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October 1878 bis März 1879. „ ee Ernſt Günther's Verlag (Karl Alberts). 1 wir, > 7 NEN 4 7 EN 5 en 1 S 8 * 3 DEE “ 5 ‘ 7 nn I * * E “ wg 7 1 7 [ 4 7 1 165 ’ ITEM rn; 15 2 2 \ „ — v . 22 0 r N. N e 4 X ' - 1 E. et ‘ ö - 0 1 * 1 1 5 * . 1 * 19 5 Verzeichniß der Mitarbeiter am vierten Bande des Kosmos. — Dr. H. Brunnhofer (47—82), Otto Buſch (425 — 429), H. W. Fabian (321—324), Arth. Fitger (335 —338), Dr. W. O. Focke (55 —56), Dr. K. Foth (1 — 19), Prof. Dr. S. Günther (270 — 284, 329 334), Carl Haberland (458 —474), Prof. Dr. E. Haeckel (20—32, 99 — 114, 360376), Prof. Dr. N. Hörnes (430—437), Prof. Dr. G. Jäger (171—191, 377385), Dr. Ernſt Krauſe (386 — 424), Prof. Dr. M. Kuliſcher (131—141 293-304), Dr. Otto Kuntze (33—46, 249—250), Dr. Ad. Lederer (438457), Dr. C. Mehlis (153160, 487-494), Dr. Fritz Müller (285— 292, 388 396, 495 502), Dr. Herm. Müller (386-387, 481 — 482), Dr. C. du Prel (251 — 269), Prof. Dr. W. Preyer (339 —350), W. v. Reichenau (56— 57), Prof. Dr. Fr. Schultze (83 98), Dr. G. Seidlitz (232—248, 324 — 329), Alfr. R. Wallace (115-130, 192-209). Te 4 Y #4 PETE 301 0155 . 1 Er BUND HN De 1 2 0 ne 0 ng Eu Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. Pon d hh „ RINDE ETLRR. 73% 1 Urſprung und Entwicklung der Sinnes werkzeuge Mit Illuſtrationen. Von : Eruſt Haeckel Nen 2009 Das ſalzfreie Urmeer und ſeine e für en Heri e Von Deild Kunze 38 Ueber den gemeinſamen Urſprung des Sonnendienſtes 1985 be Shake Eine urgeſchichtliche Studie von H. Brunnhofer .. 47 Ueber Baco von Verulam, den Begründer des Realismus, und ſeine Bedeut— ung für die Gegenwart. Von Fr. Schultze 88 Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Von Alfr. R. Wallace . 115. 192 Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. Von M. Ku⸗ Rſcher I. I! „ enn, Die Entdeckung der Seele. Von G. Jäger . . 171 Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. Von Carl 105 Prel 251 Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. Mit einer Tabelle. Von S. Günther 270 Epicalia Acontius. Ein ungleiches Ehepaar. Mit Jluſtr Von Fritz Müller 285 Inhalt des vierten Bandes. Fauſt's Schatten an Ch. Darwin. Gedicht von A. Fitger 1385 Ch. Darwin. Eine biographiſche Skizze. Von W. Preyer. .. 339 Das verſöhnende Element im Darwinismus. Ein Wort zum Frieden. Von der Redaktion IE een Einſtämmiger und vielſtämmiger Ursprung Von € Hürde De e 3B60 Zur Pangeneſis. Von G. Jäger. 377 Phryganiden-Studien. Mit Illuſtrationen. Von Fritz 1100 Hesi Müller 386 | VI Inhalt. Erasmus Darwin. Der Großvater und Vorgänger Ch. Darwin's. Von E. Rrauje. 2 Philoſophiſche Myſtik und Darwinismus. Von Otto Buld . Das ſalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen 95 den Darwinismus. Von R. Hörnes Zur Mechanik der Fortec ng Von Adolf Sede Die Behandlung des Alters. Ethnologiſche Studie von Carl Haberl Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die unterirdiſche Verbindung zwiſchen Donau und Rhein Dar Zur Geſchichte der Kenntniß der pflanzlichen Be Bon W. O. Focke. Welche Bedeutung haben die Senne hatt en Kiefer b Hörner 255 Blatthorn⸗ Käfer? Von W. v. Reichenau . 3 2 Die gepanzerte Vogel-Echſe in Stuttgart (Adtosaurus 121 Fran Vom IX. Anthropologen-Tage (Die Schädelfrage und die ägyptiſch-ſyriſche Steinzeit) £ Die Erblichfeit der Farbenblindheit ; Die neueren Arbeiten über die phyſikaliſche und 1 Natur 15 Ehe Leuchtendes Fleich . Die Rückbildung der Sehorgane bei im Finstern lebende Juſetten, St und Krebſen Br IX. Verſammlung der deutſchen unthropologiſchen Geſelſchaſt z zu Kiel Von C. Mehlis Zuſammengeſetzte Portraits Die den Darwinismus berührenden Vorträge der LI. Wen Bei ſcher Naturforſcher und Aerzte Das Elasmotherium. Mit Illnſtrationen Schliemann's prähiſtoriſche Funde auf Ithaka Die Wärme der Sonnen. Ueber den Urſprung und die Vertheilung 1 5 Wälder auf 955 nörblichen Halbtugel Sir John Lubbock's Beobachtungen an Ameiſen Die Entwicklung des Knochenhechts und der Schollen Ueber einige Modificationen des individuellen Selbſtbewußtſeins Eine neue Methode zur Schädelmeſſung . Sind die Elemente zuſammengeſetzte Körper? Eine neue Delta-Theorie Inhalt. VII | Die Apogamie bei den Pflanzen und ihre Beziehung zur Entwicklungslehre 479 Hesperiden-Blumen Braſilien's. Von Dr. Herm. Müller 481 Die Reptile der Primärzeit .. 482 Die Unterſuchungen von Prof. Mantegazza über 125 11 5 e des Menſchen .. 484 Die neueſten Ausgrabungen auf Hiſſarlit 95 ihre en Mit Illustr. Von Pr n Das Wellenornament bei flaviſchen und chen Stämmen. Mit Illustr. e e e . iht ner irse rr 494 Literatur und Kritik. Weismann, Prof. Dr. A., Studien zur Descendenz theorie. . . 67 Kühne, H., Die Bedeutung des Anpaſſungsgeſetzes für die Therapie. 74 Zöckler, F. O., Geſchichte der N u Theologie und Natur- area dee. oo. a a RR SEEN RE Haeckel, E., Das Protiſtenreich %% HRG Luce AN van) e Rütimeyer, L., Der Rigi. Jäger, Prof. Dr. G., Die menschliche Arbeitskraft Seuchenfeſtigkeit und Conſtitutionskraft und ihre Beziehung zum ſpecifiſchen Gewicht des Lebenden .. ee Ploß, Dr. H., Das Kind in Brauch und Sitte der Völker 5 Pa Zur Darwin⸗Literatur II. (Von G. Seidlitz. )))) 232 Spinoza über das Princip der Erhaltung der Kraft. (Von 9. W. Nana 321 Wagner's, Mor., naturwiſſenſchaftliche Streitfragen. (Von G. Seidlitz.) 324 Laßwitz, K., Atomiſtik und Kriticismus. (Von S. Günther.) .. 329 Laßwitz, K., Natur und Menſch. (Von S. Günther.) 334 Kramer, Dr. Paul, Theorie und Erfahrung. Beiträge zur Beurtheilung des Darwinismus. (Von Dr. Fritz Müller.) 4595 er D., Aus den Detent. II Theil! 908 Quatrefages, Prof. A. de, Das Menſchengeſchlech tet. 508 Fortſchritte, die, des Darwinismus 1875 — 1878 „509 Cotta, B. von, Die Geologie der Gegenwart, 5. Aufl. Offene Briefe und Antworten mn —— "u 23 NN Die Cardinalgedanken der ſynthetilchen Philofophie Herbert Apencer’s, Von Dr. R. Fotli. 95 45 hit den First Principles“) x eröffnet Herbert Spencer eine Reihe von Werken, in . denen er ſein Syſtem der ſynthetiſchen Philoſophie niederlegt. Das Fundamental-Werk beſchäftigt ſich damit, die Grundprincipien aufzuſuchen und feſtzuſtellen, auf denen eine philoſophiſche Weltbetrachtung beruhen ſoll und nur beruhen kann und von denen ſie auszugehen hat; die folgenden Werke wenden dann die bei dieſer Unter— ſuchung gefundenen allgemeinen Grundwahr— heiten auf die einzelnen großen Zweige, die als Theile des Univerſums der menſchlichen Erkenntniß unterliegen, an, erklären die— ſelben dadurch und ermöglichen durch Auf— ſtellung allgemein gültiger Principien ein richtiges Verſtändniß. So ergeben ſich, da der Verfaſſer ſich nur mit den großen Ab— ) Die Grundlagen der Philoſo— phie von Herbert Spencer erſchienen, wie die übrigen Werke dieſes Verfaſſers in vortrefflicher Ueberſetzung von Dr. B. Vetter im Verlage von E. Schweizerbart's Verlags- buchhandlung (E. Koch) in Stuttgart. theilungen der organiſchen Natur beſchäftigt, diejenigen der unorganiſchen Natur aber über- gangen hat, als Inhalt derſelben die Prin- cipien der Biologie, der Pſychologie, der Sociologie und der Moral. Die First Principles behandeln die allgemeine Philo- ſophie, die übrigen Werke die beſondere, wie der Verfaſſer an einer Stelle ſeines Buches unterſcheidet. Jene betrachten die allgemeinen Wahrheiten, indem ſie die beſonderen nur zum Beweiſe und zur Klarſtellung jener benutzen, dieſe nehmen die allgemeinen Wahr⸗ heiten als gegebene an und interpretiren durch ſie die beſonderen. Nur mit den erſteren wollen wir uns hier beſchäftigen. Bei Aufſuchung nun der Grundprincipien einer allgemeinen Philoſophie, wie fie die Auf— gabe der First Prineiples ift, wi. 'ıt der Ver— faſſer zunächſt eine Trennung desjenigen, was nicht in den Bereich derſelben hin— eingehört, des „Unerkennbaren“, und des⸗ jenigen, was in ihren Bere“ gehört, des „Erkennbaren“, vor jt jo in dem erſten Theil des Buches, welcher von dem „Unerkennbaren“ handelt, eine Be Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. PPP — . —— 1 2 Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. finition der Philoſophie, wie er ſie verſteht, vorzubereiten. Obgleich nun die Rechtfertig— ung dieſer Eintheilung des Stoffes weniger der Gegenſtand eines beſondern Haupttheiles des ganzen Werkes ſein ſollte, ſondern höch— ſtens einer einleitenden Bemerkung hätte zu— fallen können, ſo findet doch das Verfahren des Verfaſſers darin eine Erklärung und gewiſſermaßen auch Entſchuldigung, daß der— ſelbe dieſem erſten Theil eine gewiſſe Ab— rundung und Selbſtſtändigkeit zu geben ver— ſucht hat. Er ſtellt nämlich den Nachweis des Unerkennbaren zugleich als das von zwei bis auf den heutigen Tag ſich immer noch feindſelig gegenüberſtehenden Richtungen des menſchlichen Geiſtes, der religiöſen und der wiſſenſchaftlichen, gemeinſam anerkannte und zugegebene Endreſultat ihrer Forſchungen hin und ſucht auf dieſem neutralen Gebiet ihre Wiedervereinigung. Wenn wir den erſten Theil unter dieſem Geſichtspunkt betrachten, der allerdings dem Verfaſſer der leitende geweſen zu ſein ſcheint, und wenn wir ferner den doppelten Umſtand in Erwägung ziehen, daß einerſeits hier manche erſt im zweiten Theile zu eigentlicher Anwendung kommenden Begriffe und Gedanken erklärt und näher erörtert werden, und daß andererſeits die auf den erwähnten Streit zwiſchen Religion und Wiſſenſchaft Bezug nehmenden Erörterungen bei der heutigen Lage der Dinge für ſehr beherzigenswerthe Worte gehalten werden müſſen, ſo dürfen wir bei Betrachtung der Grundgedanken des ganzen Werkes uns doch nicht verſagen, außer auf den allgemeinen Zuſammenhang des erſten Theils mit dem Ganzen auch auf die mehr außerhalb des Geſammtrahmens ſich bewegenden Gedanken deſſelben einige Rückſicht zu nehmen. Allen Meinungen, ſo beginnt der Ver— faſſer ſein Thema, die über denſelben Gegen— ſtand geäußert werden, mögen ſie auch noch | jo verſchieden von einander fein und ſich noch fo ſehr widerſprechen, liegt immer etwas Wahres zu Grunde, wenn es auch noch ſo wenig iſt, wenn es auch nicht mehr iſt als die bloße Thatſache der Exiſtenz deſſen, was zu dieſen Meinungen Anlaß gegeben hat: ſo muß auch den beiden größten Meinungs— verſchiedenheiten, die die Welt bewegen, und die ihren Ausdruck finden in der religiöſen und in der wiſſenſchaftlichen Auffaſſung des Univerſums, eine Wahrheit zu Grunde liegen. Auf dieſem Gebiete des gemeinſamen Wahren müſſen ſich beide vereinigen. Das in der religiöſen Auffaſſung des Weltalls befind— liche Wahre ergiebt ſich aus einer Abſon— derung deſſen, was allen den verſchiedenen Religionsſyſtemen gemeinſchaftlich iſt; das in der wiſſenſchaftlichen Auffaſſung befind— liche Wahre ergiebt ſich uns aus einer Ab- ſonderung deſſen, was allen wiſſenſchaftlichen Syſtemen gemeinſam iſt. Was nun den erſten Fall anbetrifft, fo zeigt ſich bei näherer Betrachtung, daß zwar ſämmtliche bis jetzt aufgeſtellten Hypotheſen über den Urſprung und die Beſchaffenheit des Weltalls unhalt— bar ſind, weil ſie ſich im Denken nicht ver wirklichen laſſen, ſowohl die atheiſtiſche, wie die pantheiſtiſche, wie die deiſtiſche (denn die Worte „Selbſtexiſtenz“, „Selbſtſchöpf— ung“, „Schöpfung durch äußere Macht“ ſind widerſinnige Wortzuſammenſetzungen); aber durch dieſe Unhaltbarkeit eben beweiſen ſie, daß etwas da iſt, was nicht erkannt werden kann, und ſtimmen in der Annahme von etwas Unendlichem, Abſolutem, einer erſten Urſache oder wie man es immer nennen | will, ſämmtlich überein. Aber auch in nichts weiter. Ueber die Beſchaffenheit dieſer erſten Urſache widerſprechen ſie ſich und müſſen ſich widerſprechen und können nie etwas an— deres mit Sicherheit darüber aufſtellen als daß ſie etwas Unerkennbares iſt. Denn Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Speneer's. 3 nur dieſen Sinn darf man mit jenen Worten „unendlich“ „abſolut“, „erſte Urſache“ verbin- den; ſie ſollen uns nur andere, aus unſern Er— fahrungen des Endlichen hergenommene Aus— drücke für das Unerkennbare ſein, können aber nie in ihrem eigentlichen Sinne ver— ſtanden werden, was am beſten daraus hervorgeht, daß ſie ſich alle gegenſeitig widerſprechen, was doch nicht der Fall ſein dürfte, wenn ſie gleichmäßig Erklärungen des Unerkennbaren wären; denn weder kann man ſagen, die erſte Urſache iſt abſolut oder unendlich, denn etwas Abſolutes oder Unendliches kann nicht Urſache ſein, da etwas Urſache nur ſein kann in Bezug auf ſeine Wirkung, alſo etwas Relatives, End— liches; noch kann man ſagen, ſie iſt relativ oder endlich, denn dann müßte es außer ihr noch etwas geben, das nicht relativ wäre ſondern abſolut, mithin wäre ſie nicht mehr die erſte Urſache. Sämmtliche Syſteme er- kennen alſo einerſeits die Exiſtenz einer erſten Urſache an, geſtehen aber ihre Unfähigkeit ein, über die Beſchaffenheit derſelben irgend etwas zu wiſſen, d. h. ſie geben die Exiſtenz von etwas Unerkennbarem zu. Was den zweiten Fall anbetrifft, ſo ſind die wiſſenſchaftlichen Grundbegriffe, Stoff, Bewegung und Kraft ebenſo wenig „denkbar“: ebenſo nicht die beiden über Raum und Zeit aufgeſtellten Hypotheſen, nämlich 1) daß ſie objektiv, 2) daß fie ſubjektiv exiſtiren. Denn exiſtirten ſie objektiv, ſo müßten ſie Weſenheiten, Dinge fein, d. h. fie müßten Attribute haben, be- ſchränkt oder unbeſchränkt ſein. Nun aber können wir ihnen weder Attribute beilegen, noch iſt es in abſolutem Sinne überhaupt möglich, die Ausdrücke „begrenzter oder unbegrenzter Raum“, „begrenzte oder un— begrenzte Zeit“ zu denken. Exiſtirten Raum und Zeit ſubjektiv, wären ſie, wie Kant will, die aprioriſchen Geſetze oder Beding— 3 a ungen des denkenden Geiſtes, ſo wären ſie nichts Objektives, was Kant aber gerade be— hauptet, wenn er ſagt, unſer Bewußtſein von Raum und Zeit könne nicht unterdrückt werden. Denn ein ſtets und allgemein ge— fühltes Bewußtſein von etwas kommt gleich der objektiven Exiſtenz dieſes Etwas. Die Kant'ſche Hypotheſe trägt in ſich die abſolut undenkbare und unmögliche Annahme, daß Raum und Zeit zugleich Bedingung und Gegenſtand unſeres Denkens ſind. Wie für Raum und Zeit, ſo ergiebt ſich auch für Materie, Bewegung und Kraft die Unmög⸗ lichkeit, im Denken begriffen zu werden, daraus, daß wir auch die einfachſte der Erſcheinungen, in ſich ſelbſt d. h. abſolut betrachtet, nicht verſtehen können, ſondern nur mit Rückſicht auf andere, alſo relativ; nur mit Bezug auf etwas anderes können wir ſagen, die Materie iſt theilbar oder untheilbar, flüſſig oder feſt, die Bewegung iſt ſo oder ſo ſchnell, die Kraft ſo oder ſo ſtark, aber nie wiſſen wir, was denn Materie, Bewegung und Kraft im abſoluten Sinne verſtanden, eigent- lich ſind; die Begriffe theilbar und untheil— bar laſſen ſich nicht ausdenken, das letzte Theilbare läßt ſich, wenn auch nicht phyſiſch, ſo doch in Gedanken immer weiter theilen bis in infinitum. So erkennt alſo auch die Wiſſenſchaft in ihren letzten Grundbegriffen die Exiſtenz von etwas Abſolutem, Unend— lichem, einer erſten Urſache und zugleich ihre Unfähigkeit, dieſelbe zu begreifen, an. Dieſes empiriſch durch Betrachtung der Forſchungen zweier Wiſſenſchaften gewonnene Reſultat wird beſtätigt durch eine Analyſe unſeres Denkens und zwar ſowohl der Denkprodukte als des Denkproceſſes. Der Denkprodukte: denn unſere ſpeciellen Wahrnehmungen gehen immer in allgemeinere, höhere auf, dadurch erſt erkennen wir ſie; kommen wir nun zu einer allgemeinſten höchſten Wahrnehmung, 2 4 Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. ſo können wie ſie nicht mehr begreifen und erkennen, da ſie in keiner höheren mehr ent— halten iſt. Des Denkproceſſes: denn da das Denken, aus drei Geſichtspunkten betrach— tet, als 1) ein Setzen von Beziehungen, 2) ein Setzen von Verſchiedenheiten, 3) ein Setzen von Gleichheiten anzuſehen iſt, und alle unſere Denkprodukte ſich alſo unter eine von dieſen drei Klaſſen bringen laſſen müſſen, ſo folgt daraus, daß wenn dies nicht der Fall iſt mit irgend einem Begriff, derſelbe eben nicht ſcharf gedacht werden kann. Nun laſſen ſich aber die Begriffe „erſte Urſache,“ „Abſolutes“, „Unendliches“ überhaupt nicht in eine Klaſſe bringen, da es dann mehrere Dinge derſelben Art geben müßte, jedes alſo aufhörte das zu ſein, was es iſt: die erſte Urſache würde dann zu einer Urſache unter mehreren, hörte alſo auf, erſte Urſache zu ſein, das Abſolute würde ein Abſolutes unter mehreren, alſo relativ, das Unendliche ein Unendliches unter mehreren, alſo endlich. Somit zwingt uns auch eine Zergliederung unſerer Denkprodukte wie unſeres Denkpro— ceſſes zu der Annahme der Relativität unſerer Erkenntniß. Wir haben aber gar nicht nöthig, uns hierüber als über einen Mangel derſelben zu beklagen; denn die Erkenntniß des Endlichen, des Relativen, iſt das einzige, was uns von Nutzen ſein kann, da unſere Erkenntniß ſich nur in et— was Relativem bewegt. So führt uns alſo Religion, Wiſſenſchaft und die Analyſe unſeres Denkens auf das gleiche Reſultat: es giebt etwas Wirkliches hinter den Erſcheinungen, dies Wirkliche iſt unerkennbar; oder mit anderen Worten: bei allem Wechſel der Er— ſcheinungen bleibt die unerkennbare Exiſtenz. Und dieſe Grundwahrheit iſt auch das Ge— biet, auf dem Religion und Wiſſenſchaft ihre Verſöhnung ſuchen müſſen. Die Feind— ſchaft zwiſchen beiden wird aufhören und einer Vereinigung Platz machen, ſobald jede ſich auf das ihr zuſtehende Gebiet beſchränkt: die Religion auf das Unerkennbare, die Wiſſenſchaft auf das Erkennbare. Behauptet aber die Religion von dem Unerkennbaren, es ſei ſo oder ſo beſchaffen, ſtellt ſie es z. B. als perſönliches Weſen dar, ſo wird fie irreligiöbs, und macht andererſeits die Wiſſenſchaft das Erkennbare zu etwas Un— erkennbarem, ſetzt ſie z. B. an Stelle jenes perſönlichen Weſens metaphyſiſche Weſenhei— ten, ſo wird ſie unwiſſenſchaftlich. Beides iſt leider häufig genug der Fall geweſen und noch der Fall, daher denn ein Streit un— vermeidlich wird, doch iſt ſchon jetzt eine langſam, aber ſicher zunehmende Abgrenzung beider Gebiete nicht zu verkennen. Wenn es nun auch unſere Aufgabe ſein muß, die Auffaſſung der Religion lediglich als eines dunklen Gefühls von dem unbekannten Et— was, das hinter den Erſcheinungen wirklich iſt, weiter zu verbreiten, hierauf zu be— ſchränken und von allem religiöſen Dogmen— kram, der dies unbekannte Etwas erklären ſoll, zu befreien, ſo muß man ſich doch ſtets erinnern, daß der alte Glaube der poſitiven Religionen tief und feſt gewurzelt iſt, und darf daher kein plötzliches Aufgeben deſſelben von allen Seiten fordern, ſondern muß mit weiſer Mäßigung, unter Anerkennung auch des Guten, geduldig Zeit und Ort abwarten, um der neuen Lehre Aufnahme zu verſchaffen. Denn nicht zu allen Zeiten und an allen Orten iſt die Menſchheit gleich bereit und gleich vorbereitet, Altes aufzugeben und Neues anzunehmen. Da ſonach alſo die Philoſophie als Er— kenntniß des Seins im Unterſchiede von den. Erſcheinungen unmöglich iſt, eben wegen der Unerkennbarkeit dieſes Seins, ſo hat ſie ſich zu beſchränken auf eine Er— kenntniß der Erſcheinungen. Wie ——— hat, welches ihr eigenthümlicher Charakter itt, ergibt ſich aus einer Vergleichung der philoſophiſchen Syſteme alter und neuer Zeit. Immer iſt es das Streben jeder Phi— loſophie geweſen, eine größere Summe von Einzelwahrheiten unter höhere, allgemeinere zu vereinigen und dieſe wieder unter allge— meinere, bis ſie ſchließlich auf eine allge— meinſte und höchſte Wahrheit kommt. Solches iſt der Charakter der Philoſophieen des Alter— thums, des Mittelalters und der Neuzeit: alle wollen eine Wiſſenſchaft vom höchſten Grade der Allgemeinheit d. h. die Philo— ſophie ſoll ſein die Summe der Wiſſenſchaf— ten. Sit hiermit nun die Aufgabe der Phi- loſophie vorgezeichnet, womit hat ſie dann zu beginnen? was hat ſie als gegeben zu betrachten? Vor allen Dingen haben wir uns vor dem Fehler mancher Philoſophen zu hüten, irgend einen Grundbegriff als gegeben, als feſtſtehend anzunehmen und hiervon ausgehend die Wahrheit oder Un— wahrheit von Sätzen zu beweiſen, die häufig z. Th. ſchon in der Annahme jenes erſten mitenthalten waren. Vielmehr haben wir etwas als gegeben anzunehmen in der Weiſe, daß wir es nur vorläufig als wahr an— nehmen, den Beweis ſeiner Wahrheit aber erſt aus der Uebereinſtimmung und Con— gruität deſſelben mit allen übrigen Erſchein— ungen ableiten. Denn da unſerer Erkennt— niß alles nicht Relative verſchloſſen iſt, ſo kann die Wahrheit in ihrem höchſten Sinne für uns nichts anderes ſein als eine inner— halb des ganzen Bereiches unſerer Erfahr— ungen beſtehende vollkommene Uebereinſtimm— ung zwiſchen jenen Vorſtellungen, die wir als ideale, und jenen Darſtellungen derſelben, die wir als reale unterſcheiden. Wenn wir die Unwahrheit eines Satzes daran erkennen, daß eine Verſchiedenheit zwiſchen dem er— ſie ſich innerhalb dieſer Grenzen zu bewegen Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. 9 warteten Dinge und dem wahrgenommenen ſich zeigt, ſo muß eine Reihe von Sätzen, in denen nirgends ein ſolcher Widerſpruch ſich zeigt, eine vollkommen wahre Reihe ſein. Das was wir nun in dieſer Weiſe vorläufig als wahr anzunehmen haben, find | die Fundamentalanſchauungen, die für den Denkproceß weſentlich ſind, d. h. gewiſſe organiſirte und conſolidirte Vorſtellungen, ohne welche das Denken ebenſo wenig ein Lebenszeichen von ſich geben kann als der Körper ohne Gebrauch feiner Glieder. In— dem wir dieſe alſo als vorläufig wahr an— nehmen, können wir ihre Wahrheit erſt be— weiſen dadurch, daß wir zeigen, daß ſie in Einklang und in Uebereinſtimmung ſtehen mit allen übrigen Erſcheinungen unſeres Be— wußtſeins, mögen fie uns nun in der An- ſchauung oder Reflexion oder ſonſtwie ge— geben ſein. Daraus ergiebt ſich zugleich, daß der Nachweis einer ſolchen Ueberein— ſtimmung die Aufgabe der Philoſophie iſt und daß der vollſtändige Nachweis der Ueberein— ſtimmung daſſelbe iſt, wie die vollſtändige Vereinigung der Wiſſenſchaften. Solche all— gemeinſten und nothwendigen Fundamental— anſchauungen unſeres Denkens aber ſind zu— nächſt das Bewußtſein der Gleichheit und Ungleichheit; ohne dieſes wäre eine Philo— ſophie, da ſie ein Claſſificiren, alſo ein Ver— gleichen, Ordnen und ſchließliches Vereinigen iſt, gar nicht möglich. Der Permanenz des Bewußtſeins von Gleichheit und Ungleichheit kommt natürlich gleich die Exiſtenz von Gleichheit und Ungleichheit unter den Er— ſcheinungen; denn Permanenz im Bewußt⸗ ſein iſt eben Realität, Exiſtenz. Eine Philoſophie hat alſo ihre Auf— gabe zu beginnen unter der An- nahme einer abſoluten, unerkenn— baren Macht, erkennbarer Mani- feſtationen derſelben und einer ö 6 Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. unter dieſen Manifeſtationen be— ſtehenden Gleichheit und Ungleich— heit. Vermöge dieſes permanenten Bewußt— ſeins von Gleichheiten und Ungleichheiten unterſcheiden wir nun ferner gewiſſe Gleich— heiten in der Art der Wirkungen, die die Erſcheinungen auf uns hervorbringen, oder anders ausgedrückt: die unter den Erſcheinun— gen beſtehenden Gleichheiten oder Ungleich— heiten laſſen ſich auf eine Anzahl gewiſſer, all— gemeinſter, von jedermann in jedem Augen— blick als wirklich angenommener Formen zurückführen, die wir mit dem Namen Raum, Zeit, Stoff, Bewegung bezeichnen, und die ebenfalls nothwendige, wenn auch ſecundäre Data unſerer Erkennt— niß ſind. Alle dieſe wiſſenſchaftlichen Grund— begriffe aber ſind zurückzuführen auf einen letzten, die Kraft. Denn nur durch Er— fahrungen der Kraft erhalten wir die Vor— ſtellung von der Bewegung, vom Stoff und folglich auch von dem Nacheinander und dem Nebeneinander derſelben: Zeit und Raum; alle dieſe Begriffe ſind innig mit einander daß der Stoff zerſtörbar und die Bewegung verbunden, ſo zu ſagen ſolidariſch. Wenn wir nun vorhin geſehen haben, daß wir über die eigentliche, ſchließliche Beſchaffenheit dieſer Begriffe, über ihre abſolute Natur nichts wiſſen können, vermöge der Relativität unſeres Denkens, daß wir ſie gewiſſermaßen nur als ſymboliſche Ausdrücke des Unbekannten in ſeinen verſchiedenen allgemeinſten Aeußer— ungen betrachten dürfen, ſo ſind ſie darum doch nicht minder real, eben weil ſie permanent in unſerm Bewußtſein ſind. Nur müſſen wir uns ſtets erinnern, daß es nicht abſolute, ſondern relative Realitäten ſind. Die per— ſiſtenten Eindrücke aber als perſiſtente Re— ſultate einer perſiſtenten Urſache ſind für praktiſche Zwecke ganz daſſelbe wie die Ur— ſäache ſelbſt. Sie können uns daher als eine Bi gültige Baſis für unfere Bes | tinuirlich iſt, d. h. beſtändig. Ueber iſt die oberſte und letzte Grundwahrheit, die trachtung dienen. Natürlich ſind die Schlüſſe, zu denen wir auf dieſem Wege gelangen, ebenfalls nur relativ, andere aber können uns nach unſern frühern Erörterungen ja überhaupt gar nichts nützen. Wir mögen daher jene realiſtiſchen Auffaſſungen ruhig annehmen, die die Philoſophie auf den erſten Anblick zu verwerfen geneigt iſt. Von den beiden Modis des Unerkennbaren, dem Stoff und der Bewegung, gelten die beiden Sätze von der Unzerſtörbarkeit jenes und der Continuität dieſer als unumſtößliche Wahrheiten. Wie ſie als ſolche beſonders erſt in der neuern Zeit allge— mein durch die Erfolge der Naturwiſſen— ſchaften anerkannt find, ſo laſſen ſie ſich auch durch rein vernunftgemäße Betrachtung als nothwendig aus unſerm Denken hervor— gehende Geſetze nachweiſen. Iſt Denken gleich Beziehen, ſo wird Denken unmöglich, ſobald das Ding, zu dem ein anderes in Beziehung treten ſoll, fehlt. Es iſt alfo unmöglich zu denken, daß Etwas Nichts wird und daß Nichts Etwas wird d. h. endlich iſt, unmöglich aus demſelben Grunde, aus dem es unmöglich iſt, zu denken, daß Nichts ein Gegenſtand des Bewußtſeins wer— den kann. Aus dieſen beiden Sätzen der Unzerſtörbarkeit des Stoffes und der Con— tinuität der Bewegung folgt, ſobald wir uns an unſere frühere Auffaſſung des Stoffes und der Bewegung als Erfahrungen der Kraft erinnern, mit Nothwendigkeit, daß die Kraft unzerſtörbar und con— die eigentliche Beſchaffenheit und den Ur— ſprung dieſer perſiſtenten Kraft wiſſen wir natürlich nichts und können auch nie etwas wiſſen; die Beſtändigkeit der Kraft ewig unbewieſen bleiben muß: ſie iſt ein 1 „ß... ——...—— Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. 7 nothwendiges Denkgeſetz. Denn wir haben nichts höheres, über dieſem Begriffe Stehendes, durch das wir ihn erklären und begreifen könnten. Als ein letztes Poſtulat, das auf keinem höhern Poſtulat mehr fußt, alſo nicht mehr bewieſen werden kann, haben wir die | Beſtändigkeit der Kraft zu betrachten als etwas, bei dem wir nach Zurückführung der einzelnen Erſcheinungen des Univerſums auf allgemeinere Erſcheinungen zuletzt als | der allgemeinften angekommen find. Die Beſtändigkeit der Kraft kommt alſo gleich jener abſoluten Urſache ſelbſt, deren Aeußer— ungen wir täglich ſehen; dieſe Aeußerungen ſind nicht beſtändig in uns, ſie kommen und vergehen, nur die Urſache derſelben iſt es. Die Behauptung der Beſtändigkeit der Kraft iſt alſo nur ein anderer Ausdruck für die Behauptung der unbedingten, abſoluten Reali—⸗ tät ohne Anfang und Ende. Dieſes noth— wendige Geſetz unſeres Denkens, das zu— gleich die letzte und tiefſte Wahrheit bildet, aus der alle andern ſich ableiten laſſen, muß das Fundament jedes Syſtems poſitiver Wiſſenſchaft ſein. Tiefer als Beweis, tiefer als Anſchauung, tief wie die Natur des Geiſtes ſelbſt iſt das Poſtulat, bei dem wir angelangt ſind. Seine Autorität übertrifft jede andere, denn es iſt in der Conſtitution unſeres Bewußtſeins gegeben. Es iſt die einzige Wahrheit, die die Erfahrung über— ſteigt, indem ſie ſie zu Grunde legt; zu ihr führt uns eine Analyſe ſchließlich hinab, auf ihr läßt ſich eine rationelle Syntheſe aufbauen; ſie muß, da ſie die Baſis der Erfahrungen iſt, die Baſis jeder wiſſenſchaft— lichen Organiſation der Erfahrungen in ihrem weiteſten und allgemeinſten Sinne, d. h. der Philoſophie, ſein. Die erſte Deduktion aus dieſer Grund- wahrheit der Beſtändigkeit der Kraft iſt die Beſtändigkeit der unter den Kräften, d. h. dieſelbe Kraft— aufwendung muß unter denſelben Bedingungen von denſelben Erſcheinungen begleitet ſein. Die Nothwendigkeit dieſer Deduktion ergiebt ſich leicht aus der Erwägung, daß, wäre das Reſultat nicht daſſelbe, man annehmen müßte, daß in dieſem Falle die Kraft ent⸗ weder zu- oder abgenommen hätte, was an— nehmen hieße, daß die Kraft nicht beſtändig wäre. Aber auch die Induktion beftätigt in einer Menge von Beiſpielen aus den ver— ſchiedenen Klaſſen der Erſcheinungen die Wahrheit dieſes Satzes und wenn dieſelbe auch nicht dazu dienen kann, etwas ſchon deduktiv Bewieſenes und als wahr Erkanntes noch wahrer zu machen, ſo iſt ſie doch des— halb nicht nutzlos, ſondern ihr Werth be— ſteht darin, daß ſie viele beſondere Fälle, welche das allgemeine Geſetz nicht berührt, ſpecificirt, daß ſie uns zeigt, wie viel von der einen Art von Kraft das Aequivalent einer andern Art von Kraft iſt, daß ſie beſtimmt, unter welchen Bedingungen jener Uebergang der Kraft eintritt, kurz daß ſie uns das Geſetz von der Umbildung und Gleichwerthigkeit der Kräfte veranſchaulicht. Die Kraft in einem herab— fallenden Steine iſt genau gleich der Kraft, die ihn in die Höhe ſchleuderte; Aufhören der Bewegung erzeugt Wärme. Die Wärme geht wiederum über in ſichtbare Bewegung, wie die Dampfmaſchine zeigt. Die Kräfte ſtehen alſo nicht nur in qualitativem, ſondern auch in quantitativem Verhältniß (nicht nur eine Kraft erzeugt eine andere, ſondern dieſe Kraft erzeugt die gleichwerthige andere). Daß ſo z. B. die Erſcheinungen im Thier⸗ und Pflanzenleben auf die Kräfte zurückzu⸗ führen ſind, die vordem als Sonnenſtrahlen exiſtirten, daß dort, wo mehr Hitze und Licht, auch mehr Leben iſt, bedarf nicht der An— Daß ferner Beziehungen führung weiterer Beiſpiele. xxx . w ebenſo die geiſtigen Kräfte als unter das— ſelbe Geſetz von der Umbildung und Gleich— werthigkeit der Kräfte fallend zu denken ſind, daß die geiſtigen Kräfte das Aequivalent phyſiſcher Kräfte ſind, aus ihnen hervor— gehen und ſie wiederum erzeugen, iſt durch die Wiſſenſchaft längſt dargethan. Wie nun die phyſiſchen Kräfte in geiſtige über— gehen, wie eine Kraft, die als Bewegung, Hitze oder Licht exiſtirt, Gegenſtand des Be— wußtſeins werden kann, iſt ein unerklärbares Geheimniß, aber nicht unerklärbarer, als der Uebergang phyſiſcher Kräfte in einander, ja als die Natur von Geiſt und Stoff ſelber. Indem der Verfaſſer jetzt übergeht zu einem zweiten, ebenfalls aus der Perſiſtenz der Kraft abzuleitenden Geſetz, betreffend die Richtung der Bewegung, ſchickt er vorauf, daß, obwohl wir die Frage, ob die abſolute Urſache der Veränderungen als Einheit oder Zweiheit aufzufaſſen iſt, d. h. ob die Erſcheinungen zurückzuführen ſind auf die Wirkſamkeit einer Kraft oder den Conflict zweier Kräfte, nicht entſcheiden können, wir doch die letztere Auffaſſung bei unſerer Betrachtung zu Grunde legen müſſen, da ſie die Form biete, unter der wir die Erſcheinungen vorſtellen. Nothwendig müſſen wir uns den Stoff denken als etwas, das Kräfte der Anziehung und Abſtoßung äußert; worauf dieſe unſere Vorſtellung von wider— ſtrebenden Kräften beruht, ob fie, wie wahr- | ſcheinlich, zurückzuführen iſt auf den Anta— gonismus zwiſchen unſern Beuge- und Dehn— muskeln, thut hier nichts zur Sache. Bei dieſer Auffaſſung nun ergeben ſich für die Richtung der Bewegung folgende Geſetze: 1) Die Bewegung findet ſtatt in der Linie Kräfte geſagt, chen). allein in Betracht kommen oder beſſer allein berückſichtigt zu werden brau- 2) Die Bewegung findet ſtatt in der — 3. Set sr Senne be elde Fire | Cardinalgedanken der ſyntheti ophie Herbert Spencer's. Linie des geringſten Widerſtandes (wo ab— ſtoßende Kräfte allein berückſichtigt werden). 3) Die Bewegung findet ſtatt in der Reſul— tante der größten Anziehungskraft und des geringſten Widerſtandes (wo beide Kräfte zugleich in Betracht kommen). Es wird überflüſſig ſein, hier, wie in den ſpätern Fällen, den weiteren ſehr intereſſanten Ausführungen des Verfaſſers zu folgen, die den Zweck haben, die Wirkſamkeit des gerade in Rede ſtehenden Geſetzes in dem geſammten Univerſum nachzuweiſen durch Mittheilung von Beiſpielen aus den einzelnen Gebieten deſſelben, wie ſie den verſchiedenen Wiſſen— ſchaften, der Aſtronomie, Geologie, Biologie, Pſychologie und Sociologie zu Grunde liegen. Die Induktion alſo bei Seite laſſend, in- tereſſirt uns hier weſentlich die Deduktion dieſes Geſetzes aus der Beſtändigkeit der Kraft. Eine Anzahl Kräfte laſſen ſich, in— dem man immer zu zweien die Reſultante ſucht, ſchließlich auf zwei zurückführen; ſind dieſe gleich und entgegengeſetzt, ſo findet keine Bewegung ſtatt; ſind ſie ungleich und ent— gegengeſetzt, ſo findet die Bewegung ſtatt in der Richtung der größeren jener beiden, und ſind ſie weder gleich noch entgegengeſetzt, ſo findet die Bewegung ſtatt in der Reſul— tante beider. Behaupten, daß dies nicht der Fall wäre, hieße ſagen, daß eine Kraft ohne Wirkung bliebe, d. h. daß Kraft ver— ſchwände, was nach unſerer Vorausſetzung der Beſtändigkeit der Kraft nicht möglich iſt. Eine andere jener allgemeinen Wahr— heiten, die nicht blos für eine Klaſſe von Bewegung iſterhythmiſch. der größten Anziehungskraft (wo anziehende Erſcheinungen gelten, ſondern für die Ge— ſammtheit derſelben, iſt die folgende: Die Ueberall iſt die Bewegung vibrirend, undulirend, periodiſch ſtärker oder ſchwächer werdend. Dies zeigt uns die im Winde flatternde Fahne, die geſtrichene Violinſaite, Ebbe und Fluth, das Pochen des Herzens. Ueberall, wo ungleiche Kräfte in Widerſtreit ſind, reſultirt die rhythmiſche Bewegung. Sind gleiche Kräfte in Widerſtreit, ſo entſteht natürlich Ruhe, ſobald aber in irgend einer Richtung ein Ueberſchuß von Kraft vor— handen iſt, muß die Bewegung dieſe Richt⸗ ung einſchlagen; dieſelbe kann aber nicht immer in dieſer Richtung fortgehen, denn jedes fernere Durcheilen des Raumes muß das Verhältniß zwiſchen den wirkenden Kräf- ten ändern, muß bald dieſe, bald jene Kraft zur herrſchenden machen, kurz, muß die Gleichförmigkeit der Bewegungen hindern, es entſteht alſo ein Rhythmus. Der Um- ſtand nun, daß dieſes Geſetz ſich überall im Univerſum wirkſam erweiſt, daß wir es erkennen im periodiſchen Leuchten und Nichtleuchten gewiſſer Himmelskörper, im Temperaturwechſel, in den in gewiſſen Zwi— ſchenräumen wiederkehrenden Ausbrüchen der Erde und ſonſtigen geologiſchen Veränder— ungen, in der Lebensweiſe des Menſchen, im Tanz, Muſik, Poeſie, in dem Wechſel der Gemüthtsbewegungen, in den ſocialen Veränderungen, dem Fallen und Steigen der Preiſe, den abwechſelnd guten und ſchlech— ten Ernten u. ſ. w., dieſer Umſtand giebt Grund zu glauben, daß auch dieſes Geſetz zurückzuführen iſt auf die Perſiſtenz der Kraft. Nehmen wir als gegeben überall die Coexiſtenz ſich widerſtreitender Kräfte — ein Poſtulat, das, wie wir ſahen, die Form unſerer Erfahrung nothwendig macht — ſo kann die Bewegung nicht immerfort in einer geraden Linie ſtattfinden, da dann das Plus der einen Kraft, wenn es keine Ableitung der Bewegung hervorbrächte, keine Wirkung hätte, d. h. nicht in eine andere Kraft überginge, ſondern verſchwände, wo— mit aber die Kraft aufhörte, perſiſtent zu ſein. Alle dieſe bis jetzt betrachteten Sätze er— E ——— Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. 9 weiſen ſich uns dadurch, daß ſie nicht von einer Klaſſe von Erſcheinungen gelten, ſon— dern von allen Klaſſen, als ſolche allge— meine Wahrheiten, die den Charakter haben, welcher ſie zu Beſtandtheilen macht jener vollſtändigen, zuſammenhängenden Auffaſſ— ung der Dinge, die die Philoſophie ſucht. Allein giebt uns eine von dieſen Wahr- heiten allein oder alle zuſammengenommen, ſchon eine Idee von dem Kosmos, von der Totalität der Manifeſtationen des Un- erkennbaren? Keineswegs. Die Zerlegung der Erſcheinungen in ihre Elemente iſt nur eine Vorbereitung zum Verſtändniß der Er— ſcheinungen im Zuſtande ihrer Zuſammen⸗ ſetzung; die Geſetze der einzelnen Faktoren kennen, heißt noch nicht die Geſetze ihres Zuſammenwirkens darthun. Wenn aber jeder einzelne Faktor nach einem beſtimmten Geſetze wirkt, ſo muß es auch ein Geſetz ihres Zuſammenwirkens geben. Wir müſſen zu erkennen ſuchen, wie aus der vereinigten, Thätigkeit aller ihrer Faktoren die Erſchein— ungen in ihrer Complicirtheit reſultiren, wir müſſen das gemeinſame Geſetz in jenen Faktoren, das gemeinſame Element in der Geſchichte der concreten Proceſſe ſuchen. Der allgemeine Charakter eines ſolchen Geſetzes muß einer ſein, der den Lauf der Verän— derungen, den Stoff und Bewegung erleiden, angiebt. Jede Veränderung ſetzt eine neue Anordnung zuſammenſetzender Theile voraus und eine Definition derſelben muß, wenn ſie ſagt, was aus dem Stoff geworden iſt, auch ſagen, was aus der Bewegung ge— worden iſt, ſie muß ferner die Bedingungen angeben, unter welchen ſie anfängt und aufhört, das geſuchte Geſetz muß daher ein Geſetz der fortwährenden Wiedervertheilung von Stoff und Bewegung ſein, da abſolute Ruhe nirgends exiſtirt. Daß eine Philo- ſophie nur möglich iſt durch Aufſuchen eines 10 Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. ſolchen Geſetzes, ergiebt ſich auch aus der Erwägung, daß eine Philoſophie ſo lange hinter ihrer Aufgabe zurückbleibt, ſo lange ſie nicht die ganze Geſchichte eines jeden Dinges, ſeine Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft d. h. ſeinen Uebergang aus einem nicht wahrnehmbaren in einen wahr— nehmbaren Zuſtand und umgekehrt auffaßt. Das geſuchte Geſetz muß alſo auch eines ſein, das die aufeinanderfolgenden Verän— derungen, welche die Erſcheinungen, getrennt und vereinigt, erleiden, angiebt, eines, das die entgegengeſetzten Proceſſe der Con— centration und der Auflöſung um⸗ faßt. Die Concentration eines Dinges, d. h. feine Veränderung aus einem unzu= ſammenhängenden, unwahrnehmbaren Zu— ſtand in einen zuſammenhängenden, wahr— nehmbaren, iſt eine Integration des Stoffes und gleichzeitige Zerſtreuung der Bewegung, und die Auflöſung iſt eine Abſorption der Bewegung und gleichzeitige Disintegration des Stoffes. Denn Theile können ſich nicht vereinigen, ohne daß ſie etwas von ihrer Bewegung verlieren und können ſich nicht trennen, ohne daß ſie Bewegung ab— ſorbiren. Es handelt ſich hier natürlich nicht um Bewegung eines Aggregats mit Rückſicht auf andere Aggregate, ſondern um die Bewegung, die ſeine Theile in Rückſicht auf einander haben, um die innere Beweg— ung, und dabei involvixt zunehmende innere Bewegung eine fortſchreitende Auflöſung, und zunehmende Conſolidation abnehmende innere Bewegung. Dieſen Proceß nennen wir Ent wickelung (evolution), jenen Auflöſung (dissolution), beide machen die Geſchichte jedes einzelnen Dinges aus, denn jede Ver— änderung, die es erleidet, iſt eine Veränder— ung in einer oder der anderen dieſer beiden Richtungen; jedes Ding iſt entweder inte— SS grirend oder disintegrirend, werdend oder vergehend. Das iſt aber nicht fo zu ver- ſtehen, daß, wenn ein Aggregat in dem einen Proceß begriffen iſt, es von dem anderen gar nicht berührt würde. Vielmehr muß es, da es zu jeder Zeit ſowohl Be⸗ wegung verliert als aufnimmt, in dem Maß, als es das erſte thut, integriren und in dem Maß, als es das letzte thut, di8- integriren. Welches nun aber auch das Ver— hältniß dieſer beiden Proceſſe zu einander fein mag, immer findet im Ganzen ein Fort⸗ ſchritt, ſei es zur Integration, ſei es zur Disintegration ſtatt. Alle jene Fälle nun (und ihrer iſt die große Mehrzahl), wo, während der Proceß der Evolution vor ſich geht, der entgegengeſetzte Proceß ſich äußert, und zwar in dem Maße äußert, daß er zeitweilig den andern überwiegt und da— durch weſentliche und bedeutende Veränder⸗ ungen in der Entwickelung des Aggregats entſtehen, müſſen wir als eine beſondere Art der Evolution betrachten, und während wir die Evolution im Allgemeinen, die wir als Integration von Stoff und Abſorption von Bewegung definirten, mit dem Namen der einfachen Evolution bezeichnen, nennen wir dieſe, da dieſelbe nicht blos Integration des Stoffes und Verluſt der Bewegung iſt, ſondern noch weit mehr, die zuſam— mengeſetzte Evolution. Dieſe letztere muß überall da eintreten, wo die Integra— tion langſam vor ſich geht, entweder weil die Menge der in dem Aggregat enthalte— nen Bewegung relativ groß iſt, oder weil die Größe des Aggregats die Zerſtreuung der Bewegung verlangſamt, oder weil zu Zeiten mehr Bewegung aufgenommen als abgegeben wird; in dieſen Fällen werden andere, auf das Aggregat wirkende Kräfte bemerkenswerthe Veränderungen in demſelben hervorrufen, ſogenannte ſecundäre Wie— dervertheilungen von Stoff und Bewegung. Je zerſtreuter alſo und je unzuſammenhängender der Zuſtand iſt, in dem ein Aggregat ſich befindet d. h. je mehr innere Bewegung es enthält, deſto größer wird die Quantität der ſecundären Veränderungen ſein, die die primäre be— gleiten und umgekehrt. Dies auf deduktivem Wege gefundene Geſetz muß jetzt durch die Induktion ver⸗ vollſtändigt werden. Bis jetzt wiſſen wir nur, daß alle ſinnlichen Exiſtenzen ihre con— crete Geſtalt vermittelſt eines Proceſſes der Concentration erreichen müſſen, jetzt haben wir nachzuweiſen, daß ſie es thun und in welcher Weiſe ſie es thun. Wir haben alſo, wenn wir die Evolution unter dem | Geſichtspunkte einer einfachen Evolution be- trachten, zu zeigen, daß alle Erſcheinungen eine fortſchreitende Integration von Stoff und gleichzeitige Abſorption von Bewegung durchmachen und haben ferner, wenn wir die Evolution unter ihrem zweiten Geſichts— punkte als einer zuſammengeſetzten betrach- ten, nachzuweiſen, daß jener Proceß in den meiſten Fällen begleitet iſt von anderen Ver— änderungen, welche, hervorgerufen durch ein zeitweiſes Eingreifen des entgegengeſetzten Proceſſes, die ſecundären Wiedervertheilungen bilden, und haben bei dieſem Nachweis zu- gleich feſtzuſtellen, welcher Art jene Verän— derungen ſind, welche verſchiedenen Züge ſie darbieten. N Unter ihrem erſten Geſichts— punkt betrachtet, zeigt ſich uns die Evolution als Integration des Stoffes und Zerſtreuung der Bewegung in dem Ueber— gang des Sonnenſyſtems aus einem nicht zuſammenhängenden Zuſtand in einen con- ſolidirten, zuſammenhängenden, wie wir ihn nach der jetzt faſt allgemein verbreiteten Ne- bularhypotheſe anzunehmen haben und wie Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. | Indirekt 11 er auch bewieſen wird einerſeits durch die thatſächlich beobachtete Verlangſamung der Himmelskörper, die eine Folge des ätheri— ſchen Mediums iſt und ſchließlich dieſelben in die Sonne bringen muß, ſowie anderer⸗ ſeits durch den Umſtand, daß die Sonne fortwährend Hitze, d. h. Bewegung verliert alſo integrirt. Ebenſo zeigt die geologiſche Evolution d. h. der noch immer fortdauernde Uebergang der Erde aus einem flüſſigen Zuſtand in einen mehr feſten, und die or— ganiſche Evolution d. h. Bildung eines Aggregats durch die Conſolidation von Stoff, der vordem durch einen weiten Raum zer⸗ ſtreut war, und endlich die ſociale Evolu— tion, wie ſie uns entgegentritt in der Ver⸗ einigung von wandernden Familien zu Stäm⸗ men, von Stämmen zu Völkern, oder in der Bildung von Klaſſen und Corporatio— nen in einem Volk, in der Gründung von Mittelpunkten des Handels, der Induſtrie und der einzelnen Erwerbszweige, alle dieſe Evolutionen auf den verſchiedenſten Gebieten zeigen uns eine Conſolidation von Stoff und gleichzeitigen Verluſt von Bewegung. thun das auch die Produkte der menſchlichen Thätigkeit, wie die Sprache, die Wiſſenſchaft, die Kunſt; die Sprache durch Vereinfachung der Formen und Sätze mittelſt Wort⸗ und Satzkürzungen, die Wiſſenſchaft durch Vereinigung einzelner, ge— ſonderter Erſcheinungen unter allgemeine Ge- ſetze, die Kunſt, z. B. die Malerei, durch Gruppirung verſchiedener Gegenſtände um einen Mittelpunkt und mit Rückſicht auf denſelben. Ueberall alſo erſcheint uns die Evolution, unter ihrem erſten Geſichtspunkt betrachtet, als eine Veränderung von einem weni- ger zuſammenhängenden zu einem mehrzuſammenhängenden, diedie Folge iſt von einem Verluſt der 12 Foth, Die Cardinalgedanken der I 8 Bewegung und einer Integration des Stoffes. Die Evolution, unter ihrem zweiten Geſichtspunkt als einer zuſammengeſetzten, bietet nach den ver— ſchiedenen Veränderungen, die durch den fortwährend mitwirkenden anderen Proceß der Diſſolution hervorgebracht werden und die wir die ſecundären Wiedervertheilungen (redistributions) von Stoff und Beweg— ung genannt haben, verſchiedene Züge der Betrachtung dar. Wenn während des Ueber— ganges aus einem unzuſammenhängenden in einen zuſammenhängenden Zuſtand noch andere Veränderungen vor ſich gehen, ſo muß zunächſt die Maſſe, ſtatt einförmig zu bleiben, vielförmig werden, aus einer homo— genen zu einer heterogenen ſich geſtalten. Während die Beſtandtheile des Stoffes inte— griren, differenziiren fie zugleich. So iſt die Maſſe unſeres Sonnenſyſtems während ihrer Concentration vielförmig geworden wie die verſchiedene Größe, Geſtalt, Temperatur, Dichtigkeit der Himmelskörper zeigen; ſo iſt der urſprüngliche homogene Zuſtand unſerer Erde durch Abkühlung in einen weniger homogenen übergegangen; die Oberfläche un— terſcheidet ſich im Innern in Feſtigkeit und Temperatur; Luft, Waſſer, Erde haben ſich gefondert, die Climate ſind verſchieden; fo ferner zeigt ſich am klarſten die die Inte— gration begleitende Differenzirung in der Bildung und dem Wachsthum organiſcher Weſen, in Pflanze und Thier. Wie die Geſchichte jeder Pflanze und jedes Thieres nicht blos die Geſchichte eines fortwährend wachſenden Keimes iſt, ſondern zugleich einer ſich ausbildenden und immerfort zunehmen— den Verſchiedenheit unter den Theilen, braucht im Einzelnen nicht weiter ausgeführt zu werden. Es iſt nicht nöthig, alle einzelnen vom Verfaſſer ſehr intereſſant und ſorg— | ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. fältig behandelten Fälle auch nur andeut— ungsweiſe hier mitzutheilen; die vorſtehen— den mögen genügen als Illuſtration zu der Evolution, unter ihrem zweiten Geſichtspunkte betrachtet, und gleichzeitig als Rechtfertigung der Modification, die man nunmehr der Definition der Evolution zu geben hat, wenn man ſie ſo zuſammenfaßt: Evolution iſt eine Veränderung aus einer unzu⸗ ſammenhängenden Homogenität zu einer zuſammen hängenden Hete— rogenität, welche die Zerſtreuung von Bewegung und die Integra— tion von Stoff begleitet. Umfaßt aber dieſe Definition alle Fälle, die in den Bereich der Evolution gehören und ſchließt fie alle aus, die nicht hinein— gehören? Keineswegs, denn z. B. eine körperliche Krankheit, eine Revolution, oder eine geſellſchaftliche Störungen verurſachende Hungersnoth, Erſcheinungen, welche ſämmt⸗ lich nicht zum Bereich der Evolution zu rechnen ſind, ſind dennoch Veränderungen vom weniger Heterogenen zum mehr Hetero— genen. Unſere bisherige Definition der Evolution iſt alſo noch unvollkommen; wir müſſen noch hinzufügen, daß dieſelbe gleich— zeitig mit einer Veränderung vom Homo— genen zum Heterogenen auch eine Beränder- ung vom Unbeſtimmten (indefinite) zum Beſtimmten iſt (definite). Die Entwickel⸗ ung bietet nicht blos eine Vervielfältigung ungleicher Theile dar, ſondern zugleich eine Zunahme in der Deutlichkeit, mit welcher ſich dieſe Theile von einander ſondern. Gleich— zeitig mit dem Fortſchritt vom Einfachen zum Complicirten findet ſtatt ein Fortſchritt von Verwirrung zur Ordnung, und während die wachſende Heterogenität eine Folge der ſecundären Wiedervertheilungen iſt, iſt die wachſende Deutlichkeit und Beſtimmtheit in den einzelnen Theilen eine Folge der pri— Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. 