl beob— achten und müſſe auch noch da anerkannt werden, wo er ſich auf der höchſten Stufe der Menſchheit ins Verborgene beſcheiden Es iſt lehrreich, dieſe Worte mit andern zu vergleichen, die Ecker— mann im zweiten Bande ſeiner „Geſpräche“ aufgezeichnet hat. „So hat der Menſch,“ läßt Eckermann Goethe ſagen, um die Lächerlichkeit der teleologiſchen Naturauf— faſſung (in der alten Form) darzuthun, „in ſeinem Schädel zwei unausgefüllte hohle Stellen (die Sinus frontales). Die Frage warum? würde hier nicht weit reichen, wogegen aber die Frage wie? mich belehrt, daß dieſe Höhlen Reſte des thieriſchen Schädels ſind, die ſich bei ſolchen ge— riugeren Organiſationen in ſtärkerem Maße befinden und die ſich beim Menſchen, trotz ſeiner Höhe, noch nicht ganz verloren haben.“ In einer Tendenz der Hinterbeine bei Quadrupeden, ſich über die vordern zu erheben, glaubt er „die Grundlage zum aufrechten Stande des Menſchen zu erblicken“, und ſchon in ſeiner 1796 verfaßten Abhandlung über die Be— deutung der vergleichenden Anatomie lehrt er nach entwickelungsgeſchichtlichen Principien „das einfachere Thier in dem zuſammen— geſetzteren Menſchen wieder entdecken“, nach— dem er im Voraus bemerkt, daß er hier vorzüglich die Wirbelthiere im Auge habe. Dieſe Citate genügen vollauf, die abſolute Werthloſigkeit aller in Sachen Goethe's gegen Haeckel gerichteten Streit— ſchriften vom kritiſchen Standpunkte und zugleich ihre hohe Bedeutung für die Er— kenntniß der „Moral“ darzulegen. Zur weitern Beleuchtung des Prädicats: „albernes Geſchwätz“, welches Cattie in einer ſon— derbaren Verwechslung der Goethe'ſchen Abſtammungstheorien mitjeinen mitgetheilten Anſichten von denſelben, auf die es allerdings paßt, gebraucht, wollen wir mit freier Be— nutzung des von Kaliſcher geſammelten Materials noch zeigen, wie weit Goethe auch in der Theorie ſeinen Zeitgenoſſen voraus geeilt war. geſchloſſen finden wir das teleologiſche Prin— cip bei ſeinen Erklärungsverſuchen. „Vau— cher,“ ſagt er von dem bekannten Botaniker, Von vornherein aus- Literatur und Kritik. „erklärt die phyſiologiſchen Phänomene nach teleologiſchen Anſichten, welche die unſrigen nicht ſind, noch ſein können,“ und führt die Mißbildungen als Beweis gegen dieſelbe an, etwa wie wir heute den Kropf und andere Illuſtrationen der Dysteleologie ver— wenden. In dem erſten, 1795 verfaßten „Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie“ erklärt er im vierten Abſatz den Grund der zweckmäßigen Zuſammenwirkung aller Organe: „Das Thier wird durch Umſtände zu Umſtänden gebildet; daher ſeine innere Vollkommenheit und ſeine Zweckmäßigkeit nach außen.“ Freilich könnten, wie er in demſelben Ab— ſchnitte ſagt, auch „Theile nach außen zu unnütz erſcheinen, weil der innere Zuſam— menhang der thieriſchen Natur ſie ſo ge— ſtaltete, ohne ſich um die äußern Verhält— niſſe zu kümmern.“ Man muß dabei un— willkürlich der rudimentären Organe geden— ken. Gleich darauf kommt er auch auf die umgeſtaltenden Wirkungen der Elemente und des Klimas, der Umgebung im All— gemeinen zu ſprechen, und entwickelt dabei (1795) Anſichten, die ſich den Lamarck'ſchen nahe verwandt zeigen. In den ſchon er— wähnten Bemerkungen über d' Alton's Bearbeitung der Dickhäuter und Faulthiere ſchildert er die Entſtehung plumper Thiere in einer poetiſchen Fabelform, weil, wie er hinzuſetzt, die Proſa für ſolche Dinge un— zulänglich je. Wenn ein Walliiſch, ſagt er, aus dem Tiefmeer in einen Kiesſumpf gerathe, der ihm erlaube, weiter zu leben, ohne doch in dieſem Element ſchwimmen zu können, ſo würden ſich die Bewegungs— organe herausbilden, um dieſen plumpen Körper zu tragen. Freilich käme immer nur ein höchſt plumpes Thier zu Stande. Aber, ſetzt er hinzu, „es iſt ſonderbar ge— nug, daß dieſe Sklaverei, das innere Un— Literatur und Kritik. 287 vermögen, ſich den äußern Verhältniſſen ſeines botaniſchen Studiums“: „Das Wechſel— gleich zu ſtellen, auch auf feine Abkömmlinge hafte der Pflanzengeſtalten . . . . erweckte übergeht,“ d. h. daß dieſe Abkömmlinge bei mir immer mehr die Vorſtellung, die immer plump oder faul bleiben. uns umgebenden Pflanzenformen ſeien nicht Während hier im Sinne des Geoffroy urſprünglich determinirt und feſtgeſtellt, de St. Hilaire die Wirkung der Außen- ihnen fer vielmehr ..... eine glückliche welt mächtiger dargeſtellt wird als der innere Mobilität und Biegſamkeit verliehen, um Trieb, überwiegt die Kraft des Letzteren in ſo viele Bedingungen, die über dem in der ſchönen Phantaſie, die Dr. Körte Erdkreis auf fie einwirken, ſich zu fügen aus Ballenſtedt von der Entſtehung des und darnach bilden und umbilden Stieres entworfen hat, und welche Goethe zu können. Hier kommen die Verſchieden— mit ausdrücklicher Beiſtimmung in ſeine heiten des Bodens in Betracht; reichlich Bemerkungen über den foſſilen Stier auf- genährt durch Feuchte der Thäler, ver— genommen hat. Wir wollen die Hauptſtelle kümmert durch Trockne der Höhen, geſchützt daraus wiedergeben, da fie höchſt charak- vor Froſt und Hitze in jedem Maße oder teriſtiſch dafür ift, wie man in den Jah- beiden unausweichbar blosgeſtellt, kann ren 1820 — 22 dieſe Probleme behandelte: das Geſchlecht ſich zur Art, die Art „Zwiſchen dem Urſtier und Ochſen,“ ſchrieb zur Varietät, und dieſe wieder durch andere Dr. Körte, „liegen Jahrtauſende, und ich Bedingungen in's Unendliche ſich verändern.“ denke mir, wie das Jahrtauſende hindurch | Aehnlich ſagt er in dem Aufſatze über von Geſchlecht zu Geſchlecht immer ſtärkere D' Altons Nagethierſkelette: „Eine innere thieriſche Verlangen auch nach vorn hin und urſprüngliche Gemeinſchaft aller Or— bequem zu ſehen, die Lage der Augenhöhlen ganiſation liegt zum Grunde; die Verſchieden— des Urſtier-Schädels und ihre Form all- heit der Geſtalten dagegen entſpringt aus mälig verändert; wie das Beſtreben, leichter, den nothwendigen Beziehungsverhältniſſen klarer und noch weiter hin zu hören, die zur Außenwelt, und man darf daher ... Gehörkammern dieſer Thierart erweitert eine unaufhaltſam fortſchreitende Umbildung und mehr nach innen gewölbt, und wie mit Recht annehmen, um die ebenſo con— der mächtige thieriſche Inſtinkt für Wohl ſtanten als abweichenden Erſcheinungen be— ſein und Nahrung immer mehr Eindrücke greifen zu können.“ der ſinnlichen Welt in ſich aufzunehmen, die Im Uebrigen ſetzte Goethe bei den Stirn allmälig mehr gehoben hat.“ Es mag mannigfachen Umbildungen der Thiere und bei dieſen Bemerkungen an die Marſh'ſchen Pflanzen das Walten gewiſſer allgemeiner Unterſuchungen über das Gehirnwachsthum Bildungsgeſetze voraus und hat in zahl— der tertiären Thiere erinnert werden. reichen Stellen feiner naturwiſſenſchaftlichen In einer viel widerſpruchsfreieren Form, Schriften als eine Haupturſache der Geſtalten— als es in dieſen beiden Phantaſieſtücken ge- mannigfaltigkeit, das auch von Cuvier ſchah, hatte Goethe ſchon längſt vorher und Darwin anerkannte Geſetz der Cor— die Geſtalten umbildende Wirkung der relation oder Wechſelbeziehung der Theile Anpaſſung geſchildert. Der Cattie'ſche hervorgehoben. Er pflegte das ſo aus— Anhänger des Conſtanz-Dogma's ſagt in zudrücken, „daß keinem Theile etwas zu— Bezug auf die Pflanzen in der „Geſchichte gelegt werden könne, ohne daß einem andern | „ —..... — 1 288 etwas abgezogen werde.“ Da hiernach die Abweichungen ſich ſtets nach mehreren Rich— tungen zugleich wenden müſſen, ſo wirft dieſes Geſetz allerdings Licht auf die Formen- und Farbenmannigfaltigkeit gewiſſer Gruppen von Pflanzen und Thieren. In ſeinem Gedichte „Metamorphoſe der Thiere“ iſt dieſe Wechſel— beziehung der Geweihbildung zur Bezah— nung angedeutet: Denn ſo hat kein Thier, dem ſämmtliche Zähne den obern Kiefer umzäunen, ein Horn auf ſeiner Stirne getragen, Und daher iſt den Löwen gehörnt der ewigen Mutter Ganz unmöglich zu bilden und böte ſie alle Gewalt auf. Endlich hat Goethe auch den „Kampf um's Daſein“ in ſeinen „Sprüchen in Proſa“ (Werke, Ausgabe von 1853. III. S. 317) ſehr lebendig geſchildert. Er ſagt dort: „Die Natur füllt mit ihrer grenzen— loſen Produktivität alle Räume. Betrachten wir nur bloß unſere Erde: Alles was wir bös, unglücklich nennen, kommt daher, daß ſie nicht allem Entſtehenden Raum geben, noch weniger ihm Dauer verleihen kann. Alles, was entſteht, ſucht ſich Raum und will Dauer; deswegen verdrängt es ein Anderes vom Platz und verkürzt ſeine Dauer.“ Es wäre mir von großem In— tereſſe zu erfahren, wann Goethe dieſe Sprüche niedergeſchrieben hat, was ich aus meiner Ausgabe nicht erſehen kann. Ich habe nämlich dieſe Stelle ſtark in Verdacht, der Embryo jener früher in dieſer Zeit— ſchrift (Bd. I. S. 456) erwähnten ſehr ähnlich klingenden Stelle in Herders „Ideen“ zu ſein, auf welche hin man hauptſächlich deſſen Anſpruch, ein Vorgänger Darwins zu heißen, begründen wollte. Ja noch mehr, ich fürchte ſehr ſtark, daß alles das, was man in den „Ideen“ darwiniſtiſch oder Literatur und Kritik. vielmehr evolutioniſtiſch nennen könnte, nahe— zu wörtlich auf Kant und Goethe zu— rückgeführt werden kann. Der letztere äußerte zu Falk ausdrücklich, im erſten Bande von Herders Ideen befänden ſich viele Ideen, die ihm gehörten, beſonders im Anfange. (Joh. Falk, Goethe, 3. Aufl. S. 32) Das iſt nicht ſo zu verſtehen, als wenn Goethe dieſen Anfang, auf den es eben ankommt, ſelbſt geſchrieben hätte, aber er gab ſeinem Freunde die unmittelbarſte An— regung, wie er das in dem 1807 verfaßten Aufſatz: „Bildung und Umbildung orga— niſcher Naturen“ erzählt hat. Nachdem er daſelbſt von ſeinen Forſchungen nach dem Urthier und der Urpflanze berichtet hat, fährt er fort: „Meine mühſelige, qualvolle Nachforſchung ward erleichtert, ja verſüßt, indem Herder die Ideen zur Geſchichte der Menſchheit aufzuzeichnen unternahm. Unſer tägliches Geſpräch beſchäftigte ſich mit den Uranfängen der Waſſererde und der darauf von Alters her ſich entwickeln— den organiſchen Geſchöpfe. Der Uranfang und deſſen unabläſſiges Fortbilden ward immer beſprochen und unſer wiſſenſchaftlicher Beſitz durch wechſelſeitiges Mittheilen und Bekämpfen täglich geläutert und bereichert. Mit andern Freunden unterhielt ich mich gleichfalls auf das Lebhafteſte über dieſe Gegenſtände, die mich leidenſchaftlich beſchäf— tigten, und nicht ohne Einwirkung und wechſelſeitigen Nutzen blieben dieſe Geſpräche. Ja, es iſt vielleicht nicht anmaßlich, wenn wir uns einbilden, manches von daher Ent— ſprungene, durch Tradition in der wiſſen— ſchaftlichen Welt Fortgepflanzte trage nun Früchte, deren wir uns erfreuen, ob man gleich nicht immer den Garten benamſet, der die Pfropfreiſer hergegeben.“ Nach alledem wird man ſchwerlich um— hin können, das Meiſte was in Herders — w— ů ů 2 Fe Literatur und Kritik. Ideen darwiniſtiſch erſcheint, auf Goethe zurückzuführen, denn nur in dem Gedanken— | kreiſe Goethe's tritt alles das organiſch ver- mittelt auf, was in Her der's Schriften Die gute Ordnung, eher fremd erſcheint. in welcher Herder alle dieſe Ideen wieder— gab, täuſchte leicht, und ſchon Frau von Stein verfiel in den Irrthum des Herrn von Bärenbach, als ſie an Knebel be— richtete: „Herder's neue Schrift macht wahrſcheinlich, daß wir erſt Pflanzen und Thiere waren.“ Die ſchöngeiſtige Dame ſetzt hinzu: „Goethe grübelt jetzt gar denk— reich in dieſen Dingen,“ ohne zu ahnen, daß dieſer eben der Urheber jener von Herder kaum getheilten Schlußfolgerungen war. Denn wir haben vorhin geſehen, daß die Abſtammung des Menſchen aus dem Thierreiche ein Goethe geläufiger Gedanke war. Herder hingegen hat dieſen Ge— danken nicht nur unausgeſprochen gelaſſen, ſondern im Gegentheile mehrfach Miene gemacht, dem Menſchen im Naturganzen eine Ausnahmsſtellung zu wahren, z. B. im 6. Capitel des dritten Buches. Es ſtimmt das ganz mit ſeiner ſonſtigen Art zu denken überein, und ſo hoch man ſeine übrigen Verdienſte anſchlagen mag, das— jenige eines bahnbrechenden Genies auf dieſem Gebiete wird man ihm nur inſofern zuſchreiben dürfen, als er zur Populariſirung der Kant— und Goethe'ſchen Ideen beigetragen hat. Zum Schluſſe haben wir Herrn Dr. Kaliſcher wiederholt für ſeine ausgezeich— nete, im Vorſtehenden reichlich ausgenützte Arbeit zu danken, und alle diejenigen, welche den ganzen Umfang der Bedeutung Goethe's für die Naturwiſſenſchaft und die gänzliche Unfähigkeit gewiſſer Perſonen, dieſelbe zu begreifen, kennen zu lernen wünſchen, auf das eingehende Studium ſeines Buches zu verweiſen. a K. 289 J. Grundzüge einer Vibrattons— theorie der Natur. Von Baron N. Dellingshauſen. Re— val, Verlag von Franz Kluge. 1872. IX. 403 S. II. Beiträge zur mechaniſchen Wärmetheorie. Von Baron N. Dellingshauſen. Heidel— berg, Carl Winter's Univerſitäts— buchhandlung. 1874. II. 119 S. III. Die rationellen Formeln der Chemie auf Grundlage der mechaniſchen Wärmetheorie entwickelt von Baron N. Dellings— hauſen. Heidelberg, Carl Winter's Univerſitätsbuchhandlung. Erſter Theil. Unorganiſche Verbindungen. 1876. II. 163 S. Zweiter Theil. Organiſche Verbindungen. 1877. I 1560. Obengenannte drei, reſp. vier Schriften eines wohlbekannten Verfaſſers ſind im Weſentlichen dem nämlichen Grundgedanken entſproſſen und können deshalb recht wohl auch unter einem gemeinſamen Geſichtspunkt betrachtet werden. Nachdem der Verf. ſchon im Jahre 1851 ein — uns unbekannt gebliebenes — Werkchen unter dem Titel „Verſuch einer ſpeculativen Phyſik“ hatte erſcheinen laſſen, ſah er ſich durch ander— weite Beſchäftigungen am Fortarbeiten ver— hindert; jedoch ließ er den Gegenſtand nicht aus den Augen und begann, nachdem faſt zwanzig Jahre darüber hingegangen waren, in raſcher Folge mehrere Mono— graphien zu veröffentlichen, welche die in jener Jugendarbeit angedeuteten Grundſätze zu erweitern, zu berichtigen und auf be— ſtimmte Disciplinen anzuwenden beſtimmt ſind. Dieſer Grundſätze ſind es nun be— ſonders zwei, deren Durchführung und Verſöhnung dem Verfaſſer offenbar eine u Kosmos, Band III. Heft 3. am — —— — 290 Lebensaufgabe iſt. mit Recht, eifriger Anhänger der mecha— niſchen Wärmetheorie, andererſeits aber, wenn er dies auch weit weniger beſtimmt ausſpricht, Gegner der atomiſtiſchen und Freund der dynamiſchen Weltanſicht. Wer nun weiß, daß die Vibrationslehre der Wärmeerſcheinungen, wie ſie bei uns haupt— ſächlich von Krönig und Clauſius be— gründet ward, ganz unmittelbar auf der ein großer Vortheil, daß die den Dyna— Vorſtellung von kleinſten Elementarpartikeln der Körper beruht, wer ſich ferner die extrem-atomiſtiſchen Vorſtellungen gegen— wärtig hält, welche unter dem Einfluſſe der Engländer die kinetiſchen Theorien all— mälig zu beherrſchen ſich anſchicken, der durfte von Anfang an dem Verſuch, zwei ſolche Gegenſätze zu einer einheitlichen und harmoniſchen Weltanſchauung zu vereinigen, mit Spannung entgegenſehen. Wir glauben nun von vornherein zu der Erklärung ver— pflichtet zu fein, daß Herrn v. Dellings⸗ dieſer Widerſprüche hauſen's Löſung eine gleich originelle wie auch befriedigende, um nicht zu ſagen, elegante iſt. Die Ma— terie ſelbſt iſt ihm lückenlos, die Wärmeſchwingungen werden durch die Schwingungen des Stoffes ſelbſt hervorgebracht und übermittelt. Sowie jedoch Reflexionen und dadurch bedingte Interferenzerſcheinungen der Wärmewellen eintreten, müſſen nothwendig ſtehende Wellen entſtehen, und der ganze Körper wird durch eine Reihe von Flächenſcharen in „Vibra— tionsatome“ zerlegt. „Die Vibrationsatome ſind alſo ſtehende Wärmewellen, welche nach allen Seiten hin durch unbewegliche Knotenflächen von den anderen ſtehenden Er iſt nämlich, gewiß zuſammenhängend, Wärmewellen des Körpers abgegrenzt wer- den“. Die Grenzflächen bewegen ſich nicht, jeder Punkt im Innern aber beſchreibt eine von den ſpeziellen Bedingungen der Wärme Literatur und Kritik. Uebertragung geſtaltlich abhängige krumme Linie. Daß dieſe Hypotheſe den Namen einer geiſtreichen verdiene, ſowie daß ihr Urheber auch ſehr gut mit ihr umzugehen wiſſe, wird kein Leſer des erſten Buches in Ab— rede ſtellen. Jede der beiden gegenſätzlichen Theorien wird ſo zu ſagen auf ihrem eigenſten Gebiete vertheidigt und bekämpft, und zumal daraus erwuchs dem Verfaſſer mikern ſonſt ganz verſagten mathematiſchen Hülfsmittel, deren Ausbildung eben doch allein dem conſequenten Atomismus zu danken iſt, auch ſeiner Vermittelungslehre willig zur Verfügung ſich ſtellen. Der Verfaſſer weiß die Formeln der höheren Analyſis gewandt zu handhaben und ſcheut vor dieſer ſonſtigen Crux der Molekular— theoretiker keineswegs zurück; doch würden wir immer gerne noch mehr Deduktion mit Rechnung und weniger Deduktion mit Worten in dem Buche ſehen. Dieſe letztere führt leicht zu Irrthümern, wie denn (S. 108) der gegen ein Elan ſius'ſches Fundamentaltheorem erhobene Vorwurf doch nur auf einer unrichtigen Auslegung einiger an ſich correkter mathematiſcher Ausdrücke beruht. Auch über die gegen Ende des Buches zur Darſtellung gebrachten philo— ſophiſch-mathematiſchen Ausdrücke würden wir mit dem Verfaſſer ziemlich zu rechten haben, wenn wir dieſe Bemerkungen für ein Fachjournal niederzuſchreiben hätten. Nur betreffs der eigentlich conſtituirenden Hypotheſe möchten wir noch ein Bedenken zur Sprache bringen, welches nicht ſowohl dieſer ſelbſt als vielmehr der Art ihrer Herleitung gilt. Es wird nämlich im Ein— gang des Werkes ein ſcharfer Vorwurf gegen diejenigen Theoretiker gerichtet, welche auf Grund irgend einer willkürlich aus— kein. 2 gedachten Annahme über das Weſen des Stoffes und der ſtofflichen Bewegung alle Naturerſcheinungen durch bloße Spekulation in ihrem Syſtem einreihen zu können glau— ben. Ohne Hypotheſen nun geht es auch im vorliegenden Falle nicht ab, denn weder iſt die Wellenbewegung der Materie eine ohne Weiteres ſelbſtverſtändliche Thatſache, noch auch ſcheint uns die Bildung allſeitig abgeſchloſſener Wellen fo zwingend bewieſen, daß man dieſen Erſatz der üblichen Atome als eine ſichere Errungenſchaft anzuerkennen genöthigt wäre. Wir, die wir der Ueber— zeugung ſind, daß ohne Hypotheſen keine Naturforſchung möglich, haben gegen das Beſtreben des Verfaſſers gar nichts einzu— wenden und räumen gerne ein, daß manche ſeiner ſpäteren Entwickelungen wohl dazu geeignet ſei, den Grundvorſtellungen als nachträgliche Stütze zu dienen. Die zweite der oben Literatur und Kritik. lungen mit den ſeparaten Titeln: Mathe— matiſche Begründung der Vibrationstheorie der Wärme. Die inneren Bewegungen und ihr Einfluß auf den Aggregatzuſtand der Körper. Die Wärme, eine innere lebendige Kraft der Körper. Die chemiſche Wärme der Körper. — Die mathematiſche Betrachtung wiegt in dieſen rein wiſſenſchaftlichen und ohne Rückſicht auf Allgemeinverſtändlichkeit durchgeführten Spezialunterſuchungen weit mehr vor als in Nr 1 — gewiß zum Vortheil der Sache ſelbſt. Insbeſondere möchten die Nachweiſungen des zweiten Artikels über Aggregatzuſtand und Kryſtal— liſation allgemeinſter Beachtung würdig ſein. Einen ſchlagenden Beweis für die Energie, mit welcher der Autor an ſich ſelbſt und ſeinen Ideen arbeitet, ſowie ein ſchönes Zeugniß für den durch dieſe nicht leichte Thätigkeit erzielten Erfolg bieten die beiden g aufgeführten Schriften zerfällt in vier einzelne Abhand- en Monographien über Reform der phyſikaliſchen Chemie. Obwohl zu einem competenten Urtheil auf dieſem Gebiete nicht vollberechtigt, glaubt der Berichterſtatter doch immerhin ſeinen individuellen Wahrnehmungen Aus— druck verleihen zu dürfen. In einer trefflich geſchriebenen hiſtoriſchen Einleitung weiſt der Verf. die Unzulänglichkeit aller bisher aufgeſtellten atomiſtiſchen Theorien nach, und wenn wir auch nicht ſeinen Schluß als vollkommen logiſch begründet gelten laſſen können, daß die Schuld an dieſen Mißerfolgen eben lediglich die Atomenlehre ſelbſt treffe, ſo können wir doch ſeinem Entſchluß, eine neue, völlig anders geartete Grundlage zu ſchaffen, nur vollkommenſte Billigung zollen. Dieſer neue Grundgedanke beſteht darin, daß die Vibrationsatome in den chemiſch einfachen Körpern als durch einfache, in den zuſammengeſetzten Körpern dagegen als durch mehrfache, ſich durch— kreuzende Wärmewellen entſtanden, voraus— geſetzt werden. Treffen zwei Syſteme ſolcher Wellen zuſammen, ſo bildet ſich nach dem Geſetze von der Uebereinanderlagerung kleiner Schwingungen ein neuer Gleichgewichtszu— ſtand heraus, d. h. es iſt eine chemiſche Verbindung zweier vorher getrennter Stoffe ins Leben getreten. Geſtützt auf dieſe Iden— tificirung eines chemiſchen Vorgangs mit einem mechaniſchen gelingt es Dellings— hauſen, nicht nur die anorganiſchen, ſondern ſogar auch die weit complicirteren organiſchen Verbindungen zu bewältigen. Bemerkt ſei noch, daß gerade dieſer Theil ſeiner Be— ſtrebungen in der Fachpreſſe — beſonders auch bei praktiſchen Chemikern — eine ſympa— thiſche Aufnahme gefunden hat. Wir erkennen in den zielverwandten Arbeiten, von denen vorſtehend die Rede war, ebenſowohl ſtrenge Conſequenz im Feſt— halten eines für wahr erkannten Principes, Br 292 als auch, zu erfreulicher Ausgleichung, einen mit der chronologiſchen Reihenfolge überein— ſtimmenden ſtetigen Fortſchritt in der Kunſt, jenes Princip mit den Thatſachen in Einklang zu ſetzen. Mag auch noch Vieles ſchwankend und im Fluſſe, mag vor Allem der Atomis— mus durchaus nicht in dem hier behaupteten Maße erſchüttert ſein: darin wird jeder Leſer mit uns übereinſtimmen müſſen, daß das naturphiloſophiſche Syſtem des Heidel— berger Forſchers mit der überwiegenden S. 99) auf das bekauntermaßen nicht ſehr häufige Vorkommen ſogenannter „Zwiſchen— ſtufen“ einen Wahrſccheinlichkeitsbeweis für die Nicht-Exiſtenz derartiger Formen zu gründen verſucht, und eine ähnliche, wenn auch mathematiſch ungleich höher ſtehende Unterſuchung Seidel's findet man in Mehrzahl der nur angeblich moniſtiſchen, that. ſächlich aber chimäriſchen Speculationen moder- ner Weltverbeſſerer nichts gemein hat. Ansbach. Prof. S. Günther. Theorie und Erfahrung. Beiträge zur Beurtheilung des Darwinismus von Dr. Paul Kramer, Oberlehrer am königl. Gymnaſium in Schleuſingen. Halle a. S. Verlag von Louis Nebert. 1877. VI. 171 Seiten. In vier blos durch die gemeinſame Tendenz unter ſich verbundenen Kapiteln 3 ſucht der Verf. eine Anzahl von Punkten aufzuzeigen, deren Aufklärung der darwini— ſtiſchen Lehre noch nicht im erwünſchten Maße gelungen ſei. Für den Unterzeichneten kommt aus unmittelbar einleuchtenden Grün— den ausſchließlich das erſte „Mathematiſche Entwickelungen“ überſchriebene Kapitel in Betracht, und auch hier wird er ſich, die empiriſchen Grundlagen der Prüfung Anderer überlaſſend, vornämlich mit dem Gange der Unterſuchung zu beſchäftigen haben. Von mathematiſcher Seite ſind der Entwickelungslehre bereits mehrfache Ein— wände gemacht worden. So hat z. B. Fr. Pfaff in ſeiner Schrift „Die neueſten Forſchungen und Theorien auf dem Gebiete der Schöpfungsgeſchichte“ (Frankfurt 1868, dem bekannten Buche J. Huber's da, wo er von dem ſporadiſchen Auftreten voll— blütiger Geſchöpfe handelt. Es wird kaum in Abrede geſtellt werden können, daß dieſen rein theoretiſchen, nicht immer von ganz ſicheren Prämiſſen ausgehenden Erörterungen nur ſehr relativer Werth zukommt, allein beachtenswerth bleiben ſie immer und ver— dienen jedenfalls ernſthaftere Erwägung, als ihnen z. B. Seidlitz zu Theil werden läßt, der den „Rechner Seidel“ — nebenbei bemerkt, einen der großartigſten Denker, deren ſich unſer Vaterland jemals rühmen durfte — blos mit ein paar Worten ab— fertigt. In eine verwandte Kategorie gehören nun auch die Studien des Herrn Kramer, nur ſind ſie planmäßiger, umfaſſender und deshalb auch wichtiger, als jene mehr gelegent— lich angeſtellten Betrachtungen früherer Jahre. Das betreffende Kapitel ſelbſt gliedert ſich wieder nach ſieben Abſchnitten. Im erſten derſelben entwickelt der Verf. einige Fundamentalgleichungen zwiſchen den Größen m, p, n, n', t, t“, r, 8, s“, welchen ſucceſſive nachſtehende Bedeutung eignet: Verhältniß— zahl der Männchen und Weibchen einer beſtimmten Thierart, Zähler und Nenner des die Variabilität dieſer Art ausdrückenden „Variabilitätscoöfficienten“, Zähler und Nenner eines ſupponirten „Abnahmecoäffi— cienten“, „Vervielfältigungscoöfſicient“, Zäh— ler und Nenner eines Bruches, deſſen Multipla, mit dem Abnahmecoöfficienten multiplicirt, den Abänderungsphaſen der in der Variation begriffenen Organismen entſprechen. Um ke „ und Kritik. 293 all' dieſe Größen durch ein mathematiſches nicht unmittelbar beweisbarer Hypotheſen gezwungen, die aber freilich wenigſtens mit den Lebensbedingungen gewiſſer Thiergattun— gen verträglich ſein müſſen. Die gewonnene Fundamentalformel wird nunmehr in den folgenden Abſchnitten, wie der Mathematiker ſich auszudrücken pflegt, discutirt, d. h. auf ſpezielle Fälle angewandt. Zunächſt wird angenommen, die Anzahl der Männchen ſei das mfache von derjenigen der Weibchen; hinzutreten dann noch einige aus faktiſchen Erſcheinungen hergeholt wird. Mit Hülfe einiger Sätze aus der Reihenlehre darauf führt, daß trotz immer wieder in lichen Geſtalt abgewichenen Individuen auch bei langen Zeiträumen nur eine ſehr geringe ſei, und daß aus dem entſtehenden Chaos ſchiede ausgenommen werden können. Dieſe Ergebniſſe ſind allerdings mit der Grund— anſchauung Darwin's nicht recht verträglich, ein auffälliger Umſtand, der eine doppelte als weſentliches Bedingniß die Annahme mit enthalten, daß die Eltern unmittelbar oder doch ſehr bald nach der Geburt ihrer Jungen der Inſekten ein häufiger Fall iſt. Immerhin verdient auch die entgegengeſetzte Voraus— ſetzung berückſichtigt zu werden, daß nämlich ein Theil der Erzeuger-Paare bis in eine beliebige Generation ihrer Nachkommen hinein am Leben bleibt; wie leicht zu erſehen, @ Band zuſammenfaſſen zu können, ſah ſich der Verf. natürlich zur Aufſtellung gewiſſer ſprechendes Reſultat: „Die Zwiſchenformen gleichem Sinne auftretender Variationsten- denzen die Anzahl der von der urſprüng⸗ von Zwiſchenformen keine ſcharfen Unter- gleich nachher zu erörternde Erklärung zuläßt. In den vorhergehenden Betrachtungen war abſterben, wie dies bekanntlich im Leben den Variabilitätscoöfficienten eines einzelnen weitere Einſchränkungen, deren Berechtigung Verhältniß zur Größe der Variation ſteht. ergeben ſich dann Sätze, deren Deutung faßlicher, daß ſich auch Naturforſcher von verlangt dieſe im dritten Abſchnitte durch- geführte Unterſuchung einen umfänglichen mathematiſchen Apparat. Allein auch hier wiederum liefert die Endformel ein ent— find fo zahlreich und in einem fo mannig— faltigen Grade abgeſtuft, daß ſich kein ſcharf erkennbarer, ſecundärer Geſchlechtscharakter ausbildet.“ Die vierte Abtheilung geht von den Spezialwerthen p = m — 2 aus, denkt ſich aber die Abnahmecoöfficienten der variirten Thiere kleiner und kleiner werdend. Hier lehrt die Rechnung, daß, Organs recht klein vorausgeſetzt, die Conſtanz der Einzelformen nahezu im umgekehrten Die Conſtruktionen des zweiten Abſchnittes werden dann im fünften unter einem er— weiterten Geſichtspunkt wieder aufgenommen, indem nämlich jetzt die Fruchtbarkeit des weiblichen Geſchlechtes progreſſiv fein ſoll; an den ermittelten Ergebniſſen wird dadurch übrigens nichts geändert. Abſchnitt 6 be— ſchäftigt ſich mit einem von Darwin ſelbſt näher ausgeführten Beiſpiel, um zu zeigen, daß die von demſelben gezogenen allgemeinen Schlüſſe mit einer exakten Ausnützung der Original-Angaben nicht übereinſtimmen. An ſiebenter Stelle endlich finden wir eine übrigens ſehr maßvoll gehaltene Polemik gegen die analogen Unterſuchungen von Seidlitz und dann noch einen kurzen Rückblick, in welchem mit Hinweiſung auf das bekannte Werk von Wigand nochmals betont wird, daß die Annahmen einer unbeſchränkten und richtungsloſen Veränderungsfähigkeit in dem auf ſie gegründeten Calcul durchaus keine Begründung fänden. Der Calcul des Verf. iſt ein ſo leicht nicht ſpezifiſch mathematiſcher Vorbildung . 294 von deſſen relativer Correktheit leicht thetiſchen Philoſophie“ folgt den „Grund— zu überzeugen im Stande ſein werden. Was freilich deſſen abſolute Richtigkeit anbetrifft, ſo iſt es damit eine ganz andere Sache. Müßte auch jene zugegeben werden, ſo wäre der Darwinismus in ſeinen Grund— veſten erſchüttert, allein ſolche Rieſenarbeit kann ein Complex von Rechnungen, in die ſo viele unbewieſene Annahmen eingehen, ſo viele nothgedrungene Vereinfachungen ſich einfügen müßen, doch wohl nicht leiſten wollen. Derartige Abſichten dürfen wir auch dem Verf. ſelbſt nicht unterlegen, der ja immer ſeine kritiſchen Tendenzen hervor— hebt, und in dieſem Sinne glauben wir auch der gebotenen Leiſtung einen entſchie— denen Werth zuſprechen zu müſſen. Mögen nun die Forſcher den erfahrungsmäßigen Grundlagen der Rechnung andere beſſere ſubſtituiren, um mit deren Hülfe plauſiblere Reſultate zu erzielen, oder mögen ſie durch einzelne Incongruenzen zwiſchen Rechnung und Beobachtung zu erneuter Reviſion der Thatſachen ſich veranlaßt ſehen — immer wird die darwiniſtiſche Weltanſchauung zu jener Selbſtkritik getrieben werden, an wel— cher es die begeiſterten Anhänger nicht ſelten fehlen laſſen, obſchon der Meiſter ſelbſt mit dem leuchtendſten Beiſpiel ſteter Nachprüfung und beſonnener Entſagung vorangegangen iſt. Ob für eine ſolche Kritik auch die übrigen Kapitel der Kramer'ſchen Schrift wünſchenswerthe Anregung darbieten, weiß Referent nicht beſtimmt, möchte es aber vermuthen. Ansbach. Prof. S. Günther. Die Principien der Sociologie, von Herbert Spencer. Autoriſirte deutſche Ausgabe von Dr. B. Vetter. J. Band. Stuttgart, E. Schweizerbart (E. Koch), 1877. (VIII.) 570 S. 8°. Literatur und Kritik. | Von Spencer's „Syſtem der ſyn— lagen der Philoſophie“ (1 Bd., 1875), und den „Principien der Biologie“ (2 Bde., 1876 und 1877) hiermit der erſte Band der Sociologie, das neueſte Werk des Verfaſſers (die gegenwärtig in dieſer Zeit— ſchrift zum Abdruck gelangenden Artikel über „die Herrſchaft des Ceremoniells“ werden einen Theil des ſpäter erſcheinenden zweiten Bandes der Sociologie bilden). Es han— delt ſich darin vorerſt nur um die „That— ſachen der Sociologie“, d. h. um Feſt— ſtellung des Materials und der darauf ein— wirkenden Kräfte, mit denen eine ſynthetiſche Betrachtung der geſellſchaftlichen Entwickel— ung des Meuſchen rechnen muß. Dahin gehören nun zwar in erſter Linie die „äußeren Faktoren“ des Klimas, der Boden— beſchaffenheit, der Ernährungsweiſe ꝛc., welche unſtreitig ihren bedeutſamen Einfluß auf die körperliche und geiſtige Verfaſſung, ins— beſondere des primitiven oder Urmenſchen ausüben und deren allgemeine Wirkung hier trefflich erörtert wird. Viel wichtiger aber noch, weil unter allen Umſtänden und in jeder Entwickelungsphaſe wirkſam, ſind die „inneren Faktoren“, wie ſie aus der Natur des primitiven Menſchen ſelbſt fol— gen: ſeine phyſiſchen, emotionellen und in— tellektuellen Eigenthümlichkeiten. Jedoch auch damit iſt die Ueberſicht noch nicht erſchöpft. Wie in jedem durch Verbindung zahlreicher Einheiten entſtandenen Aggregat neue, auf das Ganze und die Theile zurückwirkende Kräfte frei werden, ſo kommen auch ſchon in den erſten Anfängen der Geſellſchafts bildung Ideen und Gefühle zum Vorſchein, welche das Benehmen des primitiven Men— ſchen und damit feine ſocialen Verhältniſſe ganz weſentlich bedingen. Der Unterſuchung dieſes Gegenſtandes iſt er — Literatur und Kritik. denn auch der größte Theil des vorliegenden Buches gewidmet, und es ergeben ſich dabei höchſt überraſchende, in wichtigen Punkten den landläufigen Annahmen durchaus zuwider— laufende Reſultate. Auf die meiſterhafte Darſtellung derſelben hier auch nur ſtellen— weiſe näher einzugehen, iſt leider nicht thunlich, um ſo weniger, als eben das faſt überreichliche Beweismaterial ſo klar und folgerecht geordnet iſt und die daraus ge— zogenen Schlüſſe ſich ſo ſtreng logiſch an einander fügen, daß ein Herausreißen des Einzelnen aus dem Zuſammenhang den imponirenden Eindruck des Werkes noth— wendig abſchwächen, das in ſcharfen Zügen hingeworfene Bild bis zur Unkenntlichkeit verzerren müßte. Nur Weniges ſei noch angedeutet. f Von den naturgemäßen Anſchauungen der niedrigſten Wilden über Schlaf und Traum, Leben und Tod und Wiederſehen ausgehend, zeigt der Verf., wie daraus die bei allen auf etwas höhere Stufe vorge— ſchrittenen Völkern nachweisbare Vorſtell— ungen von Seelen und Geiſtern, von einer andern Welt und einem andern Leben her— vorgehen mußten, wie daran die Ausbild— ung der Mythen, der religiöſen Ideen und Formen und endlich all der verſchiedenen Weltanſchauungen ſich anknüpfte, welche den höchſt entwickelten Zweigen unſeres Ge— ſchlechts eigen ſind. Den ſcheinbar zweck— loſen, widerſinnigen, oft ſo unbegreiflich grauſamen Aberglauben alter und neuer ſich in keiner Weiſe mit der Vermehrung Zeit, die Wundergeſtalten und Geſchichten der Götter und Helden, Lage und Beſchaf- philoſophiſchen und pſychologiſchen Durd- dringung deſſelben, um die tauſend und fenheit ihrer Wohnſitze, kurz Alles, was uns in dieſen merkwürdigen Dingen räthſel— haft, willkürlich, verworren ſcheint, erkennen wir im hellen Lichte von Spencer's Entwickelungslehre als natürliches Produkt 295 je von den ſpitzfindigen Tifteleien unſerer Philoſophen und Mythologen beengt und zurückgeſtoßen gefühlt hat, ohne doch ihrem Banne ſich entziehen und etwas Beſſeres an die Stelle ihrer ausgeklügelten Syſteme ſetzen zu können, der wird ſicherlich auf— athmen, wenn ihm der friſche, naturkräftige Hauch aus dieſem Buche entgegenweht, wenn er ſich der fatalen Auswahl zwiſchen göttlicher Offenbarung und abgeſchmackter Speculation enthoben und die altbekannten, aber nie verſtandenen Geſtalten als leben— dige Glieder einem großen, durch alle Zei— ten und Völker mächtig aufſtrebenden Or— ganismus eingeordnet ſieht. Jedem denken— den Leſer ſei das ſchöne Werk hiermit auf's Angelegentlichſte empfohlen. Die Urgeſchichte der Menſchheit mit Rückſicht auf die früheſte Entwidel- ung des Geiſteslebens, von Dr. Otto Caspari, Profeſſor an der Univerſität zu Heidelberg. Mit Abbildungen in Holzſchnitt und lithographirten Tafeln. Zweite durchgeſehene und vermehrte Aus— gabe. Leipzig, F. A. Brockhaus 1877. 2 Bände. Das nunmehr in der neuen Bearbeitung fertig vorliegende Werk nimmt bekanntlich unter den Werken über Urgeſchichte, die ſeit kurzem zu einer Bibliothek angewachſen ſind, eine beſondere Stellung ein. Es beſchäftigt des Materials, ſondern einzig mit der abertauſend Einzelheiten, welche Anthropo— logen, Ethnologen und Archäologen geſam— melt haben und noch zu ſammeln beſtrebt der allgemeinen Vorbedingungen. Wer ſich ſind, unter einheitlichen Geſichtspunkten zu 296 ordnen. Was der Verfaſſer über Eutſtehung der Sprache und Religion, über Feuer— findung, Feuerkultus und deren Einfluß auf Geſittung und Geiſtesbildung geſagt hat, iſt zum Theil bereits Gemeingut der Wiſſen— ſchaft geworden, und Niemand, der die Vor— geſchichte zum Gegenſtande ſeines eingehenden Studiums machen will, wird ungeſtraft dieſe ſynthetiſchen Rückverſetzungen in das primi— tive Denken und Empfinden des Urmenſchen unbeachtet laſſen dürfen. Eine eingehende Analyſe des wohl vielfach bereits in den Händen unſerer Leſer befindlichen Buches würde jetzt nicht mehr am Platze ſein, wir begnügen uns deshalb mit der Bemerkung, daß die zweite Auflage an vielen Stellen die Spuren der nimmer raſtenden Arbeit des Verfaſſers erkennen läßt, und auch um mehrere neue Tafeln und Kapitel vermehrt worden iſt. Die äußere Ausſtattung iſt dem innern Werthe des Buches und dem Rufe der Verlagshandlung entſprechend. Literatur und Kritik. Die Opfer der Wiſſenſchaft oder die Folgen der angewandten Naturphiloſophie. Drei Bücher aus dem Leben des Profefior Deſens. Mitgetheilt von Alfred de Valmy. Leipzig 1878. Johann Am— broſius Barth. Mit vielem Vergnügen kommen wir dem Wunſche der berühmten Firma nach, dieſes kleine, elegant ausgeſtattete Büchlein, in welchem von den Gefahren der Spektral— analyſe, der Blutmedicin, des Santoninge— genuffes für Maler, der Sandblaſekunſt und ſchließlich auch des — Darwinis— mus die Rede iſt, den Gegner des Letzteren von ganzem Herzen zu empfehlen: es wird Viele darunter geradezu entzücken. Unſere nähern Freunde indeſſen, die wie weiland Wieland, gerne eine gute und gelungene Satire, ſei ſie auch gegen ihre Perſon oder Ueberzeugung gerichtet, leſen, wollen wir vor dieſer ſchwächlichen Verne-Nachahmung freundſchaftlichſt gewarnt haben. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. K 2a m Wi ce u a f i er 1 — En GENE Prof. Th. Scwedof’s neue Hypothele über den Ursprung der Rometenformen. Dargeſtellt und erläutert von Paron M. Dellingshaufen. % m vorigen Jahre, 1877, hat . Theodor Schwedoff, I. Odeſſa, eine kleine Abhandlung, betitelt: „Idées nouvelles sur origine des formes cométaires“ (Odessa, Ulrich & Schultze) erſcheinen laſſen, welche ſowohl durch die Originalität der in ihr enthaltenen Gedanken, als auch durch die kurze, präciſe Ausdrucksweiſe gleich be— merkenswerth iſt; da dieſelbe in Deutſchland leicht überſehen werden könnte, halte ich es für eine Pflicht, die deutſchen Naturforſcher und insbeſondere die Aſtronomen auf dieſe bahnbrechende Schrift aufmerkſam zu machen. Der Werth derſelben tritt beſonders hervor, wenn man ſie mit der Behandlung des gleichen Gegenſtandes durch Zöllner in ſeinem Werke „Ueber die Natur der Cometen“ vergleicht; auf der einen Seite finden wir ein dickes Buch von 523 Seiten und kaum einen neuen Gedanken, auf der anderen Seite ein winziges Büchelchen von nur 14 Seiten, aber jede Zeile inhaltſchwer. Auf den erſten acht Seiten gibt Herr Schwedoff die Gründe an, welche ihn dazu veranlaßt Kosmos, Band III. Heft 4. haben, eine neue Theorie der Kometen auf— zuſtellen; ſo entſcheidend dieſe Gründe auch ſind, ſo hätte er ſich doch die Mühe erſparen können, denn die von ihm aufgeſtellten neuen Geſichtspunkte ſind ſo einfach und ſo einleuchtend, daß ſie ſofort überzeugend wirken und jeden Zweifel beſeitigen. Wie Newton, als er beim Anblick eines fallenden Apfels auf den Gedanken kam, daß die Schwere die allgemeine Urſache der Gravitation der Weltkörper ſei, nach keinem Grunde zu ſuchen hatte, um ſeine Anſicht zu unterſtützen, ſondern direkt daran gehen konnte, ſeine neu entſtandene Theorie an den beobachteten Thatſachen zu prüfen, ebenſowenig iſt es erforderlich, nach vielen Gründen zu ſuchen, um der Theorie des Herrn Schwedoff eine bleibende Stätte in der Wiſſenſchaft zu bereiten; ſie wird ſelbſt ihre Stelle einnehmen und dieſe unerſchütterlich behaupten. Ich übergehe daher die erſten acht Seiten und führe zunächſt das von Herrn Schwedoff aufgeſtellte Grundprincip der dynamiſchen Theorien der Kometenformen wörtlich an: „In den Kometen exiſtirt in Wirklichkeit 38 298 nur der Kern als ein Körper oder als ein Syſtem von phyſiſchen Körpern. Alle übrigen Merkmale dieſer Geſtirne, wie die Nebel, die Schweife, die Ausſtrömungen u. ſ. w. ſind weder unendlich verdünnte Gaſe, noch aus- durch das widerſtandleiſtende Mittel ſtets gedehnte Dämpfe irgend welcher Körper; keine ſpecifiſche Kraft, keine außerordentliche Urſache, die unbekannt auf der Erde wäre, nimmt Theil an der Hervorbringung dieſer Erſcheinungen, die nichts Anderes ſind als Wellen, welche von den Kernen hervorgebracht werden, indem ſie ſich in einem widerſtandleiſtenden Mittel bewegen. planetaren Räume, durch den Weltraum fort.“ Um uns noch kürzer zu faſſen, ſagen wir alſo: Dieſes Mittel erfüllt die inter- gehört zu unſerem Sonnenſyſtem und pflanzt fi mit dieſem Die Kometenſchweife find Ver- dichtungs-Wellen, welche die Bewegung des Kometenkernes in einem widerſtandleiſtenden d. h. materiellen Mittel angeregt und, von der Sonne oder von dem Kerne aus beleuchtet, für uns ſichtbar werden. Das iſt der glückliche Gedanke, welcher, von Herrn Schwedoff zuerſt ausgeſprochen, beſtimmt iſt, die bisher in der Aſtronomie noch herrſchenden Anſichten zu läutern und Conſequenzen nach ſich zieht, die für den Augenblick in ihrer Geſammtheit noch kaum zu überſehen find. Einige dieſer Conſe— quenzen werden von Herrn Schwedoff ſelbſt entwickelt; ich gehe auf dieſelben ausführlicher ein, weil mir dadurch die Gelegenheit geboten wird, die neue Theorie nicht blos bekannt zu machen, ſondern auch einige abweichende Anſichten zu äußern. „Erſte Conſequenz. Unter allen Körpern unſeres Sonnenſyſtems ſind es nur die Kome— ten, welche Schweife und andere kometariſche durch Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. Formen zeigen können; die Planeten und ihre Trabanten müſſen dieſer Merkmale entbehren. Die Urſache davon iſt einfach und evident. Um eine Welle hervorzubringen, muß der Körper bei ſeinem Durchgange auf neue Partikelchen treffen, deren Ge— ſchwindigkeit hinreichend verſchieden von derjenigen des Körpers ſelbſt iſt. Ein Planet hat aber eine Bahn, welche wenig von einer Kreislinie abweicht; derſelbe be— wegt ſich daher ſeit einer unermeßlichen Zeit in einem ringförmigen Raume und trifft in ihm immer auf dieſelben Theile des Mittels. Es folgt daraus nothwendig eine Rotationsbewegung für alle Moleküle, welche in dieſem ringförmigen Raume ent- halten ſind. Daher der Mangel von Stößen und Wellen bei einem Planeten Der Trabant, wenn ein ſolcher vorhanden iſt, bringt einen gleichen kreisförmigen Strom in den Partikelchen hervor, die den Planeten umringen, weil ſeine Bahn ebenfalls wenig von einer Kreislinie abweicht. Daher auch bei den Trabanten das Fehlen einer Welle.“ „Zweite Conſequenz. Was die Kometen anbetrifft, ſo verändert ſich, wegen ihrer ſtark excentriſchen Bahn, ihre Entfernung von der Sonne in bedeutendem Maße. Ein Komet geht in jedem Augenblick aus einem mit der Sonne concentriſchen ring— förmigen Raume in einen anderen über, er trifft auf ſeinem Wege ſtets auf neue Theile und wenn er ihnen auch eine gewiſſe Ge— ſchwindigkeit ertheilen ſollte, ſo müßte dieſe Geſchwindigkeit doch bald zerſtört werden durch den Widerſtand anderer Theile oder durch die Wirkung anderer Kometen, deren Richtung eine den erſteren entgegengeſetzte iſt. Es folgt daraus, daß ein Komet ſich in dem Mittel auf eine Weiſe bewegt, als ob er in daſſelbe zum erſten Male eintrete. Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. Indem der Komet auf Theile trifft, deren Geſchwindigkeit nicht gleich der ſeinigen iſt oder die ſich in Ruhe befinden, übt er gegen dieſelben einen Stoß aus, welcher, ſich nach allen Seiten fortpflanzend, die Entſtehung von Elementarwellen veranlaßt. Die Ober— fläche, welche alle dieſe elementaren Wellen umringt, iſt die wahre Form des Kometen und die geocentriſche Projektion dieſer Ober— fläche iſt das Bild, welches ein Komet uns bietet.“ „Dritte Conſequenz. Nach dem ſo eben Geſagten iſt es klar, daß das Bild, welches ein Komet uns bietet, durch Rechnung wird beſtimmt werden können, ſobald die Fort— pflanzungsgeſchwindigkeit dieſer Wellen für die verſchiedenen Regionen des Weltraums bekannt ſein wird. Für den Augenblick muß die zu löſende Aufgabe umgekehrt werden, d. h. man hat aus dem gegebenen Bilde eines Kometen die Fortpflanzungs— geſchwindigkeit der Wellen zu beſtimmen. Nach meinen allerdings noch ſehr unvoll— ſtändigen Unterſuchungen berechnet ſich dieſe Geſchwindigkeit nach Zehnern von Kilometern in der Secunde, woraus hervorgeht, daß das interplanetare Mittel mit dem Licht— äther (2) nicht identiſch iſt.“ Herr Schwedoff ſcheint in dieſen drei erſten aus ſeiner Theorie abgeleiteten Con— ſequenzen das interplanetare Mittel oder, wie ich daſſelbe künftig kürzer bezeichnen will, den Weltäther als ruhend voraus— zuſetzen. Wie ein Irrthum ſtets viele andere Irr— thümer nach ſich zieht, ſo wird auch Herr Schwedoff durch die Annahme eines ur— ſprünglich in Ruhe befindlichen Weltäthers zu einer Reihe von Vorausſetzungen verleitet, die nichts weniger als warſcheinlich ſind. So nimmt Herr Schwedoff an, daß die Theile des Weltäthers, welche auf der 299 kreisförmigen Bahn des Planeten liegen, erſt durch dieſen in Bewegung verſetzt werden, daß ſie dabei eine gleiche Geſchwindigkeit, wie die des Planeten annehmen, ihm daher keinen Widerſtand leiſten und auch keine Welle erzeugen. Der Planet ſoll die Aether— theile gleichſam in einer ringförmigen Röhre vor ſich ſtoßen, während der übrige Welt— äther in Ruhe bleibt. Darauf kann man jedoch erwidern, daß die Bahn eines Pla⸗ neten nicht genau eine Kreislinie, ſondern eine Ellipſe iſt, daß ſomit immer neue Theile des Weltäthers ſeinem Stoße ausgeſetzt ſein müſſen, daß ferner die durch den Planeten aus ihrem Orte verdrängten Aethertheile nicht immer vor ihm in einer ringförmigen Bahn laufen können, ſondern durch den Widerſtand der vor ihnen liegenden Aether— theile nach allen Seiten ausweichen müſſen, daß endlich der hohle Raum, welchen der Planet hinter ſich läßt, durch das Nach— drängen der übrigen Aethermaſſe wieder ausgefüllt werden muß. Ein Planet würde alſo ſtets, wenn er nach einem Umlaufe wieder an ſeine ſchon früher eingenommene Stelle kommt, auf ruhenden Aether treffen, ſeinen Widerſtand zu überwinden haben, eine Welle erregen und müßte daher die Erſcheinung eines Kometenſchweifes zeigen. Die Vorausſetzung eines ruhenden Welt— äthers iſt daher unſtatthaft, er iſt bewegt und beſitzt überall dieſelbe Geſchwindigkeit und dieſelbe Bewegungsrichtung, wie die Planeten. Dieſe Anſicht habe ich bereits im Jahre 1872 in meinen „Grundzügen einer Vibra- tionstheorie der Natur“ ausgeſprochen. Ich habe gezeigt, wie die Sonne als Rotationsmittelpunkt den geſammten Welt⸗ äther als einen bis in die entfernteſten Räume reichenden Wirbel mit ſich führt, wie die tangentiale Geſchwindigkeit dieſes 1 300 Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. Wirbels bei zunehmender Entfernung von der Sonne abnimmt und daſſelbe Geſetz wie die Planeten befolgt. Die Geſchwindigkeit der Planeten iſt alſo ſtets gleich derjenigen des Weltäthers, in dem ſie gleichſam ſchwimmen. Sie treffen daher auf keinen Widerſtand und können auch aus demſelben Grunde nicht die Erſcheinung der Kometen— ſchweife zeigen. Die Planeten als kleinere Rotationsmittelpunkte führen ebenfalls den Weltäther in einem Wirbel mit ſich herum, deſſen Geſchwindigkeit in einer gegebenen Entfernung gleich der Geſchwindigkeit des Trabanten iſt. Daher auch bei dieſen das Fehlen eines Widerſtandes und eines Kometenſchweifes. Die Kometen dagegen durchſtreifen den Weltäther in Richtungen, welche mit der Bewegung deſſelben nicht übereinſtimmen, ſie treffen daher überall auf einen Widerſtand, bringen dadurch Wellen hervor, welche von der Sonne oder dem Kerne beleuchtet uns als Kometen— ſchweife erſcheinen. Die Annahme eines rotirenden Welt— äthers erklärt alſo nicht allein den Mangel eines Widerſtandes bei den Planeten und ihren Trabanten, wodurch die Aſtronomen veranlaßt worden ſind, den Weltenraum als leer vorauszuſetzen, ſondern auch das Fehlen der Schweife; ſie erklärt aber auch die Bildung der Kometenſchweife bei ſolchen Weltkörpern, die ſich in anderer Richtung als der Weltäther bewegen. Die Behauptung, daß der Weltraum von einem widerſtandleiſtenden Mittel er— füllt ſei, iſt bereits häufig ausgeſprochen worden, ſo z. B. von Descartes und als Erklärung der abnehmenden Umlaufs— zeit des Encke'ſchen Kometen. Wie aber ſo manche andere Wahrheit, ſo iſt auch dieſe von den Fachmännern wenig beachtet worden und muß daher immer wieder von = Neuem wiederholt werden. Wenn ich ſo— mit gegen Herrn Schwedoff den Prioritäts— Anſpruch erhebe, den Satz, daß der interplanetare Raum von einem widerſtand— leiſtenden und zwar bewegten Mittel er— füllt ſei, zuerſt ausgeſprochen oder vielmehr wiederholt zu haben, ſo gebührt ihm da— gegen unſtreitig das Verdienſt, durch ſeine Erklärung der Kometenſchweife das Daſein des Weltäthers gleichſam greifbar und ſicht— bar gemacht zu haben. Man kann jetzt den Aſtronomen zurufen: Oeffnet die Augen und ſehet, der Weltäther liegt deutlich vor Euch und es eröffnet ſich für Euch ein weites Feld der Beobachtungen, um die neue Lehre zu beſtätigen und aus der Form der Kometenſchweife die Geſchwindigkeit und die Bewegungsrichtung des Weltäthers in dem interplanetaren Raume zu beſtimmen. Eine weitere, ſchwerwiegende Conſequenz der Theorie Schwedoff's iſt die, daß der Weltäther nunmehr auch die Vermittel— ung der Gravitation zwiſchen den Weltkörpern übernimmt. In meinen „Grund— zügen einer Vibrationstheorie der Natur“ habe ich nachgewieſen, daß der Weltäther, wie jedes Gas, nach allen Richtungen von longitudinalen Wellen durchlaufen wird, deren Schwingungsdauer und Geſchwindig— keit von der Größe derjenigen der Licht— wellen ſind. Indem dieſe elementaren Aetherwellen auf feſte Körper treffen, üben ſie auf dieſe durch ihre Stöße einen Druck aus und werden von denſelben in ihrer Fortpflanzung aufgehalten. Die Folge davon iſt, daß zwei Körper, welche in einem Gaſe oder in dem Weltäther einge— taucht ſind, auf ihren von einander abge— wendeten Seiten mehr Stöße der Aether wellen erleiden, als auf den einander zugekehrten; ſie bewegen ſich daher gegen— einander. Die Differenz der Stöße, welche P ⅛ —vRnͤ Ü Tree ee r ein Körper auf der einen und auf der anderen Seite erleidet, beſtimmt die Be— ſchleunigung, mit welcher er nach dem Cen— tralkörper gravitirt. Aus der beobachteten Beschleunigung läßt ſich dann die ſogenannte Maſſe des Centralkörpers beſtimmen, woraus umge— kehrt nothwendigerweiſe folgt, daß bei ver— ſchiedenen Körpern die Beſchleunigungen den Maſſen proportional ſind. Daß die Wirkung der Aetherwellen, als eine nach einem Centrum gerichtete, dem Quadrate der Entfernung von dem Mittelpunkte umge— kehrt proportionale iſt, verſteht ſich von ſelbſt. Dies iſt das Newton'ſche Geſetz, durch den Stoß der Aetherwellen erklärt. Die Aſtronomen verfahren in anderer Weiſe. Auch ſie gehen von der beobachteten Beſchleunigung aus, um die Maſſen der Weltkörper zu beſtimmen, ſchreiben dieſen Maſſen proportionale Anziehungskräfte zu und erklären dann durch die Anziehungs— kraft die Beſchleunigung, von der ſie aus— gegangen ſind; ſo drehen ſie ſich wie die Planeten in einem Kreiſe herum, geben ſich den Anſchein, die Gravitation zu er— klären, während ſie doch nur ein Wort (Anziehungskraft) an die Stelle eines Be— griffs geſetzt haben. Dieſer Umſtand erinnert mich an einen Spaziergang, den ich mit meiner kleinen, vierjährigen Tochter während eines Regens machte. „Papa, wo kommt das Waſſer in den Rinnen her?“ „Vom Dache, liebe Tochter.“ „Wie kommt das Waſſer auf's Dach?“ „Vom Regen.“ Woher kommt der Regen?“ „Aus den Wolken.“ Damit hatte das Fragen ein Ende. Die weitere Frage: „Woher kommen die Wolken?“ überſtieg die Faſſungsgabe des 4 Verſtandes. Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 301 Nicht Kindern auf den Univerſitätsbänken und ihrem Lehrer, dem Profeſſor der Aſtronomie, beſſer ergeht es den großen auf dem Katheder. Fragt man dieſen, warum die Weltkörper zu einander gravi— tiren, ſo heißt es: weil ſie ſchwer ſind. und fragt man weiter, warum die Körper ſchwer ſind, ſo macht er, um die Schwäche ſeiner Erklärung zu verbergen, ein ſehr gelehrtes Geſicht und antwortet: weil ſie ſich anziehen. Die weitere Frage, warum die Körper ſich anziehen, oder ob eine unvermittelte— Anziehungskraft möglich iſt, überſteigt augen— ſcheinlich die Faſſungsgabe der Zuhörer auf den Univerſitätsbänken und des Lehrers auf dem Katheder. Dieſe Frage: Wie iſt eine Anziehungskraft möglich? habe ich bereits im Jahre 1872 in meinen „Grundzügen einer Vibrationstheorie der Natur“ an die Aſtronomen gerichtet, bis— her aber keine Antwort erhalten, aus dem einfachen Grunde, weil ſie nicht wiſſen, was ſie mir darauf erwidern ſollen oder weil ſie eine ſo unverſchämte Frage einer Antwort nicht für würdig halten. Auch Herr Zöllner hat mir keine Antwort auf meine Frage gegeben, obgleich er in ſeinen „Wiſſenſchaftlichen Abhandlungen“ 288 Seiten über die Kräfte und ihre Fernwirkungen zuſammengeſchrieben hat. Ein weiterer Gegenſtand, in Bezug auf welchen ich mich mit Herrn Schwedoff nicht einverſtanden erklären kann, iſt die von ihm aus der geringen Geſchwindigkeit der Wellen in den Kometenſchweifen ge— zogene Schlußfolgerung, daß der Weltäther mit dem Lichtäther nicht identiſch ſein könne. Wenn man den kühnen Griff ge— than hat, die Kometenſchweife als eine Wellenbewegung zu erkennen, ſo ſollte man ſich doch auch von der unbegründeten 302 Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. Hypotheſe eines imponderabelen Lichtäthers emanzipiren können. Der Lichtäther, welcher nach den bisherigen Annahmen nicht blos den Weltraum, ſondern auch die in unſeren Händen befindlichen durchſichtigen Körper durchdringen ſoll, iſt bis jetzt noch von keinem Naturforſcher thatſächlich nachge— wieſen worden. Der Lichtäther ſoll außerdem nach der rohen atomiſtiſchen Theorie aus discreten Maſſetheilchen beſtehen. Nun wird aber das Licht durch transverſale Wellen fort— gepflanzt, während eine Bewegung ſich zwiſchen getrennten Maſſetheilchen nicht ſenkrecht zu ihrer Richtung mittheilen kann, es ſei denn, daß man wieder ſeine Zuflucht zu der begriffswidri— gen Annahme von Molekularkräften nimmt. Ein Lichtäther, wenn ein ſolcher exiſtiren ſollte, könnte alſo nicht aus discreten Maſſetheilchen beſtehen, ſondern müßte continuirlich ſein; dann wäre aber kein Raum für die Subſtanz der durchſichtigen Körper übrig; es giebt alſo keinen ſpeci— fiſchen Lichtäther, ſondern das Licht wird von der Materie der durchſichtigen Körper und des Weltäthers ſelbſt fortgepflanzt und dieſelbe iſt als Träger transverſaler Lichtwellen ebenfalls continuirlich. Damit habe ich zwei Fliegen mit einer Klappe geſchlagen und den doppelten Beweis geliefert, daß der imponderabele Lichtäther un— möglich und daß die Materie con— tinuirlich iſt. Aber, werden die an den althergebrachten Lehren feſthaltenden Naturforſcher einwenden, wie kommt es, daß die Geſchwindigkeit des Lichtes eine ſo bedeutend größere als die Luft fortgepflanzt werden? Die verhältnißmäßig größere Geſchwin— digkeit des Lichtes erklärt ſich, wie ich es bereits in meinen „Grundzügen einer Vibrationstheorie der Natur“ gezeigt habe, viel leichter bei der Annahme einer con— tinuirlichen Materie, als unter der Voraus- ſetzung eines Lichtäthers, dem man zuerſt die beiden ſich widerſprechenden Eigenſchaften einer ſehr geringen Dichtigkeit und einer ſehr großen Elaſticität zuſchreiben muß. Durch die verſchiedene Brechbarkeit der farbigen Strahlen ſehen wir, daß die Ge— ſchwindigkeit der Lichtwellen und ſomit auch der Wellen überhaupt eine Funktion der Schwingungsdauer iſt. Wenn alſo in einem continuirlichen Mittel durch eine ſehr ſchnelle, aber nur kurz andauernde Erſchütter— ung, wie eine Lichtſchwingung, eine Stör— ung des innern Gleichgewichts hervorge— bracht wird, ſo iſt die Rückwirkung der Elaſticität jo groß, daß die entſtehende Bewegung faſt momentan nach allen Richt— ungen mitgetheilt wird. Daher die große Fortpflanzungsgeſchwindigkeit des Lichtes. Bezieht ſich die Störung des Gleichgewichts auf größere Maſſen, iſt ſie eine länger andauernde und beſteht ſie, wie beim Schalle, aus allmälig und ſtetig in einander ver— laufenden Verdichtungen und Verdünnungen, ſo daß alle Theile des Mittels im früheren Zuſammenhange bleiben, ſo iſt auch die Fortpflanzung der auf dieſe Weiſe ent- ſtehenden Wellen ebenfalls eine verhältniß— mäßig langſamere. Daher die geringere Ge— ſchwindigkeit des Schalles. Noch langſamer als der Schall breitet ſich der Wind aus, der auch nur eine Folge von Verdichtungen und Verdünnungen iſt, und noch langſamer als der Wind können ſich die noch bedeu— tend größeren Aetherwellen bei dem ge— des Schalles iſt, wenn beide durch die ringen Drucke, dem ſie in den Kometen— ſchweifen ausgeſetzt find, fortpflanzen. Wenn ihre Geſchwindigkeit auch nicht mehr als 10 Kilometer in der Secunde beträgt, ſo A ͤͤ⁰n! . ] ³ͤ -nTJ w ³ nn — N r Ya 0 ae PN Dellingshauſen. Ueber den Urſprung der Kometenformen. iſt das kein triftiger Grund, um nicht annehmen zu dürfen, daß der Weltäther, der durch ſeine großen Wellen die Kometen— ſchweife bildet, auch zugleich der Träger der Licht- und Wärmewellen durch den Weltraum iſt. Durch meinen Widerſpruch gegen einige in der Naturwiſſenſchaft nur zu ſehr ein— gewurzelte Irrthümer habe ich mich ver— leiten laſſen, von meinem eigentlichen Gegen— ſtande abzuweichen; ich kehre zu demſelben zurück. Herr Schwedoff hat ſich ſelbſt davon überzeugt, daß ſeine Theorie mit einem ruhenden interplanetaren Mittel nicht verträglich iſt, und entwickelt daher ſeine drei letzten Conſequenzen unter der Vorausſetzung eines um die Sonne rotirenden Weltäthers. Gegen ſeine weiteren Vorſtellungen iſt daher nichts mehr einzuwenden, ſie ſind ebenſo einfach und klar, wie ſeine eigent— liche Theorie. Sie lauten folgendermaßen: wahrſcheinlich, daß das interplanetare Mittel ſeit dem Urſprunge unſeres Sonnenſyſtems mit einer rotirenden Bewegung begabt iſt, deren Ebene parallel zu dem Aequator der Sonne liegt. Aber ſogar wenn dieſe Ro— tation nicht von Anfang an exiſtiren ſollte, ſo müßte das Mittel dieſelbe durch die Einwirkung der Planeten erhalten. keit dieſer Rotation bei der Beſtimmung werden muß, weil die letztere durch die erſte vergrößert oder vermindert werden kann. Es folgt auch daraus, daß es Fälle geben kann, wo ein direkter Komet, deſſen Neigung klein und deſſen Entfernung von der Sonne im Perihel bedeutend iſt, keine weil ſeine Geſchwindigkeit wenig verſchieden „Vierte Conſequenz. Ich halte es für Es folgt daraus, daß die Geſchwindig-⸗ der Geſchwindigkeit der Wellen berückſichtigt wahrnehmbaren Wellen hervorbringen wird, | von derjenigen des umgebenden Mittels iſt.“ 303 „Fünfte Conſequenz. Wenn das wider— ſtandleiſtende Mittel mit einer Rotations- bewegung begabt iſt, ſo wird ſeine Wirk— ung auf einen Kometen von deſſen Richt⸗ ung und von der Neigung ſeiner Bahn abhängen. Wenn die Neigung der Bahn zu der Ebene der Rotation des Mittels nicht groß iſt, und wenn der Komet direkt iſt, ſo wird die Excentricität der Bahn progreſſiv vermindert, bis die Bahn eine Kreislinie wird, wonach jeder Widerſtand verſchwindet. Wenn dagegen der Komet retrograd iſt, oder wenn ſeine Bahn gegen die Rotationsebene des Mittels (Sonnen— Aequator) bedeutend geneigt iſt, ſo wird der Widerſtand des Mittels auf den Ko— meten ſo lange einwirken, bis derſelbe in die Sonne fällt. Es folgt daraus, daß die Wahrſchein— lichkeit eines ſolchen Falles größer iſt für kleine unſichtbare Körper, als für die großen Kerne, größer für die retrograden Kometen, als für die direkten, und noch größer für die retrograden Kometen, deren Bahnen mit der Ebene des Sonnenäquators zuſammen— fallen. Ich glaube, daß darin die mög— liche Urſache der Sonnenflecken liegt; ich enthalte mich jedoch jeder entſcheidenden Schlußfolgerung über dieſen Gegenſtand.“ „Sechſte Conſequenz. Die abſolute Länge eines Schweifes muß mit der Ge— ſchwindigkeit des Kernes zunehmen. Es folgt daraus, daß dieſe Länge um ſo größer ſein muß, je näher der Komet zu ſeinem Perihel iſt und je kleiner die Periheldiſtanz iſt. Für große Entfernungen von der Sonne muß ſich der Schweif in einen Nebel verwandeln (ſphäriſche Form der Wellen), deſſen Durchmeſſer mit dem Ra- dius vector des Geſtirnes wachſen muß.“ Um ſeine Theorie zu vervollſtändigen, giebt Schwedoff ein einfaches Mittel an, 2 304 um die verſchiedenen Formen der Kometen— ſchweife künſtlich darzuſtellen. Er bedient ſich dazu eines ziemlich großen Geſchirres (von einem Quadratmeter Bodenfläche) mit Waſſer gefüllt, welches mit Tinte geſchwärzt wird, um das Spiegeln des Bodens zu verhüten. Fährt man nun längs der Oberfläche des Waſſers mit einem feinen Stabe hin, z. B. mit einem Bleiſtifte, ſo werden Wellen erregt, welche je nach der Geſchwin— digkeit des Stiftes verſchiedene Formen annehmen. Bewegt man den Stift nur langſam, ſo werden die Wellen rund; bei einer etwas ſchnelleren Bewegung des Stiftes nehmen -fie eine elliptiſch längliche Form an; bei einer noch ſchnelleren Bewegung werden ſie bandförmig, und bei einem ſehr ſchnellen Vorrücken des Stiftes breiten ſich die hinteren Enden der Wellen nach außen aus. Schwedoff vergleicht die Formen dieſer künſtlich dargeſtellten Wellen mit der Form des En cke'ſchen Kometen vom 19. Oktober 1838, zwei Monate vor ſeinem Perihel, ferner mit demſelben Kometen 44 Tage vor ſeinem Perihel, mit dem Ko— meten von 1819 und mit dem großen Kometen von 1811 zwei Tage vor ſeinem Perihel und findet eine vollſtändige Ueber— einſtimmung, wie er es durch beigefügte Zeichnungen nachweiſt. Ebenſo läßt er den Stift eine kreis— förmige Bahn im Waſſer beſchreiben und bringt dadurch krummlinige Wellen hervor, welche genau die Form der Kometen von 1744, von 1577 und von Donati dar— ſtellen. Endlich vergleicht er noch die Spur eines Bootes mit dem Kometen von 1769 am 2. September, und auch hier iſt die Uebereinſtimmung eine auffallende. Ein Blick auf die Abbildungen der Kometen iſt genügend, um die Ueberzeugung zu ge— Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. winnen, daß Schwedoff mit ſeiner Theorie das Richtige getroffen hat. Das Beiſpiel mit einem Boote iſt be— ſonders geeignet, um die Theorie Schwe— doff's zu erläutern. Denke man ſich ein Boot auf einem ruhig fließenden Strome aufwärts ſteuernd; es muß ſich hinter ihm eine lange und ſtarke Welle bilden. Liegt das Boot vor Anker, ſo wird ſich die Strömung des Fluſſes an ihm brechen und unterhalb ebenfalls eine Wellenbeweg— ung, wenn auch eine geringere, entſtehen. Fängt das Boot an, abwärts mit dem Strome zu gehen, ſo werden, ſo lange ſeine Geſchwindigkeit eine geringere iſt als die des Fluſſes, die erregten Wellen ihm vorangehen; wird die Geſchwindigkeit des Bootes gleich der des Fluſſes, ſo wird es ruhig hinabgleiten und jede Wellenbewegung aufhören; wird endlich die Geſchwindigkeit des Bootes größer als die des Fluſſes, ſo wird ſich wieder hinter ihm eine Welle ausbilden, wenn auch eine geringere, als beim Aufwärtsſteuern des Bootes. Fährt das Boot quer über den Fluß, ſo werden die erregten Wellen von der Strömung abwärts getrieben und nehmen eine krumm— linige Form an. Alle dieſe Fälle wiederholen ſich bei den Kometen. Kämpft der Komet gegen den Strom des Weltäthers an, ſo bildet ſich hinter ihm ein großer und langer Schweif aus. Bewegt ſich der Komet in derſelben Richtung wie der Weltäther, iſt aber ſeine Geſchwindigkeit eine ſehr geringe, ſo kann der Schweif ihm vorangehen; iſt ſeine Geſchwindigkeit gleich der des Welt— äthers, ſo kann er ohne Schweif erſcheinen; wird ſeine Geſchwindigkeit größer, als die des Weltäthers, ſo bildet ſich hinter ihm wieder ein Schweif aus, wenn auch ein geringerer als bei den retrograden Kometen. Durchſchneidet der Komet die Strömung des Weltäthers, ſo werden die von ihm er— regten Wellen abgelenkt und er zeigt uns die Erſcheinung eines krummlinigen Schweifes. Dabei iſt nicht zu vergeſſen, daß der Anblick, welchen ein Komet uns bietet, auch von dem Standpunkte des Beſchauers auf der Erde abhängig iſt. Bewegt ſich der Komet auf die Erde zu oder von ihr hinweg, ſo kann der Schweif nicht ſichtbar werden oder nur als ein den Kometen umgebender Nebel erſcheinen. Am ſtärkſten wird ſich die Erſcheinung des Schweifes nur dann ausbilden, wenn die Bewegung des Kometen eine ſeitwärts gerichtete iſt und am allerſtärkſten bei den retrograden Kometen, bei welchen die Bewegung gegen den Strom des Weltäthers gerichtet iſt. Durch die Theorie des Herrn Schwe— doff erklären ſich alſo nicht allein alle denkbaren Formen der Kometenſchweife, ſondern auch, weil die Kometenſchweife nur Aetherwellen ſind, ihre Durchſichtigkeit, welche das Licht der Sterne faſt ungeſchwächt hindurchſcheinen läßt, ihre Beweglichkeit und die überraſchende Geſchwindigkeit, mit der ſie ſich entwickeln und ihre Form verändern. Die neue Theorie bezeichnet daher eine neue Phaſe in der Entwickelung der Aſtronomie. Zu den Kreisbahnen, in welchen die Alten Sonne, Mond und Sterne um die Erde herumlaufen ließen und den complicirten Epicyklen des ptolemäiſchen Syſtems, nach Kopernikus, der die Sonne in den Mittelpunkt des Planetenſyſtems verſetzte, und Kepler, der die Form der Planeten— bahnen beſtimmte, nach Newton, der in der Schwere die allgemeine Urſache der Gravitation erkannte, tritt die neue Lehre Schwedoff's hinzu, um den leeren Welt— raum zu füllen und die letzten Irrthümer der Aſtronomie zu beſeitigen. Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. 305 Mit dieſer Anerkennung ſchwindet die grauſige Leere, welche bis jetzt zwiſchen den Weltkörpern herrſchte, es ſchwindet die unbegreifliche, unvermittelt in die Ferne wirkende Anziehungskraft, da der continuirliche Weltäther von nun an die materielle Vermittelung der Gravitation übernimmt; mit der kosmiſchen Anziehungs— kraft ſchwinden die Molekularkräfte, die nur ein Strohhalm ſind, nach dem die in der Fluth ihrer Beobachtungen verfinfen- den Naturforſcher greifen, um damit die unbekannten Urſachen unerklär—⸗ ter Erſcheinungen zu bezeichnen; es ſchwinden die immateriellen Imponde— rabilien, dieſe Ausgeburten einer krank— haften Phantaſie; es ſchwinden endlich die Atome und Moleküle, denen man immer das erſt andichten muß, was man mit ihrer Hülfe beweiſen will, wie z. B. Clauſius, der in ſeiner Gastheorie die Atome ſo klein und die leeren Zwiſchen— räume ſo groß vorausſetzt, daß man ſich verwundert fragt, wie es wohl möglich iſt, daß wir die Wirkung der Gaſe ſpüren und von den großen, die Atome trennen— den Räumen nichts merken. Von allen oben erwähnten Irrthümern werden die Atome und Moleküle ſich bei den Chemikern am längſten erhalten. Obgleich die aus paarweiſe zuſammen⸗ gekoppelten Atomen beſtehenden Moleküle der einfachen Gaſe wie zwei Fliegen, die ſich begatten, im leeren Raume herumirren ſollen, obgleich die Kohlenſtoffverbindungen an Bienenſchwärme erinnern, in welchen der Kohlenſtoff die Stelle der Königin ver— tritt, und die gegenwärtig allgemein be— liebte Struktur- oder Kettentheorie nur eine Kette von Unwahrſcheinlichkeiten iſt, ſo haben ſich doch bis jetzt die Chemiker bei ihren im Allgemeinen mangelhaften — Kosmos, Band III. Heft 4. 39 306 mathematiſchen Kenntniſſen den neueren mechaniſchen Anſchauungen ſehr wenig zu— gänglich gezeigt. Zwar habe ich vor einigen Jahren in meinen „rationellen Formeln der Chemie“ die drei einfachen Sätze auf— geſtellt: 1) daß alle Eigenſchaften der Körper auf ihren inneren Bewegungen beruhen; 2) daß eine chemiſche Verbindung nur eine Vereinigung der inneren Bewegungen zweier Körper iſt; 3) daß die chemiſchen Aequivalentgewichte mechaniſche Aequivalente und daher genau beſtimmt ſind. Jedoch ſcheinen die Chemiker bis jetzt nicht recht begriffen zu haben, welche ſichere Baſis ich für die theoretiſche Entwidel- habe, ung ihrer Wiſſenſchaft geſchaffen und fahren nach wie vor damit fort, ihre Strukturformeln zu entwickeln, die völlig zwecklos ſind, weil die Chemie nie zu einem endgültigen Reſultate gelangen wird, fo lange ſie von einer dogmatiſch atomiſtiſchen Grundlage ausgeht. Wenn ſich auch ab und zu ein Chemiker findet, der ſich den mechaniſchen Anſchauungen günſtig erweiſt, wie z. B. Kekulé, der in feiner Recto— ratsrede über „die wiſſenſchaftlichen Ziele und Leiſtungen der Chemie“ ſich ſogar, trotz ſeines Benzolringes, zu dem Satze erhebt, „daß die in der Zeiteinheit ausgeführte Anzahl von Schwingungen den chemiſchen Werth der Elemente darſtellt,“ ein Satz, der meinen Anſichten ſo nahe kommt, daß ich im Zweifel darüber bin, ob derſelbe nicht meinen „Rationellen Formeln,“ ohne Quellenangabe, wenigſtens dem Sinne nach entnommen iſt, ſo findet ſich ſofort ein anderer Chemiker, wie Kolbe, der ſogar nicht weiß, was eine Mechanik der Atome bedeutet („Kri— tik der Rectoratsrede von Aug. Kekulé. Separatabdruck S. 5) und ſich doch gegen— ͤ—— . — —⅜ MfN— Dellingshauſen, Ueber den Urſprung der Kometenformen. über Kekulé zum Sprachlehrer aufwirft. Um jedoch meinerſeits nichts zu verſäumen, was dazu beitragen kann, unter den Che— mikern die mechaniſchen Anſchauungen zu verbreiten und um Herrn Kolbe auf ſeine Frage: Was heißt Mechanik der Atome? die Antwort nicht ebenſo ſchuldig zu bleiben, wie die Aſtronomen und Herr Zöllner mich auf meine Frage: Wie iſt eine An— ziehungskraft möglich? ohne Antwort gelaſ— ſen haben, ſo will ich ihm mittheilen, daß man unter einer Mechanik der Atome den erfolgreichen Verſuch verſteht, alle Natur— erſcheinungen durch Bewegung zu erklären. So erſcheint Alles in der Natur eng mit einander verbunden zu ſein; von den Ko— metenſchweifen wird man zu den chemiſchen Formeln geführt. Daher hoffe ich auch, daß die neue Theorie des Herrn Schwedoff mächtig dazu beitragen wird, den morſchen Bau der gegenwärtig noch in den Lehrbüchern der Phyſik und Chemie herrſchenden Natur- theorie zu ſtürzen und die Atome und Moleküle, die Imponderabilieu und Molekularkräfte, die ein aufrich— tiger Naturforſcher weder ausſprechen, noch niederſchreiben dürfte, dahin zu verweiſen, wohin ſie gehören, in den Abgrund der Vergeſſenheit, um ſie durch die alleinige Urſache aller Naturerſcheinungen zu er— ſetzen, durch — Bewegung.“) ) Theilen wir auch nicht ganz die Entrüft- ung des bekannten Mathematikers, und glauben wir, daß noch einige Zeit verfließen wird, bevor man ſich mit Fug und Recht von allen Dogmen abwendet, ſo nehmen wir doch Antheil an der im Ganzen nicht unrichtigen Tendenz des Forſchers: Alle Erſcheinungen nur als Bewe— gungserſcheinungen aufzufaſſen und die phyſikaliſchen und chemiſchen Atome als Complexe von Bewegungsformen zu denken. Anm. der Red. 2 Ueber die Verbreitung des Bewuhtſeins in der organilchen Aubſtanz. Von Dr. S. Kühne. N 2 9 01 gewiſſer phyſtlagſcer N Vorgänge dem Protoplasma Gedächtniß zuzuſprechen geneigt iſt, jedenfalls deshalb, weil die Verſuche, auf andere Weiſe Licht in dieſelben zu bringen, reſultatlos geblieben ſind. Trotzdem ſehen wir, daß die meiſten exakten Phyſiologen ſich durch— aus ablehnend gegen jede Hypotheſe ver— halten, die auch nur die ſchüchternſten An— ſtrengungen macht, die Annahme des aus— ſchließlichen Sitzes der Seelenerſcheinungen in den Hemiſphären des großen Gehirnes zu erſchüttern. Manche von ihnen gehen ſo— gar ſo weit, daß ſie in ihren Lehrbüchern die ſeeliſchen Funktionen überhaupt nicht abhandeln, weil ſie aller phyſiologiſchen Analyſe bis jetzt getrotzt haben, und nur ein Gebiet für naturwiſſenſchaftlich unbe— gründete Hypotheſen ſein ſollen. Ein gleicher Verzicht wird von Dubois-Reymond ausgeſprochen, wenn er die Empfindung als etwas für immer Unerklärliches hinſtellt, obgleich man eigentlich nicht recht einfehen kann, warum er gerade fie als Grenze des Naturerkennens gewählt hat, von der doch Jeder genau aus Erfahrung weiß, was er darunter zu verſtehen hat, während alle übrigen Naturkräfte in ihrem Weſen mindeſtens ebenſo undefinirbar ſind. Unter dieſen Umſtänden wird der Verſuch gerecht— fertigt erſcheinen, auf Thatſachen geſtützt, zur Klärung dieſer Frage die genetiſche Methode anzuwenden, die ſchon ſo oft half, wo andere im Stiche ließen. Wenn man dem Protoplasma Ge— dächtniß zuſchreibt, um gewiſſe zweckmäßige complicirte Bewegungen zu erklären, die vererbt find und ſcheinbar unbewußt aus- geführt werden, ſo überſieht man dabei, daß mit ihm allein wenig oder nichts an— zufangen iſt, denn mit der Erinnerung an Vergangenes iſt noch nichts geſchehen; zur Ausführung einer Handlung gehören unbedingt noch andere pſychiſche Thätigkeiten. Hier kann nur dann bahnbrechend gewirkt werden, wenn es uns gelingt, die Hypotheſe des ausſchließlichen Sitzes des Bewußtſeins im großen Gehirn als unhaltbar nachzuweiſen. Wie weit ſich die Empfindung in der 308 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. Natur nach abwärts erſtreckt, darüber gehen die Anſichten weit auseinander, dagegen wird ihr Vorhandenſein in den niedrigſten thieriſchen Organismen übereinſtimmend an— erkannt. Man kann hier auf ihre Gegen— wart nur durch eintretende oft zweckmäßige Bewegungen ſchließen, welche auf eine innere oder äußere Veränderung, die wir Reiz nennen, folgen; ſie bildet alſo ein Mittel— glied zwiſchen letzteren und der Bewegung. Viele Beobachtungen deuten darauf hin, daß Empfindung in derſelben Weiſe in Be— wegung umgeſetzt wird, wie es mit Wärme, Electricität ꝛc. der Fall iſt. Menſch und Thier machen ihrer Freude und ihrem Schmerze durch lebhafte Beweg— ungen Luft, mit merklichem Nachlaſſe der erregenden Empfindung. Ein von Angſt Gequälter erleichtert ſich durch beſtändiges Wechſeln ſeiner Lage, ja es iſt nicht ſelten, daß Melancholiker nur dann von ihrer Seelenqual befreit werden, wenn ſie irgend eine Gewaltthat begehen, mit welcher dann vollſtändige Beruhigung eintritt. Die ra— ſendſte Wuth tobt ſich in energiſchen Be— wegungen aus. Wir ſehen aus dieſen Beiſpielen, daß Empfindung mit dem Ein— tritte von Bewegung verſchwindet, oder ge— mindert wird, nachdem ſie ihrerſeits aus Bewegungsveränderungen entſtanden war, daß alſo beide in gegenſeitiger cauſaler Be— ziehung zu einander ſtehen. Die aus der Empfindung entſtandene Bewegung nennen die Phyſiologen eine Reflexbewegung. Was nun das Verhältniß der Em— pfindung zum Bewußtſein anbetrifft, ſo werden folgende Betrachtungen daſſelbe klarſtellen. Wenn wir uns im denkbar ruhigſten wachen Zuſtande befinden, ohne daß heftigere äußere oder innere Reize auf uns einwirken, ſo bemerken wir den— noch eine Summe verſchiedenartiger Em— U pfindungen, die wir bei Ausſchluß einer beſonderen Aufmerkſamkeit, als ein Ganzes annehmen. Sobald wir aber unſere Aufmerkſamkeit ſcharf darauf richten, fin— den wir Lichtempfindungen, leiſe Geräuſche, ſchwache Geruchs- und Geſchmacksempfind— ungen, denen ſich eine große Menge von Taſt⸗, Temperatur- und Muskelgefühlen anſchließen. Ganz paſſend kann man des— halb das Bewußtſein mit einem Waſſer— falle vergleichen, der in einer großen zu— ſammenhängenden Maſſe herabfällt, bei blitzdhchnell vorübergehender Beleuchtung aber ſeine Zuſammenſetzung aus Tropfen zu erkennen giebt. Könnten wir ein Ge— fühl nach dem anderen ausſchließen, ſo würde das Bewußtſein immer inhaltsleerer werden, ein Vorgang, den wir in der Na— tur treffen, wenn wir auf der Stufenleiter der Organismen nach abwärts ſteigen. Steigern ſich andererſeits durch mächtiger einwirkende Reize die Empfindungen, jo erſcheint auch das Bewußtſein entſprechend modificirt. Beide ſind alſo nur quantitativ von einander ver⸗ ſchieden. Stellen wir uns ein Weſen mit einfacher Empfindung vor, ſo iſt in ihm die letztere mit dem Bewußtſein identiſch. Die bisher angenommene Hppotheſe eines einzigen Bewußtſeins mit dem Sitz in den Großhirnhemiſphären ſtützt ſich darauf, daß man bei Thieren und Menſchen, denen die betreffenden Hirntheile entfernt oder auf andere Weiſe außer Function geſetzt waren, Erſcheinungen beobachtete, die man mit poſitiver Sicherheit mit Bewußtloſig— keit verknüpfen zu müſſen glaubte. Es iſt deshalb zunächſt nothwendig zu unterſuchen, worauf man bis jetzt die Diagnoſe der Bewußtloſigkeit gegründet hat. Gewöhnlich ſchließt man beim Menſchen, wenn Simula— tion ausgeſchloſſen iſt, ohne Weiteres darauf, Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. wenn der Betreffende auf Fragen keine Reize keinen Schmerz äußert. Verändert 309 wehrende Bewegungen macht, ſpäter aber Autwort giebt, auch keine Zeichen macht, daß er nicht ſprechen kann und auf heftige ſich nun der Zuſtand, erfolgen richtige Antworten, und erklärt der Kranke, von der fraglichen Zeit nichts zu wiſſen, ſo unterliegt es ſcheinbar keinem Zweifel mehr, daß er bewußtlos geweſen iſt. Die Dia— gnoſe baſirt alſo erſtens auf dem Aus- bleiben von gewiſſen Bewegungen nach Sinnesempfindungen, und zweitens auf dem eignen Zeugniſſe des Kranken. nun aber thatſächlich feſtgeſtellt, daß es nicht allein krankhafte Zuſtände giebt, welche das Bewußtſein mehr oder weniger intakt laſſen, aber die zur Erkennung deſſelben geforderten Bewegungen ausſchließen, ſon- dern auch, daß die negative Ausſage des Kranken dadurch veranlaßt werden kann, daß er ſich einfach an die fragliche Zeit, in Folge temporären Ausbleibens der Fixir— ung der Vorſtellungen, nicht erinnert. Daß letztere Annahme nicht in der Luft ſchwebt, beweiſen folgende Beobachtungen. Bei manchen ſchweren Erkrankungen, wie z. B. der Cholera, iſt nicht ſelten bemerkt worden, daß der Kranke auf der Höhe der Krankheit ganz richtige Antworten giebt und über— haupt den Eindruck eines vollkommen be— wußten Menſchen macht, nach eingetretener Reconvalescenz aber behauptet, ſich durch— aus an nichts zu erinnern, was mit ihm in der betreffenden Periode vor ſich gegangen iſt, und daß er in Folge deſſen bewußtlos geweſen zu ſein glaubt. Das Unſichere der obigen Beweisführung kann danach keinem Zweifel unterliegen und wir werden deshalb die Möglichkeit der abſolut ſicheren Feſtſtellung der Bewußtloſigkeit bezweifeln müſſen. rend der Operation heftig ſchreit und ab— Es iſt Wenn ein Chloroformirter wäh- behauptet, keinen Schmerz empfunden zu haben, ſo iſt damit keineswegs ſicher be— wieſen, daß er wirklich bewußtlos geweſen ſei. Das Ungeeignete einer ſolchen Annahme tritt recht frappant bei der Betrachtung eines Seelenzuſtandes zu Tage, welchen man doppeltes oder alternirendes Bewußt— ſein zu nennen pflegt. Es wechſeln hier gewöhnlich ein in der Entwickelung rück— ſtändiger und der normale Geiſteszuſtand mit einander ab, wobei ſich die Erinnerung nur auf die vorhergegangenen gleichwerthi— gen Perioden erſtreckt, während der Kranke überhaupt von dem Vorhandenſein dieſes doppelten Zuſtandes keine Ahnung hat, in welcher Periode er ſich auch befinden mag. Sofort mit dem Eintritte des Wechſels erinnert er ſich nicht mehr an den eben verlaſſenen Zuſtand und ebenſowenig an die mit dieſem gleichwerthigen. Läßt man hier die Ausſage des Kranken gelten, ſo muß man ihn conſequenterweiſe für per- manent bewußtlos erklären, weil er ſich in keiner der beiden Perioden an die andere erinnert, und doch können wir uns mit ihm jederzeit frei unterhalten. Auf ähnliche Ungereimtheiten ſtoßen wir bei der bisherigen Beurtheilung der wiſſenſchaftlich conſtatirten Fälle von Som— nambulismus, der bekanntlich darin beſteht, daß Jemand in angeblich bewußtloſem Zu— ſtande eine mehr oder weniger lange Reihe von höchſt complicirten uud zweckmäßigen Bewegungen ausführt, reſp. Geiſtesarbeit verrichtet. Nehmen wir als Beiſpiel jenen Schüler, welcher im ſomnambulen Zuſtande ſeine Schularbeiten regelmäßig viel beſſer machte, als in ſeinem gewöhnlichen, ſo muß man wirklich ſtaunen, daß man bis jetzt keinen Anſtand genommen hat, derartige volle pſychiſche Arbeit für bewußtlos aus— 8 geführt zu halten, während doch die An— nahme der ausgefallenen Fixirung der Vorſtellungen während des Anfalls eine viel ungezwungenere Erklärung bietet. Der ſomnambule Zuſtand charakteriſirt ſich da— nach durch eine nach einer beſtimmten Richt— ung hin ſcharf concentrirte pſychiſche Thä— tigkeit, wobei ſtörende Nebenvorſtellungen vollſtändig ausgeſchloſſen bleiben, die zur Erinnerung nothwendige Fixirung der erſte— ren aber nicht ſtattfindet. So erklärt es ſich leicht, daß der Nachtwandler auf ſeinen gefährlichen Wegen keine Furcht und keinen Schwindel kennt und deshalb mit einer Sicherheit ſich bewegt, die er im normalen Zuſtande nicht beſitzen würde. Auch ge— wiſſe epileptoide Zuſtände gehören hierher. So verliert, um ein bekanntes Beiſpiel zu wählen, ein Architekt in einem Neubau plötzlich ſcheinbar das Bewußtſein, fährt aber fort, ſich ganz zweckmäßig auf Leitern und Balken zu bewegen, ohne einen Fehl— tritt zu thun. Die Annahme des Aus— falles der Erinnerung bietet auch hier die befriedigendſte Erklärung. Iſt nun aber eine abſolut ſichere Dia— gnoſe der Bewußtloſigkeit, wie wir oben gezeigt haben, ſelbſt auf dem unbeſtrittenen Gebiete des Großhirnbewußtſeins nicht mög— lich, ſo dürfte es den Anhängern der aus— ſchließlichen Annahme des letzteren noch ſchwerer werden, den Beweis für das Nichtvorhandenſein des Bewußtſeins in den älteren Theilen des Nervenſyſtems zu führen. Der Nachweis des Großhirnbewußt— ſeins ſtützt ſich einzig auf zweckmäßig aus- geführte Bewegungen, welche auf Empfind— | ungen folgen, wir können deshalb die Beweiskräftigkeit ſolcher Reflexbewegungen auch für die niedriger differenzirten Nerven- gebiete in Anſpruch nehmen. Hier ſtoßen wir nun ſofort auf ener— 310 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. giſchen Widerſpruch von Seiten der meiſten exacten Phyſiologen, welche den Schluß von zweckmäßigen Bewegungen auf Bewußtſein nicht anerkennen und zwar deswegen nicht, weil zufällige Verwundungen an Menſchen gezeigt haben ſollen, daß zweckmäßige Be— wegungen ſelbſt noch in Körpertheilen eintreten, die jeder Empfindung entbehren. So verliert ein Menſch, deſſen Rücken— mark unterhalb des Abganges der Re— ſpirationsnerven durchſchnitten iſt, zwar augenblicklich das Gefühl und die will— kührliche Bewegung in allen abwärts von der Wunde liegenden Körpertheilen, zieht aber bei einem leiſen Kitzel der Fußſohle dennoch das betreffende Bein ganz zweck— mäßig zurück, ohne ſich deſſen in ſeinem Gehirn im geringſten bewußt zu werden. Damit, glaubt man nun, iſt der unumſtöß— lichen Beweis geliefert, daß zweckmäßige Bewegung auch ohne Bewußtſein geleiſtet werden kann, und erklärt das Ganze für einen unbewußten Reflexvorgang, wobei man freilich die allgemein angenommene Definition der Reflexbewegung zu vergeſſen ſcheint, die beſagt, daß letztere eine aus Empfindung umgeſetzte Bewegung iſt. Weil man ſich aber Empfindung ohne Bewußt— ſein nicht denken kann, ſo ſtoßen wir hier auf einen argen Widerſpruch. Aus dieſer Beobachtung kann nur gefolgert werden, daß auch in den Rückenmarkscentren be— wußte pſychiſche Thätigkeit herrſcht, die aber im großen Gehirne nicht empfunden wird. Ehe wir nun zur Feſtſtellung des Ver— hältniſſes des Großhirnbewußtſeins zu dem der niedriger differenzirten Theile des Ner— venſyſtems übergehen, führen wir noch kurz einige einſchlägige Experimente an Thieren an, welche geeignet ſind unſere Streitfrage näher zu beleuchten. Entfernt man durch eine Operation die Großhirnhemiſphären Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organischen Subſtanz. 311 eines Froſches, ſo verliert derſelbe dadurch nur die Fähigkeit von hier aus Bewegungen zu veranlaſſen oder zu hemmen, er iſt aber im Stande, alle ſonſt möglichen zweckmäßi— gen Bewegungen auszuführen, wenn die fehlende Anregung durch den Gehirnwillen auf andere Weiſe erſetzt wird. Sticht man einem derart enthirnten Froſch mit einer Nadel in den Rücken, ſo macht er einen Satz nach vorwärts, unter Vermeidung ihm in den Weg gelegter Hinderniſſe, zeigt da— durch alſo, daß ſogar, trotz des Mangels der Großhirnhemiſphären, ſein Sehvermögen noch erhalten iſt. Ohne äußeren Anreiz ſitzt er aber in natürlicher Stellung reg— ungslos da und verhungert, ſelbſt wenn er von Fliegen umringt iſt. Bringt man ihm dieſelben aber in den Schlund, ſo ver— ſchluckt er ſie ganz regelrecht, ſodaß man ihn auf dieſe Weiſe monatelang am Leben erhalten kann. Schneidet man ihm den ganzen Kopf ab, ſo bleibt er immer noch in ſeiner natürlichen Stellung und wird, wenn man ihm eine ätzende Flüſſigkeit an das Vorderbein bringt, dieſelbe mit dem Hinterbeine derſelben Seite abzuwiſchen ſuchen. Schneidet man ihm auch dieſes ab, ſo verſucht er denſelben Zweck mit dem Stumpfe zu erreichen und führt ſpäter, da dies nicht gelingen kann, andere complicirte Bewegungen aus, um die ätzende Flüſſig— keit zu entfernen. Jeder unbefangene Laie wird beim Anblicke ſolcher zweckmäßig aus— geführten Bewegungen nicht einen Augen— blick an der Bewußtheit derſelben zweifeln, der exacte Phyſiologe dagegen erklärt ſie einfach für rein automatiſche, unbewußte Reflexbewegungen, um die alte ſo lieb ge— wordene Bewußtſeinshypotheſe nicht auf— geben zu müſſen. Was es aber mit dieſen unbewußten Reflexbewegungen auf ſich hat, glauben wir oben gezeigt zu haben. Eine gleichmäßige Vertheilung des Be- wußtſeins kann man nur in einem Thiere annehmen, in welchem noch keine Arbeits— theilung des Empfindungsorganes ſtattge— funden hat; hier muß, bei Abweſenheit jeder Centraliſation, ein mit der Empfind⸗ ung noch identiſches Bewußtſeins in gleicher Stärke über das ganze Weſen vertheilt ſein. Differenzirt ſich aber die Empfindung, ſo wird fie ſich einerſeits anhäufen, anderer ſeits vermindern, ohne indeſſen in andere Arbeit verrichtenden Theilen vollſtändig zu verſchwinden. Nur wenn man annehmen wollte, daß eine vollendete Differenzirung ſtattfände und ſich die ganze Empfindung vollſtändig in der Centralſtelle anhäufte, könnte die Hypotheſe des ausſchließlichen Bewußtſeinsſitzes im Hirn aufrecht erhalten werden. Etwas Aehnliches iſt aber nir— gends nachgewieſen. So vollkommen unſer Verdauungskanal auch feine Funktion aus— übt, ſo iſt dem Protoplasma anderer Kör— pertheile dennoch die Verdauungskraft nicht vollſtändig abzuſprechen. Ein unter die Haut oder in die Lungen eines höheren Thieres gebrachtes Stück Knochenhaut oder Muskel wird ſchließlich ſo vollſtändig von den umgebenden Zellen zerſetzt und auf— genommen, daß man ſpäter auch keine Spur davon mehr nachweiſen kann; ja es giebt ſogar einen beſonders an Knochen beobach— teten krankhaften Zuſtand, der dadurch charakteriſirt iſt, daß gewiſſe Zellen die Verdauungskraft in ſo hohem Grade zeigen, daß ſie ihre Nachbarn geradezu verzehren. Das höchſt differenzirte Bewegungsorgan, die Muskelzelle, führt zwar ſeine Funktion am vollkommenſten aus, das weiße Blut⸗ körperchen bringt aber ſeine amoeboiden Bewegungen auch noch zu Stande. Wir haben deshalb durchaus keinen Grund an— zunehmen, daß gerade die Nerven in dieſem | 312 Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. | l Punkte eine Ausnahme machen ſollten, wie denn überhaupt eine vollendete Diffe— renzirung kaum denkbar iſt. Freilich wird, dem Sparſamkeitsgeſetze der Natur ent- ſprechend, dem niedriger differenzirten Theile immer nur ſo viel Empfindung bleiben, als zur Ausübung ſeiner Funktion unbe— dingt nöthig iſt, während der größere Theil in die neue Centralſtelle übergeht. Wir werden deshalb das hellſte Bewußtſein immer in dem zuletzt entſtandenen Abſchnitte des Nervenſyſtems vorausſetzen dürfen, ohne dadurch berechtigt zu ſein, eine voll— ſtändige Bewußtloſigkeit der älteren anzu— nehmen. Je höher ſich nun die Empfind- ung durch die allmälige Entſtehung der Sinnesorgane entfaltet, deſto complicirter muß die pſychiſche Thätigkeit werden, die überall in mehr oder weniger zweckmäßigen Reflexbewegungen ihren Ausdruck findet. Der Uebergang zur nächſt höheren Stufe findet ſelbſtredend immer ſehr allmälig und continuirlich ſtatt; wir finden deshalb beiſpielsweiſe das Rückenmark eines Thieres deſto größer, je weniger die Entwickelung des Gehirns bei ihm fortgeſchritten iſt, und in Folge deſſen daſſelbe um ſo fähiger, auch ohne Hirnbewußtſein mit ſeinem eignen Bewußtſein dem Organismus zu dienen, wenn günſtige Umſtände dies geſtatten. Wenn wir nun ſchließlich einen Ver— gleich anſtellen zwiſchen den Leiſtungen un— ſeres in den Großhirnhemiſphären reſidi— renden Intellekts, als höchſter bis jetzt erreichter Entwickelungsſtufe des Nerven— ſyſtems, und denjenigen des Rückenmarks und Mittelhirns, ſo muß uns die große Sicherheit auffallen, mit welcher letztere funktioniren und wie wenig Anregung ſie nöthig haben, um die complicirteſten und zweckmäßigſten Bewegungen auszuführen, Zuſtande kaum zur Beobachtung kommen. Dabei geht die Vererbung dieſer Eigen— | haften ſehr leicht vor ſich, wie alle ange— borenen Bewegungen, die vom Großhirn— bewußtſein unabhängig vor ſich gehen, beweiſen. Wir ſehen hier einen mit wenigen Mitteln ſehr vollkommen arbeitenden Mecha— nismus, der ſeine Sache ſo gut verſteht, daß er die von ihm verlangten Leiſtungen ſozuſagen im Schlafe ausführen kann. Betrachten wir dagegen das jüngſte Erzeugniß der Differenzirung unſeres Ner— venſyſtems, das pſychiſche Organ im großen Gehirn, ſo bietet ſich uns ein weſentlich anderes Bild dar. Trotz des ungeheuren Vortheils, welchen der Menſch durch ſeinen Intellekt im Kampfe ums Daſein bekommen hat, läßt ſich nicht verkennen, daß die Thä— tigkeit deſſelben noch keineswegs eine hohe Stufe der Vollkommenheit erreicht hat. Auf keinem Gebiete des thieriſchen Lebens iſt Zweckmäßiges noch mit ſoviel Unzweck— mäßigem gemiſcht und deshalb der Ausleſe ein ſo reiches Feld geboten, als hier. Das Kind führt die complicirteſten Bewegungen gleich nach der Geburt, unabhängig vom Großhirnbewußtſein, mit voller Sicherheit aus, es ſaugt und ſchreit ganz vollkommen und lernt nach und nach ohne die geringſte Anleitung gehen. Wie ſchwierig wird es ihm dagegen intellektuelle Arbeit zu liefern! Die dauernde Fixation der Vorſtellungen, auf welcher das Gedächtniß beruht, geht meiſt nur nach häufiger Wiederholung der Eindrücke vor ſich und verwiſcht ſich leicht, wenn letztere nicht aufgefriſcht werden. Das willkührliche Hervorrufen von auf dieſe Weiſe erworbenen Vorſtellungen geht oft äußerſt zögernd von Statten, während nichtgewünſchte ſich unwillkührlich vordrän— gen. Daß ſich eine Vererbung des müh— während Unzweckmäßigkeiten im normalen ſam errungenen intellektuellen Materials vorbereitet, wird kaum angedeutet durch die mehr oder weniger große Leichtigkeit, mit welcher verſchiedene Menſchen geiſtige Aufgaben löſen; es kommt nur höchſt ſelten vor, daß man dabei die Empfindung hat, als träfe man auf Bekanntes und als leiſtete ſich in Folge deſſen die Arbeit ganz von ſelbſt. Die pfychiſche Thätigkeit des großen Gehirns macht im Allgemeinen den Ein— druck von etwas in der Bildung Begriffe— nem und Unfertigem, aus welchem das zur Vererbung Geeignete ganz allmälig abge— ſetzt wird, womit es unter Abnahme der Bewußtſeinsintenſität aus der Sphäre des Hirnbewußtſeins ſchwindet. Der Umſtand, daß die pfychiſche Thätigkeit des ganzen Nervenſyſtems nicht in allen ſeinen einzel— nen Theilen gefühlt wird, erklärt ſich leicht aus der Nutzloſigkeit, ja Schädlichkeit einer ſolchen Einrichtung, welche die Menge ſtörender Nebenvorſtellungen nur vermehren würde. Vielleicht ſind gewiſſe Geiſtes— krankheiten auf eine Störung dieſes nor— malen Verhältniſſes zurückzuführen. Faſſen wir nun ſchließlich die Haupt— punkte unſerer auf Thatſachen geſtützten und mit keinem Geſetze der Entwickelungslehre in Widerſpruch ſtehenden Theorie des Bewußt— ſeins zuſammen, ſo ergiebt ſich Folgendes: 1. Empfindung und Bewegung ſind Eigenſchaften eines jeden thieriſchen Orga— nismus. 2. Empfindung ſteht in demſelben Ver— hältniſſe zur Bewegung, wie Wärme, Elektricität, Magnetismus x. 3. Das Weſen der Empfindung iſt uns durch die Selbſtbeobachtung näher ge— rückt, als das der anderen Naturkräfte. Kühne, Ueber die Verbreitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz. 313 4. Empfindung und Bewußtſein ſind nur quantitativ und nicht qualitativ von einander verſchieden. 5. Jede Reflexbewegung iſt aus der Empfindung entſtanden und kann deshalb nicht ohne Bewußtſein vor ſich gehen. 6. Eine abſolut ſichere Feſtſtellung der Bewußtloſigkeit im lebenden thieriſchen Organismus iſt ſelbſt auf dem Gebiete des Hirnbewußtſeins unmöglich. 7. In gleicher Intenſität vertheilt iſt das Bewußtſein nur da, wo eine Arbeits— theilung der Empfindung noch nicht ſtatt— gefunden hat. 8. Nimmt man die ausſchließliche Lo— caliſirung des Bewußtſeins im großen Ge— hirn an, ſo verfällt man in den Artbegriff und giebt die Möglichkeit einer vollſtändig abgeſchloſſenen Differenzirung zu. 9. Da es ſich in den älteren Theilen des Nervenſyſtems um eine vererbte, gut fixirte und gekonnte pſychiſche Thätigkeit handelt, welche mit dem automatiſchen Herſdgen einer in suecum et sanguinem übergegangenen Lektion zu vergleichen iſt, ſo erſcheint hier das durch die höhere Differenzirung ſtark abgeſchwächt zurückge— bliebene Bewußtſein vollkommen genügend und iſt nicht im Stande, ſtörend in die Thätigkeit des Hirnbewußtſeins einzugreifen. Letzteres findet vielleicht bei gewiſſen Geiſtes- krankheiten ſtatt, wo einzelne Pſychologen aus dem Ungrunde auftauchende Vorſtell— ungen annehmen zu müſſen glaubten, wäh- rend es ſich dabei wahrſcheinlich nur um eine krankhaft erhöhte, in das Hirnbewußt⸗ ſein einbrechende Thätigkeit der älteren Nervengebiete handelt. — —— Kosmos, Band III. Heft 4. 40 Die Infehten als unbewußte Blumezüdter, Von Dr. Hermann Müller. e nach Ch. Darwin's Theorie und Pflanzenarten bedingt. Wir ſind uns, indem wir dieſe Ausdrücke gebrauchen, ſehr wohl bewußt, daß wir ſie nur in über— tragenem, bildlichem Sinne verſtehen dür— fen, daß in der Natur die unerbittliche Macht phyſikaliſcher Kräfte waltet, bei denen Bzüchtung nennen wir den- Js jenigen Cauſalnexus, welcher die Entſtehung neuer Thier 5 zu ſtetem Zurückgehen auf dieſelbe veran— laſſen. Sie erinnern uns, daß wir, indem wir die Selektionstheorie zur Erklärung von Erſcheinungen der organiſchen Natur anwenden, im Grunde weiter nichts thun, als denſelben urſächlichen Zuſammenhang, durch welchen ſich die von uns gezüchteten Thiere und Pflanzen unter unſeren Augen von Erkennen und Wollen, alſo auch von Ausleſen und Züchten eigentlich nicht die | Rede ſein kann; wir bezeichnen daher, wo es darauf ankommt, jede Möglichkeit einer Mißdeutung beſonders ſorgfältig zu ver— meiden, das Ergebniß deſſelben urſächlichen Zuſammenhanges auch als das Erhalten Trotzdem aber geben wir für gewöhnlich den Aus- bleiben des Paſſendſten. drücken Naturausleſe und Natur— züchtung den Vorzug, nicht allein wegen ihrer größeren Kürze, ſondern hauptſächlich deshalb, weil ſie uns die Quelle unſeres Verſtändniſſes der Entſtehung der Arten in | lebendigem Bewußtſein erhalten und uns * verändern und in neue Raſſen umwandeln, hypothetiſch auf die in freier Natur von jeher ſtattgehabten Veränderungen der or— ganiſchen Formen und ihre Umwandlung in neue Arten übertragen. Je vollſtändiger die Bedingungen der Naturzüchtung mit denen der künſtlichen Züchtung übereinſtimmen, um ſo vollſtän— diger muß die Uebereinſtimmung der Pro— dukte beider ſein, um ſo begründeter der Vergleich, um ſo eingehender und klarer die Vorſtellung, welche wir von den unſerer n irekten Beobachtung entzogenen Vorgängen gewinnen, denen die uns jetzt vorliegenden Thier- und Pflanzenarten ihr Daſein ver— danken. Wenn ſich daher zeigen läßt, daß die Naturzüchtung der Blumen weit enger als andere Naturzüchtungen mit den Zücht— Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. ungen des Menſchen übereinſtimmt, ſo wird ſich von einem näheren Vergleiche beider auch ein eingehenderes Verſtändniß der Ent— ſtehung der Blumengeſtalten erwarten laſſen, als wir es im Allgemeinen von organiſchen Geſtalten zu gewinnen im Stande ſind. Im Allgemeinen ſtimmen die thatſäch— lich vom Menſchen ausgeübte Züchtung und die angenommene Naturzüchtung in folgenden Stücken überein: 1) Von Gene— ration zu Generation wird die Individuen— zahl jeder in Züchtung begriffenen Art vervielfältigt. 2) Von Generation zu Ge— neration differiren die gleichzeitigen Indi— viduen unter ſich. 3) Von Generation zu Generation bleiben nicht alle, auch nicht beliebige, ſondern nur nach beſtimmten Richtungen hin vor den übrigen ſich aus— zeichnende Individuen zur abermaligen Ber- vielfältigung erhalten. 4) Dieſe ſich ver— vielfältigenden Individuen vererben ihre Eigenthümlichkeiten und unter ihnen auch diejenigen Eigenſchaften, denen ſie ihr Er— haltenbleiben verdanken, auf ihre Nach— kommen. — In beiderlei Züchtungen findet daher eine langſame Summirung kleiner individueller Abweichungen, eine allmälige Steigerung gewiſſer Eigenthümlichkeiten nach derſelben Richtung hin ſtatt, ſo lange die Umſtände, welche über das Erhaltenbleiben dieſer oder jener Individuen entſcheiden, dieſelben bleiben. Man erkennt ſofort, daß in Bezug auf die Bedingungen der Vermehrung, der Variation und der Vererbung beiderlei Züchtungen völlig mit einander überein— ſtimmen, daß dagegen die Bedingungen, welche über das Erhaltenbleiben dieſer oder jener Individuen entſcheiden, im Allgemei— nen bei der Naturzüchtung ganz andere ſind, als bei derjenigen des Menſchen. ' Denn dev Menſch wählt als empfindendes L f 315 und denkendes Weſen diejenigen Individuen zur Vervielfältigung aus, welche ihm am beſten gefallen oder ihm am nützlichſten ſind, und beſeitigt oder vernachläſſigt will— kürlich die übrigen. Sein Vortheil, ſeine Liebhaberei, ſein willkürliches Handeln ſind die über das Erhaltenbleiben und Verviel— fältigtwerden dieſer oder jener Individuen entſcheidenden Momente. Die Produkte ferner Züchtung werden daher im Laufe der Ge— nerationen mehr und mehr ſeinem Vor— theile oder ſeiner Liebhaberei entſprechend. Bei der Naturzüchtung dagegen kann im Allgemeinen von Auswahl nach Vortheil und Liebhaberei, überhaupt von willkür— lichem Handeln nicht die Rede ſein. In— dividuen, die, gegenüber der Concurrenz aller übrigen, ſich nicht zu ernähren, oder ſich nicht zu ſchützen, oder nicht zur Fort— pflanzung zu gelangen, oder ihre Nach— kommenſchaft nicht zu ſichern vermögen, gehen natürlich zu Grunde, ohne ſich zu vervielfältigen. Die es vermögen, bleiben erhalten und übertragen ihre Eigenſchaften auf eine Mehrzahl von Nachkommen. Die Produkte der Naturzüchtung werden daher im Laufe der Generationen mehr und mehr ernährungsfähig, geſchützt, zur Erlangung der Fortpflanzung und zur Sicherung ihrer Nachkommen geeignet. Bei der Naturzüchtung der Blumen aber ſind nicht nur die Bedingungen den Vermehrung, der Variation und der Ver— | erbungen ganz dieſelben, wie bei der fünft- |) lichen Züchtung, ſondern zum großen Theile auch die Entſcheidung über das Erhalten— bleiben dieſer oder jener Individuen. Denn wie die blumenzüchtenden Menſchen, ſo üben auch die blumenbeſuchenden Inſekten eine wirkliche Auswahl aus, welche über die Vervielfältigung gewiſſer und das Zugrunde gehen der übrigen Individuen entſcheidet. Müller, Die Inſekten als 316 Wie die blumenzüchtenden Menſchen, ſo laſſen ſich auch die blumenbeſuchenden In— ſekten in dieſer Auswahl theils durch ihre Liebhaberei, theils durch ihren Vortheil be— ſtimmen. In beiden Fällen werden daher die gezüchteten Produkte im Laufe der Ge— nerationen immer entſprechender der Lieb— haberei oder dem Vortheile der Auswählen— | den. Die Inſekten haben zwar bei ihrer Auswahl niemals die Abſicht, durch die— ſelbe eine ihren Wünſchen beſſer entſprechende Blumenraſſe zu züchten, aber das iſt ja auch bei den Menſchen, welche Thier- und Pflanzenzucht betreiben, abgeſehen von den planmäßigen Züchtern der Neuzeit, nicht der Fall. Beide ſuchen ſich eben nur in den Beſitz der ihnen am beſten gefallenden oder nützlichſten Individuen zu ſetzen. Beide bewirken aber, wenn fie auch nur aus die em Grunde ihre Auswahl treffen, dadur ) doch, ohne es zu wiſſen und zu wollen, | daß allmälig ihren Neigungen und Bedürf— niſſen beſſer entſprechende Lebensformen zur Ausprägung gelangen; beide wirken alſo als unbewußte Züchter. Auch darin ſtimmen beide vollſtändig überein, daß nicht die von dem empfinden— den Weſen nach ſeinen Neigungen getroffene Auswahl allein über die Eigenſchaften des Züchtungsproduktes entſcheidet, ſondern daß davon unabhängig Naturzüchtung mitwirkt. Außer dem von den Menſchen ausgeübten Ausjäten des ihm nicht Paſſenden findet, wenigſtens bei der Cultur fremder Pflanzen, natürlich ein Zugrundegehen aller derjenigen Individuen ſtatt, welche den neuen Lebens— bedingungen (dem Klima, dem Boden, den feindlichen Thieren u. ſ. w.) gegenüber nicht hinreichend ausgerüſtet ſind, mithin eine Naturzüchtung der den neuen Lebens— bedingungen entſprechenden Abänderungen. Daſſelbe muß natürlich bei der Blumen— unbewußte Blumenzüchter. züchtung der Juſekten erfolgen. Außer denjenigen individuellen Blumeneigenthüm— lichkeiten, welche den Neigungen oder dem Vortheile dieſer Züchter entſprechen und deren Auswahl beſtimmen, müſſen durch Naturzüchtung auch ſolche zufällig auftretende Abänderungen der Blumen zur Auspräg— ung gelangen, welche, unabhängig von der Auswahl der Inſekten, die Sicherung der Kreuzung bei eintretendem oder der Selbſt— befruchtung bei ausbleibendem Inſekten— beſuche ſteigern — wie überhaupt ſolche Abänderungen, welche den gegebenen Lebens— bedingungen beſſer entiprechen. Der einzige weſentliche Unterſchied zwi— ſchen den unbewußten Züchtern unter den Menſchen und Inſekten beſteht darin, daß die erſteren unmittelbar und meiſt wiſſent— lich und abſichtlich, die letzteren unbewußt und ungewollt und erſt mittelbar das Zu— grundegehen der ihnen weniger gefallenden oder weniger nützlichen, und die Verviel— fältigung der ihnen am beſten gefallenden oder nützlichſten Abänderungen bewirken. Die Menſchen nämlich jäten bekanntlich die ihnen nicht paſſenden Individuen aus oder entziehen ihnen die nothwendige Pflege und bewirken dadurch unmittelbar die aus— ſchließliche Vervielfältigung der bevorzugten Abänderungen. Die blumenbeſuchenden In— ſekten dagegen kreuzen die bevorzugten In— dividuen, überlaſſen die ihnen nicht paſſen— den Individuen der Selbſtbefruchtung und bewirken dadurch mittelbar in der Regel ganz daſſelbe Endergebniß. Denn da die aus Kreuzung hervorgehenden Nachkommen im Wettkampfe mit den aus Selbſtbefrucht— ung hervorgehenden (nach den Ergebniſſen der Darwin'ſchen Verſuche) ſtets den Sieg davon tragen, ſo bleiben auch in dieſem Falle die von den Auswählern bevorzugten Lebensformen in der Regel (ſoweit die zu— 2 u Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. rückgeſetzten nicht etwa dem Wettkampfe ſich entziehen) ſchließlich allein übrig und wer— den allein weiter vervielfältigt. Bis auf dieſen einen ausdrücklich her— vorgehobenen Differenzpunkt unmittelbarer oder mittelbarer Ausjätung ſind die In— ſekten in ganz demſelben Sinne wie die Menſchen, deren Blumenzüchtung uns in allen Einzelheiten bekannt iſt, unbewußte Blumenzüchter. Wir werden daher hoffen dürfen, dadurch zu einem klareren und ein— gehenderen Verſtändniſſe der Blumenwelt zu gelangen, daß wir bei den Blumen— formen ausfindig zu machen ſuchen, welche ihrer Eigenthümlichkeiten von Inſekten ge— züchtet und welche durch Naturzüchtung aus— geprägt worden ſind. Denn die erſteren ſind uns ja, wenn uns dieſer Nachweis gelungen iſt, dann ebenſo verſtändlich wie die Produkte menſchlicher Blumenzüchtung. Die hiermit bezeichnete Aufgabe im Allgemeinen in Angriff zu nehmen und an einzelnen, weſentlich von einander verſchie— denen Blumenformen im Einzelnen ihrer Löſung zuzuführen, iſt der Zweck des vor— liegenden Aufſatzes. Wie der erſte Uebergang getrenntge— ſchlechtiger Windblüthler zur Inſektenblüthig— keit erfolgt ſein müſſe, haben wir bereits in einigen früheren Betrachtungen („Ueber den Urſprung der Blumen,“ Kosmos, Bd.]. S. 100 flgde. und „Ueber das Variiren der Größe gefärbter Blüthenhüllen,“ Bd. II. S. 11 flgade.) uns klar zu machen geſucht. Wir haben da geſehen, daß der erſte Schritt, welcher eine Kreuz— ung der Blüthen durch beſuchende Inſekten überhaupt ermöglichte, eine derartige Ab— änderung derſelben ſein mußte, welche die Beſucher zur Berührung mit beiderlei Ge ſchlechtstheilen, den Narben ſowohl als den Staubgefäßen, veranlaßte, d. h. entweder 1 317 Abſonderung von Honig in beiderlei ein— geſchlechtig bleibenden Blüthen, wie bei Salix, oder, und zwar in der Regel, Zwitterblüthigwerden der zunächſt noch honiglos bleibenden Blüthen.“) Nothwen— dige Vorbedingung regelmäßiger Pol- lenübertragung durch Inſekten war außer— dem die Fähigkeit des Pollens, den Inſekten ſich anzuheften, wie ſie in der Regel durch Klebrigkeit der Pollenkörner erreicht wird. Wie viel iſt nun von der Ausprägung dieſer Abänderungen auf Rechnung der von der Wahl der Inſekten unabhängigen Natur- züchtung, wie viel auf Rechnung der von den Inſekten ausgeübten Blumenauswahl zu ſetzen? Für die Inſekten, welche zuerſt des Pollens wegen auf Blüthen flogen, war es offenbar ganz gleichgültig, ob ſie bei ihren Blüthenbeſuchen auch die Narben be— rührten oder blos die von ihnen ausge— nutzten Staubgefäße. Auch ein Behaften ihres Körpers mit Pollen war für ſie ſelbſt urſprünglich nutzlos und iſt über— haupt, auch im ſpätern Verlauf der In- ſektenentwickelung, ausſchließlich den Bienen nützlich geworden. Für die Pflanzen dagegen waren an— haftender Pollen und Zwitterblüthigkeit in der Regel die nothwendigen Vorbeding— ungen, um von den pollenraubenden In— ſekten die Wohlthat gelegentlicher Kreuzung mit getrennten Stöcken erfahren zu können. Nur durch eine von der Wahl der Inſekten ganz unabhängige Naturzüchtung ) Ich füge nachträglich, mit Hinweiſung auf Kosmos, Bd. II. S. 396, hinzu, daß letzteres um ſo leichter erfolgen konnte, als ja ſehr häufig von dem einen Geſchlecht erwor- bene Eigenthümlichkeiten auch auf das andere ſich vererben, und als wir auch noch heute an getrenntgeſchlechtigen Windblüthlern hier und da einmal Zwitterblüthen auftreten ſehen. 2, f 318 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. konnten alſo, und mußten beim Auftreten geeigneter Abänderungen, die in der Regel urſprünglichſten genannten beiden Blumen— eigenſchaften zur Ausprägung gelangen. Anders iſt es mit der Honigabſonder— ung. Für die Pflanze ſelbſt iſt es un— mittelbar, ohne Inſektenmitwirkung, ſoweit wir überſehen können, nutzlos, wenn ſich aus irgend einem Theile ihrer Blüthen Honig abſcheidet; erſt durch Anlockung von Kreuzungsvermittlern wird es ihr mittel— bar nützlich. Nur die Inſekten haben von der Honigabſonderung unmittelbaren Nutzen und laſſen ſich in ihrer Blüthenauswahl durch dieſelbe beſtimmen. Ihre Blüthen— auswahl wird es alſo auch geweſen ſein, welche das Erhaltenbleiben und Weiteraus— geprägtwerden honighaltiger Abſonderungen bewirkt hat. Die Blumengäſte haben ſich den Blumennektar vermuth— lich ſelbſt gezüchtet. Wenn alſo Salix, wie wir annehmen, 1 durch bloßes Klebrigwerden des Pollens und Honigabſonderung, bei fortdauernder Getrenntgeſchlechtigkeit, von der Windblüthig— keit zur Inſektenblüthigkeit gelangt iſt, jo muß dieſer Uebergang durch die combinirte Wirkung der von der Wahl der Inſekten unabhängigen Naturzüchtung und der von den Juſekten geübten Blüthenauswahl zu Stande gekommen ſein; aber dieſe Art des Uebergangs war, wie bereits (Kosmos Bd. I. S. 111) gezeigt wurde, nur in der überwiegenden regelmäßige Kreuzung durch zufällig an— fliegende Inſekten überhaupt erſt ermöglicht werden der Blüthen (ohne Honigabſonder ung), ſind ganz unabhängig von der Blüthen— auswahl der Inſekten, durch blinde Natur- E ganz vereinzelten Fällen möglich. Die bei- den Abänderungen, deren Combination in Mehrzahl der Fälle züchtung, ausgeprägt worden. Gleichwohl iſt ſchon ſeit dem erſten Blüthenbeſuche und Pollengenuſſe eines ſeiner Nahrung wegen in der Luft umherfliegenden Inſektes Blüthen— auswahl und damit Blumenzüchtung ebenſo gewiß von den Inſekten ausgeübt worden, als die ihnen am meiſten in die Augen fallenden Blüthen auch am meiſten von ihnen beſucht worden ſind. Und wir haben bereits in dem zweiten der oben genannten Aufſätze (Kosmos Bd. II. S. 11 flgde.) geſehen, wie die Blüthengäſte, indem ſie die augenfälligeren Blüthen bevorzugten, unter Mitwirkung der Naturausleſe nicht nur im Beginn der Blumenentſtehung aus der Zapfen- und Kätzchenform der Windblüthler die mit großen, abſtechend gefärbten Hüll— blättern ausgerüſteten urſprünglichen, ein— fachen Blumenformen gezüchtet, ſondern auch im weiteren Verlaufe der Blumenentwickel— ung eine große Mannigfaltigkeit verſchiede— ner Arten von Blüthenpolymorphismus zur Ausprägung gebracht haben. Hier, wo wir die Blumenzüchterei der Inſekten mit derjenigen der Menſchen vergleichen wollen, muß, bei der Betrachtung der durch Augen— fälligkeit bedingten Auswahl, vor Allem die im Ganzen genommen große Aehnlich— leit der Geſchmacksrichtung und, damit zu— ſammenhängend, der Züchtungsprodukte der beiderlei Züchter auffallen. Denn augen- ſcheinlich iſt die Blumenzüchtung der In— ſekten, was Augenfälligkeit anbetrifft, durch diejenige des Menſchen im Großen und Ganzen nur in derſelben Richtung weiter geführt worden. Die Inſekten haben aus den kleinen ſchmuckloſen Windblüthen vor— zugsweiſe verhältnißmäßig großhüllige, bunt- hat, Klebrigwerden des Pollens und Zwittrig— | gefärbte Blumen gezüchtet; der Menſch hat von dieſen die ihm am beſten gefallenden in ſeine beſondere Pflege und Zucht ge— nommen und aus denſelben durch fortge— Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. ſetzte Zuchtwahl neue Blumenraſſen hervor— gezaubert, die an Größe, Farbenpracht und Mannigfaltigkeit über ihre natürlichen Stammeltern kaum weniger hinausragen, als dieſe über ihre windblüthigen Urahnen. Und Aehnliches gilt von den Gerüchen. Dieſelben Farben und Gerüche, durch welche wenigſtens die den ausgeprägteren Blumen— beſuchern, namentlich den Bienen, Faltern und Schwebfliegen, angepaßten Blumen im Ganzen ſich auszeichnen, ergötzen auch uns, und es iſt andererſeits unmöglich, die Blumenthätigkeit dieſer Inſekten andauernd zu beobachten, ohne in manchen Fällen durchaus den Eindruck zu bekommen, daß ihnen die Farben und Wohlgerüche nicht etwa blos als Erkennungszeichen ihrer Nahrungsquellen dienen, ſondern daß auch ſie ſich an dem Sinneseindrucke . ergötzen.