13 mären Wiedervertheilung, da dieſe es eben iſt, die die Integration bewirkt. Als Bei⸗ ſpiel möge uns die Krankheit dienen. Die Veränderungen des Körpers, in denen dieſe beſteht, haben keine ſolche Beſtimmtheit, weder in der Localität noch in der Ausdehnung, wie die vorhin betrachteten Veränderungen, die die Evolution ausmachen. Ihre Größe iſt veränderlich, ihr Sitz beliebig; ſie ſtehen nicht in ſo conſtantem Verhältniß zu dem Körper wie z. B. die Organe, es herrſcht keine feſte Norm in ihnen, mit einem Wort: ſie ſind in jeder Hinſicht unbeſtimmt. Dieſes neue Charakteriſticum der Evolution, das Fortſchreiten in der Deutlichkeit und Be— ſtimmtheit zeigt ſich überall im Univerſum, in der Bildung unſeres Sonnenſyſtems, in den geologiſchen Veränderungen, in den Ver— wandlungen organiſcher Körper und ſocia— ler Verhältniſſe. Aber auch jetzt noch iſt unſere Definition der Evolution unvollſtändig. Wir haben bis jetzt nur die Wiedervertheilungen des Stoffes berückſichtigt, über die Wiederver— theilung der Bewegung aber nur ſoviel ge— ſagt, als für die Betrachtung der einfachen Evolution genügte, nämlich daß, während der Stoff integrirt, die Bewegung zerſtreut wird. Sobald aber die Evolution zuſam⸗ mengeſetzt wird, ſobald ein Aggregat für eine beträchtliche Zeit eine ſolche Quantität von Bewegung zurückbehält, daß ſecundäre Wiedervertheilungen des Stoffes ftattfinden, ſo entſtehen nothwendig auch ſecundäre Wiedervertheilungen ſeiner bei der primären Wiedervertheilung noch zurückgebliebenen Be— wegung; mit der Umbildung der Theile muß auch eine Umbildung der Bewegungen vor ſich gehen; jene können nicht heterogen wer— den, ohne daß auch dieſe heterogen werden, jene können nicht integriren, ohne daß auch dieſe integriren und ſie können nicht klar von einander abgegrenzt werden, ohne daß auch dieſe ſich ſondern; kurz die Bewegung jedes Aggregats muß integriren und differen— ziiren zugleich mit feinen Theilen, feinen Organen. Während die bei der Evolution verloren gehende Bewegung diesintegrirt, integrirt die zurückbleibende. Wir haben die Bewegung eines in der Evolution be— griffenen Aggregats zu betrachten als eine die nicht nur allmälig zerſtreut wird, ſon— dern die auf dieſem Wege zur Zerſtreuung mannigfache ſecundäre Wiedervertheilungen durchzumachen hat d. h. vielmals integrirt und differenziirt. Wenn Evolution ein Uebergang des Stoffes aus einem zerſtreu— ten in einen feſten Zuſtand iſt, wenn, wäh— rend die zerſtreuten Einheiten einen Theil der unbemerkbaren, ſie zerſtreut haltenden Bewegung verlieren, bemerkbare Bewegun— gen unter den zuſammenhängenden Maſſen ſolcher Einheiten entſtehen, dann müſſen dieſe bemerkbaren Bewegungen vorher in der Form unbemerkbarer Bewegungen unter den Einheiten exiſtirt haben. Wenn „con⸗ creter“ Stoff entſteht durch die Aggrega— tion von zerſtreutem Stoff, dann entſteht „concrete“ Bewegung durch die Aggrega- tion zerſtreuter Bewegung. Das was zur Exiſtenz gelangt als die Bewegung von Maſſen, involvirt das Aufhören einer gleich- werthigen Bewegung der Theile und eine Zunahme in der Bewegung des Ganzen. Daß dieſes Geſetz ſich in allen Erſcheinun— gen des Univerſums offenbart, bedarf keines Beweiſes bis ins Einzelne; unſer Sonnen— ſyſtem ſo gut wie unſere Erde, jedes or— ganiſche Weſen fo gut wie die Geſammtheit derſelben, zeigt in ſeiner Bildung, daß in demſelben Maße, als eine Verſchiedenheit in den Geſtalten und Formen der Aggre— gate entſteht, auch eine Verſchiedenheit in der Quantität und in der Richtung ihrer IJ ˙ AAA mw . T—r 88 / 14 Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. Bewegungen ſich zeigt; je heterogener die Struktur, deſto heterogener auch die Funk— tion. Danach ergiebt ſich nun das Geſetz der Evolution endgültig als folgendes: Evo— lution iſt eine Integration des Stoffes und gleichzeitige Zerſtreu— ung der Bewegung, während wel— cher der Stoff aus einer unzu— ſammenhängenden, unbeſtimmten Homogenität in eine beſtimmte, zuſammenhängende Heterogeni— tät übergeht und während welcher die zurückgebliebene Bewegung einen gleichen Proceß durchmacht. Sind wir ſonach zu dem Reſultat ge— langt, daß durch alle Klaſſen von Erſchein— ungen hindurch der Verlauf der Veränder— ungen in der oben geſchilderten Art vor ſich geht, ſo bleibt uns, wenn anders jenes Geſetz ein für die Philoſophie brauchbares ſein ſoll, noch übrig, daſſelbe, nachdem wir es auf indirektem Wege genauer feſtgeſtellt haben, auch auf direktem Wege in dieſer Geſtalt zu gewinnen; nachdem wir gezeigt haben, daß der Lauf der Veränderungen ſo iſt, zu zeigen, daß er ſo ſein muß und nicht anders ſein kann. Wir müſſen dieſen Univerſalproceß auf ein Univerſalprincip zu— rückführen. Ohne ein ſolches Princip ſtän— den die verſchiedenen Züge der Evolution alle unabhängig von einander da, es be— ſtände keine Verbindung zwiſchen zunehmen— der Deutlichkeit und zunehmender Hetero— genität oder zwiſchen dieſen beiden und zu— nehmender Integration; noch weniger wäre das der Fall zwiſchen dieſen Geſetzen der Wiedervertheilung von Bewegung und Stoff und jenen früher gefundenen Geſetzen von der Richtung und dem Rhythmus der Be— wegung. Erſt wenn wir alle dieſe getrennten Wahrheiten auf eine zurückführen, aus einer ableiten und ſie als gegenſeitige Correlate 2 nachweiſen, wird die Wiſſenſchaft eine voll— ſtändige. Mit andern Worten: die Er— ſcheinungen der Evolution ſind abzuleiten aus der Beſtändigkeit der Kraft, jener Grundwahrheit, die die Baſis unſeres philoſophi— ſchen Syſtems bildet. Da es nun aber kaum möglich iſt, den geſammten Pro— ceß der Veränderungen, d. h. der Wieder— vertheilungen von Stoff und Bewegung ſo zu umfaſſen, daß wir gleichzeitig die ver— ſchiedenen nothwendigen Reſultate in ihrer gegenſeitigen Abhängigkeit ſehen, ſo müſſen wir die einzelnen Reſultate dieſes Proceſſes geſondert betrachten und einzeln aus der Beſtändigkeit der Kraft herleiten; denn ob zwar dieſer Proceß bei jedem in der Evo⸗ lution begriffenen Aggregat ein einheitlicher iſt, ſo bietet er doch unſerm Erkennen meh- rere Faktoren dar. Demnach hätten wir dieſen Proceß zu- erſt zu betrachten in ſeiner Eigenſchaft als Fortſchritt vom Einförmigen zum Vielför— migen, vom Homogenen zum Heterogenen, und haben alſo zu fragen: Warum muß, wenn die Beſtändigkeit der Kraft gegeben iſt, ein Fortſchritt in dieſer Art ſtattfinden? oder mit anderen Worten: Wie läßt ſich derſelbe aus jener Beſtändigkeit der Kraftableiten? — Vermittelſt des Satzes von der Unbeſtändig— keit des Homogenen, der Wiſſenſchaft als der Satz vom labilen Gleichgewicht be— kannt. Man verſteht darunter ein Gleich— gewicht zwiſchen Kräften von der Art, daß die kleinſte hinzutretende Kraft das frühere Arrangement zerſtört und ein neues hervor— ruft. So bleibt der an ſeinem unteren Ende geſtützte und genau ſenkrecht gehaltene Stock keinen Augenblick in Ruhe, er neigt ſich und fällt. Unter dieſes Geſetz der Un— beſtändigkeit des Homogenen, der Unfähig⸗ keit eines gleichförmigen Aggregats, in dem⸗ ſelben Zuſtande zu verharren, fügen ſich alle Erſcheinungen im Univerſum. In der Anordnung und Geſtalt der Körper unſeres Sonnenſyſtems, in der Bildung unſerer Erde durch neptuniſche und vulkaniſche Ver— änderungen, im Thier- und Pflanzenleben durch Bildung neuer Arten und der her— vortretenden Verſchiedenheiten innerhalb der⸗ ſelben Art, im Geiſtesleben durch die fort— währende Aufnahme neuer Vorſtellungen und Ideen, in den Produkten des menſch— lichen Geiſtes, wie z. B. der Sprache, durch Deſynonymiſation, überall zeigt ſich die fort- während zunehmende Heterogenität. Wie aber iſt dieſe abzuleiten aus der Beſtändig⸗ keit der Kraft? Jede Kraft, wie beſchaffen ſie auch ſein mag, muß auf die einzelnen Theile eines gleichförmigen, homogenen Ag— gregats verſchieden wirken, weil jeder Theil dieſer Maſſe ſchon vermöge ſeiner Lage der einwirkenden Kraft in verſchiedener Weiſe ausgeſetzt iſt, ihr verſchiedene Kraft ent gegenſetzt, daher auch verſchiedene Verän— derungen erleiden muß. Die gegentheilige Annahme hieße vorausſetzen, daß irgend welche Kraft ohne Wirkung bliebe, ver— ſchwände, was mit dem Geſetz von der Beſtändigkeit der Kraft aber unvereinbar iſt. Bei dem nunmehr vielförmig gewor- denen Aggregat wirkt der Proceß natürlich in derſelben Weiſe fort, indem er nur noch immer größere Vielförmigkeit verurſacht. Denn jetzt müſſen natürlich die einzelnen Theile wegen ihrer in höherem Grade als vorher verſchiedenen Geſtalt, Lage und Größe auch in höherem Grade verſchiedene Wirk— ungen erleiden von der auf ſie einwirkenden Kraft. In dieſem Geſetz nun von der Vervielfältigung der Wirkungen liegt ein neuer, weſentlicher Grund für die Evolution, in ſofern ſie ein Fortſchritt vom Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. 15 Einförmigen zum Vielförmigen iſt. Man kann gegen dieſe Folgerungen nicht einwen— denn, daß vollſtändige Homogenität nirgends exiſtirt, da natürlich die Ausdrücke homo⸗ gen, unzuſammenhängend, unbegrenzt, wie wir ſie jetzt und früher gebraucht haben, alle nur relativ zu verſtehen ſind, daß da— her, möge der Zuſtand, mit dem wir be— ginnen, ein Zuſtand abſoluter Homogenität ſein oder nicht, der in Rede ſtehende Proceß doch immer auf einen Zuſtand geringerer Homogenität hinzielt: das weniger Hetero— gene wird mehr heterogen. Es bleibt uns jetzt noch übrig, die Evolution, inſofern ſie ein Fortſchreiten vom Unbeſtimmten, Undeutlichen, zum Beſtimmten, Deutlichen iſt, auf die Beſtändigkeit der Kraft zurückzuführen. Der Grund für dieſe in der Entwickelung jedes Aggregats hervor— tretende Erſcheinung liegt in dem ſich überall im Univerſum zeigenden Geſetz der Trenn— ung, der Auswahl, der Anſamm— lung von unter ſich gleichen Ein— heiten zu einer Gruppe und ihrer Abſonderung von einer andern Gruppe, die ebenfalls aus unter ſich glei— chen, aber von den erſten verſchiedenen Ein— heiten beſteht. Die auf ein Aggregat ein— wirkende gleichförmige Kraft wird in den einander gleichen Einheiten gleiche Beweg— ungen, in den einander ungleichen Einheiten ungleiche Bewegungen hervorbringen. Wenn daher in einem Aggregat, das zwei oder mehrere Reihen untermiſchter Beſtandtheile enthält, diejenigen von derſelben Reihe in derſelben, aber in einer von den übrigen verſchiedenen Weiſe bewegt werden, ſo müſſen die verſchiedenen Reihen eine Trennung ein- gehen. Eine Gruppe gleicher Dinge, auf die bewegende Kräfte von gleicher Größe und gleicher Richtung einwirken, müſſen als Gruppe an einen andern Platz verſetzt werden, | 16 Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. und wenn ſie mit andern unter ſich gleichen, aber jenen erſten ungleichen Dingen unter— miſcht ſind, ſo müſſen dieſe andern Dinge ebenfalls als Gruppe an einen andern Platz ver— ſetzt werden als den, den jene eingenommen ha— ben. Die vermiſchten Beſtandtheile müſſen eine gleichzeitige Auswahl und Trennung erlei— den, dieſe Trennung ſteht natürlich in einem finden. Dieſer Fortſchritt zum Gleich— proportionalen Verhältniß zu der Größe der Verſchiedenheit zwiſchen den einzelnen Beſtandtheilen. Läßt man, um ein Beiſpiel zu nehmen, eine Handvoll Kieſelſteine, Sand und Staub unter der Einwirkung eines Luftſtromes fallen, ſo werden Steine, Sand und Staub geſondert fallen, die Steine ſenk— recht unter der Hand, der Sand etwas abſeits und der Staub noch weiter entfernt. Der Zuſammenhang dieſes Geſetzes mit der Perſiſtenz der Kraft liegt auf der Hand. Eine Ungleichheit in den Dingen, auf die eine gleiche Kraft einwirkt, muß einen Unter— ſchied in den Wirkungen erzeugen, da ſonſt diejenige Kraft, die den Dingen innewohnt d. h. die die Dinge zu verſchiedenen macht, keine Wirkungen hervorbringen würde und ſomit die Kraft nicht beſtändig wäre. Haben wir nun ſonach die verſchiedenen Züge, die die Evolution charakteriſiren, ab— geleitet aus der Perſiſtenz der Kraft, haben wir gezeigt, daß ſowohl das Fortſchreiten vom Homogenen zum Heterogenen, wie das Fortſchreiten vom Unbeſtimmten zum Be— ſtimmten, jenes in dem Geſetz von der Unbeſtändigkeit des Homogenen und der Ver— vielfältigung der Wirkungen, dieſes in dem Geſetz der Trennung ihren Grund haben und in welchem Zuſammenhange dieſe beiden Geſetze mit der Beſtändigkeit der Kraft ſtehen, ſo tritt jetzt an uns die Frage heran: Wo— rauf zielen dieſe Veränderungen, die die Evolution ausmachen, ab, dauern ſie ewig fort und gibt es keine Grenze für dieſelben? Die folgende Betrachtung wird lehren, daß man nothwendig eine Grenze für die Entwickelung anzunehmen habe. Die Wiedervertheilungen des Stoffes, die rings um uns vorgehen, müſſen ihr Ende erreichen mit der Zerſtreuung der Bewegungen, die ſie bewirken. Wenn keine Bewegung mehr da iſt, kann keine Veränderung mehr ſtatt— gewicht, zu einem Zuſtande, in dem Wir— kung und Gegenwirkung einander gleich ſind, in dem das Aggregat ſoviel von ſeiner Be— wegung verausgabt, als nöthig war, um den entgegenſtehenden Widerſtand zu über— winden, dieſer Fortſchritt zeigt ſich bei allen Erſcheinungen des Univerſums, bei den mei— ſten freilich in etwas complicirterer Weiſe; denn in den meiſten Fällen iſt die Beweg— ung eines Aggregats zuſammengeſetzt; ſie beſteht aus verſchiedenen Bewegungen, von denen das Aufhören der einen die übrigen nicht afficirt. Die Schiffsglocke, die auf— gehört hat zu läuten, macht dennoch die Schwankungen des Oceans mit. Von dieſen Bewegungen kommt diejenige, die am kleinſten iſt, d. h. die den meiſten Widerſtand zu überwinden hat, am erſten zur Ruhe, bis ſchließlich eine allgemeine Ausgleichung ſtatt— findet. Dieſes Geſetz nun, daß jedes Aggre— gat ſchließlich in einen Zuſtand des Gleich— gewichts übergehen muß, folgt auch aus dem Geſetz von der Beſtändigkeit der Kraft. Die Abzüge, die fortwährend durch Mit— theilung der Bewegung an das Widerſtand leiſtende Medium von dem evolvirenden, in Bewegung befindlichen Gegenſtand gemacht werden, müſſen ſeine Bewegung in längerer oder kürzerer Zeit auf den Grad reduciren, daß fie gleich der äußern, auf ihn einwir- kenden Bewegung iſt; denn zu ſagen, daß das Medium der Bewegung des Körpers ausweichen könne, ohne von der Bewegung des— Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſo ſelben etwas abzuziehen, hieße jagen, die Beweg- ung des Mediums könne entſtehen aus Nichts, was die Beſtändigkeit der Kraft leugnen hieße. Dieſer Zuſtand des Gleichgewichts, in den jedes Aggregat eintritt, ſobald es die Veränderungen der Evolution durchlaufen hat, iſt aber nur ein momentaner, da mit ihm zugleich der entgegengeſetzte Proceß der Diſſolution oder Auf— löſung eintritt. Hatte das Aggregat wäh— rend der Entwickelung mehr Bewegung abgegeben als aufgenommen, gab es dann während des Zuſtandes des Gleichgewichts eben ſoviel Bewegung ab als es aufnahm, ſo erhält es jetzt während der Diſſolution mehr als es abgibt. Denn das Aggregat bleibt ausgeſetzt allen Einwirkungen ſeiner Umgebung, welche die Bewegung, die es zurückbehalten hat, vermehren und ſeinen Theilen ſolchen Ueberſchuß davon geben, daß die Diſſolution eintritt. Dieſer Proceß vollzieht ſich langſamer oder ſchneller, je nachdem das betreffende Aggregat während der Evolution mehr oder weniger Beweg— ung zurückbehalten, mehr oder weniger ſe— cundäre Wiedervertheilungen erlitten hatte. Daher wirkt die Diſſolution bei unorga— niſchen Körpern langſam, weil, wie ihnen während ihrer Integration viele Bewegung genommen und wenige gelaſſen war, ihnen jetzt wieder viele gegeben werden muß; bei organiſchen dagegen ſchnell, weil, wie ihnen während ihrer Integration wenig Beweg— ung genommen, viele gelaſſen war, hier wenig hinzutretende Bewegung genügt, ihren Verfall herbeizuführen. Illuſtriren läßt ſich dies Geſetz der Diſſolution durch Er— ſcheinungen aus dem geſammten Gebiet des Univerſums. Diſſolution einer Geſellſchaft, einer Nation (wie z. B. der japaneſiſchen), eines Individuums, eines organiſchen Kör— pers (Verweſung), eines unorganiſchen Kör— pers (Verwitterung) iſt immer eine Dis— integration von Stoff und Aufnahme von Bewegung. Jedes Aggregat kehrt aus dem wahrnehmbaren Zuſtand, den es durch den Entwickelungsprozeß erreicht hatte, in einen unwahrnehmbaren Zuſtand zurück. Die Bewegung der Maffen löſt ſich auf in eine Bewegung der Theile: der Leichnam, der während der Evolution ein ſich als Ganzes bewegender Körper geweſen war, löſt ſich bei der durch das Hinzutreten äußerer Beweg— ung (Luft) entſtehenden Zerſetzung auf in eine Maſſe einzelner, ſich bewegender Theile, von denen jeder wiederum ſich weiter auf— löſt, bis er ſchließlich, in einen gaſigen Zu⸗ ſtand übergehend, für uns unwahrnehmbar wird. Diſſolution iſt alſo ganz der ent gegengeſetzte Proceß von dem, den wir bei der Evolution betrachtet haben. Der Höhe— punkt dieſer iſt eine möglichſt heterogene, beſtimmt ausgeprägte Geſtalt des Aggre— gats, der Höhe- und Schlußpunkt jener eine möglichſt homogene, unbeſtimmte. Was nun von den einzelnen Aggregaten gilt, muß natürlich auch von der Geſammtheit derſelben gelten; es gilt alſo auch von unſerm Sonnenſyſtem. Das „bewegliche Gleichge— wicht“, in dem ſich daſſelbe jetzt befindet, ein Zuſtand, wo ein Aggregat in Folge der Fixirung ſeines Schwerpunktes als Ganzes ſeine Bewegung hat, die einzelnen Theile aber ſich ſo bewegen, daß die Bewegung des einen aufgewogen wird durch eine ent— gegenſtehende Bewegung des andern, dieſes bewegliche Gleichgewicht unſeres Sonnen— ſyſtems muß zu irgend einer Zeit einmal in ein vollſtändiges Gleichgewicht übergehen und einer Diſſolution unterliegen. Denn die Bewegung der einzelnen Theile eines in dem Zuſtande des beweglichen Gleichge— wichts befindlichen Aggregats ſind, wenn ſie auch unter einander in Gleichgewicht geſetzt 55 phie Herbert Spencer's. 1175 | | Ba) — 91 uw Kosmos, II. Jahrg. Heft 7, 8 18 Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. ſind, doch noch nicht mit den Bewegungen außerhalb in Gleichgewicht geſetzt, haben dort noch Widerſtand zu überwinden: bei den Körpern unſeres Sonnenſyſtems bildet das Medium des Aethers dieſen Widerſtand, welcher ihre Bewegung allmälig immer mehr verlangſamt und ſchließlich gänzlich aufhören macht; thatſächlich hat auch die Wiſſenſchaft ſchon Reſultate in dieſer Richtung gefunden: ſowohl die Bewegung der Planeten um die Sonne verlangſamt ſich, als auch die Bewegung, die ſich in der Ausſtrahlung von Hitze äußert, nimmt ab. Die Sonne giebt jetzt nicht mehr ſo viel Hitze ab wie zu Anfang und muß einmal vollſtändig auf- hören Hitze abzugeben. Die Himmelskörper, in ihrer Bewegung langſamer werdend, nähern ſich mehr und mehr der Sonne, bis fie ſchließlich in dieſelbe fallen und vermöge der enormen Quantität Hitze, welche ein ſolcher Zuſtand erzeugt, augenblicklich in einen gasförmigen Zuſtand übergehen. Dieſe Diſſolution der Erde und der übrigen Weltkörper iſt jedoch noch keine Diſſolution des Sonnenſyſtems als Ganzes betrachtet, ſondern vielmehr ſchreitet durch jede neue Einzeldiſſolution die Geſammtevolution der ganzen Maſſe fort. Denn ebenſo wie die Beſtandtheile mehrerer, durch die Diſſolution zerfallener Körper der Integration anderer dienen, in ſofern ſich dieſe Körper aus jenen zuſammenſetzen, ſo dienen auch die durch die Diſſolution zer— fallenen Weltkörper dazu, die Integration eines andern zu beſchleunigen. Vollendet iſt ſie, ſobald der letzte Weltkörper ſich mit der Centralmaſſe vereinigt und dieſe ihren Ueberſchuß von Bewegung in der Geſtalt von Hitze und Licht in den Raum ausgeſtrahlt hat. Damit iſt dann ein allgemeines Gleichgewicht, eine allgemeine Ruhe, ein Univerſaltod eingetreten, der die Univerſalevolution endigt. Oder endigt er ſie vielleicht doch nicht? Gibt es nach dieſem allgemeinen Tode nicht doch noch vielleicht ein neues Leben? Das Vor— handenſein entfernter und mit dem unſrigen einſtweilen noch in gar keiner Berührung ftehen- der anderer Sonnenſyſteme führt uns auf die Vermuthung, daß unſer Sonnenſyſtem, wenn es in den Zuſtand vollkommener Ruhe übergegangen iſt, dann hierin nicht verharren kann, ſondern noch die bei weitem allgemei— nere und größere Integration mit ſolchen andern Sonnenſyſtemen durchzumachen hat und zwar zunächſt mit dem, das zuerſt auf daſſelbe einwirkt u. ſ. f. Daß aber dieſe verſchiedenen Sonnenſyſteme im Lauf der Zeiten mit einander in Berührung kommen, integriren, ſich in ein Gleichgewicht ſetzen, und ſobald noch neue Bewegungen hinzu- treten, wieder disintegriren müſſen, folgt aus dem Umſtand, daß die entfernteren Sterne mit ihren Satelliten, d. h. eben jene Sonnen⸗ ſyſteme, ſich bewegen und zwar nach dem Geſetz der Gravitation ſich bewegen, alſo nach einem gewiſſen Mittelpunkt. So gelangt der Verfaſſer zu der Auffaſſung einer unendlichen Reihe von immerfort wechſelnden Evolutionen und Diſſo— lutionen, einer Reihe, die ſich in gleicher Weiſe in die unendliche Vergangenheit wie in die unendliche Zukunft erſtreckt, da es nicht möglich iſt, das Univerſum als begrenz— tes, alſo auch die dasſelbe ausfüllende Zahl von Sonnenſyſtemen und die durch ihr Zuſammentreffen entſtehenden Evolutionen und Diſſolutionen als endlich zu denken. Dieſe Auffaſſung des Verfaſſers bedarf, wie mir ſcheint, einer kleinen Berichtigung oder beſſer geſagt Vervollſtändigung. So lange noch irgend welche Integrationen ſtatt— finden, iſt eben der Proceß der allgemeinen Evolution noch nicht abgeſchloſſen, geht der— ſelbe noch immer fort vor ſich: jene Reihe | Foth, Die Cardinalgedanken der ſynthetiſchen Philoſophie Herbert Spencer's. 19 von Evolutionen und Diſſolutionen erſcheinen aber nur als die verſchiedenen Phaſen einer allgemeinen Evolution oder Integration des Univerſums. Von einer Reihe von Evolutionen und Diſſolutionen kann man nur in relati⸗ vem Sinne ſprechen, im abſoluten nur von einer Univerſalevolution. Wir haben alſo vielmehr den Geſammtproceß, den das Univerſum durchmacht, zu be— trachten als eine große abſolute Univerſalevolution, die ſich voll— zieht in einer Reihe von relativen Evolutionen und Diſſolutionen. — So wird alſo dieſe unendliche Reihe von Evo— lutionen und Diſſolutionen, da in ihrem Ur- ſprung und Ende unbegreiflich, eins mit der abſoluten Urſache, der Beſtändigkeit der Kraft, von der wir nicht wiſſen, woher ſie kommt und wohin ſie geht, wir wiſſen nur, ſie iſt, und fo kommen wir am Ende unſerer Unter ſuchung zu unſerem Ausgangspunkt zurück, der Anerkennung einer beſtändigen Kraft, die fortwährend ihre Manifeſtationen ändert, aber in ihrer Quantität ſelbſt ungeändert bleibt. Und ſomit haben wir denn auch jene Congruität und Uebereinſtimmung unter allen Erſcheinungen erreicht, die wir beim Ausgangspunkt unſerer Unterſuchung als das Erforderniß hinſtellten, das nöthig war, um die Wahrheit unſerer dort nur vor— läufig als wahr hingeſtellten Annahme der Beſtändigkeit der Kraft nachzuweiſen. Nur unter Anerkennung einer ſolchen unerkenn— baren Urſache iſt eine Integration aller Er— ſcheinungen im Denken möglich, jeder ein— zelnen wie der Geſammtheit derſelben. Sind wir nun alſo zu dem Schluß gekommen, daß alle Erſcheinungen Theile des allgemeinen Proceſſes der Evolution ſind, ſo folgt da— raus, daß ein vollſtändiges Verſtändniß der— ſelben nur möglich iſt, wenn ſie als Theile dieſes Proceſſes erkannt, wenn ſie mit Rück— ſicht auf jene Theorie der Evolution ver— ſtanden werden, wenn wir von jedem ein— zelnen Dinge ſowie von der Geſammtheit der Dinge zeigen können, daß ſie gerade ſo ge— ſtaltet ſein müſſen, wie ſie geſtaltet ſind und nicht anders geſtaltet ſein können. Iſt nun aber eine ſolche, allumfaſſende Organiſation ſämmtlicher Erſcheinungen d. h. eine Berei- nigung aller Wiſſenſchaften in ein organiſches Ganze nur in weit entfernter Zukunft mög⸗ lich und auch dann noch nicht ganz, weil das ſo viel hieße, als ein Gleichgewicht zwiſchen den Dingen und dem Denken in einer endlichen Periode ereichen, was aber nicht möglich iſt, da die Evolution eben eine unendliche iſt, ſo kommen wir doch täglich dieſem Ziele näher und jeder Verſuch, die bis jetzt bekannten Erſcheinungen oder Klaſſen von Erſcheinungen in dieſer Weiſe zu orga⸗ niſiren und in ein Syſtem zu bringen, darf darum nicht nur gerechtfertigt, ſondern muß nothwendig erſcheinen. Wenn man nun bei einem ſolchen Verſuch dieſe Erſcheinungen in den Ausdrücken des Stoffes, der Kraft und der Bewegung erklären muß, ſo darf Niemand an denſelben, als etwa eine materialiſtiſche Anſchau— ung offenbarenden, Anſtoß nehmen. Denn das aufgeſtellte philoſophiſche Syſtem iſt weder ma⸗ terialiſtiſch noch ſpiritualiſtiſch, noch kann es überhaupt in eins der neuern Syſteme gebracht werden: es iſt die Philoſophie xc 280. Es will weder wie der Materialismus die Seele durch den Körper, noch wie der Spiritua— lismus den Körper durch die Seele erklären; es nimmt keinen von beiden Ausdrücken als feinen letzten Ausgangspunkt, ſondern be- trachtet beide nur als Offenbarungen der einen unbekannten Realität, welche beiden zu Grunde liegt und welche die ſcheinbaren Widerſprüche zwiſchen beiden vereinigt. Urſprung und Entwickelung der Zinneswerkzeuge. Von Ernſt Haeckel. enn die Erkenntniß der ge > > ſchichtlichen Entwickelung heute mit Recht als der ſicherſte AN Weg zum wahren Verſtändniß der organischen Naturkörper betrachtet wird, fo gilt das vor Allem von denjenigen Dr- ganen, welche durch ihre verwickelte Zu— ſammenſetzung einem zweckmäßigen Bauplan ihren Urſprung zu verdanken ſcheinen. Eine ſolche planmäßige und künſtliche Ein— richtung tritt uns nirgends ſo auffallend entgegen, wie bei unſeren Sinneswerkzeugen. Der herrliche Prachtbau unſeres Auges, das bewunderungswürdige Labyrinth unſeres Ohres finden nicht ihres Gleichen in an— deren organiſchen Bildungen; ſie ſind daher ſtets die auserkorenen Lieblinge der ana— tomiſchen und phyſiologiſchen Forſchung ges weſen. Auch iſt dieſe Vorliebe zugleich gerechtfertigt durch die unvergleichliche Be— deutung dieſer wichtigſten Geiftes - Inftru- mente. Denn die Sinneswerkzeuge ſind die einzigen Urſprungsquellen aller Erkennt⸗ niß, ſie ſind die einzigen Thore, durch welche die Außenwelt ihren Einzug in unſer inneres Geiſtesleben hält. Daher hat auch ſtets die ſpeculative Philoſophie gerade für dieſen Theil der Biologie ein beſonderes Intereſſe gehegt und iſt hier in die regſte Wechſelwirkung mit der empiri⸗ ſchen Naturforſchung getreten. Wenn nun die heutige Entwickelungs— lehre auf der feſten, von Darwin gege— benen Grundlage den Anſpruch erhebt, den Urſprung und die Entſtehung der Sinnes— werkzeuge in gleicher Weiſe, wie diejenigen der übrigen Organe, durch den langſamen und allmäligen Entwickelungsprozeß der natürlichen Züchtung zu erklären, ſo darf ſie ſich von vornherein auf die größten Schwierigkeiten gefaßt machen. Zur Ueber— windung derſelben iſt zunächſt wohl nichts geeigneter, als ein flüchtiger Seitenblick auf die individuelle Keimesgeſchichte. Denn wenn wir ſehen, daß in jedem einzelnen Thier— körper dieſe Organe nicht von Anfang an da find, ſondern fi langſam und allmälig ent- wickeln, ſo dürfte dieſe wichtige keimesge— . Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. 21 ſchichtliche Thatſache wohl geeignet ſein, uns auch den Weg zur Löſung der viel ſchwierig— eren und dunkleren Frage nach der ſtam— mesgeſchichtlichen Entwickelung der— ſelben zu ebenen. Um uns von jener wichtigen Thatſache zu überzeugen, brauchen wir blos ein Hühnerei in die Brütmaſchine zu legen, und in dem kurzen Zeitraum von drei Wochen die Ausbildung des einfachen Hühnerkeims zum vollkommenen Küchlein Schritt für Schritt zu verfolgen. Da können wir denn durch unmittelbare Be— obachtung feſtſtellen, daß das Auge, das Ohr, und ebenſo die niederen Sinneswerk— zeuge des Geruches und Geſchmackes, im Beginne der Keimes⸗Entwickelung noch gar nicht vorhanden ſind, ſondern daß ſie erſt ſpäter auftreten und dann von einer höchſt einfachen indifferenten Anlage aus, durch eine Reihe der wunderbarſten Verwand— lungen hindurch, allmälig zu ihrer ſpäteren Zuſammenſetzung und Geſtalt gelangen. Zuerſt wurde dieſe grundlegende Thatſache vor fünfzig Jahren von C. E. v. Baer feſtgeſtellt, dem großen Embryologen, der die Geſchichte des bebrüteten Hühnereies zu einer der wichtigſten Erkenntniß-Quellen ge— ſtaltete. Dann war es aber vor allen An— deren der geiſtreiche Biolog Emil Huſchke in Jena, der nur wenige Jahre ſpäter (1830) mit größter Sorgfalt die erſtaun— lichen Einzelheiten jener wichtigen Vorgänge näher verfolgte. Auf ſeine glänzenden Entdeckungen geſtützt, haben zahlreiche an— dere Beobachter in neuerer und neueſter Zeit dieſelben bis zu einem bewunderungs— würdigen Grade der Genauigkeit ergründet. Als allgemeines Endergebniß hat ſich ſchließ— lich herausgeſtellt, daß beim Menſchen und bei allen Thieren die Sinneswerkzeuge überall weſentlich in derſelben Weiſe ent— ſtehen, nämlich als Theile der äußeren Körperbedeckung, der Oberhaut. Die äußere Hautdecke iſt das urſprüng⸗ liche und univerſale Sinnesorgan, und erſt allmälig ſchnüren ſich die höheren Sinneswerkzeuge von dieſer ihrer Ur- ſprungsſtätte ab, indem ſie ſich mehr oder weniger in das geſchützte Innere des Kör— pers zurückziehen. Nun beruht aber die Thätigkeit der Sinnesorgane, wie aller anderen Organe des menſchlichen und des Thierkörpers ledig— lich auf der Thätigkeit der mikroſkopiſchen Zellen, welche dieſelben zuſammenſetzen. Dieſe kleinen „Zellen“ ſind ja die wahren, ſelbſtſtändigen „Elementar-Organismen“, Fig. 1. Oberhaut-Zellen eines menſch— lichen Embryo von zwei Monaten. deren Funktionen in ihrer Geſammtheit vereinigt das „Leben“ des ganzen vielzelligen Organismus bedingen. Daher ſind auch bei jedem Sinneswerkzeug das Wichtigſte die Sinneszellen, welche die verſchie— denen ſinnlichen Empfindungen vermitteln; die Sehzellen des Auges, die Hörzellen des Ohres, die Riechzellen der Naſe, die Schmeckzellen der Zunge, u. ſ. w. Wenn nun wirklich, wie wir jetzt wiſſen, alle verſchiedenen Sinnesorgane blos eigenthüm— lich ausgebildete und umgebildete Theile der äußeren Hautdecke ſind, ſo müſſen auch alle jene verſchiedenen Sinneszellen ur— ſprünglich von einfachen Haut— zellen abſtammen; in der That ſind 22 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. ſie ſämmtlich umgebildete, verſchiedenartig ausgebildete Abkömmlinge von gewöhnlichen indifferenten Zellen der Oberhaut (Fig. 1). Dieſe grundlegende Thatſache, deren Be— deutung nicht hoch genug angeſchlagen werden kann, iſt jetzt unzweifelhaft feſtgeſtellt. Jeder⸗ mann kann ſich mit Hülfe eines guten Fig. 5. Mikroſkopes und der vervollkommneten Unter⸗ ſuchungs-Methoden der Gegenwart am be— brüteten Hühnerei ſelbſt davon überzeugen, daß alle Sinnesorgane aus der äußeren Hautdecke hervorgehen. Betrachten wir z. B. den Keim eines Hühnchens am dritten und vierten Tage der Bebrütung (Fig. 2— 6), Fig. 6. Fig. 2, 3. Kopf eines Hühner⸗Embriyo vom dritten Brütetage: 1) von vorn, 2) von der rechten Seite. n Nafen-Anlage (Geruchs-Grübchen). 1 Augen-Anlage (Augen-Grübchen). g Ohr⸗Anlage (Gehör-Grübchen). » Vorderhirn. gl Augenſpalte. o Oberkiefer-Fortſatz, u Unterkiefer-Fortſatz des erſten Kiemenbogens. Fig. 4. Kopf eines Hühner-Embryo vom vierten Brütetage, von unten. n Naſen⸗ grube. o Oberkiefer-Fortſatz des erſten Kiemenbogens. u Unterkiefer-Fortſatz deſſelben. k“ zweiter Kiemenbogen. sp Choroidal-Spalte des Auges. s Schlund. Fig. 5, 6. Zwei Köpfe von Hühner-Embryonen, 1) vom Ende des vierten, 2) vom Anfang des fünften Brütetages. Buchſtaben wie in Fig. 4; außerdem: in innerer, an äußerer Naſenfortſatz. nf Naſenfurche. ſo bemerken wir, daß die erſte Anlage ſo— wohl für die Naſe (n), als für das Auge (i, sp) und für das Ohr (o) in Geſtalt eines einfachen Grübchens der Ober— haut auftritt. Daſſelbe gilt aber auch für die Sinnesorgane aller anderen Thiere und des Menſchen. Durch dieſe bedeutungs— st Stirnfortſatz. m Mundhöhle. volle Erkenntniß iſt nicht allein die Frage nach dem Urſprung der Sinneswerkzeuge ſehr vereinfacht, ſondern auch ſchon der wahre Weg zu ihrer Löſung gezeigt. Denn nach dem biogenetiſchen Grundge— ſetze, nach dem allgemeinen Grundgeſetze der organiſchen Entwickelung, ſteht jede Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. 23 keimesgeſchichtliche Thatſache in unmittelbarer urſächlicher Beziehung zu einem entſprechen— den ſtammesgeſchichtlichen Vorgange, der ſich vor langer Zeit, vor Jahrtauſenden, vielleicht vor Millionen von Jahren, in der Geſchichte der Ahnen-Reihe des be— treffenden Organismus vollzogen hat. Urſprünglich beruhte jener Vorgang in der Ahnen-Geſchichte auf Anpaſſung der Vorfahren; dann aber wurde er von dieſen durch Vererbung auf die lange Reihe der Nachkommen mehr oder weniger getreu übertragen. Wenn wir alſo heute an der jungen Keimesanlage des Hühnchens im bebrüteten Ei die Wahrnehmung machen, daß die höheren Sinneswerkzeuge anfäng— lich noch ganz fehlen und daß die erſte Spur derſelben in der äußeren Hautdecke auftritt, ſo ſchließen wir daraus, daß die älteren Vorfahren der Vögel niedere Thiere waren, die weder Augen noch Ohren be— ſaßen, und daß ſpäter bei den Nachkommen derſelben beſtimmte Theile der äußeren Ober— haut es waren, die zum erſten Male Licht— wellen und Schallwellen unterſcheiden lern— ten. Und wenn wir weiter ſehen, daß die zarten Organe der feineren Farben- und Ton⸗Unterſcheidung, die Zapfen in der Netz haut des Auges, und die Corti'ſchen Haar- zellen in der Schnecke des Ohres, erſt viel ſpäter im Vogelkeim zur Erſcheinung kom— men, nachdem bereits die anderen Theile des Auges und Ohres gebildet find, fo dürfen wir daraus ſchließen, daß dieſe feinften und vollkommenſten Sinnes⸗Inſtru⸗ mente erſt in einer viel ſpäteren Periode der Erdgeſchichte von einer jüngeren Ahnenform der Vögel erworben wurden. Freilich iſt dieſer bedeutungsvolle Schluß von der empiriſchen Keimesgeſchichte des Indi— viduums auf die hypothetiſche Stammes— geſchichte ſeiner Vorfahren keineswegs überall und ohne Weiteres verwendbar. Nicht alle keimesgeſchichtlichen Vorgänge geſtatten eine ſtammesgeſchichtliche Deutung. Aber gerade wo dieſe letztere nicht zuläſſig iſt, und wo wichtige Lücken oder Störungen den Faden der geſchichtlichen Entwickelung unterbrechen, gerade da kommt uns eine andere Wiſſen— ſchaft zu Hülfe, die vergleichende Ana— tomie. Indem dieſe intereſſante Wiſſen— ſchaft den Bau der ausgebildeten Organe bei den verſchiedenen Thierklaſſen und Ord— nungen vergleicht, indem ſie den Nachweis führt, daß jene Organe in den verſchiedenen Thiergruppen noch heute auf den verſchie— denſten Stufen der Ausbildung neben ein- ander zu finden ſind, eröffnet ſie uns einen höchſt lehrreichen Einblick in die lange Stufenleiter der geſchichtlichen Entwickelung, auf welcher ſich dieſelben allmälig nach einander von den einfachſten Anfängen bis zur höchſten Vollkommenheit emporgearbeitet haben. So zeigt uns die vergleichende Ana— tomie auf einem ganz anderen Wege als die Keimesgeſchichte, wie der verwickelte Wunder— bau unſeres menſchlichen Auges und Ohres durch eine lange, lange Reihe von Zwiſchen— ſtufen mit den einfacheren und einfachſten Ge— ſichts- und Gehörwerkzeugen niederer Thiere zuſammenhängt. Während die zuſammenge— ſetzte Einrichtung dieſer Organe bei den höheren Wirbelthieren, bei den Säugethieren, Vögeln und Reptilien weſentlich noch dieſelbe wie beim Menſchen iſt, treffen wir einfachere Verhältniſſe ſchon bei den Amphibien, und noch mehr bei den Fiſchen an. Vergleichen wir aber mit letzteren die entſprechenden Sinnes— Einrichtungen niederer Thiere, insbeſondere der Würmer, ſo überzeugen wir uns, daß ſelbſt die unvollkommenen Augen und Ohren der Fiſche erſt das ſpäte Erzeugniß einer langen Reihe von Verbeſſerungen und Ver— vollkommnungen ſind, welche dieſe phyſi— 24 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. kaliſchen Inſtrumente bei den wirbelloſen Vor— fahren der Fiſche im Laufe vieler Millionen Jahre durchlaufen haben. Verſuchen wir nun, geſtützt auf dieſe wichtigſten Urkunden der Stammesgeſchichte, auf die vergleichende Anatomie einerſeits, die Keimesgeſchichte anderſeits, die geſchicht— liche Entwickelung der Sinneswerkzeuge beim Menſchen und bei den Thieren zu ergründen, ſo müſſen wir zunächſt an einige Hinder— niſſe und Vorſichtsmaßregeln erinnern, die bei dieſem ſchwierigen hiſtoriſchen Unterneh— men ſtets im Auge zu behalten ſind. Wir können nämlich über die ſinnlichen Empfin— dungen anderer Weſen nur nach den Ein— drücken urtheilen, die wir ſelbſt durch unſere eigenen Sinneswerkzeuge erhalten. Daher können wir gar keine Vorſtellung von Sinnesthätigkeiten haben, die wir nicht ſelbſt auszuüben im Stande ſind. So wenig der Blindgeborene eine Ahnung vom Weſen der Farben, ſo wenig der Taubſtummgeborene eine Vorſtellung vom Weſen der Töne haben kann, ſo wenig kann der Menſch überhaupt eine Ahnung von den Sinnesthätigkeiten anderer Thiere haben, die dem Menſchen ſelbſt fehlen. Bekanntlich unterſcheidet man beim Menſchen gewöhnlich fünf verſchiedene Sin— nes-Werkzeuge. Von dieſen nimmt die äußere Hautdecke, die als das Organ des Taſtſinnes und Wärmeſinnes zwei verſchie— dene Empfindungs-Qualitäten vermittelt, die niederſte Stufe ein; Zunge und Naſe, als Werkzeuge der Geſchmacks- und Geruchs— Empfindung, ſtehen auf einer mittleren Bil— dungsſtufe, während Ohr und Auge, die äſthetiſchen Organe des Gehörs- und Ge— ſichts-Sinnes, ſich zur höchſten Stufe der Vollkommenheit erheben. Die vergleichende Anatomie und Phyſiologie lehrt uns aber, daß mit dieſen ſechs verſchiedenen Arten der menſchlichen Sinnesthätigkeit das Gebiet der ſinnlichen Empfindung im Thierreiche keines- wegs erſchöpft iſt. Vielmehr kennen wir bei verſchiedenen Thierklaſſen Organe von ver— wickeltem Bau, mit eigenthümlichen Nerven— Endapparaten, welche zwar Sinnes-Werk— zeuge zu ſein ſcheinen, aber zu keinem der uns bekannten Sinne gehören können. Solche Organe eines ſechſten oder ſiebenten, uns unbekannten Sinnes ſind z. B. becherförmige Nervenorgane in der Haut mancher Würmer, Gallertröhren und Schleimkanäle mit eigen— thümlichen Nervenknöpfen und Bechern in der Haut der Fiſche (Fig. 7). Möglicher— weiſe vermitteln ſolche Organe bei dieſen waſſerbewohnenden Thieren die Wahrnehm— ung gewiſſer Zuſtände des Waſſers, von denen wir Nichts wiſſen. Fig. 7. Zwei becherförmige Sinnes- Organe (b) von unbekannter Bedeutung aus der Haut der Schleihe (Tinca). n Sinnesnerven in der Lederhaut, welche an die langgeſtreckten Sinneszellen der Becher (b) herantreten; zwiſchen letzteren gewöhnliche rundliche Hautzellen. In anderen Fällen ſchließen wir aus den auffallenden Thätigkeiten gewiſſer Thiere, die mit Hülfe der uns bekannten Sinne Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. nicht ausführbar erſcheinen, auf die Anweſen— heit uns unbekannter Sinnesorgane. Wenn wir den grauſamen Verſuch Spallanzani's wiederholen, und Fledermäuſe, deren Augen, und Naſen zerſtört, deren Ohren mit Watte ſind, ſo fliegen dieſe verſtümmelten Thiere trotzdem geſchickt zwiſchen den Stricken durch, ohne anzuſtoßen. Hier iſt entweder ein beſonderes unbekanntes Sinnesorgan im Spiele, oder der Taſtſinn oder der Tem— peraturſinn iſt quantitativ ſo geſteigert, daß er uns als ein beſonderer, qualitativ verſchiedener Sinn erſcheinen muß. Auch der bekannte Ortsſinn der Wandervögel und der Brieftauben, ſo wie viele ſoge— nannte „räthſelhafte Inſtinkte“ niederer Thiere laſſen ſich am leichteſten durch die Annahme beſonderer Sinnesorgane erklären. Es giebt ja vielleicht viele unbekannte Eigen- ſchaften der Naturkörper, von denen wir blos deshalb keine Ahnung haben, weil uns die Empfindungsorgane dafür fehlen. Die Grenzen unſerer Erkenntniß find zunächſt durch die Grenzen unſerer ſinnlichen Wahr- nehmungen beſtimmt. Stets müſſen wir bei ſolchen Betracht— ungen der fundamentalen Thatſache einge— denk bleiben, daß es nicht die Eigenſchaften der Naturkörper ſelbſt ſind, die wir ſinnlich wahrnehmen, ſondern nur die jeweiligen Zuſtände unſerer Sinnesorgane, welche durch Druck, Wärme, Schallwellen, Lichtwellen u. ſ. w. in beſtimmter Weiſe erregt werden. Der leitende Nerv aber, deſſen Ausbreitung im Sinnesorgane den äußeren Eindruck aufnimmt, und der weiter⸗ hin dieſen Eindruck zum Central-Organ, zum Gehirn leitet, iſt in jedem einzelnen Sinneswerkzeuge nur einer beſtimmten Art der Empfindung fähig. Der Sehnerv Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. 25 empfindet nur Lichtwellen, der Hörnerv nur Schallwellen; ebenſo kann der Geruchsnerv nur Geruchsempfindungen, der Geſchmacks— nerv nur Geſchmacksempfindungen vermitteln; niemals aber kann der Sehnerv Töne oder verſtopft ſind, in einem Zimmer fliegen laſſen, in welchem viele Stricke ausgeſpannt | der Hörnerv Farben wahrnehmen; niemals kann die Haut einen Brief leſen oder die Zunge eine Symphonie anhören, wie Spiri⸗ tiſten, Mesmeriſten und ähnliche Betrüger behauptet haben. Auf dieſe Erkenntniß grün⸗ dete der große Biologe Johannes Müller ſeine berühmte Lehre von der beſonderen Lei— ſtungsfähigkeit der einzelnen Sinnesnerven, von ihrer ſpecifiſchen Energie. So bedeutungsvoll nun auch dieſe Lehre von der „ſpecifiſchen Energie“ der Sinnesnerven iſt, ſo erleidet ſie doch durch unſere neuere Entwickelungslehre eine wich⸗ tige Einſchränkung. Denn angeſichts der keimesgeſchichtlichen Thatſache, daß ſich alle verſchiedenen Sinneswerkzeuge ſammt ihren ſpecifiſchen Nerven aus der äußeren Haut entwickeln, müſſen wir zugeſtehen, daß auch die beſondere Leiſtungsfähigkeit der einzelnen Sinnesnerven nicht eine urſpüngliche Eigen- ſchaft derſelben, ſondern durch Anpaſſung erworben iſt. Sehnerv und Hörnerv nicht minder, als Geruchsnerv und Ge— ſchmacksnerv waren urſprünglich einfache Hautnerven, wie ſie es bei niederen Thieren und bei den jüngſten Keimformen der höhe— ren noch heute ſind. Urſprünglich waren alle Empfindungsnerven nur fähig, einfache Veränderungen des Druckes und der Tempe— ratur wahrzunehmen. Erſt allmälig lernten einzelne von ihnen jene Einwirkungen ver- ſtehen, welche durch ſchmeckende und riechende Stoffe hervorgebracht werden; andere aber ſchlugen eine höhere Laufbahn ein und paßten ſich dem Verſtändniß der Schallwellen und Lichtwellen an. So ſind alſo alle die ver— ſchiedenen Sinnesnerven urſprünglich durch 26 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. Arbeitstheilung aus einfachen Haut— nerven entſtanden; und ebenſo müſſen wir die verſchiedenen Sinneswerkzeuge, die ja eigentlich nichts Anderes als zuſammengeſetzte Nerven-Endausbreitungen ſind, als locale Sonderungen oder Differenzirungen eines univerſalen Sinnesorganes, der äußeren Haut, betrachten. Das einfache Taſtgefühl der letzteren, die Empfindung von Druckſchwank— ungen und Wärmeſchwankungen, bildet die Urſprungsquelle für die „ſpecifiſchen Ener- gien“ der höheren Sinnesnerven; auch dieſe haben ſich erſt allmälig hiſtoriſch entwickelt. Dieſe ſtammesgeſchichtliche Erkenntniß wird noch weſentlich erweitert, wenn wir von den niederen Thieren noch weiter hinab— ſteigen zu jenen niederſten Organiſations— Formen, die bald als Urthierchen, Infu— ſorien oder Protozoen bezeichnet, bald als ein beſonderes neutrales Protiſtenreich mitten zwiſchen Thierreich und Pflanzenreich geſtellt werden. Bei dieſen merkwürdigen Urthierchen oder Protiſten, von denen wir hier nur die lebhaften Wimperthierchen, die munteren Geißelſchwärmer, die formenreichen Wurzel— füßler und die wichtigen Amoeben hervor— heben wollen, treffen wir ſinnliche Empfind⸗ ungen auf verſchiedenen Stufen der Ent- wicklung an. Die meiſten ſind nicht allein gegen Druck und gegen Temperatur-Ver⸗ änderungen empfindlich, ſondern auch gegen Licht. Stellt man ein Waſſergefäß, in dem viele ſolche Urthierchen ſich befinden, ſo an das Fenſter, daß der eine Theil des Ge— fäßes im Hellen, der andere im Dunkeln ſteht, ſo ſammeln ſich bald die meiſten Arten an der Lichtſeite an, einzelne Arten aber auch umgekehrt an der dunkeln Seite. Es giebt alſo ſchon unter dieſen mikroſkopiſchen Urthierchen ſowohl Lichtfreunde, als Obſcu— ranten. Manche ſcheinen auch Geruch und Geſchmack zu beſitzen, da ſie ihre Nahrung mit großer Sorgfalt auswählen. Obgleich nun ſo verſchiedene Stufen und Arten ſinnlicher Empfindung bei dieſen kleinen Infuſorien mit Leichtigkeit und Sicher— heit nachzuweiſen ſind, ſo fehlen ihnen doch beſondere Sinneswerkzeuge gänzlich; ja es fehlen ihnen ſogar auch Nerven vollſtändig. Wir ſtehen hier alſo vor der wichtigen That- ſache, daß Sinnesthätigkeit ohne beſondere Sinneswerkzeuge und ohne Nerven möglich iſt. An die Stelle dieſer letzteren tritt als empfindender Körper jene wunderbare form— loſe eiweißartige Subſtanz, die uns unter dem Namen Protoplasma oder orga— niſcher Bildungsſtoff als die allgemeine und unentbehrliche Grundlage für alle Lebens— Erſcheinungen bekannt iſt. Fig. 8. Phacus (longicauda), ein ein- zelliges Infuſorium mit ausgeprägter finn- licher Empfindung. Namentlich dient zum Taſten die bewegliche Geißel am vordern und der fadenförmige Anhang am hintern Ende. Der rothe „Augenfleck“ hinter der Geißel vermittelt Lichtempfindung. Bei den meiſten von jenen Urthier— chen beſitzt der ganze Körper zeitlebens nur den beſcheidenen Formwerth einer einzigen einfachen Zelle, er beſteht alſo blos aus Protoplasma und aus einem Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. davon umſchloſſenen Zellkern, Nucleus. Entweder die ganze ſtrukturloſe Maſſe des Protoplasma, oder nur die oberflächlichſte, oft eigenthümlich geſonderte Schicht deſſelben vermittelt bei dieſen einzelligen Protiſten die ſinnliche Empfindung und vertritt die Stelle der fehlenden Sinnesorgane. Doch beginnt bei Manchen ſchon die Sonderung ſolcher Werkzeuge, indem das Protoplasma an ſeiner Oberfläche ſeine Fäden, Borſten oder Härchen ausſtreckt. Natürlich ſind dieſe vorzugsweiſe den Druckveränderungen des umgebenden Waſſers ausgeſetzt und daher mehr zur Empfindung geeignet, als die übrige Oberfläche des einzelligen Körpers. Während bei dieſen Urthierchen oder Protozoen die einfache Zelle als ſolche alle Lebensthätigkeiten, Empfindung und Beweg— ung, Ernährung und Vermehrung, gleich— zeitig zu vollziehen im Stande iſt, finden wir dagegen bei allen echten Thieren (bei allen Metazoen) den Körper aus mehreren Zellen zuſammengeſetzt und ſeine verſchiedenen Thätigkeiten auf mehrere Zellen-Gruppen vertheilt. Aber auch hier beſteht überall im erſten Beginne ſeiner individuellen Exi— ſtenz der ganze Thierkörper nur aus einer einzigen Zelle, und das iſt die Eizelle. Bei manchen niederen Pflanzenthieren, nament— lich den Schwämmen oder Spongien, be— wegt ſich die Eizelle ſelbſtändig, gleich einer Amoebe kriechend, im Körper umher und äußert dann auch deutliche Empfindung, indem ſie ſich bei Berührung oder Reizung zuſammenzieht (Fig. 9). Der einzellige Urzuſtand des Thierkörpers geht aber gleich nach erfolgter Befruchtung der Eizelle in den vielzelligen über. Gleich im erſten Anfang der Keimes-Entwicklung zer— fällt die Eizelle durch wiederholte Theilung in zahlreiche Zellen. Der ſo entſtandene kugelige Zellenhaufen verwandelt ſich in eine Hohl— Fig. 9. Eizelle eines Kalkſchwammes (Olynthus), welche ſich gleich einer Amoebe bewegt und empfindet. kugel, deren Wand nur aus einer einzigen Zellenſchicht beſteht, und durch Einſtülpung dieſer Hohlkugel entſteht jene bedeutungs⸗ volle Keimform, die wir mit dem Namen Gaſtrula oder Becherkeim belegen. (Fig. 10). Bei allen echten Thieren oder Metazoen tritt im Laufe der individuellen Entwicklung vorübergehend eine Keimform auf, die ſich auf eine ſolche Gaſtrula zurückführen läßt; hingegen fehlt dieſelbe bei allen Urthieren oder Protozoen. Die becherförmige oder eiförmige Ga— ftrula (Fig. 10) umſchließt einen einfachen Hohlraum, die verdauende Magenhöhle (g), und dieſe öffnet ſich durch einen Mund, der zur Nahrungs-Aufnahme dient (o). Die Wand der Magenhöhle wird durch zwei ver— ſchiedene Zellenſchichten gebildet, die ſoge— nannten primären Keimblätter. Die innere Zellenſchicht, das Darmblatt oder Entoderm (ö), vermittelt blos die Er— nährung und den Stoffwechſel des Körpers, aus ihm entwickeln ſich die Ernährungs- Organe. Die äußere Zellenſchicht hingegen, das Hautblatt oder Exoderm (e) iſt für uns von beſonderem