“ ) Jedoch laſſen ſich ſchon bei 99 5 zu⸗ erſt und in größter Allgemeinheit in An- wendung gekommenen Blumenausleſe der Inſekten nach Farbe und Geruch, eigen— thümliche Neigungen und Geſchmacksricht— ungen gewiſſer Blumenbeſucherklaſſen nicht verkennen. Zwar kommt es wohl kaum vor, daß Farben, welche irgend einer Klaſſe ausgeprägter Blumenbeſucher beſonders angenehm ſind, einer anderen ſo zuwider wären, daß ſie eine ausbeutereiche Blume um ihrer Farbe willen verſchmähten. Vielmehr ſehen wir weiße, gelbe, rothe und blaue Blumen, wenn ſie hinlänglich augenfällig ſind und den verſchiedenen Be— wet, gleich zugängliche und lohnende ) Einzelne derartige Fälle ſind von mir an Schwebfliegen (bei Verbascum nigrum) und Wollbienen (Anthidium) beobachtet und näher beſchrieben worden. Siehe „Befrucht— ung der Blumen“, S. 278, „Anwendung der Darwin'ſchen Lehre auf Bienen“, S. 70. Ausbeute darbieten, ſowohl von Schmetter— lingen, als von Bienen, als von lang— rüſſeligen Fliegen (Syrphiden, Conopiden, Bombyliden) eifrig aufgeſucht, wie z. B. die von mir für Schafgarbe (Achillea Millefolium und Ptarmica), Löwenzahn (Taraxacum offieinale), Felddiſtel (Cir- sium arvense) und Berg -Jaſione (Jasione montana) aufgeſtellten Beſucherliſten un— zweideutig zeigen. Von den unausgeprägteſten Blumenbeſuchern aber gehen diejenigen Fliegen, welche ihren gaſtronomiſchen Neig— ungen den weiteſten Spielraum geſtatten, auch in ihren Farben- und Geruchslieb— habereien über die Grenzen des uns Men— ſchen und den meiſten ausgeprägten Blumen— beſuchern Erträglichen weit hinaus. Na— mentlich ſehen wir die Aas- und Koth— fliegen (Sarcophaga, Calliphora, Lucilia u. a.), welche keinerlei Anpaſſung an die Gewinnung von Blumennahrung beſitzen und ganz gut auch ohne Blumen auskom⸗ men könnten, zwar einerſeits Blumen be— ſuchen, deren Farbe, Duft und Honig- geſchmack auch die Honigbienen und uns ſelbſt ergötzen, wie z. B. Linde, weizen, mit mindeſtens gleichem, wenn nicht größe— rem Wohlbehagen auch die widrigſten Fäulnißprodukte (ſtinkende Kothhaufen, faulendes Fleiſch, Jauche, Eiter, Aas) be— tupfen und belecken, deren Farbe und Ge— ruch ſchon uns mit Ekel und Abſcheu er— füllt und auf die Honigbienen vermuthlich in gleicher Weiſe einwirkt. Auch manche kleine Fliegen und Mücken, die ſich für gewöhnlich in unſauberen Schlupfwinkel herumtreiben, ſo namentlich die kleinen Schmetterlingsmücken (Psychoda), die man häufig an Abtrittsfenſtern ſieht, gehen bis— weilen auf Blumen. Buch⸗ Thymian u. a., andererſeits aber, 319 m 320 Natürlich mußte die abweichende Geſchmacks— richtung aller dieſer Dipteren von jeher auch auf ihre Blumenauswahl beſtimmend einwirken. Traten Blumenabänderungen auf, welche durch ſchmutzig gelbe oder durch fahl-bläuliche, leichenartige Farbe oder durch ein trübes Roth oder ſchwärzlich-purpurne Flecken für ſich oder combinirt mit Urin-, Abtritts- oder Aasgeruch an die oben ge— nannten Ekelſtoffe erinnerten und die an ſüßen Honigduft und liebliche Blumenfarben bereits gewöhnten Gäſte zurückſchreckten, ſo mußten ſolche auf die erwähnten Zweiflügler gerade eine ganz beſondere Anziehungskraft ausüben und dieſelben, wenn ſie ihnen zu— gleich einige Ausbeute oder auch nur einen angenehmen Schlupfwinkel darboten, zu immer erneuten Beſuchen veranlaſſen. Wenn daher ſolche Blumenabänderungen zugleich eine derartige gegenſeitige Stellung der Narben und Staubgefäße beſaßen, welche eine Kreuzungsvermittelung durch die zu und abfliegenden Fliegen wahrſcheinlich oder unausbleiblich machte, ſo waren alle Be— dingungen gegeben, um eine auf Koth- und Aasfliegen oder auf Pſychoden und andere winzige Dipteren ähnlicher Geſchmacksricht— ung ſich beſchränkende Blumenraſſe zu züchten. Andere Abänderungen derſelben Stammarten konnten gleichzeitig an denſelben Standorten einer bunten Geſellſchaft mannigfaltiger In— ſekten zugänglich bleiben oder ſich ſtufen— weiſe einem anderen beſchränkten Beſucher— kreiſe anpaſſen, da ja Sicherung der Kreuz— ungsvermittelung, mag ſie nun auf dem einen oder anderen Wege erreicht werden, in erſter Linie den Sieg über die vor— wiegend auf Selbſtbefruchtung beſchränkten Concurrenten entſcheidet und daher zum ſchließlichen Allein-Uebrigbleiben der jene Sicherung erreichenden Abänderungen füh— ren muß. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Es giebt vielleicht wenige Fälle, in denen ſich ebenſo leicht und einleuchtend wie in dieſem, im Gegenſatze zur Wagner’- ſchen Migrationstheorie, die Möglichkeit des Entſtehens neuer Arten an demſelben Wohn— ort, ohne irgend welche Wanderung, nach— weiſen läßt. Denn es leuchtet ohne Wei— teres ein, daß die bloße Abänderung der Farbe und des Geruches in der angedeu— teten Richtung dazu genügen kann. Da uns dieſelben Abänderungen zugleich den einfachſten und unmittelbarſten Uebergang urſprünglicher, allgemein zugänglicher Blu— men zur ausſchließlichen Anpaſſung an einen beſtimmten, eng begrenzten Beſucher— kreis darbieten, ſo empfiehlt es ſich, die von den Koth- und Aasfliegen, von den Schmetterlingsmücken und anderen kleineren Dipteren verwandter Geſchmacksrichtung ausgeübte Blumenzüchtung vorauszunehmen, und dann erſt zur Betrachtung der uns ſympathiſchen Blumenzüchter überzugehen. Wir betrachten alſo zunächſt 1. Die Fäulnißſtoffe lieben— den Dipteren als unbewußte Blumen züchter. So leicht es, nach dem oben Geſagten, den von Koth- und Aasfliegen oder ande— ren Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren be— ſuchten Blumen ſein mußte, durch bloße Abänderung der Farbe und des Geruchs in der bereits angedeuteten Richtung alle feinfühligeren Blumengäſte auszuſchließen, ſo ſchwer erſcheint es von vornherein mög— lich, leichtlebig umher vagabundirende Gäſte, die nur durch den erſten Sinneseindruck getäuſcht ſtatt ihrer unſaubern Lieblings— gegenſtände auch einmal Blumen aufſuchen, zu regelmäßiger Kreuzungsvermittelung zu zwingen. Zwar iſt die Dummheit der ge— nannten Fliegen bei ihren Blumenbeſuchen, die ſchon im vorigen Jahrhundert Chr. C. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 5 321 2 Sprengel bei vielen ſeiner Beobachtungen der beiden oben unterſchiedenen Arten na— auffiel, groß genug, um ſie durch Geſichts— und Geruchseindrücke, ſelbſt ohne beſondere Ausbeute für den Magen, oft wiederholt auf dieſelbe Blumenart zu locken. Aber wie ſollen ſie zu regelmäßiger Uebertrag— ung des Pollens einer Blume auf die Narbe einer anderen Blume derſelben Art gezwungen werden können? Sind ſie doch jo unregelmäßig in ihren Bewegungen, fo unſtet in der Verfolgung eines eben ins Auge gefaßten Zieles, daß ſie bei der mindeſten Störung von dannen fliegen, daß ſie ſich ſelbſt in keiner Weiſe den von ihnen aufgeſuchten Blumen anzupaſſen vermocht haben. In der That ſcheint nur eben ihre Dummdreiſtigkeit die Möglichkeit dargeboten zu haben, ſie als Liebesboten in den regel— mäßigen Dienſt der Blumen zu ſpannen. Gewiſſe Blumen haben ſich im buchſtäb— lichen Sinne des Wortes in Fallen und Gefängniſſe umgewandelt, in welche ſie Dipteren hineinlocken, um ſie erſt nach ge— thaner Befruchtungsarbeit, mit neuem Pollen beladen, wieder zu entlaſſen. Und die be— trogenen Fliegen und Mücken ſind leicht— lebig genug, um, kaum in Freiheit geſetzt, demſelben Sinnesreize, der ſie zum erſten Male in die Falle lockte, ſofort von neuem zu unterliegen, und das in mehrmaliger oder oftmaliger Wiederholung, ohne daß ſie durch Erfahrung gewitzigt werden. Es leuchtet ein, daß derartige Fallen und vorübergehende Gefängniſſe nicht durch | die Blumenauswahl der Fliegen und Mücken gezüchtet worden ſein können, da ja dieſe, wie man ſich leicht durch direkte Beobacht— ung überzeugen kann, ihrer gezwungenen Haft zu entkommen beſtrebt ſind, alſo ge— wiß nicht wiſſentlich und abſichtlich ſich in dieſelbe begeben. Vielmehr vertheilen ſich bei allen ſolchen Blumen die Wirkungen Kosmos, Band III. Heft 4. türlicher Blumenzüchtung in folgender Weiſe: 1. Zuerſt find von den Fäulnißſtoffe lie⸗ benden Dipteren ſolche Farben- und Ge— ruchsabänderungen ausgewählt und zu dau— ernden Eigenthümlichkeiten gezüchtet worden, durch welche die meiſten anderen Inſekten gerade zurückgeſchreckt werden. Die Pro— dukte ſolcher Züchtungen können ganz paſſend als Ekelblumen bezeichnet werden; denn nur ihrer Ekel erregenden Wirkung iſt es zuzuſchreiben, daß ſich ihr Beſucherkreis auf eine enge Geſellſchaft ſich vor nichts ekeln— der Gäſte beſchränkt hat. Es ſind dies außer den genannten Fliegen auch an Fäul— nißſtoffen ſich weidende Käfer,“) die ſich aber, wegen ihrer ſehr langſamen Beweg— ung von einem Stock zum anderen, zur Kreuzungsvermittelung ganz und gar nicht: eignen. Die ausſchließlichen oder faſt aus— ſchließlichen Kreuzungsvermittler der Efel- | blumen find daher die Fäulnißſtoffe lieben⸗ den Dipteren. Da jedoch eine regelmäßige Kreuzungsvermittelung durch ſo ſcheue, leicht— flüchtige Gäſte ohne einen beſonderen, von der Blume ausgeübten Zwang kaum ein— treten kann, ſo iſt zu der von den genann— ten Inſekten bewirkten Züchtung von Ekel— blumen gewöhnlich noch eine von ihrer Wahl unabhängige Naturzüchtung hinzu— getreten und hat diejenigen Abänderungen der Ekelblumen erhalten und ausgeprägt, welche ihre unſteten Gäſte ſo lange feſt— hielten, bis ſie nicht nur den Dienſt der Kreuzungsvermittelung geleiſtet, ſondern ſich In den Aasfliegen anlockenden und durch ſie der Kreuzung theilhaftig werdenden Blüthen von Arum Dracunculus fand Pie— cioli bei Florenz ungefähr 200 Koth und Aas liebende Käfer aus den Gattungen Der- mestes, Hister, Saprinus, Nitidula, Silpha, Oxytelus u. a. (Delpino, Ulteriori osserva- zioni II. p. 226). * | 322 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. auch wieder mit neuem Pollen behaftet und prägt proterogyniſch waren, das heißt, dadurch zur ſofortigen Kreuzung der zu- bei denen die Narben in ihrer Entwidel- nächſt zu beſuchenden Blüthen vorbereitet hatten. Auf dieſe Weiſe konnten alſo und mußten, beim Eintreten geeigneter Abänder— ungen, aus einfachen offenen Ekelblumen jene die Fliegen fangenden und vorüber— gehend feſthaltenden Blumen hervorgehen, die ſich wohl am beſten unter dem Namen Fliegenfallenblumen zuſammenfaſſen laſſen. Eine Nöthigung der gefangenen Fliegen zur Kreuzungsvermittelung kann von den Fliegenfallenblumen auf zweierlei Weiſe be— wirkt werden, je nachdem die Falle einen geräumigen Behälter (Blüthenkeſſel) dar— ſtellt, in welchem mehrere Fliegen einge— fangen werden und ſich frei umhertummeln, oder eine Klemme, welche nur eine einzelne Fliege vorübergehend feſthält. In Blumen der erſteren Art, die wir als Keſſel— fallenblumen bezeichnen können, kann mit unausbleiblicher Sicherheit Kreuzung durch Vermittelung der in dem Gefängniſſe ganz regellos ſich umhertreibenden Gäſte offenbar nur dann erfolgen, wenn dieſelben, in das Gefängniß eintretend, nur die Nar— ben entwickelt finden, ſo daß ſich fremder | Blüthenſtaub, wenn fie ſolchen mitbringen, | bei ihrem Umhertreiben im Blüthenkeſſel an den Narben abſetzen muß, ohne erſt mit eigenem Blüthenſtaub untermiſcht oder durch denſelben verdrängt worden zu ſein, wenn ſodann, erſt nach dem Verſchrumpfen der Narben, die Staubgefäße ſich öffnen und ihren Pollen entlaſſen, und wenn end— lich die gefangenen Gäſte, erſt nachdem ſie ſich mit dieſem Pollen behaftet haben, wie— der entlaſſen werden. Keſſelfallenblumen konnten fi daher immer nur aus auf Dipteren beſchränkten Blumen entwickeln, welche bereits mehr oder weniger ausge— ung den Staubgefäßen mehr oder weniger vorauseilten. Die einzelnen Schritte dieſer Entwickelung laſſen ſich aber dann, wie wir an den einheimiſchen Beiſpielen ſehen wer— den, ſehr wohl als beim Eintreten geeig- neter Abänderungen unausbleibliche Pro— dukte der Naturzüchtung begreifen.“) Im letzteren Falle, bei Klemmfallen— blumen, muß die Fliege durch das Ein— geklemmtwerden ſelbſt gezwungen werden, mitgebrachten Pollen an der Narbe abzu— ſetzen und neuen mitzunehmen, wenn Kreuz— ung geſichert ſein ſoll. Von Keſſelfallenblumen finden ſich in der einheimiſchen Blumenwelt nur zwei Vertreter: Aristolochia Clematidis und Arum maculatum. allbekannt und bereits wiederholt ſo ein— gehend beſchrieben und erkärt worden, daß ihre Betrachtung für ſich hier kein Inter— eſſe mehr bieten kann. Um ſo wichtiger aber muß es für ein genetiſches Verſtänd— niß derſelben erſcheinen, ihr Verhältniß zu zwei anderen einheimiſchen Blumen, die ſich als Vorſtufen ihrer Keſſelfallen-Einrichtung darſtellen, näher ins Auge zu faſſen. An Asarum europaeum läßt ſich das Ver— ſtändniß für Aristolochia Clematidis, an Calla palustris das Verſtändniß für Arum maculatum gewinnen. ) Es gehört daher jedenfalls eine ſtark teleologiſch gefärbte Brille dazu, um in den Keſſelfallenblumen mit Delpino „eine neue glänzende Beſtätigung jener großen Lehrſätze zu ſehen, daß im Bau der organiſchen Weſen 1) der Typus und die Idee das beſtändige und unumſchränkt herrſchende Element iſt, und daß 2) die Form und der Stoff verän— derliche und untergeordnete Elemente ſind.“ (Ulteriori osservazioni, I. p. 127 flgd.) Beide ſind ſo Fig. 1. u Müller. Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 323 Eine Ekelblume, Asarum europaeum, welche bereits deutlich die Anfänge des Ueberganges zur Keſſelfallenblume erkennen läßt. I. Junge Blüthe, die ſich eben erſt zu öffnen beginnt, nach Entfernung des halben Perigons. II. Aeltere Blüthe. at längere, a? kürzere Staubgefäße, fi Staubfäden, st Narbe. (Das vorderſte der kürzeren Staubgefäße beginnt ſoeben aufzuſpringen und ſich zu erheben.) Im erſten Frühjahre unter dem Laube | jüngere, bald in ältere Blüthen hineinzu— verſteckt blühend macht Asarum europaeum ſich mit ſeinen außen bräunlichen, innen ſchmutzig dunkelpurpurnen Blumenglöckchen den nach lebhaften Blumenfarben und ſüßem Honigdufte umherſpähenden Bienen, Schmet— terlingen, Schwebfliegen u. ſ. w. in keiner Weiſe bemerklich; und ſollten dieſe trotzdem zufällig auf eine der verſteckten, unſchein— baren Blüthen aufmerkſam werden, ſo wird der kampherartige Geruch derſelben fie ſicher zurückſchrecken. Winzige Fliegen und Mücken dagegen, die unter der Laubdecke des Wald- bodens überwintert haben, und die nun dieſelbe erſte Frühlingswärme, welche die Aſarumblüthen zur Entwickelung bringt, ebenfalls aus ihrer Winterruhe hervorlockt, werden vermuthlich gerade durch dieſen Ge ruch und dieſe Farbe angereizt, bald in Blaſenfüße und kleine Milben gefunden. 8 . kriechen oder zu fliegen, wobei fie unver— meidlich den Blüthenſtaub der letzteren oft auf die Narben der erſteren übertragen müſſen.“) In den jüngeren Blüthen nämlich, die ſich ſoeben erſt geöffnet haben (Fig. D, find ) Bei der Scheuheit und Flüchtigkeit dieſer Thiere und der Verſtecktheit der Aſa— rumblüthen gelang es mir, trotz wiederholt darauf verwandter Mühe, bis jetzt zwar nie, die Kreuzungsvermittler auf der That zu er— tappen. Wohl aber ſah ich bei vorſichtigem Abheben der die Blüthen überdeckenden dür— ren Blätter (bei Mühlberg in Thüringen) wiederholt kleine Dipteren wegfliegen und fand die Narben auch ſolcher Blüthen bereits mit Pollen behaftet, deren Staubgefäße noch geſchloſſen waren, wie in Fig. I. — In den Blüthen ſelbſt habe ich nur einige Male die Narben bereits entwickelt und am Rande der Blüthe hinausfliegen, jedoch nicht, ohne des ſechslappigen Stempels ſo um die Mitte der Blüthe herum vertheilt, daß ſich mit Pollen derſelben zu behaften. Sind hineinkriechende oder fliegende Dipteren ſehr die Kreuzungsvermittler ausgeblieben, ſo leicht mit denſelben in Berührung kommen und, wenn ſie bereits mit Pollen vorher beſuchter Blüthen behaftet ſind, Kreuzung bewirken können. Die zwölf Staubfäden dagegen, von denen immer ein längerer mit einem kürzeren abwechſelt, ſind noch flach auf dem Boden des Blumenkeſſels aus einander gebreitet, und die ungefähr in ihrer Mitte angehefteten Staubbeutel ſind noch geſchloſſen. Die einwärts gebo— genen Perigonzipfel geſtatten den kleinen Gäſten leicht den Eingang, erſchweren ihnen aber den Ausgang. Es mag daher ſehr wohl bisweilen vorkommen, daß einer oder der andere derſelben nicht eher aus der Blüthe herauszukommen weiß, bis die An— theren ſich geöffnet und die Perigonzipfel ſich weiter nach außen gebogen haben. Tritt dieſer Fall ein, ſo iſt damit der Anfang der Ausbildung einer Keſſelfallen— blume gegeben. Denn der kleine, unfrei— willig in der Blüthe feſtgehaltene Gaſt wird nun kaum aus derſelben entkommen haftet zu haben. Einige Zeit nach dem Aufblühen nämlich erheben ſich, einer nach dem anderen, die ſechs abwechſelnden län— geren Staubfäden (à1), legen ſich in die Zwiſchenräume zwiſchen die ſechs Narben und biegen ihre dieſe überragenden Spitzen (fi) etwas nach innen, während gleichzeitig ihre die geöffneten Staubbeutel zu paſſiren und kann in dieſem Entwickelungsſtadium, wäh⸗ rend Staubgefäße und Narben zugleich entwickelt ſind, Selbſtbefruchtung erfolgen, indem in den abwärts geneigten Blüthen die Narben leicht in die Fallrichtung des aus den Staubbeuteln fallenden Pollens zu ſtehen kommen (wie man ſich deutlich machen kann, wenn man die Blüthen— abbildung Fig. II ſo weit herumdreht, bis ſie ſchräg abwärts gerichtet iſt). Und dieſe Möglichkeit, im Nothfalle durch Selbſt— befruchtung ſich fortzuerhalten, wird in der That einer Ekelblume in der Regel erſt dann entbehrlich werden, wenn ſie durch Ausprägung einer Fliegenfalle Kreuzungs— vermittelung bei eintretendem Blüthen— beſuche völlig geſichert hat. Doch währt auch ſchon bei Asarum, welches eine An— näherung dazu darbietet, der die Selbſt— befruchtung ermöglichende Entwickelungs— zuſtand nicht lange. Die Narben beginnen nun alsbald zu verſchrumpfen, während gleichzeitig die ſechs inneren Staubfäden (a2), können, ohne ſich mit Pollen derſelben be nach außen gekehrten Staubbeutel aufſprin-⸗ gen und die Perigonzipfel weiter aus einan- der treten (Fig. II). die ſich bis dahin nicht herauszufinden wußte, kann alſo jetzt bequem an einem Eine kleine Fliege, einer nach dem anderen, ſich erheben und ihre Staubbeutel ſich öffnen. Die Blüthe, welche anfangs rein weiblich, darauf zwei— geſchlechtig und zur Selbſtbefruchtung be— fähigt war, iſt alſo zuletzt rein männlich. Wenn endlich auch die ſechs kürzeren Staub— gefäße ſich entleert haben, ſo krümmen ſich die Perigonzipfel wieder vollſtändig nach innen und geben dadurch den Kreuzungs— vermittlern zu erkennen, daß es mit dem Blühen der Blume nun vorbei iſt. Ob die kleinen Gäſte in der Aſarumblüthe nur der aufgerichteten Staubfäden in die Höhe laufen und von ſeiner Spitze ab und aus ein willkommenes Obdach finden oder auch den Pollen derſelben genießen, vermag ich nicht zu ſagen. — Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. — Von dieſer einfachen offenen Ekelblume iſt es nun zwar noch ein bedeutender Sprung zu der viel bewunderten Keſſel— falle der anderen bei uns einheimiſchen Ariſtolochiacee, der häufig in Hecken als Unkraut wuchernden Aristolochia Clematidis. Aber da die erſten Anfänge der Ausbildung einer ſolchen Falle und die Vortheile derſelben für die Kreuzung der Pflanze ſich auch ſchon bei Asarum er— kennen ließen, ſo iſt es nicht ſchwer, auch die dazwiſchen liegenden Schritte, die Aus— bildung einer Fahne, einer Eingangsröhre, verſchrumpfender Reuſenhaare in derſelben, die vollſtändigere Durchführung der zeit— lichen Trennung beider Geſchlechter (pro— terogyne Dichogamie) und das Abwärts— neigen der anfangs aufgerichteten Blüthe, als Ergebniſſe ſtufenweiſe fortſchreitender Züchtung zu begreifen, die Fahne als Züchtungsprodukt der blumenauswählenden Dipteren, die Reuſenhaare und die ganze auf Sicherung der Kreuzung hinauslaufende Einrichtung als Produkt von der Wahl der Inſekten unabhängiger Naturzüchtung, den ſowohl für die Geſchlechtsorgane als für die feſtgehaltenen Gäſte eine warme geſchützte Stätte darbietenden Keſſel als Produkt der combinirten Wirkung beider. Eine Ekelblume kann Dipteren der ver— ſchiedenſten Größe zugänglich ſein und von ihnen gelegentlich befruchtet werden, eine Keſſelfallenblume dagegen nur von denjeni— gen Dipteren regelmäßige Kreuzungsver— mittelung erfahren, welchen ihre Körper— größe im erſten weiblichen Entwickelungs— zuſtande der Blüthe wohl den Eingang, aber nur im zweiten männlichen Entwidel- ungszuſtande derſelben den Ausgang ge— ſtattet. Demgemäß hat ſich die Gattung Aristolochia in eine große Anzahl ver— ſchiedener Arten geſpalten, welche Dipteren Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 325 der verſchiedenſten Größe einfangen und zur Kreuzungsvermittelung zwingen. So erreichen z. B. von den kleinen Gäſten unſeres Oſterluzei (A. Clematidis) die größten kaum 2 Millimeter Körperlänge, die bei uns häufig zur Bekleidung von Lauben verwendete A. Sipho fängt in ihren tabakspfeifenförmigen, mißfarbigen und ekel— haft riechenden Blüthen ſchon Fliegen bis zu 7 — 8 Millimeter Körperlänge ein, und die großen, trübrothen Blüthen der A. grandiflora in Jamaica, die, mit ihrer verlängerten Fahne einen Zweig umſchlin— gend, auch beim Beſuche ſchwererer Inſekten ſich in beſtimmter Lage halten, locken mit dem widrigen Aasgeruche, den ſie um ſich verbreiten, ohne Zweifel Aasfliegen von beträchtlicher Größe an ſich. Wie die Ariſtolochiaceen, ſo ſcheinen auch die ihnen nächſtverwandten, aber ſchmarotzenden Raffleſiaceen in allen ihren Familiengliedern ausſchließlich der Kreuz— ungsvermittelung durch Fäulnißſtoffe liebende Dipteren angepaßt zu ſein und mehrere von ihnen“) geben ſich durch Farbe und Ge— ruch ſofort als Aasfliegenblumen zu erkennen. Wahrſcheinlich ſind daher ſchon die ge— meinſamen Stammeltern aller Ariſtolochia— ceen und Raffleſiaceen Ekelblumen geweſen und haben dieſe Eigenthümlichkeit, mehr oder weniger ausgeprägt, auf alle ihre Abkömmlinge vererbt. Als Vorſtufe unſerer zweiten Keſſel— fallenblume, des Arum maculatum, iſt Calla palustris zu betrachten. Dieſe bietet noch kaum eine Andeutung eines Ueber— ganges zur Fliegenfalle dar. Dagegen iſt ſie als Uebergangsſtufe von einer indiffe— renten zu einer Ekelblume von beſonderem Bafflesia Horsfieldi, Arnoldi, Patma (Delpino, Ulteriori osservazioni. I. p. 35. II. p. 213). — FF abe 88 8 326 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Intereſſe, und aus ihrem Vergleiche mit Den gemeinſamen Stammeltern der Arum maculatum laſſen ſich überdieß auch Aroideen am nächſten ſtehend iſt von den hier die auf einander folgenden Schritte einheimiſchen Arten ohne Zweifel Acorus ableiten, welche zur Ausbildung der Fliegen: Calamus mit ſeinem einfachen Blüthen— falle der letzteren Blume geführt haben. ſtandsdeckblatt und mit ſeinen völlig offenen, 67% } 3 . e 7 2 e — Fig. 2. Eine noch unausgeprägte Ekelblume (Calla palustris). III. Der ganze Blüthenſtand in natürlicher Größe. IV. Einzelne Blüthe im erſten weiblichen Zuſtande. Die Staubgefäße find noch nicht aufgeſprungen. Der Fruchtknoten (ov) endet in einen abgeſtutzten Kegel, deſſen Abſtutzungsfläche als Narbe fungirt. Die Narbe (st) iſt jetzt friſch, von grünlicher Farbe, empfängnißfähig. V. Einzelne Blüthe im zweiten männ⸗ lichen Zuſtande. Die Narbe iſt braun geworden; die Staubgefäße ſind zum Theil noch geſchloſſen (at), zum Theil geöffnet und den blosgelegten Blüthenſtaub nach oben kehrend (a5); eines (a?) ift ſchon entleert. Der Fruchtknoten iſt bereits jo ſtark angeſchwollen, daß er bei bb mit den Fruchtknoten der benachbarten Blüthen zuſammenſtößt und ſich abplattet. (Fig. IV und V bei ſiebenfacher Vergrößerung.) ſchmuckloſen und geruchloſen Blüthen, welche ſtandsdeckblatt (Spatha) bildet eine breite, etwa anfliegenden Juſekten nichts als ihren auf der Innenſeite weißlich gefärbte, gerade Blüthenſtaub darbieten. Dieſen gegenüber aufgerichtete Fläche, welche den Blüthenſtand erſcheint Calla palustris bereits als weit ringsum weit überragt und ſo ſich auf der vorgeſchritten in einſeitiger Anpaſſung an einen Seite den Inſekten weithin ſichtbar einen beſtimmten Beſucherkreis; ſie charak- macht und beſonders gewiſſe Fliegen und teriſirt ſich bereits als unvollkommen aus— Mücken wirkſam anlockt, auf der andern geprägte Ekelblume. Denn ihr Blüthen- Seite den Blüthenſtand und die den an— r \ ſelben gelockten kleinen Gäſte gegen Wind und Wetter ſchützt, namentlich zu Anfang der Blüthezeit, während es ſich noch in halb zuſammengewickeltem Zuſtande befin— det. (Während der ganzen Blüthezeit, und weit ausgeprägter als unſere Calla palustris nur anfangs, zeigt die als Topfpflanze bei uns beliebte Calla aethiopica ihren Blüthen— ſtand von einem innen weiß gefärbten Deck— blatte tutenförmig umhüllt.) Durch den uns widrigen Geruch, welchen ſie um ſich verbreiten, verſtärken die Blüthen unſerer Calla nicht nur noch ſehr erheblich ihre anlockende Wirkung auf die Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren, ſondern ſchrecken zu— gleich alle ausgeprägten Blumenbeſucher zu— rück. Weder Bienen, noch Schmetterlinge, noch Schwebfliegen habe ich jemals Calla aufſuchen ſehen. Doch iſt die Ausſchließ— ung der Nicht-Dipteren durch die Eigen— thümlichkeit der Farbe und des Geruches, die Ausprägung als Ekelblume, immerhin noch eine unvollſtändige. Denn obgleich mannigfache Arten kleiner Fliegen und Mücken die bei weitem häufigſten Beſucher der Calla— blüthen ſind (was ſelbſt die Spinnen ſehr wohl zu wiſſen ſcheinen, Spatha von Calla ausgeſpannten Netzen ich eine ziemliche Zahl kleiner Dipteren hängen fand), ſo weiße Farbe der Spatha angelockt und durch den widrigen Geruch der Blüthe nicht hinreichend zurückgeſchreckt, auch man— cherlei Käfer an die Blüthenſtände an, freilich nur in der vergeblichen Hoffnung, irgend e ihnen ee Ausbeute zu finden.“) 0 Ich habe ein einziges Mal (18. Mai 1873) bei ſonnigem Wetter, im Sumpfe ſtehend, zahlreiche Callablüthen etwa eine halbe Stunde lang überwacht, und während dieſer Zeit nicht nur allerlei kleine Dipteren (3. B. Chirono- mus mehrere Arten, Tachydromia Sp., Droso- in deren in der falls nur durch die combinirte Wirkung fliegen doch, durch die | Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Offenbar ſind die eben bezeichneten Eigen— thümlichkeiten, welche die Blüthenſtände der Calla von denen ihrer Acorus Ähnlichen Stammeltern auszeichnen, Theil durch die von den Dipteren ſelbſt ausgeübte Blumenwahl zur Ausprägung gelangt. Denn die geſteigerte Augenfällig— keit kommt unmittelbar nur den Beſuchern, erſt mittelbar, durch die von dieſen bewirkte Kreuzung, auch der Pflanze ſelbſt zu ſtatten. Auch der uns widrige Geruch wirkt un— mittelbar ſteigernd auf den Beſuch der kleinen Fäulnißſtoffe liebenden Gäſte ein; ohne Zweifel iſt er aber gleichzeitig, en Verein mit den giftigen Säften, als Schutz— mittel gegen weidende Thiere der Pflanze von unmittelbarem Nutzen und daher wohl als durch die combinirte Wirkung der In— ſekten- und Naturausleſe gezüchtet zu be— trachten. Daſſelbe gilt von der Verbrei— terung und dem anfangs Zuſammengewickelt— bleiben der Spatha, wodurch ſowohl den Blüthen, als ihren Gäſten Schutz gegen Witterung gewährt wird. Wenn ſich dann ferner Calla-ähnliche Stammeltern in die vollendete Keſſelfalle unſeres Arum macu— latum ungebildet haben, jo kann das eben— der von den Beſuchern ſelbſt ausgeübten Blumenwahl und der von den Beſuchern unabhängigen Naturzüchtung hervorgebracht ſein, welche letztere in dem Erhaltenbleiben der die größte Wahrſcheinlichkeit der Kreuz— phila graminum Fall., Hydrellia griseola Fall.) von Blüthenſtand zu Blüthenſtand fliegen und theils Pollen freſſen, theils in den von der Spatha dargebotenen Schlupfwinkel ſich bergen ſehen; auch ein Meligethes, ein Phy- tonomus polygoni, ein Sitones, einige Hal- tica coerulea und eine Cassida nobilis flogen an die Blüthenſtände an, aber nach kurzem Aufenthalte, ohne etwas genoſſen zu haben, enttäuſcht wieder von dannen. wenigſtens zum 5 „ ̃ ͤ —— ——.. ...... = Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. ung gewährenden und zugleich gegen wei- zugt haben, welche ihnen die wirkſamſte dende Thiere am beſten geſchützten Abän— | Anlockung, das geſchützteſte und angenehmſte derungen beſtand. Die Calla ähnliche Obdach und die ſicherſte und bequemfte Blumen beſuchenden Dipteren werden na- Einführung in daſſelbe gewährten. So türlich ſtets diejenigen Abänderungen bevor- laſſen ſich der ausgeprägtere urinöſe Geruch Eine Keſſelfallenblume (Arum maculatum) Fig. 3. im erſten Entwickelungszuſtande, während deſſen die Schmetterlingsmücken (Psychoda) hinein- gelockt werden, VI. von außen geſehen, VII. desgl. mit aufgeſchnittenem Blüthenkeſſel, in halber natürlicher Größe, VIII. Blüthenkeſſel, von der Seite aufgeſchnitten, natürliche Größe, IX. Durchſchnitt, dicht über dem Eingangsgitter des Blüthenkeſſels. a Fahne und Eingangszelt. b Schwarzpurpurne Anlockungs- und Leitſtange. e Eingangs gitter des Blüthenkeſſels (zu ſtarren Fäden umgebildete Staubgefäße). d Staubgefäße, noch geſchloſſen. e Umgebildete Ovarien, ohne erkennbaren Lebensdienſt (vielleicht blos durch Correlation des Wachsthums mit den oberen Antheren umgebildet). k Ovarien, jetzt empfängnißfähig. Die an der Leitſtange hinabgekrochenen, durch das Eingangsgitter in den Blüthenkeſſel ge— langten kleinen Schmetterlingsmücken (Psychoda phalaenoides) fliegen, wenn fie wieder heraus wollen, nach dem Hellen, ſtoßen dabei an die Gitterſtäbe und fallen ſo immer wieder in den Blüthenkeſſel zurück. Erſt wenn die Narben verblüht ſind und die Staubgefäße ihren Pollen entlaſſen haben, thun ſich die bis dahin eng zuſammenſchließenden Ränder der Düte ſo weit aus einander, daß die kleinen Mücken wieder herauskriechen können, aber nicht, ohne ſich mit Pollen reichlich behaftet zu haben, den ſie dann im nächſtbeſuchten Blüthenkeſſel an den Narben abſetzen. des Arum maculatum, das Sich- ſchwarzpurpurnen, aus der Düte hervor— Na. ausbreiten der obern Hälfte der Spatha zu einer weithin ſichtbaren Fahne und zu einem offenen Eingangszelte und die Ver— längerung der Blüthenſtandsachſe zu einer ragenden Leitſtange als Züchtungsprodukte der beſuchenden kleinen Pſychoden, die voll— ſtändige räumliche und zeitliche Trennung der Staubgefäße und Ovarien, die Um— bildung der oberſten Staubgefäße zu ſtarren, den Keſſeleingang verſchließenden Fäden, das feſte Zuſammenſchließen der Ränder der Düte zu Anfang und ihr Auseinander— gehen zu Ende der Blüthezeit als Wirk— ungen von der Wahl der Pſychoden unabhän— giger Naturzüchtung erklären, während das Zuſammengewickeltbleiben der untern Hälfte der Spatha zu einer Düte ſowohl den Geſchlechtsorganen als den die Blüthen aufſuchenden Pſychoden einen warmen, ge— ſchützten Aufenthaltsort bietet und daher die combinirte Wirkung der Naturzüchtung und der von den Pſpychoden ausgeübten Züchtung vorausſetzen läßt. Nur die Um— bildung der oberſten Ovarien läßt ſich, ſo lange kein Lebensdienſt derſelben erſichtlich iſt, aus keiner der beiden Züchtungsarten erklären. Da ihre Umbildung in auffallen- der Weiſe der durch Naturausleſe gezüchteten Umbildung der oberſten Staubgefäße analog iſt, ſo liegt es nahe, an eine Wechſelbezieh— ung des Wachsthums beider zu denken. Wie die Gattung Aristolochia, fo hat ſich auch Arum in verſchiedene Arten ge— ſpalten, welche für Dipteren verſchiedener Größe Keſſelfallen bilden. So wurde in der Keſſelfalle unſeres Arum maculatum in der Regel nur die 1 bis 1½ Millimeter große Psychoda phalaenoides, dieſe oft zu hunderten, von mir gefunden, während Arum italicum, außer dieſer und einigen anderen faſt ebenſo kleinen, auch ſchon größere Arten, z. B. die 4 Millimeter große Dro- sophila funebris, einfängt und Arum Dracunculus durch größere Aasfliegen befruchtet wird. Während aber bei den Ariſtolochiaceen die Anpaſſung an Flie— gen als Kreuzungsvermittler gemeinſamer Familiencharakter iſt, ſind dagegen bei den Aroideen aus Stammeltern mit einfachen indifferenten Blüthen einerſeits Ekelblumen Kosmos, Band III. Heft 4. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 329 hervorgegangen, die ſich weiterhin größten theils zu Fliegenfallenblumen entwickelt haben, andererſeits aber auch eine ganze Reihe von Schneckenblüthlern, wie z. B. nad) Delpino: Alocasia odora, Atheru- rus tripartitus und mehrere andere. Calla palustris iſt nun nicht blos als Vorſtufe verschiedener Fliegenfallenblumen von Ju— tereſſe; ſie kann uns auch die Entſtehung der Schneckenblüthler ſehr wohl veranſchau— lichen. Denn die Narben und die nach oben gekehrten pollen- bedeckten Seiten der Staubgefäße liegen, die Blüthenſtandsachſe umkleidend, ſo dichtgedrängt in einer Fläche, daß in der That eine über ſie hingleitende Schnecke nicht umhin könnte, in älteren Blüthen mit ihrer ſchleimigen Bauchfläche die pollenbedeckte Seite der Staubgefäße, in jüngeren die Narben zu ſtreifen und Pollen von den erſteren auf die letzteren zu ſchleppen.“) Es bedürfte daher in der That unter veränderten Lebensbedingungen, unter welchen Calla palustris von Dipteren nur höchſt ſpärlich, von Schnecken reichlich befruchtet würde, nur noch einer weiteren Ausprägung der Proterogynie, derart, daß die ganze Pflanze erſt rein weiblich, dann rein mäunlich wäre und der Entwickelung eines Schutzmittels gegen die verheerenden Wirkungen der Schnecken (wie es nach Delpino bei Rhodea japonica das dick— fleiſchig werdende Perigon, bei Alocasia odora ein die Schnecken nach Vollendung der Kreuzungsvermittelung tödtender ätzen— der Saft darbietet), um unſere Ekelblume zu einem Schneckenblüthler umzuprägen. In der That hat E. Warming oft Waſſerſchnecken an den Blüthenſtänden herum— kriechen und nagen ſehen. Er ſpricht jogar die Vermuthung aus, daß dieſelben bei der Befruchtung eine weſentliche Rolle ſpielen möchten. Botanisk tidsskrift, 3 raekke. 2 bind. 1877. S. 117. 330 Nachdem wir die beiden einheimiſchen Keſſelfallenblumen als aus Ekelblumen her— vorgegangen kennen gelernt haben, drängt ſich uns die Frage auf, ob denn wohl alle Keſſelfallenblumen überhaupt einen derarti— gen Urſprung genommen haben mögen. Da nach allen bisherigen Erfahrungen nur Dipteren als Kreuzungsvermittler von die Kreuzungsvermittelung von Inſekten Keſſelfallenblumen auftreten, ſo ſcheint mir dieſe Frage durchaus bejaht werden zu müſſen. Denn wir kennen kein anderes Mittel, durch welches eine offene Blume den Ausſchluß aller Nicht-Dipteren und die Zulaſſung der Dipteren bewirken könnte, als ſolche Farben und Gerüche, durch die ſie eben zur Ekelblume wird, und ganz hat, die überreichlichen Inſektenbeſuch an allgemein mußten doch Dipteren bereits die ausſchließlichen oder doch entſchieden überwiegenden Kreuzungsvermittler einer Blume ſein, ehe ſich dieſelbe zu einer Keſſelfalle für dieſelben ausprägen konnte. Ganz anders verhält es ſich mit der zweiten Klaſſe von Mechanismen, durch welche Dipteren zu regelmäßiger Kreuz— ungsvermittelung gezwungen werden, mit den Klemmfallenblumen. Dieſe ſind weder ausſchließlich Dipteren angepaßt, noch in der Regel aus Ekelblumen hervor— gegangen, wie uns namentlich die höchſt mannigfaltige Familie der Asclepiadeen in unzweideutigſter Weiſe erkennen läßt. Alle Asclepiadeen ſind bekanntlich durch eigenthümliche Klemmkörper ausge— zeichnet, welche ſich an den Rüſſeln, Borſten oder Krallen der beſuchenden Inſekten feſt— klemmen und von dieſen, ſobald ſie ſich gefangen fühlen, gewaltſam losgeriſſen wer— den. Indem nun an jedem Klemmkörper zwei Pollenplatten befeſtigt ſind, werden mittelſt des Klemmkörpers auch dieſe dem Beſucher angeheftet und von demſelben in weiter beſuchten Blüthen unbewußt und Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. ungewollt in eine Narbenhöhle geſchoben, wo ſie nun ihrerſeits ſich feſtklemmen und von dem abermals gewaltſam ſich losreißen— den Inſekte wieder getrennt, auf der Narbe zurückbleiben und Befruchtung bewirken. Da dieſe ganz eigenartige Befruchtungs— einrichtung, welche die Möglichkeit der Selbſtbefruchtung vollſtändig ausſchließt und durchaus erheiſcht, der ganzen Familie der Asclepiadeen eigen iſt, ſo muß ſie ohne Zweifel ſchon von den gemeinſamen Stamm⸗ eltern derſelben erworben und von dieſen auf alle Abkömmlinge vererbt worden ſein. Und wie die Gattung Asclepias noch jetzt honigreiche, allgemein zugängliche Blüthen ſich locken und auf denen die mannigfachſten Bienen, Wespen, Grabwespen, Fliegen und Schmetterlinge ſich einfinden und mit ihren Krallen oder (die Schmetterlinge) mit den Borſten ihrer Beine die Kreuzungs— vermittelung bewirken (wenn auch auf der einen Art mehr dieſe, auf der anderen mehr jene Gäſte), ſo wird es höchſt wahr— ſcheinlich auch mit den gemeinſamen Stamm— eltern der Familie der Fall geweſen ſein. Die Nachkommen aber haben ſich zum großen Theile einſeitig ganz verſchiedenen Inſektenformen angepaßt: Die Arauja- Arten klemmen (nach Delpino) ihre Klemm— körper mit den ihnen angehefteten Pollen— platten an die Rüſſel großer Bienen, die Stephanotis-Arten an die Rüſſel lang— rüſſeliger Schwärmer, die Stapelia- Arten an die Rüſſelborſten großer Aasfliegen, die ſie durch Farbe und Aasgeruch in dem Grade täuſchen, daß die betrogenen Thiere ſogar ihre Eier dieſen Blumen anvertrauen und damit natürlich ſicherem Verderben preisgeben; den Vincetoxicum-Arten dienen die Rüſſel mittelgroßer Fliegen zur Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Kreuzungsvermittelung; die Ceropeja-⸗ Arten fangen in einen dem des Oſterluzei ähnlichen Blüthenkeſſel kleine Fliegen ein, die mit ihren Rüſſeln die Pollenübertragung ausführen müſſen, während bei Aselepias und mehreren anderen Gattungen die Krallen oder Fußborſten verſchiedener Aderflügler, Zweiflügler und Falter die Kreuzung ver— mitteln.“) Aus dieſen Thatſachen laſſen ſich nun in Bezug auf die unbewußte Blumenzüchtung der Inſekten folgende beiden Schlüſſe ziehen: 1. Auch bei der Ausbildung der Klemmfallenblumen der Asclepiadeen müſſen ebenſowohl die durch die Auswahl der Inſekten bewirkte Blumenzüchtung im eigentlichen Sinne des Wortes, als die von der Auswahl derſelben unabhängige Natur- züchtung derſelben (im bildlichen Sinne) betheiligt geweſen ſein; aber dieſe beiden Züchtungen müſſen mehrfach mit einander abgewechſelt haben. 2. Bei der Ausprägung beſtimmten Inſektenformen angepaßter Fallen muß hier eine entgegengeſetzte Aufeinanderfolge beider Züchtungsarten ſtattgefunden haben als bei Aristolochia und Arum. Die Richtigkeit des erſten dieſer beiden Sätze ergiebt ſich aus folgender Betracht— ung: Da, Stammeltern der Asclepiadeen-Familie die durch Klemmkörper ausgezeichnete Be— fruchtungsweiſe beſeſſen haben, welche Selbſt— befruchtung unmöglich macht, alſo hinreichen— den Beſuch die Klemmkörper herausziehender und die Pollenplatten in die Narbenhöhlen bringender Inſekten zur nothwendigen Vor— ) Delpino, relazione sull’ appareechio della fecondazione nelle Asclepiadee etc. Torino 1865; Hildebrand, Bot. Zeitung 1867. ©. 266—270. Delpino, ulteriori wie oben gezeigt, ſchon die 331 ausſetzung hat, ſo muß ſchon bei den Ur— ahnen dieſer Stammeltern die von den Inſekten überhaupt geübte Blu— menauswahl zur Ausprägung ſo augen— fälliger und honigreicher Blumenformen geführt haben, daß denſelben ſtets reichlicher Inſektenbeſuch zu Theil und die Möglich— keit der Selbſtbefruchtung vollſtändig ent⸗ behrlich wurde. Erſt nachdem dies erreicht war, konnte bei den Stammeltern der As- clepiadeen ſelbſt durch Naturzüchtung die Ausbildung der Klemmkörper und der die Pollenplatten abfangenden Narbenhöhlen bewirkt werden, deren einzelne Schritte wir nicht mehr verfolgen können. Darauf machte ſich bei den Abkömmlingen dieſer Stammeltern wieder die Blumenaus— wahl der Inſekten, jetzt aber der ver— ſchiedenen, mit beſonderen Geſchmacksricht— ungen, Liebhabereien und Bedürfniſſen ausgeſtatteten Inſektenabtheilungen geltend und züchtete die verſchiedenen Asclepiadeen— Blumen, welche theils Schwärmern, theils Aasfliegen, theils winzigen Dipteren u. ſ. w. am beſten paſſen. Endlich bewirkte wieder, gleichzeitig mit dieſer Blumenzüchtung der Inſekten oder ihr nachfolgend, Natur— züchtung die Ausprägung derjenigen Ab änderungen, welche durch die beſtimmte, ſie bevorzugende Inſektenabtheilung, ſobald ſie ſich auf den Blüthen einfand, am ſicherſten Kreuzung erfahren mußten, wie z. B. die mit Klemmfallen combinirte Fliegen-Keffel- falle von Ceropeja. Daß dabei die Ausprägung beſtimmten Inſektenformen angepaßter Fallen einer entgegengeſetzten Aufeinanderfolge beiderlei Züchtungsarten ihre Entſtehung verdankt als bei Arum und Aristolochia, tritt am deutlichſten hervor, wenn man demſelben engbegrenzten Beſucherkreiſe entſprechende | osservazioni I. p. 224 ff. Fallen zum Vergleiche heranzieht, z. B. Aasfliegenfallen, welche ſich ſowohl bei Arten der Gattungen Arum und Aristo- lochia, als bei Asclepiadeen (Stapelia) vorfinden. Da ſpringt denn ſofort in die Augen, daß bei Arum und Aristolochia, wie oben gezeigt, zuerſt die Blumenauswahl Fäulnißſtoffe liebender Inſekten ihre Wirk— ſamkeit entfaltet und Ekelblumen gezüchtet hat, welche dann erſt durch die von der Wahl der Inſekten unabhängige Naturzücht— ung zu Aasfliegenfallen ausgebildet worden ſind, daß dagegen bei den Asclepiadeen In— ſektenfallen die urſprüngliche, bereits den gemeinſamen Stammeltern durch Natur- züchtung zu Theil gewordene und von dieſen ererbte Blüthenausrüſtung bilden, welche ſich erſt nachträglich durch die unbewußte Blu- menzüchtung der verſchiedenen Inſektenab— theilungen in Bienen-, Schwärmer-, Aas— fliegen- und andere Fallenblumen differen— zirt haben. Während ſich bei den Asclepiadeen die mit den Staubkölbchen verbundenen Klemmkörper harten Hervorragungen des Inſektenleibes, Krallen, Borſten oder Rüſſeln, anklemmen, wird von anderen Klemmfallen— blumen, z. B. den Cypripedium - Arten, das ganze Inſekt feſtgeklemmt und kann nicht eher wieder loskommen, als bis es an der Narbe etwa mitgebrachten Pollen abgeſetzt und an den Staubgefäßen neuen mitgenommen hat. Nach der Geräumigkeit des vorüber— gehenden Gefängniſſes, in welches ſie ihre Kreuzungsvermittler einſchließen, könnte man die Cypripedium-Blumen den Keſſel— fallenblumen von Arum und Aristolochia anzureihen ſich verſucht fühlen. Sie ſind aber von denſelben in Bezug auf die Art der Kreuzungsvermittelung ganz durchgrei— fend verſchieden. Denn bei Arum und Aristolochia werden zahlreiche kleine Gäſte ung zwingt. 2332 Müller, Die Inſekten als unbew ußte Blumenzüchter. in den Blüthenkeſſel gelockt, treiben ſich ganz regellos in demſelben umher und werden nur dadurch zu regelmäßigen Kreuz— ungsvermittlern, daß ſie bei ihrem Eintritte nur die Narben entwickelt finden und erſt dann wieder entlaſſen werden, wenn ſie ſich nach dem Verblühen der Narben und der Entleerung der Staubgefäße mit dem Pollen derſelben behaftet haben. Dagegen locken die Cypripedium-Blüthen in ihre einem weſtfäliſchen Holzſchuhe ähnliche Unterlippe“) jedesmal nur einen einzigen Kreuzungsver— mittler hinein und laſſen denſelben, da er von den glatten, nach oben zuſammenge— bogenen Wänden immer wieder abgleitet, nicht anders wieder heraus, als indem er ſich durch eine Klemme hindurchzwängt, die ihn zugleich zur Vermittelung der Kreuz— Die einzige Möglichkeit des Ausganges gewährt nemlich dem gefange— nen Gaſte eine der beiden kleinen Oeffnun— gen zu beiden Seiten der Baſis der Unter— lippe, und dieſe kann er nicht erreichen, ohne ſich unter der Narbe hindurchzudrän— gen; wenn er ſich nun in die kleine Aus— gangsöffnung hineingezwängt hat, kann er aus ſeiner eingeklemmten Lage nicht anders wieder herauskommen, als indem er ſich mit dem klebrigen Pollen eines Staubge— fäßes beſchmiert, welcher dann in der nächſt— beſuchten Blüthe die Kreuzung der Narbe bewirken muß. Die Cypripedium- Blüthen ſind alſo richtige Klemmfallen. Wie die Klemmfallen der Asclepiadeen, fo fangen auch diejenigen der Cypripedium- Arten theils Fliegen, theils andere Inſekten (unſere einheimiſche Art nemlich Bienen) ein. Der muthmaßliche Urſprung der ) Die Blume wird daher in Weſtfalen, wenigſtens bei Stromberg und Oelde, ebenſo treffend als derb „Holſchkenblaume“ (Holz— ſchuhblume) genannt. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Bienenfalle unſeres Frauenſchuh (Cypripe- dium calceolus) iſt aber, was die Com— bination der Wirkung der Naturzüchtung und der von den Inſekten ausgeübten Zücht— ung betrifft, wiederum ein ganz eigenthüm— licher, nicht nur von dem der Asclepiadeen, ſondern ebenſo von dem der Aristolochia- und Arum-Inſektenfallen jo verſchieden, daß er wohl eine beſondere Beſprechung ver— dient. Alle (4 bis 5) bisher in Bezug auf ihre biologiſche Bedeutung ins Auge gefaßten exotiſchen Cypripedium-Arten haben ſich nemlich einem der ſcharfſinnigſten Biologen *) als Fliegenfallenblumen herausgeſtellt; bei einer derſelben beobachtete er, allerdings nur im Gewächshauſe, den Fliegenbeſuch direkt. Auch die nächſtverwandte Orchideen— gattung, Selenipedium, iſt nach demſelben Gewährsmann eine Fliegenfallenblume. Sie iſt von derſelben Einrichtung wie Cypri— pedium, nur mit dem Unterſchiede, daß ſich die beiden oberen ihrer drei Blumen— blätter in etwa ½ Meter lange herab— hängende Schwänze umgebildet haben, welche, wie auch ſonſt dergleichen Bildungen (z. B. bei Himantoglossum hireinum), beſuchenden Dipteren als Leitſeile zu dienen ſcheinen. Nur unſer einheimiſcher Frauenſchuh (Cy— pripedium calceolus) wirkt, nach meinen oft wiederholten direkten Beobachtungen, als Bienenfalle, indem unausgeprägtere, weniger intelligente Bienen (berſchiedene Arten der Gattung Andrena) von ihr ein— gefangen und in den Dienſt als Kreuzungs— vermittler gezogen werden. Aber auch bei ihm findet ſich eine Eigenthümlichkeit vor, welche auf urſprüngliche Anpaſſung an Dipteren hindeutet, nemlich die purpurnen Flecken auf der Oberſeite des zu einem lichtabſperrenden Schirme umgebildeten drit— DE. Delpino, Ulteriori osservazioni I. p. 175 ff., II. p. 227 ff. 333 ten Staubgefäßes. Es muß deshalb, nach den vorliegenden Thatſachen, als das Wahr- ſcheinlichſte erſcheinen, daß alle Frauenſchuh— arten, einſchließlich des Selenipedi um, von gemeinſamen Stammeltern abſtammen, welche durch die Blumenzüchtung der Fliegen be— reits dieſen allein entſprechend ſich ausge— bildet hatten und durch Naturzüchtung zu Klemmfallen derſelben geworden waren. In unſerem Cypripedium calceolus würde hiernach eine Blume vorliegen, welche aus einer bereits ausgeprägten Fliegenfalle unter veränderten Lebensbedingungen zu einer Bienenfalle umgeprägt worden iſt. Die Purpurflecken des Staminodiums wären als Zeugen urſprünglicher Fliegenfreund— ſchaft übrig geblieben; aber die lebhafteren Farben und der honigſüße Wohlgeruch wür— den bekunden, daß ſeitdem eine Geſellſchaft äſthetiſch ausgebildeterer Blumenzüchter die ihrer Geſchmacksrichtung entſprechenden Ab— änderungen bevorzugt hat. Eine von den Asclepiadeen und Oy- pripedium wieder ganz verſchiedene Flie— genklemmfalle beſitzt Pinguicula alpina, wie ich im Auguſt vorigen Jahres im Heuthale am Bernina wiederholt durch di— rekte Beobachtung conſtatiren konnte. Dieſer Fall iſt noch inſofern von beſonderem In— tereſſe, als er uns von allen bis jetzt be kannt gewordenen Klemmfallenblumen nicht blos in Bezug auf ihre Entdeckung, ſondern auch in Bezug auf ihre Entſtehung diejenige neueſten Datums darbietet und die Reihe ver— ſchiedener Altersſtufen derſelben um ein Glied erweitert. Denn während die Klemmfallen der Asclepiadeen ſchon bei den Stammeltern einer weit verzweigten Familie, diejenigen der Cypripedien bei den Stammeltern eines kleinen Familienzweiges zur Ausprägung gelangt find, iſt die Klemmfalle der Pin- guicula alpina auf dieſe eine Art beſchränkt. F 334 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Die weißen, im Blütheneingange mit | ift aber auf der Unterfläche mit kleinen zwei gelben und gelb behaarten Ausſack- einzelligen geſtielten Knöpfchen (Fig. XVII.) ungen (a) verzierten Blüthen locken vor— beſetzt, die von zarter Haut umkleidet und zugsweiſe mittelgroße Fliegen (Musciden) mit Saft erfüllt ſind. Dieſe Knöpfchen an, die ganz in die Blüthe hinein kriechen, ſcheinen das Genußmittel zu ſein, welches bis ſie mit dem Kopfe in den hohlen die Fliegen zu wiederholten Beſuchen der Sporn (e) kommen. Der Sporn bietet Blüthen anlockt. Beim Hineinkriechen in ihnen keinen Honig dar; ſeine Innenwand dieſelben dienen ihnen ſowohl die gelben Fig. 4. Eine Klemmfallenblume (Pinguicula alpina). X. Blüthe von der Seite geſehen. XI. Dieſelbe im Längsdurchſchnitt (8½ : 1). XII. Ge⸗ ſchlechtstheile derſelben (7:1). XIII. Obere Hälfte einer Blüthe, deren Staubgefäße noch geſchloſſen find (3½ : 1). XIV. Geſchlechtstheile derſelben (7: 1). XV. Geſchlechtstheile einer Blüthe, deren Staubbeutel ſich geöffnet haben, nachdem der untere Narbenlappen von hinten her in die Höhe geklappt iſt, ſo daß man ſeine Unterfläche ſieht. XVI. Untere Hälfte der Blüthe (Fig. XIII). XVII. Zwei der geſtielten Knöpfchen, mit welchen die innere Spornwand ausgekleidet iſt (80: 1). ca Kelch, co Blumenkrone, fi Staubfäden, an Staubbeutel, po Pollen, ov Fruchtknoten, st Narbe. Die Erklärung von a, b, e im Text. Haare der beiden Ausſackungen im Blüthen— | Nähe betrachtet. Die ſchräg nach hinten eingange (a), als die farbloſen, ſtarren, gerichteten ſteifen Haare hindern ſie am ſchräg nach hinten gerichteten Haare hinter raſchen Rückzug. Sie kann nur ganz der Ausſackung (b) als bequeme Haltpunkte. Sobald aber die Fliege mit dem Kopfe im Sporne angelangt iſt, ſitzt ſie ziemlich feſt, ſo daß ſie z. B. nicht entwiſcht, wenn man die Blume abpflückt und aus nächſter langſam zurück, indem ſie ſich mit dem ſonſt gegen die Sperrhaare rennenden Leibe möglichſt nach oben drängt, wobei ſie mit dem Rücken die Antheren ſtreift und den unteren Lappen der (nicht reizbaren) Narbe Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. nach vorn und oben klappt. Da nun die Narbe ſich auch hier erheblich früher zur Reife entwickelt, als die Staubgefäße, fo bewirkt die Fliege, wenn ſie ſich einmal mit Pollen älterer Blüthen behaftet hat, Be— fruchtung, ſo oft ſie in neue Blüthen ein— dringt. Denn an dem unteren Narben— lappen derſelben bleibt dann ein Theil des Polens haften. (Ich fand mehrmals in der Klemme ſtecken gebliebene Fliegen [ Mus— ciden! todt. Jedenfalls waren fie zu ſchwach geweſen, in der beſchriebenen Weiſe wieder herauszukommen). Pinguieula vulgaris hat dieſe Klemm⸗ falleneinrichtung nicht. Die untere Fläche ihrer Blüthenhöhle iſt ſtatt der ſtarren Sperrhaare mit am Ende keulig verdickten, vielzelligen, weichen Haaren bekleidet, ihr Sporn enthält nur äußerſt ſpärliche, geſtielte Saftknöpfchen. Ihre Kreuzungsvermittler zu belauſchen, iſt mir noch nicht gelungen. Es bedarf keiner näheren Ausführung, daß auch bei Pinguicula alpina die un⸗ mittelbar nur den Fliegen zu gute kommen⸗ den Eigenthümlichkeiten der Blüthe, ihre weißliche Farbe, die gelbgefärbten und mit gelben, ſenkrecht abſtehenden Haaren be— kleideten Ausſackungen im Blütheneingange und die geſtielten Saftknöpfchen im Sporne, als das Züchtungsergebniß der von den Fliegen geübten Blumenauswahl, die un— mittelbar nur der Pflanze zu gute kom⸗ mende Eigenthümlichkeit der Sperrhaare dagegen als Produkt der von ihrer Aus— wahl unabhängigen Naturzüchtung zu be— trachten ſind. Außer den Ckelblumen und Fliegen— fallenblumen, von denen es feſtſteht, daß ſie der ausſchließlichen Kreuzungsvermittel— ung durch Dipteren angepaßt ſind, giebt es noch eine dritte Klaſſe von Blumen, von denen dies wenigſtens mit großer 335 Wahrſcheinlichkeit vermuthet werden kann. Es ſind dies ſolche Blumen, welche der Geſchmacksrichtung der Fliegen entſprechende Anlockungsmittel beſitzen, ihren Beſuchern aber weder Blüthenſtaub, noch Honig, noch Obdach, noch ſonſt etwas anderes als bloße Täuſchung gewähren und die daher gewiß nur ſo dumme Thiere wie die Fliegen zu wiederholten Beſuchen und zur Kreuzungs⸗ vermittelung veranlaſſen können. Das allbekannte Fliegenblümchen, Ophrys muscifera, kann am beſten als Beiſpiel dieſer Klaſſe von Blumen dienen. Seine purpurbraune, ſammetartige Unterlippe er— ſcheint mit ihrem fahlbläulichen nackten Flecke ganz wie dazu gemacht, durch ihre Farbe Fäulnißſtoffe liebende Fliegen an ſich zu locken. Wenn ſie dies wirklich thut, wofür die direkte Beobachtung bis jetzt noch fehlt, ſo werden die beiden ſchwarzen glänzenden Knöpfchen an der Baſis der Unterlippe, die wie zwei Flüſſigkeitströpf— chen ausſehen und deshalb ganz paſſend als Scheinnektarien bezeichnet werden, gewiß nicht verfehlen, die angeflogene Fliege zu einem Saugverſuche und damit zum erſten Akte der Kreuzungsvermittelung zu veran— laſſen. Denn indem ſie ſich nach einem der beiden Scheinnektarien niederbückt, ſtößt ſie mit dem Kopfe faſt unvermeidlich an das über demſelben hervorragende Klebſtoff— behältniß (rostellum) und kittet ſich ein Staubkölbchen an; und wenn ſie einige Minuten ſpäter auf einer anderen Blüthe derſelben Täuſchung unterliegt, ſo hat ſich inzwiſchen das dem Kopfe angekittete Staub- kölbchen ſoweit abwärts gebogen, daß es gegen die Narbe geſtoßen wird und da Kreuzung bewirkt. Mit der vermuthungs— weiſe hier ausgeſprochenen Deutung des Fliegenblümchens, welches man hiernach als eine Täuſchblume bezeichnen dürfte, 336 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. ſteht es gewiß in vollem Einklange, daß man immer nur eine verhältnißmäßig ge— ringe Zahl ſeiner Blüthen eines oder beider Staubkölbchen beraubt und befruchtet findet.“) Die vorhergehenden Erörterungen hatte ich bereits ſeit mehreren Wochen völlig ab— geſchloſſen bei Seite gelegt, als mir geſtern, am 22. April, bei nochmaliger genauer Betrachtung der räthſelhaften Blüthe unſe— rer Einbeere, Paris quadrifolia, mit einem Male klar wurde, daß auch ſie in allen ihren Theilen verſtändlich wird, wenn man fie als Fliegentäuſchblume auffaßt. In ihrem widrigen Geruche und ihrer ziem— lich ausgeprägten Proterogynie ſtimmt ſie, — ſo ſagte ich mir — mit Asarum überein und charakteriſirt ſich als Ekelblume. Auch die grannenartige Verlängerung des Mittel— bandes ihrer Staubgefäße erinnert lebhaft an Asarum. In der Mitte der Paris- Blüthe glänzt, von vier purpurfarbenen, von Narbenpapillen rauhen Griffeläſten gekrönt, der ſchwarzpurpurne Fruchtknoten, als wäre er von Feuchtigkeit bedeckt. Er wird die Neugier Fäulnißſtoffe liebender ) Nach vollendetem Satz vorliegender Arbeit, habe ich, am 2. Juni d. I., entdeckt, daß unter günſtigen Bedingungen ein breiter mittlerer Längsſtreifen der Unterlippe, welcher den fahlbläulichen Fleck in ſich ſchließt, ſich mit zahlreichen Tröpfchen bedeckt. Auch habe ich eine Fleiſchfliege, Sarcophaga, auf der Unterlippe ſitzend und mit dem Kopfe der Baſis derſelben zugekehrt, an dieſen Tröpfchen lecken ſehen. Bei meiner Annäherung flog ſie leider weg, ehe ſie noch bis zu den Schein— nektarien gelangt war. Die Definition der Täuſchblumen muß alſo dahin modificirt wer— den, daß ſie durch Scheinnektarien ihre Be— ſucher täuſchen, mögen ſie denſelben übrigens Ausbeute darbieten oder nicht. Die Ver— muthung, daß Ophrys muscifera Fäulnißſtoff liebende Dipteren anlockt, iſt durch die mit— getheilte Beobachtung zur Gewißheit geworden. Dipteren erregen und in ihnen die Vor— ſtellung erwecken, daß hier etwas ihnen Zuſagendes zu lecken ſei. Habe ich doch ſchon vor Jahren (vgl. meine Befruchtung der Blumen durch Inſekten S. 65) eine Fliege auf der Mitte der Blüthe, den Narben, ſitzen und bei meiner Annäherung wegfliegen ſehen! Die vier Blumenblätter biegen ſich als grünlichgelbe, linienförmige Zipfel aus der Blüthe heraus nach unten, oft bis faſt auf die vier Stengelblätter herab. Sie können kleinen Mücken als Leitſeile dienen, welche ſie bis in die Mitte der Blüthe, zu dem die Täuſchung bewir— kenden Fruchtknoten leiten. Die um die Blüthenmitte herum in die Höhe ragenden Staubgefäße bilden, gerade ſo wie die Staubgefäße von Asarum, Abfliegeſtangen, an welchen nach dem Aufſpringen der Staubbeutel, Dipteren nicht in die Höhe kriechen können, ohne ſich mit Pollen zu behaften. Es kommt alſo blos darauf an, ob allen dieſen Deutungen auch der that— ſächliche Inſektenbeſuch entſpricht, der ſich, bei der großen Scheuheit der kleinen Dip— teren, allerdings nur ſehr ſchwer wird feſt— ſtellen laſſen. Von dieſen Betrachtungen getrieben, be— nutzte ich, von herrlichem Wetter begünſtigt, heute, am 23 April, den Vormittag, um meine Vermuthung auf die entſcheidende Probe zu ſtellen und hatte in der That die Genugthuung, dieſelbe wenigſtens zum Theil durch direkte Beobachtung beſtätigt zu ſehen. In dem Rirbecker Buſche, an einer Stelle, wo zahlreiche Einbeeren jetzt gerade in ſchönſter Blüthe ſtehen, ſtreckte ich mich auf den Waldboden nieder und harrte, geräuſchlos und bewegungslos, nur die etwa 15—20 um mich ſtehenden Pa- ris-Blüthen ins Auge faſſend, ob nicht durch meine Annäherung vielleicht verſcheuchte kleine zweiflügelige Gäſte ſich wieder einfinden würden. Ich harrte über eine Stunde geduldig aus und ſah in der That wäh— rend dieſer Zeit mehrmals eine kleine Mücke (Ceratopogon?) und einige Musciden, darunter Scatophaga merdaria F., an die Blüthen fliegen und vorzugsweiſe am Fruchtknoten, bisweilen aber auch an den Staubgefäßen beſchäftigt. Die Thierchen obachtung aus einiger Entfernung begnügen mußte, und ich war nie ſo glücklich, den ganzen Verlauf ihrer Thätigkeiten, ſo wie ich ihn mir gedacht hatte, beobachten zu können. Doch dürfte wenigſtens die Haupt— ſache, daß der Fruchtknoten, obgleich er kein Genußmittel darbietet, anlockend auf gewiſſe Dipteren wirkt, daß alſo Paris eine Täuſchblume iſt, hiermit thatſächlich ent- ſchieden ſein, und auch die oben gegebene Deutung der Blütheneinrichtung von Ophrys museifera gewinnt dadurch jedenfalls ſehr an Wahrſcheinlichkeit. Außer Ekelblumen, Fallenblumen und Täuſchblumen ſind bis jetzt irgend welche andere Blumen, welche der ausſchließlichen Fremdbeſtäubung durch Vermittelung Fäul— nißſtoffe liebender Dipteren angepaßt wären, nicht bekannt. Es läßt ſich daher das Geſammtergebniß ihrer Thätigkeit als ſelbſt— ſtändiger Blumenzüchter in folgenden Sätzen zuſammenfaſſen: 1. Wie alle Blumen überhaupt, ſo ſind auch die dieſen Dipteren ausſchließlich an- gepaßten das Ergebniß einer doppelten Züchtung, indem einerſeits diejenigen indi— viduellen Abänderungen ſich erhalten und Kosmos, Band III. Heft 4. waren jo ſcheu, daß ich mich mit ihrer Be- | Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. | ſummirt haben, welche die Blumenauswahl der Fliegen und Mücken beſtimmen und den Blumen ſelbſt erſt mittelbar, durch wirkſamere Herbeilockung dieſer Kreuzungs— vermittler, vortheilhaft werden, andererſeits aber durch Naturausleſe auch ſolche Ab— änderungen ausgeprägt worden ſind, welche, von der Wahl der Beſucher unabhängig, der Pflanze unmittelbar nützen, ſei es durch Sicherung der Kreuzung bei eintretendem Dipteren-Beſuche, ſei es als Schutzmittel der Blumen gegen Wetterungunſt und Thiere. 2. Durch die Blumenauswahl der Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren find Efel- farben und Ekelgerüche gezüchtet worden, welche für ſich allein genügen, alle ſonſtigen Blumengäſte auszuſchließen und überdies oft Blumenformen, welche einen geſchützten Schlupfwinkel darbieten. Iſt letzterer ſehr verſteckt, ſo kommt als ihr weiteres Zücht⸗ ungsprodukt ein offenes Eingangszelt, eine Leitſtange oder ein Leitſeil hinzu, welches den kleinen Blumenzüchtern ein bequemes Hineinkriechen in den Schlupfwinkel geſtattet. 3. Von der Wahl der Dipteren unabhän- gige Naturausleſe hat die von dieſen ge— züchteten Ekelblumen theils zu Kreuzung ſichernden Keſſelfallen und Klemmfallen, theils zu Täuſchblumen gezüchtet. 4. Da hierzu Dummdreiſtigkeit der Kreuzungsvermittler nothwendige Vorbe— dingung war, ſo haben ſich keine den blu— menſteten, einſichtigeren Dipteren, wie z. B. Syrphiden, Empiden, Conopiden und Bombyliden, ſondern nur dummen, Fäul— nißſtoffe liebenden und daher blumen-un⸗ ſteten Musciden und Mücken ausſchließlich angepaßte Blumen ausgebildet. — — — — — — 43 Die Herrschaft des Ceremoniells. Von Herbert Spencer. WII. (Schluß.) ſind in dieſer Hinſicht allen übrigen gleich. Ebenſo wie der Taubſtumme, welcher uns | eine von ihm zu bezeichnende Perſon da- er noch unentwickelte menſch- durch ins Gedächtniß ruft, daß er eine SS liche Verſtand zeigt keine Ini Eigenthümlichkeit derſelben nachahmt, keine SEN tiative. Indem er zähe an Idee davon hat, daß er damit ein Symbol Az dem feſthält, was feine Väter einführt, ebenſo wenig hat dies der Wilde, ihm gelehrt, geht der primi- wenn er eine beſtimmte Stelle als diejenige tive Menſch nur in unbeabſichtigten Ver- bezeichnet, wo das Känguruh getödtet wurde, änderungen zum Neuen über. Was, wie oder als diejenige, wo die Klippe herunter— gegenwärtig Jedermann weiß, von den fiel — ebenſo wenig hat er dies, wenn er Sprachen gilt, daß ſie nämlich nicht erdacht die Erinnerung an ein Individuum weckt, find, ſondern ſich entwickelt haben, gilt indem er ſich auf einen hervorſtechenden ebenſo von den Gebräuchen und auch von Zug in deſſen Erſcheinung oder auf eine den Titeln. Betrachtet man ſie in ihrer Thatſache aus ſeinem Leben bezieht; und jetzigen Form, jo erſcheinen fie als künſt- ebenſo wenig hat er dies, wenn er den liche Produkte; es drängt ſich von ſelbſt Perſonen jene buchſtäblich oder bildlich be— die Idee auf, ſie ſeien zu irgend einer Zeit ſchreibenden Namen beilegt, welche ſich dann mit Bewußtſein feſtgeſtellt worden. Dies | hier und da zu Titeln entwickelten. iſt aber ebenſo wenig richtig, als wenn man Schon die bloße Vorſtellung von einem behaupten wollte, unſere gewöhnlichen Wör— | Eigennamen iſt gleichſam unverſehens ent— ter ſeien einſtens abſichtlich erſonnen worden. ſtanden. Die Thatſache, daß bei vielen Namen von Dingen, Eigenſchaften und unciviliſirten Völkern ein Kind Jahre lang Handlungen find urſprünglich ſtets unmittel- als „Gewitter“ oder „Neumond“ oder bar oder mittelbar beſchreibend, und die „Vaters Rückkunft“ bezeichnet wird, zeigt Namen, welche wir als Titel bezeichnen, nus, daß urſprünglich nichts weiter vorlag Titel. als eine Bezugnahme auf einen Vorfall, welcher am Tage ſeiner Geburt ſtattfand, als das beſte Mittel, um den Gedanken an das einzelne Kind, was man gerade meint, hervorzurufen. Und wenn es ſpäter einen andern Namen bekommt, wie z. B. „Kürbiskopf“ oder „Schmutziger Sattel“ (Namen der Dakotahs), jo entſpringt dies aus dem willkürlichen Gebrauch eines zwei— ten und manchmal geeigneteren Mittels zur Identificirung. Offenbar iſt daſſelbe hin— ſichtlich ſolcher minder nothwendiger Namen der Fall geweſen, wie es die Titel ſind. Dieſelben müſſen ſich von gewöhnlichen Eigennamen einfach deshalb differencirt haben, weil ſie irgend eine Beſonderheit, eine That oder eine Funktion, die in Ehren gehalten wurde, klar bezeichneten. Viele wilde Raſſen pflegen einem Mann, nachdem er in der Schlacht eine große Helden— that vollführt, einen beſondern Ruhmes— namen beizulegen, welcher neben demjenigen, unter dem er bisher bekannt war, oder ſo— gar an Stelle deſſelben in Gebrauch kommt. Die Tupis bieten uns ein gutes Beiſpiel. „Der Gründer des (kannibaliſchen) Feſtes legte ſich zur ehrenvollen Erinnerung an das Geſchehene einen neuen Namen bei und ſofort liefen ſeine weiblichen Verwandten durch das Haus und riefen den neuen Titel aus.“ Und von demſelben Volke berichtet Hans Stade: „So viele Feinde einer von ihnen erſchlägt, ſo viele Namen legt er ſich bei, und der gilt als der edelſte unter ihnen, welcher die meiſten ſolchen Namen trägt.“ Und in Nordamerika, wenn ein junger Creek-Indianer feinen erſten Scalp heimbringt, empfängt er die Weihe als Mann und als Krieger und erhält einen „Kriegsnamen“. Bei dem weiter vorge— ſchrittenen Volke im alten Nicaragua hatte dieſer Brauch zur Anwendung eines allge— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 339 meinen Namens für dieſes Verhältniß ge— führt: ſie nannten Jeden, der einen Andern in der Schlacht erſchlagen hatte, „Tapa— lique“, und „Cabra“ war der entſprechende Titel, der bei den Indianern des Iſthmus ertheilt wurde. Wie dann beſchreibende Ehrennamen, welche auf ſolche Weiſe während früherer kriegeriſcher Zeiten entſtanden, in einzelnen Fällen zu officiellen Namen werden, erſehen wir ſofort, wenn wir die betreffenden Bei— ſpiele vergleichen, welche uns blutdürſtige und kannibaliſche Geſellſchaften auf etwas verſchiedenen Stufen der Entwickelung dar— bieten. In Fidſchi „empfangen Krieger von Rang allerhand ſtolze Titel, wie z. B. „Der Zertheilerd eines Gaues, Der Ver— wüfter» einer Küſte, „Der Entvölferer » einer Inſel, wobei nämlich ſtets der Name des in Frage ſtehenden Ortes beigefügt wird.“ Im alten Mexico aber war der Name eines Amtes, welches die Brüder oder die nächſten Verwandten des Königs be— kleideten: „Menſchenfäller , und der eines andern «Blutvergießer». Wo die Vorſtellung von dem Unter— ſchiede zwiſchen Menſchen und Göttern ſehr unbeſtimmt iſt und die Bildung von Göt- tern durch Apotheoſe von Häuptlingen noch fortdauert, wie bei den Fidſchianern, da finden wir auch unter den Göttern ähnliche Namen, wie ſie dort den wildeſten Kriegern zu ihren Lebzeiten beigelegt werden. „Der Frauenräuber“, „Der Gehirnfreſſer“, „Der Meuchelmörder“, „Friſch-vom-Gemetzel“ erſcheinen als ganz naturgemäße göttliche Titel, da ſie aus beſchreibenden Namen bei ahnenverehrenden Kannibalen entſtehen. Daß aber auch manche Titel der von höheren Raſſen verehrten Götter ähnlichen Ur- ſprungs ſind, deuten ähnliche beſchrei— bende Namen an, wie z. B. derjenige des 340 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. Mars: „Der Blutbeflecker“, und derjenige des hebräiſchen Gottes: „Der Gewalt— thätige“, — denn letzteres iſt nach Kuenen die buchſtäbliche Ueberſetzung von Schaddai. Ganz allgemein wird auch bei primi— tiven Menſchen ſtatt eines buchſtäblich be— ſchreibenden Ehrennamens ein bildlich be— ſchreibender gegeben. Von den eben er— wähnten Tupis leſen wir weiter, daß ſie „ihre Benennungen von ſichtbaren Gegen— ſtänden hernähmen, wobei Stolz oder Wild— heit ihre Wahl beeinflußte.“ Wie aber ſolche Namen, die zuerſt ohne beſtimmte Abſicht von den Beifall rufenden Gefähr— ten zuerkannt und ſpäter in etwas abſicht— licherer Weiſe angenommen werden, ſehr gern gerade bei den tapferſten Menſchen Anklang finden und ſo zu Namen von Herrſchern werden, ergiebt ſich aus dem, was Ximenes uns von den höher civi— liſirten Völkern von Guatemala erzählt. Die von ihm erwähnten Namen ihrer Könige ſind: „Lachender Tiger“, „Tiger des Waldes“, „Unterdrückender Adler“, „Adlerkopf“, „Starke Schlange“ u. ſ. w. Im ganzen wilden Afrika findet ſich eine ähnliche Entſtehung der königlichen Titel. Der König von Aſchanti führt unter ſeinen lobpreiſenden Namen auch die beiden: „Löwe“ und „Schlange“. In Dahome werden derartig abgeleitete Titel in den Superlativ erhoben: der König iſt „der Löwe der Löwen“. Und in ähnlichem Sinne wird der König von Uſambara „Löwe des Himmels“ genannt — ein Titel, aus welchem, ſofern dieſer König der Vergötterung theilhaftig wird, Mythen verſchiedener Art ganz natürlich entſtehen müſſen. Aus dem Zululande erhalten wir neben Zeugniſſen für denſelben Brauch auch ein Beiſpiel für die Art und Weiſe, in unbelebten gewaltigen Dingen abgeleitet werden, ſich mit Ehrennamen anderer Ab— ſtammung verbinden und ſo zu einigen jener Anredeformen überführen, die wir im Früheren beſprochen haben. Die Titel des Königs ſind: „Der edle Elephant“, „Du, der Du ewig biſt“, „Du, der Du ſo hoch biſt wie die Himmel“, „Du, der Du die Menſchen erzeugſt“, „Der Schwarze“, „Du, der Du ein Vogel biſt, welcher andere Vögel frißt“, „Du, der Du ſo hoch biſt wie die Berge“, „Du, der Du Frieden bringſt“ u. ſ. w. Shooter zeigt uns, wie dieſe Zulutitel verwendet werden, in— dem er einen Theil einer an den König gerichteten Anrede citirt: „Du Berg, Du Löwe, Du Tiger, Du, der Du ſchwarz biſt. Es giebt keinen, der Dir gleich wäre.“ Ferner finden ſich Beweiſe dafür, daß jo entſtandene Ehrennamen ſelbſt in Titel über— gehen, welche dann die entſprechende Stell— ung bezeichnen; denn Shooter erzählt, das Weib eines Kaffernhäuptlings werde „die Elephantin genannt, während ſein Lieblingsweib die Löwin heißt.“ Augeſichts folder Zeugniſſe können wir kaum dem Schluß entgehen, daß der Ge— brauch von Thiernamen als Ehrenbezeich— nungen, wie er ſich in den Urkunden unter— gegangener hiſtoriſcher Völker nachweiſen läßt, auf ähnliche Weiſe entſtanden ſei. Wenn wir finden, daß gegenwärtig in Madagascar einer von des Königs Titeln lautet: „Mächtiger Stier“, und wir hier— durch daran erinnert werden, daß der ſieg— reiche Ramſes von ſeinen geſchlagenen Fein— den ganz denſelben lobpreiſenden Namen den Königen beigelegten | erhielt, jo können wir uns ſchwerlich der Vermuthung entſchlagen, daß aus ſolchen Thiernamen jene Thiernamen ſich erklären, welche die Gott— welcher Ehrennamen, die von belebten und heiten zu ihrem Lobe empfingen; ſo daß . Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. alſo Apis in Aegypten ein Aequivalent für Oſiris und die Sonne und Stier ebenſo ein gleichwerthiger Name für den ſiegreichen Held und Sonnengott Indra wird. Nicht anders verhält es ſich mit den Titeln, welche von gewaltigen Naturgegen— ſtänden und Naturkräften hergenommen wer— den. Wir haben geſehen, wie bei den Zulus die hyperboliſche Anrede an den König: „Du biſt ſo hoch wie die Berge,“ von der Form des Gleichniſſes in die Form der Metapher übergeht, wenn er angeredet wird: „Du Berg“. Und daß der ſolchergeſtalt in Gebrauch gekommene metaphoriſche Name manchmal ſogar zum Eigennamen wird, dafür erhalten wir ein Zeugniß von Samoa, wo, „weil der Häuptling von Pango-Pango gegenwärtig Manunga» oder Bergs heißt, dieſer Name in ſeiner Gegenwart nie aus— geſprochen werden darf.“ Es liegen ferner Beweiſe vor, daß bei den roheren Ahnen— verehrern auch göttliche Titel auf ähnliche Weiſe abgeleitet werden. Die Chinooks, die Navajos und die Mexicaner in Nord— amerika und die Peruaner in Südamerika halten gewiſſe Berge für Götter, und da dieſe Götter verſchiedene Namen haben, ſo liegt die Folgerung nahe, daß in jedem einzelnen Falle ein vergötterter Menſch zu ſeiner Ehre entweder den allgemeinen Na— men „Berg“ empfangen habe oder aber den Namen eines beſonderen Berges, wie dies in Neuſeeland geſchehen iſt. Aus Höf— lichkeitsvergleichungen mit der Sonne ferner entſtehen nicht allein perſönliche Ehrennamen und göttliche Namen, ſondern auch officielle Titel. Wenn wir leſen, daß die Mexicaner Cortez mit dem Namen „der Abkömmling der Sonne“ auszeichneten, daß die Chib— chas die Spanier im Allgemeinen „Kinder der Sonne“ nannten, und daß in Tlas— cala Alvaredo vom Volke „Sonne“ geheißen 341 wurde; wenn wir ferner leſen, daß „Kind der Sonne“ eine Höflichkeitsbezeichnung war, die in Peru häufig irgend einem beſonders geſchickten Menſchen beigelegt ward, wo auch die Yncas, welche für Abkömmlinge der Sonne galten, nach einander mit einem hiervon abgeleiteten Titel ausgezeichnet wur— don, ſo wird uns nun auch verſtändlich, wie es kam, daß die auf einander folgen— den ägyptiſchen Könige „Sohn der Sonne“ als Titel trugen, womit ſich dann Eigen— namen zur individuellen Bezeichnung des Einzelnen verbanden. Und bedenken wir ferner, daß in Aegypten Hand in Hand mit der ausgedehnteſten Ahnenverehrung die Anbetung der lebenden Könige einher— ging, ſo iſt ohne Schwierigkeit einzuſehen, wie die Könige, abgeſehen von dem allen gemeinſamen Sonnentitel, aus derſelben Quelle mancherlei beſondere Titel empfingen, wie „die ſiegreich emporſteigende Sonne“, „die Sonne, die Ordnerin der Schöpfung“ u. ſ. w., und wie naturgemäß dann für ihre durch Apotheoſe entſtandenen Götter verſchiedene Sonnentitel mit ganz ähnlichen beſonderen Bezeichnungen entſtanden, wie z. B. „die Quelle der Wärme“, „der Ur— heber des Lichts“, „die Macht der Sonne“, „die belebende Urſache“, „die Sonne am Firmament“ und „die Sonne an ihrer Ruheſtätte“. St alſo einmal der metaphoriſch-be— ſchreibende Name gegeben, ſo haben wir damit auch den Keim, aus welchem dieſe primitiven Ehrentitel entſpringen, welche, urſprünglich individuelle Namen, in vielen Fällen zu Titeln werden, die ſich an das einzelne Amt heften. Wer die vorliegenden Zeugniſſe ohne Vorurtheil ſtudirt, der wird Beweiſe genug dafür finden, daß auch die allgemeine Bezeich— nung für die Gottheit urſprünglich einfach 342 ein Wort war, das Ueberordnung aus— drücken ſollte. Bei den Fidſchianern wird jener Name (Gott) auf jedes große oder wunder— auf Alles, was neu, nützlich oder außer— ordentlich iſt, bei den Todas auf alles Ge— heimnißvolle, fo daß es, wie Marſhall ſagt, „in der That ein Beiwort zur Be— zeichnung des Hervorragenden iſt.“ In— dem es gleichermaßen auf belebte und un— belebte Dinge Anwendung findet, einfach um irgend eine über das Gewöhnliche hin— ausgehende Eigenſchaft anzudeuten, wird das Wort in dieſem Sinne auch von menſchlichen Weſen, ſowohl lebenden als todten, gebraucht; da aber der Glaube herrſcht, die Todten hätten geheimnißvolle Kräfte erlangt, um den Lebenden Gutes und Böſes zuzufügen, ſo kommt es von ſelbſt dazu, daß jenes Wort ganz beſonders auf die Todten anwendbar wird. Wenn auch Geiſt und Gott für uns ſehr ver— ſchiedene Bedeutungen haben, ſo ſind ſie doch urſprünglich gleichwerthige Wörter, oder beſſer geſagt, es gab urſprünglich nur ein Wort für übernatürliche Weſen. Dies beſtätigen uns nicht allein viele Miſſionäre, welche bei den Eingebornen kein Wort für Gott finden konnten, das nicht zugleich Geiſt, Dämon oder Teufel bedeutete; das beweiſen nicht allein die Griechen und Rö— mer, welche für die Geiſter ihrer geſtor— benen Verwandten daſſelbe Wort brauchten, womit ihre großen Gottheiten bezeichnet wurden; und das beweiſen nicht allein die Aegypter, in deren hieroglyphiſchen In— ſchriften daſſelbe „Determinativum“, wie aus dem Texte hervorgeht, Gott, Vorfahre und heilige Perſon bedeutet, ſondern es be— weiſen uns dies auch die Hebräer, welche das Wort Elohim nicht blos auf ihr oberſtes übernatürliches Weſen, ſondern Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. auch auf die Geiſter anwenden; ja indem ſie denſelben Namen auch lebenden, mit Macht ausgeſtatteten Perſonen beilegten, bare Ding angewendet, bei den Malagaſſen zeigen ſie uns, daß bei ihnen, wie über— haupt bei primitiven Völkern, Ueberlegen— heit der einen oder andern Art das ein— zige Attribut iſt, was damit ausgedrückt werden ſoll. Und da nun nach dem ein— fachſten Glauben das andere Ich des todten Menſchen ebenſo ſichtbar und greifbar iſt wie der lebende, weshalb es auch ein zweites Mal erſchlagen, ertränkt oder ſonſtwie ge— tödtet werden kann — da die Aehnlichkeit zwiſchen beiden ſo weit geht, daß es ſogar ſchwierig iſt, zu erfahren, worin bei den Fidſchianern der Unterſchied zwiſchen einem Gott und einem Häuptling beſteht, und da auch die Beiſpiele von Göttererſcheinungen in der Iliade beweiſen, daß der griechiſche Gott, der durch die Waffen der Menſchen verwundet werden konnte, in jeder Hinſicht ſo ſehr einem Menſchen ähnlich war, daß es einer beſondern Offenbarung bedurfte, um ihn als ſolchen zu erkennen — ſo wird es uns nicht mehr befremdend ſein, zu finden, daß der Titel „Gott“, den man einem der Regel nach für unſichtbar gehal— tenen mächtigen Weſen beilegt, ſehr oft auch einem ſichtbaren mächtigen Weſen ge— geben wird, und daß dieſer Titel manch— mal ſogar in dem Glauben gegeben wird, der Betreffende möchte das andere Ich irgend eines gefürchteten und nun zurück— gekehrten Menſchen ſein, ſelbſt wenn er ihn um ſeiner natürlichen Ueberlegenheit willen nicht empfangen haben würde. Daraus erklärt ſich denn, daß Europäer von den Auſtraliern, Neucaledoniern, den Darnley— Inſulanern, den Kroomen, dem Volke von Calabar, den Mpongwe u. ſ. w. Geiſter genannt werden, da ſie dieſelben für die Doppelweſen ihrer eigenen verſtorbenen An— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. gehörigen halten. Daraus erklärt ſich, daß ſie den andern Namen für denſelben Be— griff, „Gott“, von den Buſchmännern, den Betſchuanen, den Oſtafrikanern, Fulahs, Khonds, Fidſchianern, Dajaks, den alten Mexicanern, Chibchas u. ſ. w. empfingen. Und daraus erklärt ſich auch, daß höher ſtehende Menſchen unter unciviliſirten Völ— kern, indem ſie das Wort in dem oben erläuterten Sinne anwenden, ſich ſelbſt ge— legentlich Götter nennen, wie dies die Pä- läals thun, eine Art von Prieſtern bei den Todas, oder wie manche Häuptlinge bei den Neuſeeländern und den Fidſchianern. Iſt uns hierdurch die urſprüngliche Be deutung und Anwendung des Wortes ver— ſtändlich geworden, ſo wird es nun auch nicht weiter überraſchen, „Gott“ als Ehren— titel gebraucht zu ſehen. Der König von Loango wird von ſeinen Unterthanen ſo genannt, wie uns Battel erzählt, und Krapf berichtet daſſelbe vom Könige von Mſambara. In der Gegenwart wird der Name „Gott“ unter den wandernden Ara- bern in keinem andern Sinne gebraucht denn als allgemeine Bezeichnung des mäd- tigſten lebenden Herrſchers, den ſie kennen. Dies läßt denn auch die Behauptung glaub- hafter erſcheinen, als es ſonſt wohl der Fall wäre, daß der Große Lama, den die Tartaren in Perſon verehren, von ihnen „Gott, der Vater“ genannt werde. Es ſteht dies ferner in Uebereinſtimmung mit manchen andern Thatſachen, wie z. B. daß Radama, der König von Madagascar, von den ſein Lob ſingenden Frauen mit „O mein Gott“ angerufen wird, und daß für den König von Dahome das andere gleich— werthige Wort „Geiſt“ in Gebrauch iſt, in der Weiſe nämlich, daß, wenn er Je— mand zu ſich rufen läßt, der Bote ſagt: „Der Geiſt läßt Dich fordern“, und wenn 343 er geſprochen hat, rufen Alle aus: „Der Geiſt ſpricht die Wahrheit“. Alle dieſe Zeugniſſe aber machen es auch begreiflich, wie die alten Könige im Orient den Na— men sog als Titel annehmen konnten, was für uns Moderne ſo ſonderbar klingt. Ein Herabſteigen dieſes Ehrennamens in den alltäglichen Verkehr iſt zwar nicht häufig, kommt aber doch zuweilen vor. Nach dem, was oben geſagt wurde, kann es nicht befremdend erſcheinen, daß derſelbe auf verſtorbene Perſonen Anwendung fin— det, wie dies nach Motolina bei den alten Mexicanern der Fall war, welche „jeden ihrer Todten Teotl fo und fo nannten, d. h. den oder jenen Gott, den oder jenen Heiligen.“ Und durch dieſes Beiſpiel vorbereitet, werden wir um ſo leichter den gelegentlichen Gebrauch des Wortes als Gruß zwiſchen den Lebenden verſtehen. Kaſias: „Die Begrüßung beim Begegnen Colonel Yule jagt von den iſt ſonderbar: Kublé! Gotts.“ Der Zuſammenhang zwiſchen „Gott“ als Titel und „Vater“ als Titel wird nur dann einleuchtend, wenn wir wieder auf jene älteſten Formen der Vorſtellung und der Sprache zurückgehen, in denen beide noch nicht von einander differencirt ſind. Der Umſtand, daß ſelbſt in einer ſo hoch entwickelten Sprache wie das Sanskrit Wörter, welche „machen“, „herſtellen“, „zeugen“ oder „ſchaffen“ bedeuten, unter— ſchiedslos für denſelben Zweck gebraucht werden, macht uns ſchon auf die ganz na= türliche Erſcheinung aufmerkſam, daß der lebende Vater als Erzeuger oder ſichtbare Urſache neuer Weſen, welcher dann im Tode ein nicht länger ſichtbarer Verurſacher neuer Weſen wird, für den primitiven Geiſt in Worten und Gedanken mit todten und un- ſichtbaren Verurſachern überhaupt ver— 344 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. ſchmilzt, von denen dann einige ein beſon— deres Uebergewicht erlangen und dem ent— ſprechend als Verurſacher im Allgemeinen — als Macher oder Schöpfer betrachtet werden. Wenn Sir Rutherford Al- cock bemerkt, daß „eine unechte Miſchung von theokratiſchen und patriarchaliſchen Ele— menten die Grundlage der ganzen Regier— ung ſowohl im himmliſchen Reich als auch in Japan bilde, unter Kaiſern, welche den Anſpruch erheben, nicht allein Patriarch und Vater ihres Volkes, ſondern auch von gött— licher Abkunft zu ſein“ — ſo iſt dies nur ein Beiſpiel mehr von den zahlreichen falſchen Erklärungen, welche dadurch zu Stande kom— men, daß man von unſern hochentwickelten Vorſtellungen hinabſteigt, ſtatt von den niedrigen Vorſtellungen des primitiven Menſchen auszugehen. Denn was er für eine unechte Miſchung von Ideen hält, iſt in Wirklichkeit eine ganz normale Gedanken— verbindung, die ſich nur in den erwähnten Fällen länger forterhalten hat, als dies in aus— gebildeten Geſellſchaften gewöhnlich geſchieht. Die Zulus zeigen uns dieſe Verbind— ung noch ſehr deutlich. Sie haben Ueber— lieferungen von Unkulunkulu (buchſtäblich der Ur-uralte), „welcher der erſte Menſch war“, „welcher ins Daſein kam und Men— ſchen zeugte“, „welcher den Menſchen und allen übrigen Dingen den Urſprung gab“ (mit Einſchluß der Sonne, des Mondes und der Himmel), und von dem man an— nimmt, er ſei ein ſchwarzer Mann geweſen, weil alle ſeine Nachkommen ſchwarz ſind. Dieſer urſprüngliche Unkulunkulu wird aber von ihnen nicht angebetet, weil der Glaube herrſcht, er ſei ganz und gar todt; ſtatt ſeiner genießen vielmehr die Unkulunkulus der einzelnen Stämme, in welche ſeine Nachkommen zerfallen ſind, jeder ſeine be— ſondere Verehrung und werden alle „Vater“ genannt. Hier treten uns alſo die Ideen von einem Schöpfer und einem Vater in unmittelbarem Zuſammenhange entgegen. Ebenſo beſtimmt oder ſogar noch beſtimm— ter ſind die ähnlichen Ideen, die in den Antworten ſich ausſprechen, welche die alten Nicaraguaner auf die Frage gaben: „Wer hat Himmel und Erde gemacht?“ Nach— dem ſie zuerſt erwidert: „Tamagaſtad und Eipattoval“, „unſere großen Götter, welche wir Teotes nennen“, brachte man durch Kreuz- und Querfragen die Antworten aus ihnen heraus: „Unſere Väter ſind dieſe Teotes“; „alle Männer und Weiber ſtammen von ihnen ab“; „fie ſind von Fleiſch und ſind Mann und Frau“. „Sie wandelten bekleidet auf der Erde und aßen was die Indianer aßen.“ Wo Götter und erſte Aeltern in ſolcher Weiſe identificirt werden, da ſind natürlich Vaterſchaft und Gottheit nächſtverwandte Begriffe. Der entfernteſte Vorfahre, den man ſich in der andern Welt, wohin er hinüberging, noch fortlebend denkt, der Schöpfer ſeiner Nach— kommen, „der Ur- uralte“ oder „der Alte der Tage“ wird zur oberſten Gottheit, und ſo iſt denn „Vater“ keineswegs, wie wir anzunehmen geneigt find, ein bildliches, ſondern ein buchſtäbliches Aequivalent für „Gott“. So kommt es alſo, daß wir jenes Wort bei allen Nationen mit dieſem Titel vertauſchbar antreffen. In dem Gebet eines Neucaledoniers an den Geiſt ſeines Vor— fahren: „Barmherziger Vater, hier iſt etwas Speiſe für Dich; nimm ſie und ſei uns gnädig um ihretwillen“ — erkennen wir jene urſprüngliche Identificirung von Vater— ſchaft und Gottſchaft, auf welche alle My— thologien und Theologien zurückweiſen. Wir begreifen es als eine ganz natürliche Er— ſcheinung, daß die peruaniſchen Yncas ihren Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 345 Vater, die Sonne, verehrten, daß Ptah, Fälle, wo die Titel „Herr Rajah“ und der erſte aus der Dynaſtie der Götter, welche Aegypten regierte, „der Vater des Vaters der Götter“ heißt und daß Zeus „Vater von Göttern und Menſchen“ iſt. Nachdem wir dieſe urſprünglichen Glau- bensanſichten betrachtet, in welchen das Göttliche und das Menſchliche noch ſo wenig gegenwärtig iſt es immer noch einer der von einander geſchieden ſind, oder nachdem wir den in China und Japan noch heute herrſchenden Glauben kennen gelernt, wo die Herrſcher als „Söhne des Himmels“ ihre Abſtammung von dieſen älteſten Vätern oder Göttern herleiten, wird es uns nicht ſchwierig ſein, einzuſehen, wie der Name Vater in ſeiner höhern Bedeutung allmälige Anwendung auch auf einen lebenden Po— tentaten findet. Mit dieſer Urſache verbin— det ſich noch eine andere. Wo die Feſt— ftellung der Erbfolge in der männlichen Linie zur Bildung der patriarchaliſchen Fa— milie geführt hat, da verknüpft ſich mit dem Namen Vater ſelbſt in ſeiner urſprüng— lichen Bedeutung der Gedanke an hüchſte Autorität und er gilt daher als Ehrenname. Daher die weite Verbreitung dieſes Wortes als königlicher Titel. Es wird ſowohl von amerikaniſchen Indianern wie von Neu-Seeländern bei der Anrede des Herrſchers civiliſirter Völker verwendet. Wir finden es auch in Afrika. Unter den verſchiedenen für den König bei den Zulus gebräuchlichen Namen bildet Vater den erſten auf der Liſte, und wenn in Dahome der König von ſeinem Throne nach dem Pa— laſte ging, „wurde auf jede Unebenheit des Bodens mit Schnappen der Finger hinge— wieſen, damit ſie den königlichen Fuß nicht ſtören möge, und fortwährend ertönte die Begleitung dazu: «Dadda! Dadda! (Groß— vater! Großvater!) und Dedde! Dedde l) (Sachte! Sachte !)“. In Aſien treffen wir Kosmos, Band III. Heft 4. „Herr Vater“ vereinigt werden. In Europa gilt heutzutage noch Vater als Titel des Czaren; in früheren Zeiten war es unter der Form „Sir“ die gemeinſame Bezeich— nung für Machthaber der verſchiedenſten Grade, für Lehnsherren und Könige; und beim Anreden eines Monarchen gebräuch— lichen Namen.“) Dieſer Titel hat ſich, vielleicht um ſeiner doppelten Bedeutung willen, leichter verbreitet, als gewöhnlich geſchieht. Ueberall beobachten wir, wie er zum Namen irgend einer Art von Höhergeſtellten wird. Nicht nur dem König gegenüber wird bei den Zulus das Wort „Baba“, Vater ver— wendet, ſondern auch von den Niedrigeren jedes Ranges den über ihnen Stehenden gegenüber. In Dahome nennt ein Sclave ſeinen Herrn ſo, wie ſein Herr ſeinerſeits den König. Und Livingſtone erzählt, wie ſeine Diener von ihm als von „unſerem ) Obgleich die Discuſſionen hinſichtlich des Urſprungs der Wörter „Sire“ und „Sieur“ damit zum Abſchluß gekommen ſind, daß ſie von einer und derſelben Wurzel abſtammen, welche urſprünglich älter bedeutet, ſo iſt doch zugleich klar geworden, daß „Sire“ eine zu— ſammengezogene Form iſt, welche früher in Gebrauch kam als „Sieur“ (die abgekürzte Form von Seigneur) und deshalb mehr eine allgemeine Bedeutung erhielt, nach welcher es in demſelben Sinne gebraucht wurde wie Vater. Seine Anwendbarkeit auf verſchiedene Perſonen von Rang neben „Seigneur“ ſpricht ſchon für ſeine frühzeitigere Entwickelung und Verbreitung, und daß es mit Vater von gleichwerthiger Bedeutung war, ergiebt ſich aus der Thatſache, daß im Altfranzöſiſchen „Grant-Sire“ als Aequivalent für grand-pere gebraucht wird, und ferner daraus, daß Sire auf einen unverheiratheten Mann nicht an— wendbar war. 44 346 Vater“ ſprachen, und daſſelbe berichtet Burſchell von den Bachaſſins. Ebenſo kam es vor Alters im Orient vor, wie z. B. wenn „Naemans Knechte näher kamen und mit ihm ſprachen und ſagten: Mein Vater“, u. ſ. w. Und heutzutage noch finden wir es im fernen Oſten. Ein japaniſcher „Lehrling redet feinen Lehrherrn als «Vaters an“. In Siam „werden die Kinder des Edlen von ihren Untergebenen „Vater und Mutter» genannt“ und Huc erzählt davon, wie er chineſiſche Arbeiter vor einem Mandarinen ſich niederwerfen ſah, wobei ſie ausriefen: „Friede und Heil unſerem Vater und unſerer Mutter.“ Als eine weitere Stufe ſodann im Herabſteigen in den allgemeineren Gebrauch mag ſeine Ausdehnung auf ſolche erwähnt werden, welche, ganz abgeſehen von ihrem Rang, die dem Alter zuerkannte höhere Stellung erlangt haben: eine höhere Stellung, die ſogar manchmal dem Range vorangeht, wie in Siam und in gewiſſer Hinſicht auch in Japan und China. Eine ſolche Ausdehn— ung fand ſich auch im alten Rom, wo „pater“ zugleich ein obrigkeitlicher Titel und ein Ehrenname war, den der Jüngere einem wenn auch nicht mit ihm verwandten Aelteren beilegte; und in Rußland wird das entſprechende Wort heutzutage noch dem Czar, einem Prieſter und jedem be— jahrten Manne gegenüber gebraucht. Schließ— lich verbreitet es ſich auf Junge wie auf Alte. Unter der Form Sire, die ur— ſprünglich auf größere und kleinere Feudal— herrn Anwendung fand, entſtand aus dem Vatertitel ſchließlich das bekannte lengliſche) Sir, das einſt in der Rede allgemein gebräuchlich war und es in Briefen noch iſt. Hier ſei noch einer ſonderbaren Gruppe von abgeleiteten Formen Erwähnung ge— than, die bei unciviliſirten und halbcivili— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. ſirten Völkern in Gebrauch ſind. Der Wunſch zu gefallen, indem man Einem jene Würde zuſchreibt, die mit der Vater— ſchaft verbunden iſt, hat vielerorts zu der Sitte geführt, den Eigennamen eines Mannes durch ein Wort zu erſetzen, das einerſeits an dieſe ehrenvolle Vaterſchaft erinnert und andererſeits den Betreffenden durch den Namen ſeines Kindes unterſcheiden läßt. „Die Malayen“, ſagt St. John, „haben dieſelbe Sitte wie die Dajaks, den Namen ihres Erſtgeborenen anzunehmen, wie z. B. Pa Sipi, der Vater von Sipi.“ Mars- den nennt dies einen allgemein in Suma— tra herrſchenden Gebrauch und Ellis bringt Beiſpiele davon aus Madagascar. Gleiches findet ſich bei einigen indiſchen Bergvölkern: die Kaſias „reden einander mit den Namen ihrer Kinder an, wie Pabobon, Vater von Bobon!“ Auch Afrika bietet Belege hierfür. Wenn die Bet— ſchuanas Herrn Moffat anredeten, jo pflegten ſie zu ſagen: „Ich ſpreche mit dem Vater von Mary“. Und in den pa— cifiſchen Staaten von Nordamerika giebt es Völker, welche ſo ſehr dieſen primitiven Ehrennamen zu haben beſtrebt ſind, daß, ſo lange ein junger Mann noch keine Kinder hat, ſein Hund im Verhältniß eines Sohnes zu ihm ſteht und er als der Vater ſeines Hundes bezeichnet wird. Die höhere Stellung, welche ſich in patriarchaliſchen Gruppen und in durch Zuſammenſetzung aus patriachaliſchen Grup— pen entſtandenen Geſellſchaften mit dem Alter verknüpft, giebt noch einer verwandten, aber etwas verſchiedenen Gruppe von Titeln den Urſprung. Indem das Alter eine be— ſtimmte Würde erhält, werden Wörter, welche Bejahrtheit bezeichnen, zu Ehrennamen. Die Anfänge hiervon laſſen ſich bereits bei unciviliſirten Völkern erkennen: Schon dadurch, daß die Verſammlungen ſich aus den älteren Männern zuſammenſetzen, ent— ſteht eine Verbindung zwiſchen dem an jedem Orte gebräuchlichen Namen für einen älteren Mann und dem mit größerer Ge— walt und ſonach auch mit Ehre bekleideten Amte. Indem wir uns mit dieſer ein— fachen Bemerkung begnügen, wollen wir die allmählige Entſtehung der von dieſer Quelle entſpringenden Titel blos unter den europäiſchen Völkern etwas näher ver— folgen. Bei den Römern war Senator oder Mitglied des Senatus, Wörter von gleicher Abſtammung wie Senex, der Name für ein Mitglied der Aelteſtenver— ſammlung, und in den früheren Zeiten vertraten dieſe Senatoren oder Aelteſten, welche häufig auch patres genannt wur— den, die einzelnen Stämme des Volkes: Vater und Aelteſter galten ſomit als gleich— werthige Benennungen. Von dem anderen damit nächſt verwandten Worte senior finden wir in den Tochterſprachen die Um— biloungen Signor, Seigneur, Senhor, welche zuerſt auf Anführer, Herrſcher oder Lords Anwendung fanden, dann aber durch weitere Ausbreitung zu Ehrennamen auch Solcher von untergeordnetem Range wurden. Daſſelbe Schickſal hat auch ealdor oder aldor gehabt. „Dies Wort“, ſagt Max Müller, „ſtammt gleich vielen anderen Rangtiteln in den verſchiedenen teutoniſchen Sprachen von einem Adjectivum ab, das Alter bezeichnet;“ ſo daß alſo „Earl“ und „Alderman“ beide von dieſer Wurzel abge— leitete Bezeichnungen für eine Ehrenſtelle ſind, die in beiden Fällen aus jener ſocialen Ueberlegenheit entſprang, welche mit dem Alter verknüpft war. Ob der deutſche Titel Graf auch hier⸗ her gehört oder nicht, iſt noch ein ſtreitiger Punkt. Wenn Max Müller Recht hat, Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. 347 indem er die Einwürfe Grimm's gegen die gewöhnliche Erklärung des Wortes für ungerechtfertigt hält, ſo bedeutet daſſelbe urſprünglich grau, d. h. alſo grauköpfig. Auch der Name „König“ gehört zu denjenigen, hinſichtlich deren Bildung die Anſichten getheilt ſind. Nach allgemeiner Uebereinſtimmung jedoch iſt ſeine weiteſt zurückliegende Duelle. das Sanſfkritwort ganaka und „im Sanſkrit bedeutet ga— naka hervorbringen, Vater, dann König“. Wenn dies die richtige Ableitung iſt, fo haben wir alſo nur einen neuen Titel für das Haupt der Familiengruppe, der pa— triarchaliſchen Gruppe und des Haufens von patriarchaliſchen Gruppen. Bemerkens— werth iſt die Art und Weiſe, wie das Wort Zuſammenſetzungen eingeht, um einen höheren Titel zu bilden. Gerade wie im Hebräiſchen Abram (d. i. „hoher Vater“) ein zuſammengeſetztes Wort wurde, das zur Bezeichnung der Vaterſchaft und der Häuplingswürde über viele kleinere Gruppen diente, und ebenſo wie die griechiſchen und lateiniſchen Aequivalente für unſerer Wort „Patriarch“ ihrer eigentlichen Bedeutung nach, wenn auch nicht direkt, einen Vater der Väter bezeichneten, ſo iſt es auch hin— ſichtlich des Titels „König“ vielfach vor— gekommen, daß ein als Herrſcher über mehrere Potentaten anerkannter Gewalt— haber in beſchreibender Weiſe „König der Könige“ genannt worden iſt. In Abyifi- nien iſt dieſer zuſammengeſetzte königliche Name bis auf die Gegenwart herab in Gebrauch; die altägyptiſchen Monarchen legten ſich denſelben bei und auch in Aſſy— rien kam er als höchſter Titel vor. Und hier ſtoßen wir abermals auf einen Zu— ſammenhang zwiſchen irdiſchen und himm— | liſchen Titeln. Wie „Vater“ und „König“, ſo wird auch „König der Könige“ gleicher— „„ L 348 maßen auf den ſichtbaren und auf den un— ſichtbaren Herrſcher angewendet. Dieſes Streben nach Auszeichnung des Herrſchers, welcher zum Oberhaupt mehrerer Herrſcher geworden iſt, durch einen beſon— deren oder zum bisherigen hinzugefügten Namen veranlaßt die Einführung anderer Ehrentitel. In Frankreich z. B. wurde der König, ſo lange er nur der mächtigſte unter den Lehnsherren war, mit dem Titel „Sire“ angeredet, welchen die adligen Lehensherren im Allgemeinen trugen; nach der Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts aber, als ſeine Uebermacht ſich vollſtändig befeſtigt hatte, kam das Wort „Majeſtät“ als ausſchließlich auf ihn anwendbarer Titel in Gebrauch. Aehnliches gilt von den Potentaten zweiten Ranges. Auf den frü— heren Stufen der Feudalzeit wurden die Titel „Baron“, „Marquis“, „Herzog“ und „Graf“ (count) oft mit einander verwech— ſelt; der einfache Grund dafür war der, daß ihre Attribute als Feudalherren, als Wächter über die Märſche, als Kriegs- führer und als Freunde des Königs ſo— weit ihnen allen gemeinſam zukamen, daß kein beſonderer Grund zur Unterſcheidung vorlag. Jemehr aber die Differenzirung der Funktionen fortſchritt, deſto mehr diffe— | rencirten ſich auch die Titel in ihren Be⸗ deutungen. „Der Name „Barons“, jagt Chéruel, „ſcheint der allgemeine Ausdruck für jede Art von großem Herrn, «Herzogs für jede Art von Kriegsanführern, «Graf» und „Mar— quis für jeden Beherrſcher eines Territo- | riums geweſen zu ſein. Dieſe Titel werden in | den Romanzen der Ritterzeit beinahe ohne | jeden Unterſchied für einander gebraucht. Als aber die feudale Hierarchie ſich aus gebildet hatte, bezeichnete der Name Baron | einen Herrn, der ſeinem Range nach niedri- belauſcht, jo kann man hören, wie Einer | braucht wurden, um den Mächtigſten, dann civiliſirte Völker der Vergangenheit und Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. ger ſtand als ein Graf und höher als ein einfacher Ritter.“ Wie ſich aus den oben angeführten Beiſpielen ergiebt, ſind die ſpeciellen Titel ſo gut wie die allgemeinen nicht erfunden worden, ſondern allmälig entſtanden — ſie ſind zuerſt beſchreibender Art. Um dieſen Urſprung näher zu erläutern und zugleich ein Beiſpiel für den noch nicht differencirten Gebrauch der Titel in frühes ren Zeiten zu geben, ſeien hier die ver— ſchiedenen Namen aufgeführt, mit denen in der Zeit der Merovinger die Marſchälle des königlichen Palaſtes belegt wurden. | Es find dies major domus regiae, senior domus, princeps domus und in anderen , Fällen praepositus, praefectus, rector, gubernator, moderator, dux, custos, Aus dieſer Lifte erſehen wir zugleich, wie ſo manche fernere Ehren— namen uns abermals auf Wörter zurück— subregulus. führen, deren urſprüngliche Formen die Bedeutung von Alter mit ſich verbinden, s und wie die an Stelle dieſer beſchreibenden { Wörter gebrauchten Bezeichnungen ſelbſt beſchreibende Namen von Funktionen ſind. Vielleicht beſſer als in irgend einem an— deren Falle läßt ſich bei Beſprechung der Titel die Ausbreitung von ceremoniellen Formen darthun, welche urſprünglich ge— den Mindermächtigen und ſchließlich alle Uebrigen zu verſöhnen. Unciviliſirte und halbciviliſirte Völker, der Gegenwart, alle liefern uns Beiſpiele hierfür. Bei den Samoanern „iſt es Brauch, wenn man die Höflichkeit der gewöhnlichen Converſation beobachten will, daß Alle einander Häuptlinge nennen. Wenn man das Geſpräch kleiner Knaben den Anderen mit Häuptling fo und fo anredet“. In Siam reden die Kinder eines Mannes, welche von einem ſeiner unter— geordneten Weiber ſtammen, ihren Vater mit „Mein Herr, der König“ an und das Wort Nai, welches der Name für Häuptling bei den Siameſen iſt, „hat die Bedeutung eines Höflichkeitsausdruckes be— kommen, den die Siameſen gegen einander gebrauchen“. Ein ähnliches Reſultat finden wir in China, wo die Söhne von ihrem Vater als „Majeſtät der Familie“, „Fürſt der Familie“ ſprechen; und China liefert außerdem ein ferneres Beiſpiel, welches um ſo bemerkenswerther iſt, weil es ſich auf ein ganz beſonderes Verhältniß bezieht. Hier nämlich, wo die Stellung der alten Lehrer ſo hoch war, wo die Titel „Tze“ oder „Futze,“ was großer Lehrer bedeutet, urſprünglich nur ihrem Namen, ſpäter aber dem jedes ausgezeichneten Schriftſtellers an— gehängt wurden und wo auf geiſtige Ueber— legenheit begründete Klaſſenunterſchiede die geſellſchaftliche Organiſation charakteriſiren, iſt es doch ſoweit gekommen, daß dieſer Ehrenname mit der Bedeutung „Lehrer“ heute einen ganz gewöhnlichen Höflich— keitstitel bildet. Andere Zeugniſſe bietet uns das alte Rom. Die Geiſtesrichtung, welche zu der Ausbreitung der Titel führte, hat Mommſen ſehr gut beleuchtet, wo er ſchildert, wie in der Zeit des Verderb— niſſes öffentliche Triumphe zuerkannt wur— den, welche man urſprünglich nur einem der höchſten Staatsmänner zu gewähren pflegte, der die Macht des Staates in offener Schlacht vergrößert hatte. „Um mit den friedlichen Triumphatoren ein Ende zu machen, wurde feſtgeſetzt, daß die Zuerkennung eines Triumphes vom Beibringen des Beweiſes einer regelmäßigen Schlacht abhängen ſollte, welche zum Min— Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. | | 349 deften fünf tauſend Feinden das Leben ge- koſtet hätte; allein dieſer Beweis wurde häufig durch falſche Siegesberichte um— | | gangen . . . Früher hatte der Dank des Gemeinweſens einfürallemal für einen dem Staate geleiſteten Dienſt genügt; jetzt ſchien | jede verdienſtliche Handlung eine dauernde Auszeichnung zu fordern ... Es kam allmälig die Sitte in Schwang, daß der Sieger und ſeine Nachkommen von den Siegen, welche ſie gewonnen hatten, einen ſtändigen Beinamen erhielten . Dieſes von den höheren Klaſſen gegebene Beiſpiel wurde dann von den unteren Klaſſen nachgeahmt.“ Und unter dem eben geſchilderten Ein— fluß wurden dann „dominus“ und „rex“ ſchließlich zu Titeln, welche für den gemeinen Mann galten. — Aber auch unter den modernen europäiſchen Völkern fehlt es nicht an Beiſpielen für dieſen Vorgang. Die franzöſiſche Geſchichte läßt uns vielleicht deutlicher als irgend eine andere die einzelnen Stufen der allmäligen Ver- breitung erkennen. Zunächſt ſei kurz da— rauf hingewieſen, daß in früheren Zeiten madame als Titel für eine adlige Frau, mademoiselle dagegen für die Frau eines Advocaten oder Arztes in Gebrauch war, daß ſodann im ſechszehnten Jahrhundert, als madame bis zu den verheiratheten Frauen dieſer Mittelklaſſen herabgeſtiegen war, mademoiselle von ihnen auf die unverheiratheten Frauen überging. Etwas eingehender wollen wir aber die männlichen Titel „sire“, „seigneur“, „sieur“ und „monsjeur“ betrachten. Indem wir von „sire“ als dem alten Titel für adlige Lehnsherrn ausgehen, finden wir in einer Bemerkung von Montaigne angegeben, daß das Wort im Jahre 1580, obwohl in höherem Sinne noch auf den König r...... 350 Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. anwendbar, doch in den alltäglichen Ge— brauch herabgeſtiegen war und für zwiſchen- liegende Grade nicht mehr verwendet wurde. „Seigneur“, was ſpäter als Lehnsherrn— titel in Uebung kam, als „Sire“ bereits ſeine Bedeutung durch allmälige Ausbreit— ung zu verlieren begann, und was eine Zeitlang neben dem letzteren Worte und ſtatt deſſelben gebraucht wurde, erfuhr im Laufe der Zeiten eine Zuſammenziehung welche die Folge eines Sieges über einen thieriſchen oder menſchlichen Feind iſt und den Betreffenden buchſtäblich oder bildlich durch ſeine That auszeichnet, entſpringt ohne Frage aus kriegeriſchen Verhältniſſen. Und wenn auch die allgemeineren Namen „Vater“, „König“, „Herr“, „Aelteſter“ und ihre Ableitungen, welche ſpäter entſtehen, nicht direkt auf kriegeriſche Zuſtände Bezug in „sieur“. Nach und nach fing aber auch „sieur“ an, ſich auf Solche von niedri— gerem Rang auszudehnen. Später kam dann, um einen beſtimmten Unterſchied durch eine verſtärkende Vorſilbe wiederher- | zuſtellen, „monsieur in Aufnahme, ein Wort, das in der Anwendung auf große Herren im Jahre 1321 noch neu war und dann auch als Titel der Söhne von Köni- Zu der Zeit aber, wo auch „monsjeur“ zum allgemeinen | Titel unter den oberen Klaſſen geworden gen und Herzögen galt. war, hatte „sieur“ ſich zu einem bürgerlichen Titel ausgebildet. Und ſeit dieſer Zeit ſind im weiteren Verlauf deſſelben Proceſſes das alte sire und das ſpätere sieur aus geſtorben, um dem ganz allgemein verbrei- Es er⸗ teten monsieur Platz zu machen. giebt ſich alſo, daß drei Diffuſionswellen auf einander gefolgt ſind: sire, sieur und monsieur haben ſich nach einander nach unten verbreitet. Wie in Folge dieſes Vorganges die höchſten Titel ſchließlich bis in die aller— unterſten Schichten vordringen können, erken— nen wir in überraſchendſter Weiſe in Spa— nien, wo „ſogar Bettler einander als Senor von einer neuen Seite her. und fügt dann hinzu: y Caballero, Herr und Ritter anreden“. Um der Gleichförmigkeit der Darſtell— ung willen, ſei noch darauf hingewieſen, daß ſich hier dieſelbe Folgerung ergiebt wie früher. Die Ertheilung von Titeln bei den Wilden, haben, ſo doch indirekt; denn es ſind die Namen von durch kriegeriſche Thätigkeit in den Beſitz ihrer Macht gelangten Herr— ſchern, welche der Regel nach zugleich krie— geriſche Funktionen ausüben: auf früheren Stufen ſind ſie ja ſtets die Anführer ihrer Unterthanen in der Schlacht. Aber auch bis zu unſeren allerbekannteſten Titeln herab erſtrecken ſich noch die Spuren dieſer Entſtehung. „Esquire“ und „Mister“ leiten ſich das eine vom Namen des Knappen eines Ritters, das andere von dem Namen magister ab, welcher urſprünglich einen Herrſcher oder Häuptling bezeichnete, der ſeiner Entſtehung nach ein kriegeriſches Oberhaupt und durch weitere Ausbildung ein bürgerliches Oberhaupt war. Wie in früheren Fällen enthüllt uns auch hier eine Vergleichung von Geſell— ſchaften verſchiedener Typen dies Verhältniß Burton macht die Bemerkung, daß man in dem blutdürſtigen und despotiſchen Dahome „kaum vom Vorhandenſein von Perſonen— namen ſprechen könne, indem dieſelben mit dem Range ihrer Träger beſtändig wechſeln“, „Die verſchiedenen Würden ſcheinen endlos an Zahl zu ſein; von den Sclaven und niederſten Volks— ſchichten abgeſehen find ſolche «Stiele» am Namen die Regel, nicht die Ausnahme, und die meiſten von ihnen ſind erblich.“ So verhält es ſich auch unter den orienta— 9 liſchen Despotien. „Der Name eines jeden Birmanen, ſagt Pule, verſchwindet, ſobald er einen Ranges-, oder Amtstitel erhält, und wird von da an nicht mehr gebraucht“, und in China „giebt es zwölf Stufen des Adels, welche ausſchließlich den Mitgliedern des kaiſerlichen Hauſes oder Clans zugäng— lich ſind“, abgeſehen von den „fünf alten Stufen des Adels“. Auch in Europa findet ſich Aehuliches. Reiſende in Rußland ſowohl wie in Deutſchland, beides Länder, deren geſellſchaftliche Organiſation den Zwecken des Krieges untergeordnet iſt, ſprechen von der „unſinnigen Sucht nach Titeln jeglicher Art“. Die Folge davon iſt dann auch, daß in Rußland „ein Schreiber eines Polizeibureaus zum achtzehnten Grade ge— hört und Anſpruch auf den Titel Euer Ehrwürden hat“, während in Deutſchland die Berückſichtigung der in ſo übermäßiger Anzahl verbreiteten Ranges- und Amts⸗ namen im mündlichen wie im ſchriftlichen Verkehr in der Regel erwartet und mit ängſt— licher Sorgfalt beobachtet wird. England dagegen, das im Typus ſeines geſellſchaft— lichen Aufbaues ſeit vielen Menſchenaltern weit weniger kriegeriſch war, hat dieſen Charakterzug ſtets in minder ausgeprägtem Grade gezeigt, und nachdem in neueſter Zeit der Induſtrialismus ſo bedeutend ge— wachſen iſt und in Zuſammenhang damit mancherlei Veränderungen der Organiſation eingetreten ſind, hat der Gebrauch von Titeln im geſellſchaftlichen Verkehr außer— ordentlich abgenommen. Mit gleicher Deutlichkeit iſt dieſes Wech- ſelverhältniß innerhalb jeder einzelnen Geſell- ſchaft nachzuweiſen. Ehrennamen kommen den Mitgliedern jener regulativen Organi— ſation zu, welche der kriegeriſche Zuſtand hervorgerufen hat. Die dreizehn Grade Spencer, Die Herrſchaft des Ceremoniells. | 351 in unſerer Armee und die vierzehn Grade in unſerer Marine zeigen von ſelbſt, daß ſich die ausſchließlich militäriſchen Beſtand— theile der Geſellſchaft immer noch im höch— ſten Grade durch zahlreiche und ſpecielle Titularzeichen charakteriſiren. Den herr— ſchenden Klaſſen, den Abkömmlingen oder Repräſentanten Derjenigen, welche in frühe⸗ ren Zeiten die Anführer der Streitkräfte waren, kommen noch heute die höheren Rangesauszeichnungen faſt ausſchließlich zu, und was die noch übrigbleibenden höheren Titel betrifft, ſo ſtehen die auf Kirchen— und Rechtsverhältniſſe bezüglichen gleichfalls mit der regulativen Organiſation im Zu— ſammenhang. Die producirenden und aus— tauſchenden Theile der Geſellſchaft anderer— ſeits, welche induſtriellen Thätigkeiten ob— liegen, tragen nur in Ausnahmefällen noch irgend einen Titel außer denjenigen, welche, indem ſie immer weiter herabſtiegen und ſich verbreiteten, ihre Bedeutung faſt ganz verloren haben. Es iſt ſomit unleugbar, daß die Titel, urſprünglich nur dazu beſtimmt, den Triumph des Wilden über ſeine Feinde in Erinner— ung zu bringen, ſich fortwährend ausge— breitet, vermehrt und differencirt haben, je größere Geſellſchaften durch Beſiegung und einmalige oder mehrfach wiederholte Ver— ſchmelzung kleinerer Geſellſchaften entſtanden ſind, und daß ſie, eben weil ſie jenem Typus des geſellſchaftlichen Aufbaues angehören, welcher durch gewohnheitsmäßige Kriege erzeugt wird, auch das Beſtreben zeigen, in demſelben Maße an Bedeutung, an Ge— brauch und an Werth zu verlieren, als dieſe Form des Aufbaues durch eine andere für die Zwecke des Friedens beſſer geeig— nete mehr und mehr verdrängt wird. Aleinere Mittheilungen und Journalſchau. Das Wiederaufleuchten der Sterne. aum irgend eine Erſcheinung am J Firſternhimmel bringt auf den tiefer e Aſtronomen nachhaltigere Eindrücke hervor, als die Erſcheinung ſogenannter „neuer Sterne“. In früheren Zeiten hat man dabei wohl geglaubt, einem Schöpfungsakte beizuwohnen, indeſſen hat man ſich in jedem Falle bald überzeugen müſſen, daß es ſich dabei ſtets nur um ein kurzes Aufleuchten halb erloſchener Sterne handelt, daß ihr die Sterne erſter Größe zuweilen überſtrahlender Glanz ſchnell wieder abnimmt, ſo daß ſie nach Verlauf weniger Wochen oder Monate wieder ihre frühere matte Helligkeit erreicht haben und dem unbewaffneten. Auge vielleicht völlig ent— ſchwunden ſind. Dieſe kurze Dauer ihres Glanzes macht ſie indeſſen womöglich dem Naturforſcher noch merkwürdiger, und ſchon Newton glaubte an ihre Erſcheinung die Idee von Weltkataſtrophen knüpfen zu dürfen: Zuſammenprallen halberloſchener Weltkörper, die durch den Stoß für kurze Zeit von Neuem entflammt werden. Seit der Entdeckung der ſpectroſkopiſchen Methode, welche geeignet iſt, uns über die Natur ſolcher Erſcheinungen näheren Aufſchluß zu | | 1 gewähren, haben ſich bereits zweimal auf- leuchtende Sterne der Beobachtung dar— geboten, nämlich im Jahre 1866, als in der nördlichen Krone ein hellleuchtender Stern aufflammte, und im November 1876, wo im Schwan ein, wenn auch weniger heller Stern, aufflammte, deſſen Helligkeits— Rückgang durch einen großen Theil des vorigen Jahres verfolgt werden konnte. Das Spektrum der neuaufleuchtenden Sterne zeichnet ſich, wie Huggins und Miller ſchon 1866 fanden und wie es im vorigen Jahre wieder beſtätigt werden konnte, vor demjenigen der gleichmäßig leuchtenden Fixſterne, die ein continuirliches Spektrum mit dunklen Linien, wie die Sonnenſcheibe, darbieten, durch das Hervor— treten heller Linien aus, unter denen beide— male die Waſſerſtofflinien einen beſonderen Glanz entfalteten. Da etwas ähnliches in den Fackeln und Protuberanzen der Sonne ſtattfindet, jo gründete Zöllner auf dieſes, Verhalten die Hypotheſe, daß es ſich bei dem Aufleuchten wahrſcheinlich um eine Art vulkaniſcher Eruptionen oder allgemeiner um Durchbrüche einer dünnen Erſtarrungs— rinde handele. Die genauere Beobach— tung des zuerſt im November 1876 von Schmidt in Athen endeckten „neuen“ Sterns im Schwan hat O. Lohſe in Berlin zu 22ͤĩ7k⁊ĩ˙èĩͤ ĩð - ̃ 1 gänzlich verſchiedenen Vermuthungen Anlaß gegeben, die er in dem unlängſt erſchienenen Dezemberheft der Monatsſchriften der Ber— liner Akademie vom Jahre 1877 nieder- gelegt hat. Als der Stern im Dezember 1876 noch ſeine größte Helligkeit beſaß, waren nicht nur die Farben des kontinuir— lichen Spectrums lebhaft, ſondern eine Reihe heller Streifen erſchienen neben Banden. Wie aber die Farbenintenſität des kontinuirlichen Spektrums langſam von Januar bis März 1877 dahinſchwand, jo zogen ſich die hellen Streifen zu Linien zuſammen; der vorher hellſte Streifen im Roth, der mit mehreren andern dem glühen— den Waſſerſtoff angehört, ging an Helligkeit am meiſten zurück, während eine Lichtlinie im blaugrünen Theile des Spektrums, welche ſich mit der Luftlinie identificiren ließ, am längſten hell blieb, ſo daß ſie ſogar noch im Spätherbſt 1877 hervortrat. Auf dieſe Beobachtungen fußend, hat O. Lohſe eine neue Hypotheſe über die Ur— ſachen der ſich plötzlich erneuernden Gluth in halberloſchenen Sternen aufgeſtellt, die vor der Kataſtrophen- und Eruptions-Theo⸗ rie unleugbare Vorzüge beſitzt. Die Gluth eines Sternes, folgert er ungefähr, wird ſich von dem Zeitpunkte an, in welchem ſie ihren Gipfelpunkt erreicht hat, ſchrittweiſe vermindern, und in dem— ſelben Verhältniſſe wird auch die Leuchtkraft nachlaſſen, ſo daß ſchließlich nach Verlauf einer genügend langen Zeit die Abkühlung auf einem Punkte ankommt, wo der Stern uns nur noch ſchwach ſichtbar oder gänz— lich verſchwunden iſt. Für ein ſolches Ver— ſchwinden (der ſpäter neu aufleuchtenden Sterne) dürfte es keineswegs nothwendig ſein, mit Zöllner u. A. anzunehmen, daß ſie bereits mit einer aus feſten chemi— ſchen Verbindungen gebildeten dichten Kruſte Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. verſehen ſeien, welche die glühende Maſſe unſern Blicken verhüllt, ſondern es dürfte in Anbetracht der ungeheueren Entfernungen hinreichen, ſich den Stern mit einer ſtark das Licht verſchluckenden, aus abgekühlteren Dämpfen beſtehenden Atmoſphäre umgeben, vorzuſtellen. Unter Vorausſetzung einer Abkühlung, die nur dieſe Stufe erreicht hat, dunklen erſcheint es weit eher möglich, ein noch— maliges Wiederaufleuchten zu erklären, ſofern es ſich dabei um Lichtintenſitäten handelt, die wegen ihrer weiten Sichtbarkeit mit denjenigen irgend einer vulkaniſchen Eruption nicht verglichen werden können. Solche von einer dichten Dampfhülle verſchleierte Erup— tionen würden nicht aus den in Betracht kommenden Entfernungen geſehen werden können, und in der That bietet ſich hier eine beſſere Erklärung. Die neueren Beobachtungen der Fix— ſterne, insbeſondere der Sonne, haben er— geben, daß die elementaren Stoffe auf dieſen Weltkörpern im Zuſtande der Diſſociation verharren und zwar in Folge der vor— handenen hohen Temperatur. Die Wärme trennt, wenn ſie einen beſtimmten Grad er— reicht, alle jene Aſſociationen von Stoffen, die wir als chemiſche Verbindungen bezeich— nen. Erſt wenn die Maſſe eines Fixſterns eine gewiſſe Abkühlungsſtufe erreicht hat, wird die Vereinigung der Stoffe zu chemiſchen Verbindungen eintreten können, und dieſe vermögen wir uns nur als einen Verbrennungsprozeß mit ſtarker Licht- und Wärme⸗Entbindung zu denken. Es wird ſtatthaft erſcheinen, ſolche auf dem Wege der kosmiſchen Entwicklung unausbleiblichen Reaktionen in erſter Reihe für die Urſachen der zeitweiligen Helligkeitszunahme faſt ent— ſchwundener Sterne anzuſehen. Auch er⸗ klären dieſelben ſehr gut manche Eigenthüm— lichkeiten dieſer Phänomene. So liegt es — — —. ͤ ———— Kosmos, Band III. Heft 4. | 354 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. nun in der Natur ſolcher chemiſchen Vor- gänge, daß ſie plötzlich eintreten, faſt momentan ein Maximum der Wirkung er— reichen, worauf ein allmäliger Rückgang eintritt. Genau daſſelbe beobachten wir beim Aufleuchten eines Sternes. Derſelbe wird plötzlich fihtbar und das Maximum ſeines Glanzes liegt ſtets am Anfange der Erſcheinung, von wo ab eine allmälige Abnahme beginnt. Ohne Zweifel werden ſich ſolche Vor— gänge bei jedem Sterne mehrmals wieder— holen müſſen, da es bekanntlich chemiſche Verbindungen giebt, die bei ziemlich hohen Temparaturen beſtehen können, während andere, wie z. B. grade das Verbrennungs— produkt des Waſſerſtoffs, erſt bei niedri— geren Temperaturen, und nicht in Gegen— wart glühender Metalle beſtehen können. Die erſten derartigen Prozeſſe würden ſich uns, kleinere Bruchtheile der Geſtirnmaſſen betreffend, wahrſcheinlich nur in geringen Glanzerhöhungen kund thun, und die von ihnen gebildeten Dämpfe werden das end— liche Verblaſſen und Verſchwinden der be— treffenden Sterne beſchleunigen, indem ſie den Durchgang des Lichtes aufhalten, bis dann ſpäter, wenn die Temperatur ſoweit geſunken iſt, daß die Vereinigung derjenigen Stoffe erfolgen kann, die einen beträcht— lichen Bruchtheil des Weltkörpers ausmachen und eine bedeutende Verbrennungswärme entwickeln, ein plötzliches Auflodern des Sterns erfolgt. Was nun die einzelnen ſpektroſkopiſch ermittelten Erſcheinungen bei dem Aufleuch— ten der Sterne betrifft, ſo muß man zu— nächſt das Auftreten der hellen Waſſerſtoff— linien, nach Analogie ihrer Erſcheinung über den dunklen Kernen der Sonnenflecken, auf ein Erglühen bedeutender Waſſerſtoffmaſſen außerhalb jener dunkleren Dampfhülle, die das mehr oder weniger vollkommene Verſchwinden des Sternes bewirkte, deuten. Dieſe hellen Linien waren bei dem neuen Schmidt'ſchen Sterne ſowohl am Anfange des Erſcheinens als ſelbſt dann noch zu ſehen, als die Helligkeit bereits bis zur neunten Rangſtufe abgenommen hatte. Da— raus wäre zu folgern, daß, wenn die Licht— entwicklung von der Vereinigung von Waſſer— ſtoff mit Sauerſtoff herrührte, der Wafler- ſtoff im Ueberſchuß vorhanden ſein mußte, damit dieſer Ueberſchuß durch die Ver— brennungswärme in lebhafte Gluth verſetzt werden konnte, denn verbrennender Waſſerſtoff giebt an ſich nur ein konti— nuirliches Spektrum. Indeſſen kann die beobachtete Lichterſcheinung auch von der Verbrennung anderer elementarer Stoffe, namentlich der Metalle abgeleitet werden; in dieſem Falle würde die Vereinigung von Waſſerſtoff und Sauerſtoff unmöglich ſein, da glühende Metalldämpfe die Bildung von Waſſer verhindern. Der auf dieſe Weiſe iſolirte Waſſerſtoff würde bei hinreichender Erhitzung das Linienſpektrum geben., Die von ihm bei dem Schmidt'ſchen Sterne beobachtete auffallende Breite der Waſſer— ſtofflinien, die ſich ſehr bald verringerte, hält O. Lohſe für ein ziemlich ſicheres Anzeichen dafür, daß dem Aufleuchten eine Exploſion zu Grunde lag, welche durch die er— zeugte Hitze eine andauernde Verdünnung der vorhandenen Gasmaſſen bewirkte. Das würde ebenſo vollkommen mit den beobachteten Er— ſcheinungen als mit der erklärenden Hypo— theſe im Einklang ſtehen. Die bei neuen Sternen beobachteteten auffälligen Schwan— kungen in der Helligkeit könnten vielleicht durch ein allmäliges Umſichgreifen der chemiſchen Wirkung erklärt werden. Es wird bei einer derartigen Exploſion in großem Maßſtabe nicht die ganze verbindungsfähige \ FU Ar nr Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Maſſe mit einem Schlage ſich vereinigen, ſondern die Einwirkung wird an einer be— ſtimmten Stelle beginnen, ſich allerdings raſch ausbreiten, in Folge der erzeugten hohen Temperatur aber mächtige Bewegungen in der Atmoſphäre des Weltkörpers hervor— rufen, welche die Stoffe durch Wegſchleu— derung an einer ſofortigen allgemeinen Ver— einigung verhindern. Andererſeits werden auch durch die Erhitzung locale Diſſociations— Prozeſſe von Neuem hervorgerufen werden, wodurch die lodernde Gluthmaſſe ſtarke Helligkeitsſchwankungen erkennen laſſen muß, wie dies thatſächlich der Fall war. Gegen den Schluß ſeiner Abhandlung faßt der Verfaſſer ſeine Hypotheſe in folgende Sätze zuſammen: ö „Durch die fortſchreitende Abkühlung der aus glühenden Dämpfen und Gaſen beſtehenden Maſſe eines ſelbſtleuchtenden Weltkörpers (Fixſtern's) wird ſchließlich eine atmoſphäriſche Hülle erzeugt, die das Licht in ſo ſtarkem Grade abſorbirt, daß der Stern von der Erde aus nicht mehr oder doch nur ſchwach geſehen werden kann. Wenn dann durch weitere Wärmeausſtrahl⸗ ung der Grad der Abkühlung erreicht wird, welcher für Bildung derjenigen chemiſchen Verbindungen erforderlich iſt, die einen weſentlichen Theil des Ganzen bilden, jo wird bei Vereinigung der betreffenden Ele— mentarſtoffe eine bedeutende Wärme- und Lichtentwicklung ſtattfinden, welche den Stern plötzlich auf große Entfernungen hin für längere oder kürzere Zeit wieder ſichtbar macht.“ Die Parthenogeneſis im Pflanzen- reiche. Unter den niederen Thieren iſt die ſogenannte Jungferngeburt bekanntlich eine ziemlich häufige Erſcheinung, doch tritt fie, in der Regel nur alternirend mit geſchlecht— licher Erzeugung auf, wodurch ihr philoſo— phiſches Intereſſe komplicirt wird. Im Pflanzenreiche iſt dieſe alternirende Jungfern⸗ geburt eine ſehr gewöhnliche Erſcheinung und nur das Auftreten einer ausſchließ⸗ lichen Fortpflanzung durch Parthenogeneſis konnte bei den Botanikern ein lebhafteres Intereſſe erwecken. Eine ganze Reihe diöciſcher Pflanzen, die nur in weiblichen Exemplaren verbreitet ſind, hat man ge— legentlich Früchte reifen ſehen. Als regel— mäßige Erſcheinung iſt die Parthenogeneſis insbeſondere bei einer neuholländiſchen Eu— phorbiacee, Caelebogyne ilieifolia Smith, die in ihrem Vaterlande einen Beſtandtheil des ſogenannten Scrub bildet, beobachtet und ſtudirt worden. Dieſe diöciſche Pflanze, welche im äußeren Anſehen unſerer Stech— palme (Ilex acuifolium seu aquifolium) nicht unähnlich iſt, wurde 1829 in einem weib- lichen Exemplare von Allan Cummingham nach Kew geſandt und hat ſeitdem in den meiſten botaniſchen Gärten Aufnahme gefunden. John Smith beobachtete bereits 1841 ihre Befähigung, in ihrem durch Trennung von den männlichen Exemplaren veranlaßten unfreiwilligen Witt- wenſtande ohne Begattung entwickelungs⸗ fähige Nachkommen zu erzeugen. Man erging ſich in den verſchiedenſten Vermuthungen, um dieſe abnorme Erſchein— ung zu erklären. Zuerſt argwöhnte man, die Pflanze möchte kleine unſcheinbare Pol- lenmaſſen, die ſehr leicht zu überſehen wären, erzeugen, oder ſich mit dem Pollen anderer Euphorbiaceen behelfen, ja es wurde ſogar die dem maſſenhaften Samenreifen der Pflanze gegenüber lächerliche Hypotheſe auf— geſtellt, der Wind könne aus Neuholland Pollenkörner nach Europa führen, um die 356 Befruchtung zu ermöglichen! Kleine Saft— drüſen der Blüthen machen es wahrſchein— lich, daß die Pflanze in ihrer Heimath auf Inſektenbefruchtung angewieſen iſt, aber es hat nicht an Hypotheſenſchmieden ge— fehlt, die dieſe Saftdrüſen verdächtigt haben, eine Art flüſſigen Spermas zu erzeugen, um die Blumen zu befruchten. Schon J. Smith wies darauf hin, daß eine Be— fruchtung durch fremden Pollen ſchon durch den Umſtand unwahrſcheinlich gemacht werde, daß die Narben mit ihren breiten Lappen noch während des Anſchwellens der reifen— den Frucht ſich friſch und ſaftig erhalten und nicht denjenigen Veränderungen unter— liegen, welche bei anderen Pflanzen gleich nach der Befruchtung eintreten. Profeſſor A. Braun in Berlin nahm in den Jahren 1856— 60 eine Reihe der ſorgfältigſten Unterſuchungen an den im Berliner Univerſitätsgarten befindlichen Exem— plaren der Pflanze vor und veröffentlichte die Ergebniſſe derſelben in den Denkſchriften der Berliner Akademie und in einem be— ſonderen Werke“). Er konnte die Smith'— ſchen Beobachtungen durchgängig beſtätigen und wies auch an anderen Pflanzen analoge Erſcheinungen nach, wie z. B. an der meiſt nur in weiblichen Exemplaren beobachteten Chara erinita, am weiblichen Hanf u. A., wobei er ebenfalls fand, daß an allen dieſen unbefruchtet Samen bringenden Pflanzen die Narben ſich auffallend lange friſch er— hielten. Dieſe Beobachtungen konnte man nicht länger anzweifeln, aber man neigte jetzt dazu, die in den europäiſchen Gärten erzeugten Keimlinge der Caelebogyne zu verdächtigen, daß ſie keine echten Keimlinge ſeien, ſondern nur Sproßknoſpen, die | ) Parthenogeneſis, Keimung und Po— lyembryonie von Caelebogyne. Berlin, Dümm— ler 1860. Oualität, als die Eizelle fie an ſich hat, angekommen iſt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | ausnahmsweiſe aus unbefruchteten Ovarien, wie ſonſt aus Sproßgebilden, erwüchſen. Dieſe Zweifel ſowohl, wie das große biologiſche Jutereſſe der Erſcheinung über— haupt, veranlaßte Profeſſor A. Braun, den jetzigen Profeſſor Joh. Hanſtein in Bonn zu erneueten ſorgfältigſten Beob— achtungen dieſer Pflanze in Gemeinſchaft mit ihm anzuregen, die denn auch über eine ganze Vegetationsperiode ausgedehnt wurden. Nach dem Tode des Altmeiſters der mor— phologiſchen Botanik, hat nun Profeſſor Hanſtein über dieſe Beobachtungen allein Bericht erſtattet,“) wobei er darauf hin— weiſt, daß ſich auch in Braun's Nachlaß noch werthvolle Aufzeichnungen über ver— wandte Fälle finden dürften. Da dieſe neue Verſuchsreihe wiederum nur die Thatſache feſtgeſtellt hat, daß Caelebogyne ohne eine wirkliche Intervention männlicher Elemente keimfähige Samen erzeugt, ſo übergehen wie das Detail der Unterſuchung und verweilen nur bei den am Schluſſe der Arbeit gezogenen allgemeinen Folger— ungen aus dieſen Thatſachen, die uns intereſſant genug erſcheinen, um wörtlich mitgetheilt zu werden. „Die Sache liegt einfach ſo, ſagt Hanſtein, daß freilich zwar die ganze höhere Pflanzen- und Thierwelt ſeit Taufen- den von Generationen die Sitte vererbt hat, ihre Eizell-Aulagen mit einem künſt— lichen Empfängnißapparat zu umgeben und darauf mit deren Ausbildung zum keim— fähigen Ei zu warten, bis eine Spende an Stoff und Kräfte-Zuthat von anderer Allein als Nothwen— digkeit erſcheint dieſe Zugabe nun nicht ) Botanifche Abhandlungen aus dem Gebiete der Morphologie und Phyſiologie Heft III. Band III. Bonn 1877. Be | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. mehr. Und läßt auch die Gewohnheit in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle die Eianlagen, wenn ſie vergeblich warten, lieber umkommen, als zur Selbſthilfe ſchreiten, ſo iſt dies eben nicht nöthig, und folgt aus keinem obligato— riſchen Naturgeſetze. Das abgetrennte Blatt, das Wurzelſtückchen u. ſ. w. entſchließen ſich in der Noth und Verlaſſenheit in vielen ungünſtigen Fällen, durch energiſchen Auf— ſchwung ihrer Geſtaltſamkeit eine Stamm— knospe zu erzeugen — was doch keine ge— wohnte Arbeit für ſie iſt, — während dies in ſehr viel mehr Fällen unterbleibt. Ganz ebenſogut kann, während das Ab— warten des Zeugungsvollzuges und das Mißlingen der Eibildung bei deſſen Unter— bleiben in der Mehrzahl der Fälle gilt, in einer Minderzahl durch eigene Trieb kraft im Eierſtock allein aus dem immerhin beſchränkten Vorrath von ſtofflichem und dynamiſchem Beſitzthum, wenn die vervoll— ſtändigende Wirkung ausbleibt, die ſelbſt— kraftige Anlage und Ausbildung von Keimen neuer Weſen unternommen werden. Dieſes iſt durchaus nicht als eine höhere plaſtiſche Leiſtung anzuſehen, als jenes. Wenn bei den völlig parthenogenetiſchen Akten, durch welche die ſogenannte Ammen-Zeugung der Würmer u. ſ. w., die Brutſporen der Farne, die Schwärmſporen der Algen u. ſ. w. zu Stande kommen, das Zuſam— menfügen verſchiedener Zeugungsqualitäten unterlaſſen wird (nach jener Anſicht alſo das Auseinandertreten entgegengeſetzter Prin— cipien unterbleibt), ſo geſchieht dies hierbei von den betreffenden Pflanzen gewohn— heitsgemäß und nach der bei ihnen herrſchenden Wirthſchaftsregel. Hier in den Ausnahmefällen geſchieht es gegen die Regel, gegen die angeborene Gewohn— heit, aber es geſchieht auch nichts Anderes 357 und nichts Schlimmeres, mithin nichts plaſtiſch Schwierigeres oder principiell Un- erhörtes und Wunderbares. Nichts geſchieht vielmehr, als daß die Pflanze im Nothſtande ſich, ſo zu ſagen, auf die ihr angeſtammte Befähigung beſinnt und nach derſelben thatkräftig zurückgreift. Daß nun übrigens ihre parthenogenetiſchen Zeug— linge, ob fie gleich morphologiſch echte Keimlinge ſind, doch biologiſch den beidelterlich erzeugten Keimen nicht äqui— valent ſein können, liegt nach dem Vor— ſtehenden auf der Hand. Sie kopiren zu— nächſt die Eigenſchaften des Mutter-Indivi⸗ duums. So ſind alle bisher bei uns aufgewachſenen Caelebogyne-Stämme, ſo— viel deren erkennbar geworden, weibliche Exemplare. Bei Hanf und Hopfen wird indeſſen ſchon weniger ſtreng verfahren und die vermuthlich jungfräulich erzeugten Keim⸗ linge waren zum Theil Männchen. Im Ganzen iſt dem parthenogenetiſchen Neuweſen neben dem morphologiſchen Werth der Keimlinge nur der biologiſche von Brut— ſproſſen beizulegen. Daſſelbe gilt natürlich von den einzelligen Brut- und Schwärm— ſporen der Kryptogamen, welche gleichfalls morphologiſch Keime, biologiſch betrachtet aber nur den Brutknoſpen gleichwerthig ſind.“ Ref. will zum Schluſſe nur noch da— rauf hinweiſen, wie ſehr die erwähnte regel— mäßige Weiblichkeit aller Nachkommen der Caelebogyne feine früher in dieſen Blättern ausgeſprochene Meinung beſtätigt, daß der regelmäßige Hermaphroditismus der jungen Keimanlagen, und mancher erwachſenen Thiere, nur ein Produkt der geſchlechtlichen Vermiſch— ung iſt. K. 358 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. * Die Kometenform der Seeſterne und der Generationswechſel der Echinodermen. Bei den Seeſternen findet eine eigen— thümliche Form der Reproduktion ſtatt, welche darin beſteht, daß ein abgelöſter Arm den geſammten Körper, d. h. die centrale Scheibe ſammt den übrigen Armen neu bildet, wo— raus dann die Form eines kleineren Sternes mit einem einzelnen längeren Strahl, alſo eines Schwanzſterns oder Kometen hervorgeht. Ueber dieſe Reproduktionsform, welche ſehr verſchieden iſt von den gewöhnlich vorkom— menden, bei denen ſich entweder nur einzelne abgebrochene Strahlen neu erzeugen oder der Seeſtern ſich in zwei Hälften theilt, die ſich zu zwei neuen Ganzen ergänzen, hat Prof. Haeckel neuerdings einige Mittheilungen gemacht,) die nach mehreren Richtungen ſehr lehrreich ſind. Denn es iſt offenbar, daß es ſich hierbei nicht um eine bloße Regeneration handelt, wie diejenige, durch welche die Eidechſe den verlornen Schwanz oder der Krebs eine Scheere nach— bildet, denn hier erzeugt ſcheinbar die Ex— tremität das ganze Thier, was in keinem andern Falle beobachtet worden und auch hier, wie wir ſehen werden, wahrſchein— lich ganz anders zu deuten iſt. Schon den Alten ſcheinen dieſe leben— digen abgelöſten Seeſtern-Arme aufgefallen zu ſein, denn auf ſie bezieht ſich augen— ſcheinlich die von Aelian und Oppian mitgetheilte Sage, daß die Stücke eines Seeigels, einzeln ins Meer geworfen, darin fortlebten, einander aufſuchten und neu zu— ſammenwüchſen; man hat hier die oft ſehr ſtachligen Seeſterne mit den Seeigeln zu— ſammengeworfen. Was nun die neueren f Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie. 5 XXX. Suppl. 1878. S. 424— 445. Nebſt Tafel. Beobachtungen betrifft, ſo fand Prof. Mar— tens 1866, daß ein abgelöſter Arm von Ophidiaster multiforis eine Scheibe und neue Arme entwickelte und daſſelbe be— obachtete Kowalewsky bei einem andern Seeſtern des rothen Meeres (O. Ehren- bergii). Bald darauf überzeugte ſich Oſſian Sars durch direkte Verſuche, daß bei beiden Arten der merkwürdigen Brisinga (ſ. Kos— mos B. J. S. 365) die einzelnen von der Scheibe gelöſten Arme fortlebten und ihre gewöhnlichen Lebensfunktionen forterfüllten, ſogar lange nachdem die Miittelſcheibe ſelbſt zu leben aufgehört hatte. Da dies bei einem Tiefſee-Thier unter den ſtark verminderten Druckverhältniſſen der Ober— welt um ſo erſtaunlicher war, ſo vermuthete Sars mit gutem Grunde, daß unter normalen Verhältniſſen wahrſcheinlich eine freiwillige Ablöſung der Arme und Neu— ergänzung zu vollſtändigen Thieren, alſo eine Vermehrung durch divisio radialis vorkommen möchte. Schleiden, in ſei— nem bekannten Buche „das Meer“, giebt die Abbildung einer ſolchen Kometenform aus dem Aquarium von Concarneau, und er— zählt dabei: „John Dalyell fand am 10. Juni einen einzelnen, kürzlich von einem Seeſtern getrennten Strahl, ſchon am 15. Juni erſchienen am Grunde vier neue ru— dimentäre (d. h. kleine) Strahlen; am Ybend deſſelben Tages begann auch die Bildung eines neuen Mundes, nur blieben die vier neuen Strahlen ſehr klein. Einen Monat ſpäter warf das Thier freiwillig den alten Strahl ab, und an deſſen Stelle ſproßte ein neuer, ganz vollſtändiger Seeſtern hervor.“ Profeſſor Haeckel ſelbſt hat nicht weniger als 51 Kometenformen von vier verſchiedenen, theilweiſe in einander über— gehenden Ophidiaſter-Arten aus den Muſeen von Berlin, Jena, München, dem Godeffroy— Muſeum in Hamburg u. ſ. w. unterſucht und ſechs der intereſſanteſten Formen ge— nauer beſchrieben und abgebildet. „An den jüngſten Exemplaren ſieht man, daß eine eigentliche Scheibe bei ihnen noch gar nicht exiſtirt, ſondern daß die neugebildeten Arme un— mittelbar aus der Mundfläche des Arms hervorſproſſen. Die Mundöffnung wird zunächſt nur durch das offene centrale Ende des Specialdarms des regenerirenden Armes gebildet. Eine Madreporen-Platte“) | fehlt ganz. Die Zahl der neugebildeten Arme beträgt bald vier, bald fünf.. ... Erſt nachdem die neugebildeten vier oder fünf Arme eine gewiſſe Größe erreicht ha— ben, geſtaltet ſich ihre centrale Verbindung | zu einer ganz kleinen Mittelſcheibe; der Mund rückt in die Mitte und beiderſeits ein Theil des Armes als Stummel an der des Hauptarms tritt eine kleine Madre— poren-Platte auf, in dem Winkel zwiſchen letzterem und dem benachbarten neuen Arm, ſpäter erſt auf die dorſale Fläche hinaufrückend.“ Zur ferneren Begründung der von *) d. h. die den meiſt fünf Armen gemeinſame, ſeitlich auf dem Rücken der Mittelſcheibe liegende durchlöcherte Kalkplatte, durch welche der Steinkanal das zur Schwell— ung der Schlauchfüßchen dienende Waſſer aufnimmt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Kometenform von Ophidiaster multiforis. Von der Bauchſeite (doppelte natürliche Größe). 359 diaster multiforis und Ehrenbergii), die ſich kaum trennen laſſen, noch der ebenfalls ähn— Es find liche O. diplax und der ſtärker abweichende außer den oben genannten beiden Arten (Ophi- O. ornithopus aus dem weſtindiſchen Meere. Sars, Kowalewsky, Studer und R. Jones ausgeſprochenen Anſicht, daß die Arme ſich freiwillig ablöſten, um neue Sterne aus ſich ſelber zu bilden, boten ſich für Profeſſor Haeckel mehrere Exem— plare von Ophidiaster diplax und O. orni- thopus, an denen ſich deutlich ſtudiren ließ, wie ſich die Arme freiwillig von der Scheibe abſchnüren. An einigen reifen Exemplaren nämlich, welche nicht Kometenformen an— gehörten, zeigten ſich 2 — 6 Mm. von der Scheibe entfernt, Einſchnürungen der Arme, als Anfang der beginnenden Ab— löſung. Dieſelben zeigen, daß nicht nur kein Theil der Scheibe an dem ſich ablöſenden Arm zurückbleibt, ſondern daß umgekehrt Scheibe verbleibt, aus welchem in manchen Fällen ein neuer Arm hervorwächſt. Alle dieſe Thatſachen führen zu dem ſichern Schluſſe, daß man es hier nicht mit einer gewöhnlichen Regeneration, ſondern mit einer beſondern Form der Reproduktion zu thun hat. Denn es iſt kein einziger Fall bekannt, daß bei irgend einem Thiere eine abgelöſte Extremität das Vermögen beſäße, den ganzen Körper zu reproduciren. Der nahe liegende Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Schluß iſt alſo, das es ſich hier um keine | ftellt, welches nur für gewöhnlich mit den (meiſt vier) andern Armen ein Geſellſchafts— leben führte. Extremität handelt, ſondern daß der ſich ablöſende Arm ein ſelbſtändiges Weſen dar— Rückenſeite der Mittelſcheibe (Astrodiscus) von Ophidiaster diplax, bei welcher ſich mehrere Arme abſchnüren, während an Stellen früher verlorener Arme auf den Stumpfen neue hervorſproſſen. m m die Madreporenplatten. Dieſe Auffaſſung des meiſt fünftheiligen Leibes der Seeſterne iſt bekanntlich aus andern Gründen ſchon vor zwölf Jahren von Prof. Haeckel aufgeſtellt worden. Ueber das eigentliche Weſen und die Verwandt— ſchaften dieſer Thiere herrſchen nämlich die einander widerſprechendſten Anſichten noch unter den heutigen Zoologen, und für die meiſten der Letzteren gilt das Wort Goethes: „Dies Pentagramma macht mir Pein!“ Die älteſte Anſicht zwar, die beſonders von Cuvier präciſirt wurde, nach welcher die Seeſterne und die ganze Abtheilung der Stachelhäuter mit den Polypen, Korallen und Quallen eine enge Gemeinſchaft von Strahlthieren bilden mußte, wird von den meiſten heutigen Zoologen nicht mehr getheilt, ſeit Leuckart 1848 die gründ— liche Verſchiedenheit der Stachelhäuter von den erſteren dargethan hat. Nur ganz vereinzelte Forſcher, wie Agaſſiz Vater und Sohn und ein ruſſiſcher Zoologe Namens 125 Metſchnikoff, traten und treten noch für die alte Anſicht ein, wobei von den letzteren angenommen wird, daß ſich die Stachelhäuter aus den ſogenannten Rippenquallen ent— wickelt haben ſollen. Mit dem Studium der Entwicklungs— geſchichte ließe ſich viel eher eine andre Anſicht vereinen, welche den morphologiſchen Anknüpfungspunkt bei den ſogenannten Stern— würmern (Gephyreen) ſucht, weil ſie einer Abtheilung der Stachelhäuter, den Seegurken oder Holothurien, äußerlich in ſo vielen Punkten nahe kommen, daß man ſie zeit— weiſe in dieſelbe Klaſſe geſtellt hat. Auch heute glauben noch zahlreiche Zoologen, daß die Holothurien die Stammeltern der Stachel— häuter ſeien und ihrerſeits von den Stern— würmern abſtammen möchten. Die Entwicklungsgeſchichte iſt einer ſolchen Auffaſſung nicht gradezu feindlich. Denn ſie zeigt allerdings, daß die ſternförmig gebauten Thiere aus Larven entſtehen, die nicht ſtrahlig, ſondern ſymmetriſch gebaut ſind und den Wurmlarven im Allgemeinen gleichen, während ſie keine Aehnlichkeit mit den von Anfang an ſtrahlig gebauten Larven der Korallen und Meduſen zeigen. Aber die genauere Verfolgung der Entwicklungsgeſchichte zeigt, daß die Stachel— häuter nicht durch eine einfache Metamor— phoſe aus jenen ſymmetriſch gebauten Larven hervorgehen, ſondern daß hierbei eine Art ungeſchlechtliche Geburt, ein ſo— genannter Generations wechſel eintritt, nach welchem aus dem vorher ſymmetriſchen Thiere plötzlich ein ſtrahlig gebautes ge— worden iſt. Die Würmer ſind wie die ihnen nahe verwandten Gliederthiere und Weichthiere und wie die entfernter verwandten meren) zuſammengeſetzt, und ebenſo iſt es die Sternthier-Larve oder beſſer Amme, aus deren Körper durch Generationswechſel Thiere hervorgehen, die aus gewöhnlich zehn, zuweilen auch mehr ſolcher Antimeren beſtehen. Ein derartiger Generationswechſel läßt ſich faſt nur durch einen Vergleich mit ähnlichen, aber einfacher liegenden Erſchein— ungen verſtehen. Bei einer ziemlichen An— zahl von Würmern unter den Ascidien und Salpen findet nämlich ein ähnlicher Wechſel in ſofern ſtatt, als die Jungen ebenfalls freilebende ſymmetriſche Einzelthiere (Ammen) ſind, die dann durch Parthenogeneſis oder Jungferngeburt eine Reihe von Jungen zur Welt bringen, die zu Sternen, Walzen oder Ketten miteinander vereinigt bleiben. Bei den ſtern- und walzenförmigen As— cidien-Stöcken geht dieſe Vereinigung fo weit, daß dieſe Thiere eine gemeinſame Kloake beſitzen, um welche ſie ſich ſtrahlig gruppiren wie die Zacken eines Sternes. Haeckel hat nun im Jahre 1866 zuerſt die Meinung aufgeſtellt, bei den Ahnen Kosmos, Band III. Heft 4. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 361 der Stachelhäuter, denen alsdann die See— ſterne und nicht die Holothurien am nächſten ſtehen würden, möge ein entſprechender Generationsvorgang zur Entſtehung zuſam— mengeſetzter Thiere geführt haben, die noch inniger mit einander verſchmelzen als die erwähnten Ascidien. Eben in Folge dieſer innigen Verſchmelzung der fünf oder mehr Einzelthiere zu einem Sternſtock (Astrocor— mus) habe der Generationswechſel die be— ſondre Form der Metagenesis suecessiva angenommen, bei welcher die Sternamme (Astrotithene) die ſternförmig vereinigte Brut nicht mehr wirklich gebiert, ſondern dieſe durch eine Art innerer Sproſſung in unmittelbarer Folge in ſich erzeugt. Wie nahe liegend die Annahme einer ſolchen Wirbelthiere aus zwei gleichen Hälften (Anti- Zuſammendrängung der Phaſen des Ge— nerationswechſels unter den vorausgeſetzten Verhältniſſen wird, erſieht man daraus, daß er bei den jüngern Sternthieren ſich immer mehr zuſammenſchiebt und dadurch ſcheinbar in eine Metamorphoſe übergeht. Nach dieſer geiſtvollen Hypotheſe ſind alſo die einzelnen, aus zwei Antimeren zuſammengeſetzten Parameren urſprünglich ſymmetriſche Einzelwürmer geweſen, die allmälig immer inniger mit einander ver— ſchmolzen, bis daraus Thiere hervorgingen, wie die Seeigel und Holothurien, in denen der zuſammengeſetzte Stock oder Cormus nur noch durch die Vergleichung mit den ältern Formen erkennbar bleibt. Ueber das Verhältniß dieſer zuſammengeſetzten Perſonen zu den Einzel-Perſonen hat kürzlich Prof. Haeckel genauere Definitionen gegeben in einer Arbeit „über die Individualität des Thierkörpers“ ?) auf die wir hier verweiſen müſſen, da die grundlegenden Beſtimmungen derſelben einen Auszug nicht geſtatten. » Jenaer Zeitſchriſt für Naturwiſſenſchaften 1878. XII. S. 1. rr. ̃ ...... . . . ̃ . 46 362 Die Hypotheſe von der Cormus-Natur der Stachelhäuter findet nun, außer in der Eutwicklungsgeſchichte und den Parallel- zu treiben. Vorgängen bei den Syn-Aseidien, eine offen— bar ſehr ſtarke Stütze in der hier betrachteten Fähigkeit der abgelöſten Arme des Seeſterns oder Aſtrolenen, von der Scheibe (Astrodis- | cus) geſondert, wie eine einfache Wurmperſon weiter zu leben und neue Individuen ſeiner Art zu erzeugen, um ſich mit ihnen zu von O. Sars mit Brisinga die freilich einer neuen Firma „Sternarm und Söhne“ zu vereinen. „Es handelt ſich hier offen— bar,“ ſagt Haeckel, „um einen wirklichen Generationswechſel der Seeſterne, um eine ungeſchlechtliche Vermehrung, welche alle Charaktere der echten Metageneſis trägt. Da wir nun auch die ſogenannte „Meta— morphoſe“ der Echinodermen . . . in ihrer älteſten urſprünglichen Geſtalt als wirkliche Metageneſis auffaſſen müſſen, ſo hätten wir im Stamme der Sternthiere zwei verſchie— dene Formen des Generationswechſels: Erſtens die gewöhnliche Form der Meta— geneſis, wo die ſogenannte „Larve“ (Pluteus, Brachiolaria etc.) als Amme fungirt und durch innere Knospung das ganze Echinoderm erzeugt (bei den meiſten Aſterien, Ophiuren, Echinen und vielen andern Echino— dermen) — und zweitens die ſeltenere Form der Metageneſis, wo der ſpontan abgelöſte Seeſtern-Arm als Amme fungirt, und durch äußere Sproſſung den Stern erzeugt (Ophidiaster, Labidiaster, Bri- singa und andre Aſterien).“ Zum Schluſſe möchte Referent ſich noch erlauben, auf einen beſondern Punkt hin— zuweiſen. Der Aſtrodiskus iſt nach dieſer Hypotheſe ein nachträglich entſtandener Theil und wird dementſprechend mit vieler Leich— tigkeit von den freilebenden Armen neu nacherzeugt. Es wäre nun doppelt inter— e ſſant, durch den Verſuch zu ermitteln, ob Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | auch umgekehrt die Scheibe, wenn man ihr alle Arme radical weggeſchnitten hat, im Stande iſt, weiter zu leben und neue Arme Es hat das offenbar alle Wahrſcheinlichkeit für ſich, da die Haupt— organe des Lebens in der Scheibe centraliſirt ſind, und wenn die ältere Betrachtung der Stachelhäuter als Einzelthiere richtig wäre, müßte das fraglos geſchehen. Gleichwohl ſtarb bei den oben erwähnten Verſuchen hier ſehr kleine Scheibe früher als die Arme. Bei Seeſternen, deren Scheibe ſich mehr entwickelt hat, dürfte ein ſolcher Verſuch keineswegs als experimentum erueis hingeſtellt werden, denn es iſt, na— mentlich bei dünnarmigen Schlangenſternen, bei denen die Wundflächen nicht groß aus— fallen würden, ſehr möglich, daß alle Arme neu nachwüchſen. Thäten ſie es indeſſen wider Erwarten nicht, ſo wäre das ein ferneres, wenn auch kleines Gewicht in die Wagſchale, die ſich, wie uns ſcheint, immer entſchiedner zu Gunſten der Haeckel'ſchen Cormus⸗Theorie neigt. Raub-Naupen. Prof. Carl Berg in Buenos Aires ſagt in einem, in einer ruſſiſchen Zeitſchrift abgedruckten Aufſatz über „Patagoniſche Lepidopteren“: „Es bleibt mir hier nur noch übrig, einer Eigenthümlichkeit der Raupen, ihrer höchſt carnivoren Eigenſchaft zu gedenken. Alle Raupen, welchen Familien und Gruppen ſie auch angehörten, zeigten den lebhafteſten Trieb ihren Stammesgenoſſen ans Leben zu gehen. In der Gefangen— ſchaft fraßen ſie nur ſolche, ſelten etwas von der Futterpflanze anrührend. Spinner— raupen vertilgten andere ihrer Gattung, was unglaublich klingt aber wahr iſt, mit Haut und Haar, ja, ſie riſſen ſogar die Cocons der Verpuppten auf und fraßen die Puppen aus, worauf ich meine Reiſegefährten be— ſonders aufmerkſam machte. Aehnlich be— nahmen ſich die Noktuen-Raupen unter Ihresgleichen und unter Spinnern und um— gekehrt; von erſteren war die von Heliothis armiger Hb. über alle Maßen gefräßig; in 24 Stunden vertilgte eine ſolche 6— 7 andere. Auch die Raupe des Tagfalters Pyrameis Carye Hb. war carnivoriſch, dieſe aber ſehr mäßig und zog ſtets friſches Pflanzenfutter fleiſchlicher Nahrung vor, während die anderen, namentlich Eulen, einmal an Fleiſchkoſt gewöhnt, keine Pflanzen mehr freſſen wollten. Dieſe Eigenthümlichkeit patagoniſcher Raupen läßt ſich leicht erklären. Während des Hochſommers herrſcht in Patagonien große Dürre und Hitze; im Verein mit trockenen Winden bringen dieſe die ohnehin ärmliche Vegetation allzuleicht zum Ver- dorren. Da es den Raupen alsdann an Nahrung gebricht, hat der Kampf ums Daſein ſie gelehrt, eine andere Nahrungs— quelle zu finden. Sie zehren von Ihres— gleichen. Dieſe Eigenſchaft ererbend, thun ihre Nachkommen es oft auch ſpäter, wo kein Pflanzenmangel ſie dazu zwingt. — Die Natur macht erfinderiſch und die Natur iſt biegſam!“ Neuere vorgeſchichtliche Chier- zeichnungen. Der Bericht über die achte allgemeine Verſammlung der deutſchen Geſellſchaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeſchichte Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 363 erſchien ſoeben bei R. Oldenbourg unter Redaktion von Profeſſor Dr. J. Ranke mit 2 Tafeln in Quart, einer Karte der prähiſtoriſchen Anſiedelungen am Bodenſee und einer Zeichnung. Der ca. 100 Seiten umfaſſende Bericht zeichnet ſich vor Allem durch eine große Sorgfalt und möglichſte Vollſtändigkeit aus, die natürlich nie vollfom- men bei ſolchen Gelegenheiten zu erreichen iſt. Beſonders hervorzuheben iſt die für die Entwickelung der Anthropologie bedeu— tende Debatte über die Echtheit der Funde von Thayingen, die S. 103 —122 ver- zeichnet ſteht (vgl. Kosmos, Bd. II. S. 439441). Einen neuen Beitrag zur Echtheit der Thierzeichnungen bringt in einem Anhang Dr. Mandach von Schaffhauſen. Dar— nach entdeckte eine wiſſenſchaftliche Com— miſſion k), darunter Namen wie Daw— kins, Lubbock, Burk und Andere in den Klippen von Cresnell an der engliſchen Südküſte eine Reihe von Höhlen, die durch ihre Funde eine zweifache Beſchlagnahme durch Menſchen bewieſen. In der jüngeren Schicht fand H. Mello auf einem zarten Knochenfragment die Zeichnung des Vor— dertheiles eines Pferdes. Daſſelbe ziert nach Dawkins' Beobachtung eine kurze, borſtige Mähne und trägt ganz denſelben Typus zur Schau, wie die Pferde— zeichnung von Thayingen. Die Aehnlich— keit des Typus manifeſtirt ſich in der vorgebeugten Stellung des Kopfes, die eine lauernde Intention verräth, in der Behaartheit und endlich in den Dimenſionen des Körpers. Die Zeichnung von Cresnell, oder beſſer von Robin-Hood, iſt gerade ſo ) Solche Commiſſionen wären auf deut- ſchem Boden ſehr empfehlenswerth, um eine ſolche Turbation wie bei dem Falle Thayin— gen zu verhüten. 364 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. naturaliſtiſch nach dem Leben gegeben, wie die von Perigord und Thayingen. Es ſind die Eingebungen der Natur, welche der Naturmenſch nach den wiederholten Eindrücken ſicher zum Ausdruck brachte. Dawkins zieht daraus den Schluß, daß die Jäger der älteren Steinzeit, der ſoge— nannten paläolithiſchen oder nach Ecker der unmetalliſchen Periode von Südengland, deſſelbden Stammes waren, wie die Ren— thierjäger von der Schweiz und der Dor— dogne. Ohne gerade dieſen Schluß deciſiv auf— recht erhalten zu wollen, muß man geſtehen, daß die Forderung Ecker's und Linden— ſchmit's nach bezeugten Parallelfunden für die Zeichnungen von Thayingen, ſowie die Vorausſage Meſſikomer's hiermit glän— zend erfüllt ſind. Die Fundumſtände ſind hier nicht anzuzweifeln und die Echtheit derer von Robin-Hood zeugt auch für die Be— weiskraft der früher gefundenen von Thayin— gen, Freudenthal, Perigord. Die Frage der Thayinger Zeichnungen, ſowie überhaupt der prähiſtoriſchen Kunſt iſt ſomit ihrer Spruchreifheit (vgl. Bericht S. 107 Ecker) bedeutend näher geführt und auch die abſolute Zeit der Entſtehung dieſer Kunſtwerke dadurch näher fixirt. Iſt es überhaupt erlaubt, über die Ethnologie eines Volkes, das ſich nach Dawkins Unterſuchungen unter ganz ähn— lichen Culturverhältniſſen im weſtlichen Frankreich, dann bis an den Oberrhein und im ſüdlichen Britannien findet, wenig— ſtens eine auf hiſtoriſche Zeugniſſe ge— gründete Vermuthung zu wagen, ſo ſei für dieſen Zweck auf das Volk der Iberer hingewieſen. Dieſe bewohnten vor circa 700-600 Jahren den ganzen Weſten Europas bis an den Rhein und wurden 1 zurückgedrängt durch die vom Oſten her einwandernden Kelten“). Einen uralten Völker- und Handels— verkehr Südbritanniens und Nordſpaniens bezeugten auch die Nachrichten des Avienus und Strabo, die von den Bewohnern der Zinninſeln und Nordſpaniens berichten, daß ſie mit an— deren Kühnen den weiten Ocean durchmeſſen. Und bereits vor Ankunft der Kelten in Frank— reich in der erſten Hälfte des erſten Jahr— tauſends v. Chr. hatten nach Strabo die Tyrier Verkehr und Niederlaſſungen in Ibe— rien. Nach der Unterwerfung Phoeniziens eröffnete ſich den Griechen ſchon im Laufe des 7. Jahrhunderts der Seeweg nach Tarteſſus, einer phönikiſchen Gründung an der Südweſtküſte Spaniens, bis die Karthager auch hier die Erbſchaft der Tyrier antraten und die Griechen überflügelten. Iſt es nun nöthig, für dieſe Kunſtfertig— keit der alten Bewohner des Weſtens einen vermittelnden Verkehr mit der Mittelmeer— kultur anzunehmen, ſo hindert uns weder die Steinzeit jene Jäger von der Dordogne, noch die Renthierperiode dieſe Berührung in den Zeitraum des Einfluſſes der Phoe— niker, Griechen und Karthager auf die Iberer zu verſetzen. Ebenſowenig ſind wir aber gehindert, dieſen Einfluß auf die Seite zu ſetzen, jene Artefakte aber durch dieſe Periode der Herrſchaft der Iberer im weſtlichen Europa zuzuſchreiben. Jedenfalls aber ſind ſolche Anhaltspunkte geeignet, eine Brücke zu ſchlagen zwiſchen den Ergebniſſen der anthropologiſchen und urgeſchichtlichen Forſchung und den Nachrichten und Schlüſſen aus den alten Autoren. Dr. C. Mehlis. ) Müllenhoff, Deutſche Alterthums— kunde S. 108—112, Tiefenbach, Origines europaeae p. 113—114. 2J2;— 0. >. r Titeratur und Kritik. Der Darwinismus und die Ethik. uf der letzten Naturforſcherverſamm— lung hat wiederum Häckel ener— giſch darauf hingewieſen, daß die moderne Richtung der Naturphilo- ſophie zwar noch keine Ethik geſchaffen habe, aber doch nicht blos die Noth— wendigkeit einer ſolchen, ſondern auch die Kraft in ſich fühle, eine ſolche zu ſchaffnn. Daß dies möglich fer, darauf hat ſchon Lange in ſeiner Geſchichte des Materialismus hingewieſen, wenn er auch den Begriff der „Idee“ in dualiſtiſchem Sinne faßte. Es iſt das Beſtreben unſerer Zeit, den theoretiſchen Realismus und Monismus*) mit dem praktiſchen Idealismus zu verbinden und es iſt dies ein charakte— riſtiſches Schlagwort unſerer Zeit geworden, welches auch Häckel im Anſchluß an Lange mit lauter Stimme verkündigt. Daß aber dies bis jetzt mehr Poſtulat als wiſſenſchaftlich ausgeführte Weltanſicht ge— ) Der Terminus „Monismus“ iſt von verhältnißmäßig jungem Datum. Dieſes Schlagwort wurde, wie es ſcheint, zuerſt von einem Hegelianer, Göſchel, in Gang ge— bracht, und zwar bezeichnete er damit die Hegel'ſche Logik, den Monismus der Idee. Die Ausdehnung des Terminus auf Spi— noza geſchah erſt ſpäter. weſen iſt, kann nicht geleugnet werden. Indeſſen hat unter den Anhängern der natürlichen Weltanſchauung am früheſten Carneri den Verſuch gemacht, auch in dieſer Beziehung das bisher Verſäumte zu ergänzen. Mit einer warmen Begeiſterung iſt er beſtrebt, den ſittlichen Idealismus mit dem moniſtiſchen Realismus zu ver- binden, und die Ethik, über einen bloßen Utilitarianismus hinaus, zu einem idealen Gebiete zu machen, das aber auf realem Grunde ſich erhebt. Der „auf realer Baſis ſich aufbauende Idealismus“ iſt das Stichwort des Tages, das Carneri mit edlem En— thuſiasmus auf ſeine Fahne ſchreibt. Um dieſes Poſtulat zu einer Wirklichkeit zu machen, dazu hat er in ſeiner „Ethik“ ſchon einen ſchätzenswerthen Beitrag ge— liefert. In der uns vorliegenden Schrift: „Der Menſch als Selbſtzweck. Eine poſitive Kritik des Unbewußten von B. Carneri. Wien 1877,“ ſucht nun der Verfaſſer ſeinen ethiſchen Theorien einen theoretiſchen Untergrund zu geben, und die entgegengeſetzten Anſichten Hart— mann's in theoretiſcher und praktiſcher Hinſicht zu widerlegen. Wie eng dieſe beiden Gebiete zuſammenhängen, braucht denen nicht mehr geſagt zu werden, welche ſelbſt erfahren haben, wie faſt Neunzehn— theile des Widerſtandes gegen die natürliche Weltauffaſſung aus falſch verſtandenem ethiſchem Intereſſe abzuleiten ſind, und wie andererſeits eine verkehrte Weltanſchauung auch eine perverſe und verfälſchte Ethik hervorruft. Gerade bei Hartmann kommt das letztere ſtark zum Vorſchein, und ſeine ſterile und ſeltſame Ethik iſt ein Ableger ſeiner ſeltſamen und mythiſchen Metaphyſik. Carneri hat daher richtig operirt, indem er die Ethik ſeines Gegners nicht direkt angreift, ſondern zunächſt ihre falſchen Wurzeln in der Teleologie des Metaphyſikers nachweiſt. In der „Ein— leitung“ charakteriſirt Carneri im All— gemeinen ſeine eigene Stellung, wobei er mit Geſchick durchführt, daß „es keinen andern Weg zu den Ideen giebt, als den Weg der Wiſſenſchaft“. Damit tritt er ſcharf und entſchieden jenem verſchwommenen Treiben entgegen, das von einer „Objektivität der Ideen“ in einer unverſtändlichen, myſtiſchen Weiſe redet. Die Ideale, mögen ſie ſich beziehen, wor— auf ſie wollen, ſind empiriſch entſtandene | Vorſtellungsgebilde, und nur als ſolche, in der Thatſache ihres Vorgeſtellt— werdens, Realitäten; hier bilden ſie ſogar treibende Kräfte in der geſchichtlichen Ent— wickelung, aber eine andere Exiſtenz als im Kopfe der Menſchen kann ihnen nicht angedichtet werden, ohne in eine bodenloſe Myſtik zu verfallen. ung auch theoretiſch zu baſiren, unterzieht ſich der Verfaſſer der Mühe, vermittelſt einer poſitiven Kritik der Hartmann'- Um dieſe Anſchau⸗ ſchen Philoſophie feine eigene Anſchauung zu begründen. Wenn derſelbe auch hierbei eigentlich Neues nicht vorbringt, was nicht ſchon von den übrigen zahlloſen Kritikern geſagt worden wäre, ſo entwickelt er doch in den vier Abſchnitten, die er dieſem Gegen— Rn widmet (das Unbewußte, Individuum ſelbſt lägen. 366 Literatur und Kritik. und Welt, Cauſalität, Selbſtzweck und Intelligenz), manchen beachtenswerthen Ge— danken, insbeſondere das letztgenannte Ca— pitel, in welchem der Verfaſſer den Ueber— gang zur Ethik macht, iſt von grundlegen— der Bedeutung für ſeine Anſchauung und muß demjenigen, der auf der Baſis der natürlichen Weltanſchauung ſich eine ideale Ethik erbauen will, unbedingt empfohlen werden. Die Einwände, welche Carneri gegen „das empfindende Atom“ macht, worin er ſpiritiſtiſche Anwandlungen ſieht, ſind nicht ohne Grund; nur deckt er mehr die Schwierigkeit auf, als daß er ſie zu löſen verſucht, und ſo lange wir das Auftreten der Empfindung auf höheren Stufen nicht anders erklären können — wozu keine Aus- ſicht iſt — muß jene Vorſtellung einer beſeelten Materie wohl oder übel vorläufig ein Princip werden. Als die eigentliche Wurzel der verkehrten Ethik betrachtet Car- neri die falſche Teleologie; indem er den Menſchen auffordert, ſich als Selbſt— zweck zu betrachten, will er die Ethik hier— auf begründen. Eine genauere Erörterung dieſes Begriffes des „Selbſtzweckes“ wäre jedenfalls zu wünſchen geweſen. Immer⸗ hin iſt damit aber ein entſchiedener Proteſt gegen alle Verſuche ausgeſprochen, das menſchliche Leben als Mittel für irgend einen heteronomen Zweck zu betrachten, wie dies bei Hartmann geſchieht, der auch hierin mit der Myſtik gemeinſame Sache macht. Wie die Welt als Ganzes causa sui iſt, Selbſturſache, d. h. eben nicht mehr verurſachend, nicht mehr Wirkung einer hetero- kosmiſchen Macht, ſo kann auch der Welt oder ihren Repräſentanten, den Menſchen, nicht zugemuthet werden, wiederum Mittel für andere Zwecke zu ſein, die außer ihnen Darum ſagt Carneri mit Recht: Unſer Idealismus iſt von dieſer Welt. nicht wieder um anderer Dinge willen da, wenigſtens ſoll der Menſch ſie ſo betrachten, wenn fie auch pſychologiſch aus egoiſtiſchen Gründen und Motiven ab- leitbar ſind. Carneri betont überall den realen Grund der Idee, und es iſt ein gutes Wort, daß der Materialismus mit jedem Tage mehr dafür ſorge, daß die Bäume des Idealismus nicht in den Him— mel wachſen (das Umgekehrte iſt zum Glück auch der Fall). Wenn auch eine eigent— liche wiſſenſchaftliche Begründung und Dar— ftellung des auf dem Realismus ſich er- hebenden ſittlichen Idealismus in dieſen aphoriſtiſchen Aeußerungen nicht gegeben iſt, wenn auch im letzten Abſchnitt, „Die Liebe“, allgemeine Menſchenliebe und Ge— ſchlechtsliebe durch einander geworfen wer— den, und wenn endlich die moderne eng— liſche Literatur über dieſe Gegenſtände auch keine Beachtung gefunden hat, ſo iſt doch dieſe Schrift des auch politiſch unermüdlich thätigen Carneri ein ſchätzenswerther Beitrag zu einem auf natürlicher Baſis ſich erhebenden ſittlichen Syſtem, nicht blos ein erhebendes Beiſpiel, daß klare und nüchterne Auffaſſung der Thatſachen mit edler und warmer Begeiſterung für die Ideale verbunden ſein kann. Str. i. E. H. V. Ein neues Werk von Hartmann in Sicht. Von einem abgefallenen Hartmannianer. In unſerer Zeit iſt man gewöhnt, aller— lei wunderliche, bizarre und extreme Be— hauptungen zu hören, und will man ſich nicht ſogleich in heftigen Streit einlaſſen, Literatur und Kritik. Die ſittlichen Ideen, die im Menſchen leben, die er ausbildet, ſind 367 um durch Aufgebrachtheit gegen den guten Ton zu verſtoßen, ſo muß man oft das krau— ſeſte Zeug von Anſichten ruhig hinnehmen, gegen die ſich Verſtand und Herz ſträuben, um der lieben Wahrheit willen. Das geht heute nicht nur ſo in der Literatur, ſondern auch in der Kunſt, namentlich in der Muſik und in der Malerei, und ebenſo geht es in der Philoſophie. So laſen wir einſt in einem Artikel der „Gegenwart“ unter dem Titel: „Schopenhauerianismus u. Hegelianismus“, verfaßt von Herrn v. Hartmann: daß die realiſtiſche Schule in der Philoſophie keine ſonderliche Berechtigung habe, ſich gegen— wärtig an dem geiſtigen Wettkampfe um die Löſung der Probleme zu bewerben, da ſie „auf Umwegen“ zum Ziele ſchreite, die geſteckten Hinterniſſe nicht auf geradem Wege aufſuche und ſomit eine gute Pferde— länge zu ſpät und hinter der rein ideolo— giſchen Richtung am geſteckten Ziele an— lange. Wer die Einleitung des betreffen— den Artikels lieſt, erhält ungefähr den Ein- druck, als hätten ſich Männer wie Herbart, Hermann Lotze in Göttingen, Robert Zimmermann in Wien, Drobiſch in Leipzig und Andere umſonſt bemüht, und als müßten ſich die geiſtigen Ström— ungen, die von dort ausgehen, gemächlich im Sande verlaufen; mindeſtens, ſo be— hauptet Herr von Hartmann, haben die Anhänger dieſer Richtungen kein Recht, ſich an den philoſophiſchen Aufgaben der Gegenwart zu betheiligen. Wir zweifeln nicht, daß die Anhänger eben jener von Hartmann verurtheilten Richtung fo ziemlich das Gegentheil behaupten wer— den, und ſo hört man denn ſehr häufig gegenwärtig mit Recht den Ausſpruch, daß die ſogenannten Ideologen, das ſind die Hegel, die Schopenhauer und Hart— mann, die Entwickelung der philoſophi— \ 368 Literatur und Kritik. ſchen Wiſſenſchaft nicht nur von neuem gehemmt, ſondern bis auf die Zeit zurück— geworfen hätten, da die Träumer und Ro— mantiker das Scepter führten, um alles Licht des Geiſtes aufzulöſen in Myſticismus und irrlichterirende Gefühlsverſchwommen— heit. Damals nannte man dieſe Richtung, die uns durch übermäßige Träumereien der Wirklichkeit entrückte, die romantiſche. In— zwiſchen, wo ſich unſer politiſches Leben völlig verändert hat, ſind wir in unſeren Beſtrebungen praktiſcher geworden, aber ſonderbar, der Geiſt iſt in der größten Gefahr, unterzugehen in einer neuen Art von Romantik, die, weil ſie ſich mit dem Verſtande verbunden hat, einestheils her z— loſer in ihren Formen erſcheint, anderen— theils aber mit dem Geiſte Verrenkungen vornimmt, die zu pathologiſchen Verirrungen hinneigen, um uns insbeſondere in Kunſt und Philoſophie den weitgehendſten Hallu⸗ cinationen zuzutreiben. Unter dem Einfluſſe folder hallucinativen Richtung ſchilt man den berechtigten Realismus, und ſchafft heute myſtiſch-allegoriſche Formen in der Muſik (Wagner) und ebenſolche in der Philoſophie. | Wir haben es zunächſt hier mit der philo- ſophiſchen Ideologenrichtung zu thun, und nehmen Gelegenheit, einige Punkte derſelben hervorzuheben, um zu zeigen, wo die Be— rechtigung derſelben aufhört. Da, wie wir hören, Herr von Hart— mann ein neues Werk, und zwar eine Phänomenologie des ſittlichen Bewußtſeins edirt, ſo erſcheint es dop— zu überſehen. So entſtehen Irrthümer, die in der Wiſſenſchaft verhängnißvoll werden. Ein ſolcher doktrinärer Irrthum iſt der: die Formen unter welchen das All und die Natur ihre Exiſtenzen ſchafft, mit denen zu verwechſeln, in welchen der irdiſche Bewohner der Erde als winziger Menſch dieſelben auffaßt, um über die Verhältniſſe des Alls wiſſenſchaftlich nachzudenken. Mit dieſer Verwechſelung von Exiſtenzformen und menſchlichen Denkformen kann man leicht recht weitgehende Confuſionen an— richten. Der menſchliche Geiſt nämlich denkt in eigenthümlichen, ſich aus der ſpeciell menſchlichen Organiſation herleitenden Be— griffen, und faßt dieſelben abermals menſch— lich in beſtimmt geformte Worte und Zeichen (Symbole). Mit dieſer Bewegung des irdiſchen Menſchengeiſtes in Begriffen, Wor— ten und ſymboliſirenden Formen ſind ſelbſt— verſtändlich zugleich eigenthümliche Wen— dungen verknüpft, die rein formaliſtiſch und grammatikaliſch ſind, und als Bewegungen betrachtet, in dieſer Formart nicht im All und in der realen Natur und Welt vor— kommen. Trennt man dieſe rein menſch— lichen ſymboliſchen Formen indeſſen nicht von denen der wirklich realen Welt und dem Weltall, und konfundirt dieſelben, jo | kommt man ſchließlich zu der kurioſen Be— pelt geboten, die Leſer in unſerer Zeitſchrift durch folgende Erörterungen darauf vorzu— bereiten. Die modernen Träumer und Jdeo- | logen, die ſich gern ihren Einbildungen überlaſſen, kommen bekanntlich leicht dahin, der Verſchwommenheit zu verfallen und die feineren Unterſchiede unter den Formen hauptung, daß ſich das Weltall in den nämlichen Formen ausdrücke, und in ſeinen Formen genau dieſelben eigenthümlichen Wendungen nöthig habe wie der winzige, ſprachlich denkende Menſch, und dieſe Betrach— tung führt ſchließlich zu dem Dogma: daß das Weltall im Grunde ſeiner inneren Or— ganiſation nur einen denkenden All-Menſchen darſtelle. Dieſe falſche Vermenſchlichung des ganzen Weltalls hat aber alsbald weitere Confuſionen im Gefolge, von denen wir nur einige hier erwähnen wollen. JJͤ ̃ TTT Wir alle bedienen uns im menſchlichen Leben der Worte „Zweck“ und „Ziel“, und das mit Recht. Im begrenzten Leben der Ein— zelnen, deren Streben beſtändig einen Gegen- ſtand, eine Richtung hat, wird man zu ſolcher Bezeichnung dieſe Worte nicht ent— behren können. Allein ſelbſt bezüglich des Individuellen gilt der Begriff Ziel (Zweck) mit Einſchränkung. Verfolgt alles Einzelne eine Richtung, ſo iſt jedes Einzelne aller— dings, ſo ſcheint es, als ſolches zielſtrebig. Dies iſt richtig, ſobald man im Auge be: hält, daß jedes nach irgend einer Richtung ſich bewegende lebendige Weſen dieſem Ziele ideal, d. h. nur regulativ folgt, ohne aber daß ſelbſt dieſes Ziel oder Zweck eine an ſich reale, wie es Kant ausdrückt, conſti— tutive, phyſiſche Kraft iſt, die etwa nach Art der Schwere conſtant und beſtimmt zu befolgende objektive Wirkungen ausübt. Ziel und Zweck jedes Einzelnen als Regulativ können daher hundertfach gekreuzt, gehemmt, geändert werden, und zwar derart, daß viele Einzelne ſich davon abwenden, ſodaß ſie als Zerſtörer die objektiven Ziele der Uebrigen vernichten. Die Individuen theilen ſich ſomit genau beſehen in zielſtrebige Fort- ſchrittler und Rückſchrittler. Das ſittliche Streben von Individuen läßt daher kein allgemeines conſtitutives (unfehlbares) Ziel zu, ſondern dieſes exiſtirt nur als Poſtulat (ideale Aufgabe), d. h. als Regulativ. Die Regulative ſind ſcharf zu unterſcheiden von den conſtitutiven Mächten, das ſind im Kosmos die beſtehenden Natur— geſetze. Wäre das All ein durch und durch inconſtantes und abſolut variabeles Chaos, ſo wären auch die Geſetzesmächte, ſofern Naturgeſetze conſtante Formen dar— ſtellen, Ziele für ein ſolches Chaos (das eben eine Naturordnung erſt werden will). Da wir aber empiriſch eine beſtimmte Ord— Kosmos, Band III. Heft 4. Literatur und Kritik. | 369 nung und Naturgeſetzlichkeit der Wirkungen ſchon als beſtehend wahrnehmen, und kraft derſelben im großen Ganzen dieſe Ziele beſtändig erreicht ſind, ſo könnte man die Naturgeſetze daher ganz richtig als das feſte Gerüſt erfüllter (erreichter) Natur- zwecke bezeichnen. Allein man wird leicht bemerken, daß erfüllte und erreichte Ziele einen begrifflichen Widerſpruch einſchließen. Denn die Begriffe Ziel und Zweck gehen beſtändig auf etwas in Zukunft und für die Zukunft erſt zu Erreichendes und noch zu Erſtrebendes. Betrachten wir den Kosmos als ſolchen und als Ganzes, ſo hat der— ſelbe in Form ſeiner Naturgeſetze, in denen er relativ verharrt und als conſtant erſcheint, ſeine Ziele erreicht, und er erfüllt ſie con— ftitutiv in jedem Momente. Blicken wir aber auf einzelne Theile deſſelben, ſo ſehen wir, wie ſich alles Einzelne in die Zukunft hinein relativ verändert. Alle dieſe Verände— rungen haben Richtungen, folglich Ziele und Zwecke, aber da dieſelben nicht wie die Natur- geſetze fertig erfüllt beſtehen, ſo werden die— ſelben ſehr oft gehemmt, durchkreuzt und ne— girt. Unter ſolchen Umſtänden kann man unter der Summe von theils erreichten, theils durchkreuzten oder aufgehobenen Zwecken von keinem allgemeinen Endzweck reden, dem alles Einzelne unfehlbar zuſtrebt, etwa wie ein geworfener Stein zur platten Erde. Wer daher dem All und Weltganzen zu— ſammt allem Einzelnen einen allgemeinen Endzweck, ein Endziel ſteckt, verwirrt die Naturanſchauung und das ſittliche Bewußt— ſein. Welcher Unterſchied zwiſchen dem Ein— zelnen und dem Ganzen! Das Weltall exiſtirt in Form des Ganzen ſeit Ewig— keit und muß daher ſeit unvordenklicher Zeit und in jedem Augenblick ſein Ziel erreicht haben. Das All iſt eben nichts Einzelnes, wie der individuelle Menſch, 47 370 ſondern das ewige geſetzliche Ganze, ſein Ziel iſt daher nicht über ſich (das Ganze) hinausliegend, wie dies beim Einzelnen (als Theil des Ganzen) der Fall iſt. Ueber das Weſen des Ganzen liegt eben nichts Erreich— bares oder noch zukünftig zu Erreichendes hinaus, das als Ziel geſetzt werden kann. — Was thun nun die Ideologen à la Hartmann, die das Weltall zu einem All-Menſchen machen und jo dem völligen Anthropomorphismus verfallen? Sie be— haupten, das Weltall habe hinſicht— lich ſeiner Form und Bewegung ähnlich wie ein Menſch Anfang, Ziel und Ende. Sehr intereſſant iſt zu be— ſequenzen Materialismus und Ideologik begegnen. Die ſog. Materialiſten entſeelen ſammengeſetzt aus todten, knöchernen und zu einer todten All-Maſchine, während es jene zu einem zielſtrebigen lebendigen All— Menſchen emporheben. Jene entſeelen das All völlig, dieſe anthropomorphiſiren es zu ſehr, daher kommen beide ſchließlich zu den— ſelben irrigen Conſequenzen. Beide Rich— tungen nämlich werden, wie wir ſehen, dahin geführt, Ziel und Ende des Weltalls zu behaupten. Den Materialiſten geht allmählich körpern aus; Gravitation und Maſſen— ewiger Tod droht dem Ganzen. Nicht anders iſt es mit jenem ideologiſchen All— Menſchen, er wird geboren wie Minerva aus dem Haupte des Zeus, um ſchließlich am Ziele angekommen zu ſterben. Endziel des Schopenhauer'ſchen All— menſchen iſt das ſog. Nirwana, und bei Hartmann findet es ſich in dem Hin— weiſe auf die endlich völlige und abſolute Literatur und Kritik. merken, wie ſich in dieſen extremen Con- das Weltall, und denken ſich daſſelbe zu wort. Das von Hartmann vermenſchlichte lebloſen Atomen, jo machen dieſe das All die anfeuernde Bewegung in den Welt⸗ bewegung ſchwinden, und Stillſtand und Das Zurückſchleuderung des actuellen Wollens „in das Nichts, womit der Prozeß aufhört, und zwar ohne irgend welchen Reſt aufhört, an welchem ſich ein Prozeß weiterſpinnen könnte.““) Wir ſehen, die Conſequenzen leiten beide Richtungen zu der Annahme von Anfang und Ende aller Form und Bewegung. Wie aber kann und will man ſich einen erſten Anfang aller Ur— bewegung denken? Gehören Form und Bewegung nicht zum Weſen des ewigen Alls? Muß nicht Beides für immer und unaufhörlich ſein, ja iſt das All ſelbſt nicht im Weſen unaufhörliche Selbſterhaltung ſeiner in ſich form- und lebens vollen Bewe— gung? Auf dieſe wichtigen Fragen hat der Materialiſt und ebenſowenig der An— thropomorphiſt à la Hartmann keine Ant- Weltall muß wie ein Einzelmenſch Entſtehung, Lebensziel, Tod und Endzweck haben, und auch das materialiſtiſche entſeelte Weltall findet nur ſo lange Stoff zur Be— wegung, ſo lange der Heizer als deus ex machina die todte, blinde Maſchine im Gange hält. Man denke ſich, im Laufe der Ewigkeit ſei das Uhrwerk der in ſich todten Weltallmaſchine abgelaufen geweſen, ſo wäre es nun für alle Zeiten ſtehen geblieben, und es gäbe heute keine thatſächliche Be— wegung mehr. Nun giebt es aber trotzdem noch heute empiriſche Bewegung, folglich müßte, wäre das All eine in ſich aus todten knöchernen Atomen zuſammengeſetzte, blindwirkende Maſchine, das abgelaufene Werk von einem deus ex machina mehr- fach aufgezogen worden ſein. Ganz die näm— lichen Widerſprüche ſind es, die den ideo— logiſchen All-Menſchen treffen. Weshalb ) Vergl. Hartmann: Philoſophie d. Unbewußten 2. Aufl. S. 681 u. S. 702. Literatur und Kritik. iſt nicht die Hartmann'ſche Welt ſchon längſt im Laufe der Ewig— keit geſtorben, weshalb hat fie ihr Nirwana nicht ſchon lange erreicht und wenn ſie es erreicht hatte, wes— halb trat dieſes All immer von neuem ins elende, zur Selbſtver— nichtung und zum Selbſtmord hin— führende Daſein? Wir ſehen, wer für Leben und Bewegung im All irgend— wie nach vor- und rückwärts die Unauf- hörlichkeit (Ewigkeit) leugnet, flüchtet ſich in das myſtiſche asylum ignorantiae irgend eines deus ex machina, möge er dieſem im rein materialiſtiſchen Sinne, wie neuerdings Spiller, den Namen Welt— äther geben, oder im ſpiritualiſtiſchen Sinne All⸗Willen oder Unbewußtes u. ſ. w. nennen. Der Name iſt hier für den Philoſophen gleichgültig, principiell von Bedeutung iſt nur dies, daß ein erſter Anſtoß (Anfang) und ein letztes Ende als nothwendiges End— ziel aller derjenigen Formen und Bewe— gungen angenommen wird, in denen das Leben des Alls ſich unaufhörlich zu ver— jüngen genöthigt iſt, will es ſich in ſich lebensvoll erhalten. Aber weshalb ſchreibt Hartmann denn ſeinem Univerſum als menſchenähnlichem All— Weſen einen Todtenſchein, weshalb prophe— zeit er nicht etwa nur unſerer Erde und dem Sonnenſyſtem, ſondern dem ganzen Kosmos und allem, was da lebt und iſt, überhaupt den endlichen Untergang? Dieſe Frage wird ſich der Laie leicht beantworten können, wenn er berückſichtigt, daß alles menſchliche und irdiſche Daſein voller Uebel, voller Diſſonanzen und ſomit voller Wider— ſprüche iſt, die das Daſein im großen ganzen zu einem werthloſen unaushaltbaren Jammer— thale machen. Hat ſich der Philoſoph ein— mal herbeigelaſſen, die Organiſation des 371 Kosmos nach Art eines Menſchen überhaupt vorzuſtellen, iſt ihm das Univerſum in der Verſchwommenheit ſeiner Betrachtungsweiſe im Grunde nur ein kosmiſcher All-Menſch, ſo wird ſich Leben und Daſein deſſelben auch nur in den nämlichen Formen abſpielen wie im menſchlichen Erdenleben, das wir ja oft genug als ein thatſächliches Jammerthal bezeichnen hören. Aber ſind denn die Diſſo— nanzen, die alles zerſtörenden Uebel, mit einem Worte die Widerſprüche, aus dem Kosmos nicht zu verdrängen, ſind ſie nicht bis auf ein praktiſches Minimum zu redu— ziren, durch welches fie — O0 werden? Wäre es nicht möglich, daß, während das Leben und die Grundformen der Bewegung im Univerſum unaufhörlich (ewig) ſind, dennoch alle diejenigen Mißformen, welche Uebel, Diſſonanzen und Widerſprüche nach ſich führten, erſt durch Urſachen und Gründe entſtanden find, welche man wiſſenſchaftlich genauer zu unterſuchen hat?) Auf dieſe Fragen werden die Ideologen nicht ant— worten können. In ihrer verſchwommenen Betrachtungsweiſe ziehen ſie die Frage nach der Natur und der Entſtehung und dem Vergehen der einzelnen Widerſprüche gar nicht in Erwägung. Das Daſein des Univerſums in allen ſeinen Formen, das Daſein des Allweſens mit ſeinen indivi— duellen Erſcheinungen überhaupt, iſt ihnen der große Widerſpruch ſelbſt. Daher ihr endloſer Ruf: Fort mit allem und jedem Leben und allem Daſein, fort mit dem daſeienden lebendigen Uni— verſum überhaupt. Wir ſehen hieraus, wie weit man mit falſchen Analogien Ver— wirrungen anſtiften kann. So aufklärend oft eine richtige und wiſſenſchaftlich begrün— ) Hierzu vergleiche: Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre von Caspari. Kos⸗ mos Bd. I. S. 479 flgde. dete Analogie zu wirken im Stande iſt, ſo verdunkelnd tritt uns die ſchiefe entgegen. Weil die kosmiſchen und organiſchen Ver hältniſſe unſeres Planeten für den zart or— ganiſirten Menſchen viel Elend, Uebel und allerlei Diſſonanzen, Unluſt und Wider— ſprüche mit ſich führen, muß nicht nur Erde und Sonnenſyſtem, ſondern ſogar das unend— liche Ganze und das Univerſum auch ein All-Jammerthal fein. So lange der anthro— pomorphiſirende Ideologe überhaupt die Natur des Widerſpruchs nicht unterſucht, wohl gar ſeine Exiſtenz für nothwendig oder für unauflösbar hinſtellt, wird in ſolchen ſubtilen Fragen auch nichts ent— ſchieden werden können. Wer ſagt uns denn, ob, allgemein geſprochen, auf anderen Welten, etwa auf dem Sirius oder anders— wo, die Licht- und Schattenvertheilung für die Atome und Weſen (ſofern es aus irgend welchen Gründen dort ſolche giebt) nicht äſthetiſch maßvoller, erträglicher, vielleicht ſogar ſehr wohlthuend zur Durchführung gebracht iſt, ſodaß ſie von allem Elend und all' jenen widerſpruchsvollen Uebeln, die ſich aus einer Mißform der Vertheilung her— leiten würden, praktiſch nichts gewahr werden, und ihr Leben ſich nicht zum Jammerthal, ſondern zu einem ſich immer wieder ver— jüngenden angenehmen Daſein geſtaltet? Mit einem Worte: Was dem nüchternen Realiſten ſtets ein Problem iſt, nämlich die Art und die Natur eines Widerſpruchs, eines Uebels u. ſ. w., das iſt dem Ideo— logen eine abgemachte Sache, ihm ſind die Uebel alle nothwendig und mit allem Daſein verknüpft; weil er falſche Analo— gieen verwendet, kann er daher über ihre Entſtehung nicht zu tieferem Nachdenken kommen. Nehmen wir den Satz: wo Licht iſt, da iſt auch Schatten, ſo behauptet der Ideologe, der zur myſtiſchen Verſchwommen— Literatur und Kritik. heit hin gravitirt, daß das Licht bereits den Widerſpruch des Schattens, das will ſagen, die Schmälerung des Lichteffektes involvire. Das aber iſt ein Fehler gegen die Thatſachen; denn ſanfte Schatten erhöhen vielmehr den Effekt des Lichts und bewirken einen Widerſpruch als Differenz nur erſt dann, wenn das Maß ihrer Vertheilung in der Form zur Mißform ſich geſtaltet. Ueber— tragen wir uns dieſes Beiſpiel ins pſycho— logiſche Gebiet, ſo muß mit Rückſicht auf die Thatſachen hin behauptet werden, daß ſanfte Wellen der Unluſt, die ſich unver— merkt in die Wogen blendender Luſt ein— miſchen, in dieſer Form völlig wider— ſpruchslos die Seele umfangen. Auch hier iſt es nur erſt die Uebertriebenheit, alſo die Mißform eines Grades von Em— pfindung, den die Seele nach dieſer oder jener Seite hin nicht zu ertragen im Stande iſt, welche den Widerſpruch des unerträg— lichen Schmerzes, das Leiden und ſomit das pſychologiſche Elend nach ſich zieht. Schon aus dieſen wenigen Beiſpielen erſieht der Leſer, daß der Widerſpruch und das Elend nicht allem Daſein und allen For— men des Daſeins überhaupt anklebt, ſodaß wir alles und jedes Daſein und alle und jede Form innerhalb deſſelben verwünſchen müßten. Der Ideologe a la Hartmann indeſſen verbittert fih alles Daſein, er kann ſich daſſelbe in keiner erträglichen, widerſpruchsloſen Form vorſtellen, und ſo zieht er das Formloſe und in dieſem Sinne das myſtiſche Nichtdaſein allem Daſein vor, das in beſtimmten, ausdrucksvollen und deut— lichen Formen gebaut iſt. Wir ſehen, dieſe Art von Ideologie ſtrebt hin zum Form— loſen, ſie gravitirt in's Verſchwommene, ſie vertieft ſich in jenen myſtiſchen Urbrei, in welchem die Daſein gebenden Formen r 4 4 Pr x L N x Literatur und Kritik. des Alls untergegangen ſind. Aus dieſer Verſchwommenheit leiten ſich alle Fehler dieſer Art von Ideologie her, wie ſie durch die Hegel, Schopenhauer und Hartmann und Andere in's Leben gerufen wurde. Man läßt die Unter— ſchiede verſchwimmen, überſieht und verliert ſie, und beginnt nun hiermit in einer abſtrakten Weiſe alles Gegebene zu verallgemeinern. So geſtaltet ſich die Or— ganiſation (Form) des Univerſums zu der eines All-Menſchen, — der, wie alles Da— ſein überhaupt, dermaleinſt aus der Un— Form (Indifferenz), dem Ueberweltlichen (Un— bewußten) entſtanden, auch dereinſt dort wieder völlig endet. So geſtaltet ſich ferner dieſe Organiſation des Kosmos zu einem Al-Iammerthal, deſſen Elend nicht des Daſeins werth iſt; ja mehr noch, wir ſehen, daß uns dieſer Standpunkt, von dem man ſich in's Verſchwommene hinein verliert, die Behauptung erklärlich macht, daß alle Form, welche ſich an Unterſchiede und irgend welche Gegenſätze knüpft, überhaupt den Widerſpruch in ſich birgt. Jeden Unter— ſchied, jede Differencirung, jedes individuelle und ſomit alles Daſein ſieht der Ideo- loge A la Hartmann in der Phänomeno— logie ſeines ſittlichen Bewußtſeins als einen Widerſpruch an. In dieſem Sinne will ſich der Ideologe loslöſen von allen Unterſchieden und Widerſprüchen und ſo ſtrebt er hin zur reinen Idee, das iſt eine ſolche, welche alle Unterſchiede aus— ſchließt, innerhalb welcher dieſelben alſo verſchwimmen und bis zur Indifferenz völlig untergehen. — Unſere Richtung iſt eine andere. Wir wollen und können uns nicht bis zu jener Unanſchaulichkeit und unter— ſchiedsloſen Verſchwommenheit, mit der aller reale Boden unter den Füßen entweicht, erheben; uns erſcheinen alle jene ſchiefen Verallgemeinerungen, mit der das All zu einem rein menſchlichen All-Weſen gemacht wird, als übertriebene Hallucinationen, die keinen wahren Gehalt mehr bergen. Wir halten uns treu an das Gegebene, ſuchen uns über die Formen und Bedingungen des Alls zu orientiren, und verſäumen nicht, bei dem getreuen Spiegel— bilde, das wir von der Welt feſthalten wol— len, die natürlichen Unterſchiede, dort wo ſie gegeben ſind, auch zu verzeichnen. Alle Formen des gegebenen Alls ſuchen wir daher kritiſch zu prüfen, und wo wir Miß— formen (und dieſe allein nennen wir Wider— ſprüche) entdecken, ſuchen wir dieſelben zu er— klären und ihren Urſprung zu unterſuchen. Man wäre im Irrthum, wollte man dieſem in ſich berechtigten Kriticismus die Ideali— tät abſprechen; auch unter den kritiſchen Beſtrebungen wird das Ideal der Wahr— heit geſucht, und durch das Erklären der Entſtehung und der Aufhebung der Wider— ſprüche ſind wir beſtrebt, die Welt und ihre Probleme zu löſen, um die Denkharkeit einer widerſpruchsloſen Welt zu gewinnen. Die wiſſenſchaftliche Idealität behalten auch wir im Auge, aber im Hinblick auf dieſe wiſſenſchaftliche Aufgabe hüten wir uns vor irreführenden Hallucinationen und bleiben mit unſeren Orientirungen bei den Formen des wirklich Gegebenen. Behalten wir mit Rückſicht auf das Geſagte daher den Unter— ſchied im Auge zwiſchen wiſſenſchaftlicher Idealität und einer falſchen übertriebenen Ideologie, die uns der Wirklichkeit entrückt und unſer Streben dem Moloch einer krank— haften excentriſchen Phantaſie hinopfert. Mögen dieſe wenigen Andeutungen zunächſt wenigſtens genügen, die Uebertriebenheit aller jener Behauptungen zu kennzeichnen, durch welche wir heute Kritiker und Rezen— enten für Herrn von Hartmann Reklame machen ſehen. Herr von Hartmann iſt uns lieb und werth, wenn er ſich mit uns über Wahrheit und Falſchheit des Darwinis— mus vertiefen und feine pſychologiſchen und ethiſchen Schrullen, mit denen er nicht Aus— ſicht hat, die Mehrzahl der Menſchen zu überreden, ſondern höchſtens Kranke und Excentriſche in ſein philoſophiſches Netz zieht, vorurtheilsfrei aufgeben will. Wer ſich im Weiteren für die Mängel der Hart— man n'ſchen Lazarethphiloſophie intereſſiren will, ſei auf das Werk von H. Vaihinger hingewieſen, „Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geſchichte der deutſchen Philoſophie im 19. Jahrhundert.“ C. Die Philoſophie ſeit Kant. Von Prof. Dr. Friedr. Harms. (Bibliothek fur Wiſſenſchaft und Literatur. Philoſ. Abth. II.) Berlin, Verlag v. Th. Grieben. Dieſes Werk iſt unſtreitbar einer der intereſſanteſten und werthvollſten Beiträge zur Geſchichte der Philoſophie in der Neuzeit. Literatur und Kritik. Gern bekennen wir uns mit dem Verfaſſer zu dem Ausſpruch des von ihm mit großem Scharfſinn kritiſirten Schelling, den er als Deviſe ſeinem Werk voranſchickt: „Das Urtheil der Geſchichte wird ſein, nie ſei ein größerer äußerer oder innerer Kampf um die höchſten Beſitzthümer des menſch- Jacob Böhme bis auf Leibniz, Wolf lichen Geiſtes gekämpft worden, in keiner Zeit habe der wiſſenſchaftliche Geiſt in ſeinem Beſtreben tiefere und an Reſultaten reichere Erfahrungen gemacht als ſeit Kant.“ Auch darf man ſich der Eintheilung der deutſchen Philoſophie in die vier von Harms bezeichneten Abtheilungen an— ſchließen, deren erſte die Anfänge der deutſchen Philoſophie durch Leſſing, Herder und Jacobi, die zweite die Grundlegung der . deutſchen Philoſophie durch Kant ſelbſt, die dritte die ſyſtematiſche Ausbildung derſelben durch Fichte, Schelling, Hegel, die vierte die Einſchränkung der Philoſophie durch Schleiermacher, Herbart und Schopenhauer behandelt. Nach Harms iſt „die Gründung und Ausbildung einer geſchichtlichen und einer ethiſchen Weltanſicht in Verbindung und zur Ergänzung der überlieferten phyſiſchen Weltanſicht, welche zum Naturalismus in der vorkantiſchen Philoſophie ausgeartet war, das Weſen der deutſchen Philoſophie ſeit Kant.“ Wenn es ſchon den Anſchein hat, als ob Herr Harms der empiriſchen Forſchung allzu geringe Bedeutung einräumte, iſt er doch andererſeits weit entfernt davon, den ſinn— verwirrenden Exceſſen und Gaullerſtücken der abſoluten Philoſophie unbedingt zu huldigen. Es iſt unläugbar, daß wir an der Kant'ſchen Philoſophie wie an der Philoſophie ſeit Kant ein „ganz anderes Intereſſe“ nehmen, als an der ganzen vorkant'ſchen Philoſophie, dennoch hat es Herr Harms nicht verſänmt, eine lang entbehrte und von Kant ſelbſt nur flüchtig angedeutete hiſto— riſche Ueberſicht der vorkant'ſchen Philoſophie zu geben. Ganz vortrefflich iſt in dieſer Beziehung die Darſtellung der deutſchen Philoſophie im eigentlichen Sinne, von den Myſtikern (St. Victor, Albert d. Gr.) und Nic. v. Cuſa, Theophraſtus, Paracelſus, und Kant ſelbſt, der die neue Aera der kritiſchen Philoſophie gegründet hat. Auch die Philoſophie des Leibniz iſt mit großem Scharfſinn dargeſtellt und kritiſirt. In vortrefflicher Weiſe ſind die Verdienſte der Philologie um die neuere Philoſophie gewürdigt; allerdings nicht der heutigen Philologie unſerer humaniſtiſchen Bildungs— anſtalten, die in den meiſten Fällen in 1 P K r Silbenſtecherei und Partikel-Philoſophie aus— geartet iſt. Treffend iſt auch der Harms'- ſche Ausſpruch: „Die moderne Wiſſenſchafts— bildung iſt fortgeſchritten von der Theologie zur Philologie und von der Philologie zur empiriſchen Naturwiſſenſchaft, welche zuerſt Bezweifeln möchten Neues gebracht hat.“ wir aber die Wahrheit des mit großer Sicherheit aufgeſtellten Satzes: „Die Frage der deutſchen Philoſophie heiße nicht Kant, ſondern Fichte und, wie man Fichtes Lehren auffaſſe, ſo denke und urtheile man über die Philoſophie ſeit Kant.“ ſeine bedingte Richtigkeit haben, indem ein Verſtändniß des philoſophiſchen Gedanken- prozeſſes allerdings nicht ohne die Kenntniß Fichte's möglich iſt, wenn ſich dieſes Ver— ſtändniß auf die zeitgenöſſiſche Philoſophie | erſtrecken ſoll. Wie es aber mit dem Aufruf „Auf Kant zurückgehen!“ nur unter ganz beſtimmten Vorausſetzungen, ſein Bewenden haben kann, ſo gewiß iſt es, daß Fichte nur wenig mit zu ſprechen haben, wo nicht gar abſeits liegen bleiben wird, wenn die Frage über die Normen und Bedingungen jedes künftigen, nicht hinter den empirischen Wiffen- ſchaften zurückbleibenden philoſophiſchen Forſchens erörtert wird. Wenn wir eine Geſchichte der deutſchen Philoſophie im weiteren Sinne ſchon von den Myſtikern an datiren können, ſo läßt Harms die deutſche Philoſophie im nengere Sinne in Leſſing, Herder und Jacobi ihre erſten Vertreter finden, indem von dieſen erſt die neue Disciplin einer Philoſophie der Geſchichte zu datiren iſt, die ſeither eine eigenthümliche, zur geſchichtlichen Weltanſicht führende Disciplin der deutſchen Philoſophie ausmacht. Die Verdienſte Leſſings auf dem Felde der ſpeculativen Theologie und Philoſophie der Geſchichte werden treffend charakteriſirt. In anerkennenswerther Weiſe Literatur und Kritik. Letzteres mag 375 hat Harms die großartigen Verdienſte Herders in ſeinen „Ideen“ hervorgehoben und gewürdigt, obwohl er ſeine Polemik gegen Kant verurtheilt. | In gleicher Weiſe, aber weit ausführ- licher, befaßt ſich Harms mit Jacobi, deſſen glänzende Eigenſchaften er laut rühmt, deſſen corrigirenden Einfluß auf die Philo— ſophie wir in mancher Hinſicht gerne aner— kennen, obwohl wir mit dem Verf. ſeine Be— urtheilung der Dinge weder für geſchichtlich, noch in der Sache ſelbſt hinweiſend halten. Wenn es ſich auch für Hrn. Harms ſchon um die Philoſophie ſeit Kant handelt und er daher dem Studium der abſoluten Philoſophie mit ganz beſonderer Liebe an— zuhängen ſcheint, ſo kann ich doch nicht umhin, zu behaupten, daß die Darſtellung und Kritik des Kant'ſchen Syſtems die werth— vollſte und unfehlbarſte Leiſtung des ganzen Werkes iſt. An eine kurze Darſtellung der Schriften und der Lebensſchickſale des Königsberger Weltweiſen ſchließt ſich eine gedrängte Zuſammenfaſſung und Kritik ſeiner Philoſophie, in deren Verlauf insbeſondere die transcendentale Aeſthetik ganz vortrefflich behandelt iſt. Herr Harms liefert in erſter Linie eine maßvolle Kritik des Kant’- ſchen Syſtems und unterſcheidet ſich dadurch vortheilhaft von den bisherigen Kant-Kritikern, Herder und Schopenhauer, von denen der erſtere an vielen Stellen Sarcasmus und Perſiflage an die Stelle objektiver Kritik treten ließ, während der zweite des Meiſters Worte thatſächlich an manchen Stellen verkennt oder mit Bewußtſein und zur höheren Ehre ſeines Syſtems mißdeutet, eine Sophiſterei, welche ſchon von vielen Pro- und Anti- Schopenhauerkritikern ſcharf gerügt wurde. Rechtlicher und würdiger des ehrfurchtgebie— tenden Gegenſtandes iſt die Kritik des Herrn Harms. Jedenfalls iſt derſelbe über die | Intentionen des Weiſen viel mehr im Klaren, als der größere Theil der philoſophirenden jüngern Generation, der mit mitleiderregender Oberflächlichkeit von der gänzlichen Nebenſäch— und der „Kritik der Urtheilskraft“ ſpricht, um die Bedeutung der „Kritik der reinen Vernunft“ zu erhöhen, Harms dieſe nur für die Propädeutik hält und bemerkt, Kant ſtehe ſchon in der „Kritik der reinen Vernunft“ auf dem Standpunkt der „Kritik der praktiſchen Vernunft“. Mit richtigem Blick verlegt der Verf. das Weſen der Kantiſchen Kritik der reinen Vernunft in die Unterſuchung über das Er— fenntnigvermögen des Menſchen: „Denn durch dieſe Unterſuchung hat Kant neue Gedanken über die Erkenntniß geltend ge— macht und angeregt, ung der deutſchen Philoſophie bewirkt haben, während das Endergebniß nur innerhalb der kritiſchen Philoſophie oft mit großer Halsſtarrigkeit feſtgehalten worden iſt.“ — Harms durch die Kritik der anderen Werke Kants erworben. Die ernſte Wiſſenſchaft wird ihm dafür Dank wiſſen, wenn auch nicht anzunehmen iſt, daß ſein Werk jemals ſelbſt im beſten Sinne po— pulär werden wird. Im weitern Verlauf deſſelben begegnen wir ihm bei der Darſtellung und Kritik der abſoluten Philoſophie von Fichte, Schelling und Hegel. Weit entfernt, das „überſchwängliche Ideal des Wiſſens“, nachdem die abſolute Philoſophie begehrt, zu durch den befruchtenden Regen der empi— während Herr welche eine Fortbild⸗ des Kantianismus als das wahre Weſen beugen. Nicht geringeres Verdienſt hat ſich Hr. an wiſſenſchaftlichem Material überreiches lichkeit der „Kritik der praktiſchen Vernunft“ Literatur und Kritik. loſophie mit ihrem verblüffenden Schwulſt, ihren ſophiſtiſchen Akrobatenkünſten und ihren myſtiſch-naturphiloſophiſchen Exceſſen bekennen. Wenn wir ſchon die übermäßige 1 Fichte's und die Prophezei— ung, ſeine Philoſophie ſei die Philoſophie der Zukunft, mit Rückſicht auf die hohe phi— loſophiſche Begabung und manche hervor— ragende Einzelſtellung Fichte's hinnehmen und dieſen in mancher Hinſicht großartigen Leiſtungen zu Liebe zu einer Erhöhung Fichte's in den Augen der Nachgeborenen die Hand bieten wollten: ſo erſcheint es doch geradezu widerſinnig, vom Standpunkt der heutigen Wiſſenſchaft noch in das myſtiſche Chaos Schelling's, dieſes wankelmüthi— gen, Principien wechſelnden „Naturphiloſo— phen“ zu tauchen, oder gar vor dem „ab— ſoluten Geiſt“ Hegel's, dieſem Geßler— Hut eines pſeudo-philoſophiſchen Geſchlechtes und dem Inbegriff aller philoſophiſchen und politiſchen Afterweisheit, das Haupt zu Der „vulgäre Hegelianismus“ iſt eine nothwendige Folge dieſer nur durch unterſchätzen, können wir uns aber in unſern Schaden klug machenden Philoſophie. Allerdings hat Hr. Harms nicht er— mangelt, bedeutende Fehler des Schelling— ſchen und Hegel'ſchen Syſtems, wenn man von einem Syſtem im beſſern Sinne bei dieſen beiden ſprechen kann, hervor— zuheben, ja ſelbſt den von ihm ſo übermäßig hochgeſtellten, gleichſam zum philoſophiſchen Meſſias proclamirten Fichte eingehend und ſcharfſinnig zu kritiſiren, aber es ſcheint, als ob der hervorragende Kritiker Kant's allzu ſehr dem im Nebel— haine liegenden Ideal der abſoluten Philo— ſophie nachjagte und um dieſen Preis auch dieſe ſelbſt mit ihrer Superklugheit und Afterweisheit mit in den Kauf nehme. Man riſchen Erkenntniſſe geläuterten Atmoſphären | unmöglich zu Nachbetern der abſoluten Phi— | Hegelianismus“ nur eine „literarhiſtoriſche“ muß dagegen proteſtiren, daß der „vulgäre | „ Literatur und Kritik. Bedeutung habe. Der große Hegel ſelbſt mit ſeinem „noch nie dageweſenen“ philo— ſophiſchen Syſtem, mit ſeinem „abſoluten Geiſt“ und ſeiner philoſophiſchen Staats— klugheit hat das geringe Maß von Ver— nunft, das durch ſeine Philoſophie und ihre verderblichen Conſequenzen zahlreichen Uni— verſitäts- und Staats -Philoſophen ver— blieben iſt, auf dem Gewiſſen. Hegel und Schelling verdanken wir in direkte— ſter Linie die meiſten ungenießbaren Ge— richte aus der Küche der nachkantiſchen Philoſophie. Der alte Kant hat die Hand nicht im Spiele gehabt, es wäre denn durch die Vermittelung ſeines „Fortbildners“ Fichte, der, abgeſehen von ſeinen bedeuten— den Leiſtungen auf dem Gebiete der Ethik, angehenden Philoſophen als abſchreckendes Beiſpiel eines ſchwülſtigen Philoſophirens in den Maulwurfsgängen eines bis zum Ueberdruß geplagten Wortes (des zu Tode gehetzten „Ich“) angeführt werden darf. Gerne geſtehe ich Herrn Harms zu, daß die abſolute Philoſophie eine Fortbildung, ja eine nothwendige Folge der Kantiſchen | Philoſophie war. Aber eben fo ſehr halte ich mit vielen philoſophirenden Gelehrten von erſtem Range daran feſt, daß wir durch dieſe eigentlichen Sophiſten der deut- ſchen Philoſophie, im helleniſchen Sinne des Wortes, nichts haltbares, kein „frucht— bares Bathos“ für die Philoſophie ge— wonnen haben. Correktiv und regulativ mögen ſie, Fichte ganz beſonders, auch ſpäterhin noch wirken. vernunft nicht mehr zugeſtehen. Der Ruf zur Rückkehr auf Kant wird immer lauter, auf der andern Seite geht der Philoſoph ins Heerlager der empiriſchen Forſcher. Vortrefflich iſt im Großen und Ganzen Aber conſtitutiven Einfluß dürfen wir insbeſondere dem Pan- logiſten Hegel im Intereſſe der Menſchen-⸗ 377 die Darſtellung und Kritik der Philoſophie von Schleiermacher, Herbart und Schopenhauer. Während den beiden erſten vielleicht zu viel nachgeſehen wird, geht Hr. Harms mit letzterem wohl zu ſtrenge ins Gericht. Nur den „Unbewuß— ten“ hat Hr. Harms unſeres Erachtens zu glimpflich und mit einem philoſophiſchen Ernſt behandelt, der ihm gar nicht zukommt. Fr. v. Baeren bach. Der Farbenſinn. Mit beſonderer Be— rückſichtigung der Farbenkenntniß des Homer. Von W. E. Gladſtone, ehemaligem Premierminiſter von Groß— britannien und Lordrektor der Univerſität Glasgow. Autoriſirte deutſche Ueber— ſetzung. Breslau 1878. J. U. Kern (Max Müller). Gladſtone hat 1858 in ſeinen „Homer— iſchen Studien“ zuerſt die Behauptung auf- geſtellt, daß die alten Griechen nicht im Stande geweſen ſeien, die Farben zu unter— ſcheiden, und hat ſich durch die beiden in dieſer Zeitſchrift“) energiſch zurückgewieſenen Schriften von Magnus veranlaßt geſehen, dieſes philologiſche Mißverſtändniß noch weiter zu vertiefen, wobei er ſämmtliche Farbenbezeichnungen des Homer der Reihe nach unterſucht und ihren Sinn erläutert hat. Wie ſich früher Magnus auf Gladſtone geſtützt hat, ſo ſtützt ſich nun Gladſtone auf Magnus, wodurch die aufzuhellende Sache ſtatt klarer immer dunk— ler wird. Magnus hat, wie wir früher zeigten, das Mißverſtändniß begangen, die Farben nach der ſpektralen Reihenfolge zu ordnen und das Roth für die hellſte Farbe auszugeben, violett für die dunkelſte, während in Wahrheit Gelb die hellſte Farbe des ) Bd. I. S. 264 u. flgde.; S. 428 u. flgde. Kosmos, Band III. Heft 4. Spektrum iſt und im praktiſchen Leben ſehr lichtreiche blaue und violette Farben neben ſehr dunklen rothen Tönen in Be— tracht kommen. Gladſtone, der von der phyſikaliſchen Seite der Frage nicht die leiſeſte Ahnung beſitzt, und noch immer in Sachen Goethe contra Newton in Zweifel iſt, wer Recht habe, findet nun ſehr ſonderbar, daß ſo viele Worte, die Homer zur Bezeichnung des Rothen (als der nach Magnus lichtreichſten Farbe) gebraucht, als phoinix, daphoinos, porphyreos, oinops u. |. w, eine im zweifachen Sinne jo „dunkle“ Bedeutung haben. Während Magnus dem Homer wenigſtens die klare Empfindung des Rothen zuſchreibt, iſt Gladſtone nun auch darüber in Zweifel gerathen, alles ſoll ſich dem Sänger der Ilias in unentſchiedene düſtere Farben ge— kleidet haben, ſelbſt „der Regenbogen war für Homer's Auge dunkel“. Dieſen ſonder— baren Schluß zieht Gladſtone aus Ilias XI. 23, wo Homer die drei als Verzierung auf dem Bruſtſchild des Agamemnon an— gebrachten Schlangen mit dem Regenbogen vergleicht und fie zugleich kyaneoi nennt. Nach der deutſchen Ausgabe der Glad— ſto ne 'ſchen Schrift wäre dieſes Wort am beſten mit „bronzefarbig“ wiederzugeben, was wohl aber nur ein Mißgriff des Ueber— ſetzers iſt, denn bronzefarbig wäre ja ein gelber Farbenton; Gladſtone hat an allen dieſen Stellen wohl brass-colour oder chalybeate in dem Sinne von erzfarbig 378 Literatur und Kritik. oder ſtählern, ſtahlblau gebraucht? Herrn Gladſtone wird es aber nicht unbekannt ſein, daß die Alten es verſtanden, auch dem Kupfer und ſeinen Legirungen durch Be⸗ handlung mit Schwefel eine ſchöne blaue braunroth und kaſtanienbraun bei Homer Farbe mitzutheilen, und daß ſie dieſes zu eingelaſſenen und aufgenieteten Zierrathen be— nutzte Blauerz ſchlechthin Kyanos d. h. das blaue Metall nannten. Schliemann hat derartige blaue Metallzierrathen gefunden, und Landerer in Athen hat bei der Ana— lyſe Schwefelkupfer nachgewieſen. Es handelte ſich alſo in jenen mit goldenen und weißen Streifen abwechſelnden Schlangen auf dem Bruſtſchilde des Agamemnon um lebhaft blaue Streifen, die ſich um ſo eher dem Regenbogen vergleichen ließen, als die gelben vielleicht dicht daneben verliefen. Auch den übrigen Farbentifteleien Gladſtone's können wir keineswegs beiſtimmen. Was ſollen z. B. dieſe Quälereien um die Be— deutung von chloros, welches Wort Homer zehnmal zur Bezeichnung der blaſſen Furcht gebraucht. Ein erbleichender Menſch ge— winnt namentlich bei dem dunklen Teint der Südländer gar leicht einen grünlichen Ton, und ich wollte, Herr Gladſtone hätte das Gretchen oder die ſterbende Julia von Ga— briel Max geſehen, um zu wiſſen, wie weit ein Maler in der grünlichen Nüancirung eines bleichen Antlitzes gehen darf, ohne unnatürlich zu werden. Ganz richtig be— merkt Gladſtone, daß das Wort an einigen Stellen bei Homer die Bedeutung von „friſch“ habe, wie wir von grünem Holz und grünen Heringen reden. Chloreis, wo es Homer als Eigenſchaftswort der Nachtigall gebraucht, wird ganz prächtig mit grünliebend überſetzt, weil ſie faſt immer im grünen Unterholz lebt, gleich darauf kommt aber eine tiefſinnige Betrachtung, ob man nicht doch das Wort beſſer mit roſt— roth überſetzen müſſe, weil dies die vor— herrſchende Farbe der Nachtigall ſei! Durch ähnliche Kunſtſtücke wird denn auch heraus— gebracht, daß xanthos nicht, wie wir bis— her glaubten, hellgelb oder blond, ſondern bedeute. Zum Glück waren ſolche An— wendungen wie „blaues Blut“, „grüner Junge“, „rother Republikaner“ in den altgriechiſchen Zeiten noch nicht ſo gewöhn— lich wie z. B. in den byzantiniſchen, wo die politiſchen Parteien bereits lebhaft „ge— färbt“ erſchienen, ich ſage zum Glück, denn was hätte ſich nicht aus dem „blauen Blut“ und ähnlichen Ausdrücken alles be— weiſen laſſen! Die beſte Kritik, die man über die Gladſtone'ſche Schrift geben kann, hat Herr W. Robertſon Smith in einem Briefe an die engliſche Zeitſchrift Nature (Dezember 1877. Nr. 423) ge⸗ geben, indem er einfach eine Stelle des Athenäus (XIII. c. 81) mittheilt, nach welcher ein alter griechiſcher Schulmeiſter ſich beim Sophocles beklagt haben ſoll, daß die Poeten die Farbennamen ſo wenig ihrem Sinne und der Natur entſprechend verwendeten. Sophocles beweiſt ihm, daß die Dichter ihr gutes Recht gebrauchen, wenn ſie purpurne Wangen und goldenes Haar beſingen, obwohl beide im ſtrengen Wortſinne nicht eben ſchön ſein würden, und ſchließlich wird der pedantiſche Schul— meiſter von allen Zuhörern ausgelacht. Es ſei ferne von uns hier irgend eine Paral— lele ziehen zu wollen, aber jedenfalls müſſen wir den Verſuch als im Keime verfehlt betrachten, ſubtile phyſikaliſche und entwick— lungsgeſchichtliche Fragen gegen alle Wahr— ſcheinlichkeit aus dem freien und ſchwankenden Wortgebrauche der Dichter herleiten zu wollen. Da der Referent eine abweichende und an— ſcheinend vollkommen befriedigende Erklärung der auffallenden Unſicherheit alter Schrift— ſteller im Gebrauche der Farbwörter ge— gegeben hat, ſo müßte er dem Herrn Ueber— ſetzer allerdings einen Vorwurf daraus machen, wenn er Herrn Gladſtone, als er mit ihm in Verbindung trat, nicht auf dieſe Einwürfe ausdrücklich aufmerkſam ge— macht hätte. Es erſcheint dem Referenten Literatur und Kritik. 319 " durchaus wahrſcheinlich, daß Herr Glad— ſtone ſich ſeiner Auffaſſung angeſchloſſen haben würde, denn er kommt am Schluſſe ſeiner Arbeit zu faſt der gleichen Anſicht, nämlich, daß zu Homer's Zeiten der Ge— brauch beſonderer Farbworte mit vereinzelten Ausnahmen noch gar nicht fixirt gewe— ſen iſt. Gladſtone vergleicht nämlich die Ilias und Odyſſee nach ihrem relativen Reichthum an Licht und Farbenbezeichnungen, und findet, daß die gleiche Verszahl der Ilias im Durchſchnitte drei Farbenbezeich— nungen gegen zwei der Odyſſee enthalte. Er entnimmt daraus Wahrſcheinlichkeits— beweiſe für die Hypotheſe, „nach der die Ilias als das Erſtlingswerk einer feurigen und an Einbildungskraft reichen dichteriſchen Phantaſie, die Odyſſee dagegen als das Produkt eines gereiften und darum weniger empfänglichen Geiſtes anzuſehen ſei.“ Glad— ſtone benützt die Licht- und Farbworte ferner, um die nur durch genaueſte Einzel— betrachtung zu löſende Frage, ob die Ilias und Odyſſee von einem oder mehreren Verfaſſern herrühren, ihrer Entſcheidung näher zu bringen, und ſagt hierüber unter anderen: „Noch auffallender iſt die Ueber— einſtimmung des Materials oder des geiſtigen Stoffes, über den der Dichter bei dem Gebrauche der wirklichen Farben-Ausdrücke verfügte. Die 58 Farbenbezeichnungen der Ilias ſind aus der gleichen Quelle geſchöpft wie die 31 der Odyſſee. . . Dieſe Gleich— artigkeit in der Bezeichnung von Licht und Farbe berechtigt zu der Annahme, daß beide Dichtungen denſelben Verfaſſer haben. Doch nur aus dem Grunde, weil, was ich in der vorliegenden geſammten Abhandlung darzu— thun beſtrebt bin, Homer die Farben nicht als ſolche auffaßte, ſondern ſich zur Be— zeichnung derſelben der Bilder bediente; ſeine Farbenausdrücke ſind Gleichniſſe, welche —ůů en, 380 er ſeiner Umgebung entlehnt; er erklärt die Farben mehr durch Beiſpiele, als er ſie beſchreibt. Und deshalb iſt das Wort erythros, welches den abſtrakten Begriff einer Farbe enthält und nicht von einem der Sinnenwelt angehörigen Objekte ent— nommen iſt (2 Ref.), ſelten im Homer zu finden. Das Gleiche gilt von xanthos; am häufigſten pflegt eben Homer von Roſen-, Wein-, Feuer-„Blauerz- (nicht Bronze-) Farbe u. ſ. w. zu reden. Wie wäre es nun wohl denkbar, daß in einem Zeitalter, wo Farben lediglich auf dieſem Wege des Gleichniſſes geſchildert wurden, zwei verſchiedene Dichter ſich der nämlichen Bilder in ſo auffallender Uebereinſtimmung bedient haben ſollten? Zu jener Zeit gab es eben noch keine feſt— ſtehende Farben-Terminologie und darum war es die Aufgabe eines wahren Dichters ſich eine ſolche zu ſchaffen.“ Die letztere Bemerkung, die mit unſe— rer Anſicht völlig übereinſtimmt, iſt un— zweifelhaft richtig, aber die Schlüſſe, welche Gladſtone daraus zieht, — Unvollkom— menheit des Farbenſinns der alten Griechen, — ſind durchaus hinfällig und auch den Schluß, daß die Uebereinſtimmung der Farbengleichniſſe die Einheit der homeriſchen Lieder beweiſe, halten wir für ſehr gewagt. Die Gleichnißworte weinroth, roſenfarben, feuerfarben find noch heute als Nüance— Bezeichnungen in Gebrauch, und der Unter— ſchied iſt nur, daß ſie damals mit geringe— rer Beſtimmtheit für roth, rothgelb und rothbraun im Allgemeinen gebraucht wurden. Ueberhaupt verharre ich dabei, daß ſämmt— liche Farbennamen urſprünglich von den Bezeichnungen beſtimmter Dinge oder Thä— tigkeiten hergeleitet worden ſind, ſo auch das von Gladſtone für ein abſtraktes Farbwort ausgegebene erythros. Die Wurzel ryth, rut (rutilus) roth, verräth Literatur und Kritik. ſchon durch ihr Vorkommen in vielen indo— germaniſchen Sprachen ihren Urſprung aus dem Sanſcrit und da finden wir in der That, daß rudbira Blut bedeutet. Eben— jo ſtammt das Wort kyanos, wie in dieſen Unterſuchungen zum Ueberdruß behauptet worden iſt, nicht von einem Abſtraktum, welches die Dunkelheit oder Schwärze be— deutet, ſondern von dem Sanſcritworte cjanas, Rauch, und das Wort blau ſtammt nach der Ueberzeugung der beſten neuern Sprachforſcher (Graff, Lexer, Gebr. Grimm, Weigand u. Al.) nicht, wie Geiger meinte, von dem nordiſchen bla ſchwarz, ſondern von dem Zeitwort bleuen, althochdeutſch bliuwan (pliuwan), blivan, mittelhochdeutſch bliuwen, bliwen, welche wie das griechiſche Ace und das latei— niſche fligere ſchlagen, prügeln be— deuten. Das Farbwort wäre demnach von dem Ausſehen gebleueter Perſonen her— genommen, ein allerdings ſehr ſonderbarer Urſprung. Aber irgend woher mußten die Farbworte genommen werden und die ur— ſprüngliche Unſicherheit des Gebrauches iſt der beſte Beweis ihrer allmäligen Einbür— gerung. Auch die Luft hat, weit entfernt, in ihrer Bläue nicht erkannt worden zu ſein, wie man vorgiebt, vielmehr einer An— zahl von Namen für blau Urſprung ge— geben, fo den Worten aerinos (himmelblau) aerizusa, Türkis, aeroides, dem Namen einer Art Beryll und wahrſcheinlich auch aerugo, der oft himmelblaue Grünſpan, von deſſen grüner Varietät wieder ſpan— grün abſtammt. Statt alſo aus dem Umſtande, daß die Alten ihre Farbworte auf ſo viele ſehr verſchieden näancirte Gegen— ſtände ausdehnten, zu ſchließen, die Farben ſeien von ihnen nur unklar empfunden worden, müſſen wir vielmehr die Feinheit des Sinnes bewundern, die z. B. in der Literatur und Kritik. blaſſen Geſichtsfarbe noch den grünlichen Ein Anhang über Fang, Zucht und Prä— Ton, in der braunen Farbe der Pferde und Rinder das Rothe und in der Rauch- erkannte. farbe die blaue Beimiſchung Nichts iſt natürlicher, als daß dieſe Rauch- farbe mit dem Blau der Ferne und mit der Dunkelheit zuſammen geworfen wurde, aber nicht die Dunkelheit, ſondern der Bes | griff des Bläulichen war das Urſprüngliche in dem Worte kyanos und ſo tritt die ganze Bodenloſigkeit jener Hypotheſen mit jeder weiteren Verfolgung deutlicher ins Licht. K. Dr. Friedrich K. Knauer. Natur— geſchichte der Lurche (Amphibiologie). Eine umfaſſende Darlegung unſrer Kenntniſſe von dem anatomiſchen Bau, der Entwickelung und ſyſtematiſchen Ein— theilung der Amphibien, ſowie eine ein— gehende Schilderung des Lebens dieſer Thiere. Mit 120 Alluſtrationen, 4 Holzſchnitten und 2 Tabellen. Wien, 1878, A. Pichler's Witwe und Sohn. Die erſte und größere Hälfte dieſes Buches enthält eine fleißige Zuſammen— ſtellung der vergleichenden Anatomie und Entwickelungsgeſchichte der Lurche nach Ge— genbauer und Götte, dann eine ſyſte— matiſche Ueberſicht, die aber bei den aus— ländiſchen Gattungen und Arten nur auf eine namentliche Aufzählung der Arten und ganz knappe Charakteriſtik der Gattungen ausgedehnt wird, einen Abriß der Paläon— tologie und der Geographie (nach Wallace) und die Bibliographie der Lurche. In dem zweiten allgemein beſchreibenden und ſchil— dernden Theil, hat der Verfaſſer nach ſeinen eigenen Beobachtungen das Leben ungefähr derſelben europäiſchen und ausländiſchen Gattungen geſchildert, die auch in Brehm's Thierleben Berückſichtigung gefunden haben. parirung der Lurche macht den Beſchluß. Die Abbildungen ſind überwiegenden Theils den erwähnten Autoren entlehnt. Dem Buche fehlt unſerem Gefühle nach die Ein— heitlichkeit, denn während der erſte Theil nur Leſern verſtändlich ſein wird, die ver— gleichende Anatomie und Entwickelungsge— ſchichte ſtudirt haben, und die ſyſtematiſche Ueberſicht nicht einmal aus jeder Familie einen Vertreter genauer beſchreibt, wendet ſich der zweite in ziemlicher Breite an den Laien, ja dem Tone nach ſogar an mehr jugendliche Leſer, vielleicht in dem Sinne, daß der Lehrer dieſes Material unmittelbar verwerthen möge. Aus Rückſicht auf die Jugend iſt denn auch wohl jedes nähere Eingehen auf phylogenetiſche Betrachtungen, zu denen die Lurche faſt unwiderſtehlich auffordern, ängſtlich vermieden worden. Das Buch dürfte ſich beſonders für Lehrer an Mittelſchulen eignen und kann den— ſelben als eine im Uebrigen verdienſtliche Arbeit empfohlen werden. Deutſches Archiv für Geſchichte der Medicin und mediciniſche Geo— graphie. Unter Mitwirkung zahlreicher Forſcher und Gelehrten herausgegeben von Heinrich Rohlfs in Göttingen und Gerhard Rohlfs in Weimar. Leipzig, C. L. Hirſchfeld 1878. Mit warmer Sympathie begrüßen wir das Erſcheinen dieſer Zeitſchrift, welche das Prinzip der entwickelungsgeſchichtlichen Stu— dien auch auf die Wiſſenſchaft und Lehre, der Medicin und mediciniſchen Geographie, überträgt. Sehr wahr ſagen die Heraus— geber in den einleitenden Worten, daß ſich dieſe Richtung nicht nur in keinem Gegen— ſatze zu der rein empiriſchen, naturwiſſen⸗ 382 Literatur und Kritik. ſchaftlichen Medicin befinde, ſondern als deren nothwendige Ergänzung betrachtet werden müſſe, ſofern erſt die hiſtoriſche Be— trachtung der Syſteme und Richtungen zu dem richtigen Standpunkte für das tiefere Verſtändniß und für die Kritik führt. Das erſte Heft bringt außer einigen einleitenden Artikeln ein Lebensbild Harvey's von Baas, Militärmediciniſches aus dem Morgenlande von Fröhlich, eine Studie über die hiſtoriſche Entwickelung des augen— ärztlichen Standes von Magnus und einen Artikel über das Wechſelverhältniß der National-Oekonomie zur Hygiene von Heinrich Rohlfs. Dazu zahlreiche Kritiken über einſchlägige neue Bücher und Miscellen. Das ſtattliche Namensverzeich— niß der Gelehrten, welche ihre Mitarbeit zugeſagt haben, bürgt neben denjenigen der Herausgeber für den reichen und gediegenen Inhalt der Zeitſchrift, welcher es hoffentlich nicht an der verdienten Theilnahme in mediciniſchen und culturhiſtoriſchen Kreiſen fehlen wird. Abnahme des Vienenſleißes in Auſtralien. Engliſche Zeitungen berichteten, ohne übrigens ihre Autoritäten namhaft zu machen, von eigenthümlichen Gewohnheiten, welche aus Europa in Auſtralien einge— führte Honigbienen daſelbſt angenommen haben ſollen, Gewohnheiten, die, ſo unan— genehm ſie den Bienenzüchtern ſein müßten, ein deſto größeres Intereſſe für den Natur- forſcher darbieten würden. Die europäiſchen Bienen ſollen nämlich ihren, wie man ſonſt annahm, angeborenen Fleiß und ihre Sorg— ſamkeit für den Winter dort nur in dem erſten und höchſtens noch in dem zweiten Jahre nach ihrer Einführung bethätigen, ſpäter aber ſollen ſie in den Gegenden, wo ſie es nicht nöthig haben, aufhören, Honig einzuſammeln und gänzlich anfangen „von der Hand in den Mund“ zu leben, wie andere Inſekten auch. Da es nun doch ſonſt in tropiſchen Gegenden genug Vorrath einſammelnde Bienen und Wespen giebt, ſo iſt nicht recht erſichtlich, warum ſie ge— rade in Auſtralien ihr Capua finden ſoll— ten; es müßte denn ſein, daß hier in ge— wiſſen Gegenden die Vegetationspauſen noch kleiner wären, als anderswo. Wir theilen die an ſich nicht beſonders wahrſcheinliche Angabe nur mit, um einen oder den an— deren unſerer auſtraliſchen Abonnenten zur Einziehung genauerer Nachrichten zu ver— anlaſſen. — Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. e du Prel, Die Planetenbewohner. wir haben feine Bürgſchaft für die Vollend— ung des Anpaſſungsproceſſes, dem er unter— liegt. Schon aus der allmäligen, von ſehr einfachen Organen ausgehenden Ent— wickelung der Sinne folgt, daß auch der Verſtand, als Sammelpunkt der Eindrücke, erſt in allmäliger Entwickelung ſeine der— zeitige Beſchaffenheit erwerben konnte; und wie die Sinne als Orientirungsorgane ſich mehr und mehr der Außenwelt anpaſſen, ſo auch der Verſtand, der Ausleger der Sinneseindrücke, in der Weiſe, daß wir die Grundformen des Seins als Erkennt— nißformen erwerben. Kant, indem er in ſeiner tiefſinnigen Frage: „Wie find ſynthetiſche Urtheile a priori möglich?“ das Problem dieſer Parallelität des Naturverlaufes und unſerer Ideen, dieſer gleichſam präſtabilirten Har— monie zwiſchen Denken und Sein unter— ſuchte, beantwortete die Frage durch den transcendentalen Idealismus. Solche Ur— theile ſind nur möglich, wenn Zeit, Raum und Cauſalität ſubjektive Erkenntnißformen ſind, welche das Ding an ſich für unſer Erkennen ähnlich umwandeln, wie die Sinne die objektiven Vorgänge verwandeln. löſt ſich die Welt in Schein auf. Die Frage hat aber noch eine andere Seite. Wir müſſen nicht nur fragen, wie ſynthetiſche Funktionen des Intellekts a priori möglich ſeien ihrem logiſchen So Inhalte nach, ſondern auch, wie folde | Intellekte jelbft, als Thatſachen des biologiſchen Proceſſes, möglich ſeien? Dieſe letzte Frage aber, welche Kant nicht weiter in Betracht zog, führt nothwendig zum transcendentalen Realismus. Wie jedes Organ des menſchlichen Leibes im Ver— laufe des biologiſchen Proceſſes durch all— mälige Umwandlung entſtanden iſt, ſo kann ſich auch der menſchliche Intellekt nur all— Kosmos, Band II. Heft 5. 