Intereſſe. Denn die empfindlichen Zellen, welche daſſelbe zu— ſammenſetzen, vermitteln die Erkenntniß der Außenwelt und ſtellen als Haut der Ga⸗ ſtrula das Sinnesorgan in einfachſter [Form dar. „ Yan Hr 5 OS DN Sr au ® Ye N n e STETS, Ur 85 22 I) Be F e Fig. 10. be e der Oberfläche, B im Längsſchnitt. Gastrula, Darmlarbe oder Becherkeim eines Kalkſchwammes (Olynthus). A von e Aeußeres Keimblatt (Hautblatt oder Exoderm). i Inneres Keimblatt (Darmblatt oder Entoderm). g Urdarm (Magenhöhle). o Mundöffnung. Bei allen Metazoen entwickeln ſich aus dieſem Hautblatt nicht allein die Zellen, welche ſpäter die Haut zuſammenſetzen, ſon— dern auch die Zellen, welche das Nerven— ſyſtem und die übrigen Sinnesorgane bilden. Nervenzellen ſowohl als Sinneszellen ſind daher urſprünglich Abkömmlinge von Haut- zellen; und es war vollkommen zutreffend, wenn ſchon vor dreißig Jahren Remak demgemäß die Hautſchicht des zweiſchichtigen Keims als Sinnesblatt bezeichnete. Während die meiſten Thiere nur raſch vorübergehend in ihrer individuellen Ent- wickelung die Gaſtrula-Form durchlaufen, giebt es doch auch heute noch einige niedere Thiere, die ſich in ausgebildetem Zuſtande nur wenig über dieſelbe erheben. Solche permanente Gaſtrula-Formen ſind die Ga— ſträaden (Physemarien), die niederſten Schwämme oder Spongien, und die hydro— iden Polypen. Unter letzteren iſt nament— lich der gewöhnliche Süßwaſſer-Polyp, Hydra, von beſonderem Intereſſe. Denn obgleich dieſes kleine becherförmige Thierchen gegen Berührung und Reizung, gegen Wärme und Licht ſehr empfindlich iſt, fehlen ihm doch geſonderte Sinnes-Organe eben— ſowohl wie ein Nerven-Syſtem; einzelne Zellen des Hautblattes ſind es, welche deren Thätigkeit beſorgen. Indeſſen treten doch ſchon hier Unterſchiede in der Empfindlich— keit verſchiedener Hautſtellen auf. Insbe— ſondere localiſirt ſich ein feinerer Taſtſinn in einem Kranze von zarten Fühlfäden, Fühlern oder Tentakeln, welche um den Mund herum ſtehen, und welche gleichzeitig als Fangfäden zum Ergreifen der Nahrung benutzt werden. Solche Fühler oder „Tentakeln“ finden ſich überhaupt bei niederen Thieren ſehr verbreitet vor, in großer Mannigfaltigkeit und oft in anſehnlicher Zahl. Bei vielen wirbelloſen Thieren verſchiedener Gruppen, welchen Augen und Ohren fehlen, welche aber trotzdem gegen Licht- und Schall-Wellen empfindlich ſind, ſcheinen die Oberhautzellen der Fühler deren Stelle zu vertreten, ſo z. B. bei den Korallen, Moosthierchen, vielen Würmern. Sehr häufig finden ſich hier an gewiſſen Zellen der Oberhaut der Fühler feine, haarförmige oder borſtenförmige Fortſätze und gerade dieſe haartragenden Hautzellen, die ſich oft auch an anderen Körperſtellen entwickeln, dürfen wir mit beſonderem Rechte als „Sinneszellen“ in Anſpruch nehmen. Denn nicht allein ſind bei jenen niederen im Waſſer lebenden Thieren ſolche Hautzellen, deren Protoplasma ſich in einen feinen, frei in das Waſſer vorragenden Fortſatz verlängert, ganz be— ſonders geeignet, Druckſchwankungen und Temperatur-Veränderungen in dem umge— benden Waſſer als ſolche wahrzunehmen, ſondern ſie erſcheinen auch wohl geeignet, ſchnellere und regelmäßig wiederkehrende Schwingungen des Waſſers als Töne zu empfinden. Es iſt daher wohl möglich, daß die ſehr verbreiteten haartragenden Sinneszellen, die wir auf der Hautoberfläche niederer Thiere antreffen, zum großen Theil nicht blos einfache Taſt- und Wärme— Empfindungen, ſondern auch Schall- Wahr- nehmungen vermitteln, daß ſie bereits An- fänge von Hörorganen ſind. Dieſe Annahme iſt um ſo wahrſcheinlicher, als Taſtſinn und Hörſinn überhaupt ſehr nahe verwandt ſind, und als auch die erſten Entwickelungsſtufen echter Hörorgane durch ſolche haartragende Hautzellen gebildet werden. Die große Schwierigkeit, der wir ſchon hier begegnen, einfache Taſtorgane von den erſten Anfängen wirklicher Hörorgane zu unterſcheiden, iſt von hohem Intereſſe. Denn es zeigt ſich gerade hierin die nahe Ver— wandtſchaft der verſchiedenen Sinnes-Em⸗ pfindungen, und es wird dadurch erklärlich, wie ſich die höheren differenten Sinne ur— ſprünglich aus dem niederen indifferenten Gefühl der äußeren Haut haben entwickeln können. Dieſelbe Schwierigkeit tritt uns Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. bei vergleichender Betrachtung der anderen Sinne entgegen und findet auch hier dieſelbe ſtammesgeſchichtliche Erklärung. Namentlich mit Bezug auf die beiden che— miſchen Sinnes-Werkzeuge, Geſchmacks— und Geruchs-Organ, ſind wir nicht im Stande beſtimmte Angaben über ihre charakteriſtiſche Beſchaffenheit und ihre Ab— grenzung von indifferenten Taſt-Organen zu machen. Fig. 11. Ein kleines Hautſtückchen vom Rüſſel der Fliege (Musca) im ſenkrechten Durchſchnitt. Ein Sinnesnerv (m) tritt an die empfindliche Oberhaut heran, deren Cutieula mit feinen Härchen beſetzt iſt (e). Die Aeſte des Nerven gehen in Gruppen von Sinneszellen (g) über, welche in vor— ragende Sinnes ſtäbchen ( endigen. So finden wir z. B. am Rüſſel der Fliegen (Fig. 11) und an anderen Mundtheilen der Inſekten feine Sinnes- ſtäbchen (s) über die Haut vorragen. Dieſe Stäbchen oder Borſten ſtehen mit Sinnes— Zellen (g) in Zuſammenhang, in welche Aeſte des Sinnes-Nerven (n) übergehen. Wir können aber nicht ſicher ſagen, ob dieſe Sinnesſtäbchen zum Taſten, zum Schmecken, —— 5 —„U ——— —ͤ— 30 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. zum Riechen dienen, oder auch vielleicht gemiſchte Sinnes-Empfindungen ver— mitteln. Denn auch die Geſchmacks- und Geruchs-Empfindung iſt der einfachen Taſt— Empfindung noch ſehr nahe verwandt, und weſentlich nur dadurch verſchieden, daß die chemiſche Einwirkung verſchiedener Körper auf die Sinneszellen von dieſen in ver— ſchiedener Weiſe wahrgenommen, in differente Geſchmacks- und Geruchs-Empfindungen um— geſetzt wird. Beim Geſchmacks-Organ ge— ſchieht die chemiſche Einwirkung durch tropf— bar flüſſige, in Waſſer gelöſte Stoffe, bei dem Geruchs-Organ durch gasförmige, in der Luft feinzertheilte Stoffe; wenigſtens bei den luftathmenden Wirbelthieren, über die allein wir in dieſer Beziehung genauer unterichtet ſind. Es iſt daher auch ſehr zweifelhaft, ob nicht viele Organe, die man bei niederen, im Waſſer lebenden Thieren als einfachſte Geruchswerkzeuge beurtheilt, in der That vielmehr Geſchmackswerkzeuge darſtellen. Eine ſcharfe Grenze zwiſchen Geſchmack und Geruch läßt ſich ebenſo wenig ziehen, als zwiſchen dieſen beiden chemiſchen Sinnen und dem Taſtſinn. Daher gehen auch die Anſichten der Zoologen über die Verbreitung der beiden chemiſchen Sinne bei niederen Thieren ſehr weit auseinander. Viele glauben, daß Ge— ſchmacks- und Geruchs-Empfindungen hier ſehr allgemein verbreitet ſind und nur ſelten ganz fehlen; andere glauben, daß ſie der Mehrzahl der niederen Thiere fehlen. Sicher ſteht ſo viel feſt, daß ſehr viele niedere Thiere ihre Nahrung mit großer Sorgfalt wie echte Feinſchmecker auswählen; und von den Inſekten namentlich wiſſen wir auch, daß ſie zum Theil einen außerordentlich feinen Geruch beſitzen und riechende Stoffe auf weite Entfernungen hin wittern. Aber beſtimmte Organe für die Empfindung ſchmeckender und riechender Stoffe ſind meiſtens mit voller Sicherheit nicht bekannt. Wo wir dieſelben mit einiger Sicherheit kennen, da ſind es nur verſchiedene Stellen der äußeren Hautdecke, deren Zellen ſich der chemiſchen Sinnesempfindung angepaßt haben: Becherzellen zum Schmecken, Stäbchenzellen zum Riechen. Oft finden ſich beſondere Grübchen in der Nähe des Mundes, in denen ſolche Schmeckzellen und Riechzellen angebracht ſind. Selbſt bei den höheren Wirbelthieren und beim Menſchen, wo die Geſchmacks— organe in der Mundhöhle, die Geruchs— organe in der Naſenhöhle liegen, ſind die ſchmeckenden und riechenden Zellen derſelben Abkömmlinge von äußeren Hautzellen. Die Mundhöhle ſammt Zunge und Gaumen gehört ihrem Urſprung nach nicht dem übrigen Ernährungskanal, ſondern der äußeren Haut an, ebenſo die Naſenhöhle. Beide ent— ſtehen durch Einſtülpungen von außen her. Die Schmeckzellen der Zunge und die Riechzellen der Naſe ſtammen alſo in der That nicht von Zellen des inneren, ſondern des äußeren Keimblattes ab. Die Schmeckzellen oder Geſchmacks— Zellen (Fig. 12 a) ſind beim Menſchen, wie bei den übrigen Säugethieren dünne, ſtäbchenförmige oder ſtiftförmige Zellen, welche mit den Endfaſern des Geſchmacks— nerven zuſammenhängen und von breiteren Deckzellen (b) ſchützend umgeben ſind. Dieſe bilden vereinigt zahlreiche Schmeckbecher (Fig. 13) oder becherförmige „Geſchmacks— zwiebeln“, auch „Geſchmacksknospen“ ge— nannt, die auf der Zunge zerſtreut ſind. Im Innern jedes Schmeckbechers liegt ein Bündel von Schmeckzellen, außen umgeben von umhüllenden Deckzellen. Wenn die Nahrung auf der Zunge mit den Schmeck— bechern in Berührung kommt, erfolgt die — ͤ — — ——— Fig. 12. Schmeckzellen von der Zunge Schmeckzellen, unten mit feinſten Endäſten des Geſchmacksnerven zuſammenhängend. eines Kaninchens. a Vier einzelne b Zwei Schmeckzellen mit einer Deckzelle zuſammenhängend. Fig. 13. Vier Schmeckbecher von der Zunge eines Kanin chens (nur die zwei mittleren vollſtändig ausgeführt). Senkrechter Durchſchnitt durch die Zungenoberfläche. Geſchmacks⸗Empfindung durch die Schmeck— zellen. Sehr ähnlich den Schmeckzellen der Zunge ſind auch die Riechzellen oder „Geruchszellen“ in der Schleimhaut der Naſe, ebenfalls ſehr dünne und ſchlanke Zellen, welche ſenkrecht in der Haut-Ober— fläche ſtehen, und deren inneres Ende mit einem feinſten Endfäſerchen des Riech— nerven oder Geruchsnerven in unmittel- barer Verbindung ſteht (Fig. 14, 15). Ge⸗ wöhnlich unterſcheidet man in der Naſen— ſchleimhaut der Wirbelthiere zweierlei Arten von Riechzellen, die möglicherweiſe für die Geruchsempfindung verſchiedene Bedeutung haben. Die dünneren, oft fadenartig dünnen, ſtiftförmigen Riechzellen ſind in der Mitte (wo der Zellkern liegt) ſtark angeſchwollen (Fig. 14 e) und tragen bei den Amphibien am freien Ende ein Büſchel von äußerſt feinen und dünnen „Riechhärchen“. Die dickeren, ſtabförmigen oder cylindriſchen Riech⸗ zellen hingegen (Fig. 14 a, b) tragen keine ſolche Härchen und werden von Manchen für einfache Epithel-Zellen gehalten. Die Naſenſchleimhaut, in welcher die Riechzellen ſitzen, kleidet zwar bei den höheren Fig. 14. Drei Riechzellen aus der Naſe eines Amphibiums (Proteus). In der Mitte eine ſtärkere Cylinderzelle (a, b) ohne Här⸗ chen; zu beiden Seiten derſelben zwei faden- förmige Riechzellen, welche in der Mitte ku— gelig angeſchwollen ſind und am Ende ein Büſchel feinſter Riechhärchen tragen. Fig. 15. Fünf Riechzellen vom Men⸗ ſchen, drei dünnere, ſtiftförmige, und da— zwiſchen zwei dickere, cylindriſche; alle hängen unten mit Endfäſerchen des Riechnerven Wirbelthieren, wie beim EE 25 Wand der Naſenhöhle aus; urſprünglich aber iſt auch ſie ein Theil der äu— ßeren Hautdecke. Denn auch hier ent— ſteht die Naſe in derſelben Form, welche ſie bei den Fiſchen zeitlebens beibehält, in Form von ein paar Grübchen der äußeren Haut. Erſt im Laufe der Keimes-Ent— wickelung rücken dieſe „Riechgrübchen“ (Fig. 2—4 n) allmälig in das Innere hinein, und ebenſo haben ſie auch im Laufe der Stammesgeſchichte dieſelbe Orts-Veränderung vollzogen. Die Riechzellen der Naſe ſind alſo, ebenſo wie die Schmeckzellen der Zunge, hiſtoriſch Abkömmlinge von gewöhnlichen Taſtzellen der äußeren Oberhaut. Wenn man herkömmlicherweiſe zwiſchen niederen und höheren Sinnesorganen unterſcheidet, ſo gebührt dieſe letztere Be— zeichnung eigentlich nur jenen beiden edel— ſten und wunderbarſten Organen des Thier— körpers, die wir als Ohr und Auge bezeichnen. Denn nur das Gehörwerkzeug und das Geſichtswerkzeug erreichen jene ſtaunenswürdige Vollendung des feineren Baues und jene entſprechende Vielſeitigkeit Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. | der Arbeitsleiſtung, welche fie zu den werth— vollſten Inſtrumenten unſeres Seelenlebens macht. Nur das Hörorgan und das Seh— organ ſind die äſthetiſchen Sinneswerk— zeuge, die unſchätzbaren pſychiſchen Inſtru— mente, welche uns die Pforte zu den höch— ſten Gütern des Menſchenlebens, zu Kunſt und Wiſſenſchaft, eröffnen. Während daher die niederen Sinnes— werkzeuge der Druck- und Wärmeempfind— ung, des Geſchmacks- und Geruchsſinnes, überall im Thierreiche verhältnißmäßig ein— fache und einförmige Einrichtungen zeigen, treffen wir dagegen bei den höheren Sinnes— organen des Hörens und Sehens eine Fülle von verwickelten und mannigfaltigen Ein- richtungen an, die unſer höchſtes Erſtaunen erregen. Aber trotzdem ſind auch hier wieder die eigentlichen Vermittler der Empfindung nur veredelte Zellen, und dieſe „äſthe— tiſchen Zellen“, die Hörzellen des Ohres, wie die Sehzellen des Auges, ſind wieder— um ihrem älteſten Urſprunge nach nichts Anderes, als ungebildete und eigenthümlich ausgebildete Zellen der Oberhaut. (Schluß folgt.) 1 Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. Von 85 Winden ſich allmälig aus \ niederſter Stufe zu den höheren heutigen Formen entwickelten, ſo müssen die älteſten Floren aus ſchwim— menden Pflanzen beſtanden haben; denn wurzelbildende Pflanzen ſind bereits höher organiſirt, und die Vorbedingung der Wur— zeln, der humusreiche Felſengrus, kann an⸗ fänglich nicht exiſtirt haben, weil Humus ſich erſt aus organiſchem Detritus bildet, wenn letzterer mit klaſtiſchen Geſteinen ſich vereint. Nicht ſchwimmende einfachſte Pflan— zen, alſo ſchmarotzende Pilze, bedingen auch eine Präexiſtenz von organiſchem Leben, können alſo nicht primitiv ſein. Durch viele Seereiſen zu der Ueber— zeugung gelangt, daß das Meer eine relativ ſehr arme Flora beſitzt und zwar ausſchließlich in ſeichten Meeresbecken nahe dem Strande, eine Flora, die faſt nur aus Tangen mit Haftorganen, anſtatt Wurzeln, mit denen ſie ſich an dem Strand oder an Felſen im Meer feſthalten, beſteht, daß alſo im Ocean Dr. Otto Runtze. ſchwimmende Pflanzen völlig fehlen”) — folgerte ich, daß das Meer früher andere und zwar ſolche Eigenſchaften gehabt haben müſſe, in denen die niedrigſten Waſſerpflanzen, alſo namentlich ſchwimmende, chlorophyllhal— tige Algen leben konnten; letztere finden wir aber faſt nur im Süßwaſſer. Da wir nun an der Richtigkeit der Descendenztheorie nicht zweifeln dürfen, ſo müßte hiernach das Meer früher ſalzfrei geweſen ſein oder aber die Entwickelung der Organismen könnte nur in iſolirten Süßwaſſerbecken ſtattgefunden haben. Letzteres iſt a priori unwahrſcheinlich, weil dann eine parallele verſchiedenartige Ent— wickelung der Organismen ſtattgefunden haben müßte; dies aber anzunehmen, haben wir kein Recht, zumal die älteſten Petre— fakten überall auf der Erde, ſoweit dies *) Das Sargaſſomeer iſt ein Phantaſie— gebild der Reiſenden, denn es beherbergt nur ſehr vereinzelte, abgeſtorbene Bruchſtücke von Sargaſſum, die dem Strande entſtammen, wie ich aus eigener Auſchauung im atlan— tiſchen und ſtillen Ocean weiß. Anm. d. Verf. Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. 34 Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. bekannt iſt, aus gleichen Formen beſtehen. Dagegen erklärt ſich durch ſalzfreie ältere Oceane, welche mit Vegetation reich bedeckt waren, die im allgemeinen ſo gleichartige Verbreitung der Pflanzenfamilien über alle Continente, die jetzt durch ſalzig gewordene Oceane und kalte Zonen organiſch ge— trennt ſind. Meine Unterſuchungen über dieſen Ge— genſtand haben nun zu dem Reſultat ge— führt, daß es nicht nachweisbar iſt, ob Vegetation in iſolirten Waſſerbecken der älteſten Zeiten exiſtirte; hingegen läßt ſich die Vermuthung begründen, daß noch die Flora der produktiven Steinkohlenperiode in den Oceanen wieſen- und waldartig mit Pflan- zen ohne eigentliche Wurzeln exiſtirte, alſo rein ſchwimmend war. Da aber nun die Steinkohlen, ſoweit wir dies zu erkennen vermögen, vorherrſchend aus Gefäßkrypto— gamen und Gymnoſpermen beſtehen, aus Pflanzen alſo, die nie im Salzwaſſer wachſen, ſo müßte das carboniſche Meer noch ſalzfrei geweſen ſein, d. h. mindeſtens ſo ſalzfrei, wie unſere heutigen Süßwaſſer.“) Betrachten wir zunächſt die iſolirten Waſſerbecken, ſo wäre es vielleicht möglich, daß darin Vegetation exiſtirt hätte, aber ſie konnte ſich nicht kohlenlagerartig erhalten; die Kohlenlager der carboniſchen Periode befinden ſich meiſt in vielen Horizonten über einander, zwiſchen denen ſich Sediment— ſchichten von Thonſchiefern, Sandſteinen und Kohlenkalken befinden, in denen nicht ſelten marine thieriſche Reſte enthalten ſind. Viel begründeter wäre es wohl zu ſchließen: Da die nächſten lebenden Ver— wandten der Steinkohlenpflanzen heute nie— mals, weder im Salzwaſſer noch im Süß— waſſer, ſchwimmend vorkommen, ſo iſt dies auch von jenen unwahrſcheinlich. Red. müſſen wir uns ſagen, daß Sedimente nur durch eine enorme Menge von hinzufließen— dem Waſſer veranlaßt ſein können; iſolirte Waſſerbecken können aber nur bei ver— hältnißmäßig geringem Waſſerzufluß be— ſtehen, ſonſt fließen ſie eben über, ſind alſo nicht mehr iſolirt; da nun aber die Steinkohlenflora nur eine ſchwimmende war, wie ich nachher beweiſen werde, ſo konnte ſie nicht in urſprünglich iſolirten Waſſer— becken, die viel Sedimente führenden Waſſer— zufluß erhielten, beſtehen, weil ſie ſonſt mit weggeſchwemmt worden wäre. Die Steinkohlenformation iſt in ver— ſchiedenen Ländern in 3— 4000 Meter Mächtigkeit bekannt; dies widerlegt allein ihre Bildung in iſolirten Waſſerbecken. Eine Bildung in waſſerarmen, durch Con— figuvation des Terrains iſolirten Waſſer— becken, alſo durch eine Sumpflflora, ⸗iſt unter Berückſichtigung dieſer Thatſachen noch viel weniger möglich geweſen. Allerdings giebt es auch Sümpfe ohne terreſtriſche Be— grenzung und dieſe werde ich ſpäter beſprechen. Die Steinkohlenflora war eine aus— ſchließlich ſchwimmende, ſelbſt deren Bäume ſind nicht ausgenommen; letzteres geht zu— nächſt daraus hervor, daß die petrefaktiſchen Reſte der Sigillarien und Lepidodendren keine Wurzeln zeigen. Was man als deren Wurzeln betrachtete und zu Stigmarien rechnete, ſind Schwimmorgane, welche nach Art der verwandten Lycopodien und Sela— ginellen dicht beblättert ſind; es waren horizontal und radial bis 20 Meter aus- gebreitete und vielfach gegabelte Rhizome, die ſchwimmend fähig waren, ſtarke, in die Luft wachſende Stämme zu tragen. Be— blätterte Rhizome können nun nicht in der Erde wachſen;“) wir finden ſolche Pflanzen— In lockerer Walderde kommen thatſächlich dichtbeblättertenhizome, namentlich bei den hier gebilde allenfalls im Sumpf, aber auch dort nur an der wäſſerigen und beſonnten Oberfläche, die von Detritus ziemlich frei iſt. Sumpf aber wird überhaupt erſt durch den Detritus einer Landvegetation bedingt, welche zu jener Zeit fehlte. Die Sigillarien und Lepidodendren ſind ferner ſo rieſige Geſtalten, daß, wenn ſie überhaupt außer den Stigmarien noch echte Wurzeln beſeſſen hätten, letztere proportional groß, ähnlich den Pfahlwurzeln der Dicotylen- bäume, geweſen und dann auch petrefaktiſch | vorhanden fein müßten, da dies doch ſelbſt mitt viel zarteren Pflanzentheilen jener Ge— wächſe der Fall iſt. Wenn dieſe Bäume aber keine Wurzeln beſaßen, womit ſie ſich im Boden feſthalten konnten, mußten ſie | nothwendigerweiſe im Ocean ſelbſt ge— ſchwommen haben; dies iſt aber für Ge— fäßkryptogamen, wie erwähnt, nur im Süß— waſſer möglich. Wir beſitzen heutzutage noch einige rein ſchwimmende, krautige Ge— fäßkryptogamen z. B. Salvinia, Azolla, während Marſilia meiſt im Sumpf wächſt, oft aber auch rein ſchwimmend ſich findet. Die Calamarien, die Equiſeten der Vor— zeit, zeigen wurzelartige Haftorgane wie die Tange und können wie letztere nur hemipelagiſche Pflanzen geweſen ſein; ſie ſaßen an Steinen im Meere nahe dem Strande feſt; es haben ſich von ihnen, als ſie durch den eintretenden Salzgehalt im Meere wie alle Gefäßkryptogamen aus- ſterben mußten, nur ſolche Formen erhalten, die die Haftwurzeln verloren, denn auch ſolche finden wir nie bei Sumpfpflanzen. Da nun ſehr viele Gefäßkryptogamen in Betracht genommenen Gefäßkryptogamen öfter vor. Die weiten Rhizom-Ausbreit— ungen der Steinkohlenbäume können ebenjo- gut auf weite Sumpfbildungen gedeutet | werden, in denen die Bäume ſolcher Halt- | organe bedurften. Anm. d. Red. Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen für den Darwinismus. 35 jetzt im Sumpfe leben, will ich, von der Thatſache vorläufig abgeſehen, daß Sümpfe nicht ohne Landvegetation möglich ſind, weil letztere den Waſſerabfluß verlangſamt und regulirt und zugeſchwemmten Humus liefert, noch auf andere Weiſe zeigen, daß die Steinkohlenflora nicht in Sümpfen vegetirte. Dies läßt ſich aus der Art und Weiſe, wie ſich die Steinkohlenlager finden, beweiſen. Es iſt z. B. das Pittsburger Kohlen- lager über 900 deutſche Quadrat-Meilen ausgedehnt, das appalachiſche Kohlenfeld ſoll ein Areal von 2400 geographiſchen Quadrat-Meilen einnehmen; ferner finden ſich in der Regel zahlreiche Kohlenhorizonte übereinander, in Nova Scotia z. B. 76 Schichten, wechſellagernd mit eben ſo vielen, marine Reſte führenden Sedimentſchichten. Ich behaupte nun, daß eine ſolche Bildung nur ſtattfinden konnte, wenn die Kohlen— flora im Meere wald- und wieſenartig ſchwamm. Heutzutage wäre eine ſolche Flora infolge der Stürme und Meeresſtröm— ungen, die durch Temperaturaustauſch ent— ſtehen, nicht möglich, ſelbſt wenn das Meer ſalzfrei wäre; früher aber war die Erde überall gleichmäßig warm. Nur ſo konnten ſich durch ruhiges, langſames Ab— lagern der abgeſtorbenen Pflanzen, ähnlich der Torfbildung aus Sphagnum, über große Flächen ausgedehnte, meiſt gleichmäßig dicke und parallelſchichtige Kohlenlager bilden, wenn abwechſelnd die zur Kohlener— haltung nöthigen Sedimente, die klaſtiſchen Geſteine, zugeſchwemmt wurden. Bisher gab es zwei Hypotheſen über Kohlenlagerbildung, die ſich beide leicht widerlegen laſſen. Die erſte lautet, die Bäume ſeien zugeflößt worden; daher der fehlerhafte Name Kohlenflötz. Wenn dies der Fall wäre, ſo könnten die Bäume ſich nur vereinzelt in den gleichzeitig zu— 36 Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. | geſchwemmten Sedimenten finden, keineswegs lagerartig oder gar in dünnen, gleichdicken, weit ausgedehnten und ſedimentfreien Schich— ten; dieſe Hypotheſe ſtützt ſich auf keine bekannte Thatſache; daß ſich vor den Münd— ungen großer Ströme, z. B. dem Miffiffippt, Kohlenlager bilden ſollen, iſt nur eine Vermuthung. Vergeſſen wir doch nicht, daß die Sedimente meiſt über und unter den Kohlen ſich finden, die Kohlen ſelbſt aber meiſt ſedimentfrei ſind. Wo ſollen aber die Bäume herge— kommen ſein, da es damals, wie ſich aus dem Folgenden ergiebt, noch keine Landbäume gab? Die Landbäume ſind vorherr— ſchend Dicotyledonen; letztere haben eine ſtarke Pfahlwurzel, mit der ſie ſich im Land feſthalten, und fehlen in der carbo— niſchen Zeit noch vollſtändig; die pfahl— wurzelloſen Coniferen und Palmen waren urſprünglich anſcheinend Waſſergewächſe, die ſich ſpäter dem Sumpf- und zum Theil dem Landleben anpaßten; ſie ſind heutzutage in den Tropen noch vorherrſchend Sumpf— bäume. Coniferen lieferten das Hauptma— terial zu den ſeltneren tertiären Kohlen und Braunkohlen, verſchwindend wenig zu den Steinkohlen der produktiven carboniſchen Zeit. Die andere Hypotheſe erklärt die Koh— lenvegetation als eine Sumpfflora, in Aeſtuarien wachſend; dies hat viel Wahr— ſcheinlichkeit für ſich, weil die der Kohlen— flora verwandten Pflanzen oft Sumpf— pflanzen ſind; aber wie ſind die Sedimente mit Meeresthieren in eine ſolche Flora ge— langt? Selbſt Sedimente ohne Meeresthiere konnten nicht dahin kommen, denn wo viel Waſſer zufließt, hört der Sumpf auf. Die zweite Hypotheſe ſagt nun, daß durch Bodenſenkungen die Meeresſedimente mit Thieren in die Sumpflflora gebracht worden ſeien; dies entſpricht aber nicht den uns bekannten Thatſachen. Ein einziges Mal hätte es wohl ſtattfinden können, dann aber wäre durch den Salzgehalt der Oceane (denn das Meer ſoll ja ſtets ſalzig geweſen ſein; wenn es ſalzfrei war, brauchen wir ja dieſe Hypotheſe nicht!) die Vege— tation vollſtändig vernichtet worden. In— deſſen es giebt meiſt viele Kohlenhorizonte über einander z. B. in Nova Scotia 76. Sechs und ſiebenzig Mal alſo hätte ſich dieſe Flora an derſelben Stelle, trotz ſalzig geworde— nem Sumpf, wieder bilden müſſen und das ziemlich ſchnell und außerordentlich gleich— mäßig. Iſt doch von fünf Kohlenſchichten im Mittel etwa erſt eine abbauwürdig! Die Erde ſoll ſich — man verzeihe mir den Vergleich — wie ein Blaſebalg 76 Mal gehoben und geſenkt haben und dies ohne auffallende Schichtenſtörung und unter Bild— ung von parallelen Kohlenhorizonten? Dieſe Hypotheſe iſt eine Multiplication von Une wahrſcheinlichkeiten. Geht ſchon hieraus hervor, daß die Kohlenfelder weder durch zugeflößte Bäume, noch durch repetirende Bodenſchwankungen aus einer Sumpfvege— tation ſich bilden konnten, ſo wird beides noch außerdem dadurch widerlegt, daß ſich viele Bäume aufrecht ſtehend in ungleichem Niveau nebeneinander in den Sediment— ſchichten eingebettet finden und dies iſt nicht ſelten in mehreren Horizonten über einander der Fall; ſie müſſen alſo in den noch weichen ſchlammigen Sedimentablagerungen langſam und zu ungleicher Zeit eingeſunken ſein. Bei zugeſchwemmten Dicotylenbäumen, die oft ſpecifiſch ſchwerer als Waſſer ſind, wäre es vielleicht und zufällig möglich, daß einmal ein Baum aufrecht im Waſſer ver— ſinkt, keineswegs aber faſt regelmäßig, wie z. B. in Nova Scotia, wo in achtzehn Horizonten über einander aufrechte Stämme häufig ſind. Da Dicotylen aber auch zu 2 N a Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. 