391 mälig im Sinne der Anpaſſung entwickelt haben, und ſeine Funktionen müſſen gleich den Funktionen aller Organe als erworbene und durch Vererbung befeſtigte Anlagen angeſehen werden. Da nun eine Anpaſſung nur geſchehen kann auf Grund einer ge— iſt. gebenen Realität, an welche ſie ſtattfindet, ſo ſtehen wir vor dem Realismus, aber vor dem transcendentalen Realismus, weil wir kein Recht haben, dieſen Anpaſſungs— proceß als vollendet anzuſehen, und — wie es der Materialiſt thut — die vorgeſtellte Welt für identiſch mit der Welt an ſich zu halten. Wie die Entwickelungsfähigkeit der Sinne muß auch die Entwickelungsfähigkeit des Intellekts bezüglich feiner aprioriſchen Erkenntnißformen zugeſtanden werden. Hin— ſichtlich der Cauſalität leuchtet dies von ſelbſt ein: jede neue Entdeckung vermehrt das Wiſſen, d. h. die Uebereinſtimmung zwiſchen der Verknüpfung realer Dinge und idealer Vorſtellungen. Aber auch qualitativ hat ſich die cauſale Anſchauung des Men⸗ ſchengeſchlechtes verändert, indem das Er— kennen von der Verknüpfung der Dinge durch ſpiritualiſtiſche Agentien zur natur— wiſſenſchaftlichen Cauſalität fortgeſchritten Auch hinſichtlich der Zeit unterliegt die Sache keiner großen Schwierigkeit; die Zeitanſchauung entſteht dadurch, daß unſere Empfindungen und Wahrnehmungen ſich in unſerem Bewußtſein folgen. Dieſe ſubjek— tive Veränderung projiciren wir nach außen als continuirliche Bewegung, die ſich von der Beharrlichkeit unſeres identiſchen Selbſt— bewußtſeins als Zeitform abhebt, was nicht der Fall ſein könnte, wenn unſer Selbſtbe— wußtſein nach jeder Empfindung ausſetzen oder etwa mit den Empfindungen gleich— mäßig ſich verändern würde, oder endlich wenn die Empfindungen in immer gleicher 50 392 du Prel, Die Planetenbewohner. Beſchaffenheit ununterbrochen aufeinander folgten. Durch Wahrnehmung alſo kommen wir zur Zeitanſchauung. Eine leere Zeit hat kein Tempo. Das Tempo der Zeit wird beſtimmt durch die Raſchheit, in welcher die Reaktion der Sinne auf Ein— wirkungen eintritt, weil dieſe Raſchheit die Summe der möglichen Eindrücke beſtimmt. Wie in unſerem Bewußtſein ſich die Ver— änderungen folgen, ſo meſſen wir auch das Tempo der Zeit ab, raſch oder langſam; hätten wir eine kürzere oder längere Zeit nöthig, uns eines Eindrucks bewußt zu werden, alſo ein anderes ſubjektives Grund— maß der Zeit, ſo würden wir auch eine Zeitanſchauung von verändertem Tempo conſtruiren. Weſen dieſer Art würden Vorgänge wahrnehmen, die uns entgehen, weil ſie zu raſch aufeinanderfolgen oder nicht genug andauern, um von unſerem Bewußtſein erfaßt zu werden; ſie würden vielleicht eine Blume unmittelbar wachſen ſehen, die uns beharrlich erſcheint, oder wo umgekehrt wir beſtändige Veränderung ge— wahr werden, würden ſie Beharrlichkeit finden. Die Veränderungen in unſerem Be— wußtſein folgen ſich aber nicht mit der Raſchheit der äußeren Veränderungen, von welchen uns viele entgehen; es iſt alſo hin— ſichtlich der Zeitanſchauung der menschliche Intellekt der Außenwelt nicht vollkommen angepaßt, und nur für die praktiſchen Zwecke unſerer derzeitigen Organiſation genügt der vorhandene Grad der Anpaſſung. Da wir nun wiſſen, daß ungleich mehr Veränderungen der Dinge eintreten, als wir wahrzunehmen vermögen, daß jede an— ſcheinende Beharrlichkeit nur auf einer Täuſch— ung der Sinne beruht, und das Weſen des Weltproceſſes eine continuirliche Ver— änderung iſt, andererſeits aber die Zeitan— ſchauung als entwickelungsfähig bezeichnet werden muß im Sinne der Anpaſſung, ſo wäre dieſe Anpaſſung erſt vollendet, wenn allen äußeren Veränderungen ſolche in un— ſerem Bewußtſein correſpondiren würden. Die Entwickelung der Zeitanſchauung muß alſo die allmälige Verkürzung der zeitlichen Maßeinheit nach ſich ziehen, die wir an die Natur heranbringen; das ſubjektive Leben im Kosmos muß ein immer raſcheres Tempo annehmen. Je mehr Veränder— ungen uns bewußt würden, deſto größer wäre auch die Uebereinſtimmung zwiſchen Denken und Sein; je unaufhaltſamer und eiliger uns der ewige Fluß der Dinge er— ſcheinen würde, deſto näher ſtünden wir auch der wahren Anſchauung der Dinge. Was endlich die Raumanſchauung be— trifft, ſo iſt auch dieſe ein ſubjektiver Akt. Wir unterſcheiden in unſeren Wahrnehmun— gen die Mehrheit der einzelnen Momente und verbinden ſie zu einer Ausdehnungs— größe. Wo in einer gleichen Wahrnehm— ung dieſe Mehrheit fehlt, wie bei den in ſich einfachen und keine Unterſcheidung ge— ſtattenden Empfindungen des Geſchmacks und Geruchs, fehlt auch das Vermögen der Localiſation.“) Wenn demnach irgend— wo Weſen auf ſolche in ſich einfache Em— pfindungen reducirt wären, würde ihnen auch die Raumanſchauung fehlen; freilich dürfen wir für ſolche Weſen die Entwickel— ungsfähigkeit dieſer Sinne beanſpruchen, die ja auch unter den irdiſchen Organismen verſchiedenartig ausgebildet ſind, und deren Weiterbildung bei uns wohl nur durch das Hin— zukommen höherer Sinne überflüſſig wurde. Subjektiv ſind wir aber auch bezüglich des Grundmaßes, deſſen wir zur Con— ſtruktion des Raumes bedürfen; unſere Be— griffe von Groß und Klein wären andere, y 5 Huber: die Forſchung nach der Materie. S. 37. du Prel, Die Planetenbewohner. wenn wir ſelbſt von anderer Ausdehnung wären. Die Dimenſionen des Raumes, Höhe, Breite und Tiefe, ſind ebenfalls ſub— jektiv, und wenn wir ein bloßes kugelför— miges Auge ohne Leib wären, das im Raume ſchwebte, ſo würden, wie Liebmann bemerkte,?) die drei Dimenſionen des Schauens für uns zuſammenfallen, wir hätten nur mehr Eine Dimenſion. Ein leerer Raum endlich würde gar keine Aus— dehnung haben. Die Entwickelungsfähigkeit des menſch— lichen Intellekts bezüglich der Rauman— ſchauung würde eine Vermehrung der Di— menſionen im Verlaufe des biologiſchen Proceſſes beſagen, und ſo erſcheint unter dem Geſichtspunkte der Entwickelungslehre (? R.) auch die Annahme einer vierten Dimenſion des Raumes nicht mehr ſo paradox, als die rein mathematiſchen und philoſophiſchen Demonſtrationen ſie erſcheinen laſſen. Daß in der That im biologiſchen Proceſſe die Anſchauung der Tiefendimenſion erſt ſpäter entſtanden iſt, zeigt ſich an der relativen Unvollkommenheit dieſer Anſchauung gegen- über den beiden Flächendimenſionen, was auf einen kürzeren Vererbungsproceß (?) dieſer Anlage ſchließen läßt. Irrthümer in Be— zug auf das ſtereometriſche Schauen kommen nicht nur bei Kindern vor, wenn ſie etwa nach dem Monde oder den Sternen greifen, ſondern auch bei operirten Blindgeborenen, — ein Beweis dafür, daß die Erfahrungen innerhalb der individuellen Lebensdauer für die Entwickelung der tiefdimenſionalen An- ſchauung noch nicht entbehrlich geworden ſind, daß wir alſo dieſe Anſchauung nicht fertig mit auf die Welt bringen. Auch bei Erwachſenen iſt der Sinn für Per— phie II. 214. | ) Caspari, Urgeſchichte II. S. 163. | Anhaltspunkt gegeben hätte, die anſcheinende | unterſchätzten Tiefe abzuleiten; denn gerade tiſche Gebilde hielt, mußte man dazu ge— 393 ſogar innerhalb der hierin bevorzugten Künſtlerwelt, wie ſich leicht in Gemälde— gallerien erkennen läßt. Bewohner der Ebene, wenn ſie ins Gebirge kommen, zeigen ſich in dieſen neuen Verhältniſſen oft als ſehr ungeſchickte Schätzer der Ent— fernungen, die ſie faſt regelmäßig zu gering anſchlagen; ja es kann wohl geſchehen, daß ſie ſchmale Felſennadeln in großer Höhe für menſchliche Geſtalten anſehen, da doch ſolche, ſtünden ſie wirklich dort, kaum zu unterſcheiden wären. Als das Auge des prähiſtoriſchen Men— ſchen ſich vom Erdboden erhob, und die leuchtenden Erſcheinungen am Himmel nach Analogie der Opferfeuer ſeiner Prieſter— Zauberer beurtheilte, ſo ſprach ſchon aus ſolchem Mangel an makrokosmiſcher Er— habenheit die mangelhafte Entwickelung der Tiefendimenſion. Es finden ſich aber noch heute Stämme in Braſilien, bei welchen dieſe Anſchauung noch ſo wenig entwickelt iſt, daß ſie den Himmel lediglich für eine höher gelegene Gegend der Erde halten, die zu— gleich das Dach derſelben bildet; durch die Löcher dieſes Daches, das ſie Mumeſeke nennen, ſtrömt der Regen.“) Wie viele Jahr— tauſende mögen aber vergangen ſein, bis der Menſch überhaupt ſeine Aufmerkſamkeit den kosmiſchen Erſcheinungen zuwendete! Im Rigveda finden wir noch kein Bewußtſein des Unterſchieds der Fixſterne von den Planeten, deren ſichtbare Bewegung einen Unbeweglichkeit der Fixſterne aus ihrer wenn man Fixſterne und Planeten für iden— trieben werden, die Objektivität dieſer Be— wegungsunterſchiede zu bezweifeln und ſie vielmehr aus der Verſchiedenartigkeit der Bm 394 du Prel, Die Planetenbewohner. Beziehungen zum Auge abzuleiten, was nur mit Hilfe der dritten Raumdimenſion möglich geweſen wäre. Dichteriſchen Ausſprüchen des Alter— thums dürfen wir zwar kein zu großes Gewicht beilegen; aber es ſpricht doch für einen mangelhaften Sinn der Tiefe, wenn Heſiod ſagt, daß der Himmel und die Unterwelt gleich weit von der Erde abſtehen, und, um eine Vorſtellung von dieſer Ent— fernung zu geben, beifügt, daß ein eiſerner Amboß 10 Tage lang vom Himmel zur Erde fallen würde und weitere 10 Tage von der Erde zur Unterwelt. Das gleiche gilt vielleicht von den Verſen des Ver— gilius (Aen. III. 131. 737.), wo er die Wellen des Oceans bis an die Sterne gepeitſcht werden läßt, worin zwar ein bloßer Redeſchmuck liegen mag, bei dem aber doch die Vorſtellung jenes Mumeſeke noch durchſcheint, wie ja bekanntlich noch in der ganzen Kosmologie des theologiſchen Mittelalters. Auch an den Ausſpruch des Ariſtarch mag hier erinnert werden, daß die Sonne ſo groß ſei, wie der Peloponnes. Die ganze moderne Aſtronomie bezüg— lich der Fixſterne beruht auf einer beſtän— digen Correktur unſerer tiefdimenſionalen Anſchauung, jo daß ſich die Aſtronomen bereits genöthigt ſahen, den früheren Maß— ſtab der Meilenentfernung aufzugeben und einen neuen, den der Lichtzeit, anzuwenden. „Die Entwickelung der Aſtronomie zeigt uns das allmälige Entſtehen der dritten Dimenſion am Himmel im bewußten Er— kenntnißproceſſe, während wir uns dieſes empiriſch phyſiologiſchen Urſprungs in den Orientirungsproceſſen des täglichen Lebens nicht mehr bewußt find.“ *) Zöllner, Principien einer elektro— dynamiſchen Theorie der Materie. Vorrede S. 73. 1 Die Geneſis der Anſchauung der Tiefen— dimenſion auf der Baſis einer zweidimen— ſionalen Anſchauung iſt in ſehr intereſſanter Weiſe von E. v. Hartmann behan— delt worden.“) Er ſagt: „Hätte in der— ſelben Weiſe, wie die Sinnesaffektionen in der Außenwelt ihre Deutung im Sinne einer dritten Dimenſion erheiſch— ten, ein praktiſches Bedürfniß ſich heraus— geſtellt, gewiſſe problematiſche Modifikationen der Geſichtswahrnehmungen im Sinne einer vierten Dimenſion des Raumes zu deuten, und hätten die hieraus gezogenen Conſe— quenzen und die auf ſie gebauten Hand— lungen und Experimente dieſelbe eklatante Beſtätigung gefunden, wie es bei den auf die dritte Dimenſion gebauten der Fall iſt, ſo würde ohne Zweifel mit den fraglichen Modifikationen der Geſichtswahrnehmungen ſich die Vorſtellung einer vierten Dimen— ſion in derſelben Weiſe aſſociirt haben, wie mit den oben angegebenen Modifika— tionen die Vorſtellung einer dritten Di— menſion .. Rückwärts können wir daraus ſchließen, daß die Ordnung der realen Dinge, in ſo weit ſie für das Afficiren unſerer Sinne von Einfluß iſt, ſich thatſächlich in drei Dimenſionen er— ſchöpft, weil noch nirgend in unſeren jetzt ſo genau und ſorgfältig durchforſchten Sinneswahrnehmungen ſich Modifikationen gefunden haben, welche nicht durch die An— nahme von drei Dimenſionen ausreichend erklärt würden.“ In dieſen Worten deutet Hartmann ſelbſt die Abhängigkeit der Dimenſionenzahl von den Sinnesaffektionen an; die Entwickelungsfähigkeit der Sinne, wodurch uns immer mehr Vorgänge im beſtändigen Fluſſe der Dinge offenbar würden, verräth daher auch die bedingte ) Das Unbewußte vom Standpunkte der Phyſiologie S. 157. 1 9 nenne ... 8 — . . . . . ᷑—.:..:.:x.:. ? 1k y — .tðxtö rv—v¼ñ5ẽ6e —:- ðék—. ͤ— üä— . .̃Ü'ä. ... —.. ͤ—.— — — — — ———— . — v— Geltung des angezogenen rückwärtigen Schluſſes. Wenn für unſere gegebene Or— ganiſation das praktiſche Bedürfniß nach der Conſtruktion einer vierten Dimenſion des Raumes fehlt, ſo ſind doch auf ande— ren Weltkörpern Weſen denkbar, welche bei größerem Empfindungsmateriale dieſes Be— dürfniß haben, und welche darum nicht nur zur begrifflich-hypothetiſchen Annahme einer vier— ten Dimenſion genöthigt wären, ſondern wel— chen dieſe ſogar durch das Unbewußtwerden der genetiſchen Zwiſchenglieder allmälig zur anſchaulichen Vorſtellung geworden wäre. Daß es aber in der That auch für unſere Organiſation Erſcheinungen giebt, deren widerſpruchsfreie Erklärung aus drei Dimenſionen nicht möglich iſt, die uns alſo zur begrifflichen Annahme einer vierten Dimenſion nöthigen, hat ſchon Kant ent— deckt,) wie neuerdings Zöllner her— vorhebt, der dieſes Problem in der Vor— rede ſeiner „Principien einer elektrodynami— ſchen Theorie der Materie“ mit dem ihm eigenen Scharfſinne behandelt. Solche Er— ſcheinungen ſind: rechte und linke Hand, rechts und links gewundene Schnecke und ſymmetriſche Geſtalten, wie ein Objekt und ſein Spiegelbild. Wir haben hier con— gruente und ſymmetriſche räumliche Ge— ſtalten von vollkommen gleicher relativer Lage der Theile, von gleicher Form und Größe, die alſo begrifflich identiſch ſind und doch nicht zur Deckung gebracht, nicht eines an Stelle des anderen geſetzt werden können, die alſo anſchaulich verſchieden ſind. Da nun die Forderung, ſolche Ge— bilde in ein ſolches Verhältniß zu unſerem Auge zu bringen, daß ſie auf daſſelbe eine vollkommen identiſche Wirkung ausüben — ) „Von dem erſten Grundunterſchiede der Gegenden im Raume“ V. S. 293. Ausg. v. Roſenkranz. du Prel, Die Planetenbewohner. | | 395 worin das anſchauliche Kriterium ihrer Identität beftünde — einen Intellekt, der nur drei Dimenſionen vorſtellt, vor eine unauflösliche Antinomie ſtellt, ſo ſind wir zur begrifflichen Annahme einer vierten Raum- dimenſion genöthigt, die uns unter dem Ein- fluſſe einer veränderten Organiſation auch zur anſchaulichen Vorſtellung werden würde. Der empiriſche Urſprung unſerer Raum— vorſtellung läßt die Beſchränktheit unſerer Einbildungskraft, nur drei Dimenſionen des Raumes vorzuſtellen, als eine ſubjektive erkennen, die nicht für die Intelligenz aller Weltbewohner gültig ſein kann; die nach— weisbare Phänomenalität der Außenwelt aber, die Verſchiedenheit unſerer Netzhaut— bilder von den äußeren Dingen, kann uns nur geneigt machen, ein ähnliches Verhält— niß auch zwiſchen unſerem Intellekt, in Be— zug auf die Grundformen der Erkenntniß und der Außenwelt anzunehmen. Wenn aber gleich den Sinnen auch der Intellekt mit feiner Raumanſchauung ſich als entwickel— ungsfähig ergiebt, dann kann auch die von uns vorgeſtellte Welt nur ein durch die Beſchaffenheit des Intellekts bedingtes Pro— jektionsphänomen ſein, das uns nicht un— mittelbar offenbart, ſondern nur andeutet, was in der metaphyſiſchen, vierdimenſionalen Raumwelt geſchieht. In noch höherem Grade alſo, als es von der modernen Phyſiologie anerkannt wird, müſſen wir die Wahrheit der Worte des Protagoras anerkennen: „der Menſch iſt das Maß aller Dinge“. Die empiriſche Unterſuchung der Ver— ſchiedenartigkeit der planetariſchen Zuſtände führt uns zur Erkenntniß: Andere Wel— ten, andere Weſen. Die ergänzende er— kenntnißtheoretiſche Unterſuchung aber läßt uns die nicht minder zweifelloſe Wahrheit erkennen: Andere Weſen, andere Welten! D — Eine Studie bon M. Dreyer. rei Jahrhunderte ſind ſeit der Gert des großen Harvey dahingegangen, Jahrhunderte des Forſchens und Streitens. .Sie haben reichlich dazu bei— getragen, 5 Glanz ſeines Namens zu er— höhen, welchen auch die weitgehendſte Wür— digung der Verdienſte ſeiner Vorgänger und die zahlreichen gegen ihn gerichteten Angriffe nicht haben verdunkeln können. Keiner ſeiner Nachfolger auf der von ihm geebneten Bahn der Experimentalphyſiologie hat ihn erreicht. Die Entdeckung des Blutkreislaufs ge— hört zu denjenigen Entdeckungen, von denen man wohl ſagt, daß ſie nur einmal ge— macht werden. Und es iſt wahr: Seit dem Erſcheinen der Abhandlung über die Bewegung des Herzens und des Blutes iſt keine phyſiologiſche Arbeit gedruckt wor— den, welche ſo große theoretiſche und praktiſche Umwälzungen hervorgerufen hätte, wie ſie. Das andere Werk Harvey's, „De generatione animalium“ iſt, wahrſcheinlich weil es niemals in Deutſcher Ueberſetzung | edirt wurde, trotz feiner fundamentalen Be— Harvey, Ueber die Erzeugung der Thiere. | deutung als erſtes wiſſenſchaftliches embryo— logiſches Werk und trotz ſeines außerordent— lich reichen theoretiſchen Inhalts der Deut— ſchen Leſewelt weniger bekannt. Gerade die Entwickelungslehre, und zwar nicht etwa nur deren Geſchichte, hat das größte Intereſſe an dieſen zuerſt 1651 in London veröffent— lichten Unterſuchungen — Exereitationes nennt ſie Harvey — die man ſeit Jah— ren gemeiniglich mit der Behauptung ab— thut, es ſtehe der berühmte Satz darin Omne vivum ex ovo (Alles Lebende vom Ei!). Da ich keinen Anlaß hatte, zu zweifeln, daß dieſes von der Tradition ohne Wieder— ſpruch Harvey zugeſchriebene Apophthegma in ſeinen Werken ſich irgendwo finden werde, und zu erfahren wünſchte, woher, wenn jedes lebende Weſen aus einem Ei ſtammt, das Ei ſelbſt nach Harvey's Anſicht her— komme, ſo ſchlug ich ſein Buch nach. Aber zu meiner Verwunderung fand ich das ge— ſuchte Citat nicht. Und es iſt mir bis jetzt nicht bekannt, von wem und wann zum erſten Male jener Satz ausgeſprochen wurde. In den Opera omnia Harvey's, welche S. Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 397 im Jahre 1766 das Collegium der Lon- (euneta pariter animalia ex ovo pro- 9 P P doner Aerzte herausgab und welche außer den beiden genannten Werken noch einige Briefe enthalten, habe ich ihn nicht gefunden. Es iſt möglich, daß er in einer der bei der Plünderung des Harvey'ſchen Hauſes während des Bürgerkriegs verloren gegan— genen Schriften geſtanden hat; aber aus dem Wenigen, was man von dieſen weiß, läßt ſich kein Wahrſcheinlichkeitsgrund dafür entnehmen. Keine Angabe, daß Harvey in ſeinen Vorträgen jenes Schlagwort ge— braucht habe, ließ ſich aufſtöbern. Nun iſt aber die Behauptung ſelbſt ſo völlig im Einklang mit ſeinen Beobachtun— gen und Anſichten, daß er ſie ſehr wohl in der allgemein citirten Faſſung ausgeſprochen haben kann. Auch iſt ſchon der erſten Aus— gabe ein Titelkupfer beigegeben, welches Zeus darſtellt mit einem großen geöffneten Ei oder eiförmigen Gefäß in den Händen. Aus dieſem kommen hervor ein Kind und allerlei Thiere (ein Hirſch, ein Vogel, ein Krokodil, ein Fiſch, eine Heuſchrecke, eine Biene, eine Spinne), außerdem zwei Pflan— zen. Auf der Schale aber ſteht geſchrieben: Ex ovo omnia. In der That wiederholt Harvey oft und entſchieden, daß alle Thiere und alle Pflanzen aus Eiern hervorgehen, z. B. in der Exereitatio 1: Wir aber behaupten, daß überhaupt alle Thiere, auch die leben— diggebärenden und ſogar der Menſch ſelbſt, aus dem Ei hervorgehen; und daß ihre erſten Anlagen, aus welchen die Jungen werden, Eier ſind (ova quaedam), wie auch die Samen aller Pflanzen“. Dann: Ex. 49: „Die Unterſuchung der Zeug— ung wird durch dieſe unſere Beobachtungen ſehr erſchwert . . . am meiſten aber, wo wir dargethan haben werden, daß alle Thiere gleichmäßig aus dem Ei hervorgehen“ creari). Ferner: Ex. 63: „Wir aber haben im Ein- gang zu dieſen Unterſuchungen behauptet, daß alle Thiere in gewiſſer Weiſe aus dem Ei entſtehen“ (euneta animalia quodam mo- do ex ovo nasei affirmavimus). Endlich: Ex. 63: „Was aber die Entſtehung des Foetus betrifft, ſo entſtehen alle Thiere in derſelben Weiſe aus einer eiartigen An— fangsform (omnia animalia eodem modo ab oviformi primordio generantur); ich ſage eiartig, nicht weil dieſe Anfangsform die Geſtalt eines Eies hätte, ſondern weil ſie die Conſtitution und Beſchaffenheit des— ſelben beſitzt .. .. Und ſie iſt bei allen entweder ein Ei, oder etwas Eiartiges, was nämlich die Beſchaffenheit und die Beding- ungen des Eies aufweiſt, die auch den Pflanzenſamen mit den Thieren gemein— ſam zukommen.“ Aus dieſen und ähnlichen Aufſtellungen muß wohl das geflügelte Wort Omne vi- vum ex ovo entſtanden ſein. Wenn man nun ſagt, wie oft genug geſchieht, Harvey habe durch dieſe Lehre den zu ſeiner Zeit herrſchenden Glauben an die Urzeugung zerſtört, ſo iſt dies irrig. Vielmehr glaubt er an eine Generatio aequivoca, die er mit dieſem Namen gleich in der erſten Exereitatio nennt. Zunächſt einige Beweisſtellen. Ex. 27 heißt es: „Was ſollen wir ſagen von den Thier— chen, welche in unſerem Körper entſtehen und von denen Niemand zweifelt, daß ſie durch eine eigene Seele regiert und ernährt werden? Dieſer Art ſind die Spulwürmer, Ascariden, die Läufe, die Gnitten, die Mil- ben u. A. Oder was ſollen wir behaup— ten von den Würmchen, welche aus Pflan— zen und deren Früchten entſtehen, wie man ſie in den Galläpfeln, den Scharlach— 398 Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. beeven, den Roſenäpfeln und ſehr vielen anderen findet? Es kann allerdings faſt | ſtehen. „Bei den Inſekten ſcheint der Zu— in allen feuchtwerdenden trockenen Stoffen oder trocknenden Feuchtigkeiten ein Thier erzeugt werden (ereari potest).“ ſchichte der Thiere, 5. Bd. 32. Cap. Ferner: Lx. 28: „Einige Thiere entſtehen von ſelbſt (sponte oriuntur), oder wie man ge— wöhnlich ſagt, aus der Fäulniß.“ Ex. 50: „Die Thiere und zwar nicht weniger diejenigen, welche von ſelbſt ent— ſtehen (sponte proveniunt), als diejenigen, welche als das gemeinſchaftliche Werk des männlichen und weiblichen Individuums er— zeugt werden.“ In derſelben Exereitatio wird von den Thieren geſagt: „Einige entſtehen von ſelbſt ohne irgend welches wirkſame Eindeutige (sponte nas— euntur sine aliquo efficiente univoco d. h. ohne einer beſtimmten zoologiſchen Species anzugehören); einige durch die vereinten Bemühungen des männlichen und weiblichen Individuums; einige nur aus einem der beiden Geſchlechter; einige ver— mittelſt anderer zwiſchen beiden ſtehender Mittel, bald mehrerer, bald weniger; einige durch eindeutige Mittel (instrumentis uni— voeis); einige werden durch zweideutige Mittel (aequivoeis) und zufällig erzeugt.“ Noch an vielen anderen Stellen iſt von den durch Urzeugung oder von ſelbſt ent— ſtandenen lebenden Weſen die Rede, z. B. ſind nach der Ex. 1 dieſelben nicht aus der Fäulniß herzuleiten, ſondern casu, naturae sponte et aequivoca, ut ajunt, generatione von ihnen unähnlichen Eltern erzeugt. In der 45. Ex. ſetzt Harvey auseinander, daß bei den Inſekten „der Wurm“ durch Metamorphoſe aus dem Ei entſteht oder die erſten Anfänge derſelben aus verweſender Materie, trocknender Feuch— tigkeit oder feuchtwerdendem Trocknen ent— fall oder das Ungefähr hauptſächlich die Zeugung zu fördern. Bei ihnen entſteht die Geſtalt durch ein Vermögen der prä— Dazu wird Ariſtoteles citirt: Ge exiſtirenden Materie und die erſte Urſache der Erzeugung iſt vielmehr die Materie, als ein äußeres wirkſames Agens“ . . . .. „Alſo gewiſſe Thiere entſtehen von ſelbſt aus Materie, die von ſelbſt oder durch Zu— fall verarbeitet iſt.“. . . „Von den Bienen, Wespen, Schmetterlingen und allem, was aus einer Raupe durch Metamorphoſe erzeugt wird, heißt es, daß ſie zufällig entſtanden ſind und daher die Gattung nicht erhalten. Der Löwe aber, oder der Hahn entſteht niemals durch Zufall oder von ſelbſt.“ Solche Stellen zeigen, daß Harvey nicht etwa nur eine einſtmalige, ſondern auch eine gegenwärtige Urzeugung ausdrücklich annimmt, bei der die Fäulniß ein begün— ſtigendes Moment abgebe. Nun behauptet er aber zugleich das Omne vivum ex ovo, welches damit im Widerſpruch zu ſtehen ſcheint. Wenigſtens hat man darin einen Widerſpruch gefunden, daß alle Thiere aus dem Ei und einige Thiere durch Urzeug— ung entſtehen ſollen. Cuneta animalia ex ovo und Quae- dam animalia sponte nascuntur, ſo ſteht es geſchrieben. Man könnte den Wider— ſpruch durch äußere Umſtände zu erklären verſucht ſein. Harvey war, als er das Manuſcript ablieferte, 73 Jahre alt; dieſes Manuſcript ſelbſt iſt unvollendet geblieben, da auf ſpätere Abſchnitte deſſelben ver— wieſen wird, welche ſich nicht vorfinden. Zu dem kommt, daß des Verfaſſers Freund Dr. Ent die Arbeit veröffentlichte, ohne ſie Harvey vor dem Druck noch einmal zur Reviſion zuzuſtellen; er erklärt in der De— dicatio alle Mühe der Herausgabe auf ſich Die Planetenbewohner, Von Carl du Prel. DS 2 ſuchung über die Bewohnbarkeit der Geſtirne n) find Vermuth- ungen über die Natur ihrer Be- wohner. Noch im Jahre 1834 glaubte A. Comte, der doch vom Fort— ſchritte des menſchlichen Geiſtes nicht gering dachte, bezüglich der Geſtirne behaupten zu dürfen: „Nous concevons la possibilite de déterminer leurs formes, leurs dis- tances, leurs grandeurs et leurs mouve- ments, tandis que nous ne saurions jamais etudier par aueun moyen leur composition chimique, ou leur structure minéralo— gique, et, a plus forte raison, la nature des corps organisés qui vivent à leur surface“. (Phil. posit. II. 6). Aber das Be— ginnen Newton's, der die phyſiſche Aſtro— nomie begründete, indem er die irdiſche Schwerkraft als Attraktion auf den ganzen Kosmos übertrug, hat ſeine natürliche Fort— ſetzung gefunden in der Entdeckung der Spektralanalyſe. In der Gravitation hat Newton die gemeinſchaftliche Urſache der von Kepler entdeckten Geſetze planetariſcher 9 Vergl. Kosmos, Band III. S. 1. Kosmos, Band III. Heft 5. ngleich feſſelnder als die Unter⸗ Bewegung gefunden; in der Spektralana— lyſe aber find die Geſetze der irdiſchen Phy— ſik auch auf die übrigen Erſcheinungen an den Geſtirnen, außer ihren Bewegungen, ausgedehnt und der Beweis iſt geliefert wor— den, daß Materie von gleicher Natur, wie die irdiſche, und den gleichen Geſetzen un— terworfen, durch den ganzen Raum aus— gebreitet iſt. Somit iſt erreicht, was noch Comte für unerreichbar hielt: wir ſind über die chemiſchen Beſtandtheile der Geſtirne unterrichtet. Damit iſt aber zugleich eine ſolide Baſis gelegt für die weitere Unter— ſuchung nach der Natur der Planetenbe— wohner; denn nicht für die Geſtirne, ſondern durch dieſelben, d. h. durch die auf ihren reſpectiven Oberflächen vorhandenen Ver— hältniſſe iſt die Organiſation ihrer etwaigen Bewohner beſtimmt. Jedwede Organiſation kann nur die Reſultante der auf ihrem Planeten vorhandenen Kräfte ſein; die Natur der Organismen kann nirgend will— kürlich gedacht werden, ſondern nur als nothwendige Wirkung der vorhandenen Materie und der den biologiſchen Proceß regulirenden Faktoren, aus welchen noth— 49 1 384 wendig die Anpaſſung an die gegebenen äußeren Verhältniſſe folgt. Alle Organis- men ſtehen in Bezug auf Form, Größe, Gewicht, Lebensdauer, Stärke der Glied— maßen, Beſchaffenheit der Sinnesorgane und des Erkenntnißvermögens, wie hinſicht⸗ lich aller phyſiologiſchen Funktionen in Ueber— einſtimmung mit dem Weltkörper, auf dem ſie wohnen. Da nun die Geſtirne trotz der Gleichheit der kosmiſchen Stoffe doch | außerordentlich verſchieden fein können in Bezug auf die Miſchungsverhältniſſe der Elemente, die Dichtigkeit ihrer Materie, und die von ihrer Größe abhängige Schwer— kraft auf ihren Oberflächen, ſo müſſen wir auch eine außerordentliche Verſchiedenheit ihrer Organismen vorausſetzen, um ſo mehr als auch die vom Abkühlungsſtadium und der Inſolation abhängige Produktionskraft der Planeten verſchiedene Proportionen der Organismen nach ſich ziehen muß, gleichwie in früheren Perioden die Erde eine viel größere Triebkraft entfaltete, Reichthum und Größe der Organismen bedeutender war, und die heißen Zonen noch jetzt in dieſer Hinſicht ſich auszeichnen. Sehen wir aber ſchon auf der Erde durch die außer— ordentliche Mannigfaltigkeit der Anpaſſung einen unüberſehbaren Reichthum an Organi— ſationsformen herbeigeführt, ſo müſſen wir jeder Hoffnung entſagen, etwa eine inter— planetariſche vergleichende Anatomie und Phyſiologie überſehen zu können. Das Leben, wo es ſich auch regen mag, läßt ſich definiven als eine Aufeinander— folge ſolcher inneren Veränderungen der Organismen, durch welche das Gleichgewicht mit äußeren Verhältniſſen aufrecht erhalten wird. undenkbar, wenn die Organismen aus ho— mogenen Stoffen beſtänden, und immer den gleichen Einwirkungen ausgeſetzt wären. Das Phänomen des Lebens wäre du Prel, Die Planetenbewohner. Die Stoffe, aus welchen lebende Weſen zuſammengeſetzt ſind, müſſen alſo durch große Beweglichkeit ihrer Moleküle und die Fähigkeit, verſchiedene Zuſtände anzunehmen, ſich auszeichnen. Dieſe Eigenſchaft kommt den ſogen. organiſchen Verbindungen, die aus Kohlenſtoff, Waſſerſtoff, Sauerſtoff und Stickſtoff beſtehen, in hohem Grade zu. Die Kohlenwaſſerſtoffe gehören zu den un— beſtändigſten Verbindungen, und Protein, der weſentlichſte Stoff, aus welchem Or— ganismen beſtehen, zeichnet ſich nicht nur durch große Mannigfaltigkeit ſeiner Meta— morphoſen, ſondern auch durch die Leichtig— keit aus, womit er ſie vollzieht; er vermag eine ungemein große Anzahl von Verbin— dungen einzugehen. Die Spektralanalyſe weiſt nun aber die genannten chemiſchen Elemente in allen Gegenden des Himmels nach, und auch die Beſtandtheile unſerer Oceane, in deren Tiefen das irdiſche Leben entſtand, Waſſer, Natrium, Magneſium u. ſ. w., ſind im ganzen Raume verbreitet. Aus denſelben ſogenann— ten Organogenen werden demnach wohl auch die Organismen aller jener Planeten zuſammengeſetzt ſein, welche ſich im gleichen Abkühlungsſtadium befinden; auch ihre Or— ganismen müſſen ſtofflich befähigt ſein, die einwirkenden äußeren Kräfte wahrzunehmen und auf dieſelben im Sinne der Erhaltung des Gleichgewichts zu reagiren; auf die dauernden Einflüſſe werden die Individuen direct durch ihre Funktionsweiſe reagiren, während von nicht conſtanten Einwirkungen die ganze Species als ſolche betroffen wird, indem eben die Individuen beſeitigt werden, welche ſich mit ſolchen Factoren nicht in's Gleichgewicht zu ſetzen vermögen. Die äußeren Bedingungen aber, unter welchen die Beweglichkeit organiſcher Stoffe auf Erden möglich iſt, müſſen auch für alle du Prel, Die Planetenbewohner. 385 Planeten in dieſem Sinne beſtimmend ſein, nämlich Licht und Wärme der reſpectiven Centralkörper. Wie uns nun in den Reiſeberichten über unbekannte Länder beſonders die Frage nach der Kultur der Bewohner intereſſirt, ſo auch bezüglich der Bewohner anderer Welten, vor Allem die Frage nach ihrer intellektuellen Natur. Sind aber alle Völ— kerſchaften, von welchen das Zeitalter der Entdeckungen uns Kunde gebracht hat, trotz ihrer Verſchiedenheit doch in Bezug auf das Grundgerüſte des Denkens in Ueber— einſtimmung gefunden worden, ſo daß ſie als Objekte der Anthropologie ſich einſtel— len ließen, indem ſie nur verſchiedene Pha— ſen menſchlicher Entwicklung darſtellten, ſo kann dagegen auf vielen Planeten nicht nur wegen ihres Altersunterſchiedes, ſondern auch darum eine höhere Stufe des Be— wußtſeins angenommen werden, weil die Intenſität ihrer biologiſchen Entwickelung ſehr verſchieden ſein kann. Aber auch durch größere Energie des Individualwillens kön— nen andere Planetenbewohner zu höheren Leiſtungen befähigt ſein, wenn eine ſolche als Anpaſſung an die Exiſtenzverhältniſſe nöthig werden ſollte. Denn es heißt wohl die Urſache mit der Wirkung ver— wechſeln, wenn Vauvenargues jagt: „Le monde est ce qu'il doit &tre pour un ätre actif, c’est-a-dire fertil en obstaeles.“ Mangel an Wechſel aller Art eine Art Erſtarrung eingetreten, während in der alten Welt vermöge ihrer großen Aus— dehnung auch ein lebhafter, für Erzeugung von Arten günſtiger Migrationsproceß und energiſcher Kampf ums Daſein eintrat. (Peſchel, Völkerkunde, S. 346— 47.) Wäh⸗ rend alſo auf Inſeln eben wegen ihrer fried— licheren Verhältniſſe allmälig Erſtarrung und conſervative Anpaſſung erfolgen muß, wird auf großen Flächenräumen aus großen Wanderungen nicht nur biologiſch, ſondern auch geſchichtlich ein energiſcher Fortſchritt ſich ergeben. Wir werden auch vorausſetzen dürfen, daß das Leben im Kosmos nur als Stoffwechſel auftreten kann, indem Nahr— ungsſtoffe in organiſche Stoffe verwandelt werden, wenn wir auch nicht genöthigt ſind, dieſes Verhältniß, das unſere Erde zum beſtändigen Kampfplatze der Orga— nismen macht und — wie die paläonto— logiſchen Funde beweiſen — beſtändig ge— macht hat, nach Analogie irdiſcher Verhält— niſſe ſo zu denken, als ob überall die Aſſimilation der Nahrungsſtoffe durch Kau— thätigkeit, Verſchlingen und Umwandlung in Chymus ſtattfinde, deſſen nichtaſſimi— lirbare Beſtandtheile wieder abgeführt werden. Die Nothwendigkeit, aus den aufgenommenen Stoffen wieder unbrauchbare auszuſcheiden, kann als noch mangelhafte Anpaſſung un— Nach der Analogie der irdiſchen Ver- hältniſſe auf den verſchiedenen Continenten dürfen wir vorausſetzen, daß die Intenfität | der Entwickelung unter ſonſt gleichen Um- ſtänden im Verhältniß zur Oberflächen- ausdehnung der Planeten ſteht. So iſt in Auſtralien, das ſich vom Feſtlande los- löſte, als ſeine Entwickelung bis zu den Beutelthieren vorgeſchritten war, bei dem ſerer Organiſation an die äußeren Ver— hältniſſe angeſehen werden (2 R.) und andere Weſen können befähigt ſein, ausſchließlich aſſimilirbare Stoffe in irgend einer Weiſe in ſich aufzunehmen. Wir können uns Weſen vorſtellen, welche die zur Erſetzung der Gewebe nöthigen Stoffe durch Poren und ausſchließlich aus der Atmoſphäre be— ziehen. Würde dadurch der Kampf ums Daſein, aber auch wohl die Entwickelung, — — — ſ—ü—ü —ö—ẽ—— [ ů—̃p— 386 viel von der irdiſchen Intenſität verlieren, ſo kann er auf anderen Planeten wiederum energiſcher ſein, wenn die reſpektiven At— moſphären gar keine Erſatzſtoffe enthalten ſollten und der ganze Verbrauch durch eigentliche Ernährung zu decken wäre. Die Frage nach der Bewußtſeinsform und Bewußtſeinshöhe der Planetenbewohner führt uns aber weit hinaus über das Ge— biet der Biologie und Anthropologie in das Gebiet der Erkenntnißtheorie hinein. Nicht nur morphologiſch und phyſiolo— giſch, ſondern auch in Bezug auf die Sinne und das Erkenntnißorgan werden wir als das Weſen des biologiſchen Proceſſes die allmälige und geſteigerte Aupaſſung an die Realität bezeichnen können. Gleich jedem Organe müſſen auch die Wahrnehmungs- organe und der Intellekt ins Gleichgewicht mit der Außenwelt ſich ſetzen. Wir wiſſen, daß dieſe von Organanfängen ausgegangen find *) und haben durchaus keinen Grund anzunehmen, daß dieſer Anpaſſungsproceß in der Menſchheit ſeine höchſte Spitze er— reicht habe. Bei den Bewohnern günſtiger angelegter Planeten können Denken und Sein in viel größerer Uebereinſtimmung ſtehen, als auf Erden. Unſere Außenwelt iſt phänomenal, ſie iſt eine Wahrnehmung unſeres Geiſtes, und nicht die wirkliche Natur der Dinge, ſondern nur den Schein des Wirklichen verrathen uns unſere Sinne. Die Welt iſt unſere Vorſtellung. Wir nennen un— berechtigter Weiſe unſere Sinnesempfindun— gen Qualitäten der Dinge, und glauben unmittelbar eine Außenwelt zu erfaſſen, während wir doch in ihrer Wahrnehmung aus unſerer Subjektivität gar nicht heraus kommen, und nur den Reaktionsmodus unſerer Sinne auf äußere Eindrücke kennen Kosmos, I. S. 94, 201. s 26 du Prel, Die Planetenbewohner. lernen. Nur das läßt ſich mit Beſtimmt— heit vorausſetzen, daß, weil die Entwickel— ung der Sinne und des Verſtandes nur im Sinne der Anpaſſung an die Realität Rgeſchehen kann, die Verknüpfung der Wahr- nehmungen und Vorſtellungen den objektiven Geſetzen der Verknüpfung der Dinge mehr oder minder entſprechen muß. Bei aller Verſchiedenheit zwiſchen unſeren Empfind— ungen und den Vorgängen der Natur, durch welche ſie erzeugt werden, kann doch von einem Betruge, den die Natur uns ſpiele, nicht die Rede ſein, ſondern die Nöthigung der Organismen, ihr Daſein zu erhalten, muß ſolche Sinne und einen ſolchen Intellekt zur Ausbildung kommen laſſen, wodurch eine wirkliche Orientirung in Bezug auf die Außenwelt ſtattfindet. Das Wie dieſer Orientirung iſt aber fraglich und gleichgültig; es iſt durchaus nicht nöthig, daß die Dinge und ihre Bor- ſtellungen identiſch ſeien. Gehör und Ge— ſicht orientiren uns, trotzdem gar keine Aehnlichkeit beſteht zwiſchen den objektiven Schwingungszahlen der Luft und des Aethers und den daraus folgenden ſubjektiven Em— pfindungen, die wir Ton oder Farbe nennen. Der Taſtſinn würde uns andere Vorſtell— ungen liefern über Härte, ja ſelbſt über die Geſtalt der Dinge, wenn unſere Horn— haut anders beſchaffen wäre; gleichwohl iſt er uns nützlich. Indem alſo die Sinne uns zwar von äußeren Eindrücken benach— richtigen, aber dieſelben in ganz veränder— ter Geſtalt dem Bewußtſein überliefern, ſind es nicht die Eigenthümlichkeiten der Dinge, ſondern die unſerer Organe, wovon wir unterrichtet werden. Dies zeigt ſich ſehr auffallend, wenn mehrere Sinne von der gleichen Einwirkung betroffen werden, wenn das Auge den Sonnenſtrahl als Licht, die Haut als Wärme empfindet, a Si II Ts rr... ͤ —...—— ß du Prel, Die Planetenbewohner. 387 Empfindung erfährt durch einen elektriſchen Strom, den der Geſchmack als Säure, das Auge als Licht wahrnimmt. Das dem Auge ſichtbare Spektrum der Sonne giebt die Regenbogenfarben: Roth, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo, Violet. Es iſt aber nachweisbar, daß der zerlegte Sonnenſtrahl noch mehr Strahlen enthält, als welche die Netzhaut reizen. Das Auge iſt nur für ein Intervall der wirklich vorhandenen Strahlen empfänglich. Jenſeits des rothen Endes finden ſich un— ſichtbare Strahlen, welche wärmen, jenſeits des violetten Endes ſolche, welche chemiſch wirken und nur dann ſichtbar werden, wenn man ſie etwa auf Uranglas auffängt. Der chemiſche Theil des Spektrums iſt ſo— gar länger, als der ſichtbare Theil. Wenn aber ſchon von den Strahlen, welche nach— weisbar find, nur etwa ½ uns ſichtbar wird, ſo iſt die Zahl derjenigen, welche nachzuweiſen wir keine Hilfsmittel beſitzen, uns ganz unbekannt. Weil nun die Sichtbarkeit der Strahlen nicht von ihnen ſelbſt, ſondern vom Auge ab— hängig iſt, ſo können wir uns auch recht wohl Weſen vorſtellen, welche ganz andere Be— ſtandtheile des Sonnenſpektrums ſehen, als wir, und da dieſe Weſen an den Dingen alle jene Eigenthümlichkeiten erkennen wür— den, welche auf dieſen Strahlen beruhen, ſo iſt gar nicht zu beſtimmen, welchen Um— fang ihr Wiſſen über dieſe Dinge hierdurch gewinnt; denn auch unſer Wiſſen würde viel umfangreicher ſein, wenn unſere Sinne uns orientiren würden über die ganze Länge des Spektrums ohne jede Lücke. Da die Unterſchiede der Schwingungen, in deren Wahrnehmung unſere verſchiedenen Sinne ſich theilen, nur quantitativer Na- tur ſind, ſo würde durch eine bloße Mo— | oder wenn der Hautnerv eine brennende difikation unſerer Sinne eine Verſchiebung der jedem einzelnen Sinne zugetheilten Intervalle denkbar ſein, der Art, daß wir als Wärme empfänden, was uns Ton iſt, daß wir hören würden, was wir als Licht und Farbe empfinden, oder umgekehrt, daß wir ſähen, was wir hören. Aber nicht nur Modifikationen unſerer Sinne, ſondern auch ganz andere Sinne ſind denkbar. Wenn wir keinen Sinn be— ſitzen für die Erſcheinungen des Magnetis— mus, der Elektricität und der chemiſchen Affinität, ſo kann doch der Anpaſſungs— proceß anderer Weſen vollkommener ſein, ſo, daß ſie auch dieſe Vorgänge wahrneh— men; oder er kann der Art ſein, daß ihnen vielleicht der Theil der Wirklichkeit, den wir empfinden, ganz verſchloſſen iſt, daß ſie dagegen befähigt ſind, nur die Vor— gänge zu erfaßen, die wir nicht zu em— pfinden vermögen. Solche Weſen, welche vielleicht nichts von dem wiſſen, was unſere Geſammtſinne offenbaren, würden eine durchaus andere Welt vorſtellen, die doch nur das Ergänzungsſtück zu der unſrigen wäre. So gut als es Bewegungsarten des Aethers geben mag, von welchen wir nichts wiſſen, und die Anzahl derſelben vielleicht von ſehr großer Mannigfaltigkeit ſein kann, ſo gut iſt auch eine Anpaſſung an dieſel— ben denkbar, kann es alſo Weſen geben, welche dieſelben wahrnehmen. Unendliche Möglichkeiten von Empfindungen können im Univerſum gegeben ſein, die uns ſo unbegreiflich erſcheinen würden, als dem Blindgebornen das Weſen des Lichts un— begreiflich ſein muß und die den damit begabten Weſen einen Zuwachs an Intelli— genz gewähren, der vielleicht größer iſt, als der Zuwachs, den unſere niederen Sinne durch die Fähigkeiten des Geſichts erhalten; denn wir dürfen weder die Menſchheit als * 388 die höchſte Stufe biologiſcher Entwickelung anſehen, noch die Erde als jenen Planeten, auf welchem die günſtigſten Bedingungen für den Lebensproceß vorhanden ſind, noch überhaupt die Welt, der wir angepaßt ſind, als die ganze Welt. Wenn es Kräfte giebt, die auf uns nicht einwirken, ſo kann es auch Weſen geben, unempfindlich für das, was wir empfinden, welche vielleicht in Medien leben, in welchen irdiſche Or— ganismen nicht exiſtenzfähig wären und deren Leben ſich beſchränkt auf Regionen, wo die uns unbekannten Schwingungen geſchehen — wodurch freilich unſere Träume von der Bewohnbarkeit der Welten eine namhafte Erweiterung erfahren würden. Die Wirklichkeit iſt alſo möglicherweiſe reicher, als die Vorſtellung. Die von uns vorgeſtellte Welt iſt nicht nur ein bloßer Bruch— theil der wirklichen Welt, ſondern es werden auch diejenigen Vorgänge, welche in der That auf uns einwirken, in der Reaktion unſerer Sinne in einer Weiſe verwandelt, daß ihnen gleichſam nur eine ſymboliſche Bedeutung zukommt. Aber dieſes genügt auch für die praktiſchen Zwecke des Da— ſeins; für den Zweck der Orientirung genügt die Conſtanz der Wirkungs— weiſe der Natur und die dieſer ent— ſprechende Conſtanz der Reaktions- weiſe der Sinne, während das Wie der Reaktion, die Anzahl der Sinne und ihre beſtimmte Beſchaffenheit gleichgültig iſt. Bei der Mannigfaltigkeit der uns viel— leicht zum größten Theile unbekannten Vor— gänge der Natur und wiederum bei den zahlreichen Möglichkeiten, dieſe Vorgänge in der einen oder anderen Art wahrzu— nehmen, kann freilich die Frage nach der geiſtigen Natur der Bewohner anderer Welten nur eine noch ungenügendere Ant— wort erhalten; und mag auch die Orien— du Prel, Die Planetenbewohner. tirungsweiſe, wie ſie für die irdiſchen Ge— ſchöpfe gültig iſt, auf anderen Geſtirnen ſich Häufig finden, ſo ſtellt fie doch vielleicht nur eine Phaſe in der Entwickelung des kosmiſchen Lebens dar, in welcher durch allmälige Ausbildung ganz neuer Sinne der Lebeweſen eine völlig anders geſtaltete Welt aufſteigen würde, während mit dem Verluſte ſolcher Sinne, wie wir ſie beſitzen, auch die Welt, die wir vorſtellen, allmählig verſinken würde. Aber nicht nur von der Beſchaffenheit unſerer Sinnesorgane hängt die Geſtalt— ung der Welt ab, die wir vorſtellen, ſon— dern auch von der Raſchheit unſerer Auf— faſſungsgabe, d. h. von der Fähigkeit, innerhalb einer gegebenen Zeit einer größeren oder geringeren Menge von Eindrücken uns bewußt zu werden. Unſere Natur geſtattet uns, 6—10 Wahrnehmungen in einer Sekunde zu erfaſſen. Dieſes uns angeborene ſubjektive Zeitmaß, welches die Anzahl der Reaktionen unſerer Sinne inner— halb einer gegebenen Zeit regelt, beſtimmt auch ganz und gar die ſubjektive Dauer unſeres Lebens, welche auf der Menge unſerer Empfindungen beruht. Wie ganz anders würde ſich aber die Welt ſolchen Weſen darſtellen, welche, ſelbſt wenn ſie im Uebrigen unſere Sinne hätten, ein anderes ſubjektives Zeitmaß in ſich trügen, welche einer längeren, oder kürzeren Zeit bedürf— ten, als wir, um ſich eines Sinneseindrucks bewußt zu werden, oder bei welchen auch nur die Zeit, während welcher ein Ein— druck beharrt, eine verſchiedene wäre! Eine Flintenkugel, die an uns vor— überfliegt, können wir im Laufe nicht ver— folgen, weil ſie an keiner Stelle lange genug verweilt, um den Eindruck auf unſer Auge zu vollziehen. Es entgehen uns alſo alle Veränderungen irdiſcher Dinge, in deren Aufeinanderfolge eine gewiſſe Langſamkeit nicht eingehalten wird. Je nachdem wir uns unſer ſubjektives Zeit— maß verändert denken, würden wir einen viel größeren Reichthum von Erſcheinungen, oder eine viel geringere Summe von Ver— änderungen in der Außenwelt wahrnehmen. Wir können uns Weſen träumen, welchen die kriechende Schnecke unſichtbar wäre, wie uns die fliegende Flintenkugel, oder welchen von den Geſtirnen nur ſolche von lang— ſamerer Bewegung ſichtbar wären, und andere Weſen, welche die Schnelligkeit des elektriſchen Stromes mit dem Auge wahr— nehmen würden; Weſen, welchen Dinge plötzlich ins Daſein treten, deren allmä— liges Wachsthum wir erkennen, und andere, in deren Bewußtſein keine Veränderung eines Dinges vor ſich gehen würde, das uns innerhalb der gleichen Beobachtungszeit in beſtändiger Wandlung begriffen erſcheint. Wo wir continuirliche Veränderung erken- nen, könnten andere Weſen ſprungweiſe Entwickelung ſehen, und wo für uns an— ſcheinende Starrheit vorhanden iſt, wie beim Anblick eines Obelisken, könnte ein anderes Bewußtſein an der Oberfläche des— ſelben die minimalen Veränderungen in jedem Zeittheilchen wahrnehmen. Eine glühende Sternſchnuppe, welche gegen die Erde fällt, ſehen wir nicht als leuchtende Maſſe, was ſie iſt, ſondern als Feuerlinie, weil der Eindruck, den ſie her— vorruft, wenn ſie beim Eintritt in die At— moſphäre erglüht, noch anhält, wenn ſie bereits das Endſtück der von uns geſehenen Feuerbahn erreicht hat; wir würden alſo eine ganz andere Welt auch dann ſehen, wenn die Zeit, während welcher unſere Sinneseindrücke beharren, verlängert oder verkürzt würde. Nehmen wir einen Stab mit glühendem du Prel, Die Blanetenbewohner. 389 Ende zur Hand, den wir im Dunkel mit großer Raſchheit kreisförmig ſchwingen, ſo erſcheint uns aus dem gleichen Grunde ein glühender Ring. So würde aber auch, wie Bär bemerkt (Reden, I. S. 259), die Sonne ſolchen Weſen erſcheinen, deren ſubjektives Zeitmaß ſtatt /ů — J Secunde, wie bei uns, etwa 2 Tage wären. Dieſe würden nicht ein leuchtendes Geſtirn am Himmel ſehen, ſondern einen leuchtenden Bogen, der ſich nach den Jahreszeiten hebt und ſenkt und auch Nachts nicht verſchwin— den würde, weil der Eindruck des hellen Lichts viel länger andauert, als der Ein— druck der Dunkelheit. Höchſtens würden dieſe Weſen eine regelmäßig wiederkehrende momentane Abſchwächung dieſes Bogenlich— tes bemerken, eine Art continuirlichen Wetter- leuchtens mit zuckendem Lichte. Würden nun dieſe Weſen zur Schule der Materia— liſten gehören, auf dem Standpunkte des naiven Realismus ſtehen und demgemäß an die Objektivität dieſes Feuerbogens glauben, ſo würden ſie in der Erklärung dieſer Erſcheinung ſchließlich auf unlösliche. Antinomien ſtoßen, und nur wenn ſie dieſen Standpunkt aufgeben, könnte es ihnen bei entſprechendem Scharfſinne gelingen, den trügeriſchen Schein zu erkennen, der ſie umfängt, wie Kopernikus die Beweg— ung der Sonne als trügeriſchen Schein er— kannte, weil unter der Vorausſetzung der— ſelben immer neue Verwickelungen dem menſchlichen Denken ſich boten. Würde dagegen das Zeitmaß verkürzt werden, das wir brauchen, um uns eines Eindrucks bewußt zu werden, ſo würde z. B. ein Gehörorgan, wie wir es beſitzen, ſeinen Träger ganz anders orientiren: Was wir tiefe Töne nennen, wäre ihm unhörbar, unſere hohen Töne wären tiefe für ihn, ja bei ſehr ſtarker Verkürzung des Zeit— du Prel, Die Planetenbewohner. | daß jeder Wahrnehmung ein ſubjektiver Antheil zukommt, daß zwar das Objekt 7 390 maßes würde er hohe Töne hören, wenn wir von einer Wärmeempfindung reden, die höchſten Töne, wenn wir behaupten, einen farbigen Gegenſtand zu ſehen. So würde alſo die ganze Natur ein anderes Ausſehen gewinnen, je nachdem die Zeit, innerhalb deren wir ſinnlich wahr— zunehmen vermögen, verkürzt oder verlän— gert würde; Vorgänge, welche unſerer Or— ganiſation offenbar werden, würden nicht erfahren werden, und wiederum würden uns andere wahrnehmbar werden, die uns verſchloſſen ſind. Die ſo verſchiedenartigen Einwirkungen der äußeren Kräfte auf ein Weſen würden daſſelbe noch nicht zur Orientirung befähi— gen, wenn dieſelben nicht zuſammengehalten, nicht bezogen würden auf ein einheitliches Bewußtſein, als den Vereinigungspunkt aller jener Empfindungen, welche bei unſerer Organiſation, iſolirt vom Auge, Ohre und dem Gefühle, überliefert werden. Der Einheitlichkeit der Außenwelt muß für lebende Weſen eine einheitliche Subjektivität entſprechen. Demnach dürfen wir auch für die Bewohner anderer Welten ein Organ voraus ſetzen, welches entſprechend unſerem Intellekt, in dieſer combinatoriſchen Weiſe als Sammelpunkt der Empfindungen fun— girt, nur daß je nach den Empfindungen, für welche ſolche Weſen empfänglich ſind, dieſes Organ auch ganz anderer Art ſein kann, als unſer Intellekt. Gleich den Sinnen muß auch dieſer Intellekt einem Anpaſſungs— proceſſe an die Wirklichkeit unterliegen, und wenn ſelbſt auf anderen Planeten der bio— logiſche Proceß dem auf der Erde voll— ſtändig gleichen würde, ſo wären doch für ihre Bewohner ganz verſchiedene Stadien des Anpaſſungsproceſſes ihres Verſtandes an die Wirklichkeit anzunehmen. Die Erkenntnißtheorie weiſt alſo nach, reicher iſt, als die Vorſtellung deſſelben, und mehr enthält, als wahrgenommen wird, daß aber andererſeits jede Wahrnehmung Beſtandtheile enthält, welche dem Objekte nicht zukommen, alſo reicher iſt, als dieſes; denn die phyſiſchen Kräfte und Beweg— ungen in der Außenwelt, welche unſere peripheriſchen Sinne treffen und Empfind— ungen hervorrufen, haben gar keine Aehn— lichkeit mit der Weiſe, womit wir phyſiſch auf ſie reagiren. Wenn aber unſere Sinne nach Herak— lit's Ausdruck „Lügenſchmiede“ ſind, und andere Sinne ein ganz anderes Weltbild liefern würden, wenn ferner gleich den Sinnen auch unſer Intellekt nur in einem Stadium eines Anpaſſungsproceſſes an die Wirklichkeit ſich befindet, über welches die Bewohner unzähliger Welten längſt hinaus— gekommen ſein mögen; wenn alſo das menſchliche Bewußtſein nur eine Form des kosmiſchen Bewußtſeins iſt, dann kann die Frage nach der geiſtigen Natur der Plane— tenbewohner nicht ſo beantwortet werden, daß wir die innerhalb der irdiſchen Orga— nismenreife blos graduelle Verſchiedenheit der ſinnlichen Fähigkeiten und des Ver— ſtandes auch für andere Weltkörper nur graduell verſchieden, nur verringert oder ge— ſteigert uns denken, ſondern wir müſſen auch die Möglichkeit einer ganz anderen Erkennt— niß, der Qualität nach, anerkennen. Aber jeder intellektuelle Fortſchritt auf jedem Planeten kann nur dahin zielen, das Den— ken in immer größere Uebereinſtimmung mit den Dingen zu bringen. Mit dem gleichen Scepticismus, womit wir die Einflüſterungen unſerer Sinne auf- nehmen, dürfen wir auch den Ausſagen des Verſtandes gegenüber mißtrauiſch ſein; zu nehmen und nur die Rolle eines Ge— burtshelfers zu ſpielen, nachdem ihm Har— vey anheimgegeben habe, das Werk zu veröffentlichen oder nicht. Er durfte mit demſelben nach Belieben ſchalten und walten. Dieſe Thatſachen würden ſich allerdings zur Erklärung von Widerſprüchen verwer— then laſſen. nicht mehr ſo kritiſch wie der 50 jährige Entdecker des Kreislaufs, und ſein Freund nicht der gewiſſenhafte pietätvolle Ent ge— weſen, man könnte an Nachläſſigkeit und Textänderungen glauben. Nun verſichert aber Haller, das Buch ſei ſchon 1633 ge— ſchrieben worden und Harvey blieb be— kanntlich bis zu ſeinem Tode im achtzigſten Lebensjahre vollkommen geiſtesfriſch und immer dem Wahlſpruch getreu: Pauca sed matura. Unvollendet mag man ſeine Ar— beit, die Ent, ſein begeiſterter Verehrer, ihm entriß, wohl nennen, weil die Embryo logie der Inſekten u. A. ihr nicht den be— abſichtigten Abſchluß gab, aber unlogiſch iſt das Werk, wie es vorliegt, nicht. Viel— mehr ſteht es da als ein Denkmal eiſernen Fleißes und die reife Frucht vieljährigen Nachdenkens über ein ſcharf abgegrenztes Gebiet. Die Grabſchrift übertreibt nicht, wenn ſie ſagt: Ortum et generationem animalium solus omnium a pseudophilo— sophia liberavit. Seit Ariſtoteles war kein ähnlicher Forſcher aufgetreten. Er be— freite ſeine Zeitgenoſſen von dem geduldig ſondern er will damit ſagen, daß deren Eier Er be⸗ ertragenen Joche der Scholaſtik, er brachte Thatſachen, nicht bloße Annahmen. obachtete und experimentirte auf einem Ge— biete, auf dem noch niemals experimentirt worden war, nämlich mit ungeborenen Thie— ren. Er vertraute der Ueberlieferung in keinem Punkte und begründete die empiriſche experimentale phyſiologiſche Methodik, indem er die Nothwendigkeit eigener Wahrnehm— Kosmos, Band III. Heft 5. Wäre der greiſe Harvey Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 399 ung hervorhob. So betrachtete er z. B. von allen Menſchen zuerſt das eröffnete Ei mit dem Vergrößerungsglaſe und ſah na— türlich auch mehr als ſeine Vorgänger. Aber wenn er auch mit dem vollen Be— wußtſein des Gegenſatzes, in den er ſich dadurch zu allem Hergebrachten ſtellte, die empiriſche Methode vertrat, ſo beſchränkte er ſich doch nicht auf das Detail, vielmehr hat er kühn allgemeine Sätze aufgeſtellt, zu denen ſeine Beobachtungen ihn führten. Er als der erſte ſprach als ein Grundge— ſetz aus, daß alle Thiere in ihren erſten Entwickelungsſtadien ſich gleichen, ſo ver— ſchieden ſie auch ſpäter werden und ſo ver— ſchieden ſie auch innerlich ſeien. Und ein ſolcher Mann, deſſen Genius die Dunkelheit eines Jahrtauſends zerſtreute, ſollte wirklich einen ſolchen Widerſpruch ſich haben zu Schulden kommen laſſen, wie ſeine Kritiker behaupten? in ſeinem epochemachen— den Werk über die Erzeugung der Thiere zugleich die Entwicklung aller aus dem Eie und die Entwicklung einiger nicht aus dem Ei behauptet haben? Ich bin zu dem Ergebniß gelangt, daß der Widerſpruch nicht in Wahrheit exiſtirt. Er iſt nur durch das Mißverſtehen des Wortes ovum einerſeits und sponte anderer— ſeits entſtanden. Wenn Harvey ſagt cuncta animalia ex ovo und dann quaedam ani- malia sponte nascuntur, jo jagt er damit keineswegs, daß letztere nicht ex ovo ſtammen, oder eiartige Anfänge von ſelbſt, d. h. nicht durch geſchlechtliche Zeugung und nicht in allen Fällen von präexiſtirenden Organis- men hervorgebracht und nicht in der Weiſe befruchtet ſind, wie es bei Thieren der Fall iſt, die eine Art bilden (univocum prin- eipium). Folgende Stelle giebt hierüber unzweideutigen Aufſchluß: 51 | 8 Ex. 62: „Dieſen allen aber (mögen ſie von ſelbſt, oder aus anderen, oder in anderen, in deren verweſenden Theilen oder Excre— menten entſtehen) iſt gemeinſam, daß ſie aus einem dazu geeigneten Aufänglichen (principium) durch eine innere in ihm wirkende Urſache entwickelt werden, ſo daß allen lebenden Weſen ein Urſprüngliches zu Grunde liegt, aus welchem und von welchem ſie herſtammen. Es ſei uns geſtattet, dieſes das vegetale Ur— ſprüngliche zu nennen, nämlich eine gewiſſe körperliche Subſtanz, welche lebensfähig iſt, oder etwas für ſich Exiſtirendes, das ge— eignet iſt, in die vegetative Form durch die Thätigkeit des inneren Princips verwandelt zu werden. Was nämlich als Urſprung das Ei und der Samen der Pflanzen iſt, iſt auch das Empfängnißproduct der Leben— diggebärenden und der von Ariſtoteles ſo genannte Wurm der Inſekten. Denn die Anfänge der verſchiedenen lebenden Weſen find verſchieden (diversa seilicet diver- sorum viventium primordia), und ihrer mannigfaltigen Verſchiedenheit dienen bald dieſe, bald jene Arten der Erzeugung der Thiere. Aber in dem einen Punkt ſtimmen alle überein, daß ſie aus einem vegetalen Anfang entſpringen, als einer mit dem Vermögen der Entwicklung begabten Materie (tanquam e materia efficientis virtute dotata). Sie unterſcheiden ſich aber darin von einander, daß dieſe Anfangsform ent— weder von ſelbſt und zufällig auftritt oder von einem anderen Präexiſtirenden, wie eine Frucht, herſtammt. Daher jene von ſelbſt entſtanden, dieſe von Eltern erzeugt heißen. Und wiederum unterſcheiden ſie ſich durch die Geburt: die einen ſind ovipar, die anderen vivipar, denen Ariſtoteles die Vermiparen zu— geſellt. Wenn man aber danach, wie die Sache für die Beobachtung ſich verhält, 400 Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. unterſcheiden ſoll, ſo giebt es nur zwei Arten der Geburt, weil alle Thiere ein neues Thier entweder aktuell oder potentiell gebären. Diejenigen, welche ein aktuelles Thier gebären, heißen lebendiggebärend, die ein potentielles Gebärenden eierlegend. Denn jedwede potentielhlebende Anfangs— form muß Ei genannt werden, ſo urtheilen wir mit Fabricius (ab Aqua- pendente). Und den Wurm im Sinne des Ariſtoteles trennen wir durchaus nicht vom Ei, erſtens weil er augenſcheinlich ſo ſich verhält, zweitens weil das mit der Ver— nunft im Einklang ſcheint. Denn die vegetale Anfangsform, mit potentiellem Leben (quod potentia vivit), iſt auch fähig, ein Thier zu werden (est etiam potentia animal). Auch iſt die von Ariſtoteles aufgeſtellte Unterſcheidung zwiſchen Ei und Wurm un— zuläſſig. . . Darin ſtimmen beide überein, daß ſie nicht lebende Gebärprodukte ſind, ſondern nur potentiell Thiere. Beide ſind alſo Eier.“ Hier iſt Harvey's Anſicht klar dargelegt. Das vegetale Primordium, die Anfangs— form, aus welcher alles Lebende letzter In— ſtanz hervorgeht, heißt heutzutage gewöhn— lich Protoplasma. Dieſes wird fähig ein Thier oder eine Pflanze zu werden, iſt potentiell Thier oder Pflanze. Es heißt dann Ei. Das lebensfähige Primordium, Ei genannt, entſteht nun, entweder indem die Materie ſich von ſelbſt und zufällig dazu verarbeitet (ova imperfecta), oder aus lebenden Weſen (ova perfecta et im- perfecta. Ex. 62). In beiden Fällen iſt das erſte Ent— wicklungsſtadium ein „Wurm“, ſo daß Har— vey nur conſequent iſt, wenn er Ex. 18 ſagt: „Wir aber werden darthun, daß die erſte Entwicklung beliebiger Thiere in der— ſelben Weiſe beginnt, daß unzweifelhaft alle P ˙ A nn Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. Thiere, auch die höchſten, in ähnlicher Weiſe aus einem Würmchen hervorgehen (e ver- miculo gigni).“ Den Unterſchied der Ent— wicklung des Wurmes (Keimes) und der „anderer“ Thiere ſieht Harvey darin, daß jener zuerſt wächſt und dann ſich geſtaltet oder in Theile gliedert, während dieſe ſchon gegliedert wachſen. In derſelben 18. Ex. heißt es: „Das iſt es, worüber wir uns wundern, daß die Anfangsformen (pri— mordia) aller Thiere, zumal der Blut— führenden (wie die des Hundes, Pferdes, Hirſches, Rindes, Huhnes, der Schlange, endlich des Menſchen ſelbſt) ſo deutlich die Geſtalt und Conſiſtenz eines Würmchens wiedergeben, das man ſie mit dem Auge nicht unterſcheiden kann.“ Aber in Wahr— heit find ihm in ihrem Inneren diversa diversorum animalium primordia, nur unerkennbar verſchieden. Die gegenwärtig immer wieder hervor— gehobene Uebereinſtimmung des Protoplasma der niederſten lebenden Weſen — zu ſeinen plantanimalia würde ſie Harvey ſtellen — der Pflanzenſamen und der Thiereier iſt in der 63. Ex. ausgeſprochen: „Was bei den von ſelbſt entftehenden Weſen das P ri— mordium heißt, heißt bei den Pflanzen der Samen, bei den eierlegenden Thieren das Ei, nämlich die körperliche Subſtanz, aus welcher durch ein bewegendes und wirken— des inneres Princip entweder ein Thier oder eine Pflanze erzeugt wird. Eben dieſes iſt bei der Erzeugung der Viviparen das erſte Empfängnißprodukt.“ Alſo alle lebenden Weſen entwickeln ſich aus dem Ei. Dieſes Ei wird entweder von vorhandenen lebenden Weſen erzeugt oder durch Urzeugung gebildet. Ex. 67: „Allen lebenden Weſen iſt ge— meinſam, daß ſie aus dem Samenkorn oder Ei entſpringen, ſei es, daß der Samen aus 401 Individuen derſelben Art ſtammt, ſei es, daß er durch Zufall anderswoher kommt.“ Vieles wird theils abſichtlich, theils zufällig erreicht, wie z. B. die Geſundheit, vieles nur abſichtlich, wie z. B. ein Haus, ſagt Die Zeugung gehöre Harvey (45. Ex.). zur erſteren Kategorie. Es kann hiernach keinem Zweifel mehr unterworfen ſein, daß ein Widerſpruch in dieſer Grundfrage nicht vorliegt. Aber damit iſt die Frage nicht beant— wortet, woher diejenigen Eier, Thiere und Pflanzen zuerſt hergekommen, welche nicht durch Urzeugung ſich bilden, ſondern nur von Organismen erzeugt werden ſollen? Was ſagt hierüber Harvey? Im vollen Gegenſatz zur modernen Ent— wicklungslehre behauptet er die Conſtanz der Species bei höheren Thieren. Während viele Organismen ihm zufolge keine Species bilden, nämlich die durch Urzeugung ent— ſtehenden, iſt der Wechſel von Huhn und Ei, von Ei und Huhn ohne Anfang und Ende, die Art unſterblich, das Ei eine Periode in dieſer Ewigkeit, Anfang und Frucht des individuellen Lebens der Artrepräſentanten. Er erörtert das alte Problem, ob das Huhn oder das Ei zuerſt war (EX. 28.) und kommt zu dem Schluß, daß ein höchſtes Princip — deſſen Name Gott, Natura naturans oder Weltgeiſt nichts zur Sache thue — den Zirkel in Bewegung erhalte, ebenſo wie den Lauf der Geſtirne. Dieſe Vis enthea oder dieſes göttliche Princip bleibt in alle Ewigkeit und iſt den Eltern wie den Eiern mit verſchiedenen Erſcheinungs— weiſen immanent, bald als Virtus plastica, bald als Virtus nutritiva, bald als Virtus auetiva; bald formt fie das Huhn, bald formt ſie das Ei, welche beide weder von der Natur, noch künſtlich in anderer Weiſe erzeugt werden können, als ſie jetzt erzeugt werden. In der 402 Preyer, Ueber die Erzeugung der Thiere. 50. Ex. wird dieſes göttliche Princip als Schöpfer hingeſtellt, welcher die Urzeugung und Zeugung zu Stande kommen läßt. Aber es iſt nirgends geſagt, daß aus Nichts ein Thier geſchaffen wurde. Vielmehr hebt Harvey hervor (41. Ex.) daß viele Thiere, beſonders Inſekten, von unſichtbaren, in der Luft ſchwebenden, vom Winde da und dort— hin zerſtreuten Keimen abſtammen, welche man dennoch als von ſelbſt oder durch Fäul— niß entſtanden betrachte, weil ihre Keime nirgends ſich vorfinden. „Es iſt aber dieſe Speculation nicht unnütz für diejenige Philo— ſophie, welche lehrt, daß alles aus Nichts hervorgegangen ſei.“ Für Harvey iſt das lebensfähige Material gegeben und entwickelt ſich, wenn die dazu erforderlichen Bedingungen, die er z. Th. nennt, erfüllt ſind. Zur Kenn— zeichnung der Grundlinien ſeiner Anſicht über die Erzeugung der Thiere iſt noch er— forderlich, anzugeben, wie er über den Pro— ceß der erſten Entwicklung überhaupt dachte. Er ſpricht ſich (beſonders in der 72. Ex.) hierüber beſtimmt aus und behauptet namentlich gegen alles Hergebrachte mit Ent— ſchiedenheit, die Dinge ſeien nicht durch Syntheſe ihrer Elemente entſtanden, in die ſie vielmehr zerfallen, ſondern ſeien früher da, als ihre Elemente. Nachdem er die Entwicklung des Embryo als eine „Son— derung oder Gliederung von urſprünglich Homogenem“ charakteriſirt hat, nicht als Zu— ſammenſetzung von Homogenem und Hetero— genem und nicht als Sonderung von etwa urſprünglich Heterogenem, nachdem er ſein „ex similari dissimilare“ (aus dem Gleich artigen das Ungleichartige) begründet hat, ſagt Harvey: „Und ich glaube, daß daſſelbe geſchieht bei jeder Erzeugung; ſo daß die gleichartig gemiſchten Körper nicht ihre Elemente der Zeit nach früher haben, ſondern vielmehr ſelbſt früher als ihre Elemente exiſtiren (nämlich als des Empedokles und Ariſtoteles Feuer, Luft, Waſſer und Erde, oder als der Chemiker Salz, Schwefel und Queckſilber, oder als die Demokritiſchen Atome) wenn ſie auch ihrer Natur nach vollkommener ſind. Ich ſage das Gemiſchte und Zuſammengeſetzte iſt auch der Zeit nach früher, als irgend welche Elemente, in welche es zerſetzt wird und endigt; es wird nämlich in dieſelben aufgelöſt vielmehr im Gedanken, als der Sache nach und in Wirklichkeit. Daher ſind die ſogenannten Elemente nicht früher als diejenigen Dinge, welche erzeugt werden oder entſtehen, ſondern vielmehr ſpäter und eher Ueberbleibſel, als Anfänge. Selbſt Arifto- teles hat nicht und niemand anderes hat jemals bewieſen, daß die Elemente in der Natur getrennt exiſtiren oder die Anfänge der gleichartigen Körper ſeien.“ Ich geſtehe in hohem Grade überraſcht und befriedigt geweſen zu ſein, als ich bei einem Denker wie Harvey ſolches, fünf Jahre nachdem ſich mir ſelbſt ähnliche An— ſchauungen gebildet hatten, fand. Der Pro— teſt“) gegen Verſuche aus dem, was wir jetzt chemiſche Elemente nennen, durch Syn— theſe, ohne Vermittlung von Lebendem, etwas Lebensfähiges künſtlich herzuſtellen, wird noch geſtützt durch die andere Begriffsbe— ſtimmung Harvey's, welche ich gleichfalls, ohne damals ſeine Werke zu kennen, formu— firte**), daß nämlich non vivens, sed potentia vivens etwas weſentlich Anderes als non vivens iſt. Freilich findet bei Harvey dieſen Gedanken nur, wer ihn ſchon vorher hatte. ) Kosmos I, S. 377. ) Ueber die Erforſchung des Lebens. Jena 1873. S. 34. Br FE Die Infekten als unbewußte Blumenziüdter, Von Dr. Hermann Müller. S II. 7 0 Fir haben bereits die Rolle ken- um ihrer prächtigen Farben und lieblichen | 7 nen gelernt, welche Fäulniß— | Wohlgerüche willen ſchätzen, haben ſicherlich ſtoffe liebende Dipteren als keine Veranlaſſung, dies ſonderlich zu be— ER | ſelbſtſtändige Blumenzüchter dauern. Weit umfaſſender iſt dagegen die ſpielen. Es empfiehlt ſich, ſogleich auch | mitwirkende Rolle, welche fie, im Ver— einen kurzen Hinblick auf ihre mitwirkende eine mit anderen kurzrüſſeligen Inſekten, Rolle daran anzuknüpfen, um ſodann, un- als unbewußte Kreuzungsvermittler ſpielen; behindert durch die Rückſicht auf dieſe un- aber natürlich können ſich ihre eigenthüm— ſauberen Gäſte, die Betrachtung der gemein- lichen Neigungen blumenzüchtend um ſo ſamen Blumenzüchtung der uns ſympathi- weniger geltend machen, je mehr ſich In— ſcheren kurzrüſſeligen Inſekten wieder auf- ſekten anderer Neigungen mit ihnen in den nehmen und weiterführen zu können. Beſuch der Blumen theilen. Zahlreiche Ekelblumen, Fallenblumen und Täuſch- Blumen einfachſter Form mit völlig offen blumen, nach dem jetzigen Stand unſerer liegendem, oder doch in der Nähe unmittel— Kenntniſſe die einzigen Züchtungsprodukte bar ſichtbarem Honig, wie z. B. die große der Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren für Mehrzahl der Umbelliferen, Alſineen, Cruci— ſich allein, finden ſich zwar in ſehr ver- feren u. A., werden daher, außer von ſchiedenen und weit aus einander ſtehenden mannigfachen kurzrüſſeligen Inſekten anderer Familien, aber im Ganzen doch in verhält- Ordnungen, auch ſehr häufig von Fliegen nißmäßig ſehr geringer Anzahl. Als beſucht und gelegentlich mit Pollen getrenn— ſelbſtſtändige Blumenzüchter haben alſo ter Stöcke befruchtet, ohne daß ſich unter dieſe in ihrer Geſchmacksrichtung fo ab- den Eigenſchaften dieſer Blumen irgend eine weichenden Inſekten eine nicht beſonders | fpeciell auf die Fliegen als Blumenzüchter erhebliche Bedeutung gehabt, und alle die- hinweiſende vorfände. Der offenliegende jenigen unter uns, welche die Blumen nur Honig ſolcher Blumen, ihre Farbe und ihr . n 148 a ——. ... 404 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Geruch ſind dann eben das Züchtungspro— dukt einer gemiſchten Geſellſchaft verſchieden— artiger kurzrüſſeliger Blumenzüchter. So— bald jedoch Fäulnißſtoffe liebende Dipteren als Beſucher und Kreuzungsvermittler offe— ner, allgemein zugänglicher Blumen eine entſchieden vorwiegende Rolle ſpielten, mußte beim Auftreten geeigneter Abänderungen auch die von ihnen geübte Blumenauswahl entſcheidend ſein und ihren Liebhabereien ent— ſprechende Farben und Gerüche oder beides züchten. Wurde beides, Ekelfarben und ausgeprägte Ekelgerüche gezüchtet, ſo blieben die übrigen Beſucher zurück, und aus den urſprünglich für alle Inſekten offenen Tiſch darbietenden Blumen entſtanden, wie wir bereits geſehen haben, Ekelblumen. Wurden dagegen, wenn geeignete Geruchsabänder— ungen eben niemals auftraten, nur dem Fliegengeſchmacke entſprechende Farben ge— züchtet, ohne Ekelgerüche oder mit nur ſchwacher Ausprägung derſelben und daher ohne oder mit nur theilweiſer Zurückſchreck— ung der anderen Gäſte, ſo entſtanden Blu— men, die zwar überwiegend von Fliegen, daneben jedoch von einem bunten Gemiſch mannigfacher anderer kurzrüſſeliger Inſekten beſucht und gelegentlich befruchtet werden, wie die ſchmutzig grüngelben Blumen von Ruta graveolens, Veratrum album, Rhus, Rhamnus, Acer, Hedera, Euphorbia und mancher Umbelliferen. Die Erfolge, welche die Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren theils als ſelbſtſtändige, theils als mitwirkende Blumenzüchter er— reicht haben, ſind hiermit hinreichend ange deutet, und wir verabſchieden nun dieſe ebenſo zudringlichen als uns antipathiſchen Gäſte, um zu der uns ſympathiſchen Geſellſchaft der übri— gen Blumenbeſucher zurückzukehren, welche in Bezug auf Farben-„Geruchs-und Geſchmacks- ſinn im Ganzen uns gleich gerichtet ſind. Da ſich nun ein langer Rüſſel, wie ſein ausſchließlicher Gebrauch zur Gewinn— ung tief geborgenen Blumenhonigs und die noch jetzt vorhandene Stufenleiter verſchie— dener Längen beweiſt, bei allen blumenbe— ſuchenden Inſektenabtheilungen, welche heute langrüſſelige Arten aufzuweiſen haben (Flie— gen, Schmetterlinge, Bienen !)), erſt nach dem Uebergange zur Blumennahrung und als Anpaſſung an erfolgreichere Gewinnung derſelben ausgebildet haben kann, ſo haben wir uns im Anfange der Entwickelung der Blumenwelt lauter kurzrüſſelige Blumen— züchter vorzuſtellen. Wollen wir daher die ſtufenweiſe Ausbildung der Blumeneigen— thümlichkeiten ſo viel als möglich in gene— tiſcher Reihenfolge uns klar zu machen ſuchen, ſo müſſen wir zunächſt II. die bunte Geſellſchaft ur— ſprünglicher kurzrüſſeliger Blü— thenbeſucher als unbewußte Blu— menzüchter unſerer weiteren Betrachtung unterwerfen und zu ermitteln ſuchen, welche Blumen— eigenthümlichkeiten außer der bereits erörter— ten Augenfälligkeit und dem in manchen Fällen vielleicht ſchon früh ſie begleitenden Wohlgeruche der vereinten Thätigkeit der— ſelben ihre Ausprägung verdanken. Wir verſetzen uns alſo im Geiſte auf diejenige Stufe der Blumenentwickelung, auf welcher nicht nur durch Zwitterblüthig— keit und Klebrigkeit des Pollens Kreuzung durch beſuchende Inſekten ermöglicht und durch erſtere zugleich der Nothbehelf der Selbſtbefruchtung bei ausbleibendem Inſek— tenbeſuche gewonnen, ſondern auch eine ver— ) Nur bei den Schnabelkerfen (Hemip- tera) iſt die Rüſſelausbildung offenbar unab— hängig vom Blumenbeſuche erfolgt; dieſe haben aber auch noch jetzt als Kreuzungsvermittler der Blumen faſt gar keine Bedeutung. größerte buntgefärbte, in manchen Fällen vielleicht auch ſchon wohlriechende Blüthen- hülle durch die urſprünglichſten Beſucher bereits gezüchtet, der entbehrlich gewordene koloſſale Pollenüberfluß der windblüthigen Stammeltern durch Naturausleſe bereits beſeitigt war und fragen uns: Unter welcher Form haben wir uns dieſe Urblumen vor— zuſtellen? Welche weiteren von den mannig— fachen ſonſtigen Eigenthümlichkeiten höher entwickelter Blumen konnten und mußten beim Auftreten geeigneter Abänderungen ſchon von der bunten Geſellſchaft urſprüng— lich kurzrüſſeliger Gäſte gezüchtet werden? Nächſt den als bereits gewonnen vor— ausgeſetzten Ausrüſtungen iſt Honigabſon— derung die am allgemeinſten verbreitete Blumeneigenthümlichkeit; ſie iſt es alſo, deren Ausprägung den oben genannten erſten Schritten der Blumenzüchtung in der Regel zunächſt gefolgt ſein wird. Bei der großen Vorliebe, mit welcher wir heute Inſekten aller Ordnungen dem Blumenhonige nach— gehen ſehen, während Blüthenſtaub einen weit beſchränkteren Kreis von Conſumenten an ſich zieht, iſt es ja auch unſchwer ein— zuſehen, daß Honig abſondernde Blumen— abänderungen, wo ſie auch auftraten, zum Siege über die honigloſen Stammformen gelangen mußten, wofern nicht etwa bejon- ders ungünſtige Umſtände, wie z. B. auf entlegenen oceaniſchen Inſeln, einen großen Mangel an Inſekten verurſachten. Denn nicht nur wurde durch Honigabſonderung ſchon bei den urſprünglichſten Blumen der Beſucherkreis erweitert, indem außer pollen— freſſenden ſich nun auch honigleckende Kä— fer und Fliegen, außerdem aber Phryga— niden, Blatt- und Schlupfweſpen *) als ) Schmetterlinge und Bienen haben ſich augenſcheinlich erſt im weiteren Verlaufe der Blumenausbildung entwickelt, erſtere vermuth— — —ü— ö... 8 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blum enzüchter. 405 Beſucher einfanden, ſondern auch die alten Beſucher zogen jedenfalls, wenn ſie die Aus— wahl hatten, Blumen, die ihnen neben dem Blüthenſtaube auch noch Honig darboten, honiglofen vor. Die geſammte bunte Ge— ſellſchaft urſprünglicher kurzrüſſeliger Blu— menbeſucher war alſo an der Züchtung honighaltiger Abänderungen betheiligt. Es läßt ſich indeß bei einem Ueberblicke über die Blumenwelt leicht erkennen, daß Honigabſonderung nicht etwa blos von den älteſten Blumen, denen nur kurzrüſſelige Gäſte zu Theil wurden, erworben und auf die ſpäteren Geſchlechter nur durch Vererb— ung übertragen worden iſt. Vielmehr müſſen in den aller verſchiedenſten Zeit— epochen, von jener Jugendperiode der Blu— menwelt an, da der Metaſpermenſtamm noch eine geringe Zahl verſchiedener Zweige dar— bot, bis zur Gegenwart herab, honigabſon— dernde Abänderungen aufgetreten, von den Inſekten bevorzugt und weiter gezüchtet worden ſein. Denn während bei manchen ſehr umfaſſenden Familien, wie z. B. Um⸗ belliferen, Labiaten, Compoſiten, beſtimmte Formen der Honigabſonderung als Fami— liencharaktere auftreten, welche ſchon von den Stammeltern derſelben erworben ſein müſſen, bieten zahlreiche andere Familien, z. B. Ranunculaceen, Solaneen, Scrophu— lariaceen, Gentianeen, Primulaceen, neben einander honiglofe und honighaltige Gatt— ungen dar; von den honighaltigen Gatt— ungen haben wiederum die einen eine be— ſtimmte Form der Honigabſonderung als Gattungscharakter, alſo von den Gattungs— ſtammeltern, ererbt, wie z. B. Aconitum, Aquilegia, Primula, die anderen ſpalten ſich in Zweige mit eigenthümlicher, alſo lich aus Phryganiden, letztere aus der den Ichneumoniden entſtammenden Familie der Grabweſpen. 2 406 entweder ſelbſtſtändig erworbener oder we— nigſtens ſelbſtſtändig ausgeprägter Form der Honigabſonderung, wie z. B. Gentiana (vergl. Kosmos, Bd. I. S. 162). Ganz beſonders lehrreich in Beziehung auf das verſchiedene Alter der Nektarien iſt die Familie der Ranunculaceen. Denn neben honigloſen Gattungen (Anemone, Tha- lietrum, Adonis) umſchließt fie andere, die aus den Kelchblättern (Paeonia), andere, die in den mannigfachſten Formen aus den Blumenblättern (Ranunculus, Myosurus, Müller, Die Inſekten als unbewußte ĩI, Trollius, Eranthis, Helleborus, Aconi- tum, Delphinium, Aquilegia, Nigella), A die aus umgebildeten Staubfäden (Clematis), andere, die aus umgebildeten Staubbeuteln (Pulsatilla), andere endlich, die aus den Fruchtblättern (Caltha), Honig abſondern, und liefert damit den Beweis, daß fie, von honigloſen Stammeltern ab- ſtammend, erſt nach der Zerſpaltung in zahlreiche Familienzweige auf den allerver— ſchiedenſten Wegen zur Honigabſonderung gelangt iſt. Fig. 5. Ranunculus Und da manche ihrer Gattungen in der Nektarienbildung in allen ihren Arten im Weſentlichen übereinſtimmen (3. B. Pulsa- tilla, Aquilegia, Aconitum, Nigella), andere dagegen honighaltige neben honigloſen Arten enthalten (3. B. Paeonia, Clematis), ſo zeigt ſie uns ferner, daß inmanchen Fällen die Honigabſonderung ſchon bei den Stamm— eltern der Gattungen, in anderen erſt bei den Stammeltern der Artenzur Ausprägung gelangt iſt. Endlich kommen, um die Alters— ſtufenleiter bis zur Gegenwart herab zu vervollſtändigen, in der Familie der Ranun— Variabilität der Nektarienbildung innerhalb derſelben Art, pyrenaeus. culaceen ſelbſt Arten vor, welche neben einander honigloſe und honighaltige In— viduen, letztere mit denauffallendſten Ver— ſchiedenheiten in der Ausbildung der Nek— tarien, darbieten. Eine Veranſchaulichung dieſer Thatſache geben die beifolgenden Nek— tarienformen von Ranunculus pyrenaeus, die ich gleichzeitig (5. Aug. 1877) neben einander an demſelben Standorte (im Heu— thale am Bernina) beobachtete.“) 0 Eine andere Reihe derartiger Varia— tionen habe ich auf S. 117 meines Werkes „Ueber Befruchtung der Blumen“ dargeſtellt. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Die andere der beiden oben aufgeworfe— nen Fragen modificirt ſich nun dahin: Wie haben wir uns jene zwitterblüthigen!) Urblumen vorzuſtellen, an welchen zuerſt Honigabſonderung aufgetreten und durch eine gemiſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger Beſucher zur dauernden Eigenſchaft gezüchtet worden iſt? Eine einfache biologiſche Betrachtung ergiebt, daß es nur offene regelmäßige Blu— men einfachſter Form geweſen ſein können. Denn zu ſolchen werden wir mit Noth— wendigkeit geführt, wenn wir von irgend welchen unregelmäßigen und complicirter gebauten honighaltigen Blumen alle Röh— ren und Sporen, alle Bergungen und Ver— ſteckungen des Honigs, welche einen ſchon verlängerten Rüſſel und eine ſchon geſchärfte Blumeneinſicht der Beſucher vorausſetzen laſſen, ſowie alle einſeitigen Geſtaltungen, die ſich augenſcheinlich als Anpaſſungen an beſtimmte Beſucherkreiſe ausgebildet haben, hinwegdenken. Nachdem wir aber die ko— loſſale Altersverſchiedenheit der Nektarien kennen gelernt haben, ſchließt ſich an die | jo eben beantwortete unmittelbar die weitere Frage an: Sind die in ſpäteren Perioden bis zur Gegenwart herab neu aufgetretenen Nektarien an immer höher und höher ent— wickelten Blumenformen zum Vorſchein ge— kommen oder an Blumenformen, welche noch eben ſo einfach, offen und regelmäßig waren, als jene zuerſt honighaltig geworde— nen Urblumen? Wenn wir die in ſehr verſchiedenen Zweigen des Metaſpermen— ſtammbaumes ſich darbietenden Abſtufungen von gleichförmigen einfacheren zu nach ver— ſchiedenen Richtungen hin differencirten com— ) Ausdrücklich ausgeſchloſſen von den folgenden Schlußfolgerungen bleiben diejeni— gen Blumen, welche, wie Salix, mit Beibehalt- ung der Getrenntgeſchlechtigkeit direkt zur In— ſektenblüthigkeit übergegangen ſind. Kosmos, Band III. Heft 5. 407 plicirteren Blumenformen vergleichend über— blicken, ſo können wir über die richtige Antwort auf dieſe Frage kaum zweifelhaft bleiben; denn in allen Fällen, in denen uns eine hinreichende Stufenfolge ſteigender Complicirtheit und Differencirung vorliegt, gelangen wir, indem wir dieſelbe in ab— ſteigender Richtung verfolgen, ſchließlich zu ſehr einfachen, regelmäßigen, offenen Blu— menformen, als denjenigen, bei denen die Honigabſonderung begonnen haben muß. Um nur einzelne größere und kleinere Me— taſpermenabtheilungen beiſpielsweiſe heraus— zugreifen, ſo ſteigen wir in der Ordnung Rhoeades, von den unregelmäßigen honig- haltigen Fumariaceen Corydalis und Fu— maria durch Dielytra und Adlumia zu Hypecoum und von da zu regelmäßigen, einfachen, offenen und noch honigloſen Papa— veraceen hinab; in der Familie der Ra— nunculaceen gelangen wir von den com— plicirten und unregelmäßigen, in verſchiedener Weiſe einſeitig den Hummeln angepaßten Gattungen Delphinium, Aconitum, Aqui- legia zu regelmäßigen, einfachen, offenen, theils honighaltigen, theils honigloſen For— men (Ranunculus, Anemone), in der Gatt— ung Gentiana von den durch Gitter oder erweiterte Narben verſchloſſenen Blumen- röhren der Untergattungen Endotricha und Cyelostigma und den Blumenglocken der Untergattung Coelanthe zu der zwar be— reits honighaltigen, aber noch höchſt einfachen und völlig offenen Blumenform der G. Iutea.*) Selbſt die Nektarien jüngſten Datums, die an einzelnen Arten ſonſt honig— loſer Gattungen auftreten, wie z. B. (nach Delpino) an gewiſſen Paeonia-Arten, an Clematis balearica, integrifolia u. A., ) Siehe Kosmos, Bd. I. S. 162. (wo aus Verſehen Cyelanthera ſtatt Cyelostigma gedruckt iſt). A 408 finden ſich in Blumenformen, die an Ein— fachheit, Offenheit und Regelmäßigkeit der Vorſtellung, die wir uns von den zuerſt honighaltig gewordenen Urblumen bilden mußten, gleichkommen. Nehmen wir nun vorausgreifend noch hinzu, daß an der Ausbeutung ſo offener, flacher, wenig ausgiebiger Honigquellen, wie die Nektarien in ihrer urſprünglichen Form immer ſind, auch heutzutage faſt ausſchließ— lich kurzrüſſelige Beſucher ſich betheiligen, während die langrüſſeligeren eben durch ihre längeren Rüſſel die körperliche und durch die mit der Rüſſellänge zugleich ge— ſteigerte Blumeneinſicht die geiſtige Fähig— keit erlangt haben, die ergiebigeren tieferen und verſteckteren Nektarien aufzuſuchen und auszubeuten, ſo ergeben ſich aus unſerer Um— ſchau als ſehr wahrſcheinlich folgende Sätze: 1. Alle honighaltigen Blumen ſind zur Zeit, als ſich zuerſt Honigabſonderung bei ihnen einſtellte, einfach, offen und regel— mäßig geweſen. 2. Die zuerſt als individuelle Abänder- ung aufgetretene Honigabſonderung iſt — abgeſehen von Ekelblumen — ſtets durch eine gemiſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger In— ſekten zur bleibenden Eigenthümlichkeit ge— züchtet worden. 3. Aus einfachen offenen, honighaltigen Blumen, die einer gemiſchten Geſellſchaft der verſchiedenſten Inſekten zugänglich und gelegentlicher Kreuzung durch dieſelben aus— geſetzt waren, ſind im Laufe der weiteren Entwickelung vielfach kürzer und länger röh— rige, bilateral ſymmetriſche und ſelbſt un— ſymmetriſche“) Blumenformen hervorgegan gen, die nur noch beſchränkteren Beſucher— kreiſen oder ſogar nur noch ganz beſtimmten Inſektenformen zugänglich ſind. (Welche tung S. 257) Pedicularis (daſelbſt S. 300). *) 3. B. Phaseolus (H. Müller, Befruch- Anhalt dazu bietet der als einfache Conſe— Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Rolle bei dieſer Umbildung Naturzüchtung und Blumenauswahl der Inſekten geſpielt haben, bleibt näher feſtzuſtellen.) 4. Der Uebergang einfacher, offener, regelmäßiger Blüthen aus dem honigloſen in den honighaltigen Zuſtand und ihre Umbildung in röhrige und einſeitige Blu— menformen iſt in den verſchiedenſten Zeit— epochen erfolgt. Neben den honighaltigen find aber bis in die Gegenwart herab honig— loſe, neben den röhrig oder bilateral ſym— metriſch gewordenen bis in die Gegenwart herab einfache, offene, regelmäßige Blumen— formen erhalten geblieben. Nachdem wir nun über das erſte Ent— ſtehen der Honigabſonderung, ſo weit es die vorliegenden Thatſachen geſtatten, uns eine beſtimmte Vorſtellung gebildet haben, tritt die Frage an uns heran: Wie ſind aus den urſprünglichen offenliegenden Nektarien die, eben weil es ihnen an Vertiefung fehlte, nur eine flache, wenig ausgiebige Honig- ſchicht darbieten konnten, jene tieferliegenden, honigreicheren Nektarien geworden, welche von allen langrüſſeligeren Beſuchern vor— zugsweiſe aufgeſucht und ausgebeutet werden? Welche Rolle hat die Blumenzüchtung der Inſekten, welche Rolle hat Naturzüchtung dabei geſpielt? Haben ſich zuerſt die Rüſſel der blumenbeſuchenden Inſekten verlängert und als Anpaſſung an dieſelben dann erſt tieferliegende Nektarien ausgebildet oder um— gekehrt? Offenbar iſt es unmöglich, durch Ver— gleich der Röhrenlängen und Rüſſellängen der heutigen Blumenbeſucher der Löſung dieſer Frage näher zu kommen, da eben beide alle Abſtufungen von ihrem Maximum bis zu Null hinab darbieten. Den einzigen feſten Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. quenz der Selektionstheorie ſich ergebende Satz, daß nur dem Juhaber ſelbſt nützliche Abänderungen zur Ausprägung gelangen konnten. Nun iſt es augenſcheinlich, daß, ſo lange es nur offen liegenden Honig gab, eine Rüſſelverlängerung den dieſen Honig aufſuchenden Inſekten keinerlei Vortheil ge— währen konnte. Wohl aber konnte umge— kehrt, auch ſo lange es nur kurzrüſſelige Blumenbeſucher gab, eine tiefere Lage des Nektariums den Pflanzen von weſentlichſtem Nutzen ſein, ſofern ſie eine reichlichere An— ſammlung des Honigs ermöglichte und einen Schutz dieſes koſtbaren Anlockungsmittels gegen Regen mit ſich brachte. Es kann daher kaum einem Zweifel unterliegen, daß die erſten und einfachſten Bergungen des Honigs unter einem Schutzdache von Här— chen, wie bei Geranium und Malva, oder in den Grund eines durch Verwachſung der Blumenblätter gebildeten kurzen Röhrchens, wie bei Veronica hederaefolia u. a., oder in die tiefſten Winkel einer bei trübem Wetter ſich weiter zuſammenſchließenden offenen Schale von Blumen und Kelchblättern, wie bei vielen Alſineen, der erſten Steigerung der Rüſſellänge der Blumenbeſucher vorausge— gangen ſein muß.) Und zwar muß es, da Blumenhonig den Pflanzen nur mittel— ) Ebenſo unabweisbar wie dieſe Schluß— folgerung, ebenſo unhaltbar iſt die Anſicht derjenigen Botaniker, welche die „Saftdecken“ ausſchließlich als Schutzmittel des Honigs gegen kurzrüſſelige Beſucher gelten laſſen wollen, wie Delpin o (Ulteriori osservazioni II. p. 109) und Kerner (Schußmittel der Blüthen gegen unberufene Gäſte S. 38, Anm. 2). Beide haben eben nur weit höher ausge— bildete Blumen im Sinne, deren Honig ſchon auf andere Art gegen Regen geſchützt iſt, und bei denen dann in der That die Saftdecke nur als Schutzmittel des Honigs gegen furz- rüſſelige Beſucher dient. % bar durch Anlockung der Kreuzungsvermittler nützlich iſt, die von den urſprünglichen kurz— rüſſeligen Beſuchern ſelbſt geübte Blumen— auswahl geweſen ſein, welche die angedeu— teten Bergungen des Honigs, wo ſie als individuelle Abänderungen auftraten, als bleibende Eigenſchaft gezüchtet hat. In regneriſchen Witterungsperioden mußte ſich ja ganz natürlich die Auswahl der honig— ſuchenden Inſekten von den dem Regen ſchutz— los preisgegebenen Honigblumen ab und den— jenigen zuwenden, deren Honig durch Regen unberührt blieb. Und in jeder Witterung mußten wenigſtens die bereits blu menſtet gewordenen d. h. mit ihrem Nahrungsbe— darf auf die Blumen beſchränkten Beſucher in Vertiefungen zurückgezogene, honigreichere Nektarien den offen liegenden, nur eine flache adhärirende Honigſchicht darbietenden vor— ziehen — vorausgeſetzt natürlich, daß fie dieſelben leicht genug auf— zufinden vermochten! Wurde dieſe Vorausſetzung nicht erfüllt, traten vielleicht ſogar individuelle Abänderungen mit ſolcher Bergung des Honigs auf, daß derſelbe der Auf— findung ganz entging, ſo war natürlich aller Schutz gegen Regen, alle reichlichere An— häufung des ſüßen Naß ganz vergeblich, und die bezeichneten Abänderungen hatten ebenſo wenig Ausſicht, von honigeifrigen Inſekten ausgewählt und durch Kreuzung vermehrt zu werden, als etwaige völlig honigloſe Concurrenten. Nur in dem Falle konnte daher, mußte dann aber auch, völlig geborgener Honig die bevorzugte Auswahl gerade der honigbefliſſenſten Inſekten an ſich feſſeln und dadurch den Blumen noch weit nützlicher werden, als der urſprüngliche all- gemein zugängliche, offene Honig, wenn gleichzeitig mit der Bergung ein den einſich— tigeren Blumengäſten auf den erſten Blick ver— ſtändliches Kennzeichen des Nektariums auftrat. ä Fig. 6. Eine einfache, offene, regelmäßige Blüthe, welche außer einem Nektarium auch bereits Safthalter, Saftdecke und Saftmal in einfachſter Ausbildung erlangt hat (Potentilla minima). A Blüthe gerade von oben geſehen (7 : 1). B Längsſchnitt durch dieſelbe. C Oberer Theil eines Staubgefäßes, Staubbeutel ſeitlich aufgeſprungen (35 : 1). a Aeußerer, b innerer Kelchzipfel, e Blumenblatt, d Staubgefäß, e gelb gefärbter, fleiſchiger Ring, welchem die, Staubgefäße aufſitzen und welcher zugleich den Honig abſondert (Saftdrüſe Sprengel's Nektarium), k nach innen abfallende, orangefarbene Fläche des fleiſchigen Ringes, welche ſich mit einer Honigſchicht bedeckt (Safthalter Sprengel's), g Ring von Haaren, welche den Honig ſchützend überdecken (Saftdecke Sprengel's), h orangefarbener Fleck an der Baſis jedes (goldgelben) Blumenblattes, welcher auf den verſteckten orangefarbenen Safthalter hin— weiſt (Saftmal Sprengel's), i Stempel. Beim Auftreten geeigneter Abänderungen anzubahnen. Denn wie ſich von ſelbſt ver— konnte es alſo nicht ausbleiben, daß die ge- | fteht, gehört ein gewiſſer Grad von Einficht miſchte Geſellſchaft kurzrüſſeliger Inſekten, dazu, um aus lebhaft gefärbten Flecken oder nachdem ſie ſich ſelbſt in den Blumen regel- Linien, welche nach beſtimmten Stellen zu— mäßig fließende Honigquellen (Nektarien oder ſammenlaufen, auf dort geborgen liegenden Saftdrüſen) gezüchtet hatten, ſich auch tiefere Honig zu ſchließen, ein Grad von Einſicht, Behälter des Honigs (Safthalter), Schutz- zu deſſen Gewinnung außer einer ganz auf mittel derſelben gegen den Regen (Saftdecken) die Blumen concentrirten Aufmerkſamkeit die und gleichzeitig leicht ſichtbare Kennzeichen des oft wiederholte gleichzeitige Erregung zweier geborgenen Honigs (Saftmale) züchteten — Vorſtellungen, nämlich derjenigen lebhaft aber freilich nicht mehr mit gleichmäßiger gefärbter Zeichnung und derjenigen geborgenen Betheiligung an der Blumenzüchtung, und Honigvorraths, nothwendige Vorbedingung nicht, ohne damit eine Sonderung der iſt. Und wie ſich ebenfalls von ſelbſt ver— Blumenbeſucher in kurzrüſſelige und lang- ſteht und durch die Beobachtung blumen— rüſſelige, der Blumen in allgemein zugängliche beſuchender Inſekten tauſendfach beſtätigt wird, und beſchränkteren Beſucherkreiſen angepaßte haben die unſteten, mehr zufälligen Blumen— ff Müller, Die Inſekten als beſucher dieſen Grad von Einſicht nicht er— langt, ſondern ausſchließlich blumenſtete, honigeifrige, wenn auch dabei kurzrüſſelige Inſekten. Aus der bunten Geſellſchaft aller möglichen kurzrüſſeligen Inſekten ſind alſo durch ihre Bevorzugung geborgener, honig- reicherer Nektarien die zwar ebenfalls noch kurzrüſſeligen, aber bereits blumenſtet ge— wordenen als eine beſondere Blumenzüchter— geſellſchaft herausgetreten und haben ſich, zunächſt in einfachen, offenen, regelmäßigen Blumen, reichlicher fließende, gegen den Regen geſchützte Honigquellen zu ihrer alleinigen Ausnutzung gezüchtet. Obgleich ſie nun dieſelben auch mit ihren urſprünglichen kurzen vergleiche die vorangehende Abbildung), ſo verurſachte ihnen doch das Hinabzwängen des ganzen Kopfes zwiſchen eng an einander— liegenden Theilen hindurch nach dem ge— borgenen Honige hin unvermeidlich ſoviel Unbequemlichkeit und Zeitverluſt, daß alle etwa auftretenden, etwas langrüſſeligeren Ab— änderungen im Wettkampfe um das Daſein in bedeutendem Vortheile waren und über ihre kurzrüſſeligeren Concurrenten den Sieg erringen mußten. Durch ihre Züchtung geborgenen Blumen— honigs eröffneten alſo die blumenſteten In— ſekten zugleich der Naturzüchtung die Bahn, ihre eigenen Rüſſel zu verlängern, und es iſt leicht einzuſehen, daß derſelbe urſächliche Zuſammenhang, welcher die erſten Schritte von Honigbergung und Rüſſelverlängerung leitete, auch weitere Schritte in derſelben Richtung herbeiführen mußte. Denn ebenſo wie ſich zuerſt durch die verſchiedenen Neigungen und Lebensgewohn— heiten der verſchiedenen Inſekten ein Unter— ſchied zwiſchen zufälligen und ſteten Blumen⸗ beſuchern ausgebildet hatte, ebenſo mußte ſpäter aus demſelben Grunde eine immer unbewußte Blumenzüchter. reicher gegliederte Differenzirung der blumen— ſteten Inſekten in trägere und fleißigere, in langſamer und ſchneller arbeitende, in weniger oder mehr der Blumennahrung bedürftige erfolgen; und da die letzteren offen— bar beſtändig in der lebhafteſten Concurrenz um die tiefſten und ergiebigſten Nektarien ſich befanden, ſo mußte gerade bei ihnen jede Abänderung mit etwas geſteigerter Rüſſellänge am meiſten Ausſicht haben, durch Natur— ausleſe erhalten und in gleicher Richtung weiter ausgeprägt zu werden. Ebenſo ferner, wie es anfangs den Blumen vortheilhafter war, ausſchließlich, aber um ſo eifriger, von blumenſteten, als frei, aber Rüſſeln noch zu entleeren vermochten (man weniger eifrig, von allen möglichen Gäſten beſucht zu werden, ebenſo mußte es auf jeder weiteren Stufe der Blumenentwickelung die Wahrſcheinlichkeit der Kreuzungsvermittel— ung erhöhen, wenn fleißigere, ſchneller ar— beitende, der Blumennahrung in höherem Grade bedürftige und unter dem Einfluſſe dieſer Eigenſchaften durch Naturzüchtung lang— rüſſeliger gewordene Inſekten die ausſchließ— lichen aber um ſo eifrigeren Beſucher einer Blume wurden. So mußte denn in ſtufen— weiſer Steigerung Naturzüchtung die blumen- eifrigſten Inſekten immer langrüſſeliger, und die von den langrüſſeligſten Inſekten aus— geübte Blumenzüchtung die von ihnen bevor— zugten Blumen immer langröhriger machen und damit auf einen immer engeren Kreis von Kreuzungsvermittlern und Blumen— züchtern beſchränken. Verſchiedene Blumenfamilien bieten uns noch heute eine Stufenfolge verſchiedener Röhrenlängen und dem entſprechend ſtufen— weiſe mehr eingeengter Beſucherkreiſe dar, welche uns die auf einander gefolgten Schritte der Honigbergung und Rüſſelverlängerung, die wir ſo eben im Allgemeinen uns klar zu machen verſucht haben, im Einzelnen veranſchaulichen. Wir beſchränken uns hier darauf, auf die Familie der Caryophylleen hinzuweiſen. In dieſer folgen auf die offenen Blüthen der Alſineen, deren Honig vorzugsweiſe von kurzrüſſeligeren Gäſten (Käfern, Blattwespen, unausgeprägteſten Bienen, beſonders aber Fliegen), weit ſeltener von Faltern und der Honigbiene ausgebeutet wird, die Sileneen mit ſtufenweiſe geſteigerter Länge der Kelchröhren und ſtufenweiſe be— ſchränkterem Beſucherkreiſe. Z. B. zeigen die 2½ Millimeter tiefen und am Eingange ebenſo weiten Blumenglöckchen von Gypso— phila paniculata noch dieſelbe Mannigfaltig— keit verſchiedenartiger Beſucher, noch daſſelbe Uebergewicht der kurzrüſſeligen, aber in Folge des geſteigerten Honigvorraths, der erſt durch ſeine tiefere Bergung ermöglicht worden iſt, einen im Ganzen viel reichlicheren Beſuch. Lyehnis flos eueuli dagegen mit ihrer 6—7 Millimeter langen Kelchröhre geſtattet den Genuß ihres reichen Honigvorraths außer unſerer langrüſſeligſten Schwebfliege (Rhingia rostrata) nur noch ausgeprägten Bienen und Schmetterlingen, die aber eben deshalb um ſo häufiger ſich einfinden. Wie bei Lychnis flos eueuli, fo wird nun allgemein durch jede Steigerung der Röhrenlänge einer Blume ihr Beſucherkreis mehr eingeengt und den übrigbleibenden langrüſſeligſten Beſuchern der Alleinbeſitz des Honigs um ſo unbeſtrittener geſichert. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daß dieſe, wenn ſie die Wahl haben, die tieferen den weniger tiefen Blumenröhren vorziehen und von jeher vorgezogen haben. Die geſteigerten Röhrenlängen ſind alſo die Züchtungsprodukte einer immer engeren Ge— ſellſchaft immer langrüſſeligerer Inſekten zu ihrem eigenen und dadurch erſt mittelbar auch zu der Pflanze Vortheil. Die Kelchröhre von Lychnis flos cuculi Müller, Die Iuſekten als unbewußte Blumenzüchter. brauchte nun ſich nur noch einige Millimeter mehr zu verlängern, um auch Rhingia als die letzte der Fliegen, und ſie brauchte nur ihren Eingang zu verengen, um auch die Bienen vom Honiggenuſſe auszuſchließen und denſelben ausſchließlich noch den Schmetter— lingen zu überlaſſen, wie es bei Lyehnis flos Jovis, vielen Silene- Saponaria- und Dianthus-Arten in der That der Fall iſt. So läßt ſich in dieſer wie in mehreren anderen Familien (3. B. Groſſulariaceen, Rubiaceen, Primulaceen u. a.) der allmälige Uebergang einfacher regelmäßiger Blumen von offenem zu immer tiefer im Grunde einer Röhre geborgenem Honig und von einem weiten Kreiſe mannigfachſter kurzrüſſe— liger zu einem immer engeren, ſchließlich auf eine beſtimmte Inſektenform beſchränkten Kreiſe immer langrüſſeligerer Beſucher ſelbſt an den heute noch lebenden Arten faſt Schritt für Schritt verfolgen, und von der bunten Geſellſchaft urſprünglicher kurzrüſſeliger Be— ſucher werden wir unvermerkt zur Blumen— züchtung beſtimmter Inſektenformen, zunächſt der Schmetterlinge, geführt. III. Die Schmetterlinge als un— bewußte Blumenzüchter. Da die einzige Sorge und Arbeit der Schmetterlinge für die Ernährung und Sicher— ung ihrer Nachkommen in dem verſteckten, oft durch eine Haar- oder Schleimdecke ge— ſchützten Ablegen der Eier an die gewohnte Pflanze beſteht, ſo können und konnten ſie von jeher die ganze Zeit, die ihnen im fertigen Zuſtande umherzuflattern vergönnt iſt, dem Honiggenuſſe und der Liebe widmen und ſich in einſeitigſter Weiſe der Gewinn— ung des Blumenhonigs und des Gatten anpaſſen. In der That ſind ihre Mund— theile viel einſeitiger als diejenigen der Bienen, welche dieſelben außer zur Honiggewinnung auch zur Herſtellung der Brutzellen ge— brauchen, und als diejenigen der Schweb— fliegen, die mit denſelben ſowohl Honig ſaugen als Pollen freſſen, der Gewinnung tief geborgenen Honigs angepaßt. Denn das dünne, aus zwei Halbrinnen zuſammengefügte Saugrohr, zu welchem ſich ihre Kieferladen umgebildet haben, wird mit Leichtigkeit in weitere oder engere, gerade oder gekrümmte Blumenröhren hinabgeſenkt, mittelſt ſpitzer Hervorragungen an ſeinem Ende ſelbſt zur Erbohrung und Gewinnung im Zellgewebe eingeſchloſſenen Saftes benutzt, und beim Nichtgebrauche zu einer zierlichen Rolle zu— ſammengewickelt zwiſchen den emporſtehenden Lippentaſtern geborgen. Nur Empiden, Conopiden und Bombyliden, die als Dip— teren eben ſo wenig Brutverſorgungsarbeit zu | Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. der Gewinnung des Blumenhonigs begün— ſtigtſten Abänderungen; und ihr geſteigerter Farben- und Geruchsſinn hat nicht verfehlen verrichten haben und als Nicht-Pollenfreſſer eben ſo einſeitigen Gebrauch von ihren Mund— theilen machen, können, allein von allen blumenbeſuchenden Inſekten, auch an Ein— ſeitigkeit der Anpaſſung derſelben mit den Schmetterlingen verglichen werden. Aber da ſich bei ihnen die ſämmtlichen Mundtheile, die Unterlippe als Rinne, die übrigen als Borſten, geſtreckt haben, ſo haben ſie weder in ſo einfacher Weiſe eine Verlängerung, noch überhaupt eine ſo geſchützte Bergung in der Ruhelage erlangen können, und ſind in der im Wettkampfe um die Entleerung der tiefſten Honigbehälter entſcheidenden Rüſſelverlängerung nicht nur hinter den Schmetterlingen, ſondern ſelbſt hinter den Bienen weit zurückgeblieben. Höchſt wahr— ſcheinlich hat ſich gleichzeitig mit der Rüſſellänge der Schmetterlinge, in Folge ihrer einſeitigen Vorliebe für Blumenhonig, auch ihr Geruchs— ſinn und überdies, wenigſtens bei den Tag— faltern, auch der Farbenſinn außerordentlich geſteigert, ſei es einfach durch die Wirkung des Gebrauchs, ſei es durch Naturausleſe der unterſcheidungsfähigſten und dadurch in können, wiederum ihre Gatten- und Blumen— auswahl zu beeinflußen. Indem die Weibchen immer denjenigen Männchen den Vorzug gaben, die ihrem entwickelten Geruchsſinn den angenehmſten Eindruck machten, ver— anlaßten ſie die Ausbildung der mannig— faltigen Duftvorrichtungen, welche die Männ— chen in den entſcheidendſten Momenten ihrer Liebeswerbung entfalten; “) ebenſo veran— laßte bei den Tagfaltern die gegenſeitige geſchlechtliche Wahl die Ausbildung eines oft nach den Geſchlechtern verſchiedenen, oft aber auch durch Vererbung von einem Ge— ſchlechte auf das andere bei beiden gleichen farbenprächtigen Schuppenkleides, welches dann nicht ſelten aus einem Putzkleide durch Naturzüchtung nachträglich zu einem Schutz- oder Trutzkleide“ “) umgebildet wurde. Und indem Männchen und Weibchen der Tagfalter bei ihrer Blumenauswahl die ihnen angenehmſten Farben und Gerüche bevorzugten, züchteten ſie Blumen, die ſich durch prächtige Farben, oft mit zierlichen Zeichnungen, oder durch würzige Wohlgerüche oder durch beide Eigenſchaften zugleich aus— zeichnen. Aber natürlich konnten ſie als ſelbſtſtändige Blumenzüchter überall erſt dann auftreten, wenn die übrigen langrüſſeligen Inſekten (Bienen und Fliegen) vom Mitge— nuſſe des Honigs und weſentlicher Mitbe— theiligung an der Kreuzungsvermittlung ausgeſchloſſen waren. Bei der im Weſentlichen übereinſtimmenden Geſchmacksrichtung aller langrüſſeligen Blumenbeſucher war natürlich eine Ausſchließung durch den Einen ſympa— ) Vgl. Kosmos. Bd. II. S. 38 flgde. 0 Ich gebrauche dieſe Ausdrücke im Sinne Jaeger's. Vgl. Kosmos I. S. 486 flgde. Müller, Die Inſekten als 414 thiſche, den Anderen antipathiſche Farben und Gerüche, wie wir ſie bei den Ekelblumen kennen gelernt haben, nicht möglich; nur ein mechaniſches Hinderniß konnte die übrigen langrüſſeligen Gäſte vom Genuſſe des Honigs abhalten und die Schmetterlinge in den Alleinbeſitz deſſelben ſetzen. Ein Vergleich der Mundtheile der Schmetterlinge mit den— jenigen der langrüſſeligen Bienen und Fliegen ergiebt nun ſofort, daß urſprünglich nur die Dünnheit der Schmetterlingsrüſſel, dieſe aber ſehr leicht und durchgreifend, die Möglichkeit des Ausſchließens aller Nicht— Schmetterlinge von Honigquellen, welche Schmetterlingen bequem zugänglich ſind, gewähren konnte. Und in der That ſehen wir die tiefgeborgenen Honigſchätze mancher Blumen durch hinreichend enge Zugänge in den Alleinbeſitz der Falter übergegangen, und dieſe allein mit dem Liebesdienſt der Kreuzungsvermittlung betraut, die betreffen— den Blumen alſo zu ächten „Falterblumen“ geworden. Ebenſo aber wie ſich aus dem großen Heere der Falter als langrüſſeligſte und blumeneifrigſte Gruppe diejenige der Schwärmer hervorgehoben hat, ebenſo haben ſich von den Falterblumen gewiſſe Arten durch Verlängerung ihrer Honigbehälter den alle andern Inſekten an Rüſſellänge übertreffen— den Schwärmern ausſchließlich angepaßt und ſich zu „Schwärmerblumen“ ausgebildet. Alle Falterblumen ſind natürlich auch den Schwärmern zugänglich, ſofern nicht etwa ihre zu große Engigkeit dieſe am Zutritt hindert oder gar wie bei dem im Kosmos (Jahrg. II. Hft. 2. S. 178) von meinem Bruder Fritz Müller be— ſprochenen Hedychium, in eine verhängniß— volle Falle lockt; aber die Schwärmerblumen ſind den übrigen, kurzrüſſeligeren Faltern unzugänglich und bilden ſomit eine beſondere Klaſſe von Blumen, die ſich vor allen unbewußte Blumenzüchter. | übrigen ebenſo durch die Länge, wie die Falterblumen durch die Engigkeit ihrer Zugänge zum Honige auszeichnen. Wir faſſen als die urſprünglicheren zunächſt die Falterblumen ins Auge und ſuchen uns ihre Entſtehung an beſtimmten Beiſpielen klar zu machen. Wenn eine Lychnisart von der Röhren— länge und Weite, überhaupt von der ganzen Blütheneinrichtung unſerer Lyehnis flos cuculi, die, wie wir ſahen, von Schmetter— lingen, Bienen und unſerer langrüſſelig— ſten Schwebfliege (Rhingia rostrata) recht häufig beſucht wird, ihren Verbreitungsbe— zirk in Gegenden ausdehnte, in denen, wie z. B. in der alpinen Region, die Schmetter- linge an Häufigkeit in Vergleich zu den übrigen Blumenbeſuchern ſehr bedeutend zu— nähmen, ſo müßte es offenbar von erheb— lichem Vortheile für ſie ſein, ein bevorzugter Liebling der Schmetterlinge zu werden. Dieſen aber würden, unter übrigens gleichen Um— ſtänden, natürlich diejenigen Blumen am lieb— ſten ſein, die ihnen den Honig zum alleinigen Genuße verwahrten. Träten alſo Abänder— ungen mit engeren, dieſes bewirkenden Röhren auf, ſo würden dieſelben von den Schmetter— lingen vorzugsweiſe ausgewählt und als blei— bende Form gezüchtet werden. Die vorher noch einem gemiſchten, wenn auch bereits engen Beſucherkreiſe zugängliche Lychnis würde da— durch zur Falterblume werden. Genau daſſelbe, was wir hier als mög— lich annahmen, ſcheint ſich an den Stamm— eltern von Lyehnis flos Jovis thatſächlich vollzogen zu haben. Denn ſo gewiß in der ganzen Familie der Caryopyhlleen die Ent— wicklung von offnen zu röhrigen Blumen- formen fortgeſchritten iſt, jo gewiß find die Blumen der näheren oder entfernteren Stamm— eltern auch von Lychnis flos Jovis einem gemiſchten Beſucherkreiſe zugänglich geweſen. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Sie ſelbſt aber treffen wir in den ſchmetter— lingsreichen Thälern der Hochalpen mit ſo verengtem Bütheneingange, daß nur noch Schmetterlinge bequem zu ihrem Honige ge— langen können (Hummeln höchſtens durch mühſames und unbequemes Hineinzwängen des Rüſſels). Und in der That fand ich 415 ſie im Suldenthale am Fuße des Ortler (bei St. Gertrud, 22. Juli 1875), abge- ſehen von einer pollenfreſſenden Fliege (Eri— stalis tenax), nur von Tagfaltern (Colias Phicomone, Argynnis Aglaja, Polyomma- tus hippotho@ var. eurybia), von dieſen aber in Mehrzahl beſucht. Fig. 7. Uebergang von einem gemiſchten Beſucherkreiſe zugänglichen Blumen zu Tagfalterblumen. A Lychnis flos cuculi, deren Honig außer von Schmetterlingen auch von Bienen und den langrüſſeligſten Schwebfliegen ausgebeutet wird. noch von Schmetterlingen ausgebeutet wird. Bienen und Fliegen beſucht. B Lychnis flos Jovis, deren Honig nur C D Daphne Mezereum. von Schmetterlingen, E F Daphne striata, nur noch von Schmetterlingen bejucht. n Nektarium. Ebenſo mag aus einer Daphneform der Ebene oder niederen Berggegend, welche, wie unſer D. Mezereum, von Schmetterlingen, Bienen und Fliegen beſucht wurde, in der alpinen Region von den Schmetterlingen die durch weit längere und engere Blumen— röhren und ungemein würzigen Wohlgeruch ausgezeichnete D. striata gezüchtet worden ſein, deren Honig in Folge des engen Blüthen— einganges (Fig. 7) nur noch Schmetter- lingen zugänglich iſt, und die ich in der | That ausſchließlich von Schmetterlingen be- ſucht fand. Wie in dieſen, jo haben ſich die Schmetter- linge in allen Fällen, wo ſie die entſcheidende Rolle ſpielten, ihre Lieblingsblumen beim Eintreten geeigneter Abänderungen ſo eng— röhrig gezüchtet, daß ſich andere Beſucher vom Kosmos, Band III. Heft 5. 53 416 Müller, Die Inſekten als Mitgenuſſe des Honigs ausgeſchloſſen ſehen. Den Blüthenſtaub dagegen haben ſie, da ſie für ſich ſelbſt ja keinen Gebrauch von dem— ſelben machen, natürlich auch bei ihrer Blumen— auswahl nicht berückſichtigt, und auch Natur— züchtung hat ſeine offene Lage bei Falter— blumen wohl kaum je beſeitigen können, da der Schaden, welchen Pollen ſuchende Inſekten durch nutzloſen Pollenraub wohl anſtiften, durch gelegentlich dabei auch von ihnen ver— mittelte Kreuzung gewiß mehr als aufge— wogen wird, Schutz des Pollens gegen Regen aber ſicherlich Falterblumen nicht nöthiger iſt, als er den allgemeiner zugänglichen Blumen nöthig war, aus denen ſie hervorgegangen ſind. Daher findet ſich, wie wir uns an den vor— ſtehenden Abbildungen veranſchaulichen können, der Blüthenſtaub wahrſcheinlich nur bei ſolchen Falterblumen ebenfalls im Innern der Blu- menröhre geborgen und dadurch der Ein- wirkung pollenfreſſender Inſekten entzogen, deren Stammeltern bereits, als ſie noch einen gemiſchten Beſucherkreis an ſich lockten, dieſelbe Art von Pollenbergung beſaßen. Gezüchtet haben ſich die Schmetterlinge (von den Schwärmern zunächſt abgeſehen) un— mittelbar zu ihrem Nutzen nur die für alle Falterblumen charakteriſtiſchen engen Zu— gänge zum Honige, zu ihrem Vergnügen aber und erſt mittelbar, als Erkennungs— zeichen ihrer auserwählten Lieblinge, auch zu ihrem Nutzen, die ihnen am meiſten zu- ſagenden Farben und Gerüche. Ueberall mußte ſich natürlich ihre ſelbſt— ſtändige Blumenzüchtung an die Züchtungs⸗ produkte des gemiſchten Beſucherkreiſes an— knüpfen, aus welchem ſie hervortraten. Die engen Honigzugänge kamen daher in ver— ſchiedenen Familien von verſchiedenen Aus- gangspunkten aus in ſehr verſchiedener Weiſe zu Stande. Bei den Cruciferen z. B. mußten ſich die getrenntblätterigen, urſprüng unbewußte Blumenzüchter. lich offenen Blüthen durch Aufrichten und Aneinanderſchließen der Kelchblätter erſt zu einer röhrigen Form umgebildet und auf einen engeren Beſucherkreis beſchränkt haben (wie es z. B. bei Cardamine pratensis und in erhöhtem Grade bei Hesperis matronalis der Fall ift*)), ehe beim Auf— treten weiterer Abänderungen die Schmetter— linge ſich als ſelbſtſtändige Blumenzüchter bethätigen und eine Falterblume (wie Hes- peris tristis) erzielen konnten. Welche Um— bildungen die urſprünglich getrenntblättrigen, völlig offenen und allgemein zugänglichen Blüthen der Caryophylleen erlitten haben, ehe aus dem immer enger gewordenen Be— | ſucherkreiſe die Schmetterlinge ſelbſtſtändig hervortreten und durch Auswahl mit noch engeren Kelchröhren verſehener Abänderungen Falterblumen, wie ſo manche Lychnis-, Silene-, Saponaria-, Dianthusarten, züchten konnten, iſt bereits weiter oben kurz angedeutet worden. Am leichteſten mußte ſich natür— lich eine geeignete Ausgangsform für erfolg— reiche Weiterzüchtung durch Schmetterlinge allein ergeben, wenn ſchon zur Zeit der ge— miſchten Beſuchergeſellſchaft eine einfache offene Blumenröhre vorhanden war, wie z. B. bei Daphne und Primula, oder eine honig— haltige Ausſackung, ein ſogenannter Sporn, wie bei manchen Orchideen; denn es be— durfte dann nur noch einer Verengerung dieſer Behälter oder auch nur ihres Ein— ganges. Aber ſelbſt völlig offene Honig- abſonderung auf weit auseinander gebreitet bleibenden Blumenblättern hat der Züchtung enger, nur den Schmetterlingen zugänglicher Honigröhren keine unüberwindlichen Schwie— ) An Cardamine pratensis fand ich 4 Schmetterlinge, 5 langrüſſelige Fliegen und 6 Bienen honigſaugend, an Hesperis matronalis außer Schmetterlingen nur noch unſere lang— rüſſeligſte Schwebfliege Rhingia rostrata. tu —— — Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. rigkeiten entgegengeſetzt, wie uns z. B. Lilium Martagon und bulbiferum beweiſen. Das auf der Mittellinie der Baſis der Perigonblätter urſprünglich, wie z. B. bei Lloydia, völlig offen gelegene Nektarium hat ſich bei dieſen Lilienarten zu einer langen honigabſondernden Rinne geſtaltet, die durch das Zuſammenneigen ihrer Ränder und einen dichten Beſatz von Härchen völlig ge— deckt und zu einer in der That nur Schmetter— lingen zugänglichen Honigröhre geworden iſt. Im Beſitze einer für die übrigen Blumen— beſucher zu engen, honighaltigen Röhre oder eines für dieſelben zu engen Zuganges zum Honig ſtimmen ſämmtliche Falterblumen über- ein, in Bezug auf die Tageszeit aber, in welcher ſie aufblühen, duften und in die Augen fallen, ſind ſie, je nach der Lebens— gewohnheit ihrer Züchter, eben ſo verſchieden wie dieſe, ſo daß ſie ſich im Allgemeinen in Tagfalterblumen und Nachtfalter— blumen unterſcheiden laſſen. Die erſteren ſind von den letzteren durch bunte Farben ausgezeichnet, welche natürlich, da ſie nur bei Tage wirken und gezüchtet werden können, den Nachtfalterblumen fehlen oder höchſtens als Erbſtücke von tagblüthigen Stammeltern her zukommen. Von anderen Tagblumen zeichnen ſich die von den Tagfaltern ge— züchteten bisweilen durch zierlich vertheilte, beſonders gefärbte Punkte aus (z. B. Dian- thus-Arten Gymnadenia conopsea, Orchis globosa und ustulata), die auf den aus— gebildeteren Farbenſinn ihrer Züchter hin— weiſen. Im Uebrigen laſſen ſich die Tag— falterblumen nach ihrer Farbe, wie nach ihrer Entſtehung in zwei ſcharfgeſonderte Gruppen unterſcheiden, je nachdem ſie von den Tag— faltern von unten herauf gezüchtet oder erſt nachträglich aus bereits ausgeprägten Bienen— oder Hummelblumen zu Tagfalterblumen umgeprägt worden ſind. Alle diejenigen 417 Blumen nemlich, welche ſchon von dem Stadium an, als ſie noch einem gemiſchten Beſucher— kreiſe zugänglich waren, von Tagfaltern allein weiter gezüchtet worden ſind, zeichnen ſich, ſoweit ſie der Deutſchen und Schweizer Flora angehören, durch ſanfter oder lebhafter rothe Farbe aus. Es gilt dies von Lychnis diurna, flos Jovis u. a., Dianthus-Arten, Silene acaulis, Saponaria ocymoides, Primula farinosa, longiflora, integrifolia, villosa, minima, Anacamptis pyramidalis, Orchis globosa, ustulata, Nigritella angu- stifolia und Lilium bulbiferum. Alle dieſe ſind von roſenrother oder lebhaft purpur— rother, nur Lilium bulbiferum, die Feuer— lilie, iſt von feuerrother Farbe. Die meiſten dieſer Beiſpiele (etwa 5/0) gehören der Alpen— flora an, in welcher die Tagfalter relativ viel häufiger ſind und daher auch als Blumen— züchter eine viel bedeutendere Rolle ſpielen, als in der niederen Berggegend und noch mehr als in der norddeutſchen Tiefebene, die in der That wohl nur einige Sileneen und, an der Nordgrenze ſporadiſch auf— tretend, die in den Alpen verbreitetere Primula farinosa als Tagfalterblumen auf— zuweiſen hat. Es iſt nun gewiß nicht bloß zufällig, daß von den Tagfaltern, welche auf den Alpen als die häufigſten Blumen— beſucher auftreten, die meiſten ſelbſt lebhaft roth gefärbt ſind (zahlreiche Argynnis- un Melitaea-, mehrere Polyommatus- und Va- nessa-Arten,“) und daß gerade lebhaft roth ge— gefärbte Blumen mit ganz entſchiedener Vorliebe von dieſen ſelbſt lebhaft roth ge— färbten Faltern beſucht werden. So ſah Hh ueber die Blumen züchtenden Tagfalter der Ebene habe ich mir, bei der außerordent— lichen Schmetterlings-Armuth der weſtfäliſchen Ebene, ein beſtimmtes Urtheil nicht bilden können, doch ſcheinen mir auch da neben den Weißlingen Arten der genannten Gattungen zu den blumeneifrigſten zu gehören. 2 ich z. B. Lilium bulbiferum (im Sulden— thale am Fuße des Ortler, im Juli 1875) ausſchließlich von den feuerrothen Arten Argynnis Aglaja, Polyommatus Virgau— Müller, Die Inſekten als rene und P. hippothos var. eurybia, von dieſen aber ſo häufig beſucht, daß oft mehrere zugleich in derſelben Blüthe ſaßen; deren Gleichfarbigkeit ihnen zugleich den Schutz der Unſichtbarkeit gewährte. Die orangefarbenen Compoſiten Crepis aurea, Hieracium aurantiacum, Senecio abro- tanifolius, find bei ſonnigem Wetter ein wahrer Tummelplatz der feuerrothen Tag— falter. Selbſt an lebhaftrothen Rumex— früchten ſah ich (im Suldenthale) die beiden genannten Feuerfalter (Polyommatus) und Argynnis pales ſehr wiederholt anfliegen, an den zahlloſen blauen Blumenköpfen der alpinen Phyteuma-Arten dagegen die Bläu— linge (Lyeaena) mit unverkennbarer Vor— liebe ſich herumtreiben. Nach dieſen und manchen ähnlichen Beobachtungen bin ich ſehr geneigt zu glauben, daß dieſelbe Vor— liebe der Tagfalter für gewiſſe Farben, welche ſich in dem von ihnen durch geſchlechtliche Ausleſe gezüchteten eigenen Putzkleide aus— ſpricht, auch ihre Blumenauswahl und da— durch mittelbar die Farbe der Tagfalter— blumen beſtimmt hat, wie ja auch zwiſchen den Gerüchen der Schmetterlinge und der von ihnen gezüchteten Blumen überraſchende Aehnlichkeiten vorkommen (Vgl. Kosmos, Bd. III. S. 187. „Blumen der Luft“). Daß es in anderen Ländern auch anders gefärbte Tagfalterblumen gibt (als blaue Tagfalterblume iſt mir z. B. Asperula azurea bekannt geworden), ſteht mit meiner Vermuthung in keinem Widerſpruch. Denn nach derſelben könnten ja z. B. in einer Gegend Bläulinge die entſcheidende Rolle geſpielt und ſich blaue Tagfalterblumen ge— züchtet haben. . unbewußte Blumenzüchter. Was die zweite oben angeführte Klaſſe von Tagfalterblumen betrifft, ſo bietet in der That die Alpenflora zwei, wie mir ſcheint, ganz unzweideutige Beiſpiele von Blumen dar, welche aus ausgeprägten Bienen— oder Hummelblumen erſt nachträglich zu Tagfalterblumen umgeprägt worden ſind, nämlich Rhinanthus alpinus und Viola calearata.*) Eine mit unſerem Hahnen— kamm (Rh. erista galli) im Weſentlichen übereinſtimmende, wie dieſe von Hummeln gezüchtete und ausſchließlich von Hummeln beſuchte und befruchtete Rhinanthusform, wie ſie die Stammeltern des Rh. alpinus ohne Zweifel beſeſſen haben werden, mußte beim Vorrücken in die ſchmetterlingsreichere ſubal— pine und alpine Region auch den an allen möglichen Blumen herumprobirenden Tag— faltern den Zutritt zu ihrem Honige ge ſtatten; aber nur diejenigen Tagfalter konnten ihr auch als Kreuzungsvermittler dienen, welche Narbe und Pollen mit ihrem Rüſſel berührten, die alſo denſelben in den oberſten Theil des Blütheneinganges, dicht unter der Narbe her und zwiſchen den Staubbeuteln hindurch, in die Blüthe ſenkten.“ ) Die ) Da die Blütheneinrichtungen beider be— reits in früheren Aufſätzen (Nature vol. XI. p. 110 flgde. u. vol. XIII p. 289 flgde.) von mir eingehend beſchrieben und abgebildet ſind, ſo beſchränke ich mich hier auf eine kurze An— deutung ihrer muthmaßlichen Entſtehung. ) Was ich hier für die Stammeltern von Rhinanthus alpinus als beim Emporrücken auf die Alpen unausbleiblich vorausſetze, habe ich bei unſerem Rh. erista galli var. minor in Meereshöhen von 1800—2400 Meter that- ſächlich beobachtet. Ein Bläuling, Lycaena argus, flog wiederholt auf Blüthen von Rh. minor an und ſtreckte von oben kommend den Rüſſel durch die obere kleine Oeffnung dicht unter der Narbe in die Blüthe, Erebia melampus ſaugte durch dieſelbe Oeffnung. Plusia Hochen- wartii dagegen, die ſehr behend und andauernd Bi Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. in dieſer Weiſe verfahrenden Tagfalter konnten als alleinige Kreuzungsvermittler auch allein eine züchtende Wirkung ausüben, und ſie übten dieſe Wirkung aus, indem ſie ſolche Abänderungen der RKhinanthus-Blumen be— vorzugten, welche ihnen im oberſten Theile des offenen Spaltes der Oberlippe den be— quemſten Eingang für ihre Rüſſel darboten. So züchteten ſie ſich über der zunächſt noch offen bleibenden Hummelthüre eine hervor— ſtehende, durch zwei divergirende blaue Seiten— läppchen leicht fihtbare *) und bequem zu— gängliche beſondere Thüre für ihren langen dünnen Rüſſel. Der ſubalpine Rhinanthus aleetorolophus iſt auf dieſer merkwürdigen Stufe gleichzeitiger Anpaſſung an zwei fo verſchiedene Beſucherkreiſe wie Hummeln und Tagfalter ſtehen geblieben, entſprechend der in dieſer Region ungefähr gleichen Häufig— keit beider. Wo aber die Tagfalter an Häu— figkeit der Kreuzungsvermittlung und damit an Einfluß auf die Züchtung das entſchiedene Uebergewicht erlangten, da hatten natürlich diejenigen Abänderungen, welche den Tag- faltern allein den Honig aufbewahrten, die an Rhinanthus minor ſaugte, führte den Rüſſel regelmäßig durch die Hummelthüre in die Blüthen ein. Wäre dieſe geſchloſſen und die obere kleine Oeffnung, wie bei Rh. alpinus, weiter vorgeſtreckt und durch ausgebreitete Seitenflügel bequem zugänglich, ſo würde Plusia Hochenwartii im Heuthale am Bernina wahr— ſcheinlich der wirkſamſte Kreuzungsvermittler von Rh. minor ſein, während ſie ohne dieſe Anpaſſungen ihr nur ein nutzloſer oder vielmehr durch Honigraub direkt ſchädlicher Gaſt bleibt. ) Man könnte in der blauen Farbe dieſer von den alpinen Tagfaltern gezüchteten Seiten— läppchen einen Einwand gegen ihre ſo eben behauptete Vorliebe für Roth erblicken. Dieſer Einwand wird aber hinfällig, wenn man be— denkt, daß in dieſem Falle die Tagfalter völlig ausgeprägte gelbe Blumen vorfanden und daß von ſolchen gerade blaue Läppchen ſich am ſchärfſten abheben. vn 419 meiſte Ausſicht, zur Kreuzungsvermittlung ausgewählt und dadurch als dauernde Form ausgeprägt zu werden. Hier konnte alſo — und mußte, beim Auftreten geeigneter Ab— änderungen — eine Rhinanthusform mit geſchloſſener Hummelthür und allein geöff— neter Falterthür gezüchtet werden, wie ſie uns Rhinanthus alpinus darſtellt. In ähnlicher, aber weit einfacherer Weiſe, nämlich durch einfache Spornverlängerung, iſt vermuthlich aus Viola tricolor oder einer im Weſentlichen der Blütheneinrichtung mit ihr übereinſtimmenden Art beim Vor— rücken in die alpine Region Viola calcarata gezüchtet worden. Natürlich hatte die züchtende Thätigkeit der Inſekten da, wo es ſich um ſchon feſt ausgeprägte und beſtimmte, ganz abweichen— den Inſektenklaſſen eng angepaßte Blumen- formen handelte, einen nur ſehr engen Spiel— raum, und es iſt kaum auffallend, daß eine beſtimmte Farbenliebhaberei der Tagfalter in den genannten beiden Fällen von Umzüchtung nicht zur Geltung gelangt iſt. Außer durch enge Honigröhren und lebhafte Farben ſind manche Tagfalterblu— men durch einen ſtarken, gewürzhaften Wohl— geruch ausgezeichnet, wie z. B. in der Ebene manche Nelken, in den Alpen das Choko— ladenblümchen, Nigritella welches ſeine ungemeine Anziehungskraft für Schmetterlinge wohl zum großen Theile ſeinem vanilleähnlichen“) Dufte verdankt. Aber viele Tagfalterblumen ſind faſt geruch— los, und mehreren derſelben, z. B. Silene ) Auch unter den durch geſchlechtliche Aus— wahl von den Tagfaltern gezüchteten Düften ſpielt Vanillegeruch eine wichtige Rolle. Unter angustifolia, andern wird z. B. der Duft, welchen das Männchen der prächtigen Morpho Adonis ent- wickelt, von meinem Bruder Fritz Müller in einem Briefe an mich als vanilleartig be— zeichnet. Müller, Die Inſekten als unbewußte Bl 420 umenzüchter. acaulis und Saponaria oeymoides, gelingt | im Halbdunkel weithin ſichtbare Farbenab— es trotzdem, durch lebhaft rothe Farben und dichtes Zuſammendrängen zu größeren im Sonnenſchein weithin leuchtenden Flächen einen kaum minder reichlichen Beſuch von Tagfaltern an ſich zu locken. Eine ganz andere Wirkung haben Farben und Wohlgerüche im Halbdunkel des Abends und der Nacht. Nur helle Farben können da von weitem in die Augen fallen, nur fie können daher von Nachtfaltern gezüchtet werden. Sie können zwar, wenn ſie in hinreichend großen Flächen auftreten, für ſich allein genügen, den Blumen die Aufmerkſam— leit ihrer nächtlichen Kreuzungsvermittler zu— zuwenden; ſie vermögen aber wahrſcheinlich nicht, denſelben einen eben ſo angenehmen Sinnesreiz zu gewähren, wie ihn die Tag— falter beim Anblick ihrer Lieblingsfarben offenbar genießen. Daher gibt es auch nur wenige Nachtblumen, welche ausſchließlich durch große weiße Blüthenhüllen ſich bemerk— bar machen, wie z. B. unſere Zaunwinde, Convolvulus sepium.*) In der Regel geſellt ſich zur weißen oder blaſſen Farbe ein Wohlgeruch, der ſich erſt des Abends kräftig entwickelt. Auch das Aufblühen er— folgt bei vielen Nachtblumen ausſchließlich oder vorwiegend des Abends, und es bedarf keiner beſonderen Ausführung, wie die Nacht— falter ſelbſt durch Auswahl der ihnen am meiſten in die Sinne fallenden und den Honig zu ihrem ausſchließlichen Genuſſe am beſten verwahrenden Abänderungen ſich blaſſe, erſt des Abends kräftig zu duften begin— nende, oder des Abends überhaupt erſt auf blühende Blumen gezüchtet haben. Wo keine ) Convolvulus sepium wird zwar auch von Taginſekten, namentlich von Bienen, ge— legentlich aufgeſucht, ſeine hauptſächlichſten Kreuzungsvermittler ſind aber Nachtſchmetter— linge, vor allem Sphinx Convolvuli. änderungen auftraten, welche von den nächt— lichen Gäſten hätten gezüchtet werden können, und ſtarker Duft allein das Anlockungs— mittel derſelben bildete, da entzog ſich wenig— ſtens eine etwa ererbte lebhafte Farbe der weiterbildenden oder auch nur erhaltenden Wirkung der von den Kreuzungsvermittlern geübten Auswahl, und es konnten dann Blumenblätter, deren weſentlichſter Lebens— dienſt urſprünglich die Augenfälligmachung der Blumen geweſen war, zu einer Unſchein— barkeit und Mißfarbigkeit herabſinken, wie ſie uns mit dem Begriffe der Blumen bei der erſten Betrachtung faſt im Widerſpruche zu ſtehen ſcheint und z. B. bei Hesperis tristis“) jo unangenehm auffällt. Wenn ſich nun auch im Allgemeinen Tag- und Nachtfalterblumen durch die be— ſprochenen Eigenthümlichkeiten leicht und ſicher unterſcheiden laſſen, ſo fehlt es doch zwiſchen denſelben eben jo wenig an Zwiſchenſtufen, als die Sonderung der Schmetterlinge nach ihrer Lebensgewohnheit, bei Tage oder bei Nacht zu fliegen, irgend wie eine ſcharfe iſt. Während z. B. Saponaria officinalis, Lych- nis alba, Silene nutans und inflata, Platanthera bifolia (solstitialis Boenning- haus) und chlorantha als ausgeprägte Nacht— falterblumen der deutſchen Flora genannt zu werden verdienen, haben wir Daphne striata, Gymnadenia conopsea, odoratissima, Cro— cus vernus und Lilium Martagon als Zwiſchenſtufen zwischen Tag- und Nachtfalter— blumen zu betrachten. Die beiden erſten der zuletzt genannten Arten ſchwanken völlig unentſchieden zwiſchen dem Charakter der Tag- und der Nacht— falterblumen. striata nämlich kommt ziemlich gleich häufig und oft neben einander an demſelben Standorte (z. B. im Nature Vol. XII. p. 190 flgde. Daphne Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. i Fig. 8. Eine ausgeprägte Nachtfalterblume Platanthera bifolia (solstitialis Boenninghaus) vom Weißenſtein im Albulathale. A Blüthe von der Seite geſehen (faſt 2: 1). B Dieſelbe gerade von vorn geſehen (4: 1). 0 Geſchlechtsorgane nebſt Sporneingang, gerade von vorn geſehen (faſt 16: 1). DE Staub- kölbchen, nach vollendeter Drehung, nebſt ihren Klebſcheibchen (faſt 16 : 1). br Blüthendeck— blatt, ov Fruchtknoten, sss äußerer Kreis der Blüthenhüllblätter, p p p’ innerer Kreis der Blüthenhüllblätter, n hohler Sporn, bis x mit Honig gefüllt, o enge Eingangsöffnung deſſelben, a Anthere, a a Antherenrudimente, ar rechte, al linke Antherentaſche, po Staub- lölbchen, e Stiel deſſelben, d Klebſcheibchen von der Seite geſehen, d daſſelbe auf der Innenfläche, d? daſſelbe auf der Außenfläche. Die Spornlänge variirte an dem angegebenen Standort von 13 — 21 Millimeter. Die weißen Blumen entwickeln des Abends kräftigen Duft. Der Sporn iſt dann oft bis / feiner Länge mit Honig gefüllt. ſchmetterlinge ihren Rüſſel in den hohlen Sporn ſtecken, um deſſen Honig zu gewinnen, ſo kitten fie dabei unvermeidlich die beiden auf der Innenfläche klebrigen Scheibchen (C, d d') an die Baſis ihres Rüſſels, nehmen beim Wegfliegen die dieſen Klebſcheibchen angehefteten Staubkölbchen (Fig. D E) mit ſich und ſtoßen dieſelben, nachdem fie die in Fig. E darge— ſtellte Abwärtsdrehung gemacht haben, gerade gegen die Narben (st Fig. C) der nächſt— beſuchten Blüthen, wo dann ein Theil des Pollens haften bleibt. Wenn nun Nacht⸗ oberen Theile des Heuthales am Bernina) in allen Farbenabſtufungen zwiſchen Roſen— roth und Weiß vor, und wird nach meinen wiederholten Beobachtungen ziemlich gleich häufig von einigen Tagfaltern (Colias Phicomone, Hesperia comma, Argynnis pales und euphrosyne) bei Tage fliegenden Widderchen (Zygaena exulans) und von einigen Eulen (Plusia gamma und Hochen- wartii) beſucht und befruchtet. Obgleich nun meine Beobachtungen nur bei Tage gemacht wurden, ſo unterliegt es doch wohl kaum einem Zweifel, daß die auch des Nachts fliegenden beiden Eulen die bei Tag und Nacht geöffneten und durch kräftigen gewürz— haften Wohlgeruch ſich bemerkbar machenden Blumen der Daphne striata auch des Nachts beſuchen werden, wahrſcheinlich im Vereine mit manchen andern nur Nachts fliegenden Arten, und daß die bisweilen ſchneeweiße Farbe dieſer Blume das Züchtungsproduct ihrer nächtlichen Gäſte iſt. JH FT —— — ͤ——— Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. | 422 Eine ähnliche Ausdauer des Blühens und Duftens bei Tag und Nacht, ähnliche Abſtufungen der Farben von Roſenroth bis Weiß und des Beſucherkreiſes von nur bei Tage fliegenden bis zu nur bei Nacht flie— genden Faltern bietet Gymnadenia con- opsea dar, die ich bei Tage in den Alpen von etwa zwanzig verſchiedenen Tagfalterarten und mehreren Dämmerungs- und Nacht— faltern, darunter Plusia gamma, beſucht fand, während George Darwindes Nachts an derſelben Blume außer der nämlichen Plusia gamma noch drei andere, nur des Nachts fliegende Eulenarten fing. Während ſo die beiden genannten Blu— menarten zwiſchen den Eigenſchaften der Tag- und denjenigen der Nachtfalterblumen noch völlig unentſchieden hin- und herſchwan— ken, neigen dagegen Gymnadenia odora- tissima und Crocus vernus ) unverkenn— bar ſchon ſehr ſtark nach der Seite der Nachtblumen hin. Denn ſowohl die äußerſt ſtark gewürzhaft duftende erſtere, als der faſt geruchloſe letztere ſchwanken in der Farbe nur noch zwiſchen blaſſem Roſenroth und reinem Weiß, und dem ſcheint ihr Beſucher— kreis völlig zu entſprechen. Denn G. odo— ratissima fand ich, auch wo ſie maſſenhaft ſtand, bei Tage doch nur ſehr ſpärlich von einigen Nachtfaltern (Mythimna imbeeilla, Odezin chaerophyllata, Crambus coulo- nellus) beſucht, und die blaſſen Blumen von Crocus vernus, welche im tief eingeſchnittenen Grunde des Heuthals am Berning erſt im Monat Auguſt am Rande des hier noch maſſenhaft liegenden Schnees zu blühen be— ginnen, faßte ich vom 4. bis 12. Auguſt ) Das gilt in Bezug auf Crocus vernus wenigſtens für das Heuthal am Bernina, den einzigen Standort, wo ich dieſe Art im Natur— zuſtande zu beobachten bisher Gelegenheit hatte. 1877 alltäglich längere Zeit ins Auge, ohne einen einzigen Beſucher zu beobachten. Gleichwohl fand ich beim Zergliedern ein— zelner Blumen Pollenkörner bis tief in die enge Röhre hinein befördert, wohin ſie nur durch Schmetterlinge gelangt ſein konnten, ſo daß wohl Nachtfalter hier thätig geweſen Fig. 9. Eine Zwiſchenſtufe zwiſchen Tag- und Nachtfalterblumen, Crocus vernus. A Blüthe in natürlicher Größe, nach Ent- fernung der vordern Hälfte der Blumenkrone. B Die drei Narbenäſte (7: 1). C Ein Stüd- chen der Saftdecke (7 : 1), ſowie ein Staub- faden, an der Stelle, wo er ſich von der Blumenkrone trennt, durchſchnitten. Man ſieht, wie ſich die Behaarung zwiſchen zwei Staubfäden und in dem Winkel zwiſchen Staubfäden und Blumenkrone ausbreitet. ſein mußten. Nicca,*) welcher die Blüthen des Crocus vernus häufig und eifrig von Tagſchmetterlingen beſucht fand, hat ver— muthlich lebhafter gefärbte Abänderungen dieſer Blume vor ſich gehabt. Da übrigens Ricca, der bis jetzt allein über die Be— 9 Atti della Soc. It. di Scienze nat. Vol. XIII, fasc. III p. 254. 255. fruchtungseinrichtung von Crocus vernus etwas veröffentlicht hat, die Blüthen irr— thümlicher Weiſe als honiglos und trotzdem von Schmetterlingen häufig und eifrig be— ſucht ſchildert, ſo will ich nicht unterlaſſen, ſogleich an dieſer Stelle ſeinen Irrthum zu berichtigen. Die lange Blumenkronenröhre des Cro- cus vernus enthält in der That Honig, der vom Fruchtknoten ſelbſt abgeſondert zu werden ſcheint und, da die enge Röhre vom Griffel ſelbſt ausgefüllt wird, bis in das oben erweiterte Ende derſelben emporſteigt. Die nur als Saftdecke zu deutenden Härchen machten mich zuerſt auf die Anweſenheit des Honigs aufmerkſam, den ich ebenſo wie Ricca Anfangs überſehen hatte; darauf ge— lang es mir bald, ihn auf der Innenwand der der Länge nach offen geſpaltenen Blumen— kronenröhre als farbloſen Saft zu erkennen und ſogar ſeine Süßigkeit zu ſchmecken. Die Narben ſind anfangs zwiſchen den Staubfäden eingeſchloſſen, ſo daß nur die Staubbeutel ihre pollenbedeckte Außenſeite der Berührung der eindringenden Falter— rüſſel darbieten; erſt ſpäter, wenn bei reich— lichem Falterbeſuche der Blüthenſtaub bereits entfernt iſt, treten die becherförmigen zer— ſchlitzten Narben zwiſchen den Staubfäden nach außen hervor, ſo daß, wenn es an honigſuchenden Schmetterlingen nicht mangelt, ſtets ältere Blüthen mit dem Pollen jüngerer gekreuzt werden. Ebenſo ſicher erfolgt bei ausbleibendem Schmetterlingsbeſuche Selbſt— beſtäubung, da in dieſem Falle die mit Pollen behaftet gebliebenen Staubbeutel die zwiſchen ihnen hervortretenden Narbenäſte mit Pollen behaften. Für die Abſtammungslehre ſind die jo eben beſprochenen Fälle von beſonderem In— tereſſe. Denn da uns als Vorſtufen der — iu ne a nn Kosmos, Band III. Heft 5. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. m——__— m 423 Falterblumen überhaupt nur Tagblumen be— kannt ſind, jo haben wir uns alle Nacht falterblumen als aus Tagfalterblumen her— vorgegangen vorzuſtellen und Uebergänge von den letzteren zu den erſteren als noth— wendige Durchgangspunkte vorauszuſetzen. Dieſe Vorausſetzung findet nun durch die beſprochenen Fälle ihre thatſächliche Begründ— ung. Die Mannigfaltigkeit der in der jetzigen Blumenwelt noch fortlebenden Zeugen des vorausgeſetzten Urſprunges aller Nachtfal— terblumen iſt aber damit keineswegs erſchöpft. Während nämlich die beſprochenen Zwi— ſchenſtufen durch ihre Variabilität in dem— ſelben Merkmale, der Farbe, theils zwiſchen Tag- und Nachtfalterblumen völlig unent— ſchieden hin- und herſchwanken, theils mehr nach der Seite der Nachtblumen hin neigen, giebt es andererſeits Verbindungsglieder zwiſchen beiden Klaſſen von Falterblumen, die in beſtimmter, nicht ſchwankender Aus- prägung ſich durch ihre Farbe als Tagblumen, durch ihr abendliches Aufblühen und erſt am Abend kräftig hervortretenden Duft als Nachtblumen kennzeichnen und in der That ſowohl bei Tage als bei Abend und Nacht von Faltern beſucht und befruchtet werden. Außer Orchis (Anacamptis) pyramidalis, auf deren Doppelnatur bereits Darwin in ſeinem Orchideenwerke hingewieſen hat, verdient in dieſer Beziehung noch der Türken⸗ bund, Lilium Martagon, hervorgehoben zu werden. Obgleich derſelbe ſeinen kräf— tigſten Duft erſt des Abends entwickelt und erſt dann durch denſelben ſeine wirkſamſten Kreuzungsvermittler, die Schwärmer, an ſich lockt,“) fo iſt er doch noch hinreichend augenfällig gefärbt, um auch bei Tage die Aufmerkſamkeit verſchiedener Falter zu er— regen und manche derſelben zu andauernden Beſuchen zu veranlaſſen. So ſah ich ſeine *) Nature Vol. XII. p. 50 flgde. 54 424 Blüthen in den Alpen bei Tage von Agrotis ocellina, Mythimna imbeeilla, Zygaena transalpina, filipendulae, exulans, Ino statices, Colias Phicomone und Poly- ommatus hippothos var. eurybia, zum Theil ziemlich häufig, beſucht und gelegent- lich auch befruchtet, aber eine einzige Macro- glossa stellatarum, die ich gegen Abend (in Metzerall in den Vogeſen, 5. Juli 1874) wenige Minuten hindurch am Türkenbunde in Thätigkeit ſah, befruchtete während dieſer kurzen Zeit wahrſcheinlich mehr Blüthen, als alle obigen Beſucher zuſammen ge— nommen, ſo oft ich ſie auch ins Auge ge— faßt habe. Mit ihrer ſchmutzig hellpurpurnen, dunk— ler gefleckten Blüthenhülle macht dieſe Lilien— art durchaus den Eindruck, der Abkömm— ling einer wie Lilium bulbiferum feurig gefärbten Tagfalterblume zu ſein, welche ſich nachträglich der viel wirkſameren Kreuz— ungsvermittlung der Schwärmer angepaßt und, dem züchtenden Einfluſſe der Falter entzogen, ihre lebhafte Farbe eingebüßt hat. Sie iſt aber auf halbem Wege ſtehen ge— blieben. Es iſt den zuletzt als Blumen— züchter in Thätigkeit getretenen Schwärmern wohl gelungen, am Türkenbund ſich in der Regel nach unten gekehrte Blumenformen zu züchten, deren Honigrinnen nur ihnen als freiſchwebend ſaugenden Schmetterlingen bequem zugänglich ſind und die nur ihren nächtlichen Beſuchern kräftigen Wohlgeruch ſpenden; aber ſie ſind, in Ermangelung geeigneter Abänderungen, weder im Stande geweſen, die früher von Tagfaltern gezüch— tete lebhafte Farbe hinlänglich zu beſeitigen, noch dieſe urſprünglich alleinigen Beſucher vom Genuſſe des Honigs auszuſchließen. Sie müſſen es ſich daher gefallen laſſen, die Honigbehälter oft von dieſen entleert zu finden, was ihnen dann natürlich das eif— Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. rige Weiterarbeiten an derſelben Blumenart verleidet und dieſe zum Nothbehelfe der Selbſtbefruchtung zwingt. Dieſe nur halbgelungene Blumenzüchtung der Schwärmer führt uns nun zur Betrach— tung ihrer ganz gelungenen Züchtungsprodukte, d. h. der Schwärmerblumen, die zugleich mit der Beſchränkung auf den engſten Be— ſucherkreis die vollkommenſte Sicherung der Kreuzungsvermittlung gewonnen haben. Wo— durch gerade die Schwärmer beſonders ge— eignet ſind, ihren auserwählten Lieblingen, die ihnen allein ihren Honig aufbewahren, den entſcheidenden Vortheil regelmäßiger Kreuzung zuzuwenden, wird uns am deut— lichſten in die Augen ſpringen, wenn wir die Blumenarbeit der Tagfalter mit der— jenigen der Schwärmer vergleichen. Die Tagfalter betreiben ihre Blumen— beſuche in leichter, tändelnder Weiſe, nicht als eine ernſte Arbeit um den nöthigen Lebensunterhalt, ſondern als die nächſt der Liebeswerbung angenehmſte Unterhaltung in den warmen Strahlen der Sonne. Die Blumen ſind ihnen öffentliche Vergnügungs— orte, die ihnen neben ſüßem Honiggenuſſe die beſte Gelegenheit darbieten, ihre Pracht— kleider zur Schau zu ſtellen und Liebesver⸗ hältniſſe anzuknüpfen, die ſie aber jeden Augenblick bereit ſind, im Stiche zu laſſen, ſei es, um mit dem erſten beſten Kameraden, der ſich blicken läßt, ſich jagend durch die Luft zu wirbeln, ſei es, um einem in Sicht gekommenen Weibchen nachzuflattern oder einer eingebildeten Gefahr zu entfliehen. Ganz auf ſo unſichere, leichtfertige Gäſte ſich ein— zurichten, kann ſelbſtverſtändlich nur für eine verhältnißmäßig geringe Zahl von Vergnüg— ungslokalen, die für dieſelben eine ganz beſon— dere Anziehungskraft haben, und zu denen die— ſelben daher doch immer wieder zurückkehren, ein lohnendes Geſchäft ſein. Daher iſt die Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Zahl der Tagfalterblumen im Vergleich zu der der Tagfalter vielmal kleiner, als z. B. die Zahl der Hummelblumen im Vergleich zu derjenigen der Hummeln, aber auch als die Zahl der Schwärmerblumen im Ver— gleich zu derjenigen der Schwärmer. Denn wie an Rüſſellänge, ſo ſind an Schnelligkeit des Flugs und der Blumen— befruchtung die Schwärmer allen übrigen Inſekten weit überlegen. Den vollen Ein— druck von ihrer Leiſtungsfähigkeit kann man jedoch wohl nur auf den blumenreichen Alpen— höhen bekommen, wo einige Schwärmerarten am hellen Tage, ſelbſt in der brennenden Mittagsſonne, umherſchwärmen, und, von dem Licht und der Wärme vielleicht noch zu erhöhter Lebensenergie angeregt, an dem die kahlen Flächen überkleidenden Blumen— teppich dicht von unſeren Augen ihre er— ſtaunlichen Leiſtungen ausführen. Unter dieſen günſtigſten Umſtänden hatte ich in den Mittagsſtunden des 22. Juli 1877 auf dem Albulapaſſe und den ihn umgebenden Höhen wiederholt das Glück, dem Schauſpiele ihrer vollen Kraftentfal- tung in nächſter Nähe beizuwohnen. Ich ſah da eine einzige Macroglossa stellatarum in wenigen Minuten an mehreren hundert Blüthen von Primula integrifolia und dazwiſchen an einzelnen von Viola calcarata freiſchwebend ſaugen. Eine zweite beſuchte in ebenſo kurzer Zeit hunderte von Gentiana bavarica und verna und Viola calcarata, dazwiſchen einzelne Gentiana exeisa. Eine dritte und vierte hielten ſich an Primula inte- grifolia und verweilten in der Regel noch nicht einmal ganz eine Secunde an einer einzelnen Blüthe, wahrſcheinlich weil die meiſten Blüthen ihres Honigs bereits entleert waren; denn an manchen verweilten ſie freiſchwebend und ſaugend mehrere Secunden. Außer mehreren hundert Primula integrifolia ſaugten ſie da— zwiſchen einzelne Pr. farinosa und Viola calcarata. Eine fünfte verfolgte ich mit der Secundenuhr in der Hand; ſie beſuchte in nicht ganz 4 Minuten 108 Blüthen von Viola calcarata, die Spitze des Rüſſels war ſo dicht mit dem weißlichen Pollen derſelben umkleidet, daß man ſie auf einige Schritte Entfernung deutlich erkennen konnte. Nach dem Beſuche der 108 Blüthen verlor ich das Thier aus den Augen. Als ich eben die Beobachtung notirt hatte und wieder aufblickte, ſah ich abermals eine Macroglossa stellatarum an Viola calcarata beſchäftigt (ob daſſelbe Exemplar oder ein neues, weiß ich nicht). Ich verfolgte fie wieder mit der Uhr in der Hand. Sie beſuchte in 6°), Minuten 194 Blüthen; durchſchnittlich brauchte ſie alſo zum Beſuche einer Blüthe und dem Fluge zur folgenden nur zwei Se— cunden. An manchen Blüthen verweilte ſie nur äußerſt flüchtig, an anderen mehrere Secunden; an allen aber ſchob ſie freiſchwe— bend das Ende des (22— 28 mm. langen) Rüſſels unter den Narbenkopf und bewirkte daher ſicher Befruchtung mit Pollen getrenn— ter Stöcke. Wenn dieſe Beobachtungen nicht nur die enorme Behendigkeit und Ausdauer der Schwärmer im Ausſaugen des Blumen- honigs, ſondern zugleich ihr im ganzen treues Feſthalten an derſelben einmal erwählten Blumenart uns klar vor Augen ſtellen, wer möchte dann bezweifeln, daß ſie viel erfolg— reichere Blumenzüchter ſein müſſen, als die leichtlebige Geſellſchaft der Tagfalter und ſelbſt als die zwar den Tagfaltern in Raſch— heit und Ausdauer in ihrer Blumenarbeit weit überlegenen, aber doch den Schwärmern noch lange nicht gleichkommenden Eulen? Trotz ihrer geringen Zahl, trotz ihrer im Ganzen ſo beſchränkten Flugzeit, und trotz der in unſeren Breiten ihnen ſo ungünſtigen 426 Müller, Die Inſekten als Witterung, die oft vielleicht Wochen lang ihre Ausflüge gänzlich verhindert, iſt es in der That den Schwärmern gelungen, ſelbſt bei uns ſich mehrere ihrer auserwählten Lieblinge ſo langröhrig und leicht bemerkbar zu züchten, daß alle übrigen Beſucher vom Genuſſe des Honigs derſelben ausgeſchloſſen bleiben und ſie ſelbſt jedes Zeitverluſtes durch Umherſuchen nach dem ihnen ausſchließ— lich zugänglichen Honig überhoben ſind. Nur auf den Alpen, wo, wie wir ſo— eben geſehen haben, einige Schwärmer mit Vorliebe im Sonnenſcheine ihre Ausflüge machen, iſt es ihnen möglich geweſen, ſich Tagblumen zu ihrem ausſchließlichen Ge— brauche zu züchten. Gentiana bavarica und verna (und vielleicht noch einige andere Gentiana-Arten der Untergattung Oyelo- stigma) ſind in der That unzweideutige Züchtungsprodukte der im Sonnenſcheine ſchwärmenden Sphingiden; ſie find unzwei- felhaft Tagſchwärmerblumen. Aus unbewußte Blumenzüchter. Blumenröhren, wie diejenigen von C. ba- varica und verna, über 20 Millimeter lang ſind, da von allen Schmetterlingen der Alpen nur Schwärmer hinlänglich lang— rüſſelig genug ſind, um den Honig der— ſelben auszubeuten. In der Ebene und niedern Berggegend, wo die Schwärmer in der Regel erſt des Abends zu fliegen beginnen, haben ſie na— türlich in der Regel auch nur Nacht— ſchwärmerblumen ſich zu züchten ver— mocht, wie einerſeits unſere Heckenwinde (Convolvulus sepium), die blos durch ihre ſchneeweiße Farbe Schwärmer in ihre großen Blüthentrichter lockt, und die ebenfalls weiße, aber faſt geruchloſe Lychnis alba, anderer- ſeits Lonicera, Perielymenum, Caprifolium und Saponaria officinalis, welche außer der bleichen Farbe einen kräftigen Wohl— geruch als Anlockungsmittel beſitzen. Auch zwiſchen Tag- und Nachtſchwärmer— blumen fehlt es nicht an Verbindungsglie— der von den Hummeln gezüchteten Unter— | gattung Coelanthe hervorgegangen, haben fie | von dieſer die blaue Farbe und die röhrige Blumenkrone ererbt, Schmetterlinge aber haben daraus Blumenröhren gezüchtet, deren Eingang durch die zu einer Scheibe ver— breiterte Narbe allen Nicht-Schmetterlingen verſchloſſen iſt, und die ſich durch Zuſam— mendrehen ſchließen, ſobald die Sonne hinter den Wolken oder hinter den Bergen ver— ſchwunden iſt und die plötzlich eingetretene Kühle die Falter vom Schauplatze ihrer dern, und nicht ſelten weiſen Erbſtücke der letzteren mit Beſtimmtheit auf ihren Ur— ſprung aus Tagblumen hin. So bekun— det Saponaria officinalis, Oenothera bien- nis und Mirabilis Jalapa durch ihre Farbe, Posoqueria fragrans durch gelegentliches Aufblühen bei Tage ihre Abſtammung von Tagblumen. Bei dem großen Dunkel, welches über den Verwandtſchaftsverhältniſſen der höheren Thätigkeit verſcheucht hat. Die erſten Stu- fen der Untergattung Cyelostigma, welche durch dieſe Eigenſchaften ſich auszeichnet, mögen durch Tagſchmetterlinge überhaupt gezüchtet worden ſein. Unzweifelhaft aber find Tagſchwärmer die Züchter aller der- jenigen Cyelostigma-Arten geweſen, deren Pflanzen noch herrſcht, muß uns jeder Fingerzeig, der uns auf die Abſtammung gewiſſer Arten hinweiſt, willkommen ſein. Und ſo viel wenigſtens dürfte aus den vorſtehenden Auseinanderſetzungen mit Si— cherheit hervorgehen, daß uns in den Falter— blumen überhaupt und in den Nachtfalter- blumen insbeſondere ſehr beſtimmte der— artige Fingerzeige vorliegen. Der Spradienkampf im Wallifer Von Alexander Maurer. eben Graubündten dürfte Wal— 3 Sittenforſcher wohl die inter— W eſſanteſte Alpenlandſchaft der ganzen Schweiz ſein. In immer engern und engern Kreiſen umtoſen ita— lieniſches, deutſches und franzöſiſches Leben ſeine altersgrauen Bergrieſen. Von der Spitze des Monte Roſa ſchweift der Blick weit über die lombardiſche Ebene, die Al— pen Savoyens, der Dauphiné und der deutſchen Schweiz hin. An ſeinen Fels— und Eispyramiden erproben alljährlich Hun— derte kühner Berg- und Gletſcherfahrer ihre lis für den Sprach- und | Hochgebirge. ches Denkwürdige dem Staube der Ver— geſſenheit entriſſen; es ſcheinen ihr aber die ſogenannten hiſtoriſchen Perſönlichkeiten mehr zu imponiren als die Strömungen des Volksgeiſtes. Schon iſt im Unterwallis das meiſte Eigenthümliche geſchwunden. Das hölzerne Haus, welches auf eingerammten Pfählen mit rohen, einfach darüber hingelegten Fels— platten ruht, weicht dort dem ſteinernen Kulturgebäude, der zinnerne Krug dem Kraft, Ausdauer und Schwindelloſigkeit. Aber um das Volk, welches in dieſen Thä— lern hauſt, bekümmert ſich ſelten einer. Gegenſtande etwas mehr Aufmerkſamkeit zu widmen, als bis heute geſchehen; zumal in der Jetztzeit, wo Eiſenbahnen- und Table d' höte-Demokratie mit ihrem kosmopolitiſch nivellirenden Hauche ſo gewaltig im her— gebrachten Stillleben dieſer Gebirgsſtämme aufräumen. Glaſe, die hölzerne „Gebſe“ den individua— liſtiſchen Beſtrebungen des Thongeſchirrs. Die Landestracht, mit Ausnahme des kurz— krämpigen, flachen Hutes der Weiber, iſt dort ſowie im ganzen übrigen Wallis be— reits abgethane Sache. Die Volksſage hat Und doch wie dringend wäre es, dieſem ſchaft der römiſchen Kirche entſchieden chriſt— unter der mehr als tauſendjährigen Herr— lich-katholiſche Färbung angenommen. Doch bietet die patriarchaliſch-communiſtiſche Le— bensweiſe, namentlich aber die Sprache der wiſſenſchaftlichen Ausbeute noch vieles; von | | | | ihnen geleitet, dürfte es dem ſinnenden For— ſcher bisweilen gelingen, auch über ſolche | Wohl hat die verbriefte Geſchichte man- | Zeiten Aufſchluß zu erlangen, mit denen | ).. 428 Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. ſonſt die blos auf ſchriftlichen Dokumenten fußende Geſchichte nichts anzufangen weiß. Wenn man vom italieniſchen Anzasca— Thale aus über den Monte Moro ins | zu viele giebt, um die Sarazenen für alle als Taufpathen verantwortlich zu machen. deutſch redende Saasthal vordringt, jo bee gegnen einem eine Anzahl ſeltſamer Ortsna— men, welche der grübelnden Phantaſie vaterländiſcher Geſchichtsfreunde zum Aus— gangspunkte einer abenteuerlichen Hypotheſe dienten. Die Namen der Allalinhörner, der Miſchabel, des Fleckens Almagell und des Saasthals ſelber, heißt es, könnten von keiner abendländiſchen Sprache aus erklärt werden, es hafte ihnen vielmehr morgen— ländiſches und zwar arabiſches Gepräge an. Nun erzählen aber alte, theils verbriefte Ueberlieferungen, daß im X. und XI. Jahr- hundert Sarazenen die Kantone Waadt, Graubündten und Wallis heimgeſucht haben. Warum, ſagt man, hätten dieſe nicht einen Abſtecher ins Saasthal machen, ſich dort niederlaſſen und in den Namen der erwähnten Oertlichkeiten Denkmäler ihres Daſeins hinterlaſſen können? Unter der Herrſchaft arabiſirender Vorurtheile bezeich— | nete man ſogar den Weg, den die hypo— thetiſchen Sarazenen einſchlugen, um in die Einſamkeit des Saasthales zu dringen. Der Monte Moro, behauptete man, ſei nichts anderes als der Mohrenberg und ver— danke dieſe Benennung offenbar den ſonnen— verbrannten Söhnen der arabiſchen Wüſte, welche während der angezogenen Jahrhun— derte die Länder ums Mittelmeer herum unſicher machten. Die Erzählung klingt plaufibel und hat ſich deswegen in die Walliſer Geſchichte von Furrer und die Mittheilungen der Zür- cher archäologischen Geſellſchaft eingeſchlichen. Schade nur, daß es der Monti mori, der Bedauerlich iſt ebenfalls der Umſtand, daß die arabiſchen Namen, auf welche die in Rede ſtehenden Ortsbezeichnungen zurück— gehen ſollen, noch nicht angegeben worden ſind. So lange dies nicht auf motivirte Weiſe geſchieht, möchte es gerathener ſein, die Sarazenen in Ruhe zu laſſen und ſich mit einer Löſung zu begnügen, auf welcher ſchon Gatſchet im Jahrbuche des Schwei— Schwarzberge oder Schwarzhörner, doch gar zer Alpenclubs hingedeutet hat: Die Na— men Allalin, Almagell, Saas, Miſchabel find mit arabiſchen, ſondern romaniſchen Urſprunges. Allalin bedeutet vermuthlich „bei der Haſelſtaude“, im italieniſchen Alpenpatois all' alagna, und möchte ſich zunächſt auf eine Weide beziehen, deren Name, wie dies gewöhnlich geſchehen iſt, auf die darüber emporragenden Bergſpitzen überging. Alagna heißt auch ein ſüdlich vom Monte Roſa im oberen Seſiathale gelegenes Dorf, in welchem ein ſehr verdorbenes Walliſerdeutſch geſprochen wird. Almagell — „bei den Maien“ — iſt offenbar das italieniſche allo majello (majo = Maienbaum). Saas entſtammt dem mittellateiniſchen saucea ( Weidengrund) und iſt dem ita— lieniſchen Sesia gleichbedeutend. Die drei mächtigen Zacken der Miſcha— bel endlich, welche ſich zwiſchen dem Saas— und Zermatterthale erheben, heißen in ver— deutſchter Geſtalt die Mittenhörner, falls die italieniſirende Etymologie „menze alle valli“ die richtige iſt. Daß die deutſchen Saaſer der ihnen fremd klingenden Benenn— ung des dreizackigen Gebirges den ihr An— ſchauungsvermögen mehr anſprechenden Na— men „Miſchtgabel“ zu unterſchieben ſuchten, mag ebenfalls in Betracht gezogen werden — Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. wenn es gilt, die Taufzeugen der Miſchabel zu vernehmen. Dieſe italieniſchen Ortsnamen ſtammen vermuthlich aus der Zeit Gottfrieds III., Grafen von Blandrata, welchem anno 1250 ſein Lehensherr, der Biſchof von Novara, erlaubte, eine Anzahl italieniſcher Landleute aus dem Anzascathale nach der dem Grafen Gottfried zugehörigen Meierei im Viſp— thale zu verſetzen und dagegen den Aus— wanderern aus dem Saasthale Niederlaſſun— gen im Anzasca- und Seſiathale anwies. Wie man ſieht, iſt es möglich, für die in Rede ſtehende Gegend auch ohne Sara- zenen auszukommen. In dem benachbarten Einfiſchthale kann ſich die zunftmäßige Geſchichte die ſeltſame, unverſtändliche Sprache der dortigen Ein— wohner nicht ohne die Dazwiſchenkunft einer hunniſchen Anſiedelung zurechtlegen. Das oberflächlichſte Studium dieſer Sprache zeigt aber, daß wir es einfach mit einer nicht eben außergewöhnlichen Abart des im Wallis geſprochenen romaniſchen Dialekts zu thun haben. nomadiſirender Charakterzug des Einfiſch— thälers oder Anniviard, wie er auf Roma— niſch heißt, mag dem Glauben an ſeine hunniſche Abkunft Vorſchub geleiſtet haben. Sommers und anfangs Winter wohnt der Anniviarde nämlich in ſeinem Alpenthale, im Frühjahr und Herbſt hauſt er dagegen oft 8—10 Stunden weit von feinen Som liſerſtammes der Ardyer. meraufenthalt, auf der nördlichen Seite des Rhonethales, während er Januar und Fe— bruar in Siders verbringt. Dieſe Wan— derungen entquellen aber nicht etwa einem unſteten Nomadencharakter, ſie werden viel— mehr von den Beſitzverhältniſſen der Anni— viarden mit ſich gebracht. Im Frühling bearbeitet er an der ſonnigen Halde des Wildſtrubels ſeine Weinberge, den Sommer Ein auf den erſten Anblick hin dem celtifchen arg — Wald. Das Olden— 429 über treibt er Alpwirthſchaft, im Herbſt erntet er ſeinen Wein, welchen er nach der Kelterung ins Gebirge führt, um durch Lagerung auf der Höhe den ſogenannten Gletſcherwein zu erzielen. In Siders end— lich verwerthet er ſeine Produkte. Steht das Hunnenmärchen auf ſehr lockerem Boden, ſo dürfte Aehnliches nicht von den Ueberlieferungen gelten, welche vor der römiſchen Herrſchaft im Wallis celtiſche Sprache und Sitte hauſen läßt. Soweit griechiſche und römiſche Quellen fließen, war die weſtliche Schweiz und mit ihr das Walliſerland von celtiſchen Stäm— men bewohnt. Celtiſche Ortsbezeichnungen, die dem Sturme der Jahrhunderte ſiegreich getrotzt, haben ſich bis auf den heutigen Tag erhalten. Der von den älteſten Zeiten her unter dem Namen Leuk, lateiniſch Leuca, franzöſiſch Louèche, bekannte Flecken, der ſich auf nacktem Felſen am ſüdlichen Ab— hang der Gemmi erhebt, erinnert an das celtiſche Wort leie, leugh = Fels. Die am Eingang des Turtmannthals ſtehende Ortſchaft Ergiſch verdankt ihren Namen horn, auf romaniſch Becca d' Andon, birgt in feinen Old oder And das celtiſche Wort art — Fels, jo daß dieſer Berg eigentlich Felſenhorn oder Felſenſchnabel heißt. Dieſes celtiſche art ſteckt auch im Namen des ſüd— lich vom Oldenhorn gelegenen Dorfes Ar— don und des von Polyb genannten Wal— Seit Julius Cäſar geriethen die Wal⸗ liſer unter den Einfluß Roms. Die Kul- turpioniere der Weltherrſcherin, ob kaiſerliche Soldaten oder päpſtliche Apoſtel, brachten das celtiſche Wort zum Schweigen und roma— niſirten dieſe Gebirgsſtämme, denen die Natur die wichtigſten Päſſe nach Italien anvertraut hatte, mit ebenſoviel Erfolg als 430 Eifer. Die römiſche Sprachflut ergoß ſich allmälig vom Lemanſee bis zur Furca. Zwar ſprechen die Oberwalliſer, ſoweit die Geſchichte reicht, deutſch. Doch laſſen mich mehrere, gleich zu erwähnende Indicien ver— muthen, daß die heutigen Oberwalliſer meiſt keine Deutſchen, ſondern verkappte Roma— nen ſind. Wer an die rauhen, tiefen Kehllaute der allemanniſchen Schweizer gewöhnt iſt, fühlt ſich von den zarten ch-Lauten des ebenfalls allemanniſch redenden Oberwalli— ſers ſeltſam angemuthet. Hier werden Chäs (Käſe), Chalb (Kalb), Chnächt (Knecht) mit einem ſo fein geliſpelten ch ausgeſprochen, daß ſelbſt das ch, wie es die meiſten Deut- ſchen im Worte ich auszuſprechen pflegen, an Weichheit daneben zurückſteht. Eine andere Eigenthümlichkeit der Ober- walliſer iſt es, daß ſie in vielen Wörtern, wo die übrigen Allemannen f ſetzen, ſch ſprechen. Für Gemſe ſagt er Gemſch, für ſie ſchi, für daß daſch, für ſich ſchich, für dieſe diſche, für ſeine ſchini u. ſ. w. Dieſes Ziſchen und Lispeln iſt durch- aus unallemanniſch, erhält aber aufklärendes Licht, wenn man damit die Lautgebung der romaniſch redenden Walliſer zuſammenhält. Die Ziſcher und die feinen Hauchlaute, welche uns im Munde des Oberwalliſers mit Recht auffallen, machen ſich da, wie überhaupt in allen romaniſchen Mundarten der ſüdweſt— lichen Schweiz, in wuchernder Fülle geltend. Man urtheile nach folgendem Müfter- | chen, wobei ich mich behufs der Lautgebung an die allgemein übliche franzöſiſche Ortho— graphie halte. In beſonderer Geltung treten auf: das mit einem Punkte verſehene e, der Buchſtabe h, das Zeichen und das Apoſtroph '. 6 = Vocal zwiſchen & und j, h = ch im deutſchen Worte ich, —= Naſaliſation des unter dieſem Zeichen ſtehen— Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. den Vocals, — ſtummes e, inſofern dieſes die vollſtändige Ausſprache eines vorher— | gehenden Conſonanten bedingt. Patois der Gemeinde St. Luc im Ein— fiſchthale: é ch'enalla & chè mettouk au chervicio (il s'en alla et se mit au service) co dij' avitein’ de hlik pai-le (d'un des habitants de ce pays-la) ke ba einvouya ein cha pochèchion (qui l'a envoyé en sa possession) po vouarda le poner. (pour garder les pourceaux.) Wenn ich dem mitgetheilten Pröbchen noch die Bemerkung beifüge, daß der ange— führte Dialekt ſeines lispelnden und ziſchen— den Charakterzuges wegen nicht vereinzelt daſteht, daß vielmehr ſämmtliche Patois des mittleren Wallis denſelben in gleichem Maße theilen, ſo wird man es mir hoffentlich nicht verargen, wenn ich behaupte, der lispelnde und ziſchende Oberwalliſer ſpreche ſeinen allemanniſchen Dialekt mit romaniſcher Zunge. Dieſer Umſtand und die Menge roma— niſcher Ortsbenennungen im Oberwallis, (man denke Beiſpiels halber nur an Furca, Geſtelen [ Eaftel], Termen [terminus |, Vieſch vicus], Mund [monft]s] ete.) müſſen auf den Gedanken bringen, die Oberwalliſer ſeien germaniſirte Romanen. In dieſer Anſicht beſtärkt auch die Er— fahrung, daß an andern Orten der Schweiz, wo allemanniſche und romaniſche Mundarten ebenſo nahe neben einander hauſen, wohl Wörter und Wendungen, doch niemals Aus— ſprachsweiſen entlehnt werden. | Aber woher kamen die germaniſchen Zuchtmeiſter ins Oberwallis? Die auf ge— ſchriebenen Urkunden fußende Geſchichte weiß hierauf keinen Beſcheid; dagegen weiſen die Eigenthümlichkeiten des deutſchen walliſer Dialekts nachdrücklich auf das benachbarte Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. 431 Berneroberland. Hier ſtoßen wir gleich- Wie nun dem auch geweſen ſein mag, falls auf das fein gehauchte ch, auf Orts- in der Nähe von Siders, allwo das roma— namen lateiniſcher Herkunft und die ſich an niſche Wallis anfängt, ſtaute ſich die alle— ſolche Thatſachen knüpfende Hypotheſe einer | mannifche Wanderfluth, ob von ſelbſt oder Germaniſirung der urſprünglich romaniſchen gezwungen, iſt nicht auszumachen. Aelpler. Ueberdies umſchlingt beide Gegen— Mit der Zeit wurde den deutſchen Colo— den das Band eines gemeinſamen Vocalis- | niften die neue walliſiſche oder „wälſche“ mus, welcher auch mit demjenigen der Landes- Heimath zum heißgeliebten Vaterlande, deſſen ſprachen von Uri und Unterwalden ſtimmt. Unabhängigkeit ſie mannhaft gegen die länder— Es iſt deshalb zu vermuthen, daß die ſüchtigen Herrſcher aus dem Haufe Zährin— allemanniſche Wanderwelle, welche ſich einſt | gen vertheidigten. Noch jetzt ſieht der Ober— über das Berneroberland ergoß, nicht das walliſer ſtolz zum Kreuz bei Ulrichen empor, | Aarthal hinaufſtieg, ſondern über den Brünig welches jeine Vorfahren zum Andenken an kam. Zwar ſchnarren gegenwärtig an den den Sieg errichteten, den fie hier anno 1211 | Ufern des Brienzer und Thuner Sees die über Berthold's V. ftolzes Bernerheer erfochten. rauhen Kehllaute des Stadtbernerdeutſchen. Während der kriegeriſche Sinn der ober— Daß dem von jeher fo geweſen, iſt nicht walliſer Hirten deutſche Art und Sprache glaublich, zumal im Simmen- und Saane- aufrecht hielt, verfiel der ackerbauende Unter— thal die ch-Laute noch jetzt mit romani- walliſer der Herrſchaft Savoyens und damit ſcher Zunge gelispelt werden. auch dem Einfluſſe franzöſiſcher Sprache Im Haslithale treten uns wieder und Sitte, welche um ſo leichter Fuß faßten, ſchnarrende Kehllaute entgegen, was mich als ihnen hier ein eng verwandter Volks— zu der Annahme führt, dieſes wilde Berg- charakter halbwegs entgegenkam. thal ſei zur Zeit der allemanniſchen Ein— Umſonſt vertrieben Ende des 15. Jahr— fälle gar nicht oder äußerſt dünn bevölkert hunderts die mit den Eidgenoſſen verbün— geweſen. deten Oberwalliſer die mit Karl dem Kühnen Daſſelbe möchte ich von den Seitenthälern von Burgund befreundeten Savoyarden aus des deutſchen Wallis behaupten. In dieſen dem untern Rhonethale, umſonſt beherrſchten werden nämlich die ch-Laute auf ächt ſie letzteres als Unterthanenland bis zur allemanniſche Weiſe gekreiſcht, während im franzöſiſchen Revolution, umſonſt pflogen fie Hauptthale die zarten Hauchlaute der roma- ihre geſetzlichen Verhandlungen ausſchließlich niſchen Zunge gelten. Die Bevölkerung, in deutſcher Sprache und ſchufen aus der deren romaniſcher Lautapparat im Munde Regierungsſtadt Sitten eine deutſche Inſel des ſiegreichen Allemannenthums bis auf den mitten im „wälſchen“ Sprachſee. heutigen Tag fortlebt, ſcheint alſo urſprüng— Durch gewaltige Gebirgsketten von den lich nur das Hauptthal der obern Rhone deutſchen Kulturherden abgeſchnitten, ver— bewohnt zu haben. Auch ſind die Alle- mochte ihr allemanniſcher, nur wenig mit mannen vermuthlich nicht auf einmal ins Schriftdeutſch in Berührung kommender Dia— Wallis eingerückt, ſondern nur nach und lekt nicht gegen die franzöſiſche Schriftſprache nach, weil fie ſonſt ſchwerlich das angenehmere anzufämpfen, während ihm dies doch mit Hauptthal im Beſitz der früheren Inhaber den romaniſchen Patois ausgezeichnet gelun— gelaſſen hätten. gen war. Ja, die glorreiche Waffenthat, Kosmos, Band III. Heft 5. 5 S die fie zu Herrſchern geſtempelt, ſollte ſich gegen die Sprache der Sieger ſelber kehren. Denn während die Oberwalliſer im Bunde mit den Eidgenoſſen ihr Möglichſtes thaten, um den klugen Ludwig XI. ſeines burgun— diſchen Nebenbuhlers zu entledigen, halfen ſie den Einheitsſtaat gründen, deſſen Sprache die verwandten particulariſtiſchen Dialekte aus dem Felde ſchlagen und ſelbſt in manchem deutſch gezüchteten Hirne romaniſche Wort— bahnen ziehen ſollte. Die franzöſiſche Revolution löſte das Unterthanenverhältniß der Unterwalliſer zu ihren deutſchen Herren. Schon in der Staats— verfaſſung von 1802 heißt es Artikel 35: Kein Bürger, der ſeit 1780 geboren iſt, kann auf den Landrath deputirt werden, wenn er nicht die franzöſiſche und deutſche Sprache verſteht. Heutzutage werden die großräthlichen Debatten nur noch franzöſiſch gepflogen, obgleich die deutſche Sprache noch zuläſſig iſt, und weitaus die größere Anzahl der Deputirten verſteht kein Deutſch mehr. Auf den Straßen und in den Wirthshäuſern der Regierungsſtadt Sitten klingt nur noch ſelten ein deutſches Wort an unſer Ohr. Siders iſt ſchon halb franzöſirt, und ſelbſt der ſchlecht geſchulte Oberwalliſer kauderwelſcht meiſt noch franzöſiſch neben ſeinem alle— manniſchen Dialekte. Binnen einem Jahr— hundert dürfte das Deutſche völlig aus dem Rhonethal verdrängt fein. Die Richtung des Thals, welches die Walliſerberge an Frankreich kettet, ſcheint dies ſo mit ſich zu bringen. Anders geſtalten ſich dieſe Sachen in Graubündten, einem früher ebenfalls durch— aus romaniſchen Alpenlande. Seine Flüſſe ergießen ſich in deutſche Gegenden und be— dingen eine rückläufige Richtung der deutſchen Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. Verkehrs- und Sprachadern nach den bündt— neriſchen Bergen. Wohl hauſt das Ro— maniſche noch an den Quellen des Rheins und des Inns, wohl hat es daſelbſt ver— ſucht, die geiſtbezaubernde Buchdruckerkunſt in ſeine Dienſte zu ziehen. Vergeblich! Das Deutſche rückt unaufhaltſam den Rhein hinauf. Im Prättigau, woſelbſt es hiſto— riſchen Zeugniſſen zufolge im 15. Jahr— hundert noch romaniſch ſprechende Ortſchaften gab, erklingt jetzt nur noch die deutſche Zunge, und das Gleiche gilt von Davos, deſſen ganz auf „wälſche“ Weiſe ziſchender Dialekt ein dahingeſchwundenes Romanen— thum verräth. Im obern Innthale käm— pfen Deutſch und Italieniſch zugleich um den Nachlaß des ſterbenden Ladiner-Idioms, und vorausſichtlich wird dieſes der deutſchen Sprache zur Beute fallen, wenn das Ita— lieniſche nicht mit überwiegenden, commer— ciellen Intereſſen ins Feld zieht. Die Eigenart des teſſiner romaniſchen Dia— lekts ſcheint früh den Einfluß des mailänder Dialekts verſpürt zu haben, und beide zuſammen treten gegenwärtig den Rückzug vor dem Schriftitalieniſchen an, deſſen ſieg— hafter Schritt auch den deutſchen Gemeinden im Formazza- und Greſſonaythale auf den Leib rückt. Der deutſche Schweizer möchte ſeinen angeſtammten allemanniſchen Dialekt, der ihm ans Herz gewachſen, vor der bedroh— lichen Concurrenz des Schriftdeutſchen ſchützen, kann dies aber nicht, die Bodenverhält— niſſe ſind gegen ihn. So ſehen wir denn überall in der viel— ſprachigen Schweiz ein feſtes Geſetz den Vor- oder Rückſchritt der einzelnen Sprachen bedingen: Die natürlichen Mundarten weichen überall den Kulturſprachen, und zwar richtet ſich der Verbreitungskreis der letztern vom Bildungsherde thalaufwärts, ) Maurer, Der Sprachenkampf im Walliſer Hochgebirge. ohne daß hierzu Eroberung oder Neuan— ſiedelung erforderlich wäre. Roher betragen ſich die Naturſprachen gegeneinander. Hier ſiegt die eine und unterliegt die andere nicht ohne Wander— ungen und Beſitzſtörungen. Den am Beſten zum Streit ausgerüſteten fällt die Palme zu. Daß aber der viehzüchtende Aelpler, wenn es gilt, ſeine Unabhängigkeit und Eigenart zu wahren, dem an der Scholle klebenden Bauern überlegen iſt, zeigen die Oberwalliſer und die Bewohner der ſogenannten Urkantone. Erſtere brachten die vorzüglich Ackerbau treibenden romaniſchen Walliſer unter ihre Botmäßigkeit, verhalfen in der Hauptſtadt Sitten ihrer Sprache zur Herrſchaft und hätten wahrſcheinlich die „wälſchen“ Patois vollſtändig verdrängt, wäre ihnen die fran— zöſiſche Schriftſprache nicht zuvorgekommen. „Für die Urſchweiz beweiſen genaue Daten chronologiſcher wie geographiſcher Art, daß Viehzucht und Alpwirthſchaft daſelbſt von den älteſten Zeiten her betrieben wurde, daß aber der Ackerbau vom 9. Jahrhundert bis 1400 höher ſtand als die Alpwirth— ſchaft, dagegen von 1400-1600, ſtets mehr vernachläſſigt, raſch hinter der Alpwirth— ſchaft zurücktrat, jo daß er im 18. Jahr- hundert ſchon beinahe verſchwunden iſt.“ (Meyer v. Knonau.) Die Entfaltung der Alpwirthſchaft auf Koſten der Bodenkultur fällt aber gerade in die Zeit, wo die junge Eidgenoſſenſchaft den härteſten Kampf ums Daſein gegen die ſie umgebenden Machthaber zu fechten hatte; und dieſer Fähigkeit, ſich einem frühern Kulturſtadium anzupaſſen, welches ſich beſſer mit dem Kriege verträgt, als der Ackerbau, mit einem Worte, dem Emporblühen des Kuh-Adels, verdankten wohl die Eidgenoſſen ihren ſchließlichen Sieg. So erfolgreich nun auch die ſchweize— riſchen Allemannen ihre angeſtammten Rede— weiſen gegen andere Naturdialekte vertheidigt haben, dem Andrange der Kulturſprachen vermögen ſie nicht zu ſteuern. Wie ſchon geſagt, ziehen die Verkehrsverhältniſſe das allemanniſche Oberwallis in den franzöſiſchen Sprachkreis, und eben daſſelbe geſchieht auch an manchen Orten des Aarthals, woſelbſt die vom franzöſiſch ſprechenden Jura ein— gewanderte Uhreninduſtrie binnen der letzten 30 Jahre die Städte Biel und Murten völlig franzöſirt hat. Hier, wie auch noch anderswo, zeigt der Mitbewerb der Kultur— ſprachen, daß die Verbreitung der letztern zwar von einem geographiſchen, noch mehr aber von einem wirthſchaftlichen Factor ab— hängt. Diejenige Schriftſprache, welche zur Beſchaffung des täglichen Brotes die größten Dienſte leiſtet, greift auch am meiſten um ſich. Dies dürfte ſich vielleicht nicht nur im engen Rahmen der Walliſer und Schweizer— berge, ſondern auch auf unſerer Erde über— haupt bewähren. Die Zahl der engliſch Sprechenden ſoll ſich alljährlich um eine Million vermehren, was wahrſcheinlich keine andere Kulturſprache von ſich rühmen kann. Freilich giebt es auch keine andere, welche demjenigen, der ſie kann, ſolche materielle Vortheile zuſichert, wie gerade die engliſche Sprache. — — eee 0 —— Kleinere Mittheilungen und Journallchau. Ein neuer Mondkrater. Jehnten Julius Schmidt in Athen und andere Naturfoſcher zu wiederholten Malen Veränderungen im Relief der Oberfläche unſeres Trabanten wahrzunehmen geglaubt, freilich nicht ohne ihren eigenen Augen zu mißtrauen. Denn eine Anzahl von Beobachtungsthatſachen hat uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß der Mond ſowohl ohne Waſſer als ohne Atmo- ſphäre ſein müſſe, und es iſt ohne Voraus— ſetzung dieſer beiden Agentien gleich ſchwer, eine Fortdauer der vulkaniſchen Thätigkeit, wie eine nachträgliche Verwitterung anzu— nehmen, welche ein Einſtürzen von Fels— wänden und dergleichen weit ſichtbare Ver— änderungen herbeiführen könnte. Dazu kommt der Verdacht, daß man vielleicht mit den verbeſſerten neuen Teleſkopen Ober- flächenbildungen wahrnehmen könnte, die man früher überſehen hatte, und die ſich nur deshalb in den älteren Mondkarten nicht eingetragen finden.“) Alles dies erklärt ) Wir benutzen dieſe Gelegenheit, um auf die kürzliche Vollendung der ausgezeich- neten Mond karte von Lohrmann hinzu— weiſen, welche für derartige Feſtſtellungen vom hinlänglich die Vorſicht, mit welcher die Aſtronomen die erwähnten früheren Beob— achtungen über Veränderungen und ebenſo eine neue aufgenommen haben, welche Dr. Hermann J. Klein zu Köln im vorigen Jahre mit einem ausgezeichneten Plöſſl'ſchen Inſtrument gemacht hat. Derſelbe bemerkte nämlich am 27. Mai vorigen Jahres zu ſeinem größten Erſtaunen, im Mare vapo- rum, etwas nordweſtlich vom Hyginus, einen großen ſchwarzen Krater, den er nie an dieſer Stelle wahrgenommen hatte. Er beſchrieb denſelben als nahezu ſo groß wie Hyginus, alſo ungefähr drei Meilen im Durchmeſſer, tief und daher meiſt voller Schatten, jo daß er ein auffallendes Beob— achtungs-Objekt auf dem dunkelgrauen Mare vaporum bildet. Da Dr. Klein dieſe Partie während der letzten zwölf Jahre häufig gemuſtert hatte, ſo glaubte höchſten Werthe iſt. Das im Jahre 1824 (alſo vor mehr als 50 Jahren) von Lohr— mann in Dresden begonnene, ſpäter von den beiden Opelt (Vater und Sohn) fortgeſetzte und nunmehr von Julius Schmidt in Athen abgeſchloſſene Werk, beſtehend aus 27 wahrhaft künſtleriſch geſtochenen Kupfertafeln, 15 Bogen Text und einem Portrait Lohr— mann's in Stahlſtich, iſt ſoeben im Verlage von Joh. Ambr. Barth in Leipzig erſchienen, zum Preiſe von 50 Mark. — er ſicher zu ſein, daß vorher ein ſolcher Krater in dieſer Region nicht zu ſehen geweſen und theilte daher dem Dr. J. Schmidt in Athen, als der beſten Auto— rität, ſeine Wahrnehmung mit. Der Letz— tere konnte ihm in der That beſtätigen, daß der in Rede ſtehende Krater wirklich auf allen ſeinen zahlreichen Zeichnungen dieſes Theiles der Mondoberfläche fehle, und daß er weder von Schröder oder Lohrmann, noch von Mädler, der dieſe Region mit dem trefflichen Refraktor von Dorpat durchforſcht hat, verzeichnet ſei. Bei einigen ſpäteren Gelegenheiten ſtellte Dr. Klein feſt, daß derſelbe nur einen niedrigen oder gar keinen Wall beſitze, aber eine tiefe trichterförmige Einſenkung des Kurz nach Sonnenauf- einem Briefe an die engliſche Zeitſchrift Bodens darſtelle. gang nahm der Krater das Ausſehen eines dunkelgrauen Fleckes mit ſchlecht ausgepräg— tem Rande an. Im April 1878 theilte Dr. Klein ſeine Beobachtungen dem Her— ausgeber des „Selenographiſchen Journals“ mit, welcher mehrere engliſche Mondforſcher, nämlich J. Ward in Belfaſt, ferner Knott, Backhouſe, Neiſon und Sadler zu Beobachtungen veranlaßte, von denen trotz des im Mai ungünſtigen Wetters bei mehreren Gelegenheiten der neue Klein'ſche Krater deutlich als dunk— ler elliptiſcher Fleck erkannt wurde. Unter ihnen hatte ſich Mr. Neiſon in den Jahren 1871 — 75 ebenfalls eingehend mit der in Rede ſtehenden Region beſchäftigt und dort eine Anzahl ſehr winziger Oberflächen— Details entdeckt. Er glaubt daher mit abſoluter Gewißheit beſtätigen zu können, daß bis zum Jahre 1876 an der betref— fenden Stelle kein tiefer und drei Meilen breiter Krater vorhanden geweſen iſt, ob— wohl dort ſtets eine größere Anzahl kleiner Krater von weniger als einer Meile Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 435 Durchmeſſer bemerkt und verzeichnet worden ſind. Wenn alſo die Exiſtenz des neuen Klein'ſchen Kraters außer Zweifel geſtellt wird, ſo iſt damit nach Neiſon's Anſicht der ſtrengſte Beweis einer wirklichen Ver— änderung der Mondoberfläche geliefert. Es iſt ein beſonderer Glückszufall, daß die Wahrnehmung gerade eine von Lohrmann, Mädler, Schmidt und Neiſon genau und wiederholt durchforſchte Gegend betrifft, denn in einer weniger bekannten Region würde man niemals über wohlberechtigte Zweifel hinausgekommen ſein. Auch iſt das Ausſehen dieſes Theiles, weil nahe dem Centrum der ſichtbaren Mondſcheibe belegen, nur unbedeutend durch die Schwankungen (Librationen) des Mondes beeinflußt. Mit Recht bemerkt aber E. Greenhow in „Nature“, daß, die Richtigkeit dieſer Beob— achtungen vorausgeſetzt, dadurch keineswegs die Nothwendigkeit gegeben ſei, die Bild— ung dieſes neuen Kraters einer derzei— tigen vulkaniſchen Thätigkeit zuzuſchreiben. Er meint, daß die Bildung des neuen Kraters ſehr wohl ebenfalls der vulkaniſchen Thätigkeit längſt vergangener Zeiten zuge— ſchrieben werden könnte, ſofern durch die— ſelbe weite Höhlungen unter der Ober— fläche unſeres Trabanten entſtanden ſein möchten. In Folge des ſtarken Tempera- turwechſels, dem die Oberfläche des Mon— des beſtändig ausgeſetzt iſt, und der zwiſchen Tag und Nacht mehrere Hundert Grad betragen dürfte, könnten deren Wölbungen gelegentlich einſtürzen. Eine kraterähnliche Aushöhlung würde dann durch das Ein— ſinken der Oberfläche erzeugt werden, ebenſo wie man ſolche Senkungen nicht ſelten in Bergwerksgegenden findet, wo alte Stollen einſtürzen. In der That wird dem neuen Krater ein elliptiſcher und nicht kreisförmi— | | 436 ger Umriß vulkaniſche zugeſchrieben, während die durch ſind. Auch der Mangel eines eigentlichen Kraterwalles unterſtützt dieſe Vermuthungen. (Nature 451 and 452, June 1878.) Metamorphismus der Geſteine aus mechaniſchen Urſachen. Die Entſtehung einer Reihe von me— tamorphiſchen Geſteinen, wie z. B. des Marmors, aus neptuniſchen Kalklagern ſchreibt man gewöhnlich plutoniſchen Ein— flüſſen zu. Man nimmt an, daß die Hitze eines in der Nähe ſtattgefundenen vulkani— ſchen Vorganges, z. B. das Empordringen oder Ueberlagern eruptiver und geſchmolze— ner Geſteinsmaſſen, die dazu erforderliche Temperaturerhöhung bewirkt habe. In der That hat Hall nachgewieſen, daß man kohlenſauren Kalk ſogar ſchmelzen kann, ohne daß er ſeine Kohlenſäure verliert, wenn der Proceß bei erhöhtem Dampfdruck vorgenommen wird, und weitere Verſuche haben ergeben, daß dieſe Wirkung ſich ſehr weit in der Nachbarſchaft erſtrecken könnte, da auch eine mäßige Wärme bei länger ausgedehnter Wirkung hinreicht, um loſe Maſſen zuſammenſintern und kryſtalliniſches Gefüge annehmen zu laſſen. Indeſſen fin— den ſich in der Nähe anſcheinend plutoniſch metamorphoſirter Felsſchichten keineswegs überall die Spuren vulkaniſcher Einwirk ung, und in der That hat der um die Aufhellung der Räthſel des Metamorphis mus ſo verdiente franzöſiſche Geolog A. Daubrée jüngſt durch eine Reihe von Thätigkeit entſtandenen Krater faſt immer völlig oder nahezu kreisförmig Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Male erblickt, überraſcht. Innern in den zerbrochenen Verſuchen gezeigt, daß in vielen Fällen in | den Geſteinen auf mechaniſchem Wege er- ſcheint noch heute für gewiſſe Länder der zeugte Wärme völlig ausreichen könnte, die beobachteten Umwandlungen zu erklären. „Eine der merkwürdigſten Eigenthümlich— keiten der Felſen, welche die unter dem Namen Metamorphismus zuſammengefaßten mineralogiſchen Umwandlungen erlitten ha— ben, iſt, daß verſchiedene umgewandelte Felſen häufig mit einander vergeſellſchaftet vorkommen und dann zuſammen bedeutende Gebiete einnehmen, während andere noch ausgedehntere Regionen keine ähnlichen Um— wandlungen zeigen. So nehmen z. B. in den Alpen Felſen jeden Alters daran Theil, Steinkohlen-, triaſiſche, juraſſiſche, Kreide— und eocäne Felſen zeigen ein Altersgepräge, welches den Beobachter, der ſie zum erſten Die Ardennen, der Taunus, das Wallis u. A. zeigen ganze Gebirgsmaſſen, die umgewandelt wor— den ſind. Dagegen ſcheinen in Rußland die ſiluriſchen und devoniſchen Bildungen ihren urſprünglichen Charakter bewahrt zu haben. Zahlreiche Beiſpiele haben gelehrt, daß der ſtrichweiſe Metamorphismus ſich in Gebieten entwickelt hat, deren Felsſchichten Verwerfungen erlitten haben, während Schichten, die ihre urſprüngliche Horizon— talität bewahrt haben, wie in einem Theile Oſteuropas oder den Vereinigten Staaten, keine Umwandlungen erlitten haben. Die Umwandlungen, um die es ſich hier han— delt, ſind aller Wahrſcheinlichkeit nach unter dem Einfluſſe einer Temperaturerhöhung vor ſich gegangen, und im Allgemeinen hat man wirklich die betreffenden Veränderungen dem Umſtande zugeſchrieben, daß die Erd— rinde bedeutendere Wärmemengen aus dem Theilen zuge— führt erhalten haben möchte, als in den unveränderten, ſelbſt wenn kein Eindringen eruptiver Maſſen beobachtet wird. Dies Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Fall zu fein, wie z. B. in Toscana, wo- | ſelbſt dem Boden heiße Dämpfe entſtrömen. Abgeſehen von den Wärme-Ausſtrahlungen und chemiſchen Wirkungen, welche aus den Tiefen der Erde herauskommen und in eine Rolle ſpielen könnten, giebt es aber eine unmittelbarere und allgemeinere Urſache, dem ſtrichweiſen Metamorphismus welche die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen verdient, nämlich die Wärme, welche mechaniſche Wirkungen erzeugen, deren Spuren in dieſen Bergen in den zahlreichen Falten und Verbiegungen der Schichten zurückgeblieben ſind. Bei der Energie der Druckkräfte, welche die viel— fachen Verſchiebungen der Erdkruſte und die inneren Bewegungen der Felsmaſſen erzeugt haben, ſteht man überwältigt von dem un— geheuren Maße der ins Spiel gekommenen Arbeit. Man kommt auf den Gedanken, daß dieſe Arbeit nicht in rein mechaniſche Wirkung umgewandelt worden und daß die Schichten, welche dieſen Kräften ausgeſetzt waren, einer bedeutenden Erwärmung aus— geſetzt worden ſein müſſen. Es iſt eine Eigenheit der mechaniſchen Wirkungen, ſich in den meiſten Fällen in zwei Theile zu theilen, die einen, welche die Umgeſtaltun— gen, die anderen, welche die Aenderungen der Temperatur bewirken.“ Um nun irgend einen Anhalt für die Größe der Wärmemengen zu gewinnen, welche durch die Reibung der Theile ge— quetſchter Maſſen entſtehen, hat Daubree Verſuche mit Thonen angeſtellt, die gerade nur ſo viel Waſſer enthielten, daß ſie ſich bearbeiten ließen. Ein Thon von der Con— ſiſtenz des zur Ziegelfabrikation dienenden Lehmes, wurde in einer Dampfknetemaſchine von vier Pferdekraft zwei Stunden hindurch derart bearbeitet, daß die unten heraus— n Maſſe immer wieder oben neu . 437 aufgegeben wurde; ſie zeigte dabei eine regelmäßige Wärmezunahme, die zuletzt 21,5“ betrug; der Thon hatte ſich von 8,5“ auf 290 erwärmt. Bei einer anderen, mit ſechs Pferdekräften betriebenen Knetmaſchine zeigte der anfangs 18 warme Thon nach 25 Minuten 36,3“, nach 35 Minuten 38,8 und nach 45 Minuten 40,1. Ein anderer Verſuch mit 140 Kilogramm Thon von 149, ergab nach einſtündiger Bearbeit- ung eine Wärmezunahme von über 30°, Die Curve, welche den Gang der Wärme— zunahme bei dieſer Behandlung des Thones darſtellt, zeigt anfangs ein ſchnelleres, ſpäter ein langſameres Anſteigen, zweifellos in Folge der ſich ſpäter in erhöhtem Maße geltend machenden Abkühlung. Weichere Lehme zeigten unter den gleichen Beding— ungen eine geringere Wärmezunahme, und bei ganz trockenen und harten Maſſen iſt ſie, wie man aus der ſtarken Erhitzung beim Schleifen derſelben weiß, noch bedeu— tend größer. Daub re führt am Schluſſe eine Reihe von Beiſpielen an, bei denen eine mäßige Erwärmung hinreichte, um langſam ähnliche chemiſche Veränderungen herbeizuführen, wie ſie ſich in metamorpho— ſirten Geſteinsſchichten finden. (Comptes rendus T. LXXXVI p. 1047 u. 1104.) Juterfamiliäre Variation. Mit dieſem oder einem ähnlichen Namen kann man vielleicht eine Art der Variation unterſcheiden, auf welche Herr Dr. Paul Magnus in Berlin in einer Sitzung des botaniſchen Vereins der Provinz Branden— burg hingewieſen hat. Derſelbe ging dabei aus von den Anomalieen einiger Exemplare von Fragaria elatior Ehrh., die im Garten 438 des Sommerfeldt'ſchen Gaſthofes zu Oder— berg i. M. gewachſen waren, und auf die ihn Herr Fr. Paeske freundlichſt auf— merkſam gemacht hatte. Viele Roſetten zeig— ten dort je ein oder zwei Blätter mit vier oder fünf fingerförmig an der Spitze des Blattſtieles geſtellten Blättchen, von denen manchmal ein äußeres von dem nächſt inne— ren noch nicht vollſtändig abgetrennt iſt. Außerdem zeigen je ein oder zwei Blätter derſelben Roſetten ein oder zwei kurz ge— ſtielte Oehrchen mitten am Blattſtiel; die Bildung der Blattſtielöhrchen und der über zähligen Blättchen findet keineswegs immer an denſelben Blättern ſtatt. Häufig tragen gedreite Blätter Oehrchen am Blattſtiele und entbehren mehrzählige derſelben. Die mehrzähligen Blätter ſind meiſtens das 2. und 3. bis 4. und 5. diesjährige Blatt der Roſette und gehen ihnen normale drei— zählige Blätter voraus, ſowie ihnen eben— ſolche nachfolgen; die am Blattſtiele Oehr— chen führenden Blätter hingegen ſind die erſten bis zweiten und dritten diesjährigen der Roſette, oder können auch ganz fehlen. Alle Roſetten mit anomalen Blättern ſtammen höchſt wahrſcheinlich von den Aus— läufern einer variirenden Samenpflanze her, ſind wahrſcheinlich Sproſſen eines Stockes. Eine ähnliche Anomalie hatte Vortr. im Juni 1872 im Walde bei Finkenkrug bei Berlin an zahlreichen Roſetten von Fraga- ria vesca L. gefunden, bei denen das zweite bis vierte Blatt der Roſette fünfzählig, ſehr ſelten nur vierzählig war, während die vor— ausgehenden, ſowie ein vor der abſchließen— den Inflorescenz noch folgendes baſales Laub— blatt normal dreizählig ſind. In dieſem Falle trat die Vermehrung der Blättchen ohne die Bildung geſtielter Oehrchen am Blattſtiele, welche niemals beobachtet wurden, auf. Auch dieſe Roſetten ſtammten wahrſcheinlich von Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. den Ausläufern eines Stockes, da ihr Vor— kommen auf eine kleine Stelle im Walde be— ſchränkt war. Vermehrung der Blättchen hat Vortr. öfter an einzelnen Blättern der in den Gär— ten jo häufig cultivirten Fragaria virgini- ana Mill. beobachtet. Nach entgegengeſetzter Richtung variiren die Blätter der als Fragaria vesca var. monophylla in unſerem botaniſchen Garten cultivirten Pflanze. Bei dieſer bleiben die meiſten Laubblätter einfach, wie es die erſten auf die Kotyledonen folgenden Laubblätter der Keimpflanze ſtets ſind, denen ſie über— haupt, mit Ausnahme der weit beträchtliche— ren Größe, ſehr ähnlich bleiben. Es ſind dieſe Variationen wieder ein intereſſantes Beiſpiel dafür, daß die Variationen deſſelben Organs in Bezug auf denſelben Punkt nach entgegengeſetzten Richtungen auftreten kann, mithin ein in beſtimmter Richtung fortſchrei— ten ſollendes Variiren, wie es viele Autoren neuerdings ſupponiren, nicht wohl anzuneh— men iſt. Das Auftreten geſtielter Oehrchen am Blattſtiele ſcheint öfter bei Fragaria auch ohne Vermehrung der Blättchen ſtatt zu ha— ben; ſo ſah es Vortr. an einzelnen drei— zähligen Blättern von Fragaria virginiana aus Gärten Berlins, Frag. elatior aus Wien, Frag. collina Ehrh. aus dem Frei— burger Botaniſchen Garten und aus Heidel— berg, ſowie von den Rüdersdorfer Kalk— bergen. Dieſe Variation beanſprucht inſofern unſer ganz beſonderes Intereſſe, als dieſe ge— ſtielten Oehrchen oder acceſſoriſchen Fieder— chen an vielen Fragaria verwandten Gat— tungen ganz normal auftreten, wie z. B. bei Geum, Agrimonia, Potentilla anserina L. u. A. unter den Rosaceae, an Ulmaria unter den Spiraeaceae. Wir haben es hier alſo mit einer Variation zu thun, in der ein Charakter der Verwandtſchaft zum Ausdruck kommt, d. h. deren Auftreten in der realen Verwandtſchaft begründet iſt. Hingegen möchte Vortr. die Variation nicht als eine ataviſtiſche auffaſſen, da es durchaus nicht erwieſen oder nur wahrſcheinlich iſt, daß etwa die Arten, aus denen ſich unſere heutige Gattung Fragaria entwickelt hat, geſtielte Oehrchen oder acceſſoriſche Fiederchen am Blattſtiele führten. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Ganz dieſelbe Variation wie an den ges | nannten Fragaria-Arten traf Vortr. an den im Berliner Botaniſchen Garten cultivirten Stöcken der Potentilla thuringiaca Bernh. Auch bei dieſen treten an den Blattſtielen des gefingerten Blattes häufig ein bis zwei ge— ſtielte kleine Oehrchen auf. Solche aus der realen Verwandtſchaft zu erklärenden Variationen treten häufig auf. Ein beſonderes inſtructives Beiſpiel bietet ebenfalls an den Laubblättern die ſeit einigen Jahren von unſeren Gärtnern gezogene Pri— mula sinensis filieifolia dar, bei der die Spreite des Laubblattes nicht, wie bei der Normalform, herzförmig vom Blattſtiel ab— geſetzt iſt, ſondern mit ihren Seitenrändern allmälig in denſelben verläuft. Wenn es auch wegen der großen Häufigkeit dieſer Blatt— bildung bei den Arten der Gattung Pri— mula nicht unwahrſcheinlich iſt, daß Pri— mula sinensis Lindl. in der That von einer Art mit Laubblättern mit herablaufen— den Rändern der Spreite abſtammen möchte, ſo möchte Vortr. dennoch dieſe Variation nicht ſtricte als Atavismus bezeichnet wiſſen, da es unwahrſcheinlich iſt, daß die Blätter der Mutterart grade ſo wie die der var. filicilolia geweſen fein möchten, wogegen ſchon die Thatſache ſpricht, daß die var. filicifolia mit ſehr verſchieden ſtark einge— ſchnittenen und gezähnten Blättern auftritt. Ebenſo iſt die Variation des ſog. Balg— 439 Mais (Zea Mays tunicata) aufzufaſſen. Wie ſchon früher ausgeführt wurde, iſt keine Form des bebalgten Maiſes als Atavismus, d. h. Rückſchlag in eine Urform, aufzufaſſen. Das folgt ſchon daraus, daß, worauf Vortr. früher bereits hinwies, dieſe Ausbildung der Hüll— ſpelzen der einzelnen Körner an ſehr ver— ſchiedenen Varietäten, z. B. großkörnigen und kleinkörnigen, auftreten kann. Demnach ge— hört die Ausbildung der Hüllſpelzen zu den aus der realen Verwandtſchaft herzuleitenden Variationen. Wie ſchon erwähnt, laſſen ſich viele Va— riationen aus dieſer Urſache herleiten. Vortr. möchte nur noch ein beſonders ſchlagendes Beiſpiel anführen, das er ſchon vor Jahren erörtert hat, es iſt dies das Auftreten von Stachelzähnen an der Hülle der weiblichen Blüthe der Najas Wrightiana A. Br. aus Cuba (ſ. Beiträge zur Kenntniß der Gat— tung Najas L. von P. Magnus, S. 58). Hier tritt die Beziehung der Variation zur Verwandtſchaft beſonders deutlich hervor. (Sitzungsber. des botanischen Vereins der Provinz Brandenburg 1877, Nr. XIX.) Das Leibpferd Julius Cäſars und die Ontogenie der Pferde. Das älteſte Denkmal, welches einem Zeugen der Darwin'ſchen Theorie errichtet worden iſt, war wohl das eherne Pferd, welches Cäſar nach den Berichten des Plinius“) und Sueton !“) vor dem Tempel der Venus Genitrix aufſtellen ließ. Seine Abſicht war, die vermeintliche göttliche Ahnfrau ſeines Stammes damit zu ehren, aber genauer betrachtet, kam die Ehre, in ) Histor. natur. VIII. 42. (64.) ) Caesar. Cap. 61. 4 Kosmos, Band III. Heft 5. 56 Erz nachgeformt zu werden, vielmehr den dieſen glich das durch Künſtlerhand ver— ewigte Thier. Es hatte mehrzehige Füße und ſtellte alſo einen der älteſten unter den bekannt gewordenen Fällen von Atavismus bei Pferden vor. Wie uns Sueton er— zählt, war das Roß mit den faſt menſchlich Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. geſpaltenen Füßen in Cäſar's eigenem Mar- ſtalle geboren und von ihm mit großer Sorgfalt aufgezogen worden. Niemand außer ihm durfte es beſteigen und es litt keinen andern Reiter, denn Cäſar hatte es ſelbſt zugeritten. Die Wahrſager, die auf jede wunderbare Geburt des Viehhofes nen Seitenzehen in einer gewiſſen embry— ihr Augenmerk hatten, ſollen ihm — wahr- ſcheinlich, als er ſchon nahe genug daran war — aus dieſem Ereigniß die Welt— herrſchaft verkündet haben, und das gab wohl den Grund, daß er dieſes Thier, als ein verkündendes Geſchenk der Ahnmutter betrachtete und es ihr in Erz weihete. Sonder— barer Wechſel der Zeiten, daß daſſelbe Vorkommen, was ehemals dazu gemißbraucht wurde, die Zukunft zu ergründen, uns dazu dienen muß, in die Vergangenheit zu ſchauen, und in der Mißgeburt ſogar die Ordnung der Natur zu erkennen und zu bewundern! Aehnliche den vorweltlichen Pferden in der Fußbildung gleichende Nachkömmlinge ſind ſehr oft beſchrieben und abgebildet worden. Schon Aldrovandi in ſeiner Historia Monstrorum bildete ein ſolches Pferd ab, welches an allen vier Füßen eine innere Zehe wie das Hipparion beſaß und vermuthlich war dies daſſelbe Thier, welches der Papſt Leo X. in feinen Beſitz brachte.“) Geoffroy Saint-Hilaire hat in feiner Geſchichte der thieriſchen Mißbildungen ein ) Charles Bell, the Hand, its mechanism etc. Ch. III. Vol. IV. 1862. von ihm unterſuchtes Pferd beſchrieben, welches Ahnen ſeines Leibroſſes und des Pferde— wie die amerikaniſchen Pferde der Eocän— geſchlechtes im Allgemeinen zu Gute, denn Zeit (Eohippus nnd Orohippus) vier Zehen beſaß. Andere hierher gehörige Beiſpiele ſind von Goubeaux ?), Henſel, Strobel und neuerdings von Gaudry beſchrieben und abgebildet worden, darunter ſolche, in denen die Fußbildung außerordentlich der- jenigen des ausgeſtorbenen Hippaxion glich. Die Häufigkeit dieſes Vorkommens deutet ſchon darauf hin, daß die gelegentliche Mehr— zehigkeit des „Einhufers“ nicht ſchlechthin auf ein Auftauchen vager Erinnerungen an die Mehrzehigkeit ſeiner Ahnen bezogen werden darf, ſondern daß das häufige Wiederauftreten der in der Zeit verſchwunde— onalen Mehranlage von Theilen, die ſich gewöhnlich nicht mehr voll ausbilden, geſucht werden muß. Das biogenetiſche Grund— geſetz, nach welchem die perſönliche Ent— wicklung (Ontogenie) eines Lebeweſens die abgekürzte Wiederholung ſeiner Ahnengeſchichte (Phylogenie) ſein ſoll, ſcheint ſogar eine ſolche Mehranlage von Zehen bei dem Einhufer zu fordern, und wenn irgend eine Ge— legenheit günſtig iſt, als Prüfſtein dieſes Geſetzes zu dienen, ſo ſcheint es die Embryo— logie des Pferdes zu ſein. Denn die Phylo— genie, die Abſtammungs-Geſchichte des Pferdes kennen wir genauer, als die— jenige irgend eines andern Thieres der höhern Klaſſen unter den Wirbelthieren. Von keiner andern Thierart iſt eine ſo reiche und voll— ſtändige Ahnengallerie ausgegraben worden, als von den Pferden, die ſeit der Eocän-Zeit, in welcher ſich dieſer Zweig zuerſt von den übrigen Hufthieren abſonderte, ſtets in un— geheurer Zahl vorhanden geweſen ſein müſſen, ) De la Pentadactylie chez le Cheval. Comptes rendus de la Société de Biologie. 8 | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. um ſo zahlreiche Reſte zurückzulaſſen, wie wir ſie von allen ihren Vorgängern beinahe beſitzen. „Zu Pikermi (Griechenland)“, ſo erzählt Profeſſor Albert Gaudry in einem foeben erſchienenen, ausgezeichneten Werke), auf welches wir demnächſt genauer zurückkommen werden, „habe ich neunzehnhundert Knochen, die zu vierundzwanzig Individuen (des Hipparion) gehört haben, geſammelt, zu Eppelsheim in Deutſchland, zu Baltavar in Ungarn, auf dem Leberon in der Provence, zu Concuv in Spanien, in Nordamerika und in Indien, überall hat der Ueberfluß an foſſilen Pferdereſten die Naturforſcher überraſcht, ſie müſſen auf einem anſehnlichen Theile der Erde in großen Heerden ver— breitet geweſen ſein.“ Gaudry malt dann aus, wie ſich die Schnelligkeit dieſer Thiere ſteigern mußte, um den an Intelligenz zu— nehmenden Raubthieren zu entrinnen und wie Bein und Fuß endlich bei jenem Ideal eines ausſchließlichen Renn-Organs anlangten, das kaum noch eine Aehnlichkeit darbietet mit der urſprünglichen Form. Schritt für Schritt verfolgt Gaudry die Umbildung der Zähne und der Füße und erläutert ſie durch treffliche Abbildungen. Es war natür- lich, daß der deutſche Paläontologe H. von Meyer grade bei den Pferden zuerſt darauf kommen mußte, von einem foſſilen Zwiſchen— Thier (Anchitherium) zu reden, d. h. einem Thier, welches zwiſchen den Unpaarhufern und Pferden mitten inne ſteht. Aber wie viele Zwiſchenformen ſind ſeitdem zwiſchen dieſem Zwiſchenthiere und dem Pferde einer— | ſeits, dem Paläotherium oder Coryphodon | andrerſeits aufgefunden worden! Wir haben Außerdem ſtelle ich feſt, daß die mittleren da eine Reihe, von der anfangs nur drei Glieder bekannt waren, und von welcher ) Les Enchainements du Monde animal dans les temps géologiques tertiaires) Paris 1878. (Mammiferes wir heutzutage mehr als ein halbes Hundert mit beſonderen Namen benannt haben. Sogar namenloſe Varietäten, wie wir ſie bei unſern Hausthieren in ſo großer Zahl unterſcheiden, laſſen fi bei den Vor— fahren des Pferdes nachweiſen, und man kann da gleichſam die mit leichten Varietäten beginnende Artenbildung durch natürliche Ausleſe in die Vorzeit zurückverfolgen. So hat Gaudryz. B. bei dem dreizehigen Hipparion graeile der obern Miocänſchicht von Pikermi zwei Racen unterſcheiden können, die ſich etwa verhalten, wie ein ſchlankes Araberpferd zum Percheron. Doch hören wir ihn ſelbſt: „Dank der Maſſenhaftigkeit ihrer Ueber— reſte“, ſagt Gaudry, „haben mir die foſſilen Einhufer eine Gelegenheit dargeboten, zu ſehen, wie weit Variationen bei Thieren ein und derſelben Art gehen können. Unter den Knochen des Hipparion von Pikermi finden ſich ſolche, deren Proportionsunterſchiede derart ſind, daß es beim erſten Anblicke ſchwer wird, ſie ein und derſelben Art zuzutheilen. Man wird darüber urtheilen können, wenn man die Abbildungen zweier Mittelfußknochen vergleicht (deren einer bei gleicher Länge beinahe doppelt ſo ſtark iſt, wie der andere). Wenn man indeſſen eine große Anzahl ſolcher Knochen zuſammenbringt, ſo wird es unmög— lich, Grenzlinien zu ziehen, und man muß annehmen, daß man einfach zwei Racen vor ſich hat, eine plumpe und eine ſchlanke. Wenn ich nun Pikermi verlaſſe, um mich nach Eppelsheim zu begeben, finde ich hier die plumpe Race vorwiegen und wenn ich, anſtatt nach Eppelsheim zu gehen, den Leberon beſuche, ſehe ich die ſchlanke Race vorherrſchen. Loben der oberen Backenzähne zu Eppelsheim und Pikermi mehr gefaltet ſind, als auf dem Leberon-Gebirge. Natürlich ſchließe ich daraus, daß Nachkommen einer und derſelben ä 442 Thierart, nach der Zeit und dem Lande wo ſie gelebt haben, dazu gelangt ſeien, verſchiedene Charaktere anzunehmen. .... In meinem Werke über das Leberon-Gebirge habe ich darauf hingewieſen, daß die Unter— ſuchung der Mittelhand- und Mittelfußknochen vom Hipparion antelopinum aus Indien das Fehlen der beiden Seitenzehen wahr— ſcheinlich machte. Wenn dieſe Annahme ſich bewahrheitet, ſagte ich, ſo würden manche Perſonen vermuthlich geneigt ſein, einen neuen Gattungsnamen für ein Thier vor— zuſchlagen, welches mit der Bezahnung des Hipparion die Füße eines Pferdes verbände. Es ſcheint mir indeſſen beſſer, für die Thiere, welche auf dem Wege ſind, die Geſtalt des Pferdes zu erreichen, den Namen Hipparion bis zu dem Augenblicke beizubehalten, in welchem ſie den Typus des Pferdes voll— ſtändig verwirklichten. . . .. Seit ich dieſe Zeilen geſchrieben, hat O. Marſh aus Niobrara Thiere bekannt gemacht, welche die Vermuthung verwirklichen, die ich bezüglich des indiſchen Hipparion ausgeſprochen hatte, ſie haben Pferdefüße und Hipparion-Gebiß; Marſh hat ihnen den Namen Pliohippus (d. h. Mehr-Pferd) beigelegt. So hat man Hipparions gefunden, die ſich in der Fuß— bildung den älteſten Pferden mehr annähern, man hat auch ſolche angetroffen, welche in der Zahnbildung zu den Pferden hinüber— leiten. So hat z. B. Leidy Hipparion- Zähne beſchrieben, welche ſich denen der echten Pferde dadurch nähern, daß der innere Höcker mehr in den mittleren übergeht (H. perditus et placidus = Protohippus Leidy) oder durch die geringere Faltung ihrer Email— leiſten (H. gratum) oder durch die Zu— ſammendrückung und Verlängerung ihres innern Höckers (H. oceidentale et affine)...“ Mit Recht find unſeres Erachtens die- jenigen „Arten“, welche die Hauptſchritte zwiſchen Anchitherium, Hipparion und Equus bezeichnen, zu Gattungen erhoben worden, wie wir in dem zweiten Artikel über die ausgeſtorbenen Wirbelthiere Nord— amerika's des Näheren geſehen haben.“) Mit dieſen ſchrittweiſen Aenderungen im Bau der Füße und im Gebiß gingen natürlich ſolche im geſammten Körperbau Hand in Hand. So ſind z. B. wie bei vielen anderen Thieren, die ihre Beine nur zum Laufen gebrauchen, Ulna und Fibula als geſonderte Knochen auch den Pferden in ihrer hiſtoriſchen Ent— wickelung theils durch Verſchmelzung, theils durch Rückbildung abhanden gekommen, während ſie bei dem älteſten Pferde (dem Eohippus) deutlich getrennt und vollſtändig vorhanden waren. Die hauptſächlichſten hiſtoriſchen Veränderungen müßten ſich nun andeutungsweiſe in der embryonalen Ent— wickelung des Pferdes nachweiſen laſſen, wenn das biogenetiſche Grundgeſetz wirklich eine allgemeine Giltigkeit beſitzt. Leider ſind wir über die Ontogenie des Pferdes nid} ſo genau unterrichtet, als man bei einem ſo verbreiteten Hausthiere vermuthen ſollte. Allein das Pferd ift ein zu koſtbares Verſuchs— thier, als daß man bei demſelben die Embryo- logie ſo genau ſtudirt haben und von Tag zu Tag verfolgt haben könnte, wie etwa bei Hühnern oder Kaninchen. Indeſſen ſtimmt das Wenige, was man bei gelegentlich zur Unterſuchung gelangten Pferde-Embryonen feſtſtellen konnte, auf das Beſte mit dem überein, was man nach den Thatſachen der genauer bekannten Phylogenie erwarten mußte. Profeſſor Gegenbauer ſagt über dieſen wichtigen Punkt bei Gelegenheit einer Beſprechung der Marſh'ſchen Unterſuch— ungen“): ) Kosmos. Bd. II. S. 429 fgde. ) Morphologiſches Jahrbuch. Band IV. (1878). Erſtes Heft. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | „Es iſt zweckdienlich, daran zu erinnern, wie das Wenige, welches uns bisher über die Ontogenie der Gliedmaßen der Einhufer bekannt ward, den Parallelismus mit der Phylogenie erkennen läßt. (Vergl. A. Roſen— berg in der Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie. Bd. XXIII.) In dem erſten zur Unterſuchung gekommenen Stadium beſitzt Ulna mit Radius gleiche Länge, ebenſo erſcheint die Fibula noch in vollſtändiger Anlage und damit ſind Zuſtände angedeutet, die nur den älteſten Formen (Eohippus) jener paläontologiſchen Reihe zukamen. Ebenſo läßt die Anlage von drei vollſtändigen einſtimmung mit den Vorläufern der ſpätern Equiden auf das Deutlichſte erkennen und in der gleichfalls zu beobachtenden Rück— bildung der Diaphyſe von Ulna und Fibula nimmt man denſelben Vorgang wahr, wie er in den ſpäteren Formen gleichfalls in einzelnen Stadien repräſentirt wird. So decken ſich hier, ſo weit man dies erwarten darf, Ontogenie und Phylogenie.“ Es hat ſich ſomit bei derjenigen Säuge— thierklaſſe, deren hiſtoriſche Entwicklung man am genaueſten kennt, das biogenetiſche Grund— geſetz vorzüglich bewährt, obwohl es wünſchens— werth bleibt, die Ontogenie dieſer Thiere immer noch genauer kennen zu lernen. Man erkennt nun leicht, weshalb bei den Pferden ſo häufig ein Rückſchlag zu der Fußbildung des Hipparion vorkommt, denn die drei Zehen deſſelben erſcheinen beim Embryo regelmäßig in der Anlage der drei Mittelhand— und Mittelfuß-Knochen, obwohl ſich nur der mittelſte derſelben weiter entwickelt, während die beiden andern gewöhnlich Rudimente bleiben. Zuweilen aber iſt nicht nur der erwähnte Knochen, ſondern auch die dazu— gehörige Zehe voll entwickelt, ja in einem 2 Gaudry abgebildeten Falle ſogar in Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. laſſen: Poeſie und Wiſſenſchaft unter dem— Metacarpalien und Metatarſalien die Ueber- dazu geeignet ſein, um den langathmigen | Huxley, 43 einem höheren Grade als bei den meiſten Hipparion-Arten, bei denen dieſe Seitenzehen ſchon ſehr verkleinert waren, ſo daß man an einen noch älteren Zuſtand erinnert wird. (Vergl. d. Abbild. im Kosmos, Bd. II. S. 431.) So bietet denn Paläontologie, Ent— wickelungsgeſchichte und Teratologie des Pferdes in gegenſeitiger Stützung und Er— gänzung eine feſte Grundlage für das Ge— bäude der Evolutionstheorie, und wie der Pegaſus einſt zum Wappenthier der Poeten erkieſt wurde, ſo können ihn nunmehr die Evolutioniſten auf ihren Kampfſchild malen ſelben Zeichen! Nichts aber würde mehr Streit über Wahrheit und Dichtung in der Weltanſchauung zu einem ſchnellen Ende zu bringen, als wenn ein Kowalewsky, Rütimeyer, Gaudry, Marſhͤ oder ſonſt ein gründlicher Kenner der Ur- und Naturgeſchichte des Pferdes uns eine Monographie deſſelben beſcheeren wollte, die auch dem blödeſten Auge die Natur offenbaren würde als das, was ſie iſt, ein ewiges Werden. | | Ueber das Vorkommen und die Bedeutung überzähliger Brüſte und Bruſtwarzen beim Menſchen veröffentlicht Prof. Dr. Leichtenſtern in Tübingen auf Grund von dreizehn ſelbſt unter— ſuchten und zweiundneunzig in der Literatur beſchriebenen Fällen eine ausführliche Arbeit“), der wir das Folgende entnehmen. Fälle von Ueberzahl der Brüſte (Polymaſtie, Pleto- mazie) oder der Bruſtwarzen (Pleiothelie) — Virchow's Archiv. Band 73 Heft 2 (Juni 1878). find im Allgemeinen beim Meuſchen häufig, aber lange Zeit nur als ein Opus mira— pile naturae ludentis, als eine Art Ca- price oder Bizarrerie der bildenden Natur, ja als Verirrungen vom Organiſations-Plane aufgefaßt worden. Prof. Dr. Leichten— ſtern kommt durch ſeine ſorgſame Durch- forſchung des geſammten Materials zu ganz andern, für die Darwin'ſche Theorie ſehr wichtigen Schlüſſen. Entgegen der Angabe, daß dieſe Bildungen bei Männern ſeltener ſeien als bei Frauen, findet er, daß Fälle von rudimentärer Polythelie (mit oder ohne Polymaſtie) im Allgemeinen ziemlich häufig (c. einmal unter 500 Perſonen) vorkommen, und zum Mindeſten ebenſo häufig bei Männern als bei Frauen. faſſer ſelbſt beobachteten Fällen betrafen ſo— gar neun das männliche, vier das weibliche Geſchlecht, indeſſen werden ſie aus leicht be— greiflichen Urſachen bei dem Letzteren leichter ſelben gelagert. wahrgenommen. Sie wurden auch zuweilen erſt als ſolche erkannt, wenn ſie während und nach der Schwangerſchaft begannen, Milch abzuſondern. Die Angaben, daß ſich derartige überzählige Organe an beliebige Körperſtellen „verirren“, wurden durch die genauere Vergleichung völlig widerlegt, viel— mehr fand ſich, daß überzählige Bruſtwarzen und Brüſte weitaus am häufigſten (bei 91 Prozent aller Fälle) an der Vorderſeite des Thorax vorkommen. Die Fälle, wo acceſſoriſche Brüſte in der Achſelhöhle, am Rücken, auf dem Akromion, an der Außen— ſeite des Oberſchenkels angetroffen wurden, bilden äußerſt ſeltene, häufig nur durch Unica vertretene Ausnahmen. Die acceſſoriſchen Von den durch den Ver treffend. Achſelhöhlen genähert. 444 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Sie kommen ein— ſeitig und bilateralſymmetriſch oder unſymme— triſch angeordnet vor, höchſt ſelten aber neben den normalen. Die Angaben Geoffroy's de Saint-Hilaire, Förſter's und Anderer Be— obachter über ein regelloſes Auftreten dieſer Organe, die auch Preyer und Darwin irreführten ), find alſo falſch: die acceſſoriſchen Mamillen und die normalen Warzen jeder Seite bilden faſt immer zwei nach abwärts convergirende Linien, ganz ähnlich der Stell— ung, welche die Mamillen vieler mehrbrüſtiger Säugethiere einnehmen. Sehr gut illuſtrirt wird dieſe Normalſtellung der ſupernumerären Warzen durch den intereſſanten Fall Fitz— gibbon's *), einen Mann mit vier acceſ— ſoriſchen und rudimentären Mamillen be— Zwei derſelben hatten oberhalb, zwei unterhalb der normalen ihren Sitz, erſtere waren nach auswärts von der Ma— millarlinie, letztere medianwärts von der— Bei einſeitiger Entwicklung finden ſie ſich häufiger auf der linken als auf der rechten Seite (7 : 2), wie auch die normale Bruſt auf der linken Seite nach Cruveilhier faſt konſtant größer und voller entwickelt zu ſein pflegt. Außer an der Vorderſeite der Thorax hat man acceſ— ſoriſche Brüſte und Mamillen in höchſt ſeltenen Ausnahmefällen auch angetroffen in der Achſel— höhle (5 Fälle), am Rücken (2 F.), auf der Schulterhöhe (1 F.) und an der Außenſeite des Oberſchenkels (1 F.), dagegen beruhen die allenthalben curſirenden Angaben über acceſſoriſche Brüſte am Bauche und in der Inguinalgegend auf einem Irrthum. In mehreren Fällen war die Anomalie ebenſo Mamillen an der Vorderſeite des Thorax haben in der Mehrzahl (94 Prozent der Fälle) ihren Sitz unterhalb der nor— erblich, wie ſonſt Polydactylie; in den von ) J. Darwin, die Abſtammung des ; „„ Menſchen (8, Aufl.) I. S. 47. malen Mamillen, meiſtens etwas einwärts, ſelten oberhalb und dann nach außen den ) The Dublin Quarterly Journal of Med. Science Febr. 1860. Vol. XXIX. Prof. Leichtenſtern ſelbſt beobachteten Fällen konnte keine Erblichkeit nachgewieſen werden. iſt es zweckmäßig, die obwaltenden Verhält— niſſe bei den Säugethieren zu betrachten. Die Anzahl der Brüſte bei den Säugethieren iſt eine verſchiedene und zwar ſowohl bei den verſchiedenen Ordnungen als auch bei den einzelnen Arten einer und derſelben Ordnung. Sie ſchwankt zwiſchen 2 und 14. Der früher aufgeſtellte, aus naturphiloſo— phiſcher Betrachtungsweiſe hervorgegangene Satz: „Je höher entwickelt eine Säuge— thier-Art iſt, um jo weniger Brüſte beſitzt dieſelbe, und um ſo mehr nähern ſich die Brüſte dem Thorax“ hat nur eine ſehr be— dingte Richtigkeit. Dieſes „Geſetz“ wie man es auch genannt hat, findet ſich wohl beim Vergleiche des Menſchen, der Affen, Halb— affen, Chiropteren und Dermopteren mit den andern Säugethieren beſtätigt, nicht aber beim Vergleiche der verſchiedenen Säugethier— arten untereinander. Die Zahl iſt viel— mehr ſo wenig geſetzmäßig, daß ſie bei Thieren mit vielen Brüſten, wie ſchon Cuvier be— merkte, unter den Individuen wechſelnd iſt; ſie ſchwankt z. B. bei Hunden in der Regel zwiſchen 7 und 12. Dagegen beſteht an— erkanntermaßen bei den verſchiedenen Säuge— thierarten ein bemerkenswerther Zuſammen— hang zwiſchen der Zahl der Brüſte einer— ſeits und der Zahl der Jungen eines Wurfes andererſeits. So gebären die zweibrüſtigen Primaten in der Regel nur ein Junges, von den tiefer ſtehenden Halbaffen dagegen wirft der Lori mit vier Brüſten zwei Junge. Die zahlreichen Arten der Chiropteren, Ein— hufer, Cetaceen, Edentaten beſitzen alle nur zwei Brüſte und werfen ein Junges. Von den Pachydermen werfen jene, die zwei Brüſte beſitzen, (als Elephant, Nilpferd, Nashorn und Tapir) nur ein Junges, das Schwein Um dieſe Erſcheinung zu verſtehen, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 445 dagegen mit 10 Brüſten 8—10 Junge. Die meiſten Raubthiere und die Nagethiere beſitzen eine größere Anzahl von Brüſten (2 — 5 Paare), ſie werfen mindeſtens zwei, viele aber 4— 6 Junge. Dem entſprechend war in früheren Zeiten nicht allein unter den Laien, ſondern auch bei Aerzten die | Meinung viel verbreitet, Frauen mit Poly— maſtie ſeien geneigt, Zwillinge zu gebären. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts wurde Profeſſor Socin in Baſel und nachträg— lich noch die mediciniſche Facultät in Tübin⸗ gen von einer Dame zu Baſel, welche vier Brüſte beſaß, um ein Gutachten angegangen, ob ſie ſich verheirathen dürfe, ohne Gefahr zu laufen, ſtets Zwillinge zu gebären. Die befragten Autoritäten entſchieden dahin, daß Polymaſtie nicht zu Zwillingsgeburten dispo— nire, und der Erfolg beſtätigte dieſes Ur— theil.“) Auch hat die Unterſuchung gezeigt, daß unter den 70 Frauen, die hier in Be— tracht kommen, nur drei Zwillinge geboren haben. In einigen ſeltenen Fällen konnten die acceſſoriſchen Brüſte mit zur Stillung der Kinder verwendet werden. Was nun die naturphiloſophiſche Deut- ung betrifft, ſo ſind die überzähligen Brüſte ſchon früh mit der normalen Polymaſtie der Säugethiere in Parallele geſtellt worden. Ihr gewöhnliches Vorkommen und ihre Ver— theilung an Bruſt und Bauch erinnert an die gewöhnliche Vertheilung derſelben bei den Säugethieren, beſonders an das Verhalten beim Lori, bei Lemur tardigrada, und gra- eilis, bei Castor Fiber, Mus caffer und andern Thieren, bei denen überall vier Pec- toralmamillen vorhanden find, Die acceſ— ſoriſchen Axillar-Mamillen (von denen der Ver— faſſer ein Beiſpiel abbildet) erinnern an die ) Percy, Mem. sur les femmes multi mammes. Journ de med. chir. pharm. p. Corvi- sart, Leroux etc. Tome. IX. p. 381. „en a Achſelbrüſte gewiſſer Flatterthiere und einer Affengattung, der ſogenannten Tarſier, die acceſſoriſchen Dorſal-und Acromial-Mamillen an die erſt ſpät entdeckten Dorſalbrüſte des Stachelſchweins. Sogar der von Dr. Bar— tels erwähnte Fall) in welchem ein Mann fünf Milchdrüſen, eine in der Mittellinie ober— halb des Nabels beſaß, findet nach Meckel von Helmsbach ein Seitenſtück in dem Vor— kommen einer medianen Mamma bei gewiſſen Fledermäuſen. Auch inguinale Mamillen kommen bei einzelnen Säugethieren vor, beim Menſchen find fie nach Leichtenſtern nie— mals beobachtet worden, und es liegt in den betreffenden Angaben nur ein Mißverſtehen des von Preyer *) erwähnten Falles vor, bei welchem eine am äußern Schenkel befind— liche Mamma Milch abſonderte. Zur Er— klärung dieſer Erſcheinung ſind früher ver— ſchiedene Theorien aufgeſtellt worden. Die eine derſelben, welche von einem „Verirren“ der Milchdrüſen ausgeht, iſt aus entwick— lungsgeſchichtlichen Gründen unhaltbar. Eine andre von Meckel aufgeſtellte Theorie be— hauptet, daß jeder Menſch die Anlage zur Entwicklung von fünf Brüſten beſitzen ſoll, nämlich zwei in den Achſelhöhlen und eine über dem Nabel, außer den beiden regel— mäßig entwickelten. Dieſelbe iſt augenſchein— lich nur auf Grund des obenerwähnten Ein— zelfalles, bei welchem es noch ſehr zweifel— haft iſt, ob die fünfte Warze wirklich genau in der Median-Linie lag, entworfen. Eine richtigere Erklärung wurde bereits von Iſi— dor Geoffroy de Saint-Hilaire, dem Vorkämpfer der Evolutions-Theorie, angebahnt, welcher ausſprach, daß die Ver— vielfältigung der Brüſte beim Menſchen auf den „allgemeinen Organiſationsplan“ der ) Reichert's und Dubois -Rey— mond's Archiv 1872. S. 304. * Der Kampf um's Daſein 1869. S. 45. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Säugethiere zurückzuführen ſei. Darwin gab zuerſt die richtige Erklärung dieſer Bil— dung, indem er ſie als einen Rückſchlag auf die Organiſation der älteren Urzeuger des Menſchen betrachtete, und obwohl er dieſe Auſicht ſpäter an der obenangeführten Stelle zu Gunſten einiger von andern Beobachtern mißverſtandenen oder falſchgedeuteten Fälle einſchränken zu ſollen glaubte, fügte er doch die Bemerkung hinzu: „Im Ganzen dürfen wir wohl bezweifeln, ob ſich in beiden Ge— ſchlechtern beim Menſchen jemals überzählige Bruſtdrüſen überhaupt hätten entwickeln können, wenn nicht ſeine früheren Urerzeuger mit mehr als einem einzigen Paare verſehen geweſen wären“. Auf Grund ſeiner ein— gehenden Studien mit Ausdehnung auf das geſammte vorliegende Beobachtungs— material erklärt Prof. Leichtenſtern: „Ich glaube den Einwänden gegen Dar- win's Anſicht die Spitze abgebrochen zu haben, indem es mir gelang, zu zeigen, daß die acceſſoriſchen Brüſte und Mam— millen nicht, wie man bisher annahm, mit launenhafter Wandelbarkeit bald da, bald dort ihren Sitz haben, daß ſie vielmehr Bildungen ſind, die in außerordentlich regel— mäßiger Weiſe (bei 91 pCt.) unterhalb und nach innen, ſelten oberhalb und nach auswärts von den normalen Papillen an der Vorderſeite des Thorax gelegen ſind.“ Nachdem der Verfaſſer ſo die Belangloſigkeit der gegen die Darwin'ſche Auffaſſung vorgebrachten Gründe dargethan hat, ſchließt er den allgemeinen Theil ſeiner Arbeit, dem ein ausführlicher literariſcher Nach— weis folgt, mit den Worten: „Wir er— klären mit Darwin die acceſſoriſchen Brüſte und Mamillen als Beiſpiele von „Rück— ſchlag“ auf unſere enorm entfernten, niedrig organiſirten, mehrbrüſtigen Urahnen, und ſprechen jedem Menſchen die latente Fähig— — ̃ — — keit oder Neigung zu, mehr als zwei Brüſte zu produciren. Zwar iſt dieſe auf Vererb— ung von unſern Vorahnen beruhende Neigung oder Fähigkeit im Laufe der Millionen von Jahren bis zur Latenz herabgemindert worden, immerhin aber nicht in dem Grade, als man bisher anzunehmen geneigt war, indem wir nachzuweiſen vermochten, daß acceſſoriſche rudi— mentäre Mamillen und Brüſte viel häufiger (und bei den verſchiedenſten Völkern und Racen) vorkommen, als man bisher vermuthet hatte.“ Hinſichlich der am Schluſſe von Prof. Leichtenſtern unterſtützten Vermuthung Darwin's, daß unter den Vorfahren des Menſchen auch die Männchen milchab— ſondernde Drüſen beſeſſen haben müßten, glaubt Referent auf ſeine um Vieles wahr- ſcheinlichere Hypotheſe verweiſen zu ſollen “), daß die männlichen Brüſte mit allen ähn— lichen geſchlechtlichen Merkmalen nichts als Charaktere ſind, welche die beiden Geſchlech— ter gegenſeitig aufeinander vererbt haben. Die Furcht der Affen vor den Schlangen. Mr. A. E. Brown hat kürzlich in dem zoologiſchen Garten von Philadelphia über dieſen Gegenſtand einige Verſuche an— geſtellt und dabei dieſelben Reſultate wie früher Darwin!) erhalten. Er wickelte eine todte Schlange loſe in eine Zeitung und legte fie auf den Boden eines von ſehr ver- ſchiedenen Affenarten bewohnten Käfigs. Das Packet wurde augenblicklich von einem An⸗ 0 Vergl. Kosmos I. ©. 504 u. flgde. ) Die Abſtammung des Menſchen (3. Aufl.) S. 93. — — Kosmos, Band III. Heft 5. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 447 führer der Geſellſchaft weggenommen, aber nach wenigen Secunden ging das Papier auseinander und die Schlange wurde ſicht— bar. Der Affe warf es ſofort weg und eilte davon, indem er beſtändig rückwärts blickte. Als die andern Affen die Schlange erblickten, näherten ſie ſich Schritt vor Schritt und bildeten einen Kreis von ſechs bis acht Fuß Durchmeſſer um dieſelbe. Von allen näherte ſich nur ein Macacus, welcher vor— ſichtig einige ſchnelle Griffe nach dem Papier ausführte. In dieſem Augenblicke wurde eine Schnur, die um den Schwanz der Schlange gebunden war, leicht angezogen, die Schlange bewegte ſich in Folge deſſen, und die Affen flohen mit großem Lärmen und Geſchrei in Ueberſtürzung davon. Einige Zeit nachher kehrten ſie ſchrittweiſe in ihre frühere Stellung zurück, und ſetzten dies mehrere Stunden hindurch fort, einerſeits unendliche Furcht, andererſeits ſonderbare Neugierde zeigend. Die nämlichen Affen zeigten keine Furcht vor einer Schildkröte oder einem kleinen todten Alligator. Dieſelbe Schlange wurde ſodann verſchiedenen Säugethieren anderer Ordnun⸗ gen gezeigt, aber keines von ihnen zeigte ir— gend ein beſonderes Intereſſe. Es iſt bekannt, daß dieſelbe inſtinktive Schlangenfurcht beim Menſchen, beſonders bei Frauen vorhanden iſt. Mr. Brown war in der Lage, in den Bewegungen einer taubſtummen Frau ein ſehr ähnliches Gemiſch von Furcht, Neu⸗ gierde und Abſcheu, wie es die Affen zeigten, wahrzunehmen. Iſt das ein Ueberbleibſel von uralten Daſeinskämpfen mit einem Feinde, deſſen Biß ſehr von demjenigen an- derer Thiere verſchiedene Wirkungen her⸗ vorbringt und den Menſchen einem lang- ſamen, aber ſchrecklichen Tode überliefert? (Nature Nr. 452 June 1878.) un u —— = = — Titeratur und Kritik. Sonne und Mond als Bildner der Erdſchale. Von Profeſſor Dr. J. H. Schmid. Leipzig, Georgi. 1878. 