37 jener Zeit noch nicht exiſtirten und die Kohlenflora nur kryptogame und wenig gymnoſperme Bäume beſeſſen hat, die ſtets leichter als Waſſer ſind, ſo iſt ein derar— tiges regelmäßiges Verſinken nur erklärbar, wenn die Stämme aufrecht ſchwimmend, abſterbend, allmälig Waſſer aufſaugten und dann langſam und ruhig dort unterſanken, wo ſie ſelbſt wuchſen. Auch die abge— ſtorbenen Blätter und ſchwimmenden Sten- gel in ſtehenden Gewäſſern verſinken heut— zutage noch in ähnlicher Weiſe und häufen ſich dort ſchichtenartig an, wie es der Koh— lenbildung entſpricht; nicht aber iſt dies in bewegten Wäſſern möglich. Wir dürfen alſo aus den Lagerungs— verhältniſſen der Kohlen und den wurzel— loſen, beblätterten Schwimmorganen der Steinkohlenbäume nur folgern, daß die Kohlenflora im Meere ſelbſt ſchwamm, und dann muß das Meer ſalzfrei geweſen ſein. Dies ſchließt natürlich nicht aus, daß auch in Aeſtuarien, in ſalzfreien Lagunen eine üppige Vegetation herrſchte, aber ſie veran— laßte keine Kohlenfelder. Wenn wir heutzutage nahe dem ſalzige— ren Meere Brackwaſſerlagunen finden, ſo beruht dies darauf, daß jetzt die meiſten Flüſſe Jahr aus Jahr ein einigermaßen conſtante Waſſerfülle beſitzen, was eine Folge der Landvegetation und des land— bedeckenden Humus iſt. Das ſind aber zwei Erſcheinungen, die wir zur Kohlen— zeit als fehlend betrachten müſſen. Wie ſich Humus und Landvegetation bildete, werde ich ſpäter zeigen, daß fie aber zur Kohlen- zeit noch fehlten, beweiſt die Thatſache, daß die Kohlenfelderbildung nicht ununterbrochen und gleichmäßig fortgedauert hat, was doch der Fall ſein müßte, falls ſie durch Land— bäume veranlaßt worden wäre. Die Rieſen— bäume der Kohlenflora ſind eben ausge— ſtorben, weil fie nur im Meere wuchſen, weil das Meer ſalzig wurde, weil ſie wurzellos und zu groß waren, um auf das Land überſiedeln zu können. Wären ſie Land- oder Landſumpfbäume geweſen, ſo hätten wir keine Erklärung, daß ſie gänzlich untergingen: letzteres wäre um fo weniger möglich geweſen, als ſie bereits durch Holzſtoff und Korkſtoff ſtark geſchützte Pflanzen waren. Pflanzen aber mit reichen Schutzmitteln ſind weder der Variation, noch dem Untergang ausgeſetzt, ausgenom— men, wenn ein lebensfeindliches Element, wie der Salzgehalt des Meeres, hinzutritt, dem ſie nicht ausweichen können. Die Lebensbedingungen für Pflanzen des Feſt— landes ſind aber ſeit jener Zeit, wenigſtens in den Tropen, faſt kaum verändert wor— den; wenn Lepidodendren und Sigillarien Landpflanzen geweſen wären, müßten ſie noch heute exiſtiren. Erſt nachdem die Landvegetation ſich reichlich entwickelt hatte, waren conſtante Flüſſe möglich; wo das Regenwaſſer über nackte Felſen abläuft, giebt es nur perio— diſche Flüſſe; aber conſtante Flüſſe vermö— gen nur neben ihren Ufern durch Waſſer— ſtauung Landſümpfe zu veranlaſſen, etwa wie die Sumpf⸗Cypreſſenwälder neben dem Mif- filfippt, welche mit vicariirenden Arten und Genera der Braunkohlenflora Deutſchlands bewachſen ſind. Zwiſchen der Braun— kohlenbildung und der produktiven car— boniſchen Periode ſind enorm kohlenarme Zeiten vergangen, eine Thatſache, die ſich nur fo erklären läßt, daß die Stein— kohlenflora nicht terreſtriſch oder paludos war, und daß die paludoſe Braunkohlen⸗ flora erſt durch die allmälige langſame Entwickelung einer Landvegetation bedingt war. Uebrigens kann die Bildung der Braunkohlenlager auch nur dort ſtatt— 38 gefunden haben, wo die Braunkohlenflora ſelbſt wuchs, weil den Braunkohlenlagern oft Schichten von Laub und einer Frantartigen Sumpfvegetation unterlagern, die von der heutigen wenig abweicht; eine Bildung durch Flötzung iſt alſo auch hier abſolut ausge— ſchloſſen. Wir ſind mithin zu dem Ausſpruch berechtigt: Alle Kohlenlager bildeten ſich dort, wo ihre Pflanzen ſelbſt wuchſen. Mit der Annahme ſchwimmender Bäume erleidet allerdings die correlative Reconſtruk— tion vorweltlicher Organismen aus petre— faktiſchen Reſten einen argen Stoß; kennen wir doch jetzt keine ſchwimmenden Bäume mehr! Indeß, wir haben auch keine Parallele für mit amphiconiſchen Wirbeln und Zähnen verſehene Vögel, wie Baptornis und Ar— chaeopteryx. Ebenſo merkwürdige Geſtalten find die Stigmarien; aber nicht alle Stigmarien ſind wurzelartige beblätterte Schwimmorgane der Lepidodendren und Sigillarien, denn manche Kohlenlager beſtehen faſt nur aus ihnen, wäh— rend andererſeits der Zuſammenhang der ſtigmarienartigen „Wurzeln“ mit dem Stamm oft und zweifellos nachgewieſen iſt. Wir haben demzufolge die echten Stigmarien als die Vorläufer der Kohlenbäume zu betrach— ten. Stigmarien aber ſind ſo eigenthüm— liche, große, dichotome Pflanzen, daß ſie nur im Meere ſelbſt wachſen und ſich dort wieſenartig ausbreiteten konnten; nur epi— phytiſche, aber zwergige Lycopodien ſind ihnen im Habitus entfernt ähnlich. Oder hätten etwa ausſchließlich ſolche große Pflan— zenformen, ohne zwiſchenwachſende Bäume und auf dem Lande kriechend gedacht, gleich— ſchichtige Kohlenhorizonte veranlaffen können? Wir haben durch einen üppigen Pflanzen— wuchs, der bis zu Anfang der Tertiärzeit in den windſtillen, anfänglich ſalzfreien, ſpäter ſalzarmen Oceanen vorhanden war, krebſe u. ſ. w. auch nicht in einer einzigen Species heute in ſalzfreiem Waſſer leben, ein Umſtand, der nach zwei Seiten hin das junge Leben jener Hypotheſe bedroht. Wie kommt es, muß man fragen, daß ſich ſämmtliche Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer undzſeine Conſequenzen für den Darwinismus. nicht blos eine Erklärung, daß die älteſten Petrefakten allenthalben gleich ſind, daß die Pflanzenfamilien im Allgemeinen ſo gleich— artig verbreitet vorkommen, daß die Stein— kohlenbildung unterbrochen wurde: wir kön— nen uns nun auch erklären, daß die nie— drigſten Vertreter vieler Waſſerthier- und Waſſerpflanzen-Familien vorherrſchend Süß— waſſerformen ſind, daß die meiſten Süß— waſſerfiſche zu Ordnungen gehören, welche | man als ältere anzuſehen berechtigt ift, wie die Dipnoi, die meiſten Ganoiden und Physostomi, von denen ſich Formen in der alten und neuen Welt finden, was doch nicht erklärlich wäre, falls die trennenden Meere ſtets ſalzig waren; ſind die Ganoi— den doch außer den Selachiern bis zur Trias die einzig vertretenen Ordnungen in den Oceanen und nehmen im Oolith und in der Kreide beträchtlich ab.““) Wir vermögen ferner aus der urſprüng— lichen Süßmeervegetation das Ausſterben je vieler gut geſchützter Organismen, nicht ) Anm. d. Red. Dagegen ſteht der Hypotheſe vom ſalzfreien Urmeer die ſehr ge— wichtige Thatſache entgegen, daß die Haupt- vertreter der älteſten Fauna: Korallen, Bra— chiopoden, Stachelhäuter, Cephalopoden, Ur— Thiergeſchlechter an das Salzwaſſer, das ſie doch durch ihre Kiemen ſtrömen laſſen müſſen, gewöhnt haben, während die Pflanzen, die nur darauf ſchwimmend gedacht werden, von der langſamen Verſalzung, die ihnen doch höchſtens das Schwimmen erleichtern konnte, vernichtet worden ſein ſollen? Und wie kommt es, daß jene Tauſende von Arten angeblicher Süßwaſſer-Thiere niemals und in keinem einzigen Beiſpiele () in Süßwaſſer— Becken übergeſiedelt ſind? blos der rieſigen Kohlenbäume und der Saurier, als das Meer ſalzig wurde, ſon— dern z. B. auch der niederen Pflanzen zu erklären. Da letztere nur Waſſerverbreit— ungsmittel und zoogame Befruchtung im Waſſermedium beſaßen, find von ihnen uur ſolche erhalten worden, die zufällig durch in ſpäteren Perioden entwickelte Landthiere verſchleppt wurden, oder aber ſolche, deren Befruchtung und Samenverbreitung ſich dem Luftleben anpaßten. Iſt uns doch von den Uebergangsſtufen von Algen zu Mooſen, Farnen, keine einzige Mittelform überkommen, und hat ſich doch von den zahlloſen, früheren, ſchwimmenden Farnen faſt nur Azolla und Salvinia in die Jetzt— zeit gerettet. Wir begreifen nun den Unter— gang ſo zahlloſer intermediärer Pflanzen und Thiere, die, vom darwiniſtiſchen Stand— punkt betrachtet, exiſtirt haben müſſen; denn nur nahe den Mündungen großer Flüſſe, wo ſich Sedimente ablagerten, war Petrefaktenbildung möglich, während wahr— ſcheinlich das geſammte Weltmeer mit ſchwimmenden Wäldern und Wieſen bedeckt und dieſe von Thieren bevölkert waren. Da Kohlenfeldererhaltung ohne Sediment— bedeckung unmöglich iſt, und da wir Koh— lenfelder von 900 — 8800 geographiſchen Quadratmeilen Ausdehnung kennen, die alſo ebenſo großen Waſſerwäldern entſprechen, ſo dürfen wir die allgemeine Verbreitung der oceaniſchen Wälder und Wieſen nicht bezweifeln; ſie konnten ſich eben nur zu einem ſehr kleinen Theile als Kohle er— halten. Wir verſtehen den Untergang dieſer üppigen Floren und Faunen durch das allmälig ſalzig werdende Meer, dem ſich nur wenig Organismen anpaßten, ſo daß heute die eigentlichen Oceane faſt ausge— ſtorben ſind — ich wiederhole es, die Sargaſſowieſen ſind Phantaſiegebilde — Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen für den Darwinismus. 39 und nur in flachen Meeresbecken ein gegen früher verſchwindend geringes organiſches Leben herrſcht. Der heutige eigentliche Ocean iſt äußerſt arm an Thieren, während doch die Petre— faktenkunde theils durch ungeheure Muſchel— gebirge lehrt, theils durch die fehlenden Mittelſtufen zu hoch entwickelten und ſo verſchiedenclaſſigen Sauriern nur ahnen läßt, daß die Meeresfauna früher eine ungeheure war: fie ſtarb aus Mangel an Pflanzennahr— ung aus. Wurden nach der carboniſchen Zeit infolge des ſalziger werdenden Meeres Pflanzen ſeltener und dadurch auch die Pflanzenfreſſer, jo fehlte ſchließlich auch die thieriſche Nahrung für die marinen Raub— thiere, namentlich die Saurier. Es iſt uns durch die urſprünglich ſchwim— mende und doch zu großen Formen ent— wickelte Vegetation erklärlich, daß die di— rekten Nachkommen derſelben, Kryptogamen, Gymnoſpermen und Monocotylen, die ſich dem Lande anpaßten, Eigenſchaften von Waſſerpflanzen zeigen, z. B. die ſchmalen, parallel⸗nervigen Blätter, das Fehlen einer Pfahlwurzel, das leichte ſpezifiſche Gewicht ihrer Holztheile. Auch werde ich noch zu zeigen verſuchen, daß eine ſo große Kluft, wie ſie zwiſchen Monocotylen und Dicotylen beſteht, nur durch die Ueberſiedelung mancher epiphytiſcher Zwergpflanzen des Waſſer⸗ waldes nach dem Lande erklärlich iſt. Noch erwähnen möchte ich, daß wir die Verwitterungsprodukte der Maſſengeſteine in Thonen und Sanden erkennen, daß aber die bei Verwitterung entſtehenden waſſer⸗ löslichen kohlenſauren und huminſauren Natronverbindungen fehlen würden, wenn wir nicht deren allmälige Anſammlung in den Oceanen als Thatſache nachweiſen könnten. Das Endprodukt der natürlich ftattfindenden desfallſigen Proeeſſe iſt ſtets 40 Kochſalz, wozu Apatit, der im Urgeftein häufig ein mikroſkopiſcher Beſtandtheil iſt, das Chlor liefert. Ich kann viele dieſer Punkte hier nicht ſo ausführlich erörtern, als ich bereits in einem beſondern Werke: „Die Schutzmittel der Pflanzen gegen Thiere und Wetterungunſt und die Frage vom ſalzfreien Urmeer,“ Leipzig 1877 (A. Felix) gethan, und werde daher nur einige Gegen ſtände noch berühren. Eine approximative Berechnung aus dem Salzgehalt vieler Flüſſe — denn abſolut ſalzfrei iſt wohl kein ſogenanntes Süß— waſſer — ergab, daß aus ihrem mittleren Gehalt von 0,00001 es ungefähr 15 Millionen Jahre gedauert haben dürfte, bis die 3 ½ ¾ Salzgehalt der heutigen Oceane ſich angehäuft haben. Sind ſolche Berech— nungen auch nur mit Vorſicht aufzunehmen, ſo beweiſen ſie doch, daß der Salzgehalt ſich im Meere ſtetig anhäufen mußte, da es keinen beſtändigen Salzverluſt der Oceane giebt, ferner, daß das Weltmeer viel ſalz— reicher ſein müßte, falls es von Anfang an ſchon ſalzig geweſen wäre. Daß die Oceane im Anfang ſalzfrei waren, ergiebt ſich auch aus der Thatſache, daß die uns bekannten Urgeſteine nicht Kochſalz als trockenen Beſtandtheil enthalten und auch nicht neptuniſch entſtanden oder ausgelaugt ſein können, daß ſie urſprüng— lich glühend (aber nicht feuerflüſſig) waren, daß alſo der Regen nach ihrer Erkaltung nur ſalzfreie Oceane veranlaſſen konnte. Doch die Entſtehung der Urgeſteine möchte ich in einem beſonderen Aufſatz behandeln. Eine fernere Beſtätigung, daß die Steinkohlenbäume oceaniſche Pflanzen waren, ergab ſich aus dem Vorkommen der verkieſelten Hölzer. Wie ich zuerſt an der Hand von Beobachtungen nachwies, bilden ſich ver— kieſelte Stämme nur durch capillariſch auf— Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen für den Darwinismus. wie man bisher glaubte. Wenn nun die Kohlenbäume bereits terreſtriſch geweſen wären, oder wie manche Coniferen in mäßig feuchten Sümpfen wachſend, ſo müßte es auch aus jener Zeit verkieſelte Bäume geben. Dieſe aber finden ſich erſt häufig im Rothliegenden, trotzdem Geyſirs früher viel häufiger waren, wie von ihnen herrührende Kieſelhydrate (Opale) beweiſen. Doch ſollen bereits in der Sigillarienzone Nordböhmens verkieſelte Araucariten vor— kommen. Es beweiſt dies nur, daß neben der marinen carboniſchen Flora auch eine paludoſe Strandflora ſich entwickelt hatte, die weſentlich aus Coniferen, welche damals noch ſelten waren, beſtand, und daß die Natur keine Sprünge macht. Iſt es nicht eine Inconſequenz in den bisherigen Anſchauungen, daß die carbo— niſchen Pflanzen auf dem Lande gelebt haben ſollen, während es keine echten Landthiere gab, und daß alle damaligen Thiere bis auf einige Amphibien im Meer lebten, wo es nur Tange, alſo nicht mehr Vegetation als jetzt, gegeben haben ſollte! Jetzt dürfen wir an— nehmen, daß ſie an gleichen Orten exiſtirten und die reiche Meeresflora eine reiche Meeresfauna ernährte, daß in den Meeres— wäldern ſelbſt ſogar die älteren Amphibien, ſteigendes Kieſelwaſſer von Geyſirs in auf— recht ſtehenden Bäumen, alſo nicht im Waſſer, Reptilien, Inſekten, ſich entwickelten und aufhielten, daß je mehr ſich die oceaniſchen Wälder und Wieſen lichteten, indem zu— nächſt die empfindlicheren Pflanzen durch den Salzgehalt verſchwanden, ſich nur z. Th. über Waſſer lebende Seeraubthiere mit ſol— chen Eigenſchaften erhielten, mit denen ſie be— fähigt waren, große Diſtanzen auf dem Meer zu überwinden, um ſich zu ernähren. Denn es iſt ein Grundgeſetz, daß die Thier— welt nicht ohne Pflanzen beſtehen kann. a RE ne Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. 41 Doch ich bin nicht Zoolog, um dies weiter ausführen zu können. Nur eine Reflexion ſei mir hier erlaubt: ich fand in den Tropen die Strandnäheflora ſtets am reichſten mit Schutzmitteln gegen Thiere z. B. Stacheln, Gifte verſehen, und gerade dieſe Flora ift zur Zeit am wenigſten der Ver— folgung der Thiere ausgeſetzt. Ließe ſich das nicht ſo erklären: Als die dickhäutigen, marinen Pflanzenfreſſer minder Nahrung in den ſalzig werdenden Meeren fanden, erhielt die Strandflora größere Verfolgung, da ſich die Seethiere nur allmälig dem Landleben anpaſſen konnten. Viele marine Dickhäuter ſind vielleicht nur ausgeſtorben, weil ihr Skelet wohl fähig war, die Maſſe Fleiſch im Waſſermedium zu ertragen, nicht aber im Luftmedium, ſo daß ſie ſich dem Landleben nicht anpaßten; halten ſich doch alle Pachy— dermen — mit Ausnahme des Elephanten, und auch der iſt Sumpfliebhaber — vor— herrſchend im Waſſer auf, und auch vom hinterindiſchen Büffel, der genau dasſelbe dicke, graue, faſt haarloſe Fell hat, habe ich es unzählige Mal geſehen, daß er alle ihm erlaubte Zeit im Waſſer zubringt. Ich will nun als Botaniker einige Conſe— quenzen in Anſchluß an die vielen Thatſachen, welche die oceaniſche Vegetation beweiſen, be— treff der einheitlichen Weiterentwicklung ziehen. Die Gefäßkryptogamen haben zoogame, nur im Waſſermedium mögliche Befruch— tung ähnlich den Algen, aus denen ſie ſich entwickelten (worin ich mit H. Müller- Lippſtadt übereinſtimme“) und dies auch gleichzeitig und unabhängig in einer frü- heren Arbeit erörterte). Alle Pflanzen waren urſprünglich ſchwimmend, keine hatte andere Verbreitungsmittel als im Waſſer— medium ſelbſt; es ſind daher die wichtigſten Fragen: Wie ſiedelten fie nach dem humus— Siehe Band I. S. 103 dieſer Ztſchrft. Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. freien Lande über, und wie bildete ſich der Humus? Zu deren Beantwortung muß man die Geſetze der Pflanzenſchutzmittel und die davon abhängige Weiterentwickel— ung der Organismen in Wechſelwirkung mit der Möglichkeit der carboniſchen Petrefak— tion zu Rathe ziehen, wobei die folgenden Punkte in Betracht kommen: 1. Variabilität der Pflanzen (reſp. der Organismen) ſteht in umgekehrter Propor- tion zu deren Schutzmitteln und in gerader Proportion zu den Verfolgungen bez. Ent- wickelungshinderniſſen (ſeitens der Thiere oder Wetterungunſt). 2. Die Möglichkeit der carboniſchen Pe- trefaktion ſteht in gerader Proportion zu den wichtigſten Schutzmitteln (Gifte aus⸗ genommen). Kohlenbildung iſt von der Ueberlagerung luftabſchließender Sedimente bedingt; Humus entſteht leichter, aber was ſchnell verweſt, eignet ſich auch wenig zur Humusbildung. Aus der Wechſelwirkung obiger zwei Ge— ſetze ergeben ſich folgende Erfahrungsſätze: 3. Reich geſchützte Pflanzen variiren wenig oder nur in unweſentlichen Merk— malen; werden fie in total andre Lebens- bedingungen verſetzt, ſo gehen ſie ohne Nach— kommen zu Grunde, aber ihre petrefaktiſche Erhaltung iſt am leichteſten möglich. 4. Wenig geſchützte Pflanzen variiren ſchnell und hinterlaſſen ſtarkmodificirte, beſſer geſchützte Nachkommen, ohne daß die früheren Zwiſchenformen petrefaktiſch erhalten bleiben. 5. Primitive Pflanzen ſind ſchutzmittel⸗ los und erhalten ſich gar nicht petrefaktiſch. 6. Die Möglichkeit der Petrefaktion ſtei— gerte ſich mit der durch Verfolgung bedingten aufſteigenden Entwickelung der Organismen im Verlauf der geologiſchen Perioden. 7. Variable Pflanzen, ſpeciesreiche Ge— nera oder Claſſen ſtehen meiſt in umgekehrter Proportion zu ihrem quantitativen Bor- kommen. 8. Wenig variable, alſo gutgeſchützte Organismen ſind meiſt der Anzahl nach reichlich vorhanden. Es kann nicht meine Abſicht ſein, dieſe Sätze hier in einem kurzen Aufſatze zu begründen; ſind ſie richtig, ſo müſſen ſich alle Erſcheinungen in der lebenden Natur damit vereinbaren laſſen. Ich erkläre nun die Ueberſiedelung von Pflanzen aus dem Ocean nach dem Feſt— lande wie folgt: Waren urſprünglich nur Pflanzen mit ſubmerſer Befruchtung vor⸗ handen, noch zarte Pflanzen, die den An— griffen der zahlreichen ſubmerſen Meeres- thiere ſehr ausgeſetzt waren, ſo hatten diejenigen neuentſtehenden Formen die Bedingung beſſe— rer Erhaltung, deren Früchte (Sporen) über dem Waſſer reiften, alſo ſolche, die Sporogonien bildeten, wie fie die Gefäßkryp— togamen beſitzen; in weiterer Folge ſolche, deren Befruchtungsorgane ſich dem Luft- leben anpaßten, was wir zuerſt bei einigen Mooſen und bei den Coniferen finden. Be— trachten wir zunächſt die Sporogonien- pflanzen, deren Befruchtung ſelbſt nur zoogam im Waſſer ſtattfindet. Waren die Algen im Meer fadenförmig wie die Con- fervaceen oder thallusartig wie die Ulvaceen geworden, ſo mußten ſie, wenn ſie über Waſſer ſich weiter entwickelten — die Con- ferven zu Mooſen und die Ulven zu Leber— mooſen und Gefäßkryptogamen, entsprechend ihren Vorkeimen, dem Protonema und Prothallium —, ſich in Stamm und Blatt differenziren; es giebt jetzt noch niedere, ſogar einzellige Algen, die Siphoneen, welche bei dieſer Entwickelung ſtehen blieben. Von ſupermarinen Pflanzentheilen blieben auch nur ſolche erhalten, die Holz entwickelten, wo— durch fie aufrecht bleiben konnten. Die Cala- 42 Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen für den Darwinismus. marien lagerten ſogar als beſſeres Erhaltungs— mittel Kieſelſäure in die Zellen ein. So mag Holzſtoff entſtanden ſein; als er vorhanden war, erwies er ſich, wie die Kieſelſäure, als ein Schutzmittel für die Pflanzen. Schutz⸗ mittel ſind Anpaſſungen gegen die Thierwelt oder Wettersungunſt. Es gilt übrigens von allen ſogenannten Anpaſſungen, daß ſie aus andren Urſachen entſtanden, als um deren willen fie ſpäter die Erhaltung der Pflan⸗ ze förderten; es hat ſich z. B. keine Blume wegen des dazu paſſenden Inſektes gebildet. Die Gefäßkryptogamen ſind nun Spo⸗ rogonen-Pflanzen; ihre Sporen können vom Wind nach dem Lande getragen werden, aber ihre Befruchtungsorgane ſind noch ſubmers auf der Unterſeite eines ulvenartigen Prothallium; hier ſchwimmen die Antheri⸗ dien nach den Archegonien, copuliren und dann entſteht der in die Luft wachſende Fruchtſtänder, das Sporogonium, das man im alltäglichen Leben nun als Farnkraut bezeichnet. Wir haben kein Recht, anders zu folgern, als daß auch die rieſigen Bäume der Sigillarien und Lepidodendren nur ſolche Sporenträger, Fruchtſtänder waren; ſie hatten noch keine Blüthen. Wenn nun deren Sporen auf das Land getragen wurden, ſo konnten ſie wohl in Pfützen keimen und copuliren, um dann das Sporogonium zu entwickeln, letzteres aber konnte ſich auf der Ueberfluthung durch Regen ausgeſetztem nack— tem Felſenboden zunächſt nicht erhalten, da die Sporogonien wurzellos waren; ſie vermochten nicht auf dem Lande zu wachſen, da es da— ſelbſt noch keinen Humus gab. Die rieſig entwickelten kryptogamen Formen der pelagiſchen Kohlenflora konnten ſich nicht gleich dem Landleben anpaſſen; daß ſie nun nicht in größere iſolirte Süß— waſſerbecken überſiedelten, ſcheint dafür zu ſprechen, daß ihre Sporen nicht windleicht rn | Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. waren; vielleicht auch waren bei ihnen die | Blätter ungenügend gegen die trockne Land— luft geſchützt und deshalb ſind etwaige Ueber— ſiedler nicht zur Fruchtreife gelangt. Da- gegen gab es ſicherlich epiphytiſche Farne und Mooſe, die früher die Oceanwälder ebenſo reich bevölkert haben mögen, wie ſie heute namentlich auf den Bäumen der Tropenwälder ſich finden; ihre Entwickel— ung erklärt ſich leicht; waren ſie doch da— durch, daß ſie dem Waſſer entſtiegen, vor der Verfolgung der damals faſt nur ſchwimmenden Thiere geſchützt. Ihre wind— leichten Sporen konnten in kleinen Waſſer— anſammlungen keimen und copuliren und ihre an Formen kleinen und dabei mit Luftwurzeln verſehenen Sporogonien waren im Stande, ſich im Felſengrus mit dieſen Wurzeln feſtzuhalten und fo die erſte Humus⸗ ſchicht zu veranlaſſen, wie wir dies von epiphytiſchen Lycopodien, Selaginellen und Mooſen noch