143 S. mit 3 Tafeln. ie 8 ine weitere in der Reihe der Broſchüren, ‚mit denen der Verfaſſer den Beweis x ſeiner Theorie der „ſäkularen Umſetz— 685 ung der Meere“ zu liefern verſucht. Wie die anderen Arbeiten Schmick's zeichnet ſich auch dieſe durch Anführung und Zuſammenſtellung einer Fülle von Thatſachen aus, die an ſich für das Verſtändniß der Frage des periodiſchen Klimawechſels in beiden po— laren Halbkugeln der Erde äußerſt werthvoll ſind, ſelbſt wenn ſie noch nicht als genügend angeſehen werden ſollten, um, wie Schmick beanſprucht, ein „klares Zeugniß der Natur“ zu Gunſten der von ihm vertheidigten Theorie abzulegen. Während Croll (Climate and Time) in ſeiner Ausarbeitung und Modification der Adhemar'ſchen Theorie an der Anficht feſthält, daß die polare Anſammlung von Eis bald auf dieſer, bald auf jener Erdhälfte im Laufe einer 10500 jährigen Halbperiode des Vorrückens der Nachtgleichen und in Folge der Excentrieität der Erdbahn eine Verſchiebung des Schwerpunktes der Erde und damit eine Verſetzung der oceaniſchen Waſſermaſſen bedinge, behauptet Schmick vielmehr, daß, abgeſehen von dieſer Eis— anſammlung, ſchon die ſtärkere Anziehungs— kraft, welche die Sonne direkt nach der Rich— tung des betreffenden Poles hin auf die oceaniſchen Waſſermaſſen ausübe, auf der betreffenden Halbkugel das Niveau der Meere während der 10500 jährigen Periode dau— ernd erhöhe, auf der entgegengeſetzten Halb— kugel alſo entſprechend erniedrige. Dieſe Verſchiebung der oceaniſchen Waſſermaſſen allein falle ſchon mit einer Verſchiebung des Schwerpunktes der Erde zuſammen. Dieſe Theorie ergänzt Prof. Schmick in vorliegendem und in einem früheren Werke („Die Gezeiten“) nun noch dahin, daß nicht nur die Flüſſigkeiten der Erdoberfläche, ſondern in ganz gleicher Weiſe auch die heiß— flüſſigen Maſſen des Erdinnern dieſe Ver— ſetzung „polwärts“ erleiden. In dem „Polwärts“ liegt, unſeres Er— achtens, die Schwäche oder das für uns Unverſtändliche der Theorie. Denn die An— ziehungskraft zwiſchen Erde und Sonne (reſp. zwiſchen Erde und Mond, die, weil in den kürzeren Perioden des Perigäums wirkend und demnach der Beobachtung leich— ter zugänglich, von Schmick zum Beweiſe ſeiner Theorie herangezogen wird) wirkt doch in der graden Verbindungslinie zwiſchen dem Schwerpunkt der Erde und dem der Sonne, — | — und kann demnach nur das Reſultat haben, an den beiden Durchſchnittspunkten dieſer Linie mit der Oberfläche leichtbeweglicher, d. h. flüſſiger Erdſtoffe Erhöhungen reſp. | | Anſammlungen dieſer flüſſigen Maſſen zu | bewirken, von denen die auf der der Sonne zugewendeten Seite um ein Gewiſſes mehr betragen muß, als die auf der der Sonne abgewendeten Seite erzeugte. Von dieſen Gipfelpunkten der Erhöhungen, die ſich im Laufe der täglichen Rotation des Erdkörpers in einem Parallelkreiſe um die Erde, und im Laufe der jährlichen Rotation der Erde um die Sonne vom nördlichen bis zum ſüd— lichen Wendekreiſe verſchieben, müßte ſich die erzeugte Fluthwelle, wenn ihrer Bildung und Bewegung keine anderweitigen Hinder— niſſe im Wege ſtänden, nach allen Seiten hin regelmäßig abdachen. Die Gipfelpunkte der Fluthwellen irdiſcher Flüſſigkeitsmaſſen liegen alſo immer innerhalb der Wendekreiſe, d. h. innerhalb 23½ Graden vom Aequator (oder bei der Mondanziehung innerhalb des Cxtrems von 28½ Grad vom Aequator) find alfo im Minimum immer 66 ½ Grad von den Polen entfernt. Sie liegen alſo dem Aequator fortwährend viel näher, als den Polen, und wir vermögen deshalb von vornherein nicht einzuſehen, aus welchem Grunde ſie, wie Schmick ſeiner Theorie vorausſchickt (S. 4), „Waſſer polwärts ver— ſetzen“ ſollen. Im Gegentheil wäre es der richtige Schluß, daß dieſe Attraktionswellen Waſſer aus den polaren in die tropiſchen Regionen verſetzen, während die Hauptmaſſe der Flüſſigkeitsanhäufung allerdings im Laufe eines Halbjahres von einem Wendekreiſe zum anderen verſchoben wird. Es ſcheint uns auch, als ob die Beobachtungen des Meeres- niveaus zu Sidney (im 35° ſüdlicher Breite) und zu San Francisco (im 370 nördlicher Breite), die Schmick als eclatanten Be— 449 | Literatur und Kritik. weis ſeiner Theorie anführt, eher auf dieſe intertropiſche Waſſerverſetzung bezogen wer— den können, von deren extremen Gipfel— punkten die genannten Orte nur 12 bis 14 Grad entfernt ſind, als auf eine polare Waſſeranhäufung, von deren etwaigem Gipfel— punkte die Beobachtungsorte ſo viel weiter entfernt liegen. Selbſt die Beobachtungs- reihen des Oſtſeeſpiegels, deſſen Verbindungs— ſtelle mit dem Weltmeere den Wendekreiſen der Mondbahn immer noch eben ſo nahe liegt, als dem Pole, unterliegen demſelben Einwand. Sie könnten als Beweis ange— ſehen werden, daß der Mond in ſeinen 4½ jährigen Perigäumsperioden den Gipfel einer das allgemeine Meeresniveau beein— fluſſenden Fluthwelle von ſeinem nördlichen Wendekreiſe (im Extrem 28 ½ Grad Breite) bis zu ſeinem ſüdlichen verſetze. Es wird alſo durch keine der von Schmick ange— führten Beobachtungen eine Waſſerverſetzung nach den Polen hin auf Grund der At— traktion von Sonne oder Mond erwieſen. Daraus folgt nun allerdings nicht, daß eine polare Waſſerverſetzung in Folge der Bewegung der Attraktionsfluthwellen nicht indirekt ſtattfinden könne. Nämlich deshalb, weil in Folge des Dazwiſchenliegens der Continente die durch die Attraktion erzeugte Fluthwelle bei ihrer täglichen Bewegung um die Erde nothwendig an die ihr im Wege liegenden Oſtküſten anprallen, ſich dort ſtauen, und dann — ſeitwärts oder rückläufig — in Geſtalt einer Meeresſtrömung wieder verlaufen muß. Dieſe rückläufigen Meeres- ſtrömungen werden nun allerdings, haupt— ſächlich weil ſie aus erwärmtem Meereswaſſer beſtehen, das aus den unteren Tiefen ſelbſt der Tropenmeere durch das von höheren Breitengraden zufließende kältere und ſchwe— rere Waſſer emporgedrängt wird, vorwiegend in der Richtung nach den Polen hin ab— 2 450 Literatur und Kritik. fließen. Die Richtung des Abfluſſes wird aber weſentlich durch die vorhandene Ver— theilung von Land und Waſſer beſtimmt. Es wäre dabei vielleicht die Möglichkeit oder ſogar Wahrſcheinlichkeit in Betracht zu ziehen, daß die jeweilig größten Attraktions— fluthwellen auch größere Waſſermengen in der einmal beſtimmten Richtung der Meeres- ſtrömungen polwärts entſenden. In Folge der Präceſſion der Nachtgleichen und der Excentricität der Erdbahn macht ſich aber im ganzen Durchſchnitte je einer 10500 jährigen Periode ein Uebergewicht der Sonnen— attraktion auf je einer Erdhälfte (d. h. ent- weder nach der ſüdlichen oder nördlichen Tropen region hin) geltend, muß alſo auch dort eine in ihrem Geſammtbetrage mäch— tigere Fluthwelle erzeugen, die ihrerſeits wie— der vorwiegend ihre Waſſermengen nach der polaren Region ihrer Erdhälfte abfließen laſſen wird. Auf dieſe indirekte Weiſe wäre alſo eine Beſtätigung der Schmick'ſchen Theorie wohl zu erwarten, die übrigens ohne eine ſehr umfangreiche Reihe von Be— obachtungen in höheren Breitegraden kaum feſtgeſtellt werden dürfte. Dieſe unſere Auffaſſung ſcheint uns auch mit den von Schmick ſelbſt angeführten Beobachtungen der Challenger-Expedition zu harmoniren, nach welchen (S. 120) das warme Oberflächenwaſſer am ſtärkſten unter beiden Wendekreiſen angehäuft iſt und dort die Tendenz hat, ein den normalen Meeres— ſpiegel des Aequators um mehr als zwei Fuß überſteigendes Niveau zu bilden, das ſich fortwährend durch Abfluß ausgleicht. Gerade ſo gut erklärt ſie die außerordentliche Stau— ung des kalten Meerwaſſers an der Oſtküſte Südamerika's, die Schmick auf Tafel II. darſtellt, und ebenſo die auf Seite 115 und Tafel III. erwähnten Variationen der Ge— ſchwindigkeiten der Aequatorialſtrömungen. Selbſt wenn nun eine ſäculare Verſetz— ung der Waſſermengen, wie ſie Schmick beanſprucht, ſtattfände, ſo kann dieſelbe doch nur ſehr unbedeutend ſein. Die Beweiſe eines neuzeitigen Zurücktretens des Meeres- ſpiegels, die Schmick auf Seite 72 ge— ſammelt, beweiſen eben mit Sicherheit, daß dieſes Zurücktreten im Laufe der geſchicht— lichen Zeit ein ſehr unbedeutendes geweſen iſt, und ſeit 2000 Jahren höchſtens 5—10 Fuß betragen haben könnte. Er giebt dem— nach auch ſeine frühere Annahme, daß die „rein ſolare Verſetzungswirkung“ in der 10500 jährigen Halbperiode eine Senkung des Meeresniveau's auf einer Halbkugel von 437½ Fuß hervorbringen könne, auf und begnügt ſich jetzt mit einer Senkung von 203 Millimetern (7¾ Zoll) im Jahrhun⸗ dert (S. 22), alſo in 10500 Jahren mit mit 21,3 Metern. Da die geologiſchen Evi— denzen aber eben eine viel größere Senk— ung, der zuerſt angenommenen entſprechend, zu erfordern ſcheinen, ſo ſind wir um ſo mehr gezwungen, auf die Croll'ſche The— orie der allmäligen Eisanhäufung zurück⸗ greifen zu müſſen, als dieſelbe ſich mit der Schmick'ſchen Theorie, ſoweit dieſe richtig iſt, ganz gut vereinigen läßt. Einige Einwendungen Schmick's gegen die Aufſtellungen Croll's ſcheinen uns übri— gens wohlbegründet. Namentlich gilt dies von dem auf Seite 130 ff. und 141 aus⸗ geführten Proteſte gegen die keineswegs ein— leuchtende Theorie, nach welcher die Meeres— ſtrömungen durch die vorherrſchenden Winde erzeugt werden ſollen. In einem anderen Punkte ſcheinen uns Schmick und Croll gleicherweiſe Recht und Unrecht zu haben, und die Wahrheit vielmehr als Compromiß in der Mitte der beiderfeitigen Theorien zu liegen: „Croll behauptet, von dem Zeit— punkte an, in welchem das Perihel das Winterſolſtitium der einen Halbkugel, das Aphel das Sommerſolſtitium der anderen paſſirt, oder in welchem das Umgekehrte ſtattgefunden habe, ſei immer eine totale Umkehr der Klimata und ihrer Folgen auf Erden eingetreten, und auf dieſe Behaup— tung gründet er ſeine Schilderung der Um— wandlung.“ (S. 141). Schmick dagegen behauptet, daß „Maxi— mal- und Minimalſummen einer ſich addiren⸗ den Leiſtung immer erſt da liegen, wo die wirkenden Urſächlichkeiten durch Null in ihr Gegentheil übergehen.“ (ibid.) Die Frage iſt von praktiſchem Intereſſe, inſofern als nach Croll die Nordhälfte der Erde den diesmaligen Höhepunkt ihrer Wärmeperiode ſchon im Jahre 1256 er— reicht hätte, während nach Schmick der Höhepunkt des Wärmeeffektes erſt 5250 Jahre ſpäter, alſo im Jahre 6500 unſerer Zeitrechnung eintreten würde. das gewöhnliche Jahr bezogen: Nach Croll befinden wir uns am 21. Juni im höchſten Sommer, nach Schmick dagegen ſteigert ſich die Wärme bis zum 21. September, weil erſt an dieſem Tage der Mehreffekt der Sonnenwirkung auf der Nordhälfte im Vergleich zur Südhälfte = Null wird. Unſeres Erachtens läßt Croll außer Acht, daß Effekte ſich ſummiren und nach dem Tage der Maximumleiſtung und Umkehr der wirkenden Urſache allerdings erſt aus— geglichen werden müſſen, während Schmick überſieht, daß dieſer Ausgleich eben zur Zeit der Maximumleiſtung mit erhöhter Energie vor ſich geht, und in Folge deſſen eine Ver— ringerung des fühlbaren Effektes ſchon ein— trifft, ehe die einſeitige Mehrleiſtung ſich in eine Minderleiſtung verwandelt. In der Regel ſind nicht Juni oder September, ſon— dern Juli und Auguſt die effektivſten Som— mermonate. Literatur und Kritik. Oder auf 451 Sehr intereſſant iſt das Schmick' ſche Werk in den ſieben Kapiteln ſeiner zweiten Abtheilung (S. 46 — 100), in denen der Verfaſſer, mit Zugrundelegung der Arbeiten von Lyell, Dawkins, Le Hon, Du— pont, Croll u. a. m. die Lagerung des ſogenannten Diluviums kritiſch unterſucht und aus ihm, ſowie aus den in ihm ent— haltenen Reſten in, wie uns dünkt, über— zeugender Weiſe die Aufeinanderfolge von Wärme- und Kälteperioden nachweiſt, deren Effekte und Intenſität mit der wechſelnden Excentricität der Erdbahn, wie ſie durch aſtronomiſche Berechnung nachgewieſen, zu— und abnahm. Raummangel verhindert uns, auf dieſe Ausführungen näher einzugehen, und können wir nur unſere Leſer auf das Buch ſelbſt verweiſen. Sie ſind namentlich für eine richtige Auffaſſung der Urgeſchichte des Menſchen ſelbſt von Intereſſe, und ge— nügen z. B. vollſtändig zur Widerlegung der in neuerer Zeit von mehreren philologiſch gebildeten Geſchichtsforſchern geäußerten An— ſicht, daß die Heimath der ariſchen Raſſe im oſteuropäiſchen Tieflande zu ſuchen ſei. Denn die Annahme, daß ſich der Arier im Laufe von 10000 Jahren aus einem Waſſer— bewohner entwickelt habe, ſcheint uns denn doch ein wenig zu ſtark! E. B. Die Arier. Ein Beitrag zur hiſtoriſchen Anthropologie von Theodor Poeſche. Jena, bei Coſtenoble, 1878. 238 S. Um ſolche Kleinigkeiten, wie die am Schluſſe des vorigen Referats erwähnte, kümmert ſich der Verfaſſer dieſes Werkes nun nicht. Er iſt vielmehr der Anſicht, daß die Arier aus — den Rokitno⸗ ſümpfen ſtammen, wo es vor 2000 Jahren ziemlich bodenlos geweſen ſein mag. 452 In dieſen Sümpfen feien ſie iſolirt ge— weſen und hätten ſich als beſondere, ſcharf charakteriſirte Raſſe entwickelt. Das Ver— dienſt des Werkes beſteht darin, daß es nicht zögert, während nach Weisbach der deutſche Schädel im Durchſchnitt 1521 C. -C. faßt . Unfere altpommerelliſchen Schädel finden zwiſchen Neger und Eskimo ihren Platz .. dieſen beſonderen Raſſen- Charakter ohne Umſchweife als den der blauäugigen und, in blonden Raſſe em— kräftigen, und Hautfarbe, großen, Haar- phatiſch darzulegen, und daß es damit die kleinen, ſchwarzhaarigen Arier endlich dahin weiſt, wohin ſie gehören, nämlich in die Reihen der durch ariſche Eroberung zur ariſchen Sprache gelangten Baſtardvölker. Körperlänge war höchſtens 61 Zoll.“ „Aber ſchon auf Grund der altpom— merelliſchen Schädel — die wahrſcheinlich nicht über die Anfänge unſerer Zeitrechnung zurückdatiren — wird es erlaubt ſein, ſich die älteſten uns bekannt gewordenen Arier als den Eskimos in der Verwandtſchafts— reihe ganz nahe ſtehend zu denken. Was verſchlägt es?“ ſo fragt Herr Poeſche. N. . a N Seine Localiſation der ariſchen Heimath ſtützt der Verf. übrigens auf die Ausſage eines Herrn Main ow, eines Ruſſen, der nach Herrn von Hellwald (Archiv für An— thropologie VIII. 3. S. 330) Folgendes ge— ſagt habe: „Bemerkenswerth in dieſer Sumpf— gegend von Pinsk, Minsk u. ſ. w. iſt die dort allgemein vorkommende Erſcheinung der Entfärbung (Depigmentation); die Fälle | von Albinismus find ſehr häufig, die Pferde ſind faſt alle grau oder iſabellfarbig, die Blätter der Bäume blaß, die ganze Natur trüb und farblos.“ Poeſche nennt dieſe Angaben mit Recht wunderbar. Noch wunderbarer iſt es, daß nicht dort, ſondern in Holſtein die zur Zeit blondeſte Raſſe der Welt lebt. Noch andere Vorfahren der Arier als die Menſchen (oder Fröſche?) der Rokitnoſümpfe glaubt er in den ehemaligen Beſitzern von Schädeln und Gebeinen zu entdecken, die Dr. Liſſauer aus Danzig in Pomerel— len gefunden habe (S. 75). „Unſer altpommerelliſcher Schädel“ ſagt derſelbe, „ zeigt einen Geſichtswinkel von 71 247, am Zahnrande des Ober— kiefers 69“ 12“, Größen, die ihn in der Rangordnung der Schädeltypen ſehr niedrig ſtellen . . . Inhalt 1310 C. C., — Welt Schliemann, Mykenä. Bericht über meine Forſchungen und Entdeckungen in Mykenä und Tiryns. Mit einer Vor— rede von W. E. e Leipzig 1878, Brockhaus. Zu jeder Zeit hat es Autodidakten ge— geben, welche ohne Contakt mit der Zunft— gelehrſamkeit ihre eigenen Wege wandelten, denen aber die beleidigten Zunftgenoſſen Steine zwiſchen die Füße zu werfen keine Mühe ſcheuten. Denn warum? Erringt der Selbſtlerner ohne den Wegweiſer der dazu ſich allein berechtigt dünkenden Schule Erfolge, welche gerechter Weiſe Aufſehen erregen, ja ſogar der Schule ſelbſt in ihrer Entwickelung gefährlich werden können, fo fragt man ſich nach der Nothwendigkeit der Zunft, nach der Berechtigung der Emanzipa— tion vom Schulzwange u. dgl., und dieſe Frage wird in den Augen der unparteiiſchen auch die Stimme der Kritik beherrſcht ja das Geſetz der Maſſe und der Schwere — gewöhnlich zum Schaden der Schulgenoſſen und zum Triumphe des in— geniöſen Autodidakten ausſchlagen. Iſt im Allgemeinen dieſer Gang der | . Literatur und Kritik. Literatur und Kritik. 453 Ereigniſſe oder dieſes Kampfes zwiſchen Schliemann's Verdienſte um die klaſ— Schule und Autodidaktismus da- mit bezeichnet, ſo werden ſeine Formen noch verſchärft bei einer Klaſſe, die ſich zer’ S Soũ y für den Vertreter alles Wiſſens und aller Bildung hält — dem klaſſiſchen Philologen. Schon der Name, den er auf der Stirne trägt, giebt ihm einen gewiſſen Glorienſchein und ſcheint ihm das Recht zu verleihen, nur Denen den officiellen Ein— tritt in den Olymp und zu den klaſſiſchen Stätten zu geſtatten, die rite fo und fo viel Examina abſolvirt und das jurare in verba magistri aus dem Fundament ge— lernt haben. Wehe dem, der es wagt, ihre Cirkel zu perturbiren, er wird — wiſſenſchaftlich gelyncht! Eine ſolche Lynchjuſtiz ſucht nun dieſer „klaſſiſche Philologenſtand“ bis jetzt an einem Manne zu vollſtrecken, der ein bis dato allgemein für utopiſch gehaltenes Unter— nehmen zu realiſiren gedachte, nämlich die Auffindung des alten heiligen Ilions, die Entdeckung der Leichen des Agamemnon und ſeiner Todesgefährten ꝛc., überhaupt die Verbindung des klaſſiſchen Sagnſtoffes Altgriechenlands mit den Funden der Ar— chäologie. Erſt die neueſte Zeit, die An— erkennung des Auslandes gegenüber den Erfolgen des Autodidakten, der Beifall eines Lindenſchmit !), die Ernennung Schliemann's zum Ehrenmitgliede der deutſchen anthropologiſchen Geſellſchaft“ ) und einige wenige unparteiiſche Kritiken über ſein letztes Werk haben es vermocht, das Eis des Zweifels in Deutſchland über ) Beilage zur Augsb. Allgem. Zeitung 1878 Nr. 22. ) Bericht über die VIII. Verſammlung der deutſchen Anthropologen zu Conſtanz von J. Ranke S. 76. ſiſche Archäologie zu brechen. Daß jedoch ein großer Theil ſeiner reichen Funde, ſo beſon— ders die von Hiſſarlik, im Auslande herum- wandern, und nicht einmal eine Abbildung davon unſere Muſeen ziert, die ja ſonſt in Erwerbung von Kleinigkeiten um hohe Geldſummen ſich gar nicht zieren, daran trägt der übel angebrachte Neid und die ausgeſprochene Verleumdungsſucht der oben erwähnten Kreiſe Schuld.?) Im Ganzen iſt der Kampf um Schliemann, der erſt im Jahre 1856 in einem Alter von 34 Jahren die griechiſche Sprache erlernte, der nicht rite die Kenntniß gewonnen hat ſein mensa, mensae, ſein amo und ſein copie zu flektiren, jo ziemlich zu feinem Vortheil beendet. Der Mann, den ſchon in den Kinderſchuhen die homeriſchen Hel— den begeiſterten, den die Homerverſe, die ihm ein betrunkener Müllergeſelle vordekla— mirte, hinter dem Ladentiſche die Thränen abrangen, der nach dem Schiffbruche des Lebens als Bureaudiener zu Amſterdam eintrat, der als ſolcher die Hälfte ſeines Gehaltes von 800 Franken auf das Stu— dium der neueren Sprachen verwandte, der durch eigenes Genie die meiſten Cultur— ſprachen ſich aneignete und endlich durch glückliche Speculationen in Häringen ꝛc. ſich Unabhängigkeit und Muße erwarb, dieſer Autodidakt, den Homer's Schatten im „heiligen Lande“ umhertreibt, bis er findet, was er ſucht — ſteht nach vierzehn— jähriger Beſchäftigung mit Archäologie und Kunſt als einer der größten Entdecker auf dieſem Gebiete da. Er hat es für ſich und die Wiſſenſchaft weiter gebracht als mancher Meyer, Müller, Schmidt, der summa cum laude das examen rigo- rosum beſtand und jetzt, an einem alten ) Ausland 1877 Nr. 32. 454 Schmöker kauend, mit ſouveräner Veracht— ung auf Alle herabſchaut, die nicht zum Parnaß ſeine emendirenden und com— mendirenden Wege wandeln. Schliemann's Schickſal an und für ſich war deshalb ein würdiges Objekt der Betrachtung und des Beweiſes dafür, mit welcher Naturnothwendigkeit ſich ein Genie per tot diserimina rerum die Bahn zum Ruhm brechen wird — ſelbſt noch bei Leb— zeiten — ohne daß man nöthig hätte, ihn erſt nach den Exſequien mit einem frommen exegit monumentum anzuräuchern. So hart der Kampf ums Daſein und den Erfolg dieſem Manne gemacht wurde, ſo hat er ihn Dank ſeiner fabelhaften Energie beſtanden, und andere mögen auf Hellas' heiligem Boden den Spruch beherzigen: hie Rhodus, hie salta! Intereſſenten für Schliemann's Schickſale verweilen wir auf die Vorrede zu ſeinem Erſtlings— werk: „Ithaka, der Peloponnes und Troja“, worin er bereits 1869 ein Programm für ſeine Unternehmungen herausgegeben hat. Heute iſt unſere Aufgabe, die Perſpektive, welche Schliemann mit ſeinen Aus— grabungen auf der Agora von Mykenä eröffnet hat, in ihrer Bedeutung für die Culturgeſchichte kurz zu würdigen. Das Werk, worin er ſeine Entdeckun— gen beſchreibt, erſchien ſoeben in reicher Ausſtattung bei Brockhaus in Leipzig in deutſcher Ausgabe. Beigegeben ſind vor— treffliche Abbildungen in reicher Auswahl, ſowie eine Reihe landſchaftlicher Darſtell— ungen und eine genügende Anzahl von Plänen und Detailprojektionen. So erhält auch der Laie eine deutliche Vorſtellung von der Akropolis von Tiryns, dem Löwen— thor von Mykenä, der Agora mit den auf— gedeckten fünf Gräbern (woran ſich neueſtens ein ſechſtes anſchloß), den farbigen Idolen von Literatur und Kritik. Terracotta, ſowie der Art des Terrains in und um Mykenä. Das eben iſt der Vor— zug der Darſtellung eines Laien, daß er auch auf ein Laienpublikum Rückſicht nimmt und nicht vom hohen Roß herab an wenige Erwählte ſeine Weisheitsſprüche richtet. Allerdings auch auf manche Mängel der Laienſprache mag hingedeutet fein: Die all- zugroße Weitſchweifigkeit an manchen Stellen, eine hier und da vermißte Ueberſicht und Rubrification ꝛc. Jedoch im Großen und Ganzen übetrifft das jüngſte Opus von Schliemann die früheren an Deutlich— keit und Umſicht, wie in Rückſichtnahme auf die einſchlagende Literatur, ſo daß ſelbſt Fachmänner die Runzeln auf der Stirne glätten können und geglättet haben. Im Allgemeinen find die Fundlocali— täten an der Oſtküſte des Peloponnes, im Innern des Meerbuſens von Argolis, dem Publikum aus der Tageslektüre und aus periodiſchen Blättern wie „Ausland“, „Un— ſere Zeit“ u. ſ. w. bekannt. Einige Kilometer nördlich der See— ſtadt Nauplia liegt die uralte Citadelle von Tiryns, jetzt Palaeocaſtron genannt. Im Innern dieſer nach dem Mythus von Cyklopen gebauten Ringmauer mit 7 Fuß langen und 3 Fuß dicken Steinen, die einſt eine Höhe von ca. 60 Fuß hatte, ergaben von Schliemann vorgenommene Ausſchachtungen mehrere Schichten. Die jüngſte gehörte der fränkiſchen Periode an, die älteſte zeigte Reſte cyklopiſcher Häuſer, ungedrehte Topfreſte und Idole von Terra- cotten, die ähnlich wie zu Hiſſarlik und My⸗ kenä gehörnte Thiere (Kühe) und weibliche Figuren darſtellen, welche wahrſcheinlich in Verbindung ſtehen mit dem Gottesdienſte einer alten Mondgöttin Jo (Hera). Von ſonſtigen Artefakten fanden ſich hier nur kleine Meſſer von Obſidian und zwar in u. der unterſten Schicht; in der zweiten prä— hiſtoriſchen auch Spinnwirtel von Stein, nur wenige aus Thon. Im Ganzen zeigen Mauer und Scherbe hinlänglich Aehnlich— keit mit den tiefſten Schichten von Hiſſarlik und Mykenä, um dieſe Urcultur in eine und dieſelbe Periode zu ſetzen. Auffallend iſt zu Tiryns der Mangel ſonſtiger Arte— fakte, was ſich aber zum Theil aus der prononcirten Lage dieſer den Seeräubern exponirten Stelle erklärt. Mehr im Innern von Argolis, auf der alten Straße von Argos nach Korinth, liegt im Winkel?) zwiſchen bis 2000 Fuß hohen Bergen Stadt und Akropolis der Pelopiden. Schon ſeit Alters bekannt waren die The— ſauroi, die Schatzhäuſer daſelbſt, mit ihrer bienenkorbförmigen Conſtruktion, ſowie das ſogenannte Löwenthor am weſtlichen Ein— gang zu der ſüdöſtlich von der Stadt ge— legenen Akropolis. Geſchützt ſind deren Seiten, wovon die beiden längſten 300 Meter einnehmen, gleichfalls durch cyklopiſche Mauern, welche den Rand des Abhanges, ſowie auch Abſchnitte im Innern umziehen. Die Mauern, noch 16 — 38 Fuß hoch und durchſchnittlich 16 Fuß dick, beſtehen theils aus in parallelen Reihen liegenden Blöcken mit bindenden kleineren Steinen, theils aus Löwenthores. Die polygone Mauer findet ſich bekanntlich häufig in Unteritalien und Griechenland. Es ähneln die roheſten Formen dieſer Mauerbildung den auf mitteleuropäiſchem Boden bekannten Ringmauern, welche man *) Daher der Name Mvxrvn von der Wurzel , und dem Grundwort cana, wie in Tooı-Invn, Arta-cana, Aba-cena, Thara- cana, vergl. Beilage zur Allgem, Ztg. 1878, Nr. 22 ©. 318. Literatur und Kritik. regelmäßiger geführt. wohlgefügten Polygonen, wie an der Weſt⸗ ſeite der Akropolis, in der Umgebung des 455 auf die älteſte keltiſche und germaniſche Ein— wanderung in Frankreich und Deutſchland zurückführen kann. Wir hätten ſomit in dieſer Bauart, die ſich, auf identiſcher Grundlage beruhend, nur im Süden mit entwickelter Form vorfindet, die Reſte einer allen Weſtariern gemeinſamen Befeſtigung, denn überall, wo Kelten, Germanen, Graeko— Italer eingewandert ſind, haben wir auch, an ihre Spur gebunden, dieſe cyklopiſchen Ringwälle, deren Mauern immer aus un— verbundenen Steinen oder Blöcken beſtehen. Das Gemeinſame iſt an allen die Lage auf iſolirten, durch die natura loci ge— ſchützten Bergkegeln oder Felſenmaſſen; dann der Zug der Linie im Kreiſe, endlich die Art des Baues und ſchließlich der Zweck, der einer aktiven Vertheidigung. Alle dieſe Ringwälle in Altgriechenland und Italien, in Deutſchland und Frankreich, in England und Oeſterreich zeichnet dieſelbe Charakteri— ſtik aus, und alle wahrnehmbaren und un— terſuchten Momente ſprechen dafür, ſie für die primitiven und gemeinſamen Schutz und Städtebauten der Weſtarier zu halten. Im Nordweſten find dieſe Ringwälle theil— weiſe gebrannt, die ſogenannten Schlacken— wälle, im Süden erſcheinen die Mauern Die uralte Cultur der Mittelmeerländer äußerte ihren Ein— fluß auch auf die Form der Ringmauern bei dem ſüdlichen Zweige der Arier. Auch die kimmeriſchen Mauern des Herodot in Kleinaſien ſcheinen hierher zu gehören.“) | Innerhalb folder Bauten der Vorzeit machte nun Schliemann zu Hiſſarlik und Tiryns ſeine Hauptentdeckungen, und auch zu Mykenä war es das Innere eines ſol— chen Raumes, welches den vielbeſchriebenen Reichthum an Gold- und Silbergefäßen, an Intaglivarbeiten und anderen faſt unzähli⸗ *) Ausland 1878 Nr. 7 S. 122. Kosmos, Band III. Heft 5. 58 . 456 gen Koſtbarkeiten ergab, deren Metallwerth allein auf ungefähr 100000 Reichsmark geſchätzt wird. Außer mehreren Fundſtellen innerhalb einiger in der unteren Stadt gelegenen Schatzhäuſer iſt weitaus der wichtigſte Fundort ſüdlich des Löwenthores gelegen. Dort findet ſich ein 30 Meter im Durch- meſſer haltender Kreis, der mit bedeckten Doppelplatten umgeben iſt. Dieſe Enceinte hielten Schliemann, Prof. Paley in London u. A. für die Agora, den Platz der Volksverſammlung der Mykener, in deren Mitte ſich die P, die Redner— bühne, ein großer Felſenblock, erhob. An— dere, wie Adler, halten dieſen Ring für eine Befeſtigung, eine ebenſo unnöthige als unmotivirte Annahme. Im Innern dieſes Umkreiſes, in welchem nach Pindar und Pauſanias hochangeſehene Perſonen be— graben zu werden pflegten, entdeckte Schlie— mann fünf regelmäßig in den Felſen ge— hauene Vertiefungen, die in einer Tiefe von 27 — 33 Fuß mit Koſtbarkeiten überladene Leichen bargen. Eine ſechſte Höhlung mit zwei Leichen grub daneben am Weſtende der Enceinte zuerſt Statamaki auf.“) Die Lage der Gräber an der impoſan— teſten Stelle der Akropolis, die Fund— umſtände der Leichen, die überreichen Bei— gaben beweiſen die hohe Stellung der hier begrabenen Perſonen und ihre Bedeutung für die zu ihren Füßen liegende Stadt. Schlie— mann zieht daraus und aus einer Stelle bei Pauſanias, dem Bädecker des 2. Jahrh. n. Chr., der ein Reiſehandbuch von Griechenland herausgab, den Schluß, daß er hier die Gräber gefunden habe, welche nach der Tradition des Alterthums dem Atreus, dem Agamemnon, ſeinem Wagen— X) Vergl. eine Nachricht der „Poſt“ vom Februar 1878. Literatur und Kritik. lenker Eurymedon, der Caſſandra und ihren Gefährten angehören. Aber damals, als Pauſanias jene Stelle beſuchte, welche die Alten mit Argion, Reſidenz der Pelo— piden, himmliſche Mauern benannten, wa— ren die Grabmonumente durch die Laſt der Jahrhunderte und durch zwei ſpätere Nie— derlaſſungen mit einer Schuttſchicht von 11 — 13 Fuß Dicke unſichtbar gemacht. Erſt der Energie Schliemann's gelang es, die Schuttdecke, welche ſeit 468 v. Chr. die Pelopidengräber der Sage deckte, wie— der zu lüften. Die kammerartigen, in den Fels ge— hauenen Gräber enthalten eine große An— zahl von Skeletten, die theilweiſe künſtlich petrificirt erſcheinen. Die meiſten ſind be— deckt im Geſicht von eigenartigen, goldenen Masken; ein ſicher der ganzen Hellenenzeit unbekannter Uſus bei Beerdigungen, doch hat ſich dieſe Sitte zum Schutze gegen die Sonne bei den Frauen auf den Inſeln des ägäiſchen Meeres erhalten. Ueber den Leichen ſelbſt erhob ſich bei der Beſtattung ein Scheiterhaufen, der jedoch nur zum Scheine angezündet geweſen zu ſein ſcheint, da ſich die Beigaben im Ganzen unver— ſehrt daneben finden. Was zuerſt das Material der Arte- fafte anbelangt, jo erſcheinen die gewöhn— lichen Metalle: Gold, Silber, Bronze, Kupfer in Anwendung; Gegenſtände aus Eiſen und Blei find apoeryph.“) Gold findet ſich erſtlich als einfaches Metall zu Gefäßen, Ornamenten, Ringen, Kopfbändern, Knöpfen, Haften und ande— ren Verzierungen verwandt und zwar mit ) S. 80 und 87, wo wenigſtens eiſerne Gegenſtände als beſtimmt ſpäterer Periode angehörig angegeben ſind, ebenſo ein großes Quantum Blei; der Mangel an Eiſen iſt ſehr bemerkenswerth. Literatur und Kritik. 89,35 pCt. Gold, 8,55 pCt. Silber nach Richard Smith's Unterſuchungen. Dann findet ſich häufig eine Miſchung von Gold und Silber, ähnlich dem ſoge— nannten Elektron, mit deutlicher Goldfarbe angewandt und zwar mit 73,11 pCt. Gold, 23,37 pCt. Silber, 2,22 pCt. Kupfer. Vorzugsweiſe zu Waffen verwandt treffen wir die Bronce an; aus ihr be— ſtehen lange Schwerter, Lanzen, Dolche. Die Unterſuchung eines Schwertes ergab: 86,36 pCt. Kupfer, 13,06 pCt. Zinn; die eines Vaſenhenkels: 89,69 pCt. Kupfer, 10,08 pCt. Zinn, d. h. die gewöhnliche Miſchung der alten Bronze. Die Streitäxte aus Bronze von Troja ergaben einen Zinnzuſatz von nur 4—9 pCt. Aus Kupfer beſtanden meiſt die Hausgeſchirre, wie Keſſel, Dreifuß ꝛc.; fie ent- halten: 98,47 pCt. Kupfer, 0,09 pCt. Zinn. Von Zinkzuſatz fanden Percy und Smith keine Spur. Daß die metallenen Artefakte zum Theil in loco gefertigt wurden, bezeugen mehrere aus Granit, Baſalt und Diorit beſtehende, macht des Südens, mit Aegypten, hindeuten. innerhalb der Akropolis ausgegrabene Guß— formen. Von Steinartefakten grub Schlie— mann neben den Gruben polirte Beile aus Serpentin von 6 Centimeter Länge und einer Form aus, wie ſie vielfach in wegt ſich ebenfalls in ziemlich reichen For— Mitteleuropa vorkommt. Außerdem meh— rere Pfeilſpitzen ohne Widerhaken aus Ob— ſidian, die an hölzernen Pfeilen befeſtigt Von Steininſtrumenten entdeckte waren. | | man auch hier die halbmondförmigen Mahl- ſteine zum Schroten des Getreides, und zwar von derſelben Form und demſelben Material, nämlich Trachyt, nur kleiner, Napoleonshüte genannten Mahlſteine vom Mittelrhein. “) i i 457 Die zahlreichſten Denkmale der Vor— zeit ſind von Mykenä in Thon erhalten. Es finden ſich ganz rohe Scherbenreſte ohne Anwendung der Drehſcheibe; dann hübſch gedrehte Vaſen und Krüge, Schüſſeln und Becher. Die Verzierungen beſtehen zum Theil in rohen Eindrücken, dann in man— nigfachen Bändern und Streifen, Mäan- dern, Spiralen, Netzen, Thiergeſtalten ꝛc., deren beſte Exemplare ſich den ſogenannten älteſten attiſchen Vaſen anſchließen. In dieſen Ornamenten liegen die werthvollſten Kriterien für den Urſprung und den Zu— ſammenhang dieſer Cultur. An Edelgeſtein ward zu Material verwandt: Achat, Alabaſter, Amethyſt, Bergkryſtall, Jaspis, Lapis ollaris, Onyx, Opal, und zwar in Form von Schmuck— gegenſtänden, Ringen, Amuletten, Gewich— ten ꝛc. Außerdem noch Bernſteinperlen. Von ſonſtigen Stoffen ſind noch Glas als Kugeln und Cylinder, ſowie Porzellan als Vaſe und Schleife erwähnenswerth, beſonders deshalb, weil beide Materialien auf einen Handelsverkehr mit der Land— Was die Technik und den Styl der Artefakte betrifft, ſo iſt erſtere im Ganzen eine ziemlich hohe. Man verſtand ſich auf Schmieden und Gießen, auf In— taglio- und Repouſſéarbeit. Der Styl be— men, was die Ornamentik anbelangt. Ver— treten unter deren Gattungen ſind beſonders Mäander und Spirale. Die ßplaſtiſchen Verzierungen ziehen vorzüglich das Thier— ) Vergl. des Verf. „Studien“, II. Thl. IV. Tafel; Lindenſchmit: Alterthümer g 5 - | rer idniſchen Vorzeit. II. Bd. VIII. wie die den Archäologen bekannten und ide 1 Heft. I. Tafel Nr. 16; Bericht über den Con- greß der Anthropologen zu Conſtanz: Schaaff- hauſen S. 139. RS 458 Literatur und Kritik. reich zu ihren Objekten an, und zwar er— ſcheinen Thiergeſtalten von den Inſekten und Mollusken bis zu den Vierfüßlern; beſonders zahlreich ſind die Geſtalten des Löwen, des Greifen, des Hirſches, der ge— flügelten Sphinx vertreten. Wir erhalten demnach durchaus nicht das Bild einer primitiven, unentwickelten Cultur für dieſen Zeitraum der Geſchichte, der hoch in das zweite Jahrtauſend v. Chr. hinaufreicht, ſondern einer in allen mög— lichen Stoffen und aller Art der plaſtiſchen und linearen Ornamentik kunſtgerechten Culturſtufe. Vei dem Mangel an Vergleichungs— material für dieſe Epoche ſind wir vor Allem auf den Prüfſtein der Keramik hingewieſen. Und gerade dieſe, und zwar Vaſen mit drei Henkeln und eigenthümlichen Linearornamenten, weiſen uns nach dem Oſten vom Peleponnes. Zu Jalyſos auf Rhodos fanden ſich in Grabkammern die— ſelben Vaſen und außerdem ähnliche Gold— artefaklte. Dazu macht Prof. Köhler zu Athen mit Recht darauf aufmerkſam, daß die vielen zu Ornamenten angewand— ten Seethiere: Polypen, Fiſche, dann Ruder (2), Meereswellen, auf den Einfluß eines die Seeküſten bewohnenden Volkes hinweiſen. Köhlers) betrachtet als dieſes Seevolk die Karer, welche nachweislich zwi— ſchen dem 12. und 10. Jahrhundert v. Chr. die Küſten von Hellas coloniſirten und unter dem ſagenberühmten Minos von Kreta ( Kareta?) eine Thallaſſokratie im Archipelagos ausübten, welche erſt das Erſtarken des joniſchen Stammes brach. Auf eine Coloniſationsverbindung mit dem Oſten zeigt auch eine Reihe von Ortsnamen. So haben Mykene und Troecene ihre Pendants, wie ſchon erwähnt, 7 Allgem. Ztg. 1878 Nr. 14 S. 198. in den kleinaſiatiſchen Städtenamen Arta— cana, Tharacana ꝛc. Die oſtgriechiſchen Ortsnamen Hymettos, Lykabettos ſchließen ſich an die öſtlichen Amamaſſos, Tamaſſos, Jalyſos, Pedaſos, Tetmeſſos, Halicarnaſſos, Mylaſſa, Sagalaſſos, Andraſos, ja ſelbſt Epheſus, Edeſſa, Emeſa an, denen nach Fligier „Beiträge zur Ethnographie Klein— aſiens“ als Grundwort die Endung äsos, ſanskr. aca (vergl. & %s — althd. fasti, altn. kastr — Feſte) zu ſubſtituiren iſt. Die Ausbreitung dieſer Ortsnamen in Lycien, Karien, Attika, auf den Inſeln Cypern, ſchodos, dann in Meſſenien ꝛc. beweiſt die Einwanderung eines ariſchen Stammes aus Kleinaſien und zwar von der Weſtküſte deſſel— ben nach dem gegenüberliegenden Griechen— land. Fligier in der erwähnten Schrift zählt dieſe Stämme zu den Thrako-Phry— giern. Ihnen ſchreibt er die vielen mäch— tigen Grabhügel an der Weſtküſte von Kleinaſien zu, die ſogenannten Gräber des Tantalos, Alyattos, Gyges, Midas u. A. Sie lieferten den Grundſtock zu den Pe— lasgern, und einzelne griechiſche Sagen be— zeugten deutlich auch ihre Einwanderung aus dem Oſten. Bei den Thrako-Phry— giern und den damit geographiſch zuſam— menhängenden, dem Peloponnes gegenüber- gelagerten Lyciern, Karern, Lydern war die Hauptgöttin das Gorgobild des thra— kiſchen Dionyſos, die Göttermutter Ma— Kybele-Demeter. Dieſe Göttermutter De— meter erſcheint in ſpäterer Geſtalt als Hera.*) Da nun in unmittelbarer Nähe von Mykenä das hochheilige Heraion, der Tempel der Hera, lag, ſo wird es keine Schwie— rigkeiten haben, die vielen Idole von Kuh— köpfen, Frauen ꝛc. mit dem Culte der E. Curtius: Die griechiſche Götter- lehre vom hiſtoriſchen Standpunkt: Preuß. Jahrbücher 1875 S. 1— 15. De) VV Literatur und Kritik. Hoc Powrcıs in Verbindung zu ſetzen, zu⸗ mal da ſich ganz ähnliche „Opferfiguren“ am Heraion zu Olympia in der unterſten Fundſchicht aufgefunden haben.“) Wir hätten hiermit beſtimmte Kriterien dafür, daß der orgiaſtiſche Cult der phry— giſchen Göttermutter von Kleinaſiens Höhen durch Einwanderer nach der Oſtküſte des Peloponnes übertragen wurde. Für eine ſolche Coloniſation aus dem Oſten ſprechen auch noch manche andere Indicien, fo, wie ſchon erwähnt, die Mas— ken, die ſich noch heute auf den Inſeln zwiſchen Hellas und Karien finden. Ohne Zweifel zeigt auch die ganze Kunſt und Styliſirung der Artefakte viel mehr An— klang an kleinaſiatiſch-ſemitiſche Typen, als an die Culturprodukte Aegyptens, an die nur Weniges, wie ein Straußenei und Porzellan, erinnert. Zudem beweiſt die wenn auch ſpätere Sage von der Einwanderung der Pelo— piden aus Kleinaſien, daß man auch ſpäter ſich des hiſtoriſchen Zuſammenhanges mit Karien noch bewußt war, wenn auch Homer von des Pelops Abſtammung von Tantalos nichts weiß.“ “) Ein Hauptmotiv aber für eine Ein— wanderung aus dem kariſchen Kleinaſien muß die geographiſche Lage des Peloponnes ſein. Unmittelbar gegenüber von ihm dehnt ſich vom Vorgebirge Mykale bis zu dem von Artemiſion das Land der Karer aus, die zur prähiſtoriſchen Zeit und vor der joniſch— doriſchen Einwanderung ſicher im Beſitz der Küſten von Epheſos, Milet, Halikar— naſſos waren. Die Inſeln Rhodos, Sa— mos, Naxos, Paros, Melos, Cythnos (auf dieſer noch die Masken gebräuchlich) bilden XXI. Ausgrabungsbericht von Olym— pia vom 21. Febr. 1878 im „Reichsanzeiger“. *) Odyſſee XI. 581; Ilias II. 104. 459 außerdem die natürliche Brücke von Klein— aſien zu dem nach Oſten geöffneten Strande von Tiryns und Argos. Nichts natürlicher, als die Niederlaſſung der meerbeherrſchenden Karer an den frucht— baren Küſten der Argolis. Dieſen Schluß aus der Topographie beſtätigen auch die Nachrichten der Autoren. Nach Thucydides J. 4 und 8 be— wohnten die Karer die meiſten Inſeln des ägäiſchen Meeres, und zwar nennt ſie dieſer gewiſſenhafte Autor in Gemeinſchaft mit den Phöniciern als Inſelbewohner und Seeräuber. Den eclatanteſten Beweis für die kariſch-phöniciſche Abkunft der Leichen, die in der Agora zu Mykenä beerdigt ſind, giebt die Stelle des Thucydides J. 8. Hier ſpricht er davon, daß man nach der Einnahme von Delos durch die Athener die Gräber der Karer an der Mitgabe der Waffen und der Art des Begräb— niſſes, die fie jetzt noch haben, erkannt habe. Die Mitgabe der Waffen bildete alſo einen Unterſchied vom griechiſchen Be— gräbniß, und ebenſo die Art der Humation. Nun wiſſen wir aus Homer, daß die Todten der heroiſchen Periode verbrannt und in Grabhügeln die Aſche ohne Waffen— beigabe beigeſetzt wurde. Dies leitet zum Schluſſe, daß die Karer nach ſemitiſcher Art ihre Todten in Kammern beerdigten unter Beigabe der Waffen ꝛc. Vergleichen wir damit die Humation von Mykenä, ſo finden wir ziemliche Uebereinſtimmung: in den Boden eingehauene Grabkammern, Beerdigung (nicht Verbrennung; der Schei— terhaufen war nur nominell, denn Leichen und Beigaben ſind erhalten); Mitgabe von Waffen, Schmuck. Und in Karien und Lycien ſelbſt fin— den wir gleichfalls den Gebrauch, die Todten in mächtigen Kammern zu beſtatten, welche 460 wie bei der Necropole von Myra den An— blick einer gewaltigen Todtenſtadt bieten und die deshalb Reber „Blockhausgräber“ nennt. Doch wie ſich dort in Lycien in der tempelartigen Façadenbildung ꝛc. helleniſcher Einfluß geltend macht, ſo auch in der Argolis in den Gräbern von Mykenä. Wir ſehen hier auf den mit Reichthümern überladenen Leichen einen Scheiterhaufen gethürmt, deſſen Gluth den Einfluß helleniſcher Cultusſitte andeutet. Die Gräber zu Mykenä deuten alſo auf eine kariſch-phöniciſche Grundlage, verbunden mit helleniſcher Einwirkung. Wenn deshalb Reber mit Recht die Südküſte Kleinaſiens als eine bedeutſame Mittelſtation der Culturſchiebung von Me— ſopotamien (Aſſyrien) an das ägäiſche Meer bezeichnet hat, ſo bezeugen uns die Funde von Mykenä das Ende, die Reſultante dieſer Culturbewegung. Als den offenſiven Faktor hierbei betrachten wir ein kariſch-ſemitiſches Element, das von Cypern, Rhodos, Karien, Lycien, ſowie der Brücke der Cycladen aus nach dem Feſtlande von Griechenland ſich bewegte. Anſiedelungen zu Tiryns, Mykenä, Spata bei Athen ſind die Produkte dieſer Coloni— ſationsthätigkeit. Dieſe brachten das Gold Kleinaſiens (vergl. die Sage von Midas), ſowie die Bronce der Phönicier mit in ihre Colonien, dann eine hoch entwickelte Technik in der Metallurgie und der Keramik. Der Styl ſchließt ſich an aſſyriſche Leiſtungen an; der Höhepunkt ägyptiſcher Macht mag ſchon vorüber geweſen fein, und die Cheta Ramſes' II. mögen im Oſten an der ſyriſchen Küſte den Einfluß Aegyptens pa ralyſirt und abgewehrt haben. Die geringe Anpaſſung an ägyptiſche Verhältniſſe, ſowie der vorherrſchende Ein— fluß der Karer giebt uns zugleich einen Literatur und Kritik. | Limitationspunkt für die Mykenäiſche Pe— riode. Dieſelbe muß demnach in die Zeit nach dem Höhepunkt ägyptiſcher Macht unter Ramſes II., d. h. nach dem Jahre 1300 v. Chr. fallen.“) Nicht zu leugnen iſt, daß ſich aller— dings auch Reſte beſonders in der Keramik erhalten haben, welche anzuknüpfen ſind an die Erſcheinungen der Ornamentik auf den ſogenannten attiſchen Vaſen, deren Charakteriſtikum in geometriſchen Zeich— nungen beſteht. Dieſe Elemente anderer Styliſtik dürfte man geneigt ſein, einer andersartigen Be— völkerung zuzuſchreiben, der thrafo-phrygi- ſchen, die vom Norden und Nordweſten aus Griechenland bevölkerte, und welche den Grundſtock zu den Pelasgern gebildet hat. Aus ihr beſtand das defenſive oder paſſive Element, die rohe und unterdrückte ariſche Urbevölkerung, zu der ſich die Karer und Phönicier als Eroberer und Eindringlinge verhielten. Aber darin, in dieſer cultu— rellen Kreuzung zwiſchen Ariern und Semiten, liegt zugleich die Bedeutung der beiden Raſſenelemente und damit indirekt der Werth der Entdeckungen Schliemann's. Daß die griechiſche Cultur autochthonen Urſprunges und gleichſam durch „Partheno— geneſis“ entſtanden ſei, daß die Kunſt eines Praxiteles und Apelles, eines Polygnot und Parhaſios rein helleniſchen Urſprungs ſei, galt lange Zeit für ein Dogma der Unfehlbarkeit klaſſiſcher Philologen auf deutſchem Boden. Sie ſelbſt ſcheinen da— durch olympiſchen Urſprungs und kaſtaliſcher Quelle näher gerückt zu werden. Dieſer Grundanſchauung, die aller hiſtoriſch nach— weisbaren Culturentwickelung ins Geſicht ) W. E. Gladſtone Homer S. 175 — 222 und Lenormant, Anfänge der Cultur l. Bd. a. m. O. Literatur und Kritik. ſchlägt, huldigt in neuerer Zeit insbeſondere Ernſt Curtius und ſeine Schule.“) Allein ſo gut die Hügelgräbermenſchen Mitteleuropas ohne den Cultureinfluß von Maſſilia und Etrurien bei ihren ſchlecht— gebrannten Gefäßen, ihren rohen Stein— artefakten, ihren ſimpeln Gottesvorſtellungen geblieben wären, ſo gut die Sabiner und Oscer der italiſchen Halbinſel bei ihren primitiven ſtaatlichen und ſocialen Einricht— ungen, bei ihrer kunſtloſen Keramik und autochthonen Metallurgie verharrt hätten ohne Einwirkung etruriſch-griechiſcher Cultur— elemente, ſo gut wären auch die Weſtarier in Griechenland, die erſten Ankömmlinge von Nordoſten, bei der simplieitas rudis ſtehen geblieben, bei den eyklopiſchen Mauern und dem Höhendienſte des „Vater Zeus“, bei den Mahlſteinen aus Trachyt und den Pfeilſpitzen aus Obſidian, bei den Umhängern der eingehandelten Glas- und Bernſtein— perlen ꝛc., wenn nicht die intenſive und offenſive Berührung mit einem höher ung, die den Menſchen zum Menſchen ge— ſellt, producirt hätte. Vortrefflich hat dieſen durch Culturkreuzung erfolgten Proceß des Dichters Phantaſie dargeſtellt in der Paramythie: „Das eleuſiſche Feſt.“ Und ein Kreuzungsprodukt nicht der ſchlechteſten Art repräſentirt ſich uns in der Periode, an der Schliemann durch ſeine archäologiſche Operation den Kaiſer— ſchnitt vornahm. Nicht einem Wunder gleich, wie ein Phönix aus mythiſcher Selbſterzeugung, erhebt ſich künftig die griechiſche Cultur vor unſeren Augen. Nein, naturge— ) E. Curtius: Jonien S. 21 und Grie- chiſche Geſchichte 3. Aufl. J. Bd. S. 33—57 und Fligier's Kritik dazu in: Prähiſtoriſche Ethnologie der Balkanhalbinſel S. 51—59, 461 mäß durch allmälige Zeugung, durch Mitwirkung verſchiedener cultureller Faktoren, durch Kampf und Zuchtwahl unter kariſchem und ſemitiſchem Geſchlecht, unter Thrako-Phrygiern (Pelasgern) und Achäern, Dorern, Joniern (Griechen) entſtand das helleniſche Volk und die griechiſche Cultur. In dem Spruche: Graecia capta ferum vietorem cepit ſteckt eine tiefe cultur— geſchichtliche Wahrheit, und einen muſter— gültigen Beweis dafür von rückwärts wir- kender Kraft durch Energie und Ausdauer beigebracht zu haben, wird das feſtſtehende Verdienſt Schliemann's und feiner Ent- deckungen ſein. In dieſem Sinne: eingewurzelten Bor- urtheilen eine ſchwere Wunde beigefügt, den Blick auf culturelle Vorgänge in prähiſto— riſcher Zeit gelenkt zu haben, welche ohne dieſe peracti labores ſtets der Zielpunkt | phantaſtiſcher Träumereien und hohler Hirn— ſtehenden Culturvolke Keime höherer Bild- für erhalten zu haben, daß keine Entwidel- geſpinnſte geweſen wären, einen Beweis da— ung unanalog, disparat, phänome— nal — kurz unorganiſch vor ſich gehe, muß die Culturgeſchichte, die frei von aller Bor- eingenommenheit Höhen und Tiefen, Aufang und Ende, Völker und Fürſten mißt und beurtheilt, Schliemann's Entdeckungen als einen ſtrikten Beweis für die Geſetz— mäßigkeit ihrer Evolution begrüßen. Mögen andere Ausgrabungen, die hoch— trabend und auf Staatskoſten unternommen, ein leichtes Spiel mit der Regiſtrirung ihrer Schätze — und dem plaudite amiei haben, die Höheepochen der helleniſchen Kunſt im— merhin mit einzelnen neuen Bildern und Schauſtücken illuſtriren, mögen ſolche der Kunſt vortreffliche Dienſte leiſten — man muß vom rein wiſſenſchaftlichen Stand— — U— ä ——ů —ů 462 punkte aus billig bezweifeln, daß deren Werth ein ſo hoher ſei, als die Lärm— trompete intonirt. Immerhin aber werden die „barbariſchen“ Funde von Mykenä und Hiſſarlik, Tiryns und Spata ein neues, energiſches Licht auf dunkle Epochen der Culturgeneſis werfen, das zwar nicht ſo viel Schimmer und Jubel erweckt, aber nichts deſto weniger in der Cultur— geſchichte der Menſchheit keinen niederen Platz einnimmt, als Hunderte marmorner Nixen und Flußgötter. Dr. C. Mehlis. Die nordiſche Bronzezeit und deren Perioden-Theilung von Sophus Müller. Autoriſirte Aus— gabe für Deutſchland. Aus dem Däni— ſchen von J. Meſtorf. Mit 47 in den Text eindruckten Holzſchnitten. Jena. Hermann Coſtenoble 1878. Wenn wir uns der Heftigkeit erinnern, mit welcher die Herren Hoſtmann, Linden— ſchmit u. A. der „Bronzezeit“ in den letz— ten Jahren zu Leibe gegangen ſind, um ſie für ein blaſſes Hirngeſpinſt der Archäologen zu erklären, ſo müſſen wir in ein gewiſſes Erſtaunen gerathen, wenn wir in dieſem Buche der vermeintlich abgethanen Bronze— zeit wieder begegnen, unbefangen, ohne eine Silbe der Entſchuldigung oder Rechtfertig— ung ihrer Exiſtenz. Vielleicht aber hat Herr Sophus Müller Recht gethan, jene Ein— würfe vollkommen zu ignoriren, denn wenn man ihre Gründe genauer betrachtet, ſo ſind ſie ſehr fadenſcheinig und können einer ge— rechten Beurtheilung durchaus nicht Stand halten. Weder in der alten, noch in der neuen Welt, weder in Griechenland, noch in Skandinavien, noch irgendwo ſonſt ſoll eine Bronzezeit exiſtirt haben, weil erſtens, ſoweit Literatur und Kritik. wir zurückforſchen in der Metallzeit, auch das Eiſen bereits bekannt geweſen, und weil zwei— tens Schmiedeeiſen viel leichter herzuſtellen wäre, als Bronzeguß. So ſagt uns wenig— ſtens der Metallurge Percy, und die an— dern Pereys, die mit ebenſo leichtem Herzen wohlbegründete Errungenſchaften aufgeben, als neue Hypotheſen annehmen, ſprechen ſchleunigſt ihr Amen darüber. In der That giebt es in der Jetztzeit kaum ein Volk, welches das Eiſen nicht kennt; ſelbſt in halber Steinzeit lebende Völker hat man im Beſitze einzelner Eiſenwaffen und Werkzeuge ge— funden, die ſie ſich aus Meteoreiſen gefertigt hatten. Daß die alten Aegypter das Eiſen zuerſt als Meteoreiſen kennen gelernt haben, beweiſt der Name, den ſie dieſem Metalle beilegten, nämlich ba en pe d. h. vom, Himmel gefallener Stoff, welches ſich im koptiſchen benipe (Eiſen) erhalten hat. Die griechiſche Benennung des Eiſens oidnoos iſt offenbar, wie Pott nachgewieſen hat, eng mit dem lateiniſchen sidus, sideris, Geſtirn, verwandt, es bezeichnet ſomit auch dieſer Name ein Metall, dem man urſprünglich einen ſideriſchen Urſprung zuſchrieb. Ver— gleicht man damit die Mythen der Finnen und anderer Völker von dem eiſernen auf einem Amboß getriebenen Himmelsgewölbe, von welchem ſich zuweilen Stücke ablöſen und niederfallen, ſo begreift man, daß das Meteoreiſen ein den Naturvölkern wohlbe— kannter Stoff geweſen ſein muß, und daß Eiſenwaffen, die man in Bronzegräbern findet, auch bei Völkern vorkommen können, die ohne jede Kenntniß von der Gewinnung des Eiſens waren. In Ländern, wo ſich leicht reducir— bare Eiſenerze in genügender Menge finden, wird man, wenn einmal der Gewinnungs— prozeß erkannt iſt, ſicher nach keinem andern Material für Waffen- und Werkzeugs-Fabri⸗ kation ſuchen, und die Hoſtmann'ſche An— Literatur und Kritik. ſicht, daß man trotzdem die Gewinnung des Eiſen's überall früher erkannt haben müſſe und demgemäß erkannt habe, als die des Bronzeguſſes, ſcheint mir einfach ver— nunftwidrig. Einmal im Beſitze des Eiſens verfertigt man keine Bronzewaffen und noch weniger kupferne Schneidewerkzeuge, wie man an ſehr alten griechiſchen Fundſtellen (auf Santorin) und in Ungarn angetroffen hat, und dem entſprechend verdrängte das Eiſen die frühere Bronze überall, wo es eingeführt wurde. Mit dieſer einfach dem geſunden Menſchenverſtande entſprechenden Auffaſſung ſteht denn auch die Archäologie im ſchönſten Einklange und zwar ebenſowohl die hiſtoriſche als die prähiſtoriſche. Man kann ſich leicht überführen, daß in den älteſten Schriftwerken, wie in der Bibel oder in den homeriſchen Gedichten, die Bronze eine ganz andere Rolle ſpielte als das Eiſen, und daß von Rechts— wegen ſogar das klaſſiſche Alterthum noch zur Bronzezeit gerechnet werden müßte, während die Blütheperiode der Eiſenzeit erſt in's neun— zehnte Jahrhundert fällt. Den alten Forſchern, welche der Einführung des Eiſens noch näher ſtanden, war dies auch eine zweifelloſe That— ſache, und Lukrez wird im Großen und Ganzen Recht behalten mit ſeinen Worten: „Aber des Erzes Gebrauch ward früher er— kannt als des Eiſens.“ Auch halten wir es für vollkommen gerechtfertigt, eine Periode, in welcher vielleicht 99 Prozent aller me— tallenen Gebrauchsgegenſtände aus Bronze und 1 Prozent aus Eiſen gefertigt wurden, „Bronzezeit“ und nicht Eiſen- oder Metallzeit zu nennen; von dem erſten Bekanntwerden des Eiſens oder von einzelnen Stücken deſſelben, die aus den Wolken gefallen ſein können, nun gleich eine Eiſenzeit zu datiren, das iſt einfach abgeſchmackt. Außerdem muß die ſehr verführeriſch klingende Bemerkung beſtritten werden, daß 463 Bronze ſchwerer zu gewinnen ſei, als Schmiede— eiſen. Die Gegner gehen davon aus, daß man zur Gewinnung der Bronze erſt Kupfer und Zinn rein dargeſtellt haben müſſe; dies iſt vollkommen unrichtig. Urſprünglich hat man jedenfalls einfach die Roherze des Kupfers, Zinn's und anderer Metalle ge— miſcht und ein unreines Erz hervorgebracht. Der franzöſiſche Chemiker E. J. Mau- mene hat vor Jahren verſchiedene Proben alter Bronzebilder, die bei der letzten Re— volution in Japan zerſtört wurden, unter- ſucht, und durch Vergleichung ihrer Zus ſammenſetzung mit den älteſten griechiſchen und etruskiſchen Bronzegüſſen die ſchon früher ausgeſprochene Vermuthung beſtätigt, daß alle dieſe älteſten Güſſe nicht wie die ſpäteren aus den annähernd reinen Metallen und in einem gleichmäßigeren Verhältniß (meiſt 10 Th. Kupfer auf 1 Th. Zinn) ſondern aus Roherzen unmittelbar gewonnen worden ſind, weshalb ſie viele fremde Metalle als Ber- unreinigung enthielten. Ebenſo haben die kürzlich auf Virchow's Veranlaſſung von E. Salkowsky analyſirten Bronzeproben die von ſehr verſchiedenen Fundorten in Brandenburg und Poſen herrührten, zwar eine große Mannigfaltigkeit in der Zu— ſammenſetzung ergeben, aber keine derſelben zeigte die Zuſammenſetzung der römiſchen oder ſpäterer Bronzen“). Die Entziffer- ungen der Ziegelſteintafeln von Ninive machen es höchſt wahrſcheinlich, daß wir in den Turaniern die Entdecker des Bronzeguſſes zu ſuchen haben. Wie dieſe zweitauſend Jahre vor unſre Zeitrechnung zurückweiſen— den Keilſchriften beweiſen, beſaßen die tura— niſchen Stämme, welche lange vor den Semiten Babylon koloniſirt hatten, eine Art Berg— manns⸗Religion, fie richteten Hymnen an die Schätze ſpendende Herrin der Unterwelt, ) Allgem. Chemikerzeitung 1877. S. 366. Kosmos, Band III. Heft 5. 59 464 fie verehrten einen beſonderen Kupfergott und prieſen den Feuergott als denjenigen, der „Kupfer und Zinn miſcht“, die Metalle reinigt; ſie nennen auch den Feuergott einen Gott des Kupfers und preiſen ihn als den, der den Segen der Himmliſchen auf die Gläubigen herniederträufeln läßt, wie „ge— ſchmolzenes Erz“. Von dieſem Volke be— kamen die umwohnenden Stämme und wahr— ſcheinlich auch die Arier die Kenntniß von Kupfer und Bronze. Es iſt ſehr wahr— ſcheinlich, daß das Sanskrit-Wort ayas nicht, wie man öfter angiebt, Eiſen, ſondern viel— mehr Bronze bedeutet hat, wie ihm denn zunächſt die Formen aes, aeris, Erz, ent- | eines Schwertes und anderer Waffen findet.) alle Metalle mit dieſem Namen bezeichnet | worden find, fo daß das Wort, wie noch heute ſprechen, wenn nicht am Ende urſprünglich Erz, Metall u. ſ. w., Gattungs- und nicht Artwort war. Aehnlicher Weiſe iſt erſt aus dem turaniſchen Worte für Kupfer (urud) der Name des Eiſens (ruta, rude, rauta) bei den Finnen, Lappen und Letten entſtanden. Während die ſporadiſche, und ſozuſagen un— vermeidliche Kenntniß des Eiſens einen merklichen Einfluß auf die Cultur nicht eher ausgeübt hat, als bis man daſſelbe in größerem Maßſtabe gewinnen lernte, brachte die Bronze eine wirkliche Bronze kultur mit ſich, ſie wurde im beſten Sinne des Wortes epochemachend, und daher ſpricht man meines Erachtens mit Recht von einer Bronzezeit und Bronzekultur. Die etwa vorhandene Kenntniß des Eiſens hat ebenſo wenig als die des Goldes und Sil— bers in Europa oder in Aſien und Amerika die Zeit der ſteinernen Werkzeuge beendet; dieſer Ruhm gebührt der Bronze und darum kann es nichts Verkehrteres geben als die plötzlich epidemiſch aufgetretene Negirung der Bronzezeit. Nachdem wir ſo die Berechtigung einer Literatur und Kritik. fältige Sichtung der Bronzefunde nach Ort, Zeit und Gelegenheit an dieſer Arbeit hervor— ſich nicht um vereinzelte Sachen oder ver— vollkommnen Ignorirung jener Angriffe durch den Verfaſſer und ſeine Ueberſetzerin nachgewieſen zu haben glauben, müſſen wir uns heute freilich darauf beſchränken, die ſorg— zuheben. Der Verfaſſer unterſcheidet eine öſtliche und eine weſtliche Gruppe, ſucht ihr Zeitverhältniß zu beſtimmen, erörtert den Wechſel der Beſtattungsarten, lehrt Männer— und Frauengräber unterſcheiden. (Er führt für letztere neben den reicheren Schmuckſachen einen kleinen Dolch als charakteriſtiſch an, ſofern ein ſolcher ſich zwar auch in Männer— gräbern, aber dann meiſtens in Begleitung Zu beſonders intereſſanten Bemerkungen geben die im ſechſten Abſchnitt behandelten Moor— und Erdfunde Anlaß, welche, wenn es lorene Stücke handelt, meiſtens die geſammte Ausſtattung einer Perſon an Waffen, Werk— zeug, Geräth und Schmuck umfaßt, die in einer ſorgfältigen Umhüllung verſenkt oder vergraben worden ſind. Man hat dieſe Funde zuweilen Gußfunde genannt, weil die meiſten derſelben eine kleine Sammlung von Gußzapfen, Bruchſtücke verſchiedener Gegenſtände und einige untaugliche Geräthe enthalten, als ob Alles zum Einſchmelzen beſtimmt geweſen wäre oder aus dem Nachlaß eines Gießers ſtamme. Sophus Müller glaubt, daß dieſe Sammlung von Bruch— ſtücken oder untauglichen Gegenſtänden viel— leicht eher als Metallwerth, d. i. als Zahlungsmittel betrachtet werden dürfe, denen in dieſer Sammlung von Putzgegen— ſtänden, Waffen und Geräthen ein beſonderer Platz eingeräumt wurde. Ref. vermuthet, daß dieſe Abfall-Sammlungen eher auf eine allgemeine Gewohnheit deuten möchten, die Metallbrocken als Werthſtücke ſorgfältig auf- | Literatur und Kritik. zuheben, um ſie den herumreiſenden Bronze— gießern als Material in den Handel zu geben. Ja die Gußzapfen ſcheinen ſogar darauf hinzudeuten, daß man vielleicht dem Gießer ein gewogenes Material zur Um— formung übergab und ſich jeglichen Ueberſchuß, alſo auch die Gußzapfen, zurückgeben ließ. Dieſe Deutung der Bruchſtücke als Werth— ſtücke erhält einen höhern Grad von Wahr— ſcheinlichkeit, wenn die Motive der Bergung dieſer Metallſchätze in Erwägung gezogen werden. Es iſt nämlich von Worſaae und Anderen geltend gemacht worden, daß auch gleich den größeren Garnituren kleinere Zuſammenſtellungen von ſeltenen und koſt— baren Gegenſtänden oftmals als Opfergabe für die Götter zu deuten ſeien, die man den ihnen geheiligten Seen und Flüſſen, Wäldern und Opferſteinen anvertraute. „Da indeſſen dieſe Funde“, fährt der Verfaſſer fort, „von Menſchen benutzte und getragene Geräthe und Schmuckſachen enthalten, die perſönliche Ausſtattung gleichſam, Sammlungen von Gegenſtänden, wozu die Grabfunde Parallelen darbieten, ſo ſcheint eine etwas abweichende Auffaſſung näher zu liegen. Es herrſchte möglicherweiſe in damaliger Zeit die Vor⸗ ſtellung, daß nicht nur, was dem Todten in's Grab gelegt wurde, ſondern auch das— jenige, was man in der Erde verbarg, in dem Erdboden vergrub, dem Menſchen in jenem Leben zum Nutzen und Genuß ge— reichen würde.“ Engelhardt hat bereits 1868 eine ähnliche Vermuthung ausgeſprochen und im 8. Capitel der Ynglingaſage wird dieſer Gebrauch angedeutet. Darauf deutet auch die Art der Bergung. „Die Gegenſtände liegen nämlich bei einander und gewöhnlich in geringer Tiefe unter der Oberfläche des Moores. Die Gefäße ſtehen aufrecht im Torf, und die übrigen Sachen liegen geordnet daneben. Bisweilen ſind auch umgebende —— DE —kk ſ—¶—— 465 Steine beobachtet worden. Daß, wie oft conſtatirt, ein Moor oder Sumpf zum Verſteck gewählt worden, mag ſeinen Grund darin haben, daß der Ort ſchwer zugänglich und jedenfalls vor Störung ſicher war. Derſelbe Gedanke dürfte bei der Niederlage von Werthſachen unter einem größern Steine maßgebend geweſen ſein. Man darf hiernach vielleicht annehmen, daß dieſe von kleinen Häufchen Metall begleiteten Sammlungen von Schmuck, Geräth, Waffen u. ſ. w. — zum Gebrauch in jenem Leben — von der Perſon, der ſie zu Gute kommen ſollten, ſelbſt verſenkt worden ſeien. Dieſe Erklärung kann ſelbſtverſtändlich nicht auf alle Moor— und Erdfunde angewendet werden. Einiges kann zufällig verloren, Anderes den Er— ſcheinungen in hiſtoriſcher Zeit analog als Kriegsbeute verſteckt worden ſein.“ Letzterer Erklärung könnte der Umſtand günſtig er— ſcheinen, welcher in dem ganzen nordeuropäiſchen Bronzezeitalter hervortritt, daß nämlich die fremden, nicht im Inlande angefertigten Objekte am häufigſten in Mooren und Ge— wäſſern oder unter einem Steine niedergelegt ſind und verhältnißmäßig ſelten in Gräbern gefunden werden. Doch läßt ſich auch dies im Sinne des Verfaſſers dahin deuten, daß eben „die beſten und koſtbarſten Stücke für das künftige Leben geſpart wurden, und da werden die ſeltneren und zugleich beſſeren importirten Sachen den inländiſchen oftmals vorgezogen worden ſein.“ Man erſieht, wie anziehend der Verf. der— artige Fragen zu behandeln weiß und wir können dem ganzen Werke die ſorgfältigſte Prüfung und Sichtung der Funde nachrühmen. Wir erhalten den Eindruck, daß den Anſichten des Verfaſſers in allen hier behandelten Fragen ein bedeutendes Gewicht beigelegt werden muß. Ueberſetzung und Ausſtattung ſind vortrefflich. R 5 Offene Briefe und Antworten. Frankfurt a M., Juli 11/78. Hochgeehrter Herr! n dem letzten Hefte des „Kosmos“ befindet ſich eine Notiz über die Ab— nahme des Bienenfleißes in Auſtra— lien. Das Mißtrauen, mit welchem die Redaktion dieſe Zeitungsnotiz mittheilt, iſt vollſtändig berechtigt. 1) Die einheimiſche Biene ſammelt ſo lange draußen etwas zu finden und Raum für die Honigablagerung vorhanden iſt. Dieſe Eigenthümlichkeit bewahrt ſie in allen bisher bekannten Gegenden mit länger anhaltender Tracht, welchen verän— derten Lebensbedingungen ſie ſich ſofort an— paßt. So z. B. ſchränkte unſere deutſche Biene, nach Braſilien verſetzt, ihren Brut— anſatz zur gewohnten Zeit nicht ein, tödtete die Drohnen nicht, ſondern gründete neue Colonien weiter. Geſetzt wir hätten einen nicht normalen Sommer, feuchten Juli und Auguſt mit reicher Tracht, ſo würden die Bienen mit dem Einſammeln fortfahren, die Königin zur Eierablage reizen, Schwärme erfolgen u. ſ. w. 2) Die Biene ſammelt überhaupt nicht aus Inſtinkt, ererbter Gewohnheit, für den Winter, denn ſie hält gar keine eigentliche Winterruhe. Iſt das Wetter warm, ſo fliegt ſie mitten im Winter aus, ſetzt Brut an, verfährt, als ob es Frühling wäre. In ein milderes Klima gebracht, beginnt fie dieſem Klima gemäß mit dem Brut- nn an — anſatz; und dies ſofort, nicht erſt nach Generationen durch Anpaſſung. Die Biene hält bei uns „Winterruhe“, weil ſie nur bei ca. 10% R. ausfliegen kann. Im folder Ruhe treffen wie ſie zeitweilig im März, April, ja mitunter noch im Mai. 3) Die Biene ſammelt, ſo lange Platz vorhanden iſt. Die Brut wird immer mehr eingeſchränkt, das Volk nimmt ab, wird träge, unaufmerkſam, und der Bau eine Beute der Wachsmotte. Für den Fort— beſtand der Gattung hat der Mutterſtock durch Ausſendung von Colonien geſorgt. 4) Träge werden die Bienen, wenn die Hitze ſie beläſtigt, was bei ſehr hoher Temperatur allerdings der Fall zu ſein ſcheint. Im Uebrigen lebt die deutſche Biene in Braſilien nicht von der Hand in den Mund; ſie ſchleppt in Deutſchland ſo viel Honig zuſammen, daß in beſonders honigreichen Jahren die Exiſtenz des Stockes dabei auf dem Spiele ſteht, falls der Bienen— vater nicht Raum ſchafft. So lange alſo der auſtraliſche Bienenvater für neue Wohn— ungen ſorgt, wird auch er bei günſtiger Tracht neue Colonien (Schwärme) bekom— men. Und ſo lange er für geräumige Wohnungen ſorgt, reſp. durch Entnahme von Honig Platz ſchafft, werden die Bienen im Einſammeln von Honig nicht erlahmen. Genehmigen Sie die Verſicherung meiner vorzüglichen Hochachtung. Dr. Otto Buſch. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. ind, in der That, Deſcen— denzlehre und Darwinis— mus unvereinbar mit aller ze Teleologie, oder giebt es nicht vielmehr eine Zielſtrebigkeit, welche aus der Teleologie den Widerſpruch entfernt, in den ſie, als Zweckmäßigkeitstheorie aufgefaßt, mit den modernen Entwickelungs— grundſätzen geräth? Bald mit dieſen, bald mit andern Worten, aber faſt immer gleich falſch geſtellt, drängt in neueſter Zeit ſich dieſe Frage in ganz charakteriſtiſcher Weiſe in den Vordergrund. Es iſt ein alter Kunſtgriff, ſchon den grie— chiſchen Sophiſten bekannt, durch die Art der Frageſtellung nicht nur einen Gegen— ſtand zu verwirren, ſondern auch einer er— wünſchten Antwort die Wege zu ebnen. Meiſtentheils geſchieht es unabſichtlich; liegt aber auch der Grund davon in einer zur Gewohnheit gewordenen Ungenauigkeit im Wählen der Ausdrücke, was in vielen Fällen auf Eigenthümlichkeiten des Gehirns zurück— zuführen fein mag: der Erfolg bleibt alle- mal derſelbe. Und die Sache iſt darum von Bedeutung, weil es oft gar nicht leicht Kosmos, Band III. Heft 6. Ziel und Jweck. Von B. Carneri. iſt, die logischen Gebrechen einer Frageſtellung auf den erſten Blick aufzudecken, und weil dies, je vertrauter man mit ihr im weiteren Verlauf einer Abhandlung geworden iſt, ſchwieriger und ſchwieriger wird. Ich glaube wenigſtens, in obiger Frage ein paſſendes Beiſpiel deſſen, was mir vorſchwebt, gegeben und gezeigt zu haben, daß die Mängel im Ver— hältniß zu deren Größe nicht auffallend ſind. Die Frage iſt grundfalſch geſtellt, weil ſie einen Widerſpruch herbeiführt, wo er nicht iſt, und verſchiedenartige Begriffe als gänzlich übereinſtimmend, identiſche dagegen als nicht identiſch behandelt. Deſcendenzlehre und Darwi— nismus ſind nichts weniger als unvereinbar mit einer teleologiſchen Weltanſchau— ung. Sie können ganz gut den Plan bilden, nach welchem ein allmächtiger Schöpfer ſeine Werke zweckmäßig ſich entwickeln läßt und einem letzten Endzweck entgegenführt. Mag man dieſes Letzte Zweck oder Ziel nennen, darauf kommt's gar nicht an, ſobald es ſich um Teleologie handelt, denn das griechiſche Wort wird beiden Ausdrücken gerecht. Das Entſcheidende iſt der Schöpfer oder das Weſen 60 468 Carneri, Ziel und Zweck. überhaupt, das den Zweck ſich ſetzt, das Ziel anſtrebt. Ob ich ſage: der Jäger hatte den Zweck das Wild zu erlegen, oder: das Wild war des Schützen Ziel: die Kugel, die dieſen Zweck erreicht oder dieſes Ziel trifft, ſetzt Einen voraus, der ihr die Richtung giebt. Während ſo gerade in der hier wichtigſten Beſtimmung Ziel und Zweck in Eins zuſammenfallen, und keinerlei Zielſtrebigkeit — man müßte denn der Kugel ſelbſt Zielſtrebigkeit andichten — den Sinn ändert, der vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit der Teleo— logie zukommt, bedeuten Deſcendenztheorie und Darwinismus durchaus nicht daſſelbe und iſt es ganz ungerechtfertigt, ſie als identiſche Begriffe der Teleologie gegenüberzuſtellen. Die Deſcendenzlehre iſt um ein Jahrhundert älter, als der Darwinismus. Dieſer begreift jene in ſich, erweitert ſie, ſucht ſie zu erklären und eröffnet uns damit gleichzeitig einen Ausblick in die Möglichkeit, die Schöpfungsgeſchichte zu erklären, ohne zur Teleologie unſere Zuflucht zu nehmen. Und dieſes iſt der entſcheidende Punkt. Ueber dieſen Punkt herrſcht Unklarheit, und was ſie vermehrt, iſt nicht jo ſehr die falſche Frageſtellung, als das unter— ſcheidungsloſe Acceptiren einer ſolchen. Nichts iſt einfacher, als entrüſtet auszurufen: Wie kann man behaupten, es ſeien Darwinis— mus und Teleologie unvereinbare Gegen— ſätze! — um dann ſonnenhell nachzuweiſen, daß zwiſchen beiden kein Widerſpruch beſtehe. Er beſteht in der That nicht. Im Gegen- theil, die Entwickelungstheorie wird nur gemeinfaßlicher durch die Vorausſetzung eines Ziele oder Zwecke ſich ſetzenden und den Ent- wickelungsproceß darnach lenkenden Weſens. Nur darf dieſes Weſen bei der Teleologie nicht weggedacht werden, denn in dieſem Falle iſt der gefürchtete Widerſpruch da: aber er liegt nicht zwiſchen den Begriffen Darwinismus und Teleologie, ſondern Allerdings muß das zielſtrebige Weſen nicht Gott heißen. Aber heißt es auch nur organiſirendes Princip: ſobald es mehr als ein bloßes Geſetz iſt, und, in welcher Weiſe immer, beſtimmte Ziele verfolgt, iſt es Subjekt, und inſofern ſeine Weſenheit unſere Erfahrung überſteigt, ein transſcen— dentes Subjekt, mithin ein mehr oder weniger naher, aber jedenfalls irgend ein Verwandter des alten Gottes. Dies iſt ſo unbeſtreitbar, daß es ganz unbegreiflich iſt, warum jene zu ihm zurückkehren. Der Darwinismus nimmt Nieman— dem ſeinen Gott; aber dem, der keinen Gott findet, bietet er ein Entwickelungs— geſetz, durch das mit Umgehung der einen Gott vorausſetzenden Teleologie eine Erklärung des Lebens und Webens der Natur angebahnt wird. Ich wenigſtens werde mich nie, und mit mir wird kein ächter Darwinianer je der Täuſchung ſich hingeben, daß die epochemachende Hypotheſe des Weiſen von Down bereits vollſtändig erwieſen ſei. Dahin iſt es noch ſehr weit. Allein ebenſo unzweifelhaft iſt es mir, daß noch keine Schöpfungserklärung rein wiſſenſchaftlicher Art ſo viel geleiſtet, zu ſo begründeten Hoff— nungen Anlaß gegeben und ſo viele Erwart— ungen gerechtfertigt hat. Gerade der Eruſt, mit dem in neueſter Zeit, und der Kraft— aufwand, mit dem von namhaften Männern der Kampf gegen den Darwinismus geführt wird, und der, je namhafter dieſe Männer ſind, deſto regelmäßiger mit einer, wenn theſe von Seite der Gegner abſchließt, beweiſt, wie durchſchlagend und verbreitet jetzt ſchon der Erfolg ſein muß. Und wenn ich ſage: Der Darwinismus nimmt Niemandem ſeinen in der Auffaſſung des Begriffs Teleologie. ihren Gott verleugnen, die immer wieder auch nur principiellen Anerkennung der Hypo. — — re er ee ein Gott, — ſo ſage ich damit, daß ein Unter— ſchied iſt zwiſchen dem, der behauptet, es jet kein Gott — was kein ächter Philoſoph je behaupten wird, — und dem, der einfach ſagt: Mein Erkennen reicht nicht aus, um mich vom Daſein eines Gottes zu über— zeugen. Gott kann eben nur geglaubt und nicht gewußt werden; und da ſtehen nur zwei Wege offen: entweder glauben zu können oder mit dem, was man wiſſen kann, ſich zu beſcheiden. Und darüber ſollte noch Streit ſein, daß der, deſſen Weltanſchauung Umgang nimmt von einer nur dem Glauben zugänglichen Annahme, den wiſſenſchaft— lichen Weg geht? Dieſe Darſtellung würde eine große Lücke aufweiſen, wenn ich hier Herbert Spencer's nicht erwähnen wollte, von dem viele meinen, er breche dem Glauben eine Bahn in das Gebiet der Wiſſenſchaft. Allerdings geleitet er uns zu einem Punkt, auf welchem Religion und Wiſſenſchaft als identiſch ſich erweiſen. Es iſt dies der Punkt, auf welchem die Religion vor einem un- enthüllbaren Myſterium, die Wiſſenſchaft vor einem unfaßbaren „Ding an ſich“ zu ſtehen bekennt. Allein auf dieſem Punkte letzter Analyſe ſtellen Wiſſenſchaft und Religion ihre praktiſche Thätigkeit ein. Es iſt dies die Verſöhnung zweier Feinde nach dem Tode; wiederbelebt, würden ſie ihre Gegner— ſchaft ſogleich wieder bethätigen. Was Spencer nachweiſt und glänzend nach- weiſt, iſt die ſchließliche Identität aller pſychiſchen Thätigkeit. Nichts wäre verkehrter, als aus ſeiner Verſöhnung der zwei größten Gegner dieſer Erde auf ein Streben nach der deiſtiſchen Löſung des Welträthſels ſchließen zu wollen. Nur ſeine Aufſtellung der Kraft neben dem Stoffe iſt dualiſtiſch angehaucht; jedoch dieſe Kraft läßt er weder! nach bewußten, noch nach unbewußten Vor- 1 Carneri, Ziel und Zweck. 469 ſtellungen denken oder wollen oder auch nur ſtreben: ſie wirkt einfach nach Ge— ſetzen, die er uns aufdeckt, und zwar in den kosmiſchen Evolutionen, in den geo— logiſchen Umwälzungen, im Leben der Pflanzen und Thiere, wie in den pſpychiſchen und moraliſchen Erſcheinungen beim menſch— lichen Individuum, und bei der menſch— lichen Geſellſchaft als dieſelben Ge— ſetze aufdeckt. Daß er durchaus nicht unter jene gezählt werden darf, die bei der Ent— wickelungsgeſchichte über die bloße Geſetz— mäßigkeit hinaus gehen zu müſſen meinen, beweiſen zur Genüge die wenigen Worte, mit welchen er in einer ſpäteren Note zu etwas ſchon im Jahre 1857 Veröffentlichtem ſeinem Verhältniß zu Darwin Ausdruck giebt. Sie lauten: „Es ſei noch beigefügt, daß, obwohl die obigen Sätze in der „Ent— ſtehung der Arten“ nicht ausgeſprochen werden, doch ein uns gemeinſamer Freund die An— nahme für begründet hält, daß Darwin mit denſelben übereinſtimmen, wenn nicht etwa gar dieſelben als bereits ſtillſchweigend in ſeinem Werke ausgeſprochen anerkennen würde.“ (Grundlagen der Philoſophie, deutſch von B. Vetter, Stuttgart 1875, S. 453.) Ich habe hier die Teleologen im Auge, die, mag es immerhin aus Selbſttäuſchung geſchehen, über die Gottesfrage hinweggleiten und aus der Zdweckmäßigkeitslehre einen Faktor, ohne den ſie keinen Sinn mehr hätte, anſtandslos ausmerzen zu können glauben. Karl Ernſt von Baer's Ver- halten zu dieſer Frage iſt bereits in dieſer Zeitſchrift (Band III., S. 71 ff.) ein⸗ gehend beſprochen worden. Darum ſei er hier nur ganz allgemein berührt, wie es ſich hier überhaupt um keine Polemik handelt, ſondern um Klarſtellung eines Begriffs, dem | eine arge Trübung droht. Auch war der Verfaſſer der „Studien aus dem Gebiete m | Carneri, Ziel und Zweck. der Naturwiſſenſchaften“ ein viel zu großer Gelehrter, als daß je bei ihm ein rein ſubjektives Bedürfniß, wie es eben im Charakter mancher Gemüther und darum unvertilgbar in ihnen liegt, zu einer Fälſchung der Wiſſen— ſchaft hätte führen können. Ein Punkt ſeiner Weltanſchaung kam aus einem leiſen Schwan— ken nicht heraus; das war alles. Jedoch zu welchen Schwingungen bringt es ein ſolcher Punkt, wenn Denker ſich daran klammern, die, anſtatt unbekümmert um die logiſchen Conſequenzen den Gedanken frei walten zu laſſen, eigens nach Gedanken ſuchen, die einer vorgefaßten Meinung zur Stütze dienen können? Ich gehe gleich zu einem Beiſpiel über, das den Freunden wie den Gegnern der an die Stelle der Teleologie tretenden Geſetz— mäßigkeit geläufig iſt, und an dem ich meine Anſicht vollſtändig darlegen kann. Ob ich mit Abſicht nach einem beſtimmten Ziele einen Stein werfe, oder ob der Huffſchlag eines Pferdes in dieſes Ziel einen Stein ſchleudert: in beiden Fällen kann der Stein das Ziel nur treffen, wenn dem Wurf die nöthige Richtung gegeben wird. Im erſtern Falle iſt das Treffen viel wahrſcheinlicher, als im letzteren, ſicher iſt es auch im erſtern Falle nicht; denn habe ich wenig Uebung, ſo werde ich ſehr oft nach dem Ziele werfen müſſen, um es einmal zu treffen. Und ſprengen an der betreffenden Stelle einige tauſend von einem Hufſchlage ein Stein auf das Ziel geſchleudert werde. Allerdings ſteht mit dem Hufſchlag in Bezug auf das Schleudern eines Steines keinerlei Willensakt in Verbindung, wie dabei überhaupt alle das Treffen des Zieles erleichternden, durch die beſtimmte Abſicht herbeigeführten Be— dingungen nicht mit ins Spiel kommen, als welche ſind: das auf das Ziel geheftete Auge, die der Richtung des Auges folgende Hand u. ſ. w., durch die dem Steine, wie durch das Feuerrohr der Kugel, der Flug vorgeſchrieben wird. Denken wir uns aber an der Straße, auf der die Reiter dahinſprengen, eine ſeit— wärts ablaufende, durch fortgeſetzten Regen ausgehöhlte Rinne, und an deren anderm Ende das Ziel, nach welchem ich frei werfe: nicht jeder Stein, den ein Hufſchlag in die Rinne ſchleudert, wird das Ziel treffen; aber es werden viel weniger Reiter an jener Stelle vorüber zu ſprengen brauchen, damit es geſchehe. Eine ſolche Rinne wäre gerade ſo nothwendiger Weiſe durch das Fallen des Regens und die Beſchaffenheit des Bodens entſtanden, als zu einem ſcharfen Auge die ſichere Hand ſich gefunden hat. Entweder iſt alles, oder es iſt nichts bloßer Zufall. Auch mein Wille und das Bewußtſein, mit dem ich mir einen Zweck oder ein Ziel ſetze, iſt nur für mich etwas Beſonderes: von einem allgemeinern Standpunkt aus fällt mein Thun unter daſſelbe Cauſalgeſetz, dem alles übrige Ge— ſchehen unterworfen iſt. Ein Zweck bei dieſem Wurf, eine Abſicht mit dieſem Ziel iſt nichts anderes, als die Reſultirende einer ganzen Reihe von Empfindungen, Erregungen, und ihnen entſprechenden Auslöſungen von Vorſtellungen, die ſchließlich zu einer beſtimm— Reiter vorbei, ſo wird es nicht mehr ſo außerordentlich ſelten oder ſchwierig ſein, daß ten Willensinnervation führen mußten. Betrachte ich die beiden Fälle ganz unbe— fangen, ſo muß ich mir geſtehen, daß ſie, bis auf das Bewußtſein, das in dem Einen nebenherläuft, nur graduell von einander ſich unterſcheiden. Bei dem Einen iſt nämlich durch das günſtigere Zuſammentreffen der erforderlichen Bedingungen das Treffen des Zieles wahrſcheinlicher, als bei dem andern. Es kann aber auch umgekehrt der Fall ſein, er wenn mein Auge unverläßlich, meine Hand ohne alle Uebung iſt. Dann wird eben die größere Zahl der Würfe ent— ſcheiden, und mit dem Worte Zweckmäßig— keit genau ſo wenig und ſo viel geſagt ſein, als mit dem Worte Zielſtrebigkeit. Dieſe Thatſache auf die organiſche Natur anwendend, ſchauen wir das Gelingen ihrer Bildungen in einem ganz anderen Lichte. Die Unzahl, in der gewiſſe Keime auftreten, Carneri, Ziel und Zweck. wird uns zu einer Erklärung ihrer Ent⸗ wickelung, und Karl Ernſt von Baer iſt es, dem die Wiſſenſchaft den unſterblichen, aber auch rein Darwin'ſchen Ausſpruch verdankt: „Der Erfolg der Natur iſt durch die Allgemeinheit geſichert.“ Zwecke und Ziele hat und verfolgt der Menſch als ein denkendes Weſen. Ziel und Zweck bedeuten daſſelbe und haben beide keine Bedeutung, wenn nicht ein bewußter Wille abſichtlich die zu ihrer Erreichung | erforderlichen Mittel am rechten Ort und zu rechter Zeit zu wählen und richtig zu verwenden weiß. Der Schein, als würde mit Zielſtrebigkeit etwas der unbe— wußten Natur Verwandteres geſagt, rührt daher, daß man, wenngleich nur in trans latem Sinn, einer aus dem Feuerrohr ge- triebenen Kugel leichter Zielſtrebigkeit, denn einen beabſichtigten Zweck zuſchreiben kann. Der Vortheil einer ſolchen Bezeichnung liegt darin, daß einem näherliegenden Begriff ein fernerliegender ſubſtituirt, richtiger ge— ſprochen, der Begriff, der keiner allzugenauen Prüfung ausgeſetzt ſein darf, etwas in die Ferne gerückt wird. Nimmt aber auch, gegenüber dem Ausdruck Ziel, das Denken einen verſchwimmenderen Charakter an, als gegenüber dem Ausdruck Zweck, ſo iſt darum doch noch nicht das Denken aus dem in Rede ſtehenden Falle ganz herausge— ſchafft. Das Nächſtgeforderte iſt es daher, 471 auch für das allzunahe liegende Denken ein ferner liegendes Wort zu finden. Da das Denken durch Vorſtellungen bedingt iſt, die Natur aber, wo fie kein Gehirn aufweiſt, auch über keine Vorſtellungen verfügt, fo fragt man ſich, was im Stande wäre, ohne Vorſtellung, daher eigentlich unbewußt, ein Ziel ſich zu ſetzen und zu erreichen? Die Genialität! — lautet die jubelnde Ant— wort, und die Zielſtrebigkeit der Natur iſt gerettet. Eine gewiſſe Genialität iſt dieſer Rettung nicht abzuſprechen. Die Bezeichnung klappt in ganz überraſchender Weiſe. Mit genialen Thaten und Werken verhält ſich's oft, in der That, wie mit den ſogenannten intuitiven Handlungen. Das Subjekt iſt ſich dabei ſeines Zieles nicht recht bewußt, es hat davon gar keine klare Vorſtellung, und hat es dieſe, ſo hat ſie es nicht im Blickpunkt des Bewußt— ſeins. Gewiß find dunkle Vorſtellungen noch immer nicht keine Vorſtellungen; aber ſo ge— nau nimmt man die Sache nicht, geblendet wie man iſt von der ganzklar vorliegenden That— ſache, daß die Genialität es iſt, die das Größte, ja nahezu Wunderbares vollbringt. Und bei den Werken der Natur hat man es mit Wunderartigem zu thun. Daß Genialität wie Intuition ausſchließlich nur bei Weſen mit Gehirn vorkommt, daß daher die Befähigung zu Vorſtellungen deren Grund— bedingung ſein dürfte, während, wenigſtens für Momente, das klare Bewußtwerden dieſer Vorſtellungen dabei in den Hintergrund treten kann, iſt eine Kleinigkeit, oder wird zur Kleinigkeit und jedenfalls weniger augen— fällig, je mehr man durch Anwendung ferner— liegender Begriffe vom klaren Denken ſich entfernt hat. Ich ſpreche damit keinen Vorwurf aus. Die Sehnſucht nach der Löſung des Welt— räthſels iſt Eins mit dem menſchlichen Be— e 222er RT 6 472 wußtſein: ſie iſt mit ihm erwacht, und kann nur mit ihm entſchlummern. Die Welt— geſchichte iſt überreich an Beiſpielen von Naturen, die dieſer Sehnſucht alles, ſelbſt das Leben zum Opfer gebracht haben. Mit welcher Macht wir es da zu thun haben, beweiſt am ſprechendſten der Umſtand, daß ſelbſt die exakte Wiſſenſchaft ihrer Verführ— ung erliegen kann. Die neueſte Riemann— Helmholtz'ſche Raumtheorie iſt in dieſer Hinſicht beſonders lehrreich. Durch Helmholtz' zweidimenſionale Weſen wei— tern Kreiſen zugänglich gemacht, wurde ſie, meines Wiſſens, zuerſt von Schmitz-Du— mont entſchieden bekämpft, dann vornehmlich durch Wundt und Erdmann in ihrer ganzen Unhaltbarkeit blosgelegt. Damit ſie aber bis in die Wurzeln erſchüttert werde, mußte ein Anhänger von Bedeutung ſie in's praktiſche Gebiet verfolgen, und dadurch ihren ſeltſamen Werth handgreiflich darthun. Der vierdimenſionale Raum führte zur Annahme vierdimenſionaler Weſen, und da galt es vor allem, irgend einer beſtimmten Aktion eines ſolchen Weſens auf die Spur zu kommen. Vom exakten Stand⸗ punkte aus ſind die in dieſen Beſtrebungen liegenden Widerſprüche nicht ſo klar erſichtlich, als vom philoſophiſchen. Es liegt daher in der Natur der Sache, daß in einem ſolchen Falle ein Mann der exakten Wiſſen— ſchaft vor allem nach einem Faktum, nach einem Experiment verlangt. Aber leider ſind derartige Experimente ganz beſonders bedenklich. Daß, was bei einer ſolchen Gelegen— heit einem Gelehrten erſten Ranges, J. C. F. Zöllner, arrivirt iſt, nur auf einer Täuſchung beruhen könne, iſt für mich wenigſtens unzweifelhaft. nämlich erklärt, den letzten Zweifel aufzugeben, wenn Einer im Stande wäre, vor ſeinen Carneri, Ziel und Zweck. Augen die beiden Enden eines Fadens an einander zu ſiegeln, und dann in dieſen Faden einen Knoten zu ſchürzen, wie er gewöhnlichen Menſchenkindern nur bei freien Enden des Fadens möglich iſt. Ein Mensch von ſeltener Geſchicklichkeit — Slade iſt ſein Name, und ob er mit vierdimenſionalen Weſen verkehre oder ſeine eigene Seele vier— dimenſional ſei, kommt dabei nicht in Be— tracht — hat dieſer Aufgabe ſich unterzogen, und an dem verſiegelten Faden vor den achtbarſten Zeugen, und während Zöllner beide Daumen auf dem Siegel hatte, nicht nur einen, ſondern gleich vier von den ge— wünſchten Knoten zu Wege gebracht. Zöllner hat den Faden, und iſt bereit, ihn allen Univerſitäten zur Prüfung vorzulegen, wie er ſelbſt ſagt. Aber was beweiſt der Faden? Der Gläubige braucht nicht erſt ihn zu ſehen, und der Ungläubige wird beim Anblick des Fadens ohne Zaudern ſich überzeugen, daß hier die bekannte Force der Taſchenſpieler, im entſcheidenden Moment die Aufmerkſam— keit von der Hauptſache auf eine Nebenſache abzulenken, einen beſonders glänzenden Sieg gefeiert hat, und daher, als es zur Verſiegelung kam, Zöllner, anſtatt des Fadens ohne Knoten, bereits einen andern mit den er— wähnten Knoten in Händen hatte. Daß Zöllner gar nichts davon gemerkt zu haben braucht, beweiſt bei ſeiner Mittheilung des Faktums (Wiſſenſchaftliche Abhandlungen, Leipzig 1878, J. Theil, Seite 276) die Beſtimmtheit, mit der er ſagt: „Es iſt klar, daß bei den oben angedeuteten Operationen vorübergehend die Theile des Fadens aus dem dreidimenſionalen Raum für Weſen von gleicher Dimenſionalität verſchwinden müſſen.“ — Die Täuſchung war eine voll- Zöllner hatte ſtändige, und im genannten Buche finden ſich auch zur lebhaftern Veranſchaulichung Abbildungen des ominöſen Fadens, der in Carneri, Ziel und Zweck. der That theilweiſe aufgehört haben müßte, ein irdiſcher Faden zu ſein. Ich hätte dies übrigens nicht berührt, wenn Zöllner nicht auf Kant ſich be— riefe, und ihn als denjenigen hinſtellte, der zu dieſer Art Forſchung ermuthigt, und deſſen prophetiſche Andeutung nun ſich bewahrheitet habe. Es iſt allerdings richtig, daß Kant, weit entfernt die Mög— lichkeit eines vierdimenſionalen Raumes und ihm eutſprechender Weſen zu leugnen, ſogar hinzu gefügt hat, daß wenn dies möglich, es auch wahrſcheinlich ſei, daß Gott irgendwo dergleichen erſchaffen habe. Aber damit hat er nur geſagt, was jeder vernünftige Kriticis— mus jederzeit ſagen wird: daß es im All Manches geben mag, worüber wir hiernieden zu keinerlei Gewißheit kommen können; damit aber auch: daß alles Derartige für uns einfach nicht exiſtirt. Daß vierdimen— ſionale Weſen in vierdimenſionale Fäden die für uns unbegreiflichſten Knoten zu machen im Stande wären, hätte er nicht in Abrede geſtellt. Und würde ein Slade über einen zweidimenſionalen Faden verfügen, ſo würde ein Kant dabei gewiß nicht die Möglichkeit der für uns unmöglichſten Knoten beſtreiten. Aber ebenſo gewiß würde er nie zugegeben haben, daß ein zwei-, vier- oder | noch ſo viel-dimenſionales Weſen an einem dreidimenſionalen Faden Operationen vorneh— men könne, die mit der dreidimenſionalen Natur unvereinbar ſind. jenem Zugeſtändniſſe nur eine Kleinigkeit gefordert: das Vorhandenſeindernöthigen Kant hat bei Bedingungen. Wo das iſt, iſt alles mög— | lich; wo das nicht iſt, beginnt das Wunder. Es iſt dies das Reich des Transſcen— denten, und in dieſes gelangt man nicht an der Hand des Königsbergers. Um die Möglichkeit der angeführten Operation an einem dreidimenſionalen Faden zuzugeben, hätte er ſeine geſammte Philoſophie verleugnen müſſen. Es iſt daher die Anlehnung an ihn durchaus nicht gerechtfertigt. Mit Zöllner's „unendlich dünnem Faden“ hat es dieſelbe Bewandtniß, wie mit dem „begrenzten unendlichen Raum“. Die Hegel'ſche Philoſophie hat auch über's Ziel geſchoſſen; hätte man aber, von ihr zurückkehrend, das Kind nicht mit dem Bade verſchüttet, man würde nicht ſo nahe daran ſein, in den Abgrund der falſchen Unendlichkeit die einfachſten Grundlagen der Logik verſinken zu ſehen. Für alle myſtiſchen Erkenntnißtheorien, die mittelſt eines unbewußten Willens, einer vorſtellungsloſen Genialität oder eines undefinirbaren organiſirenden Prin— cips, wobei an die Stelle des Zweckes ein Ziel treten würde, der Teleolgie neuer— dings Eingang in die Naturwiſſenſchaft bald zu erzwingen, bald zu erſchmeicheln ſtreben, wären vierdimenſionale Weſen, ja wäre ſchon ein vierdimenſionaler Raum von hohem Werth. Mit ihm wäre die Transſeendenz gegeben, und mit dieſer der Weg zum Factor, der das Ziel ſetzt, dem Streben die Rich— tung giebt, und ohne den alle Teleologie ein leeres Wort iſt. Wird man ſich darüber klar, klar über die Quellen, aus welchen da geſchöpft wird, und klar über das Wohin, dem man zuſteuern würde; ſo ſtellt allmälig von ſelbſt die Ueberzeugung von der Noth— wendigkeit ſich ein, aus den erkenntnißtheo— retiſchen Momenten der Weltanſchauung alles auszuſcheiden, was die Grenzen der Erfah— rung überſteigt. Streng wiſſenſchaftlich iſt keine Hypotheſe ſtatthaft, die in letzter Analyſe in ein transſcendentes Princip ſich auflöſen müßte. Der Monismus zeichnet ſich dadurch vor allen andern Weltanſchauungen aus, daß er nach keiner andern Welt ſucht, als nach 474 der wahrnehmbaren, und daß er den Geift anerkennt, aber nur inſoweit er ihn wahr— zunehmen vermag, und zwar als höchſte Blüthe eines centraliſirten Nervenſyſtems. die bloße Annahme eines empfindenden Atoms, das mit logiſcher Nothwendigkeit zur An- nahme eines bewußten Atoms führen würde, pfindungen des Individuums werden, gelan— wäre die ſchiefe Ebene ſchon betreten, über die man unaufhaltſam in das Gebiet des Transſcendenten hinüberrollt. Der Monis— mus kennt keine ſpecifiſche Energien und keine Vermögen, wie er auch keine einfache Weſen kennt: der Monismus kennt nur Functionen, die aus einer Wechſelwirkung zwiſchen Körpern oder Organen hervorgehen. Beim Atom giebt es nur das anorganiſche Durch Neagiren; Empfindung und Bewußtſein könn- ten da nur von einer Beſeelung im engern Sinn herrühren. Das Atom iſt nichts als das kleinſtdenkbare Quantum zur Körper— lichkeit condenſirten Stoffes; es iſt nur der unterſte Repräſentant der Materie, weshalb wir über die Grenzen unſerer Erfahrung hinausgehen müßten, um ihm etwas zuzu- ſchreiben, das wir an der Materie als folder | nicht wahrnehmen. Carneri, Ziel und Zweck. | Auch was wir Kraft unumſtößliche Gewißheit. Das Reagiren der ſogenannten todten Materien entwickelt ſich bei den lebenden?) Gebilden zur Em— pfindung. Dadurch, daß unſere Empfindun— gen, in das Centrum unſeres Nervenſyſtems geleitet, dem Individuum als Ganzem ſich mittheilen, d. h. zu Vorſtellungen, zu Em- gen wir zum Gefühl unſere Empfindungen, werden wir uns ihrer bewußt. Das an— | fänglich nur in ſolchen Vorſtellungen ſich bewegende Denken erhebt ſich allmälig durch die Sprache, welche uns die zu Begriffen ſich klärenden Vorſtellungen feſtzuhalten und zu ordnen geſtattet, zum ächten Denken. Damit werden wir uns unſeres Wiſſens klar bewußt, und die in den Willenscentren ſich auslöſenden Empfindungen uns zu be— wußten Willensacten. Wir wollen und ſtreben, wir ſetzen uns Zwecke und haben Ziele. Wie mangelhaft auch dieſe flüchtige Dar- ſtellung iſt, ſo dürfte doch aus ihr in ge— nügender Weiſe hervorgehen, wie zahlreich und verwickelt die Bedingungen ſind, von deren Erfüllung es abhängt, ob ernſtlich von und Kräfte nennen, darf nicht aufgefaßt | Zielſtrebigkeit und Zweckmäßigkeit werden als etwas an und für ſich Exiſti— | die Rede ſein kann. Sie ſind nur die Reſultirende der rendes. Wechſelwirkungen zwiſchen Stoff und Stoff, giebt, ein Bewußtſein hinzu, das dem Streben mit deſſen Theilbarkeit die Bewegung ge— geben iſt, die als Kraft zur Erſcheinung kommt. Liegt aber auch der Stoff als ſolcher außerhalb des Bereichs unſerer mög— lichen Erfahrung, ſo iſt darum doch die Welt der Erſcheinungen nicht ein leerer Schein. Sie iſt die Geſammtheit der Em— pfindungen, welche durch die allgemeine Wechſelwirkung uns zum Bewußtſein gebracht wird, und das daraus ſich ergebende Ver hältniß des Subjects zum Object bildet unſere einzige volle, aber für uns auch | Erſt bei den Thieren mit Gehirn tritt zum Selbſterhaltungstrieb, der in den einzelnen Willensacten ſich kund den Stempel der Abſichtlichkeit aufdrückt und die Zielſtrebigkeit zur Wahrheit macht. Was wir Selbſterhaltungstrieb nennen, iſt bis hinab zu den untergeordnetſten Bildungen Allem gemein, das auf irgend einer Stufe der Entwickelung zu einem Ganzen ſich abgrenzt und damit allem Uebrigen ſich entgegenſetzt. Von der Cohäſion beim An— organiſchen iſt nur graduell verſchieden das 9 Siehe „Kosmos“ II. Bd. S. 485 flgde. über Urzeugung und Leben. Carneri, Ziel und Zweck. Zuſammenhalten des Lebeweſens, das als Individualität die ganze übrige Welt gegen ſich hat, und im „Kampf um's Daſein“ ſiegt oder erliegt d. h. ſich fortentwickelt oder verkümmert, je nachdem die Verhält— niſſe, in die es geräth, das Eine oder das Andere befördern. Den „Kampf um's Daſein“ Organe hervorgehen, und alles Wachsthum iſt, wie Herbert Spencer an ſo vielen Streben nach einer vorgeſetzten Richtung, ſondern ein naturgemäßes Streben nach Integration in der Richtung des geringern Widerſtandes. Darum findet das Wachsthum dort ſeine Grenze, wo die im jugendlichen Organismus auf— gehäufte Arbeit ſich derart abgegeben hat, daß über das Aſſimiliren der Außenwelt das Aſſimilirtwerden durch die Außen— welt die Oberhand gewinnt. Vor der winzigſten Schöpfung der Natur ſtehen wir als vor etwas Unbegreiflichem, wenn wir ſie als fertiges Ganzes erklären Am auffallendſten iſt dies der Fall beim Menſchen, bei allen ſeinen Fähigkeiten, wollen. zumal bei den geiſtigen. Jede Bildung iſt in ihren früheſten Stadien zu unterſuchen, durch ihre Entwickelung hindurch zu verfol— gen und nach ihrem Verhältniß zu den ſie umgebenden Bildungen zu beurtheilen. Dabei Zielſtrebigkeit auffaßt? Es wird ihm werden wir allerdings nur auf Geſetze ſehr allgemeiner Natur ſtoßen, die aber eben darum allgemeine Geltung haben. nur ein verſchwindender Bruchtheil deſſen, was zu erklären vorliegt. Aber die Summe des Erklärten ſteigt fortwährend, und mehr und mehr gewinnt die Ueberzeugung an Ver— breitung, daß jede Erklärung, die von einer lo— Kosmos, Band III. Heft 6. wendigkeit ſich kämpfen ſchon die Zellen, aus welchen die Sicher⸗ lich iſt das, was wir uns zu erklären vermögen, 475 giſchen Unmöglichkeit ausgeht und auf jenſeits der Erfahrung liegende Annahmen ſich ſtützt, nur eine ſolche iſt, die auf das eigentliche Erklären verzichtet. Daß alles Geſchehende nothwendiger Weiſe geſchieht, wiſſen wir erfahrungsmäßig; ebenſo, daß dieſe Noth- auf unverbrüchliche Geſetze zurückführen läßt. Nicht weniger erfahrungs— mäßig wiſſen wir, daß aus der Steigerungs— fähigkeit des Einzelnen eine Steigerungs— Beiſpielen nachweiſt, kein übernatürliches fähigkeit des Ganzen ſich ergiebt. Daß, da die Steigerungsfähigkeit des Einzelnen eine begrenzte iſt, die Steigerungsfähigkeit der Geſammtheit auch ihre Grenze haben wird, iſt eine unabweisbare Folgerung. Aber dieſe Grenze liegt in ſo weiter Ferne, und, was das größte Herz völlig auszufüllen vermag, liegt ſo nahe, daß dieſer Gedanke keinen klar Denkenden ernſtlich beunruhigen wird. Der Menſch kann ſich ſo hohe Ziele ſetzen, ſo edlen Zwecken leben, daß er die ihm zu Gebote ſtehenden Mittel nur richtig zu wählen und ſeinen Beſtrebungen anzupaſſen braucht, um ſeinem Leben einen hohen Werth zu erringen. Meint aber Einer trotz alle— dem, das große Ganze ſei ohne Werth und die Natur ſinnlos, wenn ſie nicht teleo— logiſch aufgefaßt wird; dann möge er einmal bei kaltem Blute zuſehen, wie die Natur ſelbſt, ſein Princip rein auf den Kopf ſtellend, die Zweckmäßigkeit und auffallen, und ſchwerlich ohne Wirkung bleiben auf das Gewicht, welches er der Teleo— logie beilegt, daß ſeltſamer Weiſe in der Natur — wie ich ſchon anderswo hervor— gehoben habe — anſtatt daß die Mittel nach den Zwecken und Zielen ſich richteten, Zwecke und Ziele ſich nach den Mitteln richten. 61 Die Infehten als unbewußte Dlumenzüchter. Von Dr. Hermann Müller. DE (Schluß.) 4. Die wespenartigen Inſekten (Hymenoptera). nen, dieſe einzige Familie wespenartiger Inſekten, ſpielen 8 als unbewußte Kreuzungsver— A mittler und Züchter von Blu- men für ſich allein eine viel bedeutendere Rolle als alle übrigen Inſekten zuſammen— genommen; denn ſie ſind gleichzeitig die der Blumennahrung bedürftigſten, die arbeit ſamſten und die geſchickteſten aller blumen— ſteten Inſekten. Schon zu ihrem eigenen Lebensunterhalte bedürfen ſie eine weit größere Menge von Blumennahrung als Schmetter— linge und Fliegen, da ſie nicht, wie dieſe, nur der Liebe und dem Vergnügen leben, ſondern zur Sicherung und Beköſtigung ihrer Nachkommenſchaft eine Reihe anſtrengender Arbeiten ausführen, welche natürlich einen dem Kräfteverbrauch entſprechenden Stoff— erſatz erfordern; überdies aber beſteht das Futter, welches ſie für ihre Nachkommen im Voraus in einer bis zur Vollendung ihrer Entwickelung ausreichenden Menge anhäufen, ebenfalls aus Honig und Blüthen— ſtaub. Die Arbeitſamkeit, zu welcher ſie ſchon durch dieſe maſſenhafte Beſchaffung von Blumennahrung veranlaßt ſind, wird aber noch bedeutend geſteigert durch ihre Lebensgewohnheit, ihren erſt lange nach ihrem eigenen Ableben das Licht der Welt erblickenden Kindern außer dem vollen Nahr— ungsbedarf auch eine gegen Ungunſt des Wetters und gegen Feinde ſorgfältig geſchützte Entwickelungsſtätte im Voraus zu bereiten. Aller Fleiß, alle Umſicht, alle Arbeits— kraft nun, die ſie im Lauf unzähliger Gene— rationen in ſtetem Bemühen um die Ver— ſorgung ihrer Brut allmälig gewonnen haben, kommt ihnen natürlich auch bei ihrer Blumen— arbeit zu Gute, und da es auch den Pflanzen ſelbſt am vortheilhafteſten ſein muß, den nahrungsbedürftigſten, fleißigſten und ge— wandteſten Blumenbeſuchern die Vermittel— ung ihrer Kreuzung zu überlaſſen, ſo ſpielen in der That nicht nur bei der Befruchtung der einem gemiſchten Beſucherkreiſe ange— paßten Blumen, wie z. B. Compoſiten, Cruciferen, Roſaceen ꝛc. die Bienen meift die wichtigſte Rolle, ſondern es ſind auch aus den verſchiedenſten Zweigen des Meta— ſpermenſtammes überwiegend zahlreiche Blu— men ausſchließlich ihrer Kreuzungsvermittel— ung angepaßt. Aber wie die Bienen ſelbſt erſt in einer langen Stufenleiter allmäliger Ver— vollkommnungen der Brutverſorgung ihre ſo eben gerühmten Eigenſchaften gewonnen haben, ſo können auch die Bienenblumen nicht oder wenigſtens nicht alle als unmittel— bar aus einfachen, offnen, regelmäßigen Blu— men durch die züchtende Wirkung der Bienen in ihre jetzige Form übergeführt betrachtet werden. Vielmehr müſſen die bereits blumen— ſtet gewordenen Urahnen der Bienenfamilie in dem Grade, als ihre ſtufenweiſe ſich ſteigernde Brutverſorgung fie zur Ausführ- ung immer complicirterer Lebensthätigkeiten führte und ihre geſammte geiſtige Befähig— ung und körperliche Geſchicklichkeit ſteigerte, auch als Blumenzüchter ſtufenweiſe immer erfolgreicher und ſelbſtſtändiger geworden ſein. Und ehe wir dazu übergehen, die Blumenzüchtung der Bienen ins Auge zu faſſen, müſſen wir über die Blumenthätig— keit der niederen Zweige des Hymenopteren- ſtammes wenigſtens einen allgemeinen Ueber— blick zu gewinnen ſuchen und uns danach umſehen, ob ſich nicht von ihrer blumen— züchtenden Thätigkeit in der heutigen Blumen— welt noch Spuren auffinden laſſen. Auf der tiefſten Stufe der Brutver— ſorgung wie der Blumenthätigkeit ſtehen unſtreitig die Pflanzen anbohrenden Wespen, die Holz-, Blatt⸗ und Gallwespen. Denn ihre Brutverſorgung beſchränkt ſich darauf, mittelſt des Legeſtachels das Ei an eine Stelle zu befördern, an welcher die aus— ſchlüpfende Larve ſich ſogleich von ihrem Futter umgeben findet. Und ihre Blumen— thätigkeit iſt eben ſo einfach. Holzwespen Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 477 wurden auf Blumen überhaupt bis jetzt noch gar nicht beobachtet. Von den Blatt— wespen gehen zwar zahlreiche Arten dem Honige der Blumen nach, aber die Erlang— ung deſſelben gelingt ihnen in der Regel nur dann, wenn er völlig offen liegt, wie bei den Umbelliferen, oder doch unmittel— bar ſichtbar iſt, wie bei Salix, Ranuncu⸗ laceen, Cruciferen und Roſifloren. Das Höchſte, was einige Blattwespen im Honig— auffinden zu leiſten vermögen, iſt die Aus— beutung ſolcher regelmäßiger, nach oben ge— öffneter Blumenformen, welche zwar nicht unmittelbar ſichtbaren, aber doch durch ein— faches Auffliegen und Abwärtsbewegen des Mundes erreichbaren Honig enthalten, wie z. B. die Compoſiten. Dagegen vermögen nach allen bisherigen Beobachtungen die Blattwespen keine Blumen auszubeuten, die nicht auch einer großen Zahl kurzrüſſeliger Inſekten anderer Ordnungen zugänglich ſind und thatſächlich von denſelben beſucht werden. Als ſelbſtſtändige Blumenzüchter haben alſo die Blattwespen niemals auftreten können; ſie ſind niemals im Stande geweſen, ſich beſondere Blattwespenblumen zu züchten. Die Gallwespen, die dritte Familie pflanzenanbohrender Hymenopteren, werden überhaupt nur ſelten auf Blumen ange— troffen, und immer nur auf ſolchen mit völlig offenliegendem Honig; ſie ſind daher unmittelbar als Blumenzüchter wahrſchein— lich ohne alle Bedeutung *). Aber durch ) Ueber die Befruchtung der Feigen durch Gallwespen irgend welche Vermuthungen oder Schlüſſe aufzuſtellen, darf ich nicht wagen, da ſie mir aus eigener Beobachtung nicht be— kannt iſt und Delpino's Beſchreibung (Ulte- riori osservazioni II. p. 239 — 241) keine An⸗ deutung darüber erhält, was denn eigentlich die aus den angeſtochenen Ovarien geſchlüpf— ten Gallwespen, nachdem ſie die männlichen Blüthenſtände mit Pollen behaftet verlaſſen den Uebergang vom Pflanzenanbohren zum Inſektenanbohren find fie, wie ich bereits Wespenſtammes und dadurch mittelbar für die Weiterzüchtung der Blumen im höchſten Grade bedeutungsvoll geworden. Sie haben ſich durch Annahme dieſer neuen Brutver— neues Ernährungsgebiet — die geſammte Inſektenwelt — eröffnet und damit nicht nur dem unabſehbaren Formenreichthume der Schlupfwespenfamilie den Urſprung ge— geben, ſondern auch die geiſtige Befähigung des Wespenſtammes auf eine bedeutend höhere Stufe gehoben. Wer den kurzen ſteifen Flug, das plumpe Anfliegen und die träge Ruhe einer Blattwespe mit dem unermüdlichen, gewandten und unſichtigen, ſchwebenden Umherſuchen, dem vorſichtigen Auffliegen und der ſelbſt in der Ruhe ſich unabläſſig äußernden Beweglichkeit einer Schlupfwespe vergleicht, überſchaut mit einem Blicke dieſen gewaltigen Fortſchritt. Es kann nun von vorn herein kaum einem Zweifel unterliegen und wird durch die direkte Beobachtung ſofort beſtätigt, daß die geſteigerte Unterſcheidungsfähigkeit und Ausdauer im Umherſuchen den Schlupf— wespen auch beim Aufſuchen des Blumen— honigs zu ſtatten kommt. Denn obwohl ſie größtentheils nur Blumen ausbeuten, die auch den Blattwespen zugänglich ſind — theils ſolche mit unmittelbar ſichtbarem haben, zum Hineinkriechen in die weiblichen Blüthenſtände veranlaßt. Das müßte man aber vor Allem wiſſen, um beurtheilen zu können, ob die Feigen-Blumenform (tipo si- eioide Delp.) mit oder ohne Mitwirkung einer von den Gallwespen geübten Blumenauswahl durch Naturzüchtung ausgeprägt worden iſt. ) Bienenzeitung 1875. Nr. 12. 13. 14. 1876. 2. 10. 11. 14. an einer anderen Stelle“) eingehender er- örtert habe, für die Weiterentwickelung des ſorgungsgewohnheit ein höchſt umfaſſendes von den Schlupfwespen als bevorzugteſte 478 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Honig, wie z. B. Umbelliferen, Ruta, Par- nassia, Spiraea und Cruciferen, theils ſolche, deren Honig zwar verſteckt liegt, aber doch durch einfaches Auffliegen und Abwärtsbe— wegen des Mundes erlangt werden kann, wie z. B. Gypsophila, Malva, Geranium und Compoſiten — und nur in ganz ver— einzelten Fällen durch einſeitige Anpaſſung unregelmäßig gewordene, wie z. B. Mentha, ſo benehmen ſie ſich doch durchgängig auch bei ihren Blumenbeſuchen weit behender und fleißiger, zugleich aber auch weit unter- ſcheidungsfähiger, als die Blattwespen. Ihre größere Unterſcheidungsfähigkeit ſpricht ſich am deutlichſten darin aus, daß ſie auch die unſcheinbarſten, in ihrer Farbe von der Um— gebung wenig oder gar nicht abſtechenden Blumen mit Leichtigkeit aufzufinden wiſſen, wenn dieſelben nur offenen Honig darbieten, wie z. B. Adoxa Moschatellina, Sibbal- dia procumbens, Alchemilla pentaphyllea und Listera ovata. Da es nun den Blumen ſelbſt offenbar vortheilhafter iſt, von dieſen umſichtigeren und fleißigeren Gäſten mit be— ſonderer Vorliebe beſucht zu werdeu, als der geſammten Schaar unausgeprägterer Blumen— beſucher zwar offen zu ſtehen, aber auf keinen derſelben eine beſondere Anziehung auszu— üben, fo konnte es, nachdem die Entwickel— ung des Wespenſtammes bis zur Ausbild— ung der Schlupfwespenfamilie fortgeſchritten war, kaum ausbleiben, daß auch beſondere Schlupfwespenblumen zur Auspräg- ung gelangten. Denn ſobald nun von einer Blume, welche offenen Honig darbot, un— ſcheinbare Abänderungen auftraten, welche von allen oder den meiſten anderen Blumen— beſuchern überſehen wurden und daher den Schlupfwespen ausſchließlich oder faſt aus— ſchließlich ihren Honig aufbewahrten, ſo hatten dieſelben die begründetſte Ausſicht, —: . u a | Müller, Die Inſekten als Lieblinge ausgewählt und in gleicher Richt— ung weiter gezüchtet zu werden. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß in jener Zeitepoche, als die Schlupfwespen— familie noch den Gipfel der Wespenentwickel— ung bildete, durch den ſo eben erörterten ur— ſächlichen Zuſammenhang zahlreiche Schlupf— wespenblumen entſtanden ſein mögen. Aber ganz gewiß iſt es, daß die meiſten derſelben aufhören mußten, ausſchließliche Schlupf— wespenblumen zu bleiben, ſobald die Schlupf— wespen von den aus ihnen hervorgegange— nen Grabwespen und Bienen an körperlicher und geiſtiger Befähigung überholt wurden. Denn ebenſo wie dieſe ſpäteren Entwickel— ungsſtufen des Wespenſtammes von ihren Urahnen, den Schlupfwespen, die Brutver- ſorgung und die im engſten Zuſammen— hange mit derſelben erworbene körperliche und geiſtige Befähigung ererbten und ſtufenweiſe weiter vervollkommneten, ebenſo ererbten ſie von denſelben auch die Fähigkeit, die Schlupf- wespenblumen auszubeuten, und züchteten dieſelben, ihren abgeänderten Lebensgewohn— heiten und ihrem geſteigerten Nahrungsbe— dürfniſſe entſprechend, weiter. Nur an den, Grabwespen und Bienen beſonders un— günſtigen Schlupfwespenwohnſtätten konnten dann Schlupfwespenblumen von der über- wiegenden Mitwirkung jener beiden höher ſolchen Orten konnten auch zur Zeit der Grabwespen und Bienen noch neue Schlupf— wespenblumen gezüchtet werden. Erſt an einer einzigen Pflanze ſind bis jetzt durch direkte Beobachtung Schlupfwes⸗ befähigten Wespenfamilien noch unberührt bleiben und ſich als ſolche erhalten, nur an unbewußte Blumenzüchter. 479 | I aber paßt die jo eben gegebene Erklärung vollſtändig. Obgleich ſie nämlich aus einer Längsfurche auf der Mitte der gelblich— grünen herabhängenden Unterlippe völlig offenliegenden Honig abſondert, ſo bleibt ſie doch von anderen Inſekten als Schlupf— wespen, die fie in großer Häufigkeit auf- ſuchen, faſt unberührt. Denn Grabwespen und Bienen, welche vorzugsweiſe ſonnige Orte aufſuchen, vermeiden überhaupt, ab— geſehen von einzelnen Hummeln, die feuch— ten Gebüſche und Laubwälder, wo Listera ovata gedeiht, faſt vollſtändig; und daß auch kurzrüſſelige Inſekten anderer Ordnun— gen, abgeſehen von einem einzigen blumen— ſteten Bockkäfer, Grammoptera laevis, ſich des völlig offen liegenden Honigs dieſer ſchmuckloſen Blumen nicht bedienen, kann doch wohl blos darin ſeinen Grund haben, daß ſie dazu zu wenig unterſcheidungs— fähig und zu wenig ausdauernd im Um— herſuchen find. Iſt aber dieſe Voraus- ſetzung richtig, ſo läßt ſich die Ausprägung der auffallenden Unſcheinbarkeit der Blüthe von Listera ovata nur als von den Schlupf— wespen, denen allein ſie ja nützlich iſt, ge— züchtet betrachten. Die im Schatten ſubalpiner Wälder wachſende Listera cordata hat noch kleinere ) Die überraſchend zierliche und ſicher wirkende Befruchtungseinrichtung der Listera ovata, welche bei eintretendem Schlupfwespen— beſuche Kreuzung unausbleiblich macht, iſt bereits ſo wiederholt beſchrieben und abge— bildet worden, daß es hier genügen wird, auf Sprengel's entdecktes Geheimniß, auf | 7 72 7 6 f 7 Darwin's Orchideenwerk und auf mein eige— pen als die überwiegenden, ja faſt aus- ſchließlichen Kreuzungsvermittler nachgewieſen worden, nämlich an der mit grünen Hüll— blättern ausgeſtatteten und daher äußerſt unſcheinbaren Listera ovata *); auf dieſe nomeno inesplicabile bezeichnet, glaube ich nes Buch über Befruchtung der Blumen durch Inſekten zu verweiſen. Die Aupaſſung von Blumen an Ichneumoniden, welche Delpino (Ulteriori osservazioni II. p. 320) als un fe- durch obige Auseinanderſetzung ihres Räthel— haften hinreichend entkleidet zu haben. 450 und daher womöglich noch unſcheinbarere Blüthen mil übrigens vollkommen gleicher Einrichtung. Ihre natürlichen Kreuzungs— vermittler ſind noch nicht beobachtet. Es kann aber, nach dem Geſagten, wohl kaum zweifelhaft ſein, daß es ebenfalls vorwiegend Schlupfwespen ſein werden. Außerdem glaube ich als Schlupf— wespenblume mit einiger Wahrſcheinlichkeit die verwandte Chamaeorchis alpina an— ſprechen zu dürfen, die mich an den kahlen Abhängen der Alpenkämme (bei Weißen— ſtein am Albulapaſſe) durch die regelmäßige Kreuzung, welche ihr trotz äußerſter Un— ſcheinbarkeit zu Theil wird, zuerſt in nicht geringe Verwunderung verſetzte. Die kleinen geruchloſen Blümchen werden von den nie— drigen Grasbüſchen, zwiſchen welchen ſie wachſen, und denen ſie ziemlich gleichfarbig ſind, noch überragt und ſind dadurch in der That in dem Grade verſteckt, daß ich mich an ihren Standorten platt auf den Raſen werfen und die kärglich bewachſene Raſenfläche auf das ſchärfſte durchſpähen mußte, um keines derſelben zu überſehen. Unter ſolchen Umſtänden iſt es mir begreif— licher Weiſe nicht gelungen, ihre Kreuzungs— vermittler auf der That zu ertappen, aber von der ausreichenden Wirkſamkeit derſelben konnte ich mich auf andere Weiſe leicht ge— nug überzeugen. Von über 50 Exemplaren, die ich mit der Lupe unterſuchte, als die Blüthezeit ſich ſchon zu Ende neigte (Ende Juli 1877), hatten über zwei Drittel lauter entleerte Pollentaſchen und befruchtete Nar-⸗ ben; von den übrigen hatten nur ein paar einzelne die beiden oberſten Blüthen noch im jungfräulichen Zuſtande, die übrigen nur die oberſte. Honig wird hier von einer grünen Anſchwellung abgeſondert, die ſich von der Mitte der Unterlippe bis zu ihrer Wurzel Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. erſtreckt und da in eine umwallte Fläche am rundlichem Umriſſe verbreitert. Kleine Beſucher, die am untern Ende der Unter— lippe auffliegen und ſich der Anſchwell— ung entlang bis zur umwallten Baſis hin- auflecken, befinden ſich dann mit ihrem Kopfe unmittelbar unter einem der Kleb— ſtoffbeutelchen (r Fig. G) und müſſen, ſo— bald fie nach Beendigung des Honigleckens den Kopf erheben, gegen daſſelbe ſtoßen und ſich den dem Klebſtoffbeutelchen auf— ſitzenden Stiel des Staubkölbchens auf ihren Kopf kitten k). Sobald fie nun wegfliegen, ziehen ſie das Staubkölbchen (po Fig. 6) aus ſeiner Taſche (al) und nehmen es, dem Kopfe aufgekittet, mit ſich. Nachdem daſſelbe ſodann, wie bei vielen anderen Orchi— deen, eine Abwärtsdrehung erlitten hat, wird es in der nächſten Blüthe, die das Inſekt be— ſucht, gegen die Narbe (st) geſtoßen, deren kleb— rige Fläche zahlreiche Pollenpäckchen feſthält. Aus dieſer Befruchtungseinrichtung er— giebt ſich, daß Schmetterlinge als Kreuz— ungsvermittler der Chamaeorchis alpina. gewiß nicht in Betracht kommen, daß viel— mehr nur winzige Fliegen, Käfer oder Hymenopteren die beſchriebene Arbeit leiſten können. Von dieſen aber haben, nach ihren ſonſtigen Lebensgewohnheiten und der Aehn— lichkeit des vorliegenden Falles mit dem von Listera, die Schlupfwespen gewiß die meiſte Wahrſcheinlichkeit für ſich. ) Die den Klebſtoffballen umkleidende Haut iſt äußerſt zart und zerreißt bei ſchwa— chem Anſtoß. Sie wird aber nicht, wie bei Orchis in eine taſchenförmige Unterlippe und zwei an den Stielen der Staubkölbchen haften bleibende Läppchen zerſpalten, ſondern der ſtoßende Gegenſtand nimmt beim Zurück— ziehen ſowohl den ganzen Klebſtoff, als das zarte Häutchen, welches ihn umſchloß, mit hinweg. Müller, Die Juſekten als unbewußte Blumenzüchter. 481 ni b N 0 ll W N _ N ee — \ U Fig. 10. Eine höchſt unſcheinbare Blume, die trotzdem regelmäßig durch Inſektenvermittelung gekreuzt wird, Chamaeorchis alpina. A Seitenanſicht einer (längſt verblühten) Blume. B Eine junge Blüthe, nach Entfernung aller Blüthenhüllblätter mit Ausnahme der Unterlippe, gerade von vorn geſehen. (Die Unterlippe iſt noch ſchräg nach vorn gerichtet und erſcheint daher in dieſer Anſicht bedeutend verkürzt.) C Etwas ältere Blüthe, der Pollinien bereits beraubt. (Die Unterlippe hat ſich nach unten gebogen und erſcheint in voller Ausdehnung.) D Noch weiter vorgerückte Blüthe von der Seite geſehen. (A—D, Vergr. 7: 1.) 6 Die Mitte einer jungen Blüthe von vorn geſehen. E Einzelnes Staubkölbchen von der Seite, F daſſelbe von vorn geſehen. (EG Vergr. 35: 1.) h Honigtröpfchen, rr n Bedeutung der übrigen Buchſtaben wie in Fig. 8. Wie durch den Uebergang vom Pflanzen- anbohren zum Inſektenanbohren aus den Gallwespen die Schlupfwespen, ſo ſcheinen aus dieſen durch die Annahme der Gewohn— heit, die zur Nahrung für die Nachkommen eingefangenen Inſekten durch einen Stich zu lähmen und in einer ſelbſtgefertigten Bruthöhle zu bergen, als neue Familie die Grabwespen hervorgegangen zu fein). Zum Auffinden und Ueberraſchen des erwählten Beutethieres müſſen ſie dieſelbe Unterſcheid— ungsfähigkeit, Umſicht, Ausdauer im Umher— ſuchen und Gewandtheit in ihren Beweg— ungen bethätigen, wie ihre Stammfamilie. Aber durch die Umwandlung des Legeſtachels in eine Angriffs- und Vertheidigungswaffe ſind ſie weit wehrhafter und kühner geworden und durch die Annahme der Gewohnheit, eine Höhle anzufertigen, in dieſelbe, oft aus weiter Entfernung, das gelähmte Beutethier zu ſchleppen, alsdann erſt ein Ei an das— ſelbe zu legen und nun die Höhle zu ſchließen und jede Spur ihres Einganges ſorgfältig zu verwiſchen, haben ſich ihre Lebensthätig— keiten noch viel complicirter geſtaltet, hat ſich ihre Energie, ihre körperliche und geiſtige Befähigung wieder über diejenige der Schlupf— wespen ein bedeutendes Stück erhoben. Wenn wir uns daher in Gedanken in jene Zeit— epoche zurückverſetzen, als die Familie der Grabwespen ſich zuerſt auszubreiten und in eine Mannigfaltigkeit verſchiedener Lebens— formen zu differenziren begann und noch die höchſte Entwickelungsſtufe des Wespen— ſtammes bildete, ſo unterliegt es wohl keinem Zweifel, daß damals die Schlupfwespen auf allen Blumen, auf denen ſich auch die ihnen in jeder Beziehung überlegenen Grab— wespen einfanden, dieſen den Vorrang ein— räumen, daß ſie mithin an allen Orten, ) Siehe Bienenzeitung, die angeführ— ten Nummern. — | | Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. wo auch Grabwespen ihren Wohnſitz auf— ſchlugen, ihren blumenzüchtenden Einfluß ganz oder größtentheils an dieſe abtreten mußten. Und wenn auch weder die Ge— ſchmacksrichtung der Grabwespen eine eigen— artige, anderen Blumenbeſuchern antipathi— ſche geworden war (wie bei vielen Dipteren), noch ihre Mundtheile ſich derart einſeitig aus— gebildet hatten, daß ſie dadurch ſich in den Alleinbeſitz des Honigs gewiſſer Blumen hätten ſetzen können (wie die Schmetterlinge), ſo hatten ſie doch mit der Gewohnheit, Bruthöhlen zu graben und häufig in ſolche hinein zu kriechen, die Befähigung und Neig- ung zu Bewegungen gewonnen, deren andere Blumenbeſucher nicht fähig waren, und dieſe Bewegungen ſetzten ſie in den Stand, ſich Blumen zu ihrem alleinigen Genuſſe zu züchten. Ungemein zahlreiche Blumenformen der Jetztzeit erfordern zur Gewinnung des Honigs ein Hineinzwängen des Kopfes zwiſchen eng aneinderſchließende Theile, wie es die Grabwespen und Bienen beim Graben ihrer Bruthöhlen oder beim Eindringen in dieſelben, wenn ſie theilweiſe verſchüttet ſind, fortwährend ausüben müſſen, z. B. die Papilionaceen, viele Scrophulariaceen (Pedi- cularis, Linaria etc.), Boragineen (Borago, Symphytum, Anchusa ete.), Reseda, Polygala, Viola und viele andere. Andere Blumen machen ein mehr oder weniger vollſtändiges Hineinkriechen in wagerechte oder ſchräg abwärts gehende Röhren noth— wendig, wie es allen Bruthöhlen grabenden Hymenopteren geläufig iſt, z. B. die Labia⸗ ten, Coelanthe (Gentiana), Digitalis, An- tirrhinum u. A. Wieder andere erheiſchen das Hineinſtecken des Kopfes oder Rüſſels in einen engen Eingang von unten her, alſo dieſelbe Bewegung, welche die in dürren Brombeerſtengeln niſtenden Grabwespen und Bienen machen müſſen, wenn die Enden dieſer Stengel nach unten hangen, fo z. B. Vaccinium, Erica u. A. Alle ſolche Blu- men werden überwiegend, in normaler Weiſe ſogar faſt ausſchließlich, von höhlengraben— den Hymenopteren ausgebeutet und befruchtet, offenbar, weil andere Blumenbeſucher die dazu erforderlichen Bewegungen nicht zu leiſten vermögen. Sie können alſo auch erſt zur Ausprägung gelangt ſein, nachdem die Entwickelung des Wespenſtammes bis zur Ausbildung der Grabwespen fortge— ſchritten war. Und wenn auch heute alle dieſe Blumen vorwiegend von Bienen be— ſucht und befruchtet werden und nicht wenige derſelben (z. B. Iris Pseudacorus, Lami- um album Pedicularis ꝛc.) der Körperform der Hum— meln aufs Engſte angepaßt ſind, ſo müſſen wir es doch als in hohem Grade wahr— ſcheinlich betrachten, daß der Anfang ihrer Züchtung bereits von Grabwespen gemacht worden iſt, ehe noch eine einzige Biene als Mitarbeiterin in der Blumenwerkſtatt er— ſchienen war. Denn fo gewiß die Grab wespen an Eifer und Tüchtigkeit im Auf⸗ ſuchen des Blumenhonigs alle vorhergehen— den Wespenfamilien — auch diejenigen der Schlupfwespen — und ebenſo alle übrigen kurzrüſſeligen Blumenbeſucher weit hinter ſich laſſen, ſo gewiß mußte es damals, als die Grabwespen an der Spitze der Wespen— ausbildung ſtanden, Blumen von entſchei— dendem Vortheile ſein, gerade auf ſie eine beſondere Anziehungskraft auszuüben. Solche Blumenabänderungen, welche zur Gewinn— ung ihres Honigs die eine oder andere der ſo eben angeführten Bewegungen erforderten und dadurch anderen Blumenbeſuchern un— bequem oder unzugänglich wurden, hatten alſo, da ſie den Grabwespen vorzugsweiſe oder allein ihren Honig verwahrten, alle Kos mos, Band III. Heft 6. Müller, Die Inſekten als und viele andere Labiaten, Ausſicht, von diefen mit Vorliebe ausgewählt, unbewußte Blumenzüchter. 483 erfolgreich fortgepflanzt und in ihrer eigen- artigen Geſtaltung weiter gezüchtet zu werden. In welcher Ausdehnung ſich die Grab— wespen beſondere Grabwespenblumen ge— züchtet haben, nachdem ſie die Schlupfwespen an ihren meiſten Wohnſitzen als Blumen- züchter aus dem Felde geſchlagen hatten, das läßt ſich heute nicht mehr ermeſſen. Bis zu welchem Grade der Unvegelmäßig- keit und einſeitigen Anpaſſung aber bereits in jener Grabwespenzeit die Blumenzücht— ung gelangt ſein mag, davon können wir vielleicht eine annähernd richtige Vorſtellung gewinnen, wenn wir diejenigen ihren Honig verſchließenden oder in einer zum Hinein- kriechen einladenden Röhre bergenden Blu— menformen ins Auge faſſen, welche noch heute von Grabwespen mit Vorliebe be- ſucht werden, und welche, wenn es keine Bienen gäbe, uns auch ſchon als Anpaſſ— ungen an Grabwespen durchaus verſtänd— lich ſein würden, wie z. B. Bryonia, Rese- da, Melilotus, Thymus, Salvia silvestris, Veronica spieata u. dgl. Ob eine oder die andere dieſer Blumenformen wirklich ſo wie ſie uns heute vorliegt, urſprünglich von Grabwespen gezüchtet und ſpäter un- verändert in den Mitbeſitz der Bienen über— gegangen iſt, dürfte ſich ſchwerlich entſchei— den laſſen; aber als wahrſcheinlich muß jedenfalls zugeſtanden werden, daß die Zücht— ung der Papilionaceen und Labiaten, welche durch ihre reiche Verzweigung ein hohes Alter bekunden und in ihren einfachſten Formen noch jetzt von Grabwespen ſo gut wie von Bienen beſucht und befruchtet wer— den und beiden gleich gut entſprechen, ſchon von den Grabwespen begonnen worden iſt, daß alſo die erſten Labiaten und Papilio⸗ naceen Grabwespenblumen geweſen ſind. Heute giebt es, ſoweit uns bekannt iſt, keine einzige Blume mehr, die ausſchließ— 484 lich oder auch nur vorwiegend von Grab— wespen befruchtet würde. Denn ebenſo wie die Grabwespen ihre Stammeltern, die Schlupfwespen, an Leiſtungsfähigkeit über— holt und aus ihrem entſcheidenden Einfluſſe in der Blumenwerkſtatt verdrängt haben, ebenſo, nur weit gründlicher, ſind ſie ſelbſt von der aus ihnen hervorgegangenen Familie der Bienen wenigſtens in Bezug auf Blumen— tüchtigkeit überholt und als Blumenzüchter faſt unmöglich gemacht worden. Die An— nahme der Gewohnheit, als Larvenfutter anſtatt lebender Beute Blüthenſtaub und wespen zu Stammeltern der Bienenfamilie geworden ſind ), hat dieſen Umſchwung mit innerer Nothwendigkeit herbeigeführt. Denn er vervielfältigte ihr Bedürfniß au Blumen- nahrung und lenkte den ganzen Fleiß und Honig einzutragen, durch welche gewiſſe Grab die ganze Ausdauer, welche von den Stamm eltern auf die Auffindung und Ueberwäl— tigung lebender Inſekten verwendet worden längerung der Zunge gekommen iſt (bei folgreiche Ausbeutung des Blüthenſtaubes war, auf die Aufſuchung und möglichſt er— und Honigs. Daß ſchon der bloße Ueber— gang zu der den Bienen eigenthümlichen Brutverſorgung dieſe Wirkung gehabt hat, verräth ſich in unzweideutigſter Weiſe, wenn man Bienen, die noch durchaus auf der Organiſationshöhe der Grabwespen ſtehen mit Grabwespen in ihrer Thätigkeit auf denſelben Blumen vergleicht, z. B. Proso- pis und Cerceris-Arten auf Reseda. Es zeigt ſich dann deutlich, daß die erſteren lich durch die Steigerung des Fleißes und ) Vergl. H. Müller, Anwendung der Darwin'ſchen Lehre auf Bienen. Verhand— lung des naturhiſtoriſchen Vereins für die | mit denſelben Werkzeugen vielmal mehr | leiſten als die letzteren — offenbar ledig- Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. der Ausdauer, durch die Concentration ihrer ganzen Energie auf das Einſammeln und ſorgfältige Unterbringen der Blumennahrung. Natürlich aber hat ſich mit jeder Vervollkomm— nung ihrer der Gewinnung von Blüthen— ſtaub und Honig dienenden Werkzeuge auch ihre Leiſtungsfähigkeit noch geſteigert, und es mußte ja jede Abänderung, welche eine ſolche Vervollkommnung bewirkte, unaus— bleiblich durch Naturausleſe erhalten und aus— geprägt werden, ſobald einmal die Sicher— ſtellung der Nachkommenſchaft einzig und allein von der Beſchaffung und ſicheren Berg— ung des Blüthenſtaubes und Honigs ab— hängig geworden war. Während daher bei den Grabwespen, da ſie nur zu ihrer eigenen Beköſtigung Blumennahrung und zwar meiſt nur Honig benutzen, auch nur die Honiggewinnung erleichternde Abänder— ungen der Mundtheile einige Ausſicht hatten, durch Naturausleſe gezüchtet zu werden, und es in der That nur zu einer mäßigen Ver— Ammophila sabulosa bis zu 4, bei Bem— bex rostrata bis zu 7 Millimeter), mußte dagegen bei den Bienen jede Vervollkomm— nung ſowohl der Pollen- als der Honiggewinn⸗ ung in dem durch die lebhafteſte Concurrenz geſteigerten Wettkampfe um das Daſein in erſter Linie entſcheidend werden; und ein Heer mannigfachſter Abſtufungen, von der kurzen ſtumpfen Grabwespenzunge der Pro— sopis bis zu dem enorm verlängerten com— plicirten Saugrohre der ſchwebend ſaugen— den Eugloſſen und von der nackten Chitin— haut vieler Grabwespen bis zu dem dichten Federhaar-Kleide, den ausgeprägten Schienen— bürſten und Sammelkörbchen der Hummeln, legt noch heute Zeugniß ab von dem außer— ordentlich fruchtbaren Felde, das ſich in der preußiſchen Rheinlande und Weſtphalen 1872 Wirkung der Naturzüchtung dargeboten hat. S. 1—96. 3 Familie der Bienen der vervollkommnenden 485 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Dieſe außerordentliche Steigerung der von Bienen nach Blumennahrung abgeſtreift Blumentüchtigkeit ward nicht nur den Bienen, würden, während ja Schlupfwespen ſchattige die fie erlangten, von entſcheidendem Vortheil, Wälder und Gebüſche vor ihren ſonnnelie— ſie konnte nicht verfehlen, dieſelben alsbald benden Epigonen voraus haben. auch zu den den Pflanzen nützlichſten Blumen— Nur eine einzige Eigenthümlichkeit der beſuchern und damit zu den wirkſamſten Grabwespen würde überhaupt, ſoweit wir Blumenzüchtern zu machen. Schon ihre viel die Sachlage überblicken können, im Stande größere Emſigkeit und Ausdauer mußte da- ſein, ihnen den Alleinbeſitz gewiſſer Blumen hin wirken. Ueberdies aber wurde auch der zu ſichern, die Gefürchtetheit ihres den ganzen Bienenleib umkleidende Wald von Stachels, und es empfiehlt ſich, auch die gefiederten Haaren, der ſich zunächſt zu ihrem möglichen Wirkungen dieſer Eigenthümlich— eigenen Vortheile, eine müheloſe Steigerung keit erſt noch in Betracht zu ziehen, ehe wir der Pollenernte bewirkend, ausgebildet hatte, | uns zu den höchſten Blumenleiſtungen des auch für die Kreuzung der Pflanzen von Wespenſtammes, den Züchtungsprodukten der hervorragender Bedeutung, da er viel leich- Bienen, wenden. Delpino ſah Asclepias ter, als die nackte oder ſpärlich mit einfachen syriaca, welche auch bei uns häufig in Gärten Haaren bekleidete Körperoberfläche der Grab- cultivirt und da von Bienen, Wespen und wespen Pollen in ſich aufnimmt und an die Fliegen beſucht wird, bei Florenz beſonders Narben anderer Blüthen abſetzt. Selbſt das häufig von den großen, gewaltig ſtechenden gefliſſentliche und maſſenhafte Polleneinfam- Grabwespen Scolia hortorum und bicincta, meln der Bienen hört auf, eine Schädigung daneben nur von der Honigbiene und der der Pflanze zu ſein, ſobald die Kreuzung italieniſchen Hummel beſucht. Es unterliegt derſelben durch regelmäßiges Berührtwerden wohl kaum einem Zweifel, daß eine Stei— ihrer Narben von dem pollenbehafteten Haar— | gerung des Scolia-Bejuchs auch die beiden ein— kleide der beſuchenden Bienen geſichert ift, und zigen ſonſtigen Beſucher noch verſcheuchen der Akt des Pollenplünderns ſelbſt dient oft und Asel. syriaca an gewiſſen Localitäten gleichzeitig der Pflanze als wirkſamſte Kreuz- zur reinen Grabwespenblume machen könnte, ungsvermittlung, wie z. B. wenn Megachile | während fie in anderen, an gefürchteten Grab— lagopoda mit ihrer Bauchbürſte von den wespen ärmeren Gegenden einem gemiſchten Blüthenkörbchen von Cirsium eriophorum Beſucherkreiſe ausgeſetzt bleiben würde. oder Onopordon Acanthium den Pollen zu- Ein ganz ähnlicher Fall wie dieſer in ſammenfegt, oder wenn Hummeln an Königs- Bezug auf die Grabwespen als möglich hin— kerzen (Verbascum) von Blüthe zu Blüthe lie- geſtellte hat ſich in Bezug auf die eigent- gen und von den Staubgefäßen den Pollen indie lichen Wespen (Vespa) mehrfach verwirklicht. Sammelkörbchen ihrer Hinterſchienen ftreifen. | Serophularia und Symphoricarpus näm— Es iſt daher leicht begreiflich, daß von lich beſitzen beide ſo weitmündige Blumen— den Bienen die Grabwespen als Blumen- glöckchen, daß ein Wespenkopf ſehr bequem züchter vollſtändig aus dem Felde geſchlagen in dieſelben geſtreckt werden kann, und dabei worden ſind, noch vollſtändiger als von dieſen ſo reichliche Honigabſonderung, daß ſich die ihrer Zeit die Schlupfwespen, und zwar ſtürmiſchen, zum emſigen Sammeln kleiner deshalb noch vollſtändiger, weil es keine Honigtröpfchen durchaus nicht geneigten Wes— Grabwespenwohnplätze giebt, die nicht auch | pen zu dieſer lohnenden Ausbeute ganz be- 486 Müller, Die Inſekten als ſonders hingezogen fühlen und durch ihren häufigen Beſuch nicht ſelten die übrigen In— ſekten (Bienen und Grabwespen), denen der Honig ebenfalls zugänglich wäre, zurück— ſcheuchen. In wespenreichen Gegenden (3. B. bei Mühlberg in Thüringen) werden daher beide fo überwiegend von Vespa- und Po- listes-Arten beſucht, daß fie durchaus den Namen Wespenblumen verdienen. In wespenärmeren Gegenden (z. B. bei Lipp— ſtadt) herrſchen an Symphoricarpus als Blumengäſte und Kreuzungsvermittler ganz entſchieden die Bienen vor, während Sexo— phularia ſelbſt hier ganz überwiegend von Wespen beſucht wird. Es liegt daher die Vermuthung nahe, daß die von allen Bienen— blumen abweichende ſchmutzigbraune Farbe, kuglige Form, weite Eingangsöffnung und vielleicht auch die reichliche Honigſpende der Serophularia-Blüthen von den Wespen ſelbſt, denen ſie ſo ſehr gefallen, gezüchtet worden ſind. Dieſe Vermuthung gewinnt noch ſehr bedeu- tend an Wahrſcheinlichkeit, wenn wir ſehen, daß auch Epipactis latifolia, die bis jetzt ganz ausſchließlich von Wespen beſucht gefunden wurde ), dieſelben Liebhabereien ihrer Züchter bekundet, indem ſie in der ebenfalls dunkel— gefärbten, ebenfalls weit geöffneten halb- kugeligen Schale der Unterlippe ebenfalls reich— lichen Honig abſondert. Wenn es hiernach den ächten Wespen wirklich gelungen iſt, durch die Gefürchtetheit ihres Stachels (denn nur ſaus dieſer Urſache läßt ſich das Zurückbleiben der übrigen Gäfte | erklären) ſich in den Alleinbeſitz gewiſſer Blumen zu ſetzen und dieſelben, ihren be— ſonderen Neigungen entſprechend, in eigen— 7 Siehe Darwin ss Orchideenwerk. 3 unbewußte Blumenzüchter. nur in wärmeren, an gefürchteten Grab— wespen reicheren Gegenden wird nach den— ſelben zu ſuchen ſein. Alle bisher betrachteten Hymenopteren— familien zuſammen genommen haben der heutigen Blumenwelt, wie ſich uns gezeigt hat, nur ſehr vereinzelte Proben ihrer blumen— züchtenden Thätigkeit hinterlaſſen, obwohl zwei derſelben, die Schlupfwespen und die Grabwespen, wahrſcheinlich ihrer Zeit in um— faſſender Weiſe als Blumenzüchter gewirkt haben. So vollſtändig ſind die Bienen erſt in den Mitbeſitz ihrer Züchtungsprodukte getreten und haben dieſelben ſodann, in dem Grade als die ſtufenweiſe Vervollkommnung ihrer Organiſation und Blumeneinſicht ſie dazu befähigte, ihren eigenen Neigungen und Bedürfniſſen entſprechend weiter ge— züchtet! In Folge der großen Verſchie— denheit ſowohl der Ausgangspunkte der Zücht— ung als der Züchter ſelbſt ſind die Züchtungs— produkte der Bienen, die Bienenblumen, ſo außerordentlich mannigfaltig, daß wir uns hier darauf beſchränken müſſen, an allbe— kannten Beiſpielen der heimiſchen Flora einige derjenigen Blumengebilde anzudeuten, durch deren Züchtung es den Bienen überhaupt, oder den langrüſſeligeren oder langrüſſeligſten Arten derſelben insbeſondere, gelungen iſt, die übrigen Blumenbeſucher vom Genuſſe des Honigs, bisweilen auch des Blüthen— ſtaubes, abzuhalten und dennoch für ſich ſelbſt jede Verzögerung, welche die ſorfältige Berg— ung dieſer Genußmittel ihnen verurſachen könnte, nach Möglichkeit zu erſparen. Bei Schneeglöckchen, Spargel, Maiblüm— chen iſt es einfach die nach unten gekehrte thümlicher Weiſe weiter zu züchten, ſo dürfen wir gewiß die Möglichkeit nicht bezweifeln, daß auch heute noch gewiſſe Blumen als Grabwespenblumen beſtehen können. Aber Stellung der Blumenglocken, welche alle In— ſekten außer den höhlengrabenden Hymenop— teren vom Beſuche der Blumen zurückhält. Thatſächlich wurden nur Bienen an ihnen be— obachtet. Bei Convallaria multiflora hat ſich “Änjn U¹âL;:ũʃñ Ü — Y ˙—Ü nn nn 2 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenz üchter. durch bloße Verlängerung der Blumenröhre der Beſucherkreis auf die langrüſſeligſten Hummeln beſchränkt. In der Familie der Ranunculaceen haben ſich bei Eranthis und Helleborus die Bienen aus der Mannigfaltigkeit von Nek— tarienformen, die uns bei Ranunculus pyre- naeus (Fig 5.) entgegentrat, die ihnen am beſten paſſende Täſchchen- und Schlauchform als conſtante Eigenthümlichkeit gezüchtet; bei Nigella ſind ſogar mit Deckel verſchloſſene Honigbehälter erzielt worden, zu deren Oeff— nung und Entleerung alle Nicht-Bienen zu dumm ſind. Endlich liefern uns die allbe— kannten Blumen von Aklei (Aquilegia), Rit⸗ terſporn (Delphinium) und Eiſenhut (Aco- nitum) bewundernswerthe Belege dafür, was ſo eifrige und einſichtige Blumenzüchter wie die Hummeln ſelbſt aus Ranunculus-Blüthen zu machen wiſſen. Und wie ſehr die Pflan— zen ſelbſt dabei gewonnen haben, daß ihre Blumen die begünſtigten Lieblinge der lang— rüſſeligſten Hummeln geworden, und von dieſen, wenigſtens was den Honig anbetrifft, daß die meiſten derſelben ſelbſt die Mög— lichkeit der Selbſtbefruchtung verloren haben,?) während alle einem weiteren Beſucherkreiſe zugänglichen Ranunculaceen dieſelbe als Noth— entbehren können. Bei den Papilionaceen iſt es das enge Zuſammenſchließen und zum Theil Ver— die nur den höhlengrabenden Wespen eigenen ) Durch ausgeprägte Proterandrie, welche natürlich unabhängig von der Blumenauswahl der Hummeln, durch Naturzüchtung, zu den von den Hummeln gezüchteten Merkmalen hin— zugetreten iſt. 487 Bewegungen erheiſcht, wenn es auch den dünnen Schmetterlingsrüſſeln nicht ſelten ge— lingt, in den ſo ſorglich verwahrten Blüthen— grund einzudringen und von dem dort auf— geſpeicherten Honig zu naſchen. Auf den ſeitlichen Blumenblättern (Flügeln) mit den Beinen ſich feſthaltend, müſſen nämlich die Grabwespen oder Bienen ihren Kopf unter die Fahne zwängen (gerade ſo wie ſie es beim Eindringen in eine enge Oeffnung zu thun gewohnt ſind, die ſie zur geräumigeren Höhle erweitern wollen), um mit der Rüſſel— oder Zungenſpitze eines der beiden Honig— löcher zu erreichen. Und da dieſe Blumen— eigenthümlichkeit unmittelbar nur ihnen ſelbſt zu gute kommt, ſo unterliegt es keinem Zweifel, daß ſie ſich dieſelbe auch ſelbſt gezüchtet haben — durch Bevorzugung derjenigen Blumen— abänderungen, die ihnen allein den Honig verwahrten. Gleichzeitig aber mit dieſer durch die Grabwespen oder Bienen gezüchteten Eigenthümlichkeit müſſen ſich durch von ihrer Wahl unabhängige Naturausleſe jene weiteren Eigenthümlichkeiten der Schmetterlingsblüthen zu ihrem ausſchließlichen Gebrauche ge⸗ züchtet worden ſind, beweiſt die Thatſache, ausgeprägt haben, welche die in der beſchrie— benen Weiſe arbeitenden Gäſte erſt zu regel— mäßigen Kreuzungsvermittlern machen: die Verwachſung der beiden unteren Blumen- | blätter zu einem Staubgefäße und Stempel umſchließenden Schiffchen, das Hervorragen behelf bei ausbleibendem Inſektenbeſuche nicht der Narbe über die Staubgefäße und die Vereinigung der Flügel mit dem Schiffchen zu gemeinſamer Bewegung. Denn ohne dieſe würden auch jene erſteren Bildungen der wachſen der Blüthentheile, welches, wenig- ſtens zu voller Ausbeutung der Genußmittel, Pflanze nutzlos, würde es alſo den bethei— ligten Juſekten unmöglich geweſen ſein, ſich dieſelben zu züchten. Wenn unſere Vermuthung richtig iſt, daß die erſten und einfachſten Papilionaceen, etwa bis zur Organiſationshöhe von Meli- lotus, Grabwespenblumen waren, ſo unter— liegt es keinem Zweifel, daß ebenſo wie ihre 488 ſorgfältige, eine Grabwespenarbeit nöthig machende Bergung des Honigs ausſchließlich der Blumenauswahl der Grabwespen, ihr Beſtäubungsmechanismus ausſchließlich der von der Wahl derſelben unabhängigen Natur- züchtung ſeine Ausprägung verdankt, da ja Grabwespen von dem Blüthenſtaub, der etwa an ihnen haften bleibt, keinen Gebrauch machen. Im ſpäteren Verlaufe der Blumen— entwickelung aber, nachdem die Bienen in den Mitbeſitz der Papilionaceen-Blumen ein— getreten waren und von den meiſten derſel— ben, durch die von ihnen gezüchtete Ver— längerung der zuſammenſchließenden Theile, ſogar die Grabwespen ausgeſchloſſen hatten, iſt bei der Ausprägung der complicirten Be— ſtäubungsmechanismen (der Nudelpumpen— einrichtung wie ſie Lotus, der Pollen her— ausfegenden Bürſten, wie ſie Lathyrus, Vicia, Phaseolus, der losſchnellenden Me— chanismen, wie fie Genista und Sarotham- nus darbieten) die Blumenauswahl der Pollen ſammelnden Bienen eben ſo ſehr als die von ihrer Wahl unabhängige Naturzüchtung be— theiligt geweſen. Wie bei den Papilionaceen das enge An— einanderſchließen den Honig verdeckender Blü— thentheile, ſo iſt bei den Labiaten das Verſchmelzen der Blumenblätter zu einer wagerechten oder (vom Eingange aus betrach— tet) ſchräg abwärts gehenden Höhle von den höhlengrabenden Hymenopteren (Grabwespen und Bienen) zur Züchtung ihnen allein zu- gänglicher Blumenformen benutzt worden. Auch hier ſind die einfachſten Formen (3. B. Mentha) nicht nur allen Bienen ohne Aus— nahme, ſondern auch noch den Grabwespen paßt nicht nur als Wetterdach für die unter zugänglich. Von dieſen aus führen aber verſchiedene Stufenreihen immer höher, bis endlich zu den ausgeprägteſten Hummelblu— men, die ihren reichen Honigvorrath ebenſo allen Nicht-Hummeln unzugänglich, als allen Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter— oder auch nur den langrüſſeligeren Hummeln (einſchließlich natürlich Anthophora) leicht und ohne Zeitverluſt gewinnbar bergen. Was für mannigfache Ausrüſtungen zuſammen— kommen müſſen, ehe dieſes Reſultat und zugleich unausbleibliche Kreuzung bei ein— tretendem Hummelbeſuch erreicht iſt, werden wir uns am zweckmäßigſten an dem den ganzen Sommer hindurch der Beobachtung eines Jeden leicht zugänglichen Lamium album deutlich zu machen ſuchen, deſſen natürliche Befruchtung ich bereits vor einigen Jahren in der Bienenzeitung (1875 Nr. 8 u. 9) mit folgenden Worten geſchildert habe: „Durch die weiße Farbe von weitem nach den Taubeneſſelblüthen hingelenkt, flie— gen die Hummeln ohne Verzug nach dem dunkler erſcheinenden Eingange einer Blüthe hin, und zwar ſofort in der zur Honigge— winnung paſſendſten Stellung, da ihnen die— ſelbe durch die als bequeme Anflugfläche ſich darbietende Unterlippe vorgezeichnet wird; fie ſtecken ſogleich im Anfluge den Kopf zwiſchen den beiden breiten Seitenlappen des in Form und Weite ihnen gerade entſprechenden Blütheneinganges hinein, indem zugleich die Vorderbeine auf der Baſis der Unterlippe vorrücken und Mittel- und Hinterbeine ſich an den beiden Lappen der Unterlippe feſt— halten, und gelangen fo. mit ihrem Rüſſel unmittelbar in den honigführenden Grund der etwa 10—11 mm langen Blumenröhre. Während ſie nun ſaugen, füllt ihre Bruſt, bei kleineren Arbeitern auch noch der Bauch, den Zwiſchenraum zwiſchen Oberlippe und Unterlippe gerade aus, und die rings— um abwärts gewölbte Form der erſteren ihr liegenden Geſchlechtstheile, ſondern auch zum Umſchließen des Hummelleibes ſo vor— trefflich, daß die Oberſeite deſſelben gegen die Narbe und gegen die geöffnete Seite der Staubbeutel gedrückt bleibt. Durch die be— queme Anflugsfläche, durch die dem Hummel— kopfe entſprechende Form und Weite des Blumeneinganges und durch die der Hummel— rüſſellänge entſprechende Länge der honig— führenden Blumenröhre wird alſo den Hum— meln ein raſches und erfolgreiches Honigge— winnen ermöglicht; dies iſt aber den Pflanzen ſelbſt von größtem Vortheile, da es zugleich ein eben ſo raſches und erfolgreiches Fremd— beſtäuben der Blüthen mit ſich bringt. Unter dem gewölbten Wetterdache der Oberlippe liegen nämlich, mit der pollenbedeckten Seite nach unten gekehrt, die vier Staubgefäße, und zwiſchen ihnen ragt der eine Aſt des am Ende zweitheiligen Griffels nach unten hervor. Die Spitze dieſes hervorragenden Griffelaſtes iſt es, welche Blüthenſtaubkörner empfangen muß, wenn die Befruchtung ein— geleitet werden ſoll; ſie iſt es aber auch zu— gleich, welche von dem Rücken anfliegender Hummeln regelmäßig zuerſt berührt, und daher mit dem Pollen früher beſuchter Blumen behaftet wird. Denn da der Hummelleib den Zwiſchenraum zwiſchen Ober- und Unter— lippe gerade ausfüllt, wird ſein Rücken in jeder Blüthe gegen die pollenbehaftete Unter- ſeite der Staubgefäße gedrückt, und zahlreiche Pollenkörner bleiben daher in dem dichten Haarwalde des Nückens haften; da aber bei jedem Hummelbeſuche die hervorragende Spitze des abwärts gebogenen Griffelaſtes früher mit dem Hummelrücken in Berührung kommt als die Staubgefäße, ſo wird dieſe als Narbe dienende Spitze in jeder Blüthe (natürlich mit Ausnahme der zuerſt beſuchten) ſtets mit Blüthenſtaub vorherbeſuchter Blüthen befruchtet; es wird alſo durch die Hummeln regelmäßig die für die Erzeugung zahl— reicher und entwicklungsfähiger Samenkörner weſentliche Fremdbeſtäubung bewirkt. Hiermit ſind indeß die merkwürdigen Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. 489 Anpaſſungen der Taubeneſſelblüthe an die Hummeln noch nicht erſchöpft. Es würde nämlich ja zur Sicherung regelmäßigen Hum⸗ melbeſuches und regelmäßiger Fremdbeſtäub— ung durch denſelben durchaus nicht genügen, daß die Hummeln den honigreichen Blüthen— grund raſch und bequem erreichen können, ſie müſſen vielmehr auch wirklich Honig in demſelben finden, wenn ſie ſich zu wiederhol— ten Beſuchen veranlaßt fühlen ſollen. Alle bis— her erörterten ſchönen Anpaſſungen der Taube— neſſelblüthen an die Hummeln würden daher der Pflanze wenig nützen, wenn auch die zahl— loſe Schaar kleinerer blumenbeſuchender Inſek— ten, deren Körper den Zwiſchenraum zwiſchen Ober- und Unterlippe bei weitem nicht ausfüllt, und welche daher zur Bewirkung regelmäßiger Fremdbeſtäubung der Taubeneſſel ungeeignet ſind, den Honig derſelben erlangen könnten; denn dann würden die Hummeln die Taube— neſſelblüthen faſt ſtets ſchon ihres Honigs entleert finden und ſehr bald die ihnen nutz— loſe Arbeit aufgeben. Der Ausſchluß der ungebetenen Gäſte wird nun durch zweierlei Einrichtungen thatſächlich bewirkt, nämlich 1) werden die größeren derſelben, welche zwar zu klein ſind, um als Befruchter der Taubeneſſeln dienen zu können, aber doch zu groß, um ganz in ihre Blumenröhre hinein— zukriechen, wie z. B. die Honigbiene und zahlreiche Fliegen, durch die (etwa 7 mm betragende) Länge des ſenkrecht aufſteigenden Theils der Blumenröhre verhindert, mit ihrem Rüſſel bis zum Honige zu gelangen. Die Honigbiene z. B. hat einen nur 6 mm langen Rüſſel; ſie würde alſo, ſelbſt wenn ſie den Kopf noch ein Stück in den ſenk— rechten Theil der Blumenröhre hineinſteckte, den Honig nicht erreichen können, da derſelbe nur in dem unterſten, vom Stengel ſchräg abſtehenden 3—3'/; mm langen, engeren Stücke der Röhre enthalten iſt; 2) aber + 490 werden alle noch kleineren ungebetenen Gäſte, welche mit Leichtigkeit ganz und gar in die Blumenröhre hineinkriechen können, wie z. B. die Ameiſen, durch einen dichten Ring nach oben zuſammenneigender Haare, welcher den unterſten honigführenden Theil der Röhre überdeckt, verhindert, bis zum Honige zu gelangen.“ Nach ſo ausführlicher Darlegung Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. der Bedeutung aller einzelnen Stücke bedarf es keines beſonderen Hinweiſes mehr, welche derſelben durch die Blumenauswahl der Hummeln, welche durch die von ihrer Wahl unabhängige Naturzüchtung und welche durch die combinirte Wirkung beider Züchtungen zur Ausprägung gelangt ſind. Fig. 11— 13. Ausbildung regelmäßiger Bienenblumen in der Familie der Ericaceen. Fig. 11. Azalea procumbens. A Blüthe von oben geſehen. Vergr. 7: 1. B, C Die Staub- gefäße, mit 4 der Blüthenmitte zugekehrten Längsriſſen aufſpringend, etwas ſtärker vergrößert. Fig. 12. Vaccinium Vitis idaea. A Blüthe im Längsdurchſchitte. Vergr. 5: 1. B Staub⸗ gefäß, von innen geſehen. Vergr. 7: 1. C Daſſelbe von der Außenſeite. Fig. 13. Arctostaphylos uva ursi. B Dieſelbe, gerade von unten geſehen. Berar. 7 El. A Blüthe von der Seite geſehen. ( Diejelbe, kurz vor dem Aufblühen, im Aufriß. D Staubgefäß von der Seite geſehen. bedeutet: s Kelchblätter, p Blumenblätter, a Staubgefäße, ov Fruchtknoten, st Narbe, n Nektarium. Vergr. 3: 1. Vergr. 15: 1. — In allen Figuren Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. Während bei Papilionaceen und Labiaten die Anpaſſungen an höhlengrabende Hyme— nopteren von den gemeinſamen Stammeltern ererbt und nur der ſtufenweiſen Vervollkomm— nung derſelben entſprechend weiter gezüchtet worden find, laſſen uns dagegen andere Fa— milien in ihren jetzt lebenden Gliedern noch den ganzen Abſtand der Organiſationshöhe zwiſchen urſprünglichen, allgemein zugäng- lichen und neueren, der ausſchließlichen Aus— nutzung und Kreuzungsvermittlung durch Bienen angepaßten Blumenformen erkennen. So ſtellt uns z. B. in der Familie der Ericaceen Azalea procumbens eine ur- ſprüngliche, allgemein zugängliche, Vacci— nium Vitis idaea (Preißelbeere) eine von den Bienen bereits erfolgreich in Züchtung ge— nommene, aber auch manchen anderen Blumen— gäſten noch zugängliche, Aretostaphylos uva ursi (Bärentraube) endlich eine vollendete Bienenblume dar. In der That find die roſenfarbigen Blüth- | chen, mit denen die auf den kahlen Hoch- jochen der Alpen in zuſammenhängenden Flächen dem Boden dicht angedrückte Azalea procumbens ſich ſchmückt, ſo einfach, offen und regelmäßig (Fig. 11. A) ihre Staub⸗ gefäße (8 C) noch jo wenig differenzirt, ſelbſt die Zahl ihrer Blüthentheile ſo wenig conſtant (ſtatt 5 nicht ſelten 6 in jedem Kreiſe), daß ſie in jeder Beziehung den Eindruck einer urſprünglichen Blumenform macht, die ſich über die gemeinſamen Stammeltern der Ericaceenfamilie nur wenig erhoben haben kann. liegenden Honigs, der von einem die Baſis des Fruchtknotens umſchließenden Ringe (n Fig. A) abgeſondert wird, fand ich — in Meereshöhen von 22— 2800 Meter — bald Fliegen (Musciden und Syrphiden, z. B. Cheilosia), bald Schmetterlinge (z. B. Lycae- na orbitulus Esp., Melitaea dietynna —— ̃ —— ean sn Kosmos, Band III. Heft 6. Mit dem Genuſſe ihres völlig offen 491 Esp. und asteria Frr., Erebia tyndarus Esp., Argynnis pales S. V.), bald Hummeln (Bombus terrestris L. und lapponicus F.) beſchäftigt. Wie weit fortgeſchritten erſcheint dagegen Vaccinium Vitis idaea (Fig 12). Ihre Blumenblätter haben ſich zu einer ſchräg abwärts geneigten, wenn auch noch weit ge— öffneten Glocke zuſammengeſchloſſen, offenbar gezüchtet durch die Blumenausleſe der Bienen die dadurch in den vorwiegenden Beſitz des Preißelbeeren-Honigs gelangt ſind. Ihre Staubbeutel haben ſich dicht um den die Achſe der Glocke bildenden Griffel herum zuſammengelegt und in Röhren verlängert, aus denen bei jedem Anſtoße ein Theil der loſen glatten Vierlingsſporen herausfällt, offenbar in Folge einer von der Wahl der Inſekten unabhängigen Naturzüchtung, da durch dieſe Bildungen nur bewirkt wird, daß die mit ihrem Rüſſel zum Honige vordrin⸗ genden Bienen ſich Blüthenſtaub auf den Kopf ſtreuen und ihn in der nächſtbeſuchten Blüthe auf der Narbe abſetzen, alſo vegel- müßig Kreuzung vermitteln. Und doch iſt auch Vaccinium Vitis idaea noch auf halbem Wege ſtehen geblieben. Denn ihre nicht ſenkrecht, ſondern nur ſchräg abwärts ſtehenden, weit geöffneten Glocken ſind noch manchen nutzloſen Gäſten zugäng— lich, wie z. B. gewiſſen Schwebfliegen (Eri- stalis, Rhingia) die, wenn ſie auch nicht zum Honige gelangen, doch ſchon durch das Hinweglecken der Narbenfeuchtigkeit und durch das Betupfen und Verſchieben der Antheren die Befruchtungsarbeit der Bienen ſtören. Vollendete Bienenblumen bietet dagegen die Bärentraube (Arbutus uva ursi L.) dar. Ihre weite, ſenkrecht abwärts gerichtete Blu— menglocke (Fig. 13.) ſchnürt ſich nach unten hin mehr und mehr zuſammen und geſtattet bloß denjenigen Inſekten den Zutritt zu 63 492 Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. ihrem reichen Honigvorrath, die ſich von unten an die kleinen, wagerecht ausgebreiteten Perigonzipfel feſtzuklammern und einen langen Rüſſel in die kreisrunde Oeffnung (Fig. 13 B) hineinzuſchieben vermögen. Nur aus— geprägte Bienen ſind dazu im Stande, nur ſie können alſo auch dieſe ihnen den Allein— beſitz des Bärentraubenhonigs ſichernden Eigenthümlichkeiten ſich gezüchtet haben. In der That fand ich (im Heuthale am Ber— nina, Auguſt 1877) die Blüthen der Bären— traube ganz ausſchließlich von Hummeln (B. alticola Kr. und B. lapponicus F.) be— ſucht. Aber auch hier hat, von der Aus— wahl der beſeelten Blumenzüchter unabhängig, Naturzüchtung Eigenſchaften hinzugefügt, welche die erfolgreiche eigennützige Thätig— keit derſelben zu einer durch regelmäßige Kreuzungsvermittlung für die Pflanze ſelbſt entſcheidend vortheilhaften machen. Die Narbe (st, Fig. 13. C) bleibt nämlich in der Blumenglocke eingeſchloſſen, rückt aber doch ſo nahe der kleinen Oeffnung derſelben, daß ſie von dem eindringenden Hummelrüſſel un— fehlbar geſtreift und, wenn derſelbe mit Pollen beſtreut iſt, mit dieſem behaftet werden muß. Aber auch das Behaften des zum Honige vordringenden Hummelrüſſels mit Pollen iſt noch mehr als bei der zuletzt be— trachteten Art unausbleiblich geworden. Denn die Staubbeutel ſind zwar, ebenſo wie bei der Preißelbeere, mit nach unten gerichteten Oeffnungen um den Griffel herum zuſammen— gedrängt, aber die ſie tragenden Staubfäden haben durch Dünnbleiben der Baſis und Spitze und Verdickung ihres mittleren Theils (ſiehe Fig. 13. D) ſo an Elaſticität gewonnen, daß ſie zwar leicht aus ihrer Lage gebracht werden können, aber auch ſicher, unter Aus— ſtreuung eines Theils ihres Pollens, in die— ſelbe zurückſchnellen. Und da an jedem Staub— gefäße, ſtatt der beiden Röhren bei der Preißelbeere, zwei lange, umgebogene, mit rauhen Vorſprüngen beſetzte Schwänze durch den Bauch der Glocke gegen deren Wandung hin ſich erſtrecken, ſo iſt es dem Hummel— rüſſel unmöglich, von der kleinen Oeffnung aus durch die Glocke hindurch zum Nektarium vorzudringen, ohne wenigſtens an einen der 20 Schwanzanhänge anzuſtoßen und ſich mit Pollen zu beſtreuen, der dann in der nächſt— beſuchten Blüthe an die Narbe gelangt. Auch dieſer anſcheinend ſo unfehlbar ſicher wirkende Beſtäubungsmechanismus iſt indeß weit ent— fernt, vollkommen zu ſein. Denn ich fand zahlreiche Blumenglocken der Bärentraube von zwei Oeffnungen durchbrochen, die offen— bar von dem Biſſe einer Hummel herrührten. Vermuthlich iſt Bombus mastrucatus Gerst. der Uebelthäter, welche Art ich in den Alpen, noch weit häufiger als in der Ebene B. terres- tris, Honig durch Einbruch gewinnen ſah. In dem ſoeben beſprochenen Falle, ebenſo wie bei Vaccinium Myrtilus, Erica tetralix, Symphoricarpus und überhaupt bei allen Grabwespen-, Wespen- und Bie— nenblumen mit nach unten gerichteten Blu— menglocken, aber auch faſt nur bei dieſen, hat ſich die Ausſchließung der übrigen Gäſte und die immer engere Anpaſſung an die höhlengrabenden Kreuzungsvermittler mit voller Beibehaltung der Regelmäßigkeit der Blumenform vollzogen. In allen Fällen dagegen, in welchen von den Grabwespen oder Bienen eng aneinander ſchließende Blü— thentheile oder ein Hineinkriechen erfordernde Höhlen zur Züchtung ihnen allein gehöriger Blumen benutzt worden ſind, haben dieſe die Regelmäßigkeit eingebüßt und find bi- lateral ſymmetriſch geworden, wie z. B. Pa— pilionaceen und Labiaten, oder ſelbſt völlig unregelmäßig, wie z. B. in der Familie der Scrophulariaceen einige Pedicularis-Arten. Es iſt überhaupt in der geſammten ein— — u u Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. heimiſchen Flora wohl kaum eine andere Pflanzenfamilie geeigneter, die Leiſtungen der Bienen als Blumenzüchter in ein helles Licht zu ſtellen, als diejenige der Scro— phulariaceen. Denn während uns einerſeits die Verbascum- und Veronica - Arten (ſiehe Fig. 14.) auf die einfache, offene, regelmäßige Blumenform der Stammeltern Fig. 14. Veronica urticaefolia. Vergr. 7: 1. 493 hinweiſen, von welcher ſie ſelbſt noch ſo wenig ſich entfernt haben, bieten uns ander— ſeits die Gattungen Digitalis, Antirrhinum, Linaria, Euphrasia, Melampyrum, Bartsia, Rhinanthus, und Pedicularis eine Man- nigfaltigkeit von eigenartigen Züchtungs— produkten der Bienen dar, die zum Theil zu erſtaunlicher Einſeitigkeit der Anpaſſung A Blüthe gerade von vorn geſehen. Der Griffel erſcheint ſehr verkürzt. B Dieſelbe nach Hinwegſchneidung der vorderen Hälfte des Kelches und der Blumenkrone von der Seite, um den Griffel in ſeiner ganzen Länge und natürlichen Stellung zu zeigen. b Fig. 15. Pedicularis asplenifolia. A Blüthe von der linken Seite geſehen. Vergr. 3 1. Der Pfeil bezeichnet die Richtung, in welcher der Hummelrüſſel eindringt. B Dieſelbe Blüthe, nach Entfernung des Kelches, der Unterlippe und der linken Hälfte der Oberlippe, von; der linken Seite geſehen. 0 Fruchtknoten, Nektarium und Griffelwurzel derſelben. D Griffel⸗ ſpitze mit Narbe. Vergr. 7: 1, E Zwei einander zugekehrte Staubgefäße. Bedeutung der Buchſtaben wie in Fig. 11, 12, 13. 494 Müller, Die Inſekten als und vollkommner Sicherung der Kreuz— ungsvermittlung gelangt ſind. An Ein— ſeitigkeit der Anpaſſung aber, im urſprüng— lichſten Sinne des Wortes, geht keine mir bekannte Bienenblume über Pedicularis asplenifolia (Fig. 15.) hinaus, welche ich im Sommer 1877 auf der Alp Falo und im Heuthale am Bernina zu beobachten Ge— legenheit hatte. Die durch dichtzottige Behaarung des Kelchs gegen aufkriechende kleine, flügelloſe Inſekten geſchützten Blüthen ſtehen in merk— würdiger Weiſe gebogen und gedreht am Stengel, ſo daß jede Blüthe ihre rechte Seite dem Stengel zukehrt und faſt anlegt, ihre linke nach außen wendet. Die Unterlippe fällt von rechts nach links ſo ſtark ab, daß ihre Fläche faſt ſenkrecht ſteht. (Fig. 15 A) Hummeln?) können daher nicht von vorn, ſondern nur von der linken Seite in die Blüthe eindringen. Der Pfeil in (Fig. 15 A) bezeichnet die Richtung, in welcher ſie Rüſſel und Kopf hineinſchieben. Die Röhre der Blumenkrone iſt bis zur Einfügung der Unterlippe 7mm lang, die Unterlippe aber von dieſer Stelle an mit ihrem ſchmalen baſalen Theile (auf der linken Seite) noch weitere 3—4 mm aufrecht angedrückt, wo⸗ durch fie den größten Theil des Blüthen— einganges verdeckt. Dadurch iſt zahlreichen nutzloſen Gäſten der Zutritt zum Honige abgeſchnitten. Jede Hummel dagegen vermag mit Leichtigkeit den aufrecht angedrückten Theil der Unter— lippe herabzudrücken und überdieß durch Ausweitung ihrer beiden Einfaltungen den Blütheneingang ſo zu erweitern, daß ihr Kopf, mindeſtens mit ſeinem vorderen Theile, ) Ich beobachtete als regelmäßigen Be— ſucher ſehr wiederholt Bombus terrestris L. 8 ſaugend und Pollen ſammelnd, B. alticola Kr. 8 ſaugend und einmal Plusia gamma L. ſaugend. unbewußte Blumenzüchter. in demſelben Platz findet. Selbſt Bombus terrestris L. mit dem nur 9 mm klangen Rüſſel vermag daher raſch auf normalem Wege zum Honige zu gelangen. Die Staub— beutel liegen, ohne an den Rändern mit Schließhaaren verſehen zu ſein, mit den ge— öffneten Seiten ſo loſe gegen einander, daß ſie bei jeder kräftigen Erſchütterung Pollen herausfallen laſſen. Haare zur Verhinder— ung ſeitlichen Verſtreuens herausfallenden Pollens ſind in den Staubfäden nicht vor— handen. Sie ſind hier auch überflüſſig; denn gegen den Stengel hin bildet die faſt bis in ſenkrechte Lage links abwärts ge— dachte Unterlippe eine Schutzfläche, welche das Verſtreuen verhindert, und von der an— deren Seite kommt der zu beſtreuende Hum— melkopf. Der lange, ſchnabelförmige Fortſatz der Oberlippe hält den Griffel in ſolcher Lage, daß der Kopf der eindringenden Hummel die an ſeinem Ende ſitzende Narbe ſtreifen, alſo, wenn ſie vorher Blüthen getrennter Stöcke beſuchte, fremdbeſtäuben muß, ehe er von neuem mit Pollen beſtreut wird. Auch hier erhellt ohne Weiteres, welche der genannten Eigenthümlichkeiten den Hummeln den Alleinbeſitz des Honigs ſichern und als von ihnen gezüchtet zu betrachten ſind. Während in allen bisher betrachteten Fällen die Bienen neben ihrem überlegenen Blumenverſtande auch ihre körperliche Ge— ſchicklichkeit benutzt haben, ſich den andern Beſuchern mehr oder weniger unzugängliche Blumen zu züchten, ſo beweiſt eine Beo— bachtung meines Bruders Fritz Müller in Südbraſilien, daß ihnen, ebenſo wie ihrer Zeit und an concurrenzfreien Standorten noch jetzt den Schlupfwespen, auch ihre bloße Ueberlegenheit im Auffinden in un— ſcheinbaren Blumen verſteckten Honigs zum Alleinbeſitz gewiſſer Blumen verhelfen kann. Mein Bruder ſchreibt mir nämlich, am 14. März 1873: „Es blüht jetzt hier eine Cucurbitacee (Trianosperma), deren zahl— loſe Blüthen geruchlos, grünlich und ganz unanſehnlich und noch dazu zum größten Theil unter dem Laube der Pflanze ver— ſteckt ſind, aber doch eine ganz beſondere Anziehungskraft auf Bienen zu haben ſcheinen. Es ſummt und brummt an dieſen Pflanzen den ganzen Tag; beſonders iſt es Apis mellifica, die ſich hier einfindet und neben ihr zwei Meliponen.“ Schon dieſe wenigen aus der unabſeh— baren Mannigfaltigkeit der Bienenblumen herausgegriffenen Beiſpiele laſſen erkennen, daß die Bienen ebenſo als Blumenzüchter wie als Honig- und Pollenſammler allen übrigen Inſekten weit überlegen ſind. Wir find nun zu Ende mit der Auf- zählung und Betrachtung derjenigen In— ſektenabtheilungen, welchen es in der ein— heimiſchen Flora“) gelungen iſt, ſich mehr oder weniger vollſtändig in den Alleinbeſitz gewiſſer Blumen zu ſetzen und dieſelben, ihren Bedürfniſſen und Liebhabereieu ent— ſchätzung dieſes Alleinbeſitzes vorzubeugen, wird es gut ſein, auf die thatſächlichen Be— ſchränkungen derſelben nochmals ausdrücklich und eingehender, als es bereits geſchehen iſt, hinzuweiſen. Dadurch dürfte zugleich die von teleologiſcher Seite mit Vorliebe auf— geſtellte Behauptung gegenſeitiger Prä— ) In wärmeren Ländern ſollen außer den hier beſprochenen Inſektenabtheilungen nach Delpino auch Käfer ſich beſondere Blu— menformen gezüchtet haben; doch ſcheinen mir die bis jetzt vorliegenden Beobachtungen des Inſektenbeſuchs der betreffenden Blumen zur Abgabe eines endgültigen Urtheils kaum aus— reichend. Die blumenzüchtenden Vögel, Ko— libris (Trochilus) und Honigvögel (Nectarinia), liegen außerhalb unſeres Themas. Müller, Die Inſekten als unbewußte Blu menzüchter. 495 deſtination gewiſſer Blumen und gewiſſer In⸗ ſekten für einander, noch vollſtändiger als durch die übrigen Auseinanderſetzungen allein, in ihr rechtes Licht geſetzt werden. An dem Genuſſe der Ekelblumen und Fliegenfallenblumen, welche der Kreuzung durch Koth- und Aasfliegen angepaßt ſind, nehmen, ohne Nutzen für die Pflanzen, auch Fäulnißſtoffe liebende Käfer Theil. — Falter⸗ blumen mit offenliegenden Antheren, wie z. B. Nelken und Geisblatt, werden nicht ſelten von pollenfreſſenden Schwebfliegen und pollenſammelnden Bienen ihres Blüthen⸗ ſtaubes beraubt. — Obgleich Silene inflata als ausgeprägte Nachtfalterblume ſich kenn— zeichnet, und in der That auch, nach meiner direkten Beobachtung, des Abends häufig von Eulen beſucht wird (z. B. von Hadena Maillardi Hb., im Suldenthale, von Plusia gamma L. bei Weißenſtein im Albulathale), ſo ſah ich doch in den Alpen auch Hummeln ſehr häufig an derſelben beſchäftigt und in ſehr verſchiedener Weiſe ſich ihrer Nahrungs- ſtoffe bemächtigen. Bald ſammelten ſie den Pollen dieſer Nachtfalterblume (ſo Bombus ſprechend weiter zu züchten. Um einer Ueber- alticola, pratorum und terrestris), bald ſteckten ſie in vielen Blüthen nach einander den Rüſſel und Kopf zwiſchen die Blumen⸗ blätter, offenbar um Honig zu ſaugen (ſo B. alticola, mendax, lapidarius); bis⸗ weilen ſteckten ſie auch den Kopf neben den Blumenblättern in den Kelch, wohl um ein Stück der mit dem Rüſſel zu durchmeſſenden Strecke zu erſparen (B. lapidarius), oder biſſen die Blüthe, mitten durch den Kelch durch, von außen an und ſtreckten dann durch eines der beiden ſo erzeugten Löcher den Rüſſel, um den Honig zu ſtehlen (B. mas- trucatus), oder durchbohrten mit den zu— ſammengelegten Kieferladen den Kelch, um jo zum Honig zu gelangen (B. terrestris), und zwar ſah ich dieſelbe Hummel an der— 1 496 ſelben Blüthe ringsum an drei verſchiedenen Stellen in gleicher Höhe dieſe Durchbohrung und Anſaugung vornehmen. Auch einzelne Tagfalter (Lyeaena icarus und Corydon) ſtreckten ihre Rüſſel in die Blüthen, obgleich ſie offenbar außer Stande waren, den Honig derſelben zu erreichen. Selbſt unſere ausgeprägteſte einheimiſche Schwärmerblume, Lonicera Perielyme- num, muß es ſich gefallen laſſen, daß un— ſere langrüſſeligſte Hummel, B. hortorum, ihr aus einigen Blüthen, wenn auch mit großer Unbequemlichkeit und deshalb ohne Ausdauer, den Honig entwendet. — An der Schlupfwespenblume, Listera ovata, iſt auch ein Käfer (Grammoptera laevis) eifrig beſchäftigt, und einmal ſah ich ſogar eine Hummel (B. agrorum F.), nutzlos für die Pflanze, einige ihrer flachen Honigrinnen auslecken. — Die Wespenblumen werden gelegentlich auch von Bienen und Grabwespen heimgeſucht und die Blumenglöckchen der Schneebeere (Symphoricarpus) von einem Odynerus von außen angebiſſen und durch ungen, nur in den ſeltenſten Fällen, ſich aller „unberufenen“ Eindringlinge vollſtän- Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. dig zu erwehren. In beſonders ſchmetterlings-⸗ reichen Gegenden, wie in den Alpen, ſieht man Falter auch in die Blüthen der Pa- pilionaceen, Labiaten und aller möglichen Bienenblumen, bald ohne, bald mit Erfolg, ihre Rüſſel ſtecken, und in einigen Fällen, wie bet Rhinanthus erista galli und Viola tricolor, iſt es ihnen ſogar, wie wir geſehen haben, gelungen, bereits völlig aus geprägte Bienenblumen zu Falterblumen (Rhinanthus alpinus, Viola calcarata) umzuprägen. Unausgeprägtere Bienenblumen, wie z. N B. Thymus und andere kurzröhrigere Labiaten, müſſen ſich überdieß auch die Concurrenz zahlreicher Fliegen gefallen laſſen. Die ausgeprägteſten Bienenblumen aber, welche ausſchließlich den langrüſſeligſten Hummeln ihren Honig aufſparen, ſind dadurch um ſo mehr der Gefahr ausgeſetzt, durch den gewaltſamen Einbruch einiger kurzrüſſeligen Hummeln ohne Kreuzungsvermittlung ihres Honigs beraubt zu werden. So werden in der Ebene Aquilegia, Dielytra, Corydalis, Trifolium pratense, Symphytum, Lamium album und zahlreiche andere Hummel— blumen von Bombus terrestris, in den Alpen Aconitum Napellus und Lycoc- tonum, Rhinanthus, Prunella grandiflora und andre von Bombus mastrucatus theils angebiſſen, theils angebohrt und durch Dieb— ſtahl mit Einbruch ihres Honigs beraubt. Wie dieſe Beiſpiele, deren Zahl ich leicht vervielfältigen könnte, ſchon hinlänglich deut— lich zeigen, verfolgen die Blumengäſte völlig rückſichtslos nureigenen Vortheil und kümmern ſich nicht im allermindeſten um ihre an— Einbruch des Honigs beraubt. — Selbſt den ausgeprägteſten Bienenblumen gelingt es, trotz der mannigfachſten Schußvorridt- | lingen oder Bienen gelungen, ſich durch gebliche Prädeſtination für gewiſſe Blumen oder gewiſſer Blumen für ſie. Nur verhält— nißmäßig ſelten iſt es daher Fliegen, Schmetter— Züchtung ihrer Lieblingsblumen in den völlig ausſchließlichen Alleinbeſitz derſelben zu ſetzen; in der Regel ſind vielmehr einzelne für die Kreuzungsvermittlung nutzloſe oder weniger wichtige Inſekten anderer Abtheilungen an dem Mitgenuſſe der dargebotenen Genuß— mittel betheiligt geblieben, oder haben ſich, nachdem die ſorgfältigſte Verwahrung der— ſelben gegen unberufene Gäſte bereits erreicht war, räuberiſcher Weiſe nachträglich durch gewaltſamen Einbruch wieder in den Mit— genuß derſelben geſetzt. Für erfolgreiche Züchtung von Blumen aber iſt es, wie wir ebenfalls aus dieſen Beiſpielen erkennen Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. können, ſchon hinreichend, wenn gewiſſe In- ſekten, die ſich beſonders zu ihrer Ausnutz- ung hingezogen fühlen, durch irgend welche Eigenſchaften in den Stand geſetzt ſind, ſich in vorwiegenden Beſitz oder annähernden Alleinbeſitz derſelben zu ſetzen. Dies freilich war bei allen bisher be— trachteten ſpeciellen Züchtungsprodukten be— ſtimmter Inſektenabtheilungen der Fall und würde bei denſelben überhaupt wohl immer der Fall ſein müſſen, wenn es nicht unter den Inſekten eine gewiſſe Geſellſchaft eifriger Blumenbeſucher gäbe, die, mit geringem Nahrungsbedürfniß und ausgeprägtem Schön— heitsſinn ausgeſtattet, ſich in gewiſſe farben— prächtige Blumen förmlich verliebten und dieſelben, unbeirrt durch die Concurrenz zu— fälliger Gäſte, regelmäßig beſuchten. Manche Schwebfliegen, wie z. B. Syrphus baltea- tus), Syritta pipiens, Ascia podagrica, befinden ſich unſtreitig in dieſem Falle, und mehrere ihrer Lieblingsblumen (einige Cir— caea- und Veronica-Arten) find in jo zier— licher Weiſe ihrer eigenthümlichen Beweg— ungsweiſe angepaßt, daß ſie wohl den Namen Schwebfliegenblumen verdienen, ob- wohl ihr nur ſehr flach geborgener Honig und ihr völlig offen dargebotener Blüthen— ſtaub auch von mancherlei anderen Inſekten gelegentlich ausgebeutet wird, die aber dabei gar nicht oder nur zufällig fremdbeſtäubend wirken. Zur Veranſchaulichung kann uns die in den Alpen häufige Veronica ur- ticaefolia (Fig. 14) dienen, deren blaßroſa— farbene Blumen mit einem die Mitte um— ſchließenden ausgezackten weißen Ringe und von dieſem ausſtrahlenden dunkelrothen Linien 497 fliege im Sonnenſchein vor der Blume ſchweben und an ihrer Farbenpracht ſich weiden, dann mit plötzlichem Ruck auf ihr unterſtes Blumen— blatt auffliegen, einige Schritte vorwärts thun, bis ſie die ſo ſcharf ſich abhebende honighaltige Mitte erreicht hat und, um den Honig zu lecken, dicht neben derſelben Halt ſuchen, ſodann nach dem Honiggenuſſe von Neuem im Sonnenſcheine ſchweben, ſtoßweiſe an eine andere Stelle rücken, an anderen Blüthen derſelben Art in gleicher Weiſe ſich ergötzen und ſo fort, ſo hat man ein rich— tiges Bild der Blumenthätigkeit dieſer ſelbſt prächtig gefärbten Fliegen, als deren Zücht— ungsprodukt wir die ſo ſchön ausgeprägte Färbung ihrer Lieblingsblumen zu betrachten haben. Naturzüchtung hat nun in eben ſo einfacher als ſicher wirkender Weiſe Staub— gefäße und Griffel ihren Bewegungen an— gepaßt. Denn ſobald die Schwebfliege mit den Vorderbeinen an der Blüthenmitte Halt ſuchte, bieten ſich ihr als einzige Haltpunkte die verdünnten Wurzeln der beiden Staub— fäden und wenn ſie an dieſen ſich feſt— haltend den Mund zum Honige hinab bewegt, dreht ſie dieſelben im Nu, ohne es zu wollen, ſo, daß ihr die Staubbeutel an die Bauchſeite ſchlagen und dieſe mit Pollen behaften, und ſobald ſie dann ebenſo auf eine andere Blüthe auffliegt, ſetzt fie un— vermeidlich einen Theil dieſes Pollens auf der Narbe derſelben ab.“) ) An Veronica Chamaedrys habe ich verſchiedene Schwebfliegen, namentlich Ascia podagrica, Baccha elongata und Melanostoma I} geziert find. Man denke ſich nun eine Shweb- \ Blütheneinrichtung nur durch etwas kürzeren ) Ich verweiſe auf die Schilderung, welche ich von ihrem Verhalten an Verbascum nigrum gegeben habe. Befruchtung der Blumen S. 278. Anm. | mellina ſehr wiederholt in dieſer Weiſe ver— fahren ſehen, an V. urticaefolia noch nicht. Die letztere iſt aber von der erſteren in ihrer und aufrechteren Griffel, den Mangel der Saftdecke und feſter ſitzende Blumenkrone unter— ſchieden und bietet ganz denſelben Beſtäub— ungsmechanismus dar. 498 Zum Schluſſe drängen wir die allge— meinen Ergebniſſe der vorſtehenden Aus— einanderſetzungen in folgende Sätze zuſammen: 1) Alle unſere Blumen ſind Produkte der combinirten Wirkung zweier verſchie— denen Züchtungsarten. Die unmittelbar nur den beſuchenden Inſekten nützlichen Eigen— ſchaften der Blumen (bunte Farben, Gerüche, Obdach, Genußmittel, Schutzmittel derſelben gegen unberufene Gäſte und Wetterungunſt, Erleichterungsmittel für ihre Ausbeutung durch die berufenen Gäſte) ſind hauptſächlich durch die Blumenauswahl der Inſekten, alle unmittelbar nur der Pflanze nützlichen Ei— genſchaften der Blumen (Sicherung der Kreuzung bei eintretendem, der Selbſtbe— fruchtung bei ausbleibendem Inſektenbeſuche, Schutzmittel der Befrüchtungsorgane gegen Wetterungunſt und Feinde) ſind durch eine von der Wahl der Inſekten unabhängige Naturausleſe gezüchtet worden: die beiden zugleich nützlichen ſind das Produkt der combinirten Wirkung beider Züchtungsarten. 2) Die urſprünglichſten Blumen ſind größtentheils (Ausnahme z. B. Salix) ein⸗ fach, offen, regelmäßig geſtaltet und einer gemiſchten Geſellſchaft verſchiedenartigſter Be— ſucher ausgeſetzt geweſen. Dieſe haben ſich nur auffallende Farben, Gerüche und Nektar zu züchten vermocht. 3) Aus der urſprünglichen gemiſchten Blumenzüchtergeſellſchaft ſind durch beſondere, den übrigen Blumengäſten antipathiſche Ge— ſchmacksrichtung die Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren, durch beſondere Befähigung zur Bearbeitung gewiſſer Blumenabänderungen Schmetterlinge, Schlupfwespen, Grabwespen, ächte Wespen, Bienen und Schwebfliegen als ſpecielle Blumenzüchter hervorgetreten. 4) Die Fäulnißſtoffe liebenden Dipteren haben ſich von andern Gäſten verabſcheute Ekelblumen gezüchtet. Der Naturzüchtung Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. iſt hauptſächlich die Dummdreiſtigkeit der Dißpteren zu ſtatten gekommen; dieſe hat zur Ausbildung von die Kreuzung durch Dipteren ſichernden Keſſelfallen-, Klemm— fallen- und Täuſch-Blumen geführt. 5) Aus dem gemiſchten Beſucherkreiſe der übrigen, in ihrer Geſchmacksrichtung an— nähernd übereinſtimmenden Blumengäſte ſind allmälig langrüſſeligere, einſichtigere und geſchicktere hervorgegangen und haben ſich dümmeren, kurzrüſſelig gebliebenen Gäſten unauffindbaren oder unerreichbaren Honig, Safthalter, Saftdecken und Saftmale gezüchtet. 6) Aus dieſem gewählteren Kreiſe als ſelbſtſtändige Blumenzüchter hervorzutreten waren die Schmetterlinge durch die Dünn- heit, einige derſelben, die Schwärmer, durch die Länge ihres Rüſſels befähigt. Sie züchteten die durch Engheit der Honigzugänge charakteriſirten Falterblumen und die lang— röhrigen Schwärmerblumen, die ſich durch Farbe- und Blüthezeit, entſprechend ihren Züchtern, in Tag- und Nachtfalterblumen, Tag⸗ und Nachtſchwärmerblumen und Zwi- ſchenſtufen zwiſchen beiden unterſcheiden laſſen. Der ausgeprägte Geruchsſinn der Schmetter— linge ſpricht ſich in würzigem Wohlgeruche, der ausgeprägte Farbenſinn der Tagfalter in der lieblichen Farbe ihrer Züchtungs— produkte aus. 7) Die Schlupfwespen waren ihrer Zeit allen übrigen Blumenbeſuchern durch ihre Fähigkeit im Umherſuchen und Auffinden überlegen und dadurch in den Stand geſetzt, ſich unſcheinbare Blumen zu züchten, die der Nachforſchung anderer Inſekten entgingen. Nach dem Auftreten der Grabwespen und Bienen aber waren Schlupfwespenblumen nur noch an von dieſer Concurrenz wenig | betroffenen Standorten möglich. 8) Die Grabwespen haben wahrſchein— lich die Schlupfwespen als Blumenzüchter Müller, Die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter. größtentheils abgelöſt und verdrängt und Blumenzüchter haben (wenigſtens in der ein— ſich ſelbſt Blumen gezüchtet, welche ein Aus— einanderzwängen eng zuſammenſchließender Theile oder ein Hineinkriechen in Höhlen, oder andere nur Höhlengräbern eigne Be— wegungen erfordern und dadurch den meiſten anderen Blumenbeſuchern unzugänglich waren. Später ſind aber die Bienen in den vollen Mitbeſitz der Grabwespenblumen eingetreten und haben die meiſten derſelben zu Bienen— blumen weitergezüchtet. 9) Die ächten Wespen vermochten ſich durch die Gefürchtetheit ihres Stachels (und ihrer Kiefer) in den Alleinbeſitz gewiſſer honigreicher und mit weiter Oeffnung ver— ſehener Blumen zu ſetzen und dieſelben ihrer Fähigkeit und Neigung entſprechend weiter zu züchten; ihre Züchtungsprodukte werden aber an wespenärmeren Orten auch von | mechanismus durch Naturzüchtung zu ver 10) Die hervorragendſte Rolle als andern Inſekten ausgebeutet. Kosmos, Band III. Heft 6. heimiſchen Blumenwelt) als die der Blu— mennahrung bedürftigſten, arbeitſamſten und geſchickteſten blumenſteten Inſekten die Bie— nen gejpielt, Sie haben uns die zahlreichſten, mannichfaltigſten und am ſpeciellſten aus— gearbeiteten Blumenformen geliefert, deren kunſtgerechte (naturgemäße) Behandlung zum großen Theile die Ausführung derſelben Bewegungen erfordert, welche die Bienen bei ihrem Brutverſorgungsgeſchäfte auszu— üben ererbt und erlernt haben. 11) Endlich iſt es auch einigen, lebhafte Farben liebenden und ſelbſt mit ſolchen ge— ſchmückten, nicht beſonders nahrungsbedürf— tigen Schwebfliegen gelungen, einige Blümchen ihrer Geſchmacksrichtung entſprechend zu züchten und die Ausprägung eines zier— lichen, ihnen ſpeciell angepaßten Beſtäubungs⸗ anlaſſen. — — — > — — 0 64 Der Daltonismus.“) Ein Bericht über eigene Erfahrungen und Theorien, ſowie über Experimente, die in Gemeinſchaft mit Prof. W. Spring angeſtellt wurden, von Dr. J. Delboeuf, Profeſſor an der Univerſität Lüttich. 1. Beſchreibung und Problem- Stellung. J NN, mus ift nach meiner Mein— ung in gewiſſer Beziehung eines der intereſſanteſten, wel— begierde darbieten können. Es berührt die Phyſiologie ebenſo wie die Phyſik, die Aeſthetik einmal der Philologie und Geſchichte fremd. Es reicht hin, zu ſagen, daß man, um es ). Problem des Daltonis⸗ I | mit Erfolg nach allen dieſen Richtungen anzugreifen, eine gute Zahl ſehr ſchwieriger, zum Theil noch in den Kinderſchuhen ſtecken— der Wiſſenſchaften beherrſchen müßte. Es iſt nicht ſeit geſtern, daß ich mich mit dieſem Problem beſchäftige. Ich erinnere mich einer Scene aus meiner Jugend, die für mit ſeitdem der Gegenſtand vieles Nach— denkens geweſen iſt. Ich mochte acht bis neun Jahre alt ſein und beſuchte die Pri— märſchule. Mit meinen kleinen Kameraden in der Klaſſe vereint, ſprachen wir eines ſo gut wie die Pſychologie, und bleibt nicht Tages, bevor die Unterrichtsſtunde geſchlagen hatte, dieſes und jenes. Ich weiß nicht mehr, durch welche Veranlaſſung ich dazu kam, ) Anm. d. Red. Die Farbenblindheit iſt in der Neuzeit ſo oft für darwiniſtiſche Speculationen verwerthet worden (Vgl. Kos- mos I. S. 274) daß wir die uns gebotene Gelegenheit nicht vorüber gehen laſſen dürfen, die beſte und gehaltvollſte Arbeit, die über dieſen Gegenſtand überhaupt erſchienen iſt, unſeren Leſern darzubieten. Mit freundlicher Erlaubniß des Herrn Verfaſſers haben wir den beſchreibenden und geſchichtlichen Theil zu ſagen: die Zunge iſt blau. Dieſer ſeiner Arbeit, ſowie auch die Schlußbemerk— ungen, wörtlich wiedergegeben; die Experi— mente und unmittelbar daran geknüpften Schlüſſe dagegen, in Form eines Referates, ſo daß wir für die Einzelheiten und die mathe— matiſche Begründung der Theorie auf die aus— führlichere und mit zahlreichen Abbildungen erläuterte Original-Abhandlung (Revue scien- tifique T. VII. Nr. 38. 1878.) verweiſen müſſen. n Ausſpruch rief allerſeits einen Ausbruch un- ſtillbaren Gelächters hervor. Man glaubte ohne Zweifel, daß ich Witze machen wollte. Ich war im Gegentheil ſehr ernſt geſtimmt, und begriff nichts von den heftigen Ver— neinungen, die man mir entgegenwarf. „Wie! die Lippen ſind nicht blau?!“ rief ich mit Erregung, „dieſe Wangen da“ — und ich zeigte auf die lebhafte Röthe, welche das Antlitz eines meiner Mitſchüler zierte, — „dieſe Wangen ſind nicht blau?!“ „„Roth!!““ ſchrie man mir von allen Seiten entgegen. Dieſe einſtimmigen Rufe brach— ten mich außer mir. Ich kannte doch, oder ich glaubte vielmehr rothe Dinge zu kennen, z. B. die Klatſchroſen, und ich ärgerte mich umſomehr, als ich nicht die geringſte Aehn— lichkeit zwiſchen der Farbe der Lippen und derjenigen dieſer prächtigen Blume der Fel— der finden konnte, während man dabei blieb, die Wangen jenes roſigen und friſchen Jun— gen beſäßen die nämliche glänzende Farbe. Schließlich kam ich zu der Ueberzeugung, daß ſie ein Complot gemacht hätten, um ſich über mich luſtig zu machen, und erſuchte ſie, freilich ohne Erfolg, mit dem Scherze ein Ende zu machen. Darauf erſchien der Lehrer und der Gegenſtand des Streites war vergeſſen. Nach Hauſe gekommen, frug ich meine Mutter, welche mir genau dieſelben Ant- worten gab, wie meine Schulkameraden. Ich begriff damals oder glaubte vielmehr zu begreifen, daß ich die Farbenbezeichnun— gen ſchlecht anwende. Ich ließ mich be— lehren und verſuchte genau die verſchiedenen Farbentöne eines karrirten Tuches und die— jenigen gemuſterten Stoffe, welche ſich in großer Menge im Hauſe befanden, zu be— zeichnen. Ich erwarb ſchnell genug eine gewiſſe Geſchicklichkeit darin und bildete mir ein, daß ich mit einiger Uebung und großer Delboeuf, Der Daltonismus. Aufmerkſamkeit dahin gelangen würde, mei— nen Freunden keine fernere Gelegenheit zu geben, auf meine Koften zu lachen. In⸗ deſſen fuhr das Roth fort, mir abſcheuliche Streiche zu ſpielen. Es gab gewiſſe Arten von Roth, denen ich ziemlich richtig ihren zu— kommenden Namen beilegte, aber es gab andere, die ich fortfuhr, blau zu ſehen, andere, die mir braun erſchienen und end— lich tief gelbe und grüne. Grün und Violet ſelbſt unterließen nicht, mich häufig genug in Verwirrung zu bringen und von dem Augenblicke, wo man auf die Vergleichung von blaßblauen und Lila-Tönen einging, war ich nicht mehr zu Hauſe. Dieſe Sonderbarkeiten hatten an ſich nichts Schlimmes, unangenehmer waren ſchon gewiſſe Folgen derſelben. Wenn ich in den erſten Tagen des Sommers mit meinen jungen Freunden die Gehölze der Umgegend Lüttich's durchſtreifte, war ich ebenſo geſchickt wie ſie, Heidelbeeren zu ſammeln, aber die Erdbeeren entſchlüpften meinem Blicke immer, oder wurden erſt entdeckt, wenn ich dicht mit der Naſe daran war. Zuweilen mad- ten Jene mich ſchon aus einiger Entfern— ung auf ſchöne, mit appetitlichen Kirſchen prangende Bäume aufmerkſam, und ich — ich war nicht im Stande, ſie zu unterſcheiden. Dann im Herbſte ſah ich oft ihre Augen beim Anblicke gewiſſer, unter der Laſt ihrer purpurnen Früchte gebeugten Apfelbäume vor Begierde erglänzen, während allein die gelben Aepfel den Vorzug beſaßen, meine Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen. Inzwiſchen verharrte ich dabei, meine anſcheinende Schwäche einem Gedächtniß— fehler hinſichtlich der Farben-Eigenthümlich⸗ keiten zuzuſchreiben. Im Jahre 1846 klärte mich ein Journal-Artikel, der vom Dalto— nismus handelte, über die Beſonderheit 501 | meines Sehorganes auf. Ich legte mich | 502 feit damals darauf, unter meinen Kamera— den diejenigen zu entdecken, welche ſie mit mir theilten, und begegnete in der That einer gewiſſen Zahl derſelben unter ihnen. Man erzählt, daß Dalton, weit ent— Delboeuf, Der Daltonismus. mit Unrecht an und dadurch paſſirt es ihnen, daß, wenn ſie den Anderen ausſchließlich von ihren eigenen Empfindungen Rechen— fernt, ſich über die Unvollkommenheit ſeines Geſichtsſinnes zu beunruhigen, vielmehr ein gewiſſes Vergnügen daran gefunden, das Erſtaunen oder die Freude zu bemerken, welche ſeine Mißgriffe andern verurſachten. Ich meinestheils empfand ein gewiſſes Ver— gnügen, der Gegenſtand — im Allgemeinen natürlicher — Fragen zu ſein, auf die ich eine Antwort ſchuldig bleiben mußte. „Wie!“ ſagt man mir noch alle Tage, „Sie erblicken die Röthe der Lippen und das Inkarnat der Wangen blau? die Leute müſſen Ihnen grauenhaft erſcheinen! — Was ſehen Sie nun eigentlich, wenn man Ihnen Roth zeigt? — Welcher Farbe gleicht das Grün in Ihren Augen? — Iſt es nun das Rothe, welches Sie für Grün halten, oder das Grüne, welches Sie für Roth anſehen?“ Ich ſetze mich ſogar wenig gegründeten Vorwürfen aus, wenn ich ein— mal das Unglück habe, richtig zu rathen, und einem Gegenſtande ſeine wahre rothe oder grüne Farbe beizulegen. Alsdann arg— wöhnt man ſogleich, daß ich die Welt myſti— ficiren wolle. „Sehen Sie wohl“ ruft man dann, „daß Sie die Farben unter— ſcheiden können und daß Sie ſich nur täu— ſchen, wenn es Ihre Abſicht iſt!“ — Das iſt die Sprache, welche ich ſelbſt von den unterrichtetſten Perſonen hören muß, und gewöhnlich gelange ich nur mit großer Mühe dahin, ihnen zu zeigen, wie ſehr ſchwer es iſt, ihrer Neugierde zu genügen. Die Daltonianer, gezwungen, ſich eines Wörterbuches zu bedienen, welches nicht für ſie gemacht iſt, wenden gewiſſe Worte dem gewöhnlichen Sinne gegenüber verkehrt und ſchaft abzulegen glauben, ſie doch bei ihren Zuhörern ganz verſchiedene Ideen erwecken. Es iſt nicht einmal gewiß, ob die Bezeich— nungen Gelb und Blau, von denen ſie manchmal einen anſcheinend correcten Ge— brauch machen, in ihnen denſelben Empfind— ungen entſprechen, wie in anderen Menſchen. Es würde ſehr wohl geſchehen können, daß wenn durch ein Wunder die Seele eines Daltonianers ſich in den Körper einer Per— ſon mit normalem Auge verſetzt fände, dann derſelbe gelbe oder blaue Gegenſtand auf ſie einen ganz anderen Eindruck machen würde. Wir dürfen dieſe Bemerkung kühn ver— allgemeinern. Die Gleichförmigkeit in der Anwendung der Ausdrücke des Wörterbuchs der Empfindungen, beweiſt keineswegs die Gleichheit der Eindrücke, welche ſie bezeich— nen; man darf daraus einzig ſchließen, daß dieſe Eindrücke bei einer und derſelben Per— ſon gleichbleibende Eigenſchaften beſitzen. Wenn zum Beiſpiel Peter und Paul immer die größte Uebereinſtimmung in der An— wendung der Farbennamen bewähren, fo iſt damit keineswegs bewieſen, daß ſie immer das Gleiche ſehen. Es iſt möglich, daß das, was der Eine Gelb nennt, für den Anderen Roth wäre, wenn man ihre See— len die Körper tauſchen laſſen könnte. Aber das hindert in keiner Weiſe, daß daſſelbe Wort beiderſeits ſtets zur Bezeichnung des— ſelben äußern Gegenſtandes gebraucht wer— den kann. Sollte es uns jedoch für immer ver— ſagt ſein, die von ein und derſelben phyſi— ſchen Erſcheinung in zwei empfindenden Weſen erregten pſychiſchen Wirkungen mit einander zu vergleichen? Iſt die Seele eines | Delboeuf, Der Daltonismus. jeden von uns abſolut abgeſchloſſen und ſind wir darauf beſchränkt, blos zu errathen, niemals zu durchdringen, was bei unſeres Gleichen innerlich vorgeht? Sind die Em pfindungen gänzlich unmittheilbar? Muß man für immer aufgeben, jemals eine Breſche in dieſe Mauer gelegt zu ſehen, die den inneren Schauplatz abſchließt? Dieſe beim | erſten Blick fo verwegenen Fragen find im Grunde nur die Ueberſetzung oder vielmehr der verallgemeinerte Ausdruck der naiven Fragen, die man ſo oft an die Daltonianer richtet. Wenn es ſich nur darum handelte, a priori aus der Univerſalität und Ein— fachheit der Naturgeſetze gefolgerte Antworten zu geben, ſo würde es nicht ſehr ſchwierig ſein, ſie zu finden, aber die Thatſache des Daltonismus ſelbſt ſtraft alle Erklärungen Lügen, welche von der Einheit des Planes der Menſchen ausgehen wollten. Das, was ung des Problems; wir wollen, daß jede Behauptung von leicht discutablen Proben begleitet ſei; wir wünſchen mit einem Worte, unſere Ueberzeugung auf etwas anderes zu bauen, als auf den beweglichen Sand me— taphyſiſcher Speculationen. 2. Geſchichte. Es iſt nicht ſeit gar lange, daß die Aufmerkſamkeit der Gelehrten auf die Un— regelmäßigkeiten des Farbenſinnes gerichtet worden iſt. bis zum Jahre 1777 hinauf. Sie betraf die Gebrüder Harris und war ſehr ſum— mariſch in einem Briefe von Joſeph Huddart an Joſ. Prieſtley mitgetheilt. Der erſte wiſſenſchaftlich beſchriebene Fall iſt derjenige des berühmten engliſchen Phyſikers und | 1810 „Im Laufe des Jahres 1790“ erzählt Dalton, „beſchäftigte ich mich mit Botanik und dieſes Studium lenkte im Beſonderen meine Aufmerkſamkeit auf die Farben. Wenn ich Weiß, Gelb oder Grün vor mir hatte, nannte ich dieſe Farben ohne Weiteres bei ihrem Namen, während ich beinahe keinen Unterſchied zwiſchen röthlich Blau, Vio— let und Karm in machte. Indeſſen wurde mir die Eigenthümlichkeit meines Auges erſt im Herbſte 1792 genau bekannt. Ich unterſuchte eines Tages eine Blume von Geranium (Pelargonium) zonale bei Ker— zenlicht. Dieſe Blume, welche mir am Tage blau erſchien, und welche in Wirk— lichkeit violet iſt, erſchien mir jetzt von einer rothen, der blauen völlig entgegenge— ſetzten Farbe. Andern Perſonen war ein | folder Farbenwechſel nicht bemerkbar.“ aller empfindenden Weſen, oder ſelbſt nur „Da mir dieſe Beobachtung gezeigt hatte, daß meine Farben-Empfindung von der— wir hier ſuchen, iſt eine experimentale Löſ⸗ eine und dieſelbe Farbe ſehe. Die erſte Erwähnung ſteigt jenigen anderer Perſonen verſchieden war, unterſuchte ich das Sonnenſpektrum und überzeugte mich bald, daß ich anſtatt der ſieben Spektralfarben nur drei ſah: Gelb, Blau und Purpur. Mein Gelb enthielt Roth, Orange, Gelb und Grün der ande— ren Leute. Mein Blau verſchmilzt ſo mit dem Purpur, daß ich da beinahe nur Der Theil des Spektrum's, welchen man als roth be— zeichnet, erſcheint mir kaum anders als ein Schatten oder Lichtmangel. Das Gelb, Orange und Grün gelten für mich als die— ſelbe Farbe in verſchiedenen Graden der Sättigung. Der Punkt des Spektrums, in welchem Grün und Blau ſich berühren, bietet mir einen äußerſt ſchlagenden Contraſt ) Extraordinary Facts relating to the ns of colours; with observations by Mr. Chemikers Dalton, der ihn mit der ihm | John Dalton, Mem. of the Liter, and Philos, eigenen Sorgfalt unterſucht hat.“) | Societ. of Manchester V. p. I (1798) p. 28. 504 und eine höchſt grelle Verschiedenheit. Am Tage gleicht das Karmin einem Blau, dem man ein wenig dunkles Braun beigemiſcht hat. Ein Dintenfleck auf weißem Papier zeigt mir dieſelbe Färbung wie das Antlitz einer von Geſundheit ſtrotzenden Perſon. Das Blut gleicht dem geſättigten Grün der Flaſchen. Beim Kerzenlichte werden Noth und Scharlach glänzender und leb— hafter. Das Grün erſcheint mir am Tage wenig von dem Rothen verſchieden. Orange und Hellgrün gleichen fi ebenfalls ſehr. Ein ſtark geſättigtes Grün iſt für mich das angenehmſte Grün und ich unterſcheide es Empfindung genau die nämliche, wie die— jenige von Jedermann.“ Alle dieſe Züge charakteriſiren bis auf menheiten meiner eigenen Farbenempfindung. ins Gras gefallenene Stange Siegellack er— kennen, und er würde aller Wahrſcheinlich— keit nach, wie ich, die zinnoberrothen Früchte des Ebereſchenbaums für braune und ſchwarze Beeren genommen haben und die Blumen der japaniſchen Quitte kaum von der Rinde, oder die Beeren der Stechpalme von dem dunklen Grün ihres Laubes unterſchieden haben. Auch er würde, wie ich, die Farbe eines neuen Ziegelhauſes von derjenigen einer friſch gemäheten Wieſe ſchwer unter— ſchieden haben. Die Thatſache iſt charakte— riſtiſch genug, um mir zu geſtatten, auf einige Einzelheiten einzugehen. Es war gegen Ende des Monat Juni. Ich betrachtete in der Ferne auf dem Abhange eines bewal— deten Hügels einen baumloſen grünen Fleck — die Wieſe, von der ich ſoeben ſprach — und dennoch gelangte ich höchſtens, nachdem | man mir das Haus gezeigt, welches ein ſehr geringe Abweichungen die Unvollkom⸗ neuen Werke des Profeſſor Holmgren !) Ich würde nicht beſſer als Dalton eine um ſo beſſer, je mehr es ins Gelbe zieht. Was Gelb und Orange anbetrifft, ſo iſt meine Delbveuf, Der Daltonismus. rothes Viereck aus dem Grunde ſchnitt, dazu, die Umriſſe deſſelben zu erkennen. Peter Prévoſt von Genf war der Erſte, welcher dieſem Geſichtsmangel den Namen Daltonismus beilegte. Die Deut— ſchen und Engländer nennen ihn Farben— blindheit (oder genauer Rothblind— heit)... Der Daltonismus kommt häufiger vor, als man gewöhnlich annimmt. Unter neunzehn Zuhörern, die ich in Gent hatte, befanden ſich zwei Daltonianer, der Eine war es ſogar im äußerſten Grade. Viele Perſonen ſind es, ohne es zu wiſſen, und ich habe Gelegenheit gehabt, mehrere erſt auf den unvollkommenen Zuſtand ihres Sehvermögens aufmerkſam zu machen. Die größte Mehrzahl bemerkt wohl, daß ihrem Auge ein Mangel anhaftet, ohne ſich aber über die Natur deſſelben klar zu werden. Es giebt über dieſen Punkt in dem ein durch die Klarheit der Auffaſſung und die Feinheit der Analyſen ſo ausgezeichnetes Kapitel, daß ich nichts beſſeres thun kann, als den Inhalt deſſelben hier wiederzugeben. Die Farbenblindheit, jagt Holmgren, iſt keine Krankheit, es iſt ein wirklicher Farbenſinn, nur einfacher als der gewöhn— liche. Daher geſchieht es, daß der damit Behaftete unter die nämliche Rubrik Farben ſtellt, welche für die Andern verſchieden ſind . . . Es ſcheint, daß die Farbenblinden leicht zu erkennen ſein müßten, aber die Er— fahrung beweiſt das Gegentheil. Der Ver— faſſer hat das geſammte Perſonal einer Eiſenbahnlinie der Unterſuchung unterworfen, und es iſt ihm dabei offenbar geworden, daß eine Menge von Beamten, trotzdem ihre Stellung ſie nöthigt, Tag und Nacht ) Ueber die Farbenblindheit in ihren Beziehungen zum Eiſenbahn- und Seeweſen. Stockholm 1877. Delboeuf, Der Daltonismus. auf die Farbenſignale zu achten, einen man— gelhaften Farbenſinn beſaßen, ohne daß ſie ſelbſt oder andere es geargwöhnt hätten. Die Erklärung dieſer ſonderbaren Thatſache liegt in Folgendem: Unſere Sinne werden zu gänzlich prak— tiſchen Zwecken auf die Kenntniß der Außen— welt gerichtet. Daher kommt es, daß die Geegenſtände durch uns ſelbſt und in be— ſtändiger Weiſe mit Eigenſchaften, welche im Grunde nur unſre eigenen Empfindungen darſtellen, behaftet und umkleidet werden. Das geht ſoweit, daß ein rother Teppich ſelbſt in der Dunkelheit und wenn wir ihn gar nicht anſehen. Wenn man alſo einem Kinde ſagt, dieſer Teppich iſt roth, ſo be— hält es die Bezeichnung und wird ſie mit Teppich ſehen wird. Thatſächlich indeſſen, es ihn wieder erkennt, ſondern eine Vielheit von Eigenthümlichkeiten, bei welcher die Farbenwirkung im Grunde nur eine ſekun— dieſe Weiſe lernen, daß der Himmel blau, das Gras grün, und der Ziegelſtein roth iſt, und ungeachtet deſſen, daß nach ſeinen Augen der Ziegelſtein möglicherweiſe beinahe dieſelbe Farbe beſitzt, wie das Gras, wird es niemals darauf verfallen, die Dinge zu vertauſchen, und dem einen derſelben eine Eigenſchaft beizulegen, die ihm nicht zukommt. Auf dieſe Weiſe — wenn mir die Paren— theſe erlaubt iſt — glaubte ich die rothe Farbe zu kennen, weil ich den wilden Mohn in einem Getreidefelde zu unterſcheiden im Stande war. Ohne Zweifel empfinden die Farben— blinden einige Schwierigkeiten, um ſich zu— rechtzufinden, und verſtehen gewiſſe Unter— für uns immerdar als rother Teppich gilt, Genauigkeit wieder anwenden, ſo oft es dieſen iſt es nicht einzig die rothe Farbe, an welcher däre Rolle ſpielt. Sei es nun normal em⸗ pfindend oder nicht, das Kind wird auf I 505 ſcheidungen nicht, welche die Andern aufjtellen; indeſſen ſagt ſich die Mehrzahl derſelben nach einigen fruchtloſen Anſtrengungen, daß die Farben wohl gewiſſe kleine Probleme darbieten, welche ſie zu löſen nicht beſtimmt ſeien, und denken nicht weiter daran. Aber andere Perſonen gehen weiter; ſie legen ſich hartnäckig darauf, den unterſcheidenden Cha— rakter der von ihnen verwechſelten Farben zu ergründen; ſie ſuchen ihn in einer Eigen— heit der Nüancirung oder Helligkeitsſtufe, erlangen eine große Geſchicklichkeit, ſie dar— nach zu unterſcheiden, und endigen damit, — ſich über ſich ſelbſt zu täuſchen. Es giebt indeſſen Umſtände, bei denen anſcheinend der Farbenblinde ſeinen Mangel nothwendigerweiſe entdecken muß, nämlich wenn er genöthigt iſt, ſeine Handlungen nach den Farben der Dinge zu richten, wie die Maler, Kleidermacher, Seeleute und Eiſen— bahnbeamten. Und ſelbſt da tragen eine Menge von Urſachen dazu bei, ihnen ihren Mangel zu verbergen. Auf dem Lande und bei den untern Klaſſen achtet man wenig auf die Farben der Gegenſtände. Iſt ein Gefäß, ein Möbel und dergl. zu bemalen, io verlangt man vor Allem, daß ſie eben angeſtrichen werden und daß die Farbe glänze, gleichviel ob ſie roth, grün oder braun ſei. Handelt es ſich darum, ein Kleidungsſtück auszubeſſern, ſo bleibt die Hauptſache, daß man das Loch ſtopft, und betrachtet es als nebenſächlich, ob der Flicken dieſelbe Farbe wie das Uebrige habe. Der Zugführer, welcher ſeine Lokomotive leitet iſt dabei anfänglich niemals allein; dann, da er ſich die Orte bald merkt, an denen gewöhnlich Signale gegeben werden, lernt er ſie an der beſondern Helligkeit der Farbe unterſcheiden, und hat nachher keinen Grund, einen Mangel an ſeinem Auge zu vermuthen. Alle mit Fehlern Behafteten der Linie, welche | u 506 Delboeuf, Der Daltonismus. Holmgren zu unterſuchen Gelegenheit hatte, ſtimmten ſämmtlich darin überein, „daß ſie ein ausgezeichnetes Geſicht beſäßen, daß ſie nicht die geringſte Schwierigkeit empfän— den, die Farbenſignale zu unterſcheiden, und | zu ſichten. Aber es kommt auch, wie wir ſchon ſahen, ein praktiſches Intereſſe in's daß ſie niemals ein Verſehen begangen hätten.“ Ich habe dieſen Beobachtungen, die von einem jo hohen pſpychologiſchen Intereſſe man ſich im Eiſenbahn- und Seedienſt be— dient, gründen ſich auf die Unterſcheidung ſind, nichts hinzuzufügen, und werde mich darauf beſchränken, einen Fall zu erwähnen, der zu zeigen geeignet iſt, wie weit einer— ſeits dieſer Mangel an Erkenntniß ſeines Selbſt und ſeiner Fähigkeiten gehen kann, und wie man auf der andern Seite den Farbenſinn durch einen Nüancenſinn erſetzt. Einer der erſten Zeichner Belgiens, Herr Flo— rimond Van Loo, iſt Daltonianer. Er hatte ſich urſprünglich der Malerei gewidmet, und es iſt ihm in ſeinen Landſchafts Skizzen paſſirt, das Laub der Bäume in einem ſchönen Roth wiederzugeben. Nach einer großen Anzahl gleich unglücklicher Probe— ſtücke und fruchtloſer Bemühungen ſich zu verbeſſern, entſagte er dieſer Kunſt, für die er gleichwohl eine ausgeſprochene Vorliebe beſaß, und hat ſeine Talente der Lithographie gewidmet, einer Kunſt-Richtung, in welcher er ſich einen wohlverdienten Ruf zu ſchaffen gewußt hat. Als er mir eines Tages das auseinanderſetzte, was er eine Bizarrerie ſeines Geſichtsſinnes nennt, ſagte er mir, daß er ohne Zweifel die Bäume roth er— blicke. Indeſſen hindert ihn dieſer Mangel keineswegs, ein ausgezeichneter Kenner von Gemälden zu ſein, und ſich namentlich auf die Feinheit des Tones zu verſtehen. Und, ſoll ich es ausſprechen? ich vermuthe, daß er grade ſeinem Daltonismus es verdankt, daß er in alle ſeine Arbeiten ſoviel Farbe bringt. Es giebt Werke von ihm, welche in An— betracht des Reichthums der Tinten mit den beſten Mouillerons wetteifern. Ich beende ſchnell die Geſchichte des Daltonismus. Seebeck, Purkinje, Wartmann und A. haben ſich aus vor— zugsweiſe wiſſenſchaftlichem Intereſſe damit beſchäftigt, die Thatſachen zu ſammeln und Spiel. Die Mehrzahl der Signale, deren zwiſchen Roth, Grün und Gelb und das Leben Tauſender kann durch die falſche Auf— faſſung eines Signals gefährdet werden. Es war Georg Wilſon, welcher zuerſt (1855) die Aufmerkſamkeit der Specialiſten auf die Gefahren richtete, welche darin liegen, Dal— tonianern Aemter anzuvertrauen, die einen normalen Farbenſinn beanſpruchen. Seit damals hat dieſe Idee ſich allgemeiner ver— breitet. In Schweden hat es der gelehrte Profeſſor der Phyſiologie an der Univer— ſität Upſala, Holmgren, nach mancherlei Studien und Schriften darüber durchgeſetzt, daß die ſkandinaviſche Regierung jede Be— ſetzung derartiger Poſten durch Farbenblinde unterſagt hat. In England iſt dieſelbe Maß— regel von der Nordbahn-Geſellſchaft einge— führt worden, in Deutſchland beginnt man mit derſelben Frage ſich zu beſchäftigen und in Frankreich hat der Arzt der Linie Paris— Lyon-Mittelmeer, Dr. Favre, in derſelben Richtung gewirkt. Dies Wenige genügt, um die praktiſche Wichtigkeit des Studiums der Farbenblindheit darzuthun. Gehen wir nun- mehr zur Theorie über. 3. Referat über die angeſtellten Ver- ſuche. Wenn man einigen Forſchern Glauben ſchenken darf, giebt es nicht nur verſchiedene Grade, ſondern auch verſchiedene Arten der Farbenblindheit. Man ſpricht von Roth— Delboeuf, Der Daltonismus. blindheit, Grünblindheit, Blau- und Biolet- blindheit, aber die hier gegebenen Daten be- ziehen ſich nur auf die häufigſte Form, die Rothblindheit. Das ſicherſte Mittel die vorhandene Unregelmäßigkeit feſtzuſtellen, wird immer die Beſchreibung eines Farben— ſpektrums durch das anormale Auge, im Vergleiche zu dem Eindrucke des normalen ergeben, da die natürlichen Pigmente oft einen ſehr zuſammengeſetzten Charakter be— ſitzen, wie z. B. der Umſtand ergiebt, daß die grünen Blätter der Pflanzen eine be— trächtliche Menge rothen Lichtes ausftrahlen- Prof. Delboeuf benutzte bei ſeinen in 20 40 60 80 507 Gemeinſchaft mit Prof. Spring ange ſtellten Verſuchen das dem Sonnenſpektrum ziemlich ähnliche Spektrum eines im Bun⸗ ſenbrenner zur Weißgluth gebrachten Pla— tindrahts, wobei fie zur leichteren Drien- tirung über das Spektrum eine erleuchtete Skala warfen, die ſo gerückt wurde, daß die Zahl 180 ſtets mit der gelben Natron— linie zuſammenfiel. Die Vertheilung der Farben, wie fie Herr Spring und die mei- ſten Menſchen mit normalen Augen wahr- nehmen, iſt annähernd durch die mittlere Skala angedeutet, wobei die Zwiſchenfächer die Uebergangsfärbungen bezeichnen. Dieſe 0 100 120 140 160 180 200 220 240 2 60 D | | Violet n Grün [Orange Roth . Blau | 7775 Gelb — Uebergangsregionen von unentſchiedener dem Spektrum ſehe ich, ſagt er, nur zwei Nüance verſchieben ſich übrigens ein wenig, je nachdem man das Spektrum von der violetten oder von der rothen Seite zu prüfen und zu beſchreiben beginnt; die Far⸗ ben, gegen die man ſich hinwendet, ſcheinen nämlich dem Auge entgegen zu kommen, fo daß das reine Blau bei 80 zu beginnen ſcheint, wenn man von der violetten Seite ausgeht, und bei 90 aufzuhören ſcheint, wenn man von ihm nach der violetten Seite ſchreitet. Wie man ſieht, war das reine Gelb nicht ſehr ausgeprägt, es beſchränkte ſich für Herrn Spring auf die Natronlinie (180). In dem untern Theile iſt dagegen die Vertheilung der Farben dargeſtellt, wie ſie ſich bei demſelben Spektrum Herrn Delboeuf darbot. Wie man erkennt, erſchien ihm das Spektrum nach beiden Seiten etwas verkürzt, und wurde gegen das violette Ende äußerſt lichtſchwach, ſo daß die Grenze kaum ſicher beſtimmt werden konnte. „In — Wr. Kosmos, Band III. Heft 6. ſpecifiſch verſchiedene Farben, die ich Blau und Gelb nennen will, ſie theilen ſich zu | beinahe gleichen Theilen in das Spektrum und verlieren ſich unmerklich in die Dunkel⸗ heit. Der Uebergang von der einen zur andern geſchieht zwiſchen 120 bis 130. Dieſe Region iſt äußerſt veränderlich“, ſie erſchien bald blau, bald gelb, und je nach dem Uebergange von der einen oder andern Seite ſchien ſich die Grenze wohl um zwanzig Theilſtriche zu verrücken, wobei das Auge einem eigenthümlich erregenden und ermü— denden Reize unterlag. Es zeigte ſich außer- dem, daß die Begrenzungen des Spektrums auch für die einzelnen Daltonianer ſich verſchie— den bemaßen, und für einen der Schüler des Herrn Delboeuf war es an der violetten Seite noch bedeutend mehr abgekürzt. Alle dieſe Umſtände ſchienen wenig mit den theoretiſchen Folgerungen zu paſſen, die man bisher über die Urſachen der Koth- 65 508 Delbveuf, Der Daltonismus. blindheit aufgeſtellt hat. Die verbreitetſte Im Jahre 1864 lernte Herr Del— der vorhandenen Erklärungen iſt diejenige, boeuf, damals Profeſſor der Philoſophie welche ſich auf die Houng-Helmholtz'ſche Hypotheſe über die Farbenwahrnehmung ſtützt, und welche annimmt, daß von drei, die Farben unterſcheidenden nervöſen Elementen der Netzhaut bei dieſen Perſonen die eine Art, und zwar gewöhnlich die Roth empfindende, atrophiſch, gelähmt, oder gar nicht vorhanden ſei. Die Folge davon würde ſein, daß das Roth nur als Grau, das Violet als Blau, das Orange als Gelb wahrgenommen werden könnte, indem überall der rothe Autheil der Miſchfarben | indem ſie einen Theil der grünen und violetten ausfiele. Ganz ähnliche Hypotheſen haben Maxwell und J. Herſchell aufgeſtellt, die alle darauf hinauslaufen, daß die Farben- keiten zu füllen, um durch die verſchieden dicke blinden ihre Empfindungen, ſtatt wie die andern Menſchen aus drei Grundfarben, nur aus zweien zuſammenſetzen ſollen. Aber die einzelnen Vorausſetzungen, die man den Daltonianern unterſchiebt, fand Prof. Delbo euf für ſich durchaus nicht zutreffend, ſo z. B. dasjenige, was man über die Ver— wechſelung von Grün und Rotherzählt. „Was mich betrifft,“ ſagt er, „ſo mache ich aller— dings wenig Unterſchied zwiſchen der Farbe haltendem Waſſer aufgelöſt enthält. Die erſtaunliche Wirkung laſſen wir uns von des Blattes und der Blüthen des rothen Gauchheil (Anagallis arvensis), aber das Roth des wilden Mohus, der Erdbeere und Kirſche find für mich vom Grün ſehr allein die Farben, die ich gewöhnlich zuſam— verſchieden. Die Eigenthümlichkeit, die dieſen Färbungen in meinen Augen zukommt, iſt, daß ſie matt, ſtumpf, düſter erſcheinen und nicht den Blick auf ſich ziehen. Es ſind ruhige Färbungen, in der Art des Braunen, Dunkelgrauen, der Bronce u. ſ. w. auf der andern Seite giebt es rothe Fär— bungen, die für mich gar nichts unterein— ander gemein haben, ſo das Siegellack-Roth welches ich zum Gelb ziehe und der Karmin, der mir blau erſcheint.“ ... in Gent, zuerſt die Doung-Helmholtz'ſche Hypotheſe kennen und dachte gleich anfangs daran, daß die Lähmung der rothempfinden— den Elemente der Netzhaut vielleicht auch nur relativ ſein könnte, in dem Sinne, daß ihre Empfindung am Ende nur durch die vorwiegende Empfindung der beiden andern Nervenelemente verdeckt ſein würde. Wenn dieſe Annahme zutreffend war, ſo mußte eine zwiſchen das Auge und die Gegenſtände gebrachte rothe und durchſichtige Subſtanz, das fehlende Gleichgewicht herſtellen können, Strahlen auslöſchte. Er begann damit, ein keilförmiges Glasgefäß mit rothen Flüſſig— Schicht derſelben die Veränderung der Farben zu prüfen. Der Zufall ließ ihn gleich an— fangs in einer Fuchſinlöſung ein Mittel entdecken, welches außerordentliche Veränder— ungen in dem Anblick der Farben hervor— brachte, und deren Wirkung durch keine ſpäter probirte Flüſſigkeit übertroffen worden iſt. Gewöhnlich wurde eine Auflöſung angewendet, welche /1000 0 Gewicht Fuchſin, in Alkohol dem Entdecker ſelbſt beſchreiben: „Der Effekt war zauberhaft. Nicht menwerfe, Blau, Karmin und Violet auf der einen Seite, Scharlach und Braun auf der andern erſchienen mir mit einem Male merkwürdig verſchieden, ſondern auch das Aber der mir gänzlich unbekannt war; ſonſt ſchien es mir matt, plötzlich wurde es flammend Scharlachroth an ſich gewann einen Glanz, und blendend. Es war das ein außerordent— liches Ergebniß, und ganz gewiß, ich war nicht darauf gefaßt.“ Schon damals und B SL ne u Dh ſpäter in Gemeinschaft mit Prof. Spring prüfte der Entdecker die Wirkung der Fuchſin— löſung auf andre Daltonianer und ſtets mit demſelben Erfolge. „Unter ſeinem Eiufluſſe bekleidet ſich die Natur plötzlich vor ihren Augen mit einer ſtaunenswerthen Mannig— faltigkeit; es heben ſich im Frühling die Pyramidenſträuße der rothen Kaſtanie klar von dem düſtern Grün ihrer Blätter; die Blumen des Rhododendron und des perſiſchen Flieders hören auf, ihnen blau zu erſcheinen; die Früchte der Ebereſche, welche ihnen im Herbſte wie dunkle Flecke im Laubwerk er— ſchienen, gewinnen den Anblick glühender Büſchel; noch immer beſſer: Violet und Roth, welche in ihren Empfindungen nichts Gemeinſames haben, nähern ſich einander und zeigen unter gewiſſen Umſtänden Neigung, einander ähnlich zu werden. . ..“ Dieſe Verſuche, und beſonders die Ver— änderung, welche vorher gleichfarbig erſchein en— de rothe, violette, blaue und braune Por- zellane und namentlich Seidenbänder unter dein Einfluſſe des Fuchſins annahmen, führten zur Verwerfung der Houng-Helmholtz'- ſchen Hypotheſe, da die Urſache nun nicht mehr in einer Lähmung der rothen Elemente, ſondern gegentheils in einer beſondern Em— pfindlichkeit für die grünen und violetten, oder genauer die dem Fuchſinroth comple— mentären Strahlen geſucht werden mußte. Schon damals bot ſich der Schluß, daß das Fuchſin wie die Aufhebung eines Hinder- niſſes wirke, deſſen Wirkungsmittelpunkt in einer ihm complementären Färbung liegen müßte, doch iſt das eben nur ein Bild. Merkwürdigerweiſe haben ſpätere Verſuche keinen Farbſtoff finden laſſen, der noch gün- ſtigere Wirkungen hervorbrächte oder ſich nur mit dem Fuchſin vergleichen ließe; Anilinviolet, und das mehr orangefarbene Eoſin brachten zwar auch eine gewiſſe Verbeſſerung hervor, Delboeuf, Der Daltonismus. 509 aber das zufällig zuerſt angewendete Fuchſin übertraf ſie alle. Sehr unvollkommen wirkte z. B. ein mit Kupfer roth gefärbtes Glas, welches außer der rothen alle andern Farben verdunkelte. Die Spektralanalyſe ließ die Wirkungsweiſe des Fuchſins genauer feſt— ſtellen. Eine dünne Schicht Fuchſin, im Spektroſcope unterſucht, wirft auf die grüne Region einen Schatten, der anfangs, durch— ſichtig genug, um die Färbung noch er— kennen zu laſſen, ſich verdunkelt und ver— breitert in dem Maße, in welchem man die Dicke oder den Gehalt der Auflöſung ver— mehrt. Man kann aus den Eigenthümlich—⸗ keiten ihres Abſorbtionsſpektrums leicht er- kennen, warum Anilin-Violet, Eoſin und Kupferglas nicht gleich gut wirken; die Abſorbtionsſtreifen der erſteren haben eine andere Lage und Ausdehnung, und das Kupferglas löſcht faſt alle nicht rothen Strahlen aus. Es läßt ſich daraus ſchließen, daß es die Gegenwart der Geſammtheit oder jenes Theiles der grünen Strahlen iſt, die von dem Fuchſin ausgelöſcht werden, welche gewiſſe Augen für die entgegengeſetzten Farben weniger empfindlich macht. Schon früher, angeſichts der Wahrſchein— lichkeit, daß das Fuchſin ſein Auge dem der andern Menſchen nähere, hatte Prof. Delboeuf dieſe Vermuthung zu beweiſen gehofft, indem er künſtliche Rothblindheit hervorzurufen ſtrebte, und zwar vermittelſt durchſichtiger grüner Gläſer oder Auflöſungen, die auf das normale Auge in einem dem Fuchſin entgegengeſetzten Sinne wirken könnten. Er ſagte ſich nämlich, daß wenn dieſes Ziel erreicht würde, man alsdann zu ber ſuchen vermöchte, ob das Fuchſin auch die künſtliche Rothblindheit wieder aufheben und die natürlichen Sinnesempfindungen wiederherſtellen würde. Dadurch wäre dann ein Mittel gefunden, die Empfindungen 510 Delboeuf, Der Daltonismus. zweier Individuen miteinander zu vergleichen, und ſich zu vergewiſſern, ob die Menſchen auch in dieſer Beziehung nahezu nach dem— ſelben Modell zugeſchnitten ſind. Es gelang ihm aber nicht, eine ſolche Subſtanz auf— zufinden, bis er mit Prof. W. Spring in Verbindung trat, deſſen phyſikaliſche und chemiſche Kenntniſſe die Weiterführung dieſer Unterſuchungen begünſtigten. Es wurden nun mit Zuhilfenahme der Spektralanalyſe verſchiedene grüne Flüſſig— keiten verſucht, und es zeigten ſich z. B. Chrom— grün, ſowie eine Miſchung aus Anilinblau und Picrinſäure ungeeignet. Auch hier führte aber der Zufall im Nickelchlorür bald ge— nug zur Auffindung einer Subſtanz, welche dem normalen Auge beim Hindurchblicken die Welt wahrſcheinlich ebenſo zeigt, wie ſie dem Rothblinden ſich darſtellt. Bei An— wendung einer vierprocentigen Auflöſung und einer Schicht von einem Centimeter Durchmeſſer, ſah nun Prof. Spring in der That ein violettes Seidenband ebenſo blau wie Prof. Delboeuf mit bloßem Auge, ein rothes erſchien auch ihm braun, und die ganze Natur nahm auch für ihn eine gewiſſe Einförmigkeit der Farbengebung, Orange ſind matt geworden und haben alle Lebhaftigkeit eingebüßt. Auch eine Platte grünen Turmalins und durch Kupfer grün gefärbtes Glas bringt eine ähnliche Wirk— | ung hervor; auch hatte Prof. Holmgren bereits bemerkt, daß gewiſſe blaugrüne Brillen die Eigenſchaft beſitzen, ihre Träger roth blind zu machen. Betrachtet man durch die Nickellöſung oder die ihr entſprechenden ande— ren durchſichtigen Subſtanzen das Sonnen— ſpektrum, ſo findet man es, wie es auch den Daltonianern erſcheint, an ſeinen beiden Enden, dem Roth und Violet, beſchnitten. Wenn man dann ſtufenweiſe die Dicke der Flüſſigkeitsſchicht erhöht, ſo bleibt von dem ganzen Spektrum ſchließlich nur ein grünes Band in der Mitte übrig, welches genau das dunkle Loch ausfüllen würde, welches das Fuchſin bei ähnlicher Anwendung darin aushöhlt. Auch die Gegenprobe ſprach zu Gunſten der Auſicht, daß man durch eine Nickelauf— löſung mit normalem Auge die Welt wie ein Rothblinder erblickt, denn Prof. Del- boeuf fand für ſeine Perſon das Aus— ſehen der Dinge durch die Nickellöſung, ſelbſt bei beträchtlicher Dicke der Schicht, nur wenig verändert. Dieſe Thatſachen zuſammenfaſſend, kann man entweder ſagen, daß das Auge des Rothblinden gleichſam Nickelchlorür, oder das normale Auge gleich— ſam Fuchſin enthalte, um bei gleicher Or— ganiſation den ſo verſchiedenen Eindruck zu empfangen. Man weiß, daß Dalton vermuthet hat, ſein Auge enthalte eine bläuliche Flüſſigkeit, welche Vermuthung ſich aber bei einer nach ſeinem Tode angeſtellten Unterſuchung keineswegs beſtätigt hat. Auch ſoll der obige Ausdruck keine Hypotheſe, in welcher der Glanz der Contraſte fehlte, an. Grün, Blau und Gelb bleiben bei- nahe unverändert, nur Roth, Violet und ſondern nur ein bloßes Bild abgeben. Es handelte ſich nunmehr zunächſt noch darum, feſtzuſtellen, ob das Fuchſin auch einem künſtlichen Daltonianer das normale Geſicht wiedergiebt. Dies geſchieht in der That. Wenn Jemand mit gewöhnlichem Auge ſoviel Nickelchlorür einſchaltet, um die Seidenbänder ſo zu ſehen, wie ein Dal— tonianer, und dann eine paſſende Schicht Fuch— ſin hinzunimmt, ſo erſcheinen ihm die Bänder, durch die doppelte Farbenſchicht zwar etwas weniger hell, aber wieder in den urſprüng— lichen Nüancen. Dementſprechend wird um— gekehrt ein Daltonianer, deſſen Auge durch Fuchſin corrigirt war, durch Hinzufügung 1 Delboeuf, Der Daltonismus. 511 von Nickelchlorür von Neuem rothblind. In ähnlicher Weiſe wirkte eine grüne Be— leuchtung, indem ſie ähnliche Farbenänder— ungen für normale Augen hervorrief, wie das Nickelchlorür, und ebenſo werden bei dem gelbröthlichen Lichte der gewöhnlichen Beleuchtung durch Kerzen oder Oellampen die Farben leichter unterſcheidbar für Dal— tonianer, wie dies ſchon Dalton ſelbſt be— merkt hat. Der unmittelbaren Anwendung dieſer experimentellen Thatſachen auf die Erklärung der Rothblindheit ſtand noch eine Schwierig— keit entgegen, nämlich die Frage, warum das Farbenſpektrum der Sonne oder weißglühen— der Körper, welches den Daltonianern nur zweifarbig erſcheint, nicht mittelſt der Fuchſin— löſung wieder mehrfarbig wird. Allerdings erſchien der Uebergangstheil zwiſchen Blau und Gelb in ſeiner Dämpfung durch Fuchſin wie eine dritte Farbe, wie Grün, aber es trat nicht Roth oder Violet an den beiden Enden hervor. Allein, wie ſich bald ergab, dem Vorhergehenden entnehmen können, in der überwiegenden Wirkung der grünen lichkeit für die rothen und violetten ganz aufhebt, und dieſe grünen Strahlen werden ſo blendend, daß ſie, wie jedes ſehr geſteigerte farbige Licht, dem Auge farblos erſcheinen, dabei zugleich die Empfänglichkeit für die nahezu complementären Farben aufheben. Um dieſe Vorausſetzung zu erhärten, ließ Prof. Spring gleichzeitig, während er das Spektrum eines glühenden Platindrahts be— trachtete, durch Nickelchlorür grün gefärbtes Licht, mit welchem er die Scala erleuchtete, in ſein Auge treten, und ſiehe da, er ſah jetzt, wie ſein Mitarbeiter, das Spektrum nur noch zweifarbig, blau und gelb. Aber dieſe beiden Farben ſind nicht die des ge— wöhnlichen Spektrums, das Blau iſt ein ge— ſättigtes Indigo und das Gelb ein Gold— gelb, ähnlich dem der neuen Zwanzigfranc— Stücke, es ſteckt alſo in ihnen beiden Roth. Wurde das durch die Mitwirkung des grünen Lichtes zweifarbig gewordne Spektrum durch Fuchſin betrachtet, ſo erſchien es in ſeinen natürlichen Farben. Wurde der Verſuch nun umgekehrt, und an Stelle des durch Nickelchlorür gegangenen Lichtes Fuchſinlicht in das ein normales Spektrum betrachtende Auge geſendet, fo er— ſchien letzteres wiederum zweifarbig, nämlich Purpurviolet und glänzend Rothorange und damit ſcheint ſich das Verſtändniß einer zwei— ten Art von Farbenblindheit aufzuthun, die ſich entgegengeſetzt verhält und durch Nickel— chlorür aufgehoben werden kann. Auf alle dieſe Thatſachen gründen die Experimenta- toren eine neue Theorie der Farbenempfind⸗ ung, welche nicht mehr von dem Vorhanden— walten hier beſondere Verhältniſſe vor. Der Fehler der Daltonianer beſteht, wie wir ſchon ſein verſchieden empfindender Netzhaut-Ele— mente ausgeht, ſondern die Farbenempfindung als einen allgemeinen Erregungszuſtand der Netzhaut, der nur nach Graden verſchieden Strahlen, welcher bei ihnen die Empfind- I it, auffaßt. Nach dieſer Theorie find die Daltonianer, wie ſich gezeigt hat, nicht über- haupt unfähig, Roth zu empfinden, ſondern im mittleren Theile des Spektrums für ſie ſie ſind nur durch gleichzeitige Eindrücke für dieſe Farbe geblendet, ähnlich wie man durch Santonin-Genuß vorübergehend für die Empfindung der violetten Farbe ge— blendet werden kann, und dann die geſammte Natur in der gelbgrünen Färbung des Neides erblickt. In einem gewiſſen Grade ſind wir Alle rothblind, denn das ſtumpfe Grün der Blätter reicht hin, uns für die anſehnliche Menge rothen Lichtes, welches die Blätter gleichzeitig ausſtrahlen, vollkommen unempfindlich zu machen. Erſt wenn wir Delboeuf, Der Daltonismus. vermittelſt des Erythroſkops von Lommel die überwiegende Menge der grünen Strahlen abblenden, empfangen wir die Empfindlich— keit für dieſes Roth, und ſehen dann das Laub und den Raſen im Sonnenſchein leuch— tend ſiegellackroth, während das Grün der Fenſterläden unverändert daneben erſcheint, und ein prachtvoll blauer Himmel ſich über die rothen Baumwipfel wölbt. Es iſt dem— nach möglicherweiſe der Daltonismus lediglich die Steigerung einer in geringerem Grade allgemeinen Eigenſchaft des Auges, für grünes Licht viel empfänglicher zu ſein als für das rothe, und durch das geringſte Ueberwiegen deſſelben gegen das Roth mehr oder weniger abgeſtumpft zu werden. Vielleicht ſpielt hierbei das Sehroth eine dem Fuchſin ähn— liche Rolle, und ſein Fehlen oder Vorwiegen bewirkt vielleicht dieſe Störungen. Wegen der mathematiſchen und phyſikaliſchen Be— gründung jener Theorie, die ohne die er— läuternden Figuren unverſtändlich bleiben würde, müſſen wir auf das Original verweiſen. Schlußbetrachtungen. „Kommt dem Farbenſinn in allen ſo— genannten normalen Augen derſelbe Grad von Feinheit zu? Man würde hieran ſchon zweifeln dürfen, einzig in Folge der Er— fahrung, daß die Natur ſich niemals wieder— holt. Giebt es doch nicht einmal zwei völlig gleiche Blätter! So erhebt ſich denn ein ſtarke Muthmaßung zu Gunſten der Meinung, daß, was die Farben angeht, Jeder ſie ein wenig nach ſeiner Art ſieht. Hat nicht ſchon die Weisheit der Völker gejagt, daß es gewiſſe Dinge giebt, über die man niemals ſtreiten ſoll? Wir ſind jetzt in der Stellung, auf dieſe Frage zu antworten und die Antwort auf poſitive Beweiſe zu ſtützen. Nicht weniger als es Gradunterſchiede beim Daltonismus giebt, muß man auch Mit ſolche beim Nichtdaltonismus zugeben. andern Worten: zwiſchen dieſen beiden äußer— ſten Graden der Farbenmächtigkeit in einem gewiſſen Sinne, giebt es alle möglichen Uebergänge. In der That corrigirte ſich das Auge der verſchiedenen Rothblinden, mit denen wir experimentirt haben, vermittelſt ſehr verſchiedener Fuchſinſtärken, und andrer— ſeits bedurften die „normalen“ Augen, welche wir unſern Experimenten unterworfen haben, mehr oder weniger beträchtlicher Mengen von Nickelchlorür, um einen gleichen Grad von Rothblindheit zu erlangen. Fragen Sie eine Geſellſchaft verſchiedener Perſonen, welche Farbe der rothe Fingerhut (Digitalis pur— purea) beſitze, und Sie werden — wir haben dieſe Probe oft angeſtellt, — die wider— ſprechendſten Antworten, begleitet von den entſchiedendſten Beſtätigungen und Vernein— ungen, erhalten. Man beſteht Zug um Zug darauf, daß die Blume violet, purpurn, roſa, lila, malvenfarbig, braunkohlfarbig ſei. Jede Perſon ſieht das Spektrum nach ihrer Art, die Eine ſieht darin mehr Blau und Gelb, die andere mehr Violet und Roth, die Einen ſehen es mehr ausgedehnt, die Andern weniger. Wir ſind ſogar bei einem Collegen dem ſonderbaren Falle begeg— net, daß er Violet ſah, wo man gewöhn— lich Roth ſieht. Aber Herr Spring hat dieſe Erſcheinung bei ſich ſelbſt hervorbrin— gen können, er brauchte nur ſeinen Blick ungefähr achtzehn Sekunden lang auf dem gelben Theil des Spektrums verweilen zu laſſen, um dann ebenfalls den rothen Theil violet zu erblicken. Dieſe letztere Thatſache reiht ſich wohl— bekannten und beſprochenen Erſcheinungen an; aber wenn man ſie mit denjenigen, die wir ſtu— dirt haben, vergleicht, bemerkt man, daß dieſe angeblich irrigen Urtheile einzig auf einer beſonderen Dispoſition der Netzhaut, dieſer Delboeuf, Der Daltonismus. oder jener Reaction den Vorzug zu geben, beruhen können. Die Verſchiedenheiten in den Augen beziehen ſich alſo auf zweierlei Urſachen, auf den Grad der Trägheit oder des Wider— ſtandes der Netzhaut und auf die Spektral— lage derjenigen Strahlengattung, die ihrem natürlichen Gleichgewichtszuſtande, ihrem Nullpunkte entſpricht. Bis zum Beweiſe des Gegentheils neigen wir dazu, auf dieſe letztere Urſache die Varietäten zu beziehen, die der Daltonismus darbieten kann. Da— ran knüpft ſich ein fernerer Schluß: der Daltonismus vermag unter allen ſeinen For— men betrachtet werden, als ob er nur die einfache, aber ausnahmsweis ſtarke Ueber— treibung einer Beſondernheit wäre, die allen Augen, mehr oder weniger ausgeſprochen, eigen iſt. Aus dieſen Gründen geſchah es, daß wir für dieſe Eigenthümlichkeit den Namen Daltonismus beibehielten, da er an einen großen Namen erinnert und kein Vor⸗ urtheil erweckt, denſelben ſolchen Benenn— ungen vorziehend, welche, wie Achromatopſie (Farbenblindheit), zu viel ſagen oder ganz unverſtändlich ſind, wie Chromatopſeudopſie (falſches Farbenſehen). In Wirklichkeit giebt es ja eine allein wahre Manier, die Farben zu ſehen, überhaupt nicht. Eine Empfindung kann mehr oder weniger un— vollkommen, nicht aber falſch ſein. Es iſt ohne Zweifel gewiß, daß derjenige, welcher eine durch einen Andern erkannte Ver- ſchiedenheit nicht wahrnimmt, ein weniger gutes Geſicht beſitzt, als dieſer, aber wer möchte behaupten, daß nicht ein beſſer orga— niſirtes Auge noch da, wo der Sieger nur einförmige Färbung wahrnimmt, weitere feine Nüancen unterſcheiden könnte? Sieht nicht anderſeits der Daltonianer ſeinerſeits Färbungen durchaus verſchieden, die zu verwechſeln gewöhnliche Augen ſehr geneigt find? Anderſeits ſcheint folgende That— 513 ſache ſehr geeignet, dieſe Beobachtung zu beſtärken. Eines Tages entwarf einer meiner Freunde, ein talentvoller Maler, eine Land— ſchaftsſkizze. Er hatte ſich im Angeſicht einer der ſchönſten Maaslandſchaften nieder- gelaſſen, und die warmen und grellen Töne der Felſen von Chokier, welche ſich im Vor— dergrund darſtellten, contraſtirten wunderbar mit denen der fernen Hügel von Engis und Engihoul, welche den Hintergrund des Gemäldes ausmachten und deren Formen der Duft eines heißen September-Nachmittags verwiſchte. Als nun der Künſtler, um die weiche und milde Durchſichtigkeit des Hori— zontes darzuſtellen, Grau auf der Palette zurecht machte, proteſtirte ich: für mich wären die Hügel, welche die Ausſicht ſchloſſen, in Blau getaucht. Derſelben Meinung war außerdem eine anweſende junge Dame. Eine andre Dame dagegen, welche ſich mit Malerei beſchäftigte, urtheilte, als Schiedsrichterin angerufen, wie der Landſchafter. Dies Urtheil ſchien weitere Diskuſſionen abzu— ſchneiden und der Maler entſchied ſich zu meinem großen Mißvergnügen für die anfangs gewählte Farbe. Im erſten Augen— blick ſchien mir das ganz natürlich, aber beim Nachdenken darüber fand ich die Sache ſonderbar. Daß mein Freund die Farbe wiedergab, wie ſie ihm erſchien, war ja in der Ordnung, aber wie kam es, daß weder die junge Dame noch ich den auf die Lein— wand geworfenen gräulichen Hintergrund blau erblickten? Es gab alſo zwiſchen der natürlichen Farbe der Landſchaft und der— jenigen des mit Oel durchfeuchteten Staubes, die jene wiedergeben ſollte, einen Unterſchied, den der Künſtler nicht empfand. mich ſeitdem oft gefragt, ob nicht eine ähnliche Urſache daran ſchuld ſein mag, daß gewiſſe Coloriſten Alles in Gelb, Blau, Ich habe 514 Grün oder Grau malen müſſen.“) Und was den Umſtand betrifft, jetzt zu erfahren, mit meinem Blau Recht hatte, ſo iſt das eine müßige und durchaus unlösbare Frage. Derjenige allein wird in der Malerei reuſſi- ren, deſſen Augen denen der großen Menge entſprechend empfinden. Wir können auf den Urſprung dieſes Auseinandergehens der ſinnlichen Urtheile zurückgehen. Die Malerei hat in Wirklich— keit den Zweck, die Natur und ihr leuchten— des Aeußere mit Farbſtoffen nachzubilden, deren färbender Stoff von anderer Natur iſt als die nachgeahmten Färbungen. Da nun ein Daltonianer — wie wir oben ſahen — darauf verfallen kann, rothe Bäume zu malen, weil ihm der Farbſtoff auf der Palette ebenſo erſcheint, wie derjenige des Laubwerks: wer giebt uns Gewißheit, daß für andre vollkommnere Augen, vielleicht für diejenigen unſerer Nachkommen, das Gelb, die Ockerfarbe, das Blau und das Grün, deſſen man ſich gewöhnlich in der Malerei bedient, nicht ganz verſchieden erſchei— nen werden, von dem Gelb, Braun, Blau und Grün der lebenden Natur? Das könnte uns nun wohl auf die hiſtoriſche und philologiſche Seite der Frage führen. Man hat behauptet, daß die Alten weder Blau noch Violet gekannt hätten, und daß der Farbenſinn ſich vom Roth aus nach der andern Seite des Spektrums hin entwickelt habe. Es iſt unleugbar, daß Homer und die andern griechiſchen Poeten, ) Anmerkung des Ueberſetzers. Dieſen Gegenſtand hat der Ophthalmologe Dr. R. Liebreich in einem Vortrage behandelt, welchen derſelbe am 8 März 1872 in London gehalten und in welchem er den Grund, warum einzelnen Malern gewiſſe Pigmente anders als die Naturfarben erſcheinen, geiſtreich erörtert hat. ſchieden hätten, erſcheint gezwungen. Lateiner haben kein beſonderes Wort, um die gelbe Farbe zu bezeichnen. Delboeuf, Der Daltonismus. in ihren Verſen niemals der blauen Seen noch des Azurs eines wolkenloſen Himmels, ob mein Freund mit ſeinem Grau oder ich gedenken, ja nicht einmal ein beſonderes Wort beſitzen, um deren Farbe zu bezeichnen. Der Schluß jedoch, den man hieraus zieht, daß ſie ſie nicht vom Schwarz oder Grau unter— Die Wir ſelbſt beſitzen keine Specialbezeichnungen für die Gerüche, und für die ſo verſchiedenartigen und beſtimmten Empfindungen des Ohres iſt unſer Lexikon von einer äußerſten Armuth. Zum Theil haben wir darin übrigens eine Frage der Thatſachen von uns. Iſt in den Malereien, welche uns aus dem Alterthum überkommen ſind, und welche die Tempel der Pharaonen und die Aſche Pompeji's uns bewahrt haben, der Himmel blau oder nicht? Findet man auf den Thonwaaren und Moſaiken und Statuen einer entfernten Epoche niemals Spuren von Blau oder Violet? Darin iſt es, wo man die Ent— ſcheidung des Streites findet.