heutzutage oft beobachten können. Selbſt wenn die ſchwimmenden großen Gefäßkryptogamen auch trichomartige Wurzeln gehabt hatten, wie wir dies ja bei Azolla, Salvinia finden, find dieſe doch viel zarter als die der Epiphyten und konnten im zeitweis trocknen Felſengrus nicht exiſtiren, während dies den epiphy— tiſchen Wurzeln möglich iſt. Bei vielen Mooſen treffen wir bereits überirdiſche Befruchtungseinrichtungen, Peri— chätien und Perianthien, die eine überirdiſche Waſſeranſammlung und zoogame Befrucht— ung ermöglichen und eine Uebergangsſtufe zu den Blumen bilden; ſie konnten noch viel leichter das erdfreie Land bevölkern. In— deß wir wiſſen kaum und können nicht wiſſen, was für krautige Pflanzen überge— ſiedelt ſind, denn nur ſolche, die (außer den holzigen) korkſtoffartige und harzig ätheriſche Schutzmittel erhielten, find petrefaktiſch auf- 45 bewahrt und von Thieren verſchont geblieben. Der Korkſtoff, der alle Blätter mehr oder minder als Cuticula überzieht und ſie vor Austrocknung ſchützt, macht die Blätter auch zur Petrefaktion geeignet; er iſt, weil un— verdaulich, ein Schutzmittel gegen Thiere. Primitive Waſſerpflanzen haben und bedürfen ihn nicht, denn ſie ſind dem Vertrocknen nicht ausgeſetzt; es wäre aber ungerechtfer— tigt anzunehmen, daß er ſich ſofort bei allen über Waſſer ſich erhebenden Pflanzen gebildet habe; die ihn aber nicht hatten, ſind uns petrefaktiſch ganz oder ſo verloren gegangen, daß wir ihre Struktur nicht mehr erkennen. Mooſe, Farne und Coniferen ſind deshalb von primitiven Steinkohlen— pflanzen allein erhalten und werden auch heutzutage noch von Thieren faſt ganz ver— ſchont. Wir haben aber ſichere Beweiſe, daß lange vor der Steinkohlenzeit bereits eine ähnlich entwickelte Flora exiſtirte, die aber wohl aus Pflanzen beſtand, deren Blätter und Stengeltheile infolge der gleich— mäßig feuchten Temperatur noch nicht die nöthige Korkſubſtanz in der Cuticula beſaßen, ſo daß ſie ſich nicht carboniſch erhielten: haben doch Dawſon und De Saporta bereits im Silur und Devon Farne ge— funden, die uns durch einen ſeltenen Zufall vermittelſt Schwefelkies aufbewahrt wurden. Daß ätheriſche Oele, die leicht zu Harz ſich umbilden können und dadurch die Petre— faktion erleichtern, ein ausgezeichnetes Schutz— mittel gegen Thiere ſind, beweiſen uns die Labiaten und Umbelliferen, von denen ſolche Arten, die nicht ätheriſch ſind, meiſt giftig oder ſtachlig ſind; auch für die Coniferen trifft dies zu: Taxus iſt geruchlos, aber dafür giftig. Uebrigens wolle man nicht folgern, weil die Schutzmittel nicht gegen alle Thiere wirken, daß ſie deshalb keine Schutzmittel ſeien; es giebt für alle Schutz— 44 Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. mittel, ſelbſt Gifte und Stacheln nicht aus- genommen, gegentheilige Adaptationen, d. h. ſpäter dazu angepaßte Thiere. Als Evolutioniſt muß mau unbedingt mittelloſer Zwiſchenformen zu höheren Pflanu— zen exiſtirt haben; die krautigen, nicht mit jenen Schutzmitteln (die zugleich ihre zen konnten ſich zwiſchen den Steinkohlen— | bäumen in enormen Mengen entwickeln, weil ſie anfangs noch keine Verfolgung erlitten und als ſie auf das Land über— geſiedelt waren, mußten ſie relativ ſchnell durch ſpäter einwandernde Thiere vernichtet werden und ſtark modificirte, beſſer geſchützte und dem Landleben beſſer angepaßte Nachkommen, die Dicotyledonen, hinterlaſſen. Viele Reihen der erſten Pflanzenformen des Landes mußten aus Mangel ausreichender Schutzmittel ſpurlos verſchwinden und konnten ſich auch nicht petrefactiſch erhalten; nach und nach erſt konnte ſich die Landesvegetation üppiger entwickeln, indem ſie ſich ſelbſt durch Verweſung humusreichen Boden und gün— ſtigere Lebensbedingung ſchuf, weil je mehr ſie ſich entwickelte, auch die atmoſphäriſche Feuchtigkeit und der Waſſerabfluß gleich— mäßiger wurden, wodurch die Pflanzen minder durch dürre Jahreszeiten und zeit— weilig trocknen Boden litten. Daß in und über dem Meer lange Zeit eine reiche, uns unbekannte, wenig ge— ſchützte Vegetation herrſchte, dürfen wir auch aus den feinvertheilte, ſtrukturloſe Kohle ent— haltenden Thonſchiefern und Kohlenkalken ſchließen, vielleicht auch aus der Struktur— loſigkeit vieler Steinkohlenlager folgern, in denen untermiſchte, beſſer erhaltene Reſte ſchutzmittelreicherer Pflanzen ſich finden, die bei der Verkokung behufs Leuchtgasfabrika— 8 annehmen, daß eine Menge noch ſchutz⸗ Petrefaktion ermöglichen) verſehenen Pflan- tion ſich von der Hauptmaſſe auffallend verſchieden verhalten. Man kann eine ſolche ſchutzmittelloſe Flora nur mit einem Raiſonnement bezwei— feln, wie das folgende: Weil wir blos Tange aus den präcarboniſchen Perioden petrefaktiſch erhalten finden, hat es damals nur Tange gegeben; aber wir wiſſen, daß alle grünen Algen ſehr ſchnell verweſen und nur leder— artige Tange von allen primitiven, ſchutz— mittelloſen Organismen ſich zur Petrefaktion eignen. Uebrigens leben die Tange, Si— phoneen und Ulvaceen nicht blos im Meer— waſſer; es giebt auch Süßwaſſerformen. Von den mindergeſchützten und wieſen— artig im ſalzfreien, ruhigen Ocean ſchwim— menden Pflanzen, deren Petrefaktion nur in geringem Grade möglich war, mögen die Unmaſſen Conchylien gelebt haben, anfangs die primitiven, gehäuſeloſen, petre— faktiſch nicht conſervirten, ſpäter die vom Kalkgehäuſe geſchützten: letztere treten oft ſehr maſſenhaft und wenig variabel auf (Leitfoſſilien); während die heutigen Meeres- conchylien als die Reſte der im Verlauf der Perioden reicher gewordenen Formen— gliederung, wohl reich an Formen, aber wegen der relativ ſparſamen Tangvegetation ſelten genug ſind, wie Jeder weiß, der Conchylien und Tange nicht blos in Muſeen ſtudirt, ſon— dern in verſchiedenen Meeren aufgeſucht hat. Während nun aus dieſen ſchutzmittel— armen, nach dem Lande übergeſiedelten Pflanzen ſich auf dem Feſtlande die Dicotylen entwickelten und die ſchutzmittelreichen, wenig variablen Coniferen ſich dem Sumpfleben anpaßten, betrachte ich die Monocotylen wegen ihrer an ſchwimmende Pflanzen erinnernden Eigenſchaften (parallelnervige, ſchmale Blätter, fehlende Hauptwurzel, ſpezifiſch leichtes Holz) als die letzten Auswanderer, die, im Meere bereits phanerogam entwickelt, ſich alsdann Kuntze, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. mit dem von Coniferen und Dicotylen übrig gelaſſenen Raum begnügen mußten. Wir finden bei den Monocotylen noch vorherr— ſchend Waſſer-, Sumpf- oder Brackwaſſer— bewohner; Brackwaſſer aber entſpricht dem Salzwaſſergehalt des Tertiärmeeres. Ihre Einwanderung iſt nicht ſchwer zu erklären; gab es damals doch geeignete Thiere, die die kleinen Samen nach dem nunmehr humusbeſitzenden Feſtland bringen konnten, ſoweit es nicht durch den Wind geſchah; die großfrüchtigen Monocotylen, die Palmen, lieben Sümpfe, namentlich nahe am Meere. Nicht aber vermag ich den Hypotheſen zuzuſtimmen, die auch H. Müller a. a. O noch vertritt, daß die Algen bereits aus dem Meer nach dem Lande in der Silur— periode gelangt (wie?), und daß ſich dort aus ihnen die höheren Pflanzen allmälig auf— ſteigend entwickelt hätten. Wie kann eine auf Waſſerbefruchtung eingerichtete Pflanzen— gruppe, wie die Gefäßkryptogamen, ſich auf häufigen Ueberfluthungen (wegen der Kohlen— flötze!) ausgeſetzten nackten Felſen entwickelt haben? Wohl mögen Algen in der Terttär- zeit, als es Landthiere gab, zufällig nach den Feſtlandwäſſern verſchleppt worden ſein, und nur ſo vermögen wir die Erhaltung ihrer Süßwaſſerformen zu erklären: Was dann aber auf trockenes Land gerieth, vielleicht mit der verwehten Erde ausgetrockneter Sumpf— ränder, hat ſich jedenfalls nur zu Pilzen modificirt. Pilze kann man als degenerirte Algen auffaſſen, die nur eine ſchwache, auf— ſteigende Entwickelung erfuhren. Daß aber aus ſchutzmittelreichen Gymnoſpermen ſchutz— mittelarme Monocotylen und mit Ueber— ſpringung einer großen Lücke die Dicotylen entſtanden ſein ſollen, iſt eine haltloſe An— nahme. Nur durch die Eutwickelung der Orga— nismen im ſalzfreien Meere und ihre pro— 45 greſſive Vernichtung im Später ſalzig werdenden Ocean, in Combination mit den Befrucht⸗ ungseinrichtungen, den Schutzmitteln und Verbreitungsmitteln, unter Berückſichtigung der Bildung des Humus, den Verfolgungen der Thiere und der klimatiſchen Veränder— ungen vermögen wir über den heutigen Zuſtand der lebenden Welt eine Erklärung zu geben, wenngleich dieſelbe auch ſtets etwas lückenhaft bleiben wird. Zum Schluß faſſe ich die Thatſachen kurz zuſammen, welche gegen die bisherigen Annahmen ſprechen und die durch meine Lehre vom ſalzfreien Urmeer ſich ungezwun— gen erklären laſſen; Thatſachen, deren Er— klärungen man nie oder nur durch unklare Vorſtellungen gegeben hatte. 1) Entſtehung der Steinkohlenfelder; 2) der ausgeprägte Süßwaſſercharakter aller älteren Fiſche; 3) das Fehlen verkieſelter Sigillarien und Lepidodendren; 4) die un— geheuere frühere marine Fauna hätte faſt keine vegetabiliſche Nahrung gehabt; 5) der Untergang äußerſt gut geſchützter Stein- kohlenpflanzen; 6) die niederen Pflanzen bis incl. Monocotylen zeigen Eigenſchaften von Waſſerpflanzen: keine Pfahlwurzel, meiſt ſchmale, parallelnervige Blätter und kein oder ſpecifiſch leichtes Holz; 7) der Untergang zahlloſer, für die Phylogenie unentbehrlicher Pflanzenreihen, z. B. zwi⸗ ſchen Algen mit ausſchließlichen Verbreitungs— mitteln im Waſſer und Farnen mit wind⸗ leichten Sporen, oder zwiſchen den niederen Pflanzen, als Waſſerabkömmlingen, und den Dicotylen, als ſtark modificirten echten Land⸗ pflanzen; 8) der Untergang oder das Sel— tenwerden zahlloſer mariner Thiergattungen, bez. 9) ihre gegen ehemals veränderte Lebens— weiſe, von niederſten Thieren z. B. Coral- len; 10) die ungeheure zeitliche Unterbrech— ung (Dyas bis Mitte Tertiär) reicher — m — 5 ee — — a — = — ä z 46 Kuntze, Das falzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. Kohlenbildung; 11) das vorzugsweiſe Vor— kommen niederſter pflanzlicher und thieri— ſcher Organismen im Süßwaſſer; dies fällt um ſo mehr auf, weil ſolche als rein ſchwimmend von den humusfreien Conti— nenten älteſter Zeiten ſtets dem Meere zu— geſchwemmt werden mußten, und weil nie— derſte pflanzliche Organismen nie ſtromauf, landein, gelangen konnten; die aufſteigende Entwickelung muß alſo im Ocean ſelbſt begonnen und lange angedauert haben; 12) die ziemlich gleichmäßige Verbreitung tropiſcher Pflanzenfamilien; 13) die Ueber— einſtimmung älteſter Petrefakten aus allen Gegenden unſerer Erde; 14) das ſonſtige Fehlen äquivalenter Mengen von löslichen Natronverbindungen im Verhältniß zu den Thonen, Thongeſteinen und Quarzen, die aus Verwitterung der Urgeſteine reſultirten; 15) das räthſelhafte Fehlen von carboniſchen Landthieren in einer bisher vermutheten carboniſchen Landflora; 16) das Fehlen von Salzlagern in präcarboniſchen Geſtei— nen, namentlich in der laurentiſchen, huro— niſchen, ſiluriſchen Periode; nachträgliche In— filtrationen von Salzwaſſer kommen nicht in Betracht; auch die devoniſchen und carboniſchen Salzlager ſind ſelten und noch zu prüfen; 17) der geringe Salzgehalt der heutigen Oce— ane; 18) die ſchutzmittelreiche tropiſche Strand— näheflora in Widerſpruch mit geringſter derzeitiger thieriſcher Verfolgung; 19) die Agamocarpie und anomale Fortpflanzung vieler Farne; als letztere aus dem Waſſer durch Verſalzung vertrieben wurden, bild— eten ſich viele Farnen die entweder die ſubmerſe oder überhaupt die ſexuelle Be— fruchtung verloren, dabei viele Formen, die ſelbſt ohne weibliche Organe (die noch bei der Parthenogeneſis exiſtiren) keimfähige Samen (Sporen) erzeugen; manche Farne vermehren ſich auch nur vegetativ durch dem Wedel entſtammende Brutknospen; 20) die Entſtehung des erſten Humus. Bisher nahm man eine carboniſche Land— oder Sumpfvegetation an, ohne zu beden— ken, daß die niederen Pflanzen, aus denen dieſe Flora nur entſtanden ſein konnten, gar keine Verbreitungsmittel aus dem Waſſer nach dem Lande beſaßen und daß die carboniſche Flora nur aus Pflanzen mit zoogamer ſubmerſer Waſſerbefruchtung be— ſtand, ferner ohne zu bedenken, daß weder eine waldige Landflora, noch eine ſolche Sumpfflora ohne Humus beſtehen kann, ganz abgeſehen davon, daß die Wurzelver— hältniſſe niederer Pflanzen eine ſolche An— nahme nicht geſtatten. Ueber den gemeinſamen Urſprung des Sonnendienſtes und der Erdverehrung. Eine urgeſchichtliche Studie Von Dr. Hermann Srunnhofer. ie Verehrung der Lichtgötter war das neue Culturprincip, Arier in Indien, die Perſer in Weſtaſien und die Griechen im Abendlande ihre ſittigende Wirkſamkeit entfalteten. Der Dienſt des Sonnengottes Apollon mußte die Verehrung der Gaea, der Erde, in dem uralten Orakelſitze zu Delphi verdrängen. Aber weder der Erd— dienſt, noch der Sonnencultus ſind die urſprüngliche Religion der Menſchheit ge— weſen. Die älteſten und zahlreichſten Glau— bensüberreſte weiſen vielmehr auf Gewitter— dienſt hin. Nach einer alten Volksſage bei Pauſanias (II, 2,2) verehrten die Vor⸗ griechen, die Pelasger, nur den Blitz, den Donner und die Winde. Die Gewitter— dämonen, die Giganten und Titanen, müſſen erſt von den Olympiern, den viel ſpäter ſouverain gewordenen Lichtgöttern, aus Glaube und Cultus verſtoßen werden. Ganz übereinſtimmend mit dieſem Vorgange ſehen wir auch im Veda den Dämonendienſt der Ureingeborenen Indiens allmälig der Verehrung der Sonnengötter Indra, Viſhnu, Mitra und Agni weichen. In einem Spruche des Atharvaveda“) heißt Agni geradezu: „der gewaltige Dämonentödter.“ Dieſes Zurückweichen der Gewittergötter und Erdgötter vor den Lichtgottheiten ſchließt jedoch keineswegs eine allmälige Verſchmelz— ung der alten und der neuen Götter, noch auch eine bald früher, bald ſpäter wieder hervortretende Neuverehrung der in den Hintergrund gedrängten Götter aus. Es handelt ſich hier nur um die Erkenntniß eines allgemein menſchlichen und darum unter allen Völkern, zumeiſt den indoger- maniſchen, mehr oder weniger gleichmäßig wiederkehrenden Entwickelungsganges. Der Gewitterdienſt bildet die gemein— ſame Grundlage der Sonnenreligion und der Erdverehrung. Er bezeichnet den Rea— lismus, die Sonnenreligion den Idealis— mus, die Erdverehrung mit ihrem Dämonen— dienſt und Schamanenthum den Materialis- *) 1. 16,1: agnis turiyo yätu-hä. \\ 48 mus der Urzeit. Die Erzählungen von den Kämpfen der Licht- und Erdgötter gewähren uns, wenn fie auch aus rein mythiſchem Boden hervorgewachſen ſind, doch zugleich als geſättigt mit culturhiſtoriſchen Ueber— lieferungen, eine annähernde Vorſtellung von der furchtbaren Wuth, mit welcher ſchon in der Urzeit die großen Religions— kriege geführt worden ſein müſſen.“) Wie der Blitz, der Donner und der Sturm in der Gewitterwolke zunächſt auf Bergen hauſen, ſo dachte man ſich auch den Aufenthaltsort der älteſten Götter, der Ge— wittergötter, als auf hohen Bergen gelegen. Deshalb wohnen die indiſchen Gewitter— götter auf dem Himälaya oder Vindhya, die perſiſchen auf dem Elburs oder Dema— vend, und noch die homeriſchen auf dem Olympos, allerdings ſchon höher als die bereits geſtürzten Titanen, welche erſt den Oſſa auf den Pelion thürmen müſſen, um den Olympos ſtürmen zu können. Auch die Aſen ſind noch Gebirgsbewohner, da ſchon ihr Name fie als Gebirgsſäulen bezeichnet“ *). Selbſt die Neger Guinea's verehrten die Gebirge als die Sitze ihrer Gewittergottheiten. Darüber berichtet ein im Jahre 1600 aufgeſetzter Reiſebericht“ “): „Es hat etliche hohe Berg des Orts, da es oft grewlich donnert vnd wetterleuchtet, mit großem Regen vnd Ungewitter, alſo daß bisweilen die Fiſcher, oder ſonſt andere Mohren, dadurch beſchädiget werden, da meynen ſie dann, daß jhr Gott gar zornig vber fie jey, vnd Eſſen vnd Trinken von ) Vergl. hierüber namentlich Caspari, Urgeſch. d. Menſchheit, 2. Aufl., Bd. 2, S. 178 — 205. ) S. Rochholz in Müller's Zeitſchrift f. deutſche Culturgeſchichte, N. F. Bd. 1, S. 162. h Orientaliſch Indien, Fft. a. M., Fitzer, 1628, S. 240. Wohnung entrücken. Brunnhofer, Ueber den gemeinſamen Urſprung des Sonnendienſtes 2c. ihnen erfordere, derhalben fie viel Berg für Götter halten, vnd täglich Eſſen vnd Trinken hinauftragen, damit ſie jhn nur zufrieden ſtellen, vnd zum Freundt behalten, ja ſie ziehen nicht bald vorüber, ſie gehen zuvor hinauff, vnd thun ihnen ein Verehrung, dann ſie beſorgen, wenn ſie ſolches unter— wegen ließen, oder vergeſſen, ſo möchte jhnen jhr Gott ein Schaden oder Unglück zufügen.“ Je edlere, menſchlichere Begriffe von der Macht und Hoheit der Götter ſich nun aber allmälig entwickelten, je kräftiger ſich der Glaube an die Götter als Wächter der Sittlichkeit geſtaltete, je erhabener über alle menſchliche Bedürftigkeit man ſich dieſelben dachte, in deſto größere Erdferne mußte ſich der Vorſtellung des Gläubigen auch ihre So ſehen wir denn die Olympier allmälig vom Berge Olympos in Myſien oder Theſſalien in den im Jenſeils gedachten, dem menſchlichen Auge ſchon ent— zogenen Götterberg Olympos im Himmel ver— ſchwinden, von welchem aus ſie dann zwar immer noch mit dem ehemaligen Götter— berg in Theſſalien oder Myſien in Ver— bindung bleiben. Der Uebergang der alten Gewittergötter in Lichtgötter wird ſich nun aber durch folgende Vorſtellungsreihe hin— durch entwickelt haben. Aus der Wolke, welche ſich zumeiſt um hohe Berggipfel lagert, zuckt der Blitzſtrahl, dröhnt der Donner, brauſt der Sturm- wind, bricht aber auch die Pracht der Morgenröthe und der Glanz der Sonne hervor. Die wohlthätigen und verheeren— den Wirkungen des Blitzes und der Sonnen- ſtrahlen mußten dem Naturmenſchen ſchon frühzeitig als innerlichſt verwandt erſcheinen. Da konnte kein Anſtand genommen werden, den Blitzgott mit dem Sonnengott in ge— naueſte Beziehung zu ſetzen, ja die beiden Brunnhofer, Ueber den gemeinſamen Urſprung des Sonnendienſtes ꝛc. allmälig in eine gemeinſame Geſtalt zu verſchmelzen. Dieſem Verſchmelzungspro— ceſſe entſtammen in der indiſchen Mytho— logie die Götterpaare Indra und Agni, in der griechiſchen Dionyſos und Apollon, in der germaniſchen Baldur und Freyr. Der Gewittergott Indra wurde bald auch Sonnengott, und ebenſo ſtreifen Dionyſos und Apollon ſchon frühzeitig ihren einſt ausſchließlichen Charakter als Blitz- und Gewittergott ab und gehen als ſolche in der allgemeinen Geſtalt des Licht- und Sonnengottes auf. Je lebendiger dieſe Um— wandlung der ehemaligen Gewittergötter zu Lichtgöttern vor ſich ging, deſto raſcher mußten dieſe neuen Lichtgötter auch ihren ehemaligen Aufenthalt auf den Gebirgen preisgeben und ihren Wohnſitz im Sonnen— glanze des Aethers ſuchen, von wo aus ſie den Sterblichen als Ideale der Reinheit des Leibes und der Seele herniederleuchteten. Dieſer Umſchwung vollzog ſich aller Wahrſcheinlichkeit nach erſt raſcher mit der Erfindung der künſtlichen Feuerbereitung und dem daran ſich ſchließenden Brandopfer. Denn klarer und augenfälliger konnte kein Beweis für den Aufenthaltsort der Götter ſein, als die tägliche Wahrnehmung, daß die göttliche Flamme, ſowie der Opferrauch, ihren Weg dahin nahmen, von woher die kräftigenden Strahlen der Sonne und der luftreinigende Blitz ausgehen. Daher heißt es an einer Stelle des Schwarzen Yajur- veda*): „Das Opfer möge zum Himmel hinan ſtreben, das Opfer möge gen Himmel gehen. Welcher Pfad der Götterweg iſt, auf dieſem möge das Opfer zu den Göttern gehen.“ Zu der Umwandlung der gebirgsbewoh— nenden Gewittergötter in himmelsbewoh— nende Lichtgötter trug ſodann noch eine andere Beobachtung bei. Nicht nur dem ) Taittiriya-Samhitä (ed. Weber), I 6, 3, 2. der Wurzel pu, reinigen), ſondern auch das himmliſche Feuer hat die Kraft und | irdiſchen Feuer wohnt ſchlackenreinigende Kraft inne, woher es dem Indogermanen ſchlechthin „das reine“ hieß (vergl. griechiſch %, Feuer, mit lateiniſch pürus, von das Beſtreben, alle Flecken, Makel und Unlauterkeiten der Luft wegzufegen und aus- zumerzen. Die Sonne klärt den wolken— bedeckten Himmel auf und der Blitz reinigt die Luft von ſchlechten Dünſten. Wenn die Himmelsbewohner dermaßen auf Reinheit hielten, ſo galt es für den Sterblichen um ſo mehr, der Götter, deren Gnade man bedurfte, ſich dadurch würdig zu erweiſen, daß man auch hienieden von Leib und Seele alles fernzuhalten ſuchte, was den Körper beſchmutzen oder den guten Namen beflecken konnte. Der reinen Götter war nur Reines werth. Deshalb wird in der Taittiviya- Sampitä*) der Feuer-, Licht⸗ und Sonnen⸗ gott Agni (= lateiniſch ignis) folgender— maßen angeredet: „Agni, nur was dir glänzend, was klar, was gereinigt, was opferwürdig iſt, das allein wollen wir den Göttern darbringen.“ Aus dieſer Anſchau— ungsweiſe heraus erklärt es ſich, wie das indogermaniſche mala, ſchmutzig, dunkel (vergl. griechiſch 18 Ae, St. U ννν, Sanskr. malina, ſchmutzig, unrein, ſchwarz) zu lateiniſch malu-s, ſchlecht, werden konnte. Dem Indogermanen der Urzeit, der noch dem Gewitterdienſt huldigte, bezeichnete mala, wie noch im Sanskrit, ausſchließlich den Schmutz und den Unrath des Erdleibes. Aber ſchon dem Kelten und Römer bedeutet daſſelbe Wort bereits den am Erdenſchmutz klebenden, den ſittlich befleckten, den mo⸗ raliſch unreinen und ſchwarzen Menſchen, den ſchlechten und böſen, (vergl. das eng— liſche dirty und den Ausſpruch des Ho— *) IV, 2, 7, 1. Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. 50 Brunnhofer, Ueber den gemeinſamen Urſprung des Sonnendienſtes 2c. raz: hie niger est, hune tu Romane caveto.*) Dieſer Umſchwung der Bedeutung von mala war die Folge des Religions- wechſels, welcher gegen das Ende des Zu— ſammenlebens der indogermaniſchen Völker eingetreten ſein muß. Denn der im la— teiniſchen malus, iriſch maile, kymriſch wall, ſchlecht, ſich ausſprechende Abſcheu vor dem ſchmutzigen, ſchwarzen Erdleib (mala) wird nur aus der Verehrung von die Reinheit des Leibes und der Seele fordernden Licht— göttern erklärt werden können. Die Götter thronten nun nicht mehr auf dem dunkel— bewölkten, ſchwarzerdigen Gebirge, ſondern „jugendlich, von allen Erdenmalen frei, in der Vollendung Strahlen“ auf dem ewiglichen Olymp des Jenſeits! ). Aber dieſe Herausbildung der das ſchwarze Gebirge bewohnenden Gewittergötter zu himmelsbewohnenden Lichtgöttern, ſo unwiderſprechliches Zeugniß ſie ablegt für eine Schwungkraft des Geiſtes, wie ſie auch den Menſchen der Urzeit nicht verſagt war, — ſie konnte, als eine einſeitig idea— liſtiſche Geiſtesrichtung, dem unvermeidlichen Gegenſtoße nicht entgehen. Die Religion des Lichtes, der Sonnendienſt, der Feuer— cultus, wie er bei den Brahmanen, den Magiern und den Griechen zur beſtechendſten Vollendung gedieh, konnte eben nur dem ſchon höher entwickelten Geiſtesbedürfniß ) Ueber die ganze hier verglichene Wort— reihe ſ. Curtius, Grundz. d. gr. Etym. , S 345. ) Vergl. die Schilderung des Olympos in der Od. VI, 43 ff. Ganz übereinſtimmend lautet auch die Schilderung des indiſchen Götterberges Meru. Da heißt es von dieſem im Civapuräna (S. Wollheim da Fonſeca, Mythol. d. alten Indien, S. 76): „Nicht glänzt dort Erdenſonne, nicht Mond, noch Sternenſtrahl, Und nimmer wehn die ſieben Märutas dort zumal“. des Vornehmen genügen, der, von der Arbeit ſeiner Sklaven lebend, ſich dem un— geſchmälerten Genuſſe der Natur und ſeines eigenen Geiſtes überlaſſen konnte. So herrlich lebte aber in der Urzeit nur der frei umherſchweifende, überall für Roß und Rind Weide findende Nomade, wie wir ihn z. B. noch im Veda auf den immer— grünen Grasfluren des Fünfſtromlandes treffen. Unſer Goethe, als er im Weſt— öſtlichen Divan, leider ohne noch die An— fänge der Vedakunde zu erleben, es unter— nahm, die Urempfindungen der Menſchheit darzuſtellen — „will in Urſprungs Tiefe dringen“ —, Goethe hat dieſer Ueber— zeugung von dem hochſinnfördernden Einfluß des Nomadenlebens bedeutſamen Ausdruck verliehen in dem kleinen Gedicht „Frohſinn“: „Laßt mich nur auf meinem Sattel gelten! Bleibt in euern Hütten, euern Zelten! Und ich reite froh in alle Ferne, Ueber meiner Mütze nur die Sterne.