“) Wie es auch darum ſtehen mag, es iſt nunmehr möglich, verſchiedene Augen in Beziehung auf den Farbenſinn zu vergleichen. Das Fuchſin, Nickelchlorür und, wenn nöthig, andre Subſtanzen, werden das genaue Maß der Unterſchiede geben. Damit ſehen wir eine Breſche gelegt in jene Mauer, welche in jedem von uns das innere Sinnesforum von dem des Andern trennt. Nicht mehr alle Empfindungen widerſetzen ſich einem Austauſche; die der Farben können nun von einer Perſon der Andern mitgetheilt werden. ) Anmerkung des Ueberſetzers. In einer Anmerkung zu dieſer Stelle verweiſt der Herr Verfaſſer auf die drei gegen Magnus' und Geiger's Theorien gerichteten Artikel im erſten Bande des „Kosmos“, die ihm als bewei— ſend erſchienen ſind. Delboeuf, Der Gewiß kann man, mit der ganzen Strenge einer unbeugſamen Logik räſonnirend, immer noch Zweifel gegen die Gleichförmigkeit der Eindrücke eines natürlichen Daltonianers, mit denen eines künſtlichen erheben. Aber es kann ſich die Gelegenheit bieten, ſie ver— ſchwinden zu laſſen. Wenn ſich z. B. Indi— viduen fänden, welche ein rothblindes Auge und ein gewöhnliches hätten, ſo würde nichts leichter ſein, als den Werth unſrer Ergeb— niffe zu controliren. Es reicht ſogar hin, daß die Abweichung nicht denſelben Grad in beiden ) Centralblatt für die mediz. Wiſſenſchaften, 24. Februar 1872. ) Anmerkung des Ueberſetzers. In einer Nachſchrift behandelt der Verfaſſer noch kurz die Möglichkeit einer Heilung des Dal— tonismus, die ſich ihm dadurch eröffnet hat, daß er ſelbſt ſeit einiger Zeit das Roth leuch— tender erblickt und nicht mehr ſo leicht mit Braun und Violet verwechſelt als früher. Er ſchreibt dieſen Fortſchritt der häufigen Benutz ung der Fuchſinlöſung zu, welche gleichſam ein im Auge vorhandenes Hinderniß beſeitigt. Doch ſind dieſe günſtigen Ausſichten noch zu neu, um eine ſichere Zuverſicht darauf zu be— gründen. Eine auf Veranlaſſung der belgiſchen Regierung von der Akademie der Wiſſenſchaften neuerlich einberufene Commiſſion, welche aus den Profeſſoren Van Beneden, Delboeuf, Schwann und Spring beſtand, um über die für den Eiſenbahndienſt wichtigen Fragen zu berathen, hat unter Anderem für die Zugführer Kosmos, Band III. Heft 6. Daltonismus. 515 Augen erreicht hat. Nun, derartige Fälle dürften relativ und in Summa nicht felte- ner ſein, als diejenigen einer ungleichen Kurz⸗ oder Weitſichtigkeit beider Augen. Herr Woinow in Moskau erwähnt den Fall einer Dame, deren rechtes Auge der Empfindung des Grünen beraubt war, während das linke ſämmtliche Farben erblickte. Dürften wir es wagen Herrn Preyer, der den Fall beſprochen hat), zu erſuchen, ſich auf's Neue mit Herrn Woinow in Verbindung zu ſetzen, um von ihm wohl eingeleitete Aufklärungen zu erhalten ? **) den Gebrauch eines Analyſators empfohlen, der aus einer geeigneten grünen und einer rothen Glasſcheibe beſteht. Bei Unſicherheiten über die Farben der Signale, die durch Ermü— dung oder Krankheit ſogar plötzlich eintreten können, würde es genügen, das fragliche Signal, erſt durch die eine, dann durch die andre Scheibe zu betrachten. Ein rothes Signal wird durch das rothe Glas an Helligkeit zu- nehmen, und durch das grüne verdunkelt werden, und bei einem grünen Signal wird der umgekehrte Fall eintreten. Um dieſen Analyſator aber für die Nachtſignale ebenſo brauchbar wie für die Tagesſignale zu machen, müßten für die farbigen Laternen ſorgfältig Gläſer ausgewählt werden, welche nur ſolche Strahlen durchlaſſen, die durch die entgegen— geſetzten Scheiben des Analyſators möglichſt ausgelöſcht werden. (Bull. de 1’ Acad. Royale de Belge. P. XLV. Avril 1878.) Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. Von Ernſt Krauſe. ir John Lubbock, Ed⸗ ward Tylor, Herbert Spencer u. A. haben die Urzuſtände der europäiſchen Bevölkerung unſerm Verſtänd— niſſe dadurch näher zu bringen geſucht, daß ſie zur Vergleichung die Lebensweiſe, Fähig— keiten und Sitten der außereuropäiſchen „Wilden“ im weiteren Umfange herbei— zogen. Sie haben gezeigt, daß noch in der Jetztwelt eine bedeutende Anzahl von Völkern in der Steinzeit lebt, andere die Lebensweiſe der Ichthyophagen fortſetzen, deren Spuren wir in den ſogenannten Kjökkenmöddings finden, während noch an— dere in Pfahlbauten hauſen und Stein— monumente aufrichten, gerade ſo, wie eine Reihe von Stämmen im vorgeſchichtlichen Europa. Wir haben da mit einem Worte die Vorzeit in der Gegenwart, und das Studium der Indianerkünſte, um Stein— waffen zu verfertigen, Feuer anzumachen, ihre Jagd- und Fiſcherei-Praxis, ihre primitiven Leiſtungen in den Bekleidungsgewerben und in der Töpferei, in den Anfängen der ornamentalen Kunſt und ſchriftlichen Auf— zeichnung, in der Metallgewinnung und Färberei, iſt für uns ein Mittel geworden, die Lebensart unſerer eigenen Urväter zu verſtehen und auch einen tiefern Blick in ihr Seelenleben zu thun. Die genannten Autoren und ihre Nach— folger auf dieſem Gebiete haben bei dieſer lehrreichen Vergleichung einen ferneren Be— rührungspunkt vorläufig ganz außer Be— tracht gelaſſen, der dennoch zu den intereſ— ſanteſten Parallelen Veranlaſſung giebt: ich meine den allgemeinen Gebrauch von Pfeilgiften, wie ihn uns die Erforſcher der neuen Welten geſchildert haben, im alten Europa. Wir werden nachher ſehen, daß die alten Griechen und Römer, als ſie das nordiſche Europa entdeckten und erforſchten, vor 2-3000 Jahren mit demſelben unheimlichen Gefühle, welches unſere heutigen Tropen-Reiſenden empfinden, den Gebrauch jener furchtbaren, bei der geringſten Verwundung ſicher tödten— den Waffen in Nordeuropa beobachteten und ſchilderten. Sie ſelbſt hatten dieſen, ohne Zweifel auch bei ihren Urvätern vorhanden geweſenen Gebrauch der Giftwaffen faſt ebenſo vollkommen vergeſſen, wie die Nord— europäer ſeit einigen Jahrhunderten. Dieſes vollkommene Verſchwinden einer ehemals gebräuchlichſten Jagd- und Kriegswaffe, die auch wahrſcheinlich unſern eigenen Urvor— fahren dazu diente, ihren alltäglichen Unter— halt herbeizuſchaffen, iſt ebenſo lehrreich als merkwürdig; um ſo mehr, als die Kunde ſich in einigen Gegenden bis ins 14., 15. und 16. Jahrhundert erhalten hat; erſt die Erfindung des Schießpulvers gab der Erinnerung an die Giftpfeile der Vor— zeit den Todesſtoß. Als im Jahre 1595 Walter Ra— leigh, der Eroberer Virginiens, die erſte Kunde nebſt Proben von einer Subſtanz unbekannten Urſprunges, deren ſich die amerikaniſchen Indianer auf der Jagd und im Kriege bedienten, nach Europa brachte, war das Erſtaunen über den bei uns un- erhörten Gebrauch allgemein. Das Geheim niß, in welches die Wilden ihre Bereitung hüllten, die wunderbare Thatſache, daß ſchon eine minimale Spur deſſelben in einer Wunde unabwendbar den Tod nach ſich zog, die noch wunderbarere Nachricht, daß das Gift im Magen unſchädlich ſei und ſogar hier und da als Heilmittel diene, umhüllten dieſe Erzählungen mit einem romantiſchen Schauder, der ſich bei der Kenntnißnahme der javaniſchen Pfeilgifte im vorigen Jahrhundert zu einem wirklichen Romane ausbildete. Im Jahre 1775 ver— öffentlichte nämlich der holländiſche Wund- arzt Förſch ein Buch über Java, in welchem der Pfeilgiftbaum dieſer Inſel den Löwenantheil des pittoresken Intereſſes da— vonträgt: „In einer Einöde des Innern der Inſel ſteht der gewaltige Giftbaum, deſſen Ausdünſtungen die Luft auf drei Meilen im Umkreiſe vergiften, ſo daß der Kraufe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. 517 Boden rings von den Gerippen der Men- ſchen und Thiere umgeben iſt, die ſich ihm in Unkenntniß, oder mit der Abſicht, feinen giftigen Saft zu bekommen, genähert haben. Um den letzteren nämlich für die Zwecke des Krieges, der Jagd und der Staats— juſtiz zu bekommen, ſtellte man, wie Förſch erzählt, verurtheilten Verbrechern die Wahl zwiſchen ſofortiger Hinrichtung oder einem Gange zum Upasbaume, mit der Ausſicht auf Begnadigung, wenn es ihnen gelänge, eine Portion des Giftes glücklich heimzu⸗ bringen. Sie zogen in der Regel die letztere Alternative vor, da bei ſonſtiger guter Körperconſtitution und günſtigem Winde ein Gelingen der Expedition für möglich galt. An der Grenze des Upas-Thales wohnt ein alter Heidenprieſter, deſſen alleiniges Amt es iſt, den ausgeſandten Verbrechern für ihr Vorhaben nützliche Winke zu geben und ſie für den lebensgefährlichen Gang mit religiöſer Stärkung zu verſehen. Förſch hatte mit dieſem Prieſter eine lange Unter— redung, aus welcher er alles Nähere über den gefürchteten Baum und ſein verhäng— nißvolles Gift erfuhr. Der alte Mann wollte während eines dreißigjährigen Auf— enthaltes in dieſer Gegend nicht weniger als 700 Wagehälſe für die Reiſe nach dem Upasbaume vorbereitet haben, von denen aber nicht der zehnte Theil zurück— gekehrt ſei. Er verſähe einen Jeden mit einer Maske, mit einer ledernen Kapuze und einem Käſtchen für den trefflichen Saft, der ihnen das Leben, Andern den Tod bringen ſollte. Die Verurtheilten warteten in ſeiner Wohnung den Eintritt des gün— ſtigen Windes ab, und würden dann von ihm an einen Bach geleitet, deſſen Lauf ſie zu dem Baume führe.“ So weit die Mittheilungen von Myn— — EEE 518 heer Förſch, der ſich vergebens bemühte, wenigſtens einen Zweig des Baumes als Wahrzeichen mit nach Europa zu bringen. Märchen gefüttert, da man den Urſprung der gefürchteten Waffe den Holländern ver⸗ borgen zu halten wünſchte. Ein großes, ſcheinlich ein ehemaliger Krater, welches mit den Gerippen von erſtickten Thieren erfüllt war, wie wir derartige Mofetten Jia auch in Europa haben, diente um der Sage ein Relief zu geben. Vollkommen wahr mag indeſſen ein Bericht deſſelben Autors über eine Execution am Hofe eines damaligen javaniſchen Fürſten ſein, die er als Augenzeuge beſchrieb. Es wurden mit einem Male dreizehn Frauen deſſelben, die ſich durch irgend ein Vergehen die Un— gnade ihres Herrn und Gebieters zugezogen hatten, durch Upasgift hingerichtet. Man ritzte ſie dabei nur ganz leicht mit einer damit beſtrichenen Lanzette, worauf ſie nach wenigen Augenblicken todt zu Boden fielen. Wir erinnern uns, daß auch in den An— fängen der europäiſchen Juſtiz das Gift eine ähnliche Rolle ſpielte. Man hat ſpäter den Urſprung der javaniſchen und indiſchen Pfeilgifte genau kennen gelernt, die betreffenden Pflanzen nach Europa gebracht, ihre Wirkungen ſtudirt und den wirkſamen Beſtandtheil daraus dargeſtellt. Der von Förſch ge— meinte Giftbaum wurde von den Einge— beornen mehrer oſtindiſchen Inſeln, nament- lich auch auf Borneo, für ihren Bedarf künſtlich angepflanzt und gepflegt; es iſt ein über hundert Fuß Höhe erreichender und der Familie der Brodbäume, dem man nach dem Namen des aus ſeiner Rinde bereiteten Pfeilgiftes, Upas antjar, den Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. | | | Kohlenſäure aushauchendes Giftthal, wahr- verwandte Namen Antiaris toxicaria beigelegt hat. Erſteres verdankt ſeine Wirkſamkeit allein dem Antiarin, einem Harzgifte, von welchem Man hat ihn offenbar gefliſſentlich mit ſchon außerordentlich kleine Spuren in Wunden tödtlich wirken. Es iſt aber wie die meiſten Pfeilgifte im Magen vollkom— men unſchädlich, und als die Eingebornen Borneos in den letzten Kriegen mit den Holländern ihre Giftpfeile in Anwendung brachten, gab man den Soldaten einfach den Rath, ſchnell einen Kreuzſchnitt über die Wunde zu machen, und ſie bis zur Herbeiſchaffung von Schröpfköpfen mit dem Munde auszuſaugen. Auf dieſe Weiſe wurden die meiſten verwundeten Soldaten von dem ihnen ſonſt ſicher drohenden Tod errettet. Die Bewohner Oſtindiens verwenden aber neben dem Upas antiar noch ein an— deres, mindeſtens ebenſo gefährliches Pfeil— gift, das Fürſten-Gift (Upas radjah oder Tieutte), welches aus einer Anzahl von Pflanzenſtoffen bereitet wird, unter denen eine dem ſogenannten Krähenaugen-Baum Pflanze (Strychnos Tieuté Lesch.) die Hauptrolle ſpielt. Merkwür— diger Weiſe werden die ſüdamerikaniſchen, Baum aus der Ordnung der Neſſelgewächſe unter den Namen Curare, Woorari, Urari, Tikuna u. ſ. w. bekannten, ſehr wirkſamen Pfeilgifte größtentheils ebenfalls aus Strych- nos-Arten (namentlich Strychnos toxifera Schomb., St. cogens Benth., St. Schom- burgkii Kl. u. A.) dargeſtellt, jo daß man ſagen kann, die Strychnaceen ſeien die eigentlichen Pfeilgiftpflanzen, obwohl die ihnen im Syſtem zunächſt ſtehenden Milchſaftpflanzen der Apocyneen und Asklepiadeen, ſowie auch andere gar nicht verwandte Pflanzen ebenfalls ſehr wirkſame Blutgifte enthalten. Jene aus Strychnos und Genoſſen bereiteten Pfeilgifte zeichnen ſich nun meiſtens dadurch aus, daß fie eine dem gefürchteten Gifte der Krähenaugen (d. h. der Samen von Strychnos Nux vomiea L.), dem Strychnin, faſt entgegengeſetzte Wirkung zeigen. Während dieſes das Nervenſyſtem furchtbar erregt und dem Tode voran- gehende ſchreckliche Krämpfe erzeugt, ſtürzen die mit den amerikaniſchen Giftpfeilen ver— wundeten Thiere nach wenigen Augenblicken gelähmt nieder, ſie können nicht einmal ſtöhnen oder ſchreien, weil die Lähmung auch die Stimmnerven erfaßt hat, und ſterben lautlos, ſobald dieſelbe die Athmungs— nerven ergriffen hat. Im Magen dagegen iſt auch dieſes Gift viel weniger ſchädlich, ja es wird von den Ureinwohnern als Magenheilmittel genoſſen, natürlich in klei— nen Mengen. Das Fleiſch der ſo erlegten Thiere wird für vollkommen unſchädlich gehalten. Dieſe merkwürdigen Wirkungen und der Umſtand, daß in unſeren Breiten keine Strychnaceen vorkommen, iſt ganz geeignet, die irrige Vorſtellung zu erzeugen, daß ſo furchtbar wirkende Blutgifte in den Pflan- zen nur die Tropenſonne zeitigen könne, wie ja auch die giftigſten Reptilien und Inſekten nur dort vorkommen; und in der That findet man die Meinung allgemein verbreitet, daß es bei uns und in der gemäßigten Zone überhaupt keine Pfeilgift— pflanzen gäbe, und daß dergleichen in Europa unerhört ſei. Man betrachtete daher auch in den ethnographiſchen Samm— lungen die mit eingedicktem Pfeilgift ange— | füllten Muſchelſchalen und Kürbisfläſchchen, ſowie die mit der Warnungstafel: „Ver— giftet!“ verſehenen Pfeile mit einer Art beſonderen Reſpekts und ſcheuem Mißtrauen; die auf Nervenreize abzielenden Roman— ſchriftſteller der Dumas-Sue'ſchen Schule verſchrieben ſich ſolche mit einem Hände— Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. druck beibringbaren „extrafeinen“ Gifte für beſonders raffinirte Ausderweltſchaffungen, und Niemand wird die faſt abergläubiſche Scheu vor dem Giftpfeil, wie fie Jean Paul in Katzenberger's Badereiſe und Balzac in einer ſeiner „drolligen“ Er— zählungen (PApostrophe) geſchildert haben, humoriſtiſch und ungerechtfertigt finden. Gleichwohl iſt kein Zweifel daran und wird von zahlreichen klaſſiſchen Schriftſtel— lern beſtätigt, daß die Urbewohner Europas in ihrer heimathlichen Flora allerwärts Pfeilgiftpflanzen zu ermitteln wußten, und ſich alſo auch in dieſem Punkte gar nicht von den Naturvölkern Amerikas und Afrikas unterſchieden haben. Man konnte dieſe Pflanzen eben darum ſo vollkommen ver— geſſen, weil ſie wahrſcheinlich im Magen ebenfalls unſchädlich ſind, — denn ſonſt würden ſie zum Theil das Wildpret un— genießbar gemacht haben, — während die Volksbotanik ſich heute doch mit gutem Grunde nur um ſolche Giftpflanzen küm— mert, die vom Magen aus vergiften. So haben denn beiſpielsweiſe vor einigen Jahren die Pharmacologen Diedulin und Buchheim bemerkt, daß die Extrakte zweier unſerer für ganz unſchuldig gehal— tenen Feldpflanzen, nämlich der Hunds— zunge (Cynoglossum offieinale L.) und der Natternzunge (Echium vulgare L.) dem amerikaniſchen Curare ähnlich wirken, wenn auch nicht ganz ſo ſtark. Bevor wir zu einer nähern Betracht— ung der alten Zeugniſſe über den Pfeil- giftgebrauch der europäiſchen Indianer über— gehen, müſſen wir uns die anſcheinend ſehr verwickelte Frage vorlegen, wie die menſchliche Urbevölkerung auf der ganzen Welt und in den verſchiedenſten Zonen dazu gekommen ſein mag, Waffen der gefährlichſten Art zu entdecken die ſo in der Natur verſteckt liegen, daß 520 unſere Botaniker und Chemiker beiſpiels— weiſe noch vor wenigen Jahren nicht im Stande waren, auch nur eine einzige mittel— enropäiſche Pflanze mit Sicherheit zu be— zeichnen, aus welcher die alten Gallier, Franken, Belgier, Dalmatier und Scythen im Stande geweſen wären, die Pfeilgifte zu bereiten, mit denen ſie verſehen waren. Aber wenn man dieſe Frage näher be— trachtet, ſo findet man, daß ihre Löſung weniger ſchwer iſt, als ſie erſcheint. Es unterliegt nämlich meines Erachtens keinem Zweifel, daß der Urmenſch überall die Idee ſeiner Giftpfeile aus der Beobachtung der giftigen Schlangen und Inſekten ſchöpfen mußte. Nirgends konnte es ihm entgehen, daß die unbedeutenden Wunden, welche der Biß oder Stich dieſer Thiere bei Menſchen und Thieren erzeugt, nur deshalb tödtlich werden, weil eine fremde Subſtanz, ein Blutgift, mittelſt der Waffe in die Wunde gelangt. Je unvollkommner ſeine eigenen Jagd- und Kriegswaffen waren, um ſo ſtärker mußte er offenbar dieſe Thiere um ihre Giftwaffe beneiden, und daran knüpft ſich unmittelbar der Wunſch einer Nach— ahmung derſelben. Es läßt ſich annehmen, daß überall zuerſt ausgebrochene Giftzähne der getödteten Schlangen als Giftpfeil— ſpitzen gedient haben mögen. Schon der alte Aelian hat dieſer Meinung Aus— druck gegeben, indem er ſagt, die Menſchen hätten den Gebrauch der Giftpfeile den Wespen abgelauſcht, dieſe ſtürzten ſich näm— lich, ſobald ſie eine todte Schlange fänden, auf dieſelbe und vergifteten ihre Stacheln daran.!) Wenn nun auch dieſe Gewohn— heit der Wespen in das Gebiet der Mythe gehört, ſo iſt der Grundgedanke doch ſehr wahrſcheinlich und ſeine ſchon an ſich un— abweisbare Annahme wird noch beträchtlich . Hist. animal. V. 16. Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. durch die Thatſache erhöht, daß die Gift— köche aller Völker und Zeiten Schlangen und andere für giftig gehaltenen oder wirk— lich giftigen Thiere (Eidechſen, Fröſche, Salamander, Spinnen, Ameiſen, Raupen u. ſ. w.) ihrem nach den Regeln der Hexen— küche bereiteten Gebräu hinzuſetzten und heute noch hinzuſetzen. In dem alten, dem Ariſtoteles zugeſchriebenen griechiſchen Buche: De mirabilium auseultationibus wird die Bereitung des Pfeilgiftes der Scythen wie folgt beſchrieben: „Das Gift der Scythen, mit welchem fie die Pfeile vergiften, wird, wie man ſagt, aus der Viper bereitet. Die Seythen fangen träch— tige Vipern und laſſen dieſelben mehrere Tage hindurch faulen und zerfließen; ferner graben ſie das geſammte Blut eines Men— ſchen in einen bedeckten Topfe in Miſt. Wenn letzteres gut durchgefault iſt, nehmen ſie die über dem Blute ſtehende wäſſerige Flüſſigkeit, miſchen dieſelbe mit dem Schleim der Viper, worauf das tödtliche Gift fertig iſt.“!) Auch Ovid erwähnt kurz?) der mit Schlangengift beſtrichenen Pfeile der Scythen; Aelian deutet ebenfalls die Miſchung deſſelben mit dem menſchlichen Blutwaſſer an und ſagt, daß man dieſe Miſchung kurzweg das „ſcythiſche Gift“ genannt habe.?) Plinius fügt noch hin— zu, daß es gegen dieſe ſchändliche Miſchung aus Viperngift und Menſchenblut gar kein Heilmittel gebe; eine auch nur oberflächliche Berührung tödte auf der Stelle.“) Mit Recht bezweifelte ſchon Redi eine fo ſchnelle Wirkung dieſer Miſchung,“) bei ) Cap. 153 S. 316 der Beckmann'ſchen Ausgabe. 2) Ovid., ex Ponto IV. Ep. 9. v. 83. 3) Aelian., Histor. animal IX. c. 15. ) Plinius, Hist. nat. L. XI. c. 53. 5) Fr. Redi, Experimenta Amstelod. 1685. p. 266. welcher ohne Zweifel weniger das Schlangen— gift, als das durch die Fäulniß erzeugte ſeptiſche Gift die tödtliche Wirkung her— vorbrachte. Derartige, mit Fäulnißgiften beſtrichene Pfeile könnten allerdings nicht auf der Jagd, wohl aber im Kriege mit Erfolg benutzt worden ſein, da ſie, wenn auch nicht auf der Stelle, ſo doch ziemlich ſicher auch bei leichten Verwundungen tödt— lich werden müſſen. Der Gebrauch ſolcher Schlangen- und Fäulnißgifte bei den Vor⸗ fahren der Griechen malt ſich ſehr deutlich in den Herakles-Mythen. In der Galle der von ihm getödteten lernäiſchen Schlange ſollte er ſeine Pfeile getränkt haben, wie Diodor erzählt,“) und wenn auch die Alten annahmen, daß von der Galle der Schlangen aus die Giftzähne verſorgt wür— den, ſo deutet der Verlauf der Mythe allerdings ziemlich deutlich auf einen ſep— tiſchen Charakter des herakleiſchen Pfeil— giftes. Daſſelbe ſollte nämlich nach Dio— dor's fernerer Darſtellung das geſammte Blut des mit demſelben getödteten Cen— tauren Neſſus derartig vergiftet haben, daß ein mit demſelben getränkter Zeugſtoff der Dejanira den Herakles ſelbſt unter unſäg— lichen Schmerzen tödten konnte. Eine ſolche Wirkung wurde noch dem Erben des mit den Pfeilen gefüllten herakleiſchen Köchers, dem unglücklichen Philoktet, verhängnißvoll. Einer der Pfeile fiel durch einen Zufall auf ſeinen Fuß und die leichte Wunde brachte ein fürchterliches Siechthum hervor. Dieſe Erzählungen ſind ſo charakteriſtiſch, daß ſie offenbar auf wirklichen Erfahrun— gen beruhen; die Benutzung des Blutes einer durch Giftpfeile getödteten Perſon als neuerzeugtes Gift würde aber entſchieden auf die ſeptiſche Natur jener Pfeilgifte deuten, und vermuthlich iſt auch bei dem 1) Diodor., IV. c. 11 u. 38. Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. | 521 durch den Pſeudo-Ariſtoteles, Aelian und Plinius erwähnten Menſchenblut an ſolches von durch ſeptiſche Gifte getödte— ten Menſchen zu denken, in deren Körper ſich das Gift immer von Neuem aufrriſchte. Man könnte ſich, während die urſprüngliche Erzeugung des ſeptiſchen Pfeilgiftes in dem in Fäulniß übergegangenen Schlangenkörper ganz klar liegt, nicht leicht ohne jene An— nahme den Zuſatz des Menſchenblutwaſſers erklären. Natürlich glaubte man es eigent— lich nur mit dem übertragenen Schlangen— gift zu thun zu haben. Ein ähnliches Fäulnißgift bereiteten die Indianer Nordamerikas aus faulendem Pferde- oder Büffelfleiſch. Wenn die An- gaben des Reiſenden Terral zuverläſſig ſind, ließen ſie Klapperſchlangen in das Fleiſch hineinbeißen (2) und daſſelbe be— geifern (2), ſchnitten dann die betreffenden Stellen aus und ließen ſie faulen, worauf noch giftige Pflanzenſäfte dem Brei, mit dem ſie dann ihre Pfeile beſtrichen, hinzu— geſetzt wurden. Die Goajiro-Indianer im Norden Südamerikas ließen Schlangen, Kröten, Eidechſen, Scorpione, Spinnen, Ameiſen u. ſ. w. mit einander faulen und tauchten ihre Pfeile hinein; auch die Buſch— männer fügen ihrem aus Euphorbienſaft gewonnenen Pfeilgifte Schlangengift hinzu, und andere Stämme ſollen die giftigen Hautausſchwitzungen gewiſſer Amphibien in gleicher Weiſe verwenden. Einige Forſcher haben vermuthet, daß dieſe Benutzung gif— tiger Thiere nur Aufſchneidereien der Gift— köche ſeien, um die eigentlich wirkſamen Pflanzentheile dahinter zu verbergen; daß indeſſen Zähne von Giftſchlangen noch immer mit in den Hexenkeſſel gethan werden, iſt un— zweifelhaft, und der ausgezeichnete Toxicologe Huſemann hat dieſelben ſogar in einem von dem Reiſenden Appun mitgebrachten 522 Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. amerikaniſchen Pfeilgifte, welches man viel— leicht bei der Bereitung durchzuſeihen ver— geſſen hatte, angetroffen. Da es den Naturmenſchen unmittel— barer bekannt wird als den Culturmenſchen, daß Giftſtoffe in den Pflanzen viel ver— breiteter ſind, als in den Thieren, ſo lag es nahe, dieſelben zur Bereitung der Pfeil— gifte herbeizuziehen. Die Naturvölker hul— digen faſt überall der Theorie, daß den Thieren die Heil- und Giftſtoffe der Pflan— zen noch viel beſſer bekannt ſeien, als den Menſchen. So lernten nach griechiſcher Sage die Menſchen erſt von den Hirſchen die Heilkraft des kretiſchen Diptam bei Pfeil— ſchüſſen, von den Schwalben diejenige der Schwalbenwurz (Chelidonium) bei Augen— krankheiten, von einer Schlange läßt ſich Polyides das lebenſpendende Kraut zeigen. Woher kann die Giftſchlange ihr Gift haben? fragt ſich der nachdenkliche Natur— ſohn. Offenbar von Giftkräutern, die ſie heimlich frißt, und aus denen die Galle das Gift abſondert und in die Zähne ſendet. Man muß alſo ſuchen, dieſe Gift— kräuter ausfindig zu machen, um die ge— fährliche und mühſame Einſammlung der Giftzähne zu umgehen. Jedenfalls find es meiſt einzelne Per— ſonen geweſen, in der Regel wahrſcheinlich die Schamanen, welche die geeignetſten Pflanzentheile ausfindig machten, denn bei den meiſten Indianerſtämmen findet ſich noch heute das Geheimniß bei einzelnen Familien und erbt ſich vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter; auch ſtehen überall einzelne Giftköche in höchſtem Rufe, etwa wie in Kolchis Medea und wie bei uns die Arkaniſten ſich den Ruhm ſtreitig machen, die kräftigſte Panazee zu bereiten. Die wunderlichen Ceremonien, die dabei von einzelnen Meiſtern und Meiſterinnen beobachtet werden, deuten unverkennbar auf den Zuſammenhang mit dem alten Scha— manenthum; der Stand der Geſtirne wird beim Einſammeln und Kochen beobachtet, Zauberformeln dazu gemurmelt und der Brei durch fortwährendes Blaſen vor allzu ſtarker Erhitzung, die den wirkſamen Stoff zerſetzen könnte, geſchützt. Und wenn auch der fortgeſchrittene Giftkoch recht gut wiſſen mag, daß dieſe oder jene Wurzel oder Rinde die Hauptſache dabei ausmacht: zu Ehren der alten Muhme, der Schlange, von der doch die Idee ausgegangen iſt, muß ſie immer noch mit in den Keſſel hinein und wir können in dieſem Umſtande eine der mannigfachen Urſachen erkennen, aus denen in der Urzeit Feuerprieſter und Zauberarzt immer mit der Schlange in Verbindung gedacht wurden. Das „Giftkochen“ iſt bei den Naturvölkern ein höchſt wichtiges, ein— trägliches und geachtetes Geſchäft, liefert es doch in jenen Zuſtänden eine der Haupt— waffen, um die Jagd erfolgreich und den Kampf entſcheidend zu machen, und man— ches der vorweltlichen Thiere, deren Reſte wir mit denjenigen des vorhiſtoriſchen Be— wohners unſerer Zonen zuſammenfinden, mag durch Giftpfeile erlegt worden ſein. Die Griechen legten den Gebrauch von Giftpfeilen ausdrücklich auch ihren Erz— vätern bei. Homer ſchildert in der Ddyffee!), wie der herrliche Dulder in die Ferne ſegelt, um „Menſchentödtende Säfte zu holen, damit er die Spitzen Seiner gefiederten Pfeile vergiftete und bei dem Schuß in die Ferſe, der den Achill tödtete, kann man nur an die Wirk— ung eines Giftpfeiles denken. Aber die Griechen ſelbſt bedienten ſich in hiſtoriſchen Zeiten der Giftpfeile nicht mehr, ſo große ) I. v. 261. Te ˙.¹AA] — ů⁰wmu] —.r⅜̃ 0 Vortheile dieſe auch ſonſt bieten mochten; dieſelben ſind eben überall eine vorhiſtoriſche Erſcheinung; es iſt, als ob ſich mit der beginnenden Cultur der Stolz des Men— ſchen auflehnte, mit ſeiner geſchworenen Feindin, der Schlange, irgend etwas ge— mein zu haben. Selbſt in den klaſſiſchen Schriften über die „Kriegsliſten“ der Alten wird der Giftpfeile nicht mehr gedacht, und es ſcheint mir das freiwillige Aufgeben einer jo wirkſamen Waffe ein höchſt inter— eſſantes pſychologiſches Problem darzubieten. Nur beiläufig will ich hierbei darauf hinweiſen, daß jener Pfeilgiftkeſſel, in wel— chem neben den Giftkräutern Drachenleib, told, Salamander und Unke zu Brei ge— kocht wurden, und der nicht nur in den tropiſchen Urwäldern, ſondern auch im alten Europa über nächtlichen Waldfeuern bro— delte, überall von unheimlichen Geſtalten umtanzt und mit Zauberliedern begleitet, daß dieſer Giftkeſſel offenbar das Vorbild zu jenen Zauberkeſſeln der Druiden, der Hekate und Medea, der theſſaliſchen und nordiſchen Hexen geworden iſt, die uns Shakeſpeare und Goethe ſo draſtiſch geſchildert haben. Die Aehnlichkeit wird beſonders ſtark in einer Beſchreibung, die Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. der Reiſende Tennent von der Bereitung des gefürchteten Kabaratelgiftes bei den Singaleſen gegeben hat. Dieſelben hängen zunächſt eine Anzahl ihrer gefürchtetſten Giftſchlangen, namentlich die Cobra de Capello (Naja tripudians), die Tikpolonga (Vipera elegans) und die Carawilla (Tri— gonocephalus hypnalis) am Schwanze über dem Giftkeſſel auf und machen Ein— ſchnitte in den Kopf, durch welche angeb— lich das Gift herabfließt. Das ſo ge— ſammelte Schlangenblut wird ſodann mit Arſenik und anderen zweifelloſen Giften gemiſcht und nun unter Beiſtand der Ka— Kosmos, Band III. Heft 6. 523 baragoyas (Varanus salvator) in einem Menſchenſchädel fertig gekocht. Die letzt— genannten großen Eidechſen oder Warane werden von drei Seiten gegen das Feuer geſetzt, ihre Köpfe gegen daſſelbe gerichtet, in dieſer Stellung feſtgebunden und nun mit Schlägen und Drangſalen aller Art bedrängt, ſo daß ſie zu ziſchen anfangen und dadurch das Feuer gewiſſermaßen an— blaſen, wie die Thiere in Goethe's Hexen— küche. Aller Speichel, den ſie in der Angſt verlieren, wird ſorgſam geſammelt und dem kochenden Gebräu zugeſetzt, welches für fertig gehalten wird, ſobald ſich an der Oberfläche eine ölige Flüſſigkeit anſammelt. Vielleicht zum Theil in Folge dieſes bar- bariſchen Gebrauches wird denn die un— ſchuldige Kabaragoya für ein entſetzlich giftiges Thier gehalten. Indeſſen waren dieſe Giftthiere, wie ſchon angedeutet, zuletzt nur noch eine De— coration, mit der man die aus dem Pflanzen— reiche gewonnenen Hauptbeſtandtheile ſpäter noch maski rte, wie dies ja die gewöhnliche Praxis der Laboranten und Geheimniß— krämer iſt. So haben wir denn auch An— deutungen genug, daß auch das ſcythiſche Gift, obwohl es vermöge der Fäulniß ſehr gefährlich wirken konnte, doch auch pflanz- liche Beimiſchungen enthielt, durch die dann auch der von Plinius erwähnte ſchnelle Erfolg zu erklären wäre. Der Verfaſſer eines dem Galenus untergeſchobenen Buches über den Theriak erwähnt, daß die Dalmater und Sacer (letzteres die Be- nennung der Scythen bei den Römern), ihre bei der leichteſten Verwundung ſchnell— tödtenden Pfeile herſtellten, indem ſie die— ſelben mit der Pflanze Helenium einrieben. Wenn die damit verwundeten Hirſche und andere wilde Thiere aber dieſe Pflanze fräßen, würde die Verwundung unſchädlich. 67 524 Die letztere Bemerkung ift in dem Munde eines Lobredners des Theriaks, der aus Vipernfleiſch bereitet, den Vipernbiß heilen ſollte, völlig angemeſſen, dieſe Herren waren eben die eigentlichen Erfinder der dem „großen“ Hahnemann zugeſchriebenen Homöopathie. Nicander von Kolophon, der älteſte auf uns gekommene Special-Schrift— ſteller über Gifte und Gegengifte, beſchreibt in ſeinem „Alexipharmaca“ betitelten Lehr— gedichte die Wirkungen eines Toxicum genannten Giftes, deſſen ſich die gerrhäiſchen Nomaden und die ackerbauenden Völker am Euphrat bedient hätten, um ihre Pfeilſpitzen zu vergiften, und der Scholiaſt ſetzt hinzu, dies ſei eben das, ſonſt das „ſeythiſche“ ge— nanute, Gift. Jener Name (Toxicum), welcher ſpäter auf alle Gifte im Allgemeinen übergegangen iſt und nach dem auch die Giftlehre oder Toxicologie ihren Namen erhalten hat, be— zeichnete alſo urſprünglich das Pfeilgift ganz im Beſondern und zwar noch zu den Zeiten des Feſtus, welcher in ſeinem Buche über die Bedeutung der Wörter ausdrück— lich ſagt: Toxicum wird das Hirſchgift (cervarium venenum) genannt und zwar weil man mit demſelben die Pfeile zu ſalben pflegt. Plinius verſucht eine un— glückliche Ableitung des Namens, indem er ſagt, daß die Pfeile, welche man zu ver— giften pflegte, aus Taxusholz geſchnitzt worden wären und daß der Name „taxi- corum sive toxicorum“ daher ſtamme!). Das Alterthum war ebenſogroß in ge— waltſamen Etymologien wie die Jetztwelt, denn die richtige Ableitung lag hier doch ſehr nahe. Dioscorides und mehrere alte Grammatiker haben ſie richtiger ge— geben: Toxrikon, jagt der Erſtere,?) ift es brauchbar werde. für dieſes Gift in der Eichenrinde ein ) Hist. natur. XVI. 10. 2) Alexipharm. Cap. 20. Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. Wiſſenſchaft vom Bogenſchießen. deshalb genannt worden, weil die Pfeile (griechiſch 7680) von den Barbaren da— mit beſchmiert wurden. 7650 hieß ur- ſprünglich der Bogen, von dem man Pfeile abſchoß, und 20s mit dem Bogen ſchießen. Wir haben darin eines der merkwürdigſten Beiſpiele von der Uebertragung des Sinnes der Worte in eine ganz andere Sphäre. Strenge Etymologen würden alſo das Wort Toxicologie und alle ähnlichen ver— werfen müſſen, denn es heißt wörtlich die Auch die Akonit⸗Pflanze habe ich ſtark in Verdacht, ihren Namen einem alten Gebrauche der Wurzel zur Vergiftung der Wurfſpeere verdankt zu haben, denn &rwv oder @x0V- 20% hieß der Wurfſpeer und mehrere ſo— genannte Akonit-Arten — die keineswegs alle zu unſerem Aconitum zu gehören brauchen, — wurden von den Alten als Pfeilgift-Pflanzen bezeichnet. Der Name Toxicum wurde nun be— ſonders häufig dem Pfeilgifte der alten Celten und Gallier beigelegt, von welchem übrigens ſämmtliche Autoren mittheilen, daß es aus Pflanzenſtoffen bereitet wurde. Auch hierüber iſt der obencitirte Pfeudo- Ariſtoteles am ausführlichſten geweſen. „Bei den Celten“, ſagt er, wird ein Gift gefunden, welches fie Xenieum nennen (d. h. das Fremde, wenn dieſes bereits in den älteſten Handſchriften vorkommende Wort nicht ein Schreibfehler ſtatt Toxicum iſt) und welches mit ſo großer Schnellig— keit vergiftet und tödtet, daß die celtiſchen Jäger eiligſt herzuſpringen und dem nieder— geſtreckten Hirſche das Fleiſch rings um den Pfeil ausſchneiden, damit das Thier nicht durch das vordringende Gift in ſchnelle Fäulniß übergehe und zur Nahrung un⸗ Man ſetzt hinzu, daß Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. Heilmittel gefunden worden ſei; andere rüh— men das Blatt der Rabenpflanze (korakion), fo genannt, weil ein mit jenem Stoffe ver- gifteter Rabe von ſelbſt das Blatt auf- ſuchte, aß, von den Schmerzen befreit er— ſchien, und es ſo den Menſchen verrieth.“ Daß die weite Umſchneidung der Wunde, nicht wegen der Giftigkeit geſchah, iſt hier bereits angedeutet. Die Alten wußten recht gut, daß dieſe Gifte im Magen un— ſchädlich ſind, und der berühmte römiſche Arzt Celſus ſagt ausdrücklich: Die Jagd— gifte, deren ſich die Gallier vorzugsweiſe bedienen, ſchaden beim innerlichen Genuſſe nicht, ſondern nur in der Wunde.!) Pli- nius?) und Aulus Gellius?) erwähnen ebenfalls der üblichen weiten Umſchneidung der Wunde und ſetzen hinzu, daß man dieſe mit Nießwurzſaft beſtrichenen Pfeile auch darum auf der Jagd mit Vorliebe anwende, weil das Fleiſch der auf dieſe Weiſe getödteten Jagdthiere zarter ausfalle, was wohl möglich iſt. Ob unter dem von dieſen beiden Autoren gebrauchten Namen Elleborus eine Art der ſchwarzen Nieß— wurz (Helleborus) oder der weißen Nieß⸗ wurz (Veratrum) oder eine ganz verſchie— dene Pflanze gemeint ſei, iſt unbekannt. Plinius ſelbſt macht an einer anderen Stelle feiner Naturgeihichte?) eine andere Pflanze, die er Limeum nennt, namhaft, aus welcher die Gallier ihr Hirſchgift be— reitet hätten, und vielleicht hatten ſie, wie die obigen Ausdrücke des Celſus anzu— deuten ſcheinen, verſchiedene Arten von Pfeilgiften, die aus verſchiedenen Pflanzen gewonnen wurden. Strabo beſchreibt einen Baum näher, aus welchem die Celten, ) De medieina V. C. 27. 2) Hist. nat. 25, 5. ) Noctes atticae 17. 15. ) Hist. nat. 27. 11. oder, wie andere leſen, die alten Belgier, ſich ihr Pfeilgift bereitet hätten. „Es wird erzählt“, ſagt er, „daß in Gallien (hier leſen Einige Kedrıny, Andere BS‘ ein der Feige ähnlicher Baum wachſe, deſſen Frucht, in der Form dem Kapitäl der forin- thiſchen Säule ähnlich, beim Anritzen einen Saft ausfließen läßt, der die damit beſtrichenen Pfeile tödtlich macht.“! Die Botaniker haben ſich viele Mühe gegeben, die erwähnten Pfeilgiftpflanzen der alten Gallier und Belgier genauer zu beſtimmen. Einige haben die Akonit-Arten in Verdacht, die aber auch innerlich ſehr ſtark giftig wirken, jo daß man ſchon im alten Griechenland durch mit der Wurzel beſtreuetes Fleiſch die Wölfe tödtete. Doch erzählen ſchon römiſche Autoren, daß ſie auch im Blute ſchädlich wirken ſollen und der Wurzel vou Aconitum ferox L. ſollen ſich aſiatiſche Stämme noch heute zur Pfeil— gift⸗Bereitung bedienen. Conrad Ges— ner, hat, worauf wir ſpäter genauer zu⸗ rückkommen, die Hirſchgift-Pflanze der Gallier in einer Alpen-Ranunkel erkennen wollen und in der That ſollen ſich die Kamtſchadalen einer naheſtehenden Pflanze (Anemone ranunculoides L.) zur Pfeil⸗ giftbereitung bedienen. Der belgiſche Pfeil- gift⸗ Baum des Strabo iſt noch weniger enträthſelt, aber um ihn ſcheinen ſich ſchon im Alterthum ähnliche Mythen ge— bildet zu haben, wie um den javaniſchen Giftbaum oder den Manzanillo-Baum, den Scribe von den Antillen nach Afrika ver— pflanzt hat und deſſen unſcheinbare grün⸗ liche Blüthen unter den Händen unſerer Decorationsmaler ſich in prächtige hochrothe Monſtreblumen zu verwandeln pflegen. Plinius erzählt nämlich, daß der Tarus- baum, deſſen Holz die Giftpfeile lieferte, 9 Geogr. IV. c. 4. 526 die unter ihm ſchlafenden oder eſſenden Perſonen tödte, und Lucrez ſchildert einen Giftbaum des Gebirges, deſſen Duft töd— ten ſollte. Daß die alten Germanen, deren Jagd— liebhaberei Cäſar und Tacitus jo aus— drücklich hervorheben, ſich ebenfalls vergifteter Pfeile bedient haben, iſt ſehr wahrſcheinlich, obwohl ich es nicht mit ausdrücklichen Zeugniſſen belegen kann. Die Mythen von dem Stich des Schlafdorns, durch welchen Odin die Brunhild in einen tiefen Schlummer verſetzte, und von der Tödtung Balders durch den im Spiele gegen ihn geſchleuderten Miſtelzweig deuten darauf hin. Hinſichtlich der fränkiſchen und helve— tiſchen Stämme ſind dagegen ausdrückliche Zeugniſſe noch aus ſpäterer Zeit vorhanden. Ueber die Waffe, mittelſt welcher die Giftpfeile in Alteuropa geſchleudert wurden, ſind wir im Unklaren. Urſprünglich mag es der Bogen, ſpäter auch die Armbruſt geweſen ſein. Aber ich vermuthe, daß man ſich mitunter auch, wegen der außer— ordentlich leichten und ſicheren Handhabung, wie in den Tropenländern des Blasrohres bedient haben wird. Xiphilinus erzählt nämlich in den Lebensbeſchreibungen der Kaiſer Domitian und Commodus, die er aus dem Geſchichtswerke des Dio Caſſius ausgezogen hat, daß ſich in dieſen Zeiten römiſche Meuchelmörder vielfach die von den Barbaren erlernten Jagdkünſte zu Nutzen gemacht und ihre Opfer durch lautlos mit dem Athem fortgetriebene ver— giftete Nadeln getödtet hätten.!) Wenn auch die Angaben darüber kurz und unklar ſind, läßt ſich doch die Vermuthung daran knüpfen, daß man mit dem Blutgifte ſelbſt auch die beſondere Waffe von den Barbaren entlehnt haben möchte. 9 Dio Cassius h. r. 67, 11 und 72, 14. Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. Merkwürdiger Weiſe finden ſich weder bei griechiſchen, noch bei römiſchen Schrift— ſtellern Klagen darüber, daß ſich die Bar— baren im Kriege der Giftpfeile gegen ſie bedient hätten. Es ſcheint, daß die Civili— ſation dieſer Wilden doch bereits zu hoch geſtiegen war und daß ſie zu viel auf per— ſönliche Tapferkeit hielten, um ſich einer jo heimtückiſchen Waffe im offnen Männer- kampfe zu bedienen. Dagegen finden wir aus ſpäterer Zeit Nachrichten über den Gebrauch von Giftpfeilen und zwar von Seiten der Franken gegen die unter römi— ſcher Führung mit ihnen kämpfenden Gallier. Der Biſchof Gregor von Tours hat uns in ſeiner im ſechſten Jahrhundert ver— faßten Historia Francorum die Schilder— ung eines Kampfes aufbewahrt, der im Jahre 388 ſtattgefunden hat und in welchem die Franken ganz nach Art afrikaniſcher oder amerikaniſcher Wilden mit vergifteten Pfeilen aus dem Walde, in welchem ſie ſich verſchanzt hatten, auf die Soldaten des römiſchen Feldherrn Quintinus ſchoſſen. Der Kampf fand einige Tage- märſche von Köln ſtatt. „Am Waldrande erſchienen, jo erzählt Gregor!) nach den Aufzeichnungen des Hiſtorikers Sulpicius Alexander, einige dünngeſäete Feinde auf zu Haufen gethürmten Baumſtämmen und ſchleuderten von da aus, wie von den Zinnen eines Thurmes und als wenn ſie mit Kriegsmaſchinen verſehen geweſen wären, Pfeile, die ſie in den Saft giftiger Kräuter getaucht hatten, ſo daß, wenn die Haut auch nur geſtreift wurde und Kör— perſtellen getroffen wurden, an denen die Verwundungen ſonſt ungefährlich ſind, dennoch ein ſicherer Tod die Folge war.“ Auch in noch ſpäteren Zeiten behielten die Franken dieſe heimtückiſche Kampfesweiſe = Hist. Franc. 179. bei und das ſaliſche Geſetz verbot, wie Le Grand d' Auſſi erwähnt,!) bei Strafe, daß ſich ein Franke gegen den anderen der Giftpfeile bediene, nicht aber den Gebrauch gegen Fremde. In der Folge wurde die Verwendung von Gift— pfeilen immer mehr durch Geſetze eingeengt und zuletzt auf die Jagd beſtimmter Thiere beſchränkt. In der Umgegend von Mar— ſeille bediente man ſich ihrer noch im 14. Jahrhundert. „Ich habe Aktenſtücke ge— ſehen“, ſagt A. de Ruffi in ſeiner Geſchichte von Marſeille,?) welche mir be— weiſen, daß der Landvogt ungefähr gegen die Mitte des 14. Jahrhunderts erlaubte, Rehe, Hirſche und Eber mit dem Giftpfeile zu jagen.“ Kein Zweifel, daß das Ge— heimniß, dieſe Pfeile zu bereiten, ſich bei Jägern und Jagdliebhabern noch viel länger erhalten hat und auch wohl zuweilen auf „edleres Wild“ angewendet wurde. man die in den Chroniken Froiſſart's ſo rührend erzählte Geſchichte lieſt, wie der Graf Gaſton de Foix ſeinen gefangen ge— haltenen einzigen Sohn tödtete, indem er ihn mit einem kleinen Meſſer, welches er in der Hand trug, um ſich die Nägel zu putzen, „aus Verſehen“ ganz leicht am Halſe ritzte, und wenn man ſich dabei erinnert, daß der Graf von ſeinen Edlen und Prälaten vorher vergeblich den Tod ſeines Sohnes begehrt hatte, ſo wird man ſchwerlich den Gedanken loswerden, daß die Spitze jenes kleinen Meſſers, welches kaum um die Dicke eines Sou's aus des Grafen Fauſt hervorſah, von der letzten Jagd dieſes gewaltigen Waidmanns her „aus Verſehen“ mit Pfeilgift beſchmutzt geweſen ſein könnte. Die Entdeckung des Schießpulvers ver— ) Histoire de la vie privée des Fran- cais Paris 1782. Vol. I. p. 349. 2) Vol. II. p. 283. Wenn Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. nichtete die letzte Erinnerung an die Waffe, welche der vorgeſchichtliche Menſch einſt den Schlangen abgeſehen hatte. Nur in den verborgenen Alpenthälern, wo die neuen Erfindungen nur äußerſt langſam hin— dringen, hatte ſich bei den Gemſen- und Steinbockjägern der Gebrauch von Pfeil— giften bis ins 16. Jahrhundert erhalten. Hier ſah der berühmte Polyhiſtor Con- rad Gesner, wie die Aelpler die Thora-Pflanze (Ranuneulus Thora L.) einſammelten, um mit dem Safte der Wurzelknolle ihre Pfeile zu vergiften. Es iſt dies eine kleine, von den Gattungsver— wandten ſehr abweichend erſcheinende Hah— nenfußart, denn der Stengel trägt in der Regel nur ein oder zwei netzadrige, nieren— oder herzförmige Blätter und eine kleine intenſiv gelbe Blüthe. Sie bewahrten den eingedickten Saft in Kuhhörnern und überzeugten ſich durch phyſiologiſche Ver— ſuche von der Güte des gewonnenen Prä— parates. Dies geſchah, indem ſie eine Nadel damit beſtrichen und einen Froſch — alſo auch hier ſchon das beklagens— werthe Opfer der Phyſiologie! — damit verwundeten. Der arme Koax mußte zum Zeichen der Güte des Giftes ſogleich todt zuſammenſtürzen. Bei den alten ita— lieniſchen, deutſchen und niederländiſchen Vätern der Botanik erſcheint dieſe Pflanze meiſt unter dem Namen Phthora Valden- sium montis Baldi, was doch wohl heißt: die Thora der Waldenſer (?) vom Berge Baldo (bei Verona)? Es wird gut ſein, die lehrreiche Nachricht, welche Lobel in feinen Adverſarien darüber giebt, wörtlich mitzutheilen: „Der Thora der Waldenſer,“ ſagt er, „bedienen ſich die Jäger dieſes Alpen— volks vielfach und ſeit lange, wie auch jetzt noch viele Andere, zur Erlegung des Wildes, dem von dem bloßen ausgedrückten und 528 Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. auf die Waffenſpitzen geſtrichenen Safte ein ſchnelles und ſicheres Verderben bereitet wird. Wo nämlich das Geſchoß getroffen oder eine Wunde gemacht hat, dringt das Gift ſofort ein und verurſacht, daß die Wund— ränder, wenn man nicht durch Ausſchneiden vorbeugt, verderben und in Fäulniß über— gehen, weshalb die Pflanze Thora ge— nannt worden iſt, nach einer offenbar von den Griechen hinterlaſſenen Sprach-Spur; Phthora nämlich heißt Verweſung, Tod, Gift. Diejenigen aber, denen aus vielen Gefährdungen die Wirkungen aller jener Pflanzen bekannt find, welche man gewöhn- | lich Pfeilwurze (Sagittariae) nennt, hal— ten die übrigen darunter für ziemlich un— ſicher: Der Saft dieſer nun wird im An— fange des Frühlings ausgepreßt und in kleinen Blaſen oder lieber in Rinderhufen oder Hörnern gekauft und auf die nächſten Märkte geſchickt, woſelbſt ihn die Jäger für das Waidmannsbedürfniß des Jahres einkaufen.“ ) Dieſem Berichte zu Folge fand alſo hier an der Grenze der Schweiz ein förm— licher Handel mit Pfeilgiften ſtatt, ganz wie wir ihn noch jetzt z. B. bei den Ori— nokoſtämmen Südamerikas antreffen, und einzelne Perſonen machten ebenſo wie dort aus dem Pfeilgiftbereiten ein Handwerk, deſſen große Gefahren ſie hervorhoben, um anſehnliche Preiſe für ihre Waare zu er- zielen. Man wird dabei lebhaft an die Antwort des Giftkochs Tenaqua erinnert, welcher dem Reiſenden Appun, als dieſer den für acht Kalebaſſen Pfeilgift geforder— ten Preis ſehr hoch fand, ſelbſtbewußt er— wiederte: „Wir ſtellen unſere Waare in gleichen Rang mit eurem Pulver, das ihr uns ebenſo theuer verkauft; beide Dinge ) Mathias Lobel et Peter Pena, Stir- pium adversaria nova etc. p. 263. haben dieſelbe Wirkung, ſie tödten ſchnell.“ Gar ſehr wäre es zu wünſchen, daß ein moderner Toxicologe feine Sommerfriſche in den Alpen einmal dazu benutzen möchte, zu unterſuchen, was den Erzählungen von der großen Giftigkeit der Thora zu Grunde liegen mag. Man erzählte Ges ner, daß auch ein damit verwundeter Menſch höch— ſtens noch eine halbe Stunde zu leben habe, das Gift im Magen aber völlig unſchädlich ſei.“) Aus alledem ſchloß Gesner, daß er nunmehr wirklich die Pflanze gefunden habe, welche die Alten bald Limeum, bald Aco- nitum genannt und aus welcher ſchon die alten Gallier ihr Toxieum und Venenum cervarium bereitet hätten. Er ſuchte nun auch die „Rabenpflanze“ zu ermitteln, welche nach dem Pſeudo-Ariſtoteles das Hauptgegenmittel abgeben ſollte und fand einen Fingerzeig in dem Glauben der Alpen— bewohner, daß das Gift der Thorapflanze das furchtbarſte aller Gifte ſei, gegen welches weder bei Theriak noch Mithridat Hilfe zu finden ſei, ſondern einzig bei einer ande— ren Alpenpflanze, dem Giftheil (Aconitum Anthora L.) Von dieſer letzteren Pflanze berichtet der alte Tabernämontan, nachdem er erwähnt hat, daß ſie wider alles Gift und die Biſſe aller giftigen Thiere, auch gegen Scorpionen- und tollen Hundsbiß, wirkſam ſei, wie folgt, weiter: „desgleichen gegen die Peſtilentz und das erſchreckliche und tödtliche Gift des Krautes Thora und des Napellenkraut's (Aconi- tum Napellus L.), das alles andere Gift weit übertrifft, alſo, daß auch der beſte Theriak dieſem Gifte keinen Widerſtand thun mag, dem ſoll allein mit der Wurzel ) De Aconito primo Dioscoridis. Tiguri 1577, und Historia quadrupedum I. ©. 372 und 746. Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. des „Heilgifts“ Widerſtand gethan werden, welches die Kraft hat, ihm ſeine Kraft zu nehmen u. ſ. w.“ “) Es wurde ſchon oben angedeutet, wie ſich an die Pfeilgifte die Homöopathie an— lehnt, deren Wurzeln alſo ebenfalls in die vorgeſchichtliche Zeit hinabreichen. Wie die Wunde des Telephos nur durch den (Gift— Speer geheilt werden konnte, der ſie ver— urſacht hatte, ſo war man überzeugt, daß Pfeil-Gift nur durch Pfeil-Gift aus dem Felde geſchlagen werden könnte und ſuchte durch den innerlichen Gebrauch deſſelben die Wirkung im Blute abzuſchwächen. Wir können hier ſogar die wahrſcheinliche Ur— ſache dieſes Aberglaubens in der Praxis der Phyllen und anderer klaſſiſcher Gift— doktoren erkennen, die Giftwunde mit dem Munde auszuſaugen, was ja, wenn es ausführbar iſt, als erſte Hülfe durchaus zweckmäßig iſt. Nach alter Sage ſoll neben jedem Gifte ſein Gegengift wachſen, und wie Strabo erzählt?) galt im Reiche des Muſikanus das Geſetz, bei Todesſtrafe jedes neu er— kannte Gift ſo lange geheim zu halten, bis man das dazu gehörige Gegengift ge | funden. Neben der auch in Griechenland vorkommenden Thora-Pflanze, die noch in neuerer Zeit Kurt Sprengel für jenes ſchlimmſte „Aconitum“ hielt, deſſen bloßer Beſitz wegen ſeiner ſchrecklichen Gif— tigkeit nach Theophraſt mit dem Tode beſtraft wurde, neben der Thora ſollte die Anthora wachſen, und das Gift des einen Akonit wollte man mit dem eines nicht minder gefährlichen bezwingen. Plinius hat mit ſchönen Worten dieſen Kampf der Gifte im Thier- oder Menſchenleibe ge— ſchildert. „Das Akonitum“ ſagt er, „hat 1) Kräuterbuch, Ausgabe von 1687 S. 985. 2) Geogr. XV. I. | 259 die Eigenſchaft, den Menſchen zu tödten, ſofern es nicht in ihm etwas anderes zu überwältigen findet; in dieſem Falle kämpft es lieber mit einem anderen Gifte, als einem ſeiner würdigeren Gegner. Aber nur dann entſteht Streit, wenn es einem anderen Gifte in den Eingeweiden begeg— net. Merkwürdig, daß zwei für ſich todt— bringende Gifte im Menſchen nur einander gegenſeitig ermorden und unſchädlich machen, den Menſchen ſelbſt aber am Leben laſſen!“ Dieſe für die einander aufhebende Wirkung gewiſſer antagoniſtiſchen Gifte, wie Opium und Belladonna, Chloral und Strychnin, ſehr angemeſſene Beſchreibung und Idee der einander bekämpfenden Gifte wurde damals leider in dem Sinne Hahne— mann's zu dem Wahlſpruche Similia similibus generaliſirt und ich möchte, da die Abſchweifung nun einmal ſchon ſo weit gediehen iſt, wenigſtens noch die Blüthe dieſer unſinnigen Theorie anführen. Die Giftwirkung des blauen Akonit's ſollte nach Avicenna ſo ſtark fen, daß gar kein ebenbürtiger Gegner in der Pflanzenwelt vorhanden ſei und daß nur die Thiere, die ihn ohne Schaden genießen, die Mäuſe, die feine Wurzeln verzehren (?), und die In— ſekten, die ſeine Blüthen beſuchen, ein Ge— gengift abgäben. Dieſen Unſinn haben Matthiolus, Dodonäus, Taber— naemontan, Lobel und viele andere weniger berühmte Botaniker und Aerzte gläubig nachgeſchrieben, ohne zu unterſuchen, ob denn wohl die Mäuſe überhaupt dieſe ſcharfgiftige Wurzel der Pflanze ver— zehren mögen. Es wäre nicht ohne In— tereſſe, erneuerte Verſuche auch über die gegen— ſeitige Wirkung von Thora und Anthora anzuſtellen, um zu ſehen, ob an dieſen alten Geſchichten irgend etwas Wahres iſt. Zum Schluſſe möchte ich noch auf 530 ein zweites Kapitel der Toricologie hin— weiſen, welches ebenfalls der Vorgeſchichte angehört: die Anwendung der Gifte in der Juſtiz, theils zur Ausmittelung, theils zur Aburtheilung der Verbrecher. Das Ver— zehren giftiger Subſtanzen, um ſeine Un— ſchuld darzuthun, finden wir nicht blos in der bibliſchen Geſchichte und durch ganz Afrika, ſondern auch im alten Europa und in der neuen Welt. Und ebenſo begegnet die im Eingange dieſes Aufſatzes erwähnte Hinrichtung indiſcher Fürſtinnen durch Pfeil— gifte ihrem Gegenſtück bei vielen Völkern, die entweder erſt an der Schwelle der Kul— tur ſtehen oder doch aus ihrer vorhiſtori— ſchen Zeit gewiſſe primitive Juſtizformen beibehalten haben. Der Schierlingstrank der Athener iſt alſo keine vereinzelte, blos für den Sokrates und Theramenes ausge— wählte Todesart geweſen; es war die mil— deſte der üblichen Todesſtrafen und auch im alten Maſſilia (Marſeille) gebräuchlich. Die alten Aegypter ſcheinen ſich der Blau— ſäure zu ihren Executionen bedient zu haben. Duteil theilt in feinen. Die- tionnaire des hieroglyphes mit, daß ſich im Louvre ein Papyrus befinde, auf welchem die Worte vorkommen: „Sprich nicht aus das Wort Jao, bei der Strafe, welche der Pfirſichbaum gewährt!“ Aelian erzählt von einem ſüßen Gifte, deſſen Gebrauch ſich der König von Indien und ſeine Mutter vorbehielten und nur dem Vetter Krauſe, Ueber den Gebrauch von Pfeilgiften im vorgeſchichtlichen Europa. auf dem perſiſchen Throne davon zum amtlichen Gebrauche abließen, und in ähn— licher Weiſe verwahrte der Timarch von Maſſilia das Schierlings-Präparat, um an lebensüberdrüſſige Gemeindeglieder da— von abzugeben, wenn er nach genauer Prüfung die Gründe derſelben für ſtich— haltig erkannte. Könige, wie Attalus und Mithridat, beſchäftigten ſich ernſtlich mit einer weiteren Ausbildung der Giftkunde für politiſche und juriſtiſche Zwecke, ja Aelian preiſt gradezu den Gebrauch der erwähnten indiſchen Gifte, weil man den Menſchen damit aus der Welt ſchaffen könne, ohne die Todesſtrafe durch körper— lichen Schmerz zu verſchärfen. Auch hier iſt es ein pſychologiſcher Proceß, eine Wandel— ung und Verfeinerung der Anſichten über Ermittelung und Beſtrafung der Verbrechen, welche die Anwendung von Giften gänzlich aus dem gerichtlichen Verfahren verbannt hat. Die Rechtspflege empfand je länger je mehr die Unwürdigkeit einer jeden Verſchwiſterung mit dem Giftmorde, als dem abſcheulichſten aller Verbrechen; ſie entſagte dem Hilfs— mittel der Indianer, ſelbſt auf die Gefahr einer Verſchärfung der Strafe. Sie ver- bot ebenſo den Gebrauch der Giftpfeile, als eines verführeriſchen Mittels zur hin— terliſtigen Tödtung, und Niemand wird, denke ich, daran zweifeln, daß ſie mit allen dieſen Maßnahmen Recht gehabt hat. ee eee Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Der Planet Vulkan. | ährend der in Nordamerika am 29. Juli c. beobachteten Sonnenfinſter— Oe niß, deren Totalität nur gegen drei Minuten dauerte, glaubt der durch zahlreiche Planetoiden-Entdeckungen für ſolche Auffindung beſtens accreditirte Aſtronom Prof. James Watſon von Ann-Arbor (Michigan), auf einer Station in Wyoming, den durch Leverrier ſeit langen Jahren verkündeten innerſten Planeten nunmehr wirk— lich entdeckt zu haben, wenige Monate, nach— dem ſein geiſtiger Entdecker die Augen für immer geſchloſſen. Die Sonne mit ihrer Corona und Chromoſphäre ſcheint diesmal gegen die Verfinſterungen von 1869, 1870 und 1871 ein gänzlich verſchiedenes Aus— ſehen, nämlich eine viel weniger ausgedehnte Corona und nur wenige kleine Protu— beranzen dargeboten zu haben, doch ſind die bisher vorliegenden Nachrichten ſo wider— ſprechend, daß wir einen Bericht darüber aufſchieben, und nur erwähnen wollen, daß der Planet Vulkan in einem Abſtande von zwei Graden oder acht Sonnenhalbmeſſern von der Sonne entfernt erblickt wurde und als Stern vierter Größe erſchien. Die Coordinaten des Vulkans waren 8h 26 m Rektaſcenſion und 18 0 nördlicher Deklina— tion. In anderen Nachrichten wird die Größe als 4½ und die Entfernung von der Sonne nur zu zwei bis drei Sonnen— Kosmos, Band III. Heft 6. halbmeſſern angegeben. Merkwürdig einer— ſeits iſt, daß die anderen Beobachter einen dem bloßen Auge noch erkennbaren Stern ſo oft ſollten überſehen haben, und ver— dächtig andererſeits, daß ein Stern im Bilde des Krebſes, deſſen Größe zu 5½ — 6 geſchätzt wird, nahezu jene Stellung gehabt hat. Da indeſſen genaue Stern— karten der Region für den Zweck der Vulkanentdeckung vorher entworfen worden waren, iſt es kaum annehmbar, daß Wat— ſon, der bereits fünfzehn kleine Planeten entdeckt hat, eine ſolche Verwechſelung hätte machen können. Die weitere Beſtätigung abwartend, wollen wir einſtweilen einen Blick auf die lange Reihe früherer Be— mühungen um dieſen innerſten Bürger des Sonnenſyſtems werfen, der den Merkur von ſeiner altaſſyriſchen Rolle als „Ge— heimſchreiber“ des Sonnengottes zu enthronen beſtimmt ſcheint. Gleich nachdem Lever— rier aus den Störungen des Uranuslaufes im Jahre 1846 die Elemente eines äußer— ſten Planeten, des Neptun, berechnet hatte, und dieſer am 23. September deſſelben Jahres als Stern achter Größe von Galle in Berlin entdeckt worden war, bemühten ſich verſchiedene Aſtronomen, namentlich der jüngere Bradley und Henrick in New- Haven (Connecticut) dem neuen äußerſten Planeten einen neuen innerſten Planeten gegenüberzuſtellen, aber die Verſuche, in der Morgen- oder Abenddämmerung einen der Sonne noch näher als Merkur ſtehenden 68 Planeten zu gewahren, mußten ſchon wegen der Dicke der Atmoſphärenſchicht, welche die Strahlen dieſes Weltkörpers in dieſen Stun— den zu durchlaufen hätten, erfolglos ausfallen. Dieſe Projekte nahmen eine beſtimmtere Form an, nachdem Leverrier die Er— gebniſſe von mehr als zwanzig genau beob— achteten Merkurdurchgängen (ſeit 1697) durchgerechnet und gefunden hatte, daß man entweder die Maſſe der Venus um ein Zehntel größer annehmen, oder intra— merkurielle Weltkörper als Urſache der ge— fundenen Abweichungen vorausſetzen müſſe. Da man aber mit der erſteren Annahme einen durchaus unwahrſcheinlichen Fehler in der Erdtheorie in den Kauf nehmen müßte, ſo blieb die zweite Annahme die einzig be— rechtigte, und Leverrier erwog genau die ſich damit darbietenden Wahrſcheinlich— keiten. Wenn man annehmen wollte, daß der innerſte Planet dieſelbe Maſſe wie Merkur beſäße, ſo müßte ſeine Entfernung von der Sonne weniger als die Hälfte der mittleren Entfernung des Merkur, alſo etwa 3,500,000 Meilen betragen. man ſeine Entfernung noch geringer an, ſo hätte er noch größer ſein müſſen, um die— ſelben Störungen hervorzubringen, und es war in keinem Falle wahrſcheinlich, daß ein Planet von ſolchen Dimenſionen ſelbſt in dieſer unbequemen Beobachtungs-Region den Blicken der Aſtronomen ſo lange ent— gangen ſein könnte. Leverrier gelangte deshalb zur Annahme eines Aſteroidenringes Nahm Beobachtungen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Namens Lescarbault, daß er bereits vor ſechs Monaten, nämlich am 26. März 1859, den Durchgang eines intramerkuriel— len Planeten ſelbſt beobachtet, aber nicht gewagt habe, mit einer ſolchen Beobachtung an die Oeffentlichkeit zu treten. Da nun auch mehrere andere Perſonen, wie gewöhn— lich, den eben erſt aus der Theorie gefol— gerten Planeten geſehen haben wollten, ſo war auch die Lescarbault'ſche Mit- theilung, trotz der größeren Genauigkeit ihrer Angaben, verdächtig, und Leverrier hielt für nöthig, den namenloſen und kecken Planeten-Entdecker einem ſtrengen Verhör zu unterwerfen. Incognito als geheimer Poliziſt, der für die Sicherheit des Pla— netenſyſtems zu ſorgen ſich befliſſen hält, gelangte der große Aſtronom am letzten Sonnabend des Jahres 1859 in dem be— ſcheidenen Heim des Arztes an, der ganz eingeſchüchtert von dem Inquiſitorton ſeines Beſuchers ihm ſeine mangelhaften Beobacht— ungs-Inſtrumente und das primitive Se— cunden-Pendel, nach welchem er die Zeit— angaben gemacht hatte, vorwies. Lever— rier erwarb ſich indeſſen die vollkommenſte Ueberzeugung von der Zuverläſſigkeit der ſeines Examinanden und legte deſſen Beobachtungen in der erſten zwiſchen Merkur und Sonne, deſſen Glie— | der ſich wegen ihrer Kleinheit leichter den Blicken könnten. Gleich nach der Mittheilung ſeiner Rech— nungen an die Pariſer Akademie (Septem— ber 1859) meldete ein in Orgeͤres (De— der Aſtronomen entzogen haben partement Eure und Loire) wohnhafter Arzt, Akademie-Sitzung des Jahres 1860 vor, indem er dem neu entdeckten Planeten deu Namen Vulkan beilegte und aus Les— carbault's Beobachtungen eine Entfern— ung von 395000 Meilen und eine Um— laufzeit von 19 Tagen, 16 Stunden und 48 Minuten berechnete. Dieſe Berechnun— gen ſind wahrſcheinlich falſch, denn Les— carbault hatte das ſchwarze Pünktchen erſt bemerkt, nachdem es ſchon einen Theil ſeines Weges vor der Sonnenſcheibe zurück— gelegt hatte, und ſeine Beſtimmungen waren deshalb nicht vollſtändig, ſo daß es nicht Rechnungen angeftellte weitere Verſuche, den Vulkan aufzufinden, erfolglos blieben. Inzwiſchen hatte Prof. R. Wolf in Zürich weitere Anhaltspunkte für das Vor— handenſein eines oder mehrerer innerſten Planeten, aus den vorhandenen Aufzeich— nungen über kleine Sonnenflecke, welche ſchneller als die anderen über die Sonnen— ſcheibe dahin gehend beobachtet worden waren, gefunden. Die Sonnenflecke brauchen von ihrem erſten Auftauchen an einem Rande bis zum Erreichen des anderen, wenn ſie ſich ſo lange erhalten, gewöhnlich die Zeit einer halben Sonnenumdrehung, alſo etwas über 12 Tage, während ein Planeten— durchgang nur etwa einen Vierteltag dauert. In der That fand Prof. Wolf Angaben über fünfzehn derartige kleine und durch ihre Bewegungsſchnelligkeit verdächtige Flecke, unter denen ſich mehrere auf einen kleinen Planeten von 38 ½ Tagen Umlaufzeit be— ziehen ließen. Beſonders intereſſant dar— unter iſt die gleichzeitige Beobachtung eines ſolchen runden Fleckes durch zwei ſelbſt— ſtändige Beobachter am 12. Februar 1820. An dieſem Tage ſahen nämlich in den Nach— mittagsſtunden A. Stark in Augsburg und Steinheibel in Wien einen kleinen, wohl umgrenzten, runden Fleck innerhalb fünf Stunden an der Sonnenſcheibe vor— überziehen. Noch die Beobachtung des letzten Mer— kurdurchganges am 6. Mai 1878 ergab Stützpunkte für die Richtigkeit der Annahme eines innerſten Planeten. Ein Vergleich der Contakt-Beobachtungen mit den Ephe— meriden des amerikaniſchen und des eng— liſchen Nautical Almanac zeigte, daß der engliſche der Wahrheit viel näher gekom— men war. rikaniſchen Almanachs ſich auf Lever— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. zu verwundern iſt, wenn auf Grund dieſer Da nun die Tafeln des ame- rier's alte Theorie der Merkursbahn ſtützen, die engliſchen aber auf ſeine neue, ſo war auch in dem Ergebniſſe der neue— ſten Beobachtung eines Merkurdurchganges eine Beſtätigung von Leverrier's neuer Theorie, die den intramerkuriellen Planeten vorausſetzt, zu finden. Leider ſollte der große Aſtronom den neuen Triumph ſeiner Rechnungen nicht mehr erleben. Er hatte bis zum letzten Athemzuge ſeine Zuverſicht nicht verloren. Als Watſon vor vierte— halb Jahren von Pecking, wohin er im Auftrage der nordamerikaniſchen Regierung zur Beobachtung des Venusdurchganges ent— ſendet worden war, über Europa zurück— kehrte, beſuchte er Leverrier in Paris und wurde von demſelben von der Noth— wendigkeit überzeugt, einen Theil ſeiner Zeit der Aufſuchung und Beobachtung des Vulkan zu widmen. Ob er den Vulkan nun wirklich aufgefunden und ob derſelbe ſich durch vollſtändige Erklärung der Un— regelmäßigkeiten des Merkurs als alleiniger Beherrſcher der innerſten Zone unſeres Sonnenſyſtems darſtellt, muß der Zukunft aufzuhellen anheimgeſtellt bleiben. Die Kataplexie und der thieriſche Hypnotismus. Unter dieſem Titel hat Herr Profeſſor Dr. Preyer in Jena eine gerade hundert Seiten ſtarke Schrift?) veröffentlicht, auf deren hochintereſſanten Inhalt wir um ſo lieber etwas näher eingehen wollen, da der— ſelbe unerwarteter Weiſe auch die Darwin'ſche Theorie nahe angeht. Im Jahre 1646 gab der bekannte Jeſuitenpater Athan. Kircher in Rom ein nach unſeren Begriffen recht ” 0 Mit zwei Steindrucktafeln und einer Photographie, Jena, Guſtav Fiſcher 1878. 534 ſeltſames Handbuch der Optik unter dem Titel Ars magna lueis et umbrae her— aus, in welchem er unter anderen aktiniſchen Vorgängen auch die „Strahlung der Ein— bildungskraft“ behandelt und folgenden „de imaginatione gallinae* (von der Einbild— ungskraft des Huhnes,) betitelten Verſuch beſchreibt. „Man binde einem Huhne die Füße zuſammen und lege es auf einen be— liebigen Fußboden, ſo wird daſſelbe anfangs durch Schlagen mit den Flügeln und Be— wegungen des ganzen Körpers auf jede Weiſe ſich von der Feſſel zu befreien trachten. Nach dem vergeblichen Verſuche zu entkom— men, wird es ruhig. Während das Huhn ſtill daliegt, zieht man vom Auge deſſelben auf dem Boden einen geraden Strich mit Kreide, laſſe es dann nach Löſung der Fußfeſſel liegen, ſo wird das Huhn, trotz— dem es nicht mehr gebunden iſt, nicht fort— fliegen, auch wenn man es dazu anregt.“ Dieſer ſchon in älteren Werken erwähnte, aber meiſt mit dem Namen Experimentum mirabile Kircheri bezeichnete Verſuch iſt ſeitdem in die Sammlungen von magiſchen Schauſtücken für geſellſchaftliche Unterhalt— ung übergegangen und oft wiederholt wor— den. gnügte man ſich mit der ſonderbaren Idee Kircher's, das Thier mit ſeiner ſtark „er— regbaren Phantaſie“ bilde ſich ein, daß es feſt gebunden ſei, da es das Ende des Bind— fadens in dem langen Kreideſtrich zu ſehen glaube. Den Taſchenſpielern war es eben— falls ſeit lange bekannt, daß Kanarienvögel und ihres Gleichen, wenn man ſie an den Beinen ein Paar Mal langſam durch die Luft ſchwenkt und dann auf den Rücken in die offene Hand oder ſonſt wo frei hin— legt, längere Zeit unbeweglich „wie todt“ liegen bleiben. Eine wiſſenſchaftliche Unter— ſuchung dieſes eigenthümlichen Verhaltens Was die Erklärung betrifft, fo be- Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. hatte ſeither nicht ſtattgefunden, bis der für die Wiſſenſchaft zu früh verſtorbene Leip— ziger Phyſiologe J. N. Czermak im Jahre 1872 von dem „Magnetiſiren der Fluß— krebſe“ erzählen hörte, welches darin beſteht, daß man ſie unter einigen „mesmeriſchen Strichen“ mit dem Naſenſtachel (die Schee— ren untergeſchlagen und den Schwanz in die Höhe) auf den Tiſch ſtellt, worauf ſie im „magnetiſchen Schlafe“ längere Zeit unbeweglich verharren. Czermak wieder— holte das Experiment, fand die Sache rich— tig und erinnerte ji ſogleich der Kircher'— ſchen Henne. Er wiederholte das Experi— ment mit allen möglichen größeren und kleineren Vögeln, und ſah auch Enten, Gänſe, Truthühner und ſogar einen Schwan die Rücken-, Seiten- oder Bauchlage, die man den Thieren gewaltſam aufgezwängt, viele Minuten lang unbeweglich beibehalten, ohne daß der Strich oder ſonſtiger Hokuspokus erforderlich waren. Aber obwohl Prof. Czermak die Einbildungskraft und den magnetiſchen Schlaf zurückwies, hatten ſie unbemerkt ſeine Phantaſie beeinflußt, und er begann in der That anzunehmen, daß ein hypnotiſcher Zuſtand, eine Schlaftrunken— heit, wie ſie der engliſche Chirurg Braid im Jahre 1843 durch ſtarres Anblicken eines kleinen glänzenden Körpers erzeugen lehrte, die Urſache jenes unbeweglichen Da— liegens ſei. Er hielt daher auch das nach einem Zeitraum von verſchiedener Dauer, der ſich bis zu einer Viertelſtunde ver— längern kann, eintretende Aufſpringen des Thieres, für ein wahres Erwachen, um fo lieber, als letzteres gewöhnlich in Folge eines plötzlichen Geräuſches, einer Erſchüt— terung oder einer Berührung erfolgt. Das Thier blickt ſich dann wie erſtaunt um, und läuft davon. Prof. Czermak glaubte deshalb auch, daß das Anſtarren Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. des Kreideſtrichs oder eines über den Schna— bel gehängten Stückchen Bindfadens den Eintritt des Braidismus oder hypnotiſchen Zuſtandes befördern könnte. Prof. Preyer, der dieſe Verſuche ſeines Freundes ſogleich und mit dem beſten Erfolge auch auf Meerſchweinchen, Kanin— chen, Eichhörnchen und Fröſche ausgedehnt hatte, erklärte gleich damals (1873) im Centralblatt für die mediciniſchen Wiſſen— ſchaften, daß von einem hypnotiſchen Zu— ſtande keine Rede ſein könne. Die Thiere ſchließen die Augen wohl vorübergehend, aber fie find in der größten Augſt und zittern vor Aufregung und dieſer Zuſtand disponirt bekanntlich nicht zum Einſchlafen; das ungewöhnliche Verhalten müſſe alſo wohl eine Folge der Angſt und des Schreckens ſein. Der in demſelben Jahre erfolgte Tod Czermak's hinderte dieſen ausgezeichneten Phyſiologen, ſeine Verſuche, die er im Archiv für die geſammte Phy— ſiologie des Menſchen und der Thiere von 1873 beſchrieben hat, wieder aufzunehmen. Dies iſt indeſſen im vorigen Jahre durch den Privatdocenten Emil Heubel in Kiew geſchehen, der ſeine umſtändlichen Verſuche in demſelben Archiv“) beſchrieben hat, und gefunden haben will, daß die ſo behandel— ten Thiere nach kurzem Feſthalten in einen natürlichen phyſiologiſchen Schlaf verfielen, nicht blos in eine Schlaftrunkenheit, wie Czermak geglaubt hatte. Dieſes unglaubliche Forſchungsreſultat veranlaßte Prof. Preyer zur Anſtellung neuer längerer und ſorgfältiger Verſuchs— reihen, die er in dieſem Buche mitgetheilt hat und die ergeben haben, daß ſeine frühere Auffaſſung die richtige war. Die Thiere bekunden, ſobald ſie ergriffen werden, durch Zittern und keuchendes Athmen ihre Angſt, ) Band XIV. (1877) S. 158210. der anfänglich vermehrte Puls geht dann ebenſo wie die Athmungsfrequenz allmälig ſehr ſtark herab, und das Thier iſt in einem abnormen Zuſtande, der nichts weniger als mit dem Schlafe Aehnlichkeit hat. Es iſt möglich, daß der Zuſtand in Ausnahme— fällen in einen ſchlafartigen Zuſtand über— gehen kann, wenn die Starre eine längere Zeit angedauert und die Angſt einer Ab— ſpannung gewichen iſt, aber das wäre als— dann eine ſekundäre Erſcheinung. Dr. Le— wiſſon hat nämlich ſchon 1869 beobachtet, daß Fröſche durch Schlingen, die man ihnen plötzlich um den Hals oder an die Beine legt, in einen Starrzuſtand gerathen, aus dem ſie oft überhaupt nicht mehr her— auskommen, und Prof. Preyer ſah Fröſche und Tritonen, die mit einer Pincette an einem Hinterfuße bezw. am Schwanze erfaßt wurden, ſtarr werden und in dieſem Zu— ſtande ſtundenlang verharren, ja am an— deren Tage wurden ſie todt gefunden, ohne daß ſie eine andere Stellung angenommen hatten. Preyer's großes Verdienſt um die Auf— hellung dieſer dunkeln Vorgänge beſteht nun darin, daß er ſie auf einen uns allen wohl— bekannten Zuſtand zurückgeführt hat, näm— lich auf die lähmende Wirkung, die der Schreck auch auf den Menſchen äußert. Re— densarten, wie: „Ich war vor Schreck ge— lähmt, — ſtand wie verſteinert, — konnte kein Glied rühren, — der Schreck war mir in alle Glieder gefahren“ u. ſ. w. zeigen, daß auch der Menſch vor Schrecken ſtarr werden kann, und bei plötzlichen Ver— wundungen, und chirurgiſchen Eingriffen kann dieſer Lähmungszuſtand ſogar längere Zeit andauern, gerade wie bei jenen Thie— ren, was die Chirurgen den „Shock“ nennen. Der Unterſchied würde alſo nur ſein, daß der Menſch ſich von jener Lähm— 536 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ung in der Regel ſchon nach einigen Se— kunden erholt, während das plötzlich er— griffene Thier viele Minuten, ja ftunden- lang vor Schrecken ſtarr bleibt und ſich im Allgemeinen viel langſamer erholt. Es mag dazu beitragen, daß das Thier plötz— lich ergriffen und vielleicht gegen die Erde ge— drückt in der geiſtigen Lähmung, welche die körperliche begleitet und auch beim Menſchen nicht fehlt (die dann ebenfalls keines Gedanken und Wortes mächtig ſind), zunächſt gar nichts davon merkt, wenn man vorſichtig die Hand, Pincette oder Schlinge zurückzieht, ſo daß die Urſache des Schrecks auch länger andauert und intenſiver wirkt. Preyer nennt dieſen Zuſtand den kata— plegiſchen oder die Kataplexie d. h. Schrecklähmung, von dem griechiſchen Worte xarvarcıns, erſchrocken. Als wahrſcheinliche phyſiologiſche Urſache ſieht er die Erregung beſonderer Hemmungs-Centren an, welche ſowohl die willkürliche als die Reflex-Be— wegungen für kürzere oder längere Zeit aufheben und das Blut aus der Haut und vermuthlich auch aus den nervöſen Centralorganen auf die Eingeweide zurück— ſtauen, wodurch nicht nur die Hautbläſſe kataplegiſcher Thiere, ſondern auch die ſtarken periſtaltiſchen Bewegungen der Eingeweide und häufigen Ausleerungen derſelben ver— ſtändlich werden. Die Verlangſamung und Vertiefung der Reſpiration beim Beginn der Kataplexie würde zunächſt der ſtarken reflektoriſchen Erregung des Lungen-Vagus zuzuſchreiben ſein. Das Hauptintereſſe dieſer Auffaſſung beruht, wie uns ſcheint, darin, daß Preyer damit die Allgemeinheit einer Folgewirkung gewiſſer geiſtigen Eindrücke faſt durch das geſammte Thierreich dargethan hat. Kaninchen und Meerſchweinchen, mit denen er am meiſten experimentirte, wurden, auf den Rücken gelegt und kurze Zeit feſtge— halten, nachher ſo unbeweglich, daß er ſie nach entfernter Hand photographiren laſſen konnte, ohne daß auch nur ein Augenzucken oder die Verrückung eines Schnurrbarthaares ſtattgefunden zu haben ſcheint. Außer Säuge— thieren, Vögeln und Amphibien ſah er in Kairo große, mehrere Fuß lange Wüſten-Eidechſen (Varanus) augenblicklich ſtarr werden, wenn er ſie auf den Rücken legte, und mit der Uräusſchlange, die zum Stabe wird, wenn man ſie an dem geſchwollenen Halſe ergreift, hat es wohl dieſelbe Bewandtniß. Aber auch Krebſe mit einem ganz verſchiedenen Nervenſyſtem zeigen dieſelbe Wirkung, und mit Recht zieht der Verfaſſer zu derſelben Erſcheinung das ſogenannte „Sichtodtſtellen“ vieler Käfer und anderer Kerfe. Wie einleuchtend iſt dieſe Erklärung und wie ſchwerglaublich jene andere, welche darin eine bloße Kriegsliſt oder gar Eigenſiun ſah, wie bei jenem Käfer, den man den wiederauflebenden „Trotzkopf“ (Anobium pertinax) getauft hat, weil er ſich der Angabe vieler Zoologen zu Folge, lieber aufſpießen und lebendig braten läßt, ehe er ſeine Falſtaffrolle aufgiebt. Was wäre ein Mutius Scävola gegen ſolch' einen kleinen Helden, wenn die Lähmung nicht eine unfreiwillige wäre! Und ſollte dieſe Erſcheinung ſich nicht noch auf andere Thierkreiſe ausdehnen z. B. auf die Stachel— häuter, deren einige zerbrechen, wenn man ſie angreift, wie die Bruchſchlange, ja in kleine Stücke zerſpringen? Offenbar ſpielt dieſer Vorgang im großen Kampfe ums Daſein eine wichtige Rolle. Wie oft hat man erzählt von dem bezaubernden Blick der Schlangen, welcher die kleinen Vögel und Säugethiere lähme, daß ſie weder Bein noch Flügel bewegen können, und wem wären die daraus her— r ˙—ü— vorgegangenen Mythen vom vergiftenden Baſiliskenblick und dem verſteinernden, ſchlangenumringelten Meduſenhaupt unbe— kannt? Vielleicht compenſirt die Natur die ihr eigene Schonungsloſigkeit dadurch einiger— maßen, daß ſie die von Raubthieren er— faßten Beutethiere nach den erſten frucht— loſen Befreiungsverſuchen bewegungs-, ge— danken- und gefühllos werden läßt, und vielleicht hat die Gewohnheit vieler Raub— thiere, ihre ſicher gepackten Opfer ein paar Mal hin und her zu ſchleudern, nur den Zweck, dieſelben deſto ſchneller kataplegiſch und damit wehrlos zu machen. Merkwür— dig iſt jedenfalls der Umſtand, daß Katzen und Hunde nicht kataplegiſch gemacht wer- den konnten, wobei man freilich annehmen kann, daß ſie beim Ergreifen nicht ſo ſehr erſchreckt werden als andere Thiere. Daß es ſich hier nicht etwa blos um eine Eigen— thümlichkeit kleinerer Thiere handelt, be— weiſen Pferde und Rinder, die man öfter ſtarr werden ſah, wenn man ſie behufs der Verladung in Schiffe vermittelſt eines Bauchgurtes durch den Krahn emporhob. Aber bei Raubthieren wäre es immerhin möglich, daß ſie ſich, wie der Menſch, der Eigenſchaft, im höheren Grade kataplegiſch zu werden (durch die Gewohnheit, nur an— dere Thiere, nicht ſich ſelbſt zu erſchrecken) entwöhnt hätten. Nur eine oberflächliche Betrachtung könnte vermuthen laſſen, daß dieſe Eigen— thümlichkeit den Thieren ſo ſchädlich gewor— den ſein möchte, daß ſie alle damit Behaf— teten dem Untergange weihen mußte, denn die Kataplexie tritt wohl in den meiſten Fällen nur dann ein und eben deswegen, wenn ein Entrinnen überhaupt nicht mehr mög— lich iſt. Andererſeits kann aber die Un— beweglichkeit, wie ſchon der Volksmund meint, dem Thiere von Nutzen ſein, da Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. manche Räuber eine todte Beute nicht an— rühren, ſie unter Umſtänden auch ſchwerer erblicken und erkennen werden, und dadurch begreifen wir, daß ſich dieſe Eigenſchaft ſeit den Tagen der Trilobiten, die ſich be— reits zuſammenkugelten und dabei wahr— ſcheinlich bewegungslos waren, bis heute bei ſo vielen Arthropoden erhalten hat. „Richtig iſt offenbar,“ ſagt der Verfaſſer über dieſen Punkt, „daß ein Thier, welches ſich bewegt, leichter von ſeinen Feinden er— kannt wird, als ein ruhendes Thier. Im Allgemeinen werden alſo diejenigen Indi— viduen, welche im Augenblick der Gefahr ſich ganz ruhig verhalten, mehr Ausſicht haben, ſich zu erhalten, als die fliehenden, die Ueberlegenheit des Gegners voraus— geſetzt. Dann namentlich wird dieſes zu— treffen, wenn die Fluchtbewegungen lang- ſam ſind. Von einer Käferart mit träger oder nicht ſehr behender Fortbewegung müſſen demnach im Laufe der Zeit die phlegmatiſchen vor den anderen einen ge— wiſſen Vorzug haben, den ſie in verſtärk— tem Maße auf ihre Nachkommen vererben. Schließlich werden unter dieſen diejenigen wieder im Kampfe um das Daſein einen Vortheil erringen, welche nicht nur immobil find, ſondern dem Feinde keinen Angriffs- punkt bieten, ähnlich wie der zuſammen— gekugelte Igel. In dieſer Beziehung iſt beſonders der Pillenkäfer (Byrrhus pilula) mit den Fugen, in die ſich die Extremitäten legen, ausgezeichnet. Weshalb aber ur— ſprünglich die betreffenden Thiere in Augen— blicken der Gefahr ruhig ſich verhalten, während andere ſchnellere durch die Flucht ſich zu retten ſuchen, iſt durch dieſe An— wendung des Darwin 'ſchen Selektions— Princips nicht aufgeklärt. Mir ſcheint der Grund der zu ſein, daß ſie erſchrecken, d. h. durch eine ungewöhnliche Reizung — Be— 538 rührung, Schall, Erſchütterung — eine Hemmung der Willkürbewegung eintritt. .. So wird die alte anthropomorphiſche Er— klärung von dem „Sichstodt-ſtellen“ durch eine natürliche Erklärung verdrängt, welche es auch begreiflich macht, daß bei den man— nigfaltigſten Reizungen — nicht blos bei Berührung ſeitens eines Raubinſekts — die Bewegungsloſigkeit eintritt, und es nicht mehr als einen Akt des Heroismus er⸗ ſcheinen läßt, daß Anobium bei lebendigem Leibe ſich verbrennen läßt, ſondern als Conſequenz einer ſehr ſtarken Reizung von Mit dieſem Citat wollen wir von einer nach den mannig⸗ Hemmungsapparaten.“ fachſten Richtungen lehrreichen Abhandlung Abſchied nehmen und den Leſer für weitere Information auf dieſelbe verweiſen. Die Statiſtik der Farbenblindheit. Wie wir zu unſrer Freude erfahren, führt Herr Ur Hugo Magnus in Breslau den ihm in unſerer Zeitſchrift (Bd. I. S. 272) gemachten Vorſchlag aus, die Forſchungs— reiſenden zur Prüfung des Farbenunter— ſcheidungs- und Benennungsvermögens der Naturvölker anzuregen, und hat zu dieſem Zwecke im Vereine mit Dr. Pechuel— Löſche ein Programm ausgearbeitet, welches den Reiſenden zur Richtſchnur dienen ſoll. Hoffentlich ſind darin die großen Schwie— rigkeiten einer ſolchen Unterſuchung gehörig hervorgehoben und die Vorſichtsmaßregeln an— gegeben, deren man ſich, um nicht den ſchlimm— ſten Irrthümern zu unterliegen, hierbei be— dienen muß, wie denn nur ein vollkommen methodiſcher Gang und Prüfung am Spek— tralapparat hier einige Sicherheit zu geben vermag. Wie leicht man hierbei Täuſchun— gen unterliegen kann, haben kürzlich wieder en Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. die Unterſuchungen des franzöſiſchen Bahn— Arztes Dr. Favre gezeigt, der, obwohl er ſich ganz ſpeciell mit dieſen Unterſuchungen beſchäftigt hat, zu ganz falſchen Beſtimm— ungen gelangt iſt, indem er Perſonen, die nur die Farbennamen falſch anwendeten, ſogleich zu den Farbenblinden rechnete. In dem Centralblatt für praktiſche Augenheil— kunde (April 1878 S. 79) wird ein in— tereſſanter ſtatiſtiſcher Bericht über die Ver— breitung der Farbenblindheit bei der nor— wegiſchen Jugend veröffentlicht. Herr Daae zu Kragerö in Norwegen hat 413 Schüler beiderlei Geſchlechts und im Alter von 9 — 15 Jahren in Bezug auf ihr Farben— unterſcheidungsvermögen geprüft. Unter 205 Knaben fand er 21 mehr oder weniger ausgeſprochene Farbenblinde (10 völlig, 11 in geringerem Grade), im Ganzen alfo 10,24 pCt. Unter 208 Mädchen zeigten dagegen blos 5 (d. h. 2,40 PCt.) dieſen Mangel, und noch dazu in einem weniger ausgebildeten Grade. Im Mäihefte deſſel— ben Journals finden ſich ſodann Mittheil— ungen über ähnliche Unterſuchungen, welche die Herren Prof. Dr. Herm. Cohn und Dr. H. Magnus in Breslau angeſtellt haben. Unter 2761 Knaben fanden ſie 76, alſo 2,7 pCt., farbenblind, und unter 2318 Mädchen nur ein farbenblindes, = 0,04 pCt. Bei der Unterſuchung der Schüler einer Realſchule, welche von ſehr vielen jüdiſchen Schülern beſucht wird, ergab ſich das überraſchende Reſultat, daß bei den jüdiſchen Schülern die Farbenblindheit dop— pelt ſo häufig vorkam, als bei den chriſt— lichen. Unter 1947 chriſtlichen Schülern befanden ſich 42 Farbenblinde, — 2,1 pCt., unter 814 jüdiſchen Schülern 34, — 4,1 pCt. Von 836 jüdiſchen Mädchen wurde kein einziges farbenblind gefunden. ———— ͤ—— — — Ch. Darwin's Geſammelte Werke.“) Bi An den letzten Wochen iſt ein litera— 92 riſches Unternehmen vollendet worden, auf welches wir Deutſche in der That ein wenig ſtolz fein dürfen: die erfte Gefammt-Ausgabe von Darwin's Haupt⸗ ſchriften in deutſcher Sprache. recht berichtet ſind, ſo beſitzt nicht einmal das Mutterland des großen Reformators der Naturphiloſophie, jedenfalls keine andere Nation, eine ſolche Ausgabe. ein Dichter, noch ein Hiſtoriker, noch ein ſchrieben, liegt ein Forſcherleben und ein umfaſſendes Naturgemälde — nicht in Ein- zelnheiten, ſondern in großen allgemeinen Zügen — vor uns: Die Geſetze der Ent— wickelung der Erde und ihres Lebens aus ihrer allſeitigen Beobachtung und Durch- dringung abgeleitet. Mag man es immer— hin noch Theorie nennen; dem Studiren— den, der mit offnem Aug' und Sinnen um ſich blickt, iſt es bald keine mehr, oder doch nicht mehr, als Alles, was wir zu wiſſen glauben, Hypotheſe und Theorie iſt. Der erſte Band giebt uns den lebensvollen Bericht jener Reiſe um die Welt mit dem Beagle, auf welcher der junge Naturforſcher die erſten Anſtöße ſeiner neuen Weltauf— 5 Zwölf Bände. Ueberſetzt von J. Victor Carus. Stuttgart, E. Schweizer— bart'ſche Buchholg. (Ernſt Koch), 1875 — 78. Kosmos, Band III. Heft 6. Literatur und Kritik. nehmen: Wenn wir In zwölf ſtattlichen Bänden, wie ſie inhaltreicher weder faſſung empfing, die uns im zweiten Bande ausgereift vorliegt, während die folgenden das ungeheure Gedanken-, Beobachtungs- und Thatſachen-Material nachliefern, worauf ſich dieſes mächtige Gebäude, wie auf dem Fundamente der Natur ſelbſt, erhebt. Wir brauchen hier keine Aufzählung zu unter— ein Staunen wird es noch in ſpäten Zeiten erwecken, eine ſolche un— geheure Zahl wohlgeordneter Beläge und Nachweiſe bei einander zu finden, wie der unermüdliche Fleiß und die Arbeitsfreudig— keit des Verfaſſers bis in ſein hohes Alter ſie erarbeitet, geſammelt und geſichtet hat, um den verborgenen Zuſammenhang der Philoſoph oder Naturforſcher jemals ge | Dinge daraus abzuleiten. Niemals haben ſich fruchtbarer Analyſe und Syntheſe er— gänzt, und was als geniales Apercu auf— getaucht ſein mag, iſt nachher im harten Kampfe geſichert worden, durch geduldiges Beobachten des Viehhofes, durch ſorgſames Ausſäen und Pflanzen im Garten, durch eine Correſpondenz, vor welcher allein ſchon gewöhnliche Geiſter zurückſchrecken würden. Aber welcher Lohn und Ertrag auch von dieſer fünfzigjährigen Arbeit! Wohin er den erleuchtenden Blick gewendet, — in die Tiefen des Weltmeeres, um das Rüthſel der Korallenbauten zu ergründen, auf die Vulkane und den Bau der Erde, auf die ausgeſtorbenen oder auf die lebenden Thiere, auf die windenden, kletternden und inſekten⸗ freſſenden Pflanzen, auf ihre Kreuzbefrudt- ung und Wechſelbeziehung mit den Inſekten, auf die Naturzweckmäßigkeit oder Natur- 69 Literatur und Kritik. ſchönheit, auf die Abſtammung des Men— ſchen oder den Ausdruck ſeiner Gemüths— bewegungen, überall erkennen wir in ihm den ſinnenden Weiſen, der in der Erſchein— ungen Flucht den ruhenden Pol entdeckt und die geſammte naturforſchende Mitwelt willig oder widerwillig zwingt, auf ſeinen Spuren zu wandeln, ja die Sprach- und Sittenforſcher, Naturforſcher in ihren Fächern zu werden. Und noch enthält dieſe Aus— gabe einerſeits nicht Alles, wodurch er die Wiſſenſchaft gefördert hat, und andererſeits dürfen wir hoffen, da die Studien über die inſektenfreſſenden Pflanzen und die Wirk— ung der Kreuz- und Selbſtbefruchtung erſt aus den letzten Jahren ſtammen, noch man— chen Bauſtein zu dem Rieſenwerke dieſer Weltanſchauung aus ſeiner Hand zu erhal— ten. In Anerkennung dieſer ſeiner letzten Werke hat, wie wir eben in den Zeitungen leſen, die Pariſer Akademie der Wiſſen— ſchaften Darwin zu ihrem Mitgliede er— nannt; in Deutſchland iſt ſein Geiſt auch ohne ſpecielles Diplom überall, wo natur— forſchende Männer berathen und ſich ver— ſammeln, mitten unter ihnen. Und wo ſeine Würdigung noch fehlt, wird dieſe Geſammtausgabe ſie fördern. Nichts iſt daran mangelhaft. Allerſeits nachahmungs— werthe Regiſter in der äußerſten Vollſtän— digkeit erleichtern das gelegentliche Nach— ſchlagen, eine vortreffliche Eintheilung und Gliederung macht die Darſtellung überſicht— lich. Aber mit nicht minderer Wärme haben wir auch dem Ueberſetzer und dem Verleger zu danken, die ihre beſten Kräfte an eine würdige Wiedergabe geſetzt haben. Wer je derartige Arbeiten unternommen hat, der weiß, was zu einer entſprechenden Uebertragung ſo univerſaler und neuer An— ſchauungen, für welche die Ausdrucksformen oft erſt gefunden werden ſollen, gehört. Welche Selbſtverleugnung und Mühen wer— den nicht die von ſeinem Fache weit ab— liegenden botaniſchen und geologiſchen Ar— beiten vom Prof. Carus verlangt haben! Es ſind das Opfer, die man nur einem großen Zwecke bringt. Die buchhändleriſche Ausſtattung endlich iſt muſtergültig und gereicht der Firma, zumal wenn man den billigen Preis bedenkt, zur höchſten Ehre. So hat ſich denn Alles vereint, um dem gebildeten Deutſchen keine Entſchuldigung zu laſſen, wenn er die Arbeiten des großen Zeitgenoſſen nicht kennen lernt. Descendenz - Cheorie und Sorial- Demokratie. Der unüberlegte Angriff, welchen Vir— How auf der Münchener Verſammlung gegen die Freiheit der Wiſſenſchaft und ihrer Lehre, gegen den Werth von Theorie und Hypotheſe, gegen die Berechtigung der Evolutionstheorie im Allgemeinen und gegen. die Haeckel'ſchen Ausführungen im Be— ſonderen gethan, beginnt in einer Weiſe auf ihn zurückzuprallen, daß er ſich von jenem großen, von ihm ſelbſt ausgeführten Schlage in der Achtung der Naturforſcher kaum jemals ſo recht erholen dürfte. Nur die ultramontane und urtheilsloſe Preſſe hat ihm zugejauchzt, auf wiſſenſchaftlicher Seite haben die Meiſten den Kopf geſchüttelt, und man findet allgemein, daß er leider wieder einmal ſo unvorbereitet und ununterrichtet wie gewöhnlich geweſen, indem er Dinge ab— kanzelte, die ihm völlig fremd find. Nach— dem ihm die Angegriffenen Zeit zum Nach— denken und zur Buße gegeben haben, er— ſcheinen ſie nun am Vormorgen der neuen Naturforſcher-Verſammlung wie auf Ver— abredung, um ihm mit Zinſen die Schul— den zurückzuzahlen, die er vor Jahresfriſt contrahirt hat. Caſſel ſoll ſühnen, was führung dienende Afterwiſſenſchaft. Literatur und Kritik. 541 Da München verbrochen. Da erſcheint Cas— dieſe Anklage in Folge trauriger Berirrun- pari, um ihm ein Collegium logicum und ein Privatissimum über Methodologie und ſynthetiſche Philoſophie zu leſen,“) es folgt Klebs, der ihn auf ſeinem eigenen Felde gen leider nicht auf ganz unfruchtbaren Boden gefallen iſt, ſo wollen wir mit freundlicher Erlaubniß des Verfaſſers hier angreift, da droht Oskar Schmidt dem berühmten Politiker über Social-Demo⸗ kratie Aufklärung zu geben, und endlich kommt der Haupt- Angegriffene Haeckel mit einer geharniſchten Abwehr.“) Vir— chow erfährt hier neben andern wiſſens— | werthen Dingen, daß die Umwandlungs⸗ lehre keine ſo beweisloſe Hypotheſe iſt, wie er in München behauptet hat, daß er ſogar ſelber als einer der lehrreichſten Beweiſe dafür angeführt werden kann, ſofern er ſich mit ſeinem ganzen Denken und Empfinden in das gerade Gegenſtück desjenigen Vir How verwandelt hat, dem einſt in Würz- | burg alle Studirenden zujauchzten. Es wird ihm nachgewieſen, daß er früher meiſtentheils das Gegentheil von dem be— haaptet hat, was er jetzt für wahr erklärt, ſo daß die Metapſychoſe nicht vollſtändiger ſein kann als ſie iſt. Das, wie Friedrich von Hellwald “*) damals ſehr richtig be— tonte, häßlichſte Manöver Virchow's be— ſtand jedenfalls darin, die Darwin'ſche Theorie für die Ausſchreitungen der Social— Demokratie verantwortlich zu machen, ſie vor aller Welt zu denunciren und an den Pranger zu ſtellen, als eine zur Volksver— ) Virchow und Haeckel vor dem Forum der methodologiſchen Forſch— ung. Augsburg, Lampart u. Co., 1878. * Freie Wiſſenſchaft und freie Lehre. Eine Entgegnung auf Rudolph Virchow's Münchener Rede. E. Schweizerbart'ſche Verlagsbuchhandlung (E. Koch), 1878. **) Kosmos, Bd. II. S. 180. Stuttgart, betreffenden wiedergeben, was im ſechsten Abſchnitt der vorſtehend erwähnten Vertheidigungsſchrift (S. 70 — 78) unter obigem Titel über dieſen Gegenſtand geſagt wird: „Jede große und umfaſſende Theorie, welche die Grundlagen menſchlicher Wiſſen— ſchaft berührt und ſomit die philoſophiſchen Syſteme beeinflußt, wird zwar zunächſt nur die Theorie der Weltanſchauung fördern, aber weiterhin ſicher auch eine Rückwirkung auf die praktiſche Philoſophie, die Ethik, und die damit zuſammenhängenden Gebiete der Religion und der Politik ausüben. Welche ſegensreichen Folgen nach meiner Ueber— zeugung unſere heutige Entwickelungslehre in dieſer Beziehung nach ſich ziehen wird, indem die wahre, auf Vernunft gegrün— dete Naturreligion an die Stelle der dogmatiſchen Kirchen-Religion tritt, und deren Grundlage, das menſchliche Pflicht— gefühl aus den ſocialen Inſtinkten der Thiere hiſtoriſch ableitet, das hatte ich in meinem Münchener Vortrage nur kurz angedeutet (S. 18). Die Beziehung auf die „ſocialen Inſtinkte“, die ich gleich Darwin und vielen Anderen für die eigentlichen Urquellen der ſittlichen Entwickelung halte, ſcheinen nun für Virchow Veranlaſſung gegeben zu haben, in ſeiner Gegenrede die Descen— denzlehre für eine „ſocialiſtiſche The— orie“ zu erklären und ihr ſomit den ge— fährlichſten und verwerflichſten Charakter beizulegen, den gerade in der Gegenwart eine politiſche Theorie haben kann. Die | erſtaunlichen Denunciationen haben übrigens gleich nach ihrem Bekannt— ich hier füglich darüber hinweggehen könnte. Doch wollen wir fie wenigſtens inſoweit kurz beleuchten, als ſie einen neuen Beweis dafür liefern, daß Virchow mit den wich— tigſten Grundſätzen der heutigen Entwidel- ungslehre unbekannt und daher zu ihrer | Beurtheilung incompetent ift. Uebrigens | legte Virchow als Politiker offenbar gerade predigt überaus deutlich, daß die ſocia— auf dieſe politiſche Nutzanwendung ſeiner Rede beſonderes Gewicht, indem er ihr den ſonſt wenig paſſenden Titel gab: „Die Freiheit der Wiſſenſchaft im mo— dernen Staate.“ Leider hat er nur ver— geſſen, dieſem Titel die zwei Worte hinzuzu— fügen, in denen die eigentliche Tendenz ſeines Vortrags gipfelt, die zwei inhaltsſchweren Worte: „muß aufhören“! Die überraſchenden Enthüllungen, in denen Virchow die heutige Entwickelungs— lehre, und ſpeciell die Abſtammungslehre, als gemeingefährliche ſocialiſtiſche Theorien denuncirt, lauten folgendermaßen: „Nun ſtellen Sie ſich einmal vor, wie ſich die eines Socialiſten darſtellt! Ja, meine Herren, das mag Manchem lächerlich er- ſcheinen, aber es iſt ſehr ernſt, und ich will hoffen, daß die Descendenz-Theorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorien wirklich im Nachbar— lande angerichtet haben. Immerhin hat auch dieſe Theorie, wenn ſie conſequent durch— liche Seite, und daß der Socialismus mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen ſein. Wir müſſen uns das ganz klar machen!“ Erſtaunt frage ich mich beim Leſen dieſer Sätze, die der Berliner „Kreuzzeitung“ oder dem Wiener „Vaterland“ entnommen Literatur und Kritik. werden ſolche gerechte Entrüſtung und ſo zu ſein ſcheinen: Was in aller Welt hat eingehende Widerlegung hervorgerufen, daß die Descendenz- Theorie mit dem Socialis— mus zu thun? Schon vielfach, von verſchie— denen Seiten und ſeit langer Zeit iſt darauf hingewieſen worden, daß dieſe beiden The— orien ſich vertragen wie Feuer und Waſſer. Mit Recht konnte Oscar Schmidt ent— gegnen: „Wenn die Soctaliften klar denken würden, ſo müßten ſie Alles thun, um die Descendenzlehre zu verheimlichen, denn fie, liſtiſchen Ideen unausführbar ſind.“ Und er fügt weiter hinzu: „Aber warum hat Virchow nicht die milden Lehren des Chriſtenthums für die Ausſchreitungen des Socialismus verantwortlich gemacht? Das hätte noch einen Sinn! Seine in's große Publicum geworfene Denunciation, ſo myſteriös, ſo zuverſichtlich, als handelte es ſich um „eine ſicher beglaubigte wiſſen— ſchaftliche Wahrheit“, und doch ſo hohl, vermag ich mit der Würde der Wiſſenſchaft nicht in Einklang zu bringen.“ Bei dieſen leeren Beſchuldigungen wie bei allen den hohlen Vorwürfen und grund— Descendenz-Theorie heute ſchon im Kopfe loſen Einwendungen, welche Virchow der Entwickelungslehre macht, hütet er ſich wohl, irgendwie auf den Kern der Sache einzu— gehen. Wie wäre das auch möglich, ohne zu ganz entgegengeſetzten, als zu den von ihm proclamirten Conſequenzen zu gelangen? Deutlicher als jede andere wiſſenſchaftliche Theorie predigt gerade die Descendenz-The— orie, daß die vom Socialismus erſtrebte geführt wird, eine ungemein bedenk⸗ Gleichheit der Individuen eine Unmöglichkeit iſt, daß ſie mit der thatſächlich überall be— ſtehenden und nothwendigen Ungleichheit der Individuen in unlöslichem Widerſpruch ſteht. Der Socialismus fordert für alle Staatsbürger gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche Güter, gleiche Genüſſe; die Des— cendenz-Theorie gerade umgekehrt be— Literatur und Kritik. weiſt, daß die Verwirklichung dieſer Forderung eine baare Unmöglichkeit iſt, daß in den ſtaatlichen Organiſatious-Verbänden der Menfchen, wie der Thiere, weder die Rechte und Pflichten, noch die Güter und Genüſſe aller Staatsglieder jemals gleich ſein werden, noch jemals gleich ſein können. Das große Geſetz der Sonderung oder Differen— zirung lehrt ebenſo in der allgemeinen Eutwickelungs-Theorie, wie in deren bio— logiſchem Theile, der Descendenz Theorie, daß die Mannigfaltigkeit der Erſcheinungen aus der urſprünglichen Einheit, die Ver— ſchiedenartigkeit der Leiſtungen aus der ur— ſprünglichen Gleichheit, die zuſammengeſetzte Organiſation aus der urſprünglichen Ein— fachheit ſich entwickelt. Die Eriftenz-Be- dingungen ſind für alle Individuen von Anfang ihrer Exiſtenz an ungleiche, ſogar auch die ererblen Eigenſchaften, die „An— lagen“, ſind mehr oder minder ungleich, wie können da die Lebens-Aufgaben und höher das Staatsleben entwickelt iſt, deſto mehr tritt das große Princip der Arbeits theilung in den Vordergrund, deſto mehr verlangt der Beſtand des ganzen Staats, daß ſeine Glieder ſich in die mannigfaltigen Aufgaben des Lebens vielfach theilen; und wie die von den Einzelnen zu leiſtende Arbeit und der damit verbundene Auf— wand von Kraft, Geſchick, Vermögen u. ſ. w. verſchieden ſein. Das ſind ſo einfache und Politiker ſollte die Descendenz-Theorie, wie z. Th überhaupt die Entwickelungslehre, als beſtes Gegengift gegen den bodenloſen Widerſinn der ſocialiſtiſchen Gleichmacherei empfehlen! Selektions-Theorie, den Virchow bei ſeiner Denunciation wohl eigentlich mehr im Auge gehabt hat, als den ſtets damit verwechſelten Transformismus, die Descendenz Theorie! Der Darwinismus iſt alles Andere eher als ſocialiſtiſch! Will man dieſer engliſchen Theorie eine beſtimmte politiſche Tendenz beimeſſen, — was allerdings möglich iſt —, jo kann dieſe Tendenz nur eine ariſto— kratiſche ſein, durchaus keine demokratiſche, und am wenigſten eine ſocialiſtiſche! Die Selektions-Theorie lehrt, daß im Menſchen— Leben wie im Thier- und Pflanzen- Leben überall und jederzeit nur eine kleine bevor— zugte Minderzahl exiſtiren und blühen kanu; während die übergroße Mehrzahl darbt und mehr oder minder frühzeitig elend zu Grunde geht. Zahllos ſind die Keime jeder Thier— und Pflanzen-Art, und die jungen Indi— viduen, die aus dieſen Keimen hervorgehen. Unverhältnißmäßig gering iſt dagegen die Zahl der glücklichen Individuen unter jenen, deren Ergebniſſe überall gleiche ſein? Je die ſich bis zur vollen Reife entwickeln und ihr erſtrebtes Lebensziel wirklich erreichen. Der grauſame und ſchonungsloſe „Kampf um's Daſein“, der überall in der lebendigen Natur wüthet und naturgemäß wüthen muß, dieſe unaufhörliche und un— erbittliche Concurrenz alles Lebendigen, iſt eine unleugbare Thatſache; nur die aus- erleſene Minderzahl der bevorzugten Tüch— tigen iſt im Stande, dieſe Concurrenz glück— höchſt verſchiedenartig iſt, jo muß natur- gemäß auch der Lohn dieſer Arbeit höchſt lich zu beſtehen, während die große Mehrzahl der Concurrenten nothwendig elend verderben muß! Man kann dieſe tragiſche Thatſache handgreifliche Thatſachen, daß man meinen ſollte, jeder vernünftige und vorurtheilsfreie tief beklagen, aber man kann ſie weder weg— leugnen noch ändern. Alle ſind berufen, aber Wenige ſind auserwählt! Die Se— lektion, die „Ausleſe“ dieſer „Auserwähl— ten“, iſt eben nothwendig mit dem Ver— kümmern und Untergang der übrig bleibenden Vollends der Darwinismus, die Mehrzahl verknüpft. Ein anderer engliſcher 544 Forſcher bezeichnet daher auch den Kern des Darwinismus geradezu als das „Ueber— leben des Paſſendſten“, als den „Sieg des Beſten“. Jedenfalls iſt dieſes Selektions-Princip nichts weniger als demo kratiſch, ſondern im Gegentheil ariſtokra— tiſch im eigentlichſten Sinne des Worts! Wenn daher der Darwinismus nach Vir— cho w, conſequent durchgeführt, für den Politiker eine „ungemein bedenkliche Seite“ hat, ſo kann dieſe nur darin gefunden werden, daß er ariſtokratiſchen Beſtrebungen Vor— ſchub leiſtet. Wie aber der heutige Socialis— mus an dieſen Beſtrebungen ſeine Freude haben ſoll, und wie die Schrecken der Pa— riſer Commune darauf zurückzuführen ſind, das iſt mir offen geſtanden, abſolut unbe— greiflich! Uebrigens möchten wir bei dieſer Ge— legenheit nicht unterlaſſen darauf hinzu— weiſen, wie gefährlich eine derartige unmit— telbare Uebertragung naturwiſſenſchaftlicher Theorien auf das Gebiet der praktiſchen Politik iſt. Die höchſt verwickelten Ver— hältniſſe unſeres heutigen Culturlebens erfor— dern von dem praktiſchen Politiker eine fo umſichtige und unbefangene Berückſichtigung, eine ſo gründliche, hiſtoriſche Vorbildung und kritiſche Vergleichung, daß derſelbe immer nur mit größter Vorſicht und Zurückhaltung eine derartige Nutzanwendung eines „Natur— geſetzes“ auf die Praxis des Culturlebens wagen wird. Wie iſt es nun möglich, daß Virchow, der erfahrene und gewiegte Politiker, der ſelbſt überall Vorſicht und Zurückhaltung in der Theorie predigt, mit einem Male eine ſolche Anwendung vom Transformismus und Darwinismus macht, eine ſo grundverkehrte Anwendung, daß ſie den eigentlichen Grundgedanken dieſer Lehren geradezu in's Geſicht ſchlägt? Ich ſelbſt bin nichts weniger als Poli— Literatur und Kritik. tiker. Mir fehlt dazu, im Gegenſatze zu Virchow, ebenſo das Talent und die Vor— bildung, wie die Neigung und der Beruf. Ich werde daher weder in Zukunft eine politiſche Rolle ſpielen, noch habe ich früher jemals einen Verſuch dazu gemacht. Wenn ich hier und da gelegentlich eine politiſche Aeußerung gethan oder eine politiſche Nutz— anwendung naturwiſſenſchaftlicher Theorien gegeben habe, ſo haben dieſe ſubjektiven Meinungen keinen objektiven Werth. Im Grunde genommen habe ich damit ebenſo das Gebiet meiner Competenz überſchritten, wie Virchow, wenn er ſich auf zoologi— ſche Fragen und namentlich auf den Trans— formismus der Affen einläßt. Ich bin in der politiſchen Praxis ebenſo Laie, wie Vir— chow im Gebiete der zoologiſchen Theorie. Uebrigens machen mich auch die Erfolge, welche Virchow während ſeiner zwanzig— jährigen mühſeligen, unerquicklichen und aufreibenden Thätigkeit als Politiker erzielt hat, wahrlich nach ſolchen Lorbeeren nicht lüſtern! Das aber darf ich als theoretischer Naturforſcher von den praktiſchen Politikern wohl verlangen, daß ſie bei politiſcher Ver— werthung unſerer Theorien ſich zuvor mit denſelben genau bekannt machen. Sie werden es dann in Zukunft wohl unterlaſſen, gerade das Gegentheil von demjenigen daraus zu ſchließen, was vernunftgemäß daraus er— ſchloſſen werden muß. Mißverſtändniſſe werden niemals dabei ganz ausbleiben: aber welche Lehre iſt denn überhaupt vor „Miß— verſtändniſſen“ ſicher? Und aus welcher geſunden und wahren Theorie können nicht die ungeſundeſten und wahnwitzigſten Fol— gerungen abgeleitet werden? Wie wenig Theorie und Praxis im Menſchenleben übereinſtimmen, wie wenig gerade die berufenen Vertreter herrſchender u Lehren ſich befleißigen, die natürlichen Folgen derſelben für das praktiſche Leben zu ziehen, das zeigt vielleicht Nichts ſo auf— fallend, als die Geſchichte des Chriſten— thums. Sicher enthält die chriſtliche Reli— gion, ebenſo wie die buddhiſtiſche, von allem dogmatiſchen Fabelkram entkleidet, einen vortrefflichen humanen Kern: und gerade jener humane, im beſten Sinne „ſocial— demokratiſche“ Theil der chriſtlichen Lehren, der die Gleichheit aller Menſchen vor Gott predigt, das „Liebe deinen Nächſten als dich ſelbſt“, überhaupt die „Liebe“ im edelſten Sinne, das Mitgefühl mit den Armen und Elenden u. ſ. w., gerade dieſe wahrhaft humanen Seiten der Chriſtenlehre ſind ſo naturgemäß, ſo edel, ſo rein, daß wir ſie unbedenklich auch in die Sittenlehre unſerer moniſtiſchen Naturreligion aufneh— men. Ja die „ſocialen Inſtincte“ der höhern Thiere, auf welche wir letztere gründen (3. B. das bewunderungswürdige Pflichtgefühl der Ameiſen u. ſ. w.), ſind in dieſem beſten Sinne geradezu „chriſtlich“! * Und was, fragen wir, was haben nun die berufenen Vertreter, ihre „gottgelehrten“ Prieſter aus dieſer „Religion der Liebe“ gemacht? Mit blutigen Lettern ſteht es ſeit 1800 Jahren in der Culturgeſchichte der Menſchheit eingeſchrieben! Alles was ſonſt noch verſchiedene Kirchen-Religionen für gewaltſame Ausbreitung ihrer Lehren und für Ausrottung der andersgläubigen Ketzer geleiſtet haben, Alles was die Juden gegen die Heiden, die römiſchen Kaiſer gegen die Chriſten, Muhamedaner gegen Chriſten- und Judenthum verbrochen haben, Alles das wird übertroffen durch die Hekatomben von Menſchen-Opfern, welche das Chriſtenthum für die Verbreitung ſeiner Lehre gefor— dert hat! Und zwar Chriſten gegen Chriſten! Literatur und Kritik. 545 Rechtgläubige Chriſten gegen nichtrechtgläu— bige Chriſten! Man denke nur an die Inquiſition im Mittelalter, an die unerhörten und unmenſchlichen Grauſamkei— ten, welche die „allerchriſtlichſten Kö— nige“ in Spanien, ihre werthen Collegen in Frankreich, in Italien u. ſ. w. begingen. Hunderttauſende ſtarben damals den grau— ſamſten Flammentod, blos weil ſie ihre Vernunft nicht unter das Joch des kraſſeſten Aberglaubens beugten, und weil ihre pflicht— treue Ueberzeugung ihnen verbot, die klar erkannte natürliche Wahrheit zu verleug— nen! Keine ſcheußliche, niederträchtige und unmenſchliche Handlung giebt es, die damals und bis heute nicht im Namen und auf Rechnung des „wahren Chriſtenthums“ be— gangen wurde! Und wie ſteht es vollends mit der Moral der Prieſter, die ſich als Diener von Gottes Wort ausgeben und die doch zunächſt die Pflicht Hätten, in ihren eigenen Leben die Heilslehren des Chriften- thums zu bethätigen? Die lange, ununter— brochene und grauenvolle Kette von Ver— brechen aller Art, welche die Geſchichte der römiſchen Päpſte bezeichnen, giebt darauf die beſte Antwort. Und wie dieſe „Stellver— treter Gottes auf Erden“, ſo haben anch ihre untergeordneten Helfer und Helfershelfer, ſo haben auch die „rechtgläubigen“ Prieſter anderer Confeſſionen nicht ermangelt, die Praxis ihres eigenen Lebenswandels in möglichſt ſchroffen Contraſt zu den edlen Lehren der chriſtlichen Liebe zu ſetzen, die ſie beſtändig im Munde führen! Wie mit dem Chriſtenthum, ſo geht's aber auch mit allen andern Religionslehren und Sittenlehren, ſo geht es mit allen Lehren, die in dem weiten Gebiete der prak— tiſchen Philoſophie, in der Erziehung der Jugend, in der Bildung des Volkes ihre 546 Kraft bewähren ſollen. Der theoretiſche Kern dieſer Lehren kann ſtets und überall, der widerſpruchsvollen Natur des Menſchen entſprechend, mit feiner praktiſchen Ausbeu— geht das alles aber den wiſſenſchaftlichen Forſcher an? Dieſer hat einzig und allein die Aufgabe, nach Wahrheit zu forſchen, und das, was er als Wahrheit erkannt hat, zu lehren, unbekümmert darum, welche Folgerungen etwa die verſchiedenen Parteien in Staat und Kirche daraus ziehen mögen!“ Dr. Arnold Dodel-Port und Ca— rolina Dodel-Port, Anatomiſch— phyſiologiſcher Atlas der Bo— tanik für Hoch⸗ und Mittel⸗ ſchulen. In 42 colorirten Wandtafeln nebſt Text in deutſcher, franzöſiſcher und engliſcher Sprache, ſowie 18 Supplement— Blättern für den akademiſchen Unterricht. Erſcheint in 10 Lieferungen von je 6 Tafeln und deren Beſchreibung. Größe der einzelnen Tafeln 69: 90 Centimtr. Preis der Lieferung 15 Mark. Wer jemals bei ſeinem botaniſchen Un— terrichte die prächtigen Kny'ſchen Wand— tafeln gebraucht hat, wird gewiß den leb— haften Wunſch empfunden haben, es möchten ihm derartige Tafeln recht bald in hinläng— lich reicher Auswahl zur Verfügung ſtehen. Dieſer Wunſch würde aber ohne Zweifel Literatur und Kritik. noch lange Jahre hindurch ein ſogenannter frommer bleiben müſſen, wenn die Herſtell— ung einer einzigen, wenn auch der fleißig— | ſten und tüchtigſten, Arbeitskraft aufgebürdet . pin arellſtem Wiederſpruch ſtehen. Was bließe. Wir werden deshalb jeden neuen and ſch-phyſiologiſchen Atlas der Botanik wil men heißen, wenn er für den Unter- richt wichtige Gegenſtände, welche in den bereits vorhandenen Atlanten noch nicht enthalten ſind, richtig und einem größeren Publikum deutlich erkennbar darſtellt. Den Dodel-Port'ſchen Atlas, von welchem die erſten ſechs Blätter jetzt vorliegen, begrüßen wir um ſo mehr mit Freude und Dank, als dieſe Blätter nicht nur den ge— nannten Anforderungen genügen, ſondern auch durch Gruppirung und künſtleriſche Vollendung den vortheilhafteſten Eindruck machen. Die Abbildungen des Blattes unſerer inſektenfreſſenden Drosera rotundi- folia und der von Xylocopa violacea be⸗ ſuchten Blume von Salvia Sclarea ſind . . wahre Meiſterwerke, welche die Befähigung der Herausgeber für derartige Darjtellun- gen in das glänzendſte Licht ſtellen. Auch die Copien fremder Abbildungen, wie z. B. der geſchlechtlichen Fortpflanzung von Volvox, nach Cohn, ſind in Correktheit und co— loriſtiſcher Ausführung vortrefflich. Der mit Literaturnachweiſen verſehene erläuternde Text läßt nichts zu wünſchen übrig. Lippſtadt. Hermann Müller. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. N 4 I EN Wo N W N . . 2 * 1 5 „ * N * nn 3 9088 00876 3823