“ Die Sonnenverehrung oder der Licht— dienſt war die letzte und höchſte Leiſtung der nach edleren Formen ringenden Natur- religion. Die indogermaniſche Menſchheit muß ſich einmal dieſer Errungenſchaft be— wußt geweſen ſein. Wenigſtens überſtrömen noch die Lieder des Rigveda und A veſta von einer fo unnennbaren Freude am Lichtdienſt, von einem ſo unverſieglichen Wonnegefühl über den Anblick der auf— ſteigenden Morgenröthe, der ſtrahlenden Sonne, des geſtirnten Himmels, und dann wieder der jugendlich froh emporhüpfenden Opferflamme, wie ſeit dieſer Zeit ſich ähn— liche Gemüthsinnigkeit und Seelenfreude am Daſein nur wieder aus Homer und Goe— the's Jugendliedern herausempfinden läßt. Aber als mit der ſteigenden Verdichtung der Bevölkerung mehr und mehr der Ackerbau an die Stelle des ſo hochpoetiſchen Hirten— . Zn a N an ne han nn ee ee Brunnhofer, Ueber den gemein ſamen Urſprung des Sonnendienſtes 2c. lebens trat, als die Völker mehr und mehr in die kleinlichen Sorgen der tagewähleriſchen Wetterbeobachtung zum Zwecke rechtzeitiger und nutzenbringender Feldbeſtellung ver— wickelt wurden, da waren die Glanztage des prächtigen, den Menſchen auf ſich ſelbſt ſtellenden Nomadenlebens gezählt. Sowie nun die Arbeit und der Kampf mit dem Boden beginnt, ſowie die Völker im Schweiße ihres Angeſichtes ihr Daſein friſten müſſen, ſowie die Maſſen zum Bewußtſein ihrer harten Lage kommen, da iſt es mit der ehe— maligen Naturfreude vorbei und es bemäch— tigt ſich der Volksgeiſter jener grämlich— düſtere Zug des Weltſchmerzes, wie er einer— ſeits, auf indiſchem Boden, im Buddhismus zum fortan weltbeſtimmenden Durchbruch gelangt, andererſeits in Griechenland um dieſelbe Zeit in den Hauslehren Heſiod's ſich in einer Weiſe vernehmbar macht, welche gegen die Weltfreudigkeit Homer's fo ge— waltig abſticht. Wohl gab es auch in den verdüſtertſten Zeitaltern immer edle Geiſter, welche ihre Freude an der Natur mit den Geſchlechtern der Vergangenheit theilten. Allein ſolches Aufflackern von im Volke ſonſt erloſchenen Stimmungen vermochte nicht mehr durch die allgemeine Schwermuth hin— durchzudringen und ſich über das ganze Volksleben zu verbreiten. Denn Freude zu empfinden an der Freude Anderer, dazu gehört ein hoher Sinn und als die Menſch— heit dem Alltagskummer des Bauernlebens anheimfiel, da war dieſer Hochſinn bald und auf lange Zeit eingebüßt. Was frommte es doch der großen Maſſe, wenn Brahma, in unvergänglichem Glanze ſtrahlend, ſich an den lieblichen Gaukeleien der erfindungs- reichen Mäyä, feiner Tochter, der Phantaſie, ergötzte? Oder wenn die Olympier, voll ewiger Jugendluſt, ſich beim Ambroſiamahle und Nektargenuſſe unter unauslöſchlichem 51 Gelächter ihres Daſeins freuten? Der ge— meine Mann brauchte Götter, welche nicht allein um ihrer eigenen Lebensfreude, ſondern vor allem um der Beſorgung und Befrucht— ung ſeiner Aecker willen vorhanden waren. Was ſollten dem Bauern alle Ideale ehr- furchtgebietenden Hochſinns, wenn ſie ſich nicht dazu herabließen, ſeinen Krautgarten zu fördern? Weit entfernt, ſich ſeine Götter in die unzugänglichen Höhen des Olympos oder Meru zu verſetzen, dachte er ſich die— ſelben vielmehr in unmittelbarſter Nähe wirkend. Wenn der Acker reichliches Korn gewährte, das war das ſicherſte Zeichen von Gottes Huld und Nähe. Denn da mußte ja wohl der gnädige Gott ſelber im Erd— boden leben. Woher anders hätte denn ſonſt die Fülle des Getreideſegens ſtammen können, wenn nicht aus der Vorrathskammer der Götter ſelbſt? Weswegen ſonſt führte der Unterweltsgott den Namen „Plutos“, Reichthum? So entwickelten ſich bei den mehr auf den Nutzen, als auf die Schön— heit der Naturerſcheinungen achtenden Volks— ſchichten und bei den eines höhern Schwunges vielleicht von Anfang an unfähigen Ur— völkern Indien's und Griechenland's ſchon urzeitlich frühe aus den Gewittergöttern die chthoniſchen, die Erdgottheiten. Die nie- dere Menſchheit bedurfte ſolcher Götter, welche nicht zu vornehm waren, ſich umſtändlich und mit Intereſſe auf die Werkeltagsſorgen des gemeinen Mannes ein— zulaſſen. Schiller hat dieſes ehemals ſicherlich tiefgefühlte Bedürfniß des Bauern der Urzeit nachempfindend der Erdmutter Demeter in den Mund gelegt. Da drückt die Göttin der goldenen Kornflur im „Eleu— ſiſchen Feſt“ den charakteriſtiſchen Unterſchied zwiſchen ſich und den Olympiern alſo aus: „In des Himmels ſel'gen Höhen Rühret ſie nicht fremder Schmerz; 9 52 Brunnhofer, Ueber den gemeinſamen Urſprung des Sonnendienſtes ꝛc. Doch der Menſchheit Angſt und Wehen Fühlet mein gequältes Herz.“ Auch die Erdmutter Demeter war einſt Gewittergöttin, insbeſondere Sturm— göttin geweſen?). Erſt mit dem Acker— bau war ſie nach und nach oder, richtiger ausgedrückt, mehr und mehr zur Göttin der Kornflur und damit zur Erdgöttin geworden. Dachte man ſich nämlich einmal den Erd— leib als Wohnſitz der Fruchtbarkeitsgötter, ſo konnte die Verehrung der Erde als ſolcher nicht länger ausbleiben. So werden denn allmälig alle Wunderkräfte der Gewitter— götter auf die Erde ſelbſt übertragen und das Verhältniß des Menſchen zur Erde als das des Säuglings zur ſtillenden Mutter geprieſen. Schon der Veda, insbeſondere der Atharvaveda, hat zahlreiche Hymnen und Stellen, in welchen die Erde als Mutter gefeiert, als gütige Göttin beſungen wird. Ein rührendes Gebet der Taittirſya-Sam— hitä **) möge die Innigkeit dieſer Erdver— ehrung andeuten. Da heißt es: „Verehrung der Mutter Erde! Ich habe der Mutter Erde nichts zu leide gethan! Die Mutter Erde hat mir nichts zu leide gethan!“ ) Vergl. Kuhn in ſeinem Aufſatze über die Saranyü-'Zowvos, Ztichr. f. vgl. Sprachf., Bd. 1, S. 439 — 470. *r) I, 8, 15, 1. eee P — ((— —v— — — — — Hat ſich einmal dieſe Umwandlung der alten Gewittergötter in Erdgötter vollzogen, ſo macht ſich dann Hades nicht länger in der finſtern Wetterwolke unſichtbar, ſondern ſteigt in die dunkle Tiefe hinab. Die ehemalige Gewittergöttin Hekate ſchweift dann nicht länger in der Sturmwolke um— her, ſondern hauſt nun mit den Dämonen der Finſterniß unter dem Boden oder auf Kreuzwegen und Gräbern, wo ſie um Mitter— nacht ihr unheimliches Weſen treibt. Mehr und mehr nimmt dann, unter dem unent— wirrbaren Einfluß der Farbenſymbolik, der Erddienſt einen immer düſterern Charakter an. Hat man aber einmal die einſt in luftig-heitern oder wolken-dunkeln Gebirgs— höhen thronenden Götter ihrer unnahbaren Erhabenheit beraubt und in den finſtern Erdleib heruntergebannt, dann braucht ſich auch die ärgſte Rohheit fernerhin nicht mehr vor ihnen zu ſcheuen, die Selbſtſucht des Alltagsmenſchen wagt es dann ohne Ge— wiſſensbiſſe, die Götter, die mit ihm der— ſelben Scholle angehören, die mit ihm auf demſelben unreinen Boden ſtehen, zu ihren mannigfaltigen Zwecken zu mißbrauchen. So wird alsdann der Erddienſt, wie die Verehrung der Hekate für Griechenland, die der Erdgöttin Camunda für Indien zeigt, allmählich zur Folie der verächtlichſten Zauberei, des furchtbarſten Aberglaubens. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die unterirdiſche Verbindung zwiſchen Donau und Rhein. er hätte gedacht, daß man, ſtatt in \ die Ferne zu ſchweifen, in unſrem % deutſchen Vaterlande noch geographiſche Entdeckungen machen könnte, die ſo— gar auf der geſammten Erdkugel ihres Gleichen nicht haben. Gabelungen oder Bifurkationen von Flüſſen nach zwei ver— ſchiedenen Stromgebieten ſind ſchon an ſich ſeltene Vorkommniſſe, und nun gar eine Gabelung in einen Oberwelts- und einen Unterweltsarm, eine Speiſung der Nord— ſee und des ſchwarzen Meeres aus der— ſelben Quelle, eine Verbrüderung der beiden größten deutſchen vielbeſungenen Ströme, und erſt im Jahre 1877 entdeckt, es iſt kaum glaublich! Zwar hat man die Sache längſt geahnt, aber der wiſſenſchaftliche Nach— weis iſt erſt im vorigen Herbſte geführt worden, und zwar von dem Profeſſor der Mineralogie und Geologie am Polytechnikum in Karlsruhe Dr. A. Knop, und der wiſſen— ſchaftlichen Welt bekannt gemacht iſt die Ent- deckung gar erſt vor einigen Wochen.“) Die Sache verhält ſich wie folgt: Etwa dritte— — ) Leonhard und Geinitz, Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläontologie 1878. Viertes Heft. halb Meilen unterhalb Donaueſchingen bei Immendingen erſtreckt ſich eine flache Mulde zwiſchen der Rauhen Alp und dem Randen— Gebirge über das Städtchen Aach dem Bodenſee zu. Der hier anſtehende weiße Jurakalk iſt ſehr zerklüftet und bildet nament- lich zwiſchen Immendingen und Möhringen auf einer Strecke von zwei bis drei Kilo— metern im Donaubette zahlreiche Spalten, in denen ein anſehnlicher Theil des Waſſers der darüber hinfließenden Donau verſinkt. In ſehr trocknen Sommern kommt es vor, daß das geſammte Waſſer der oberen Donau verſchwindet, ſo daß das Donaubett auf eine größere Entfernung abwärts völlig waſſer— los iſt, bis es wieder durch neuen Zufluß geſpeiſt wird. In ſolchen Jahren iſt dann, wie wir bald ſehen werden, die obere Donau ein Nebenfluß des Rheins. Etwa andert⸗ halb Meilen von jener Stelle nämlich tritt am Fuße eines Berges die Aach an's Tages⸗ licht; ſie ſteigt offenbar unter ſtarkem Drucke, aus mehreren Spalten ſenkrecht ſprudelnd in die Höhe, und zwar in ſo reichlicher Menge, daß ſie dicht unterhalb der Quelle einen kleinen See bildet, aus dem ſie dann zum Bodenſee abfließt. Es mag bemerkt werden, daß die Aachquelle etwa dreißig Meter tiefer liegt, als die Verſinkungsſtelle der Donau, und daß ſie faſt die doppelte Waſſermenge enthält, als jene dort verliert, 54 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſo daß jedenfalls noch anderweite unterir— diſche Zuflüſſe in die Aach münden, ehe ſie an's Tageslicht tritt. Die Bewohner hatten, wie geſagt, ſchon längſt einen Zuſammen— hang zwiſchen Donau und Aach behauptet: ſie wollten bemerkt haben, daß wenn es nörd— lich im Zuflußgebiete der Donau geregnet habe, auch die Aachquelle nach Verlauf einiger Zeit getrübt zu Tage komme. Ein in der Nähe anſäſſiger Spinnereibeſitzer, Herr K. ten Brink hatte auch bereits im Jahr 1869 einen Verſuch gemacht, den Zuſammenhang nachzuweiſen und zu dieſem Behufe vierzehn Kilogramm Anilinroth in eine Spalte ge— ſchüttet, aber das theure Experiment ſchei— terte wahrſcheinlich an der langſamen Auf— lösbarkeit dieſes Farbſtoffes im Waſſer, die Aachquelle erſchien nicht nur nicht blutig, wie der Adonisfluß nach Lucians Be— richt bei Byblos in den Adonistagen, ſon— dern man konnte nicht einmal eine röthliche Nüance bemerken. Ein zweiter Verſuch mit künſtlicher Trübung des Donauwaſſers, den der Erbauer der Schwarzwaldbahn Ger— wig anſtellte, mißlang ebenfalls und erſt die auf Veranlaſſung der badiſchen Regier— ung angeſtellten Verſuche hatten einen beſſern Erfolg. Den Anwohnern der Aach war nämlich bange geworden, daß die Nachbarn von der Donau jene Spalten vermauern oder dem Bette gar einen andern Lauf geben würden, wozu ſie mehrmals die Abſicht kund gethan hatten, da die Induſtriellen in der Nähe Tuttlingens ſich durch die Waſſer— armuth, ja den mitunter gänzlichen Waſſer— mangel der Donau ſchwer beläſtigt ſehen. Wenn nun die Aach wirklich von der Donau geſpeiſt wird, ſo drohte das einen ſchlimmen Rechtsſtreit zu geben, da die Anwohner der Aach deren Waſſerkraft induſtriell fleißig ausnützen, und die Regierung beauftragte deshalb den Profeſſor Knop zur Anſtellung 8 0 5 2 entſcheidender Verſuche. Dieſelben wurden zur Zeit des niedrigſten Waſſerſtandes der Donau am 24. September vorigen Jahres in der Weiſe angeſtellt, daß am Mittage dieſes Tages zweihundert Centner Kochſalz mit einem Male in eine Spalte geſchüttet wurden, worauf man einige Stunden ſpäter Proben an der Aachquelle entnahm und damit in regelmäßigen Zwiſchenräumen fort- fuhr bis zum 28. September. Aus den achtzig entnommenen Proben ergab die im Karlsruher Polytechnikum ausgeführte Unterſuchung, daß der Salzgehalt des Aach— waſſers erſt nach zwanzig Stunden lang— ſam aber ſtetig zu ſteigen begann, nach ſechzig Stunden ſein Maximum erreichte, um nach neunzig Stunden ganz zu verſchwinden. Der Geſammtverlauf der Verſalzung hatte 71 Stunden gedauert. Da man vorher die Waſſermengen, welche die Donau und Aach mit ſich führen, genau beſtimmt hatte, fo konnte man aus den Analyſen berechnen, daß die Aach c. 185 Centner Kochſalz ent— halten hatte, ſo daß alſo alles Waſſer der Donauſpalte, um die gleiche Menge anders— woherſtammenden Waſſers vermehrt, in ihr wiedererſchienen war. Das langſame Auf- treten des Salzgehaltes ſcheint dabei anzu— deuten, daß das Waſſer erſt bis auf die Unterlage des Kalkſteins verſinkt, um dann, nach einem Laufe von elf Kilometern, nach dem Geſetze der kommunicirenden Röhren wieder aufzuſteigen. Zwei Tage vor dieſem Verſuche hatte der erwähnte Fabrikbeſitzer ten Brink noch einen zweiten Verſuch in der Weiſe angeſtellt, daß er mit einem Male zwölf Centner Glasgower Braunkohlen— Schieferöl in die Spalten ſchüttete. Das- ſelbe verrieth ſich erſt nach ſechzig Stunden in der Aach durch einen ſchwachen Kreoſot— Geſchmack des Waſſers; etwas günſtiger fiel ein zehn Tage ſpäter zum Vergnügen D . A Vu — WE nn ee ee (Qu - angeſtellter Verſuch aus, bei welchem der— ſelbe Fabrikant zehn Kilogramm in ver— dännter Kalilauge aufgelöſtes Fluorescin in die Donau ſchüttete. Dieſe vor etlichen Jahren entdeckte Verbindung beſitzt befannt- lich die Eigenſchaft, ihrer gelben Auflöſung einen wunderſchönen ſmaragdgrünen Schiller— ton zu verleihen, der noch bei einer vier— zigmillionenfachen Verdünnung erkennbar iſt. In der That hatte man nach ſechzig Stun— den das Vergnügen, die Aach deutlich grün ſchillern zu ſehen, und dieſe Eigenſchaft dauerte bis ungefähr zur neunzigſten Stunde an. Zur Geſchichte der Kenntniß der pflanzlichen Befruchtungsvorgänge. Als Entdecker der Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten wird neuer— dings allgemein Conrad Sprengel ange— ſehen. So werthvoll auch die Beobachtungen dieſes aufmerkſamen Forſchers ſind, ſo ge— bührt das Verdienſt, die Inſektenbeſtäubung zuerſt richtig erkannt zu haben, doch einem Anderen. Im Jahre 1761 erſchien nämlich das ebenſo anſpruchsloſe wie merkwürdige Schriftchen Koelreuter's über einige das Geſchlecht der Pflanzen betreffende Verſuche und Beobachtungen. In dieſer Arbeit ſind die Grundzüge der Lehre von der Befrucht— ung der Blumen durch Inſekten vollſtändig klar dargelegt. Koel reuter ſtellte zunächſt die Behauptung auf, daß bei den Cucur— bitaceen, den Iris-Arten und vielen Mal- vaceen die Befruchtung ausſchließlich durch Vermittelung honigſuchender Inſekten zu Stande komme. Er machte ziemlich aus— führliche Mittheilungen über die Art und Weiſe, wie bei den genannten Pflanzen die Uebertragung des Blüthenſtaubes auf die Narbe durch die Inſekten bewirkt wird. Er Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 55 =, war überzeugt, daß dieſe Fälle durchaus nicht vereinzelt daſtehen, ſondern daß auch manche andere Gewächſe auf ausſchließliche Fremdbeſtäubung angewieſen ſind. „Es giebt ohne allen Zweifel noch viele Pflanzen, deren Stigmata blos allein von Inſekten mit ihrem Samenſtaube belegt werden; ich werde ſie aber nicht eher anführen und für dergleichen ausgeben, bis ich durch mehrere Verſuche und Beobachtungen davon überzeugt ſeyn werde.“ Trotz dieſer vor— ſichtigen Zurückhaltung beſprach er indeß eine Reihe von Fällen, in denen er glaubte, daß die Beſtäubung, wenn nicht ausſchließlich, ſo doch vorzugsweiſe durch Inſekten erfolge. Bei Sambucus ſchien ihm die Selbſtbeſtäub— ung in Folge der Richtung der Staubgefäße und der Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes ſehr erſchwert zu ſein; als die wahren Be— fruchter bezeichnete er die Thrips. Ferner gab er an, daß bei Papaver, Argemone, Nymphaea, Hypericum, Citrus und Pae— onia zwar ſchon vor dem Oeffnen der Blüthen etwas Pollen auf die Narben ge— langt, daß aber nach der Entfaltung der Blumen die Inſekten eine viel ausgiebigere und wahrſcheinlich wirkſamere Beſtäubung vollführen. Die Proterandrie von Epilobium angustifolium hat Koelreuter genau be— ſchrieben und nachgewieſen, daß bei dieſer Art Selbſtbeſtäubung ſo gut wie unmöglich iſt; von Polemonium gab er an, daß es ſich ähnlich verhalte. Bei Oenothera beobachtete er die Entleerung der Staubbeutel in der ge— ſchloſſenen Blüthe und die nachherige Aus— breitung der Narben. Endlich führte er noch eine Reihe von Pflanzen an, bei denen er eine weſentliche Beihülfe der Inſekten bei der Befruchtung annahm, wenn er auch die Möglichkeit der Selbſtbeſtäubung nicht in Abrede ſtellte; als dahin gehörig nannte er Echium, Convolvulus, Mirabilis, Hyo- scyamus, Nieotiana, Linaria, Antir- rhinum, Serofularia und Ruta. Dieſe Entdeckungen Koelreuter's wa- ren offenbar genügend, um ſpäteren Forſchern den Weg zu weiteren Beobachtungen zu bahnen; wenn außer Conrad Sprengel kaum Jemand es unternahm, fernere Unter— ſuchungen auf dieſem neu erſchloſſenen Ge— biete anzuſtellen, ſo kann die Urſache dieſer Gleichgültigkeit der Gelehrten einzig und allein in dem herrſchenden Zeitgeiſte gefunden werden. Sprengel's Schrift führt be— kanntlich den Titel: „Das entdeckte Geheim— niß der Natur“; derſelben Ausdrücke bediente ſich ſchon Koelreuter, indem er ſagte: „Gewiß, ein jeder anderer, der vor mir dieſe Betrachtungen angeſtellt hätte, würde ſie“ (nämlich „Die wahre Urſache der Be— ſtäubung“) „längſt entdeckt, und ſich und allen Naturforſchern von dieſem Geheimniſſe der Natur den Vorhang weggezogen haben.“ W. O. Focke. Welche Bedeutung haben die ge— weihartigen Kiefer und Hörner der Blatthoru-Küfer? Dieſe Frage hat ſich ſchon mancher Naturforſcher geſtellt, und die Antworten hierauf lauten nicht übereinſtimmend. Die Einen halten dafür, daß z. B. unſer Hirſch— käfer, Hirtz oder Weinſchröter (Lucanus cervus L.), ſeine großen Zangen zur Ver— theidigung ausgebildet habe, Andere ver— muthen eher, daß ſolch hübſche Geweihe gleich den Hörnern der Herkules- und Nashornkäfer als nützlicher Zierrath bei den geſchlechtlichen Bewerbungen dienen möchten und durch geſchlechtliche Ausleſe aus kleinen Anfängen hervorgegangen ſeien. Charles Darwin, welcher dieſe Erſchein— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ung ebenfalls in Betracht zog, entſchied ſich für die geſchlechtliche Zuchtwahl.k) Dieſe Deutung mußte, wie Darwin ſelbſt ein— geſteht, auf den erſten Blick hin eine über— raſchende ſein. Soll ſie ſich überhaupt be— wahrheiten, ſo müſſen jene Gebilde bei der geſchlechtlichen Bewerbung eine große Rolle ſpielen, und zwar fände dann ent— weder ſeitens des Weibchens eine Auswahl unter mehreren Männchen ſtatt, wobei die ſchöner geſchmückten entſchieden bevorzugt würden, oder es vereinigten ſichmehrere Männ— chen um ein Weibchen, wobei es zum Kampfe käme und die mit größeren Waffen ver— ſehenen Kämpfer Sieger blieben, event. zur Fortpflanzung gelangten. Auch könnten die hornartigen Kiefer zum Feſthalten des Weib— chens dienen, und die dazu tauglichſten würden dann durch natürliche, nicht geſchlecht— liche Zuchtwahl auf die Dauer überwiegend ſein. So ſehr nun der große Meiſter ſich bemüht, die Wahrheit aufzudecken und ſeine Anſicht durch Argumente zu ſtützen, glaube ich doch nicht, daß ſeine Deutung haltbar iſt, bin vielmehr auf Grund eigener Be— obachtungen zu der Meinung gekommen, daß alle jene Gebilde allein Züch— tungsprodukte durch natürliche Aus— leſe ſeien. Einmal findet eine Bewerbung mehrerer Männchen um ein Weibchen gleichzeitig wohl nur ausnahmsweiſe ſtatt, und es kommt dabei ſchwerlich oft zum Kampfe; und ſelbſt dieſen Fall geſetzt, ſiegen großzangige Hirſch— käfer noch lange nicht in der Regel über die kleinzangigen (L. capreolus); meine Be— obachtungen lehrten mich ſogar in der Regel das Gegentheil, indem die viel couragirteren kleinen die großen ſteifen Hirtze niedermach— ten. Die ſämmtlichen Nashornkäfer be— ) Abſtammung u. ſ. w. Band J. S. 391 ff. (3. Ausgabe.) Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. nutzen ihre Hörner gar nicht im Kampfe, etwa wie das plumpe Rhinoceros, daß ſie damit dem Gegner den Leib aufriſſen. Hier bliebe alſo nur die eine Deutung übrig, daß die merkwürdigen Hörner als Schmuck dem Weibchen in die Augen fielen, und von der wähleriſchen Schönen langhornige Käferknaben bevorzugt, kurzhornige aber im Allgemeinen ſpröde zurückgewieſen wür— den! Wiewohl ein aufrichtiger Verehrer Darwin's, habe ich mich doch niemals dieſer Annahme zuneigen können. Ein blödes Lamellicornierweibchen, ein Schaf— miſtkäfer ſoll ſo viel Geſtaltenſinn, ſo viel äſthetiſches Gefühl haben, um auf die Hornbildung jenes von hinten her anrückenden Männchens — bei dunkler Nachtzeit — zu achten? Sinn für blen— dende Farben, Geräuſche, Töne, Düfte haben die Kerfe gewiß, aber reinen Ge— ſtaltenſinn werden ſie ebenſo ſicher nicht haben. Das, meine ich, hat Lazar Gei— ger betreffs der Thiere, den ſprechenden Menſchen ausgenommen, zur Genüge aus⸗ geſprochen. Es findet aber von Seiten der Weib— chen beregter Arten, ſo viel bis jetzt feſt— ſteht, keinerlei Ausleſe ſtatt: am Fuße eines Stammes oder auf der Erde ſitzt mit weit ausgeſpreizten Beinen das Hirſchkäferweib— chen; ſei es nun zur Zeit der Mittags- hitze, in den frühen Morgenſtunden oder nach eingebrochener Dämmerung, naht ſich ihm das Männchen in ſauſendem Fluge und beſteigt es ohne viele Umſtände. Dabei findet keinerlei Wahl ſtatt. Die Weibchen der Lamellicornier fliegen indeß weit weniger umher, als die munteren Männchen, leben mehr am Boden und bohren ſich behufs Eierablage in denſelben ein, wobei ihnen jedwede Auswüchſe am Kopfe höchſt beſchwerlich fallen müßten. Natür- 57 liche Zuchtwahl wird daher ſolche Gebilde bei den Weibchen unterdrückt haben. Die Männchen fliegen, die Längenachſe ihres Körpers in ſchräge, oft ſogar ganz ſenk— rechte Richtung gebracht, mit nach oben gerichteten Zangen bez. Hörnern unſtet umher, nach Weibchen oder dem Saft der Bäume ſuchend, wo man die Hirſch— käfermännchen auch zuweilen bis zu einem halben Dutzend friedlich beiſammen findet. Bei dieſen Excurſionen find fie den An— griffen der inſektenfreſſenden Vögel und Säugethiere ausgeſetzt — und ein Schreck— mittel mußte ihrer Erhaltung weſentlich fördernd ſein: ein ſolches haben ſie in den Hörnern und Ge— weihen! Wiederholt ſah ich hier bei Mainz Sperlinge, Pirole und Fledermäuſe auf fliegende Hirſchkäfer losfahren, in Kopf— nähe gekommen aber jedesmal umwen— den. Auch die Hühner laufen auf den krabbelnden Hirſchkäfer gierig zu, laſſen aber jedesmal vom Angriffe ab, ſobald ſich derſelbe mit den Hörnern aufrichtet. Schreckmittel aber laſſen ſich durch Naturzüchtung und Ausleſe erklären. Mainz, Auguſt 1878. Wilhelm von Reichenau. Die gepanzerte Vogel-Echſe von Stuttgart. (Attosaurus ferratus Fraas.) In dem dritten Hefte der württem— bergiſchen naturwiſſenſchaftlichen Jahreshefte von 1877 befindet ſich eine Abhandlung von Prof. Dr. Oskar Fraas über einen höchſt merkwürdigen paläontologiſchen Fund, die auch im beſonderen Abdruck als Felt ſchrift zur Feier des vierhundertjährigen Jubiläums der Univerſität Tübingen er— Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. 0 58 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſchienen iſt“) und der wir nachſtehende Ein— zelheiten entnehmen. Vor dem Tübinger Thor bei Stuttgart durchſchneidet der Weg nach Degerloch die ganze Formation des Keupergebirges, deſſen Geſammtmächtigkeit bei regelmäßiger Aufeinanderfolge der Schich— ten dort 252,6 Meter beträgt. Bei den Grabarbeiten auf Streuſand im mittleren Keuper ſind hier ſeit dreißig Jahren zahl— reiche Reſte triaſiſcher Fiſche, Reptile und Weichthiere zum Vorſchein gekommen, die in dem Oberkriegsrath Dr. von Kapff einen ebenſo geſchickten Präparator, wie in dem 1869 verſtorbenen Paläontologen Her— mann von Meyer einen ausgezeichneten Erforſcher fanden. Die vorkommenden Reſte von Fiſchen ſowohl, wie die von Mollus— ken, welche den Sumpfſchnecken (Paludinen) und Entenmuſcheln (Anodonten) nahe ſtanden, ſchließen den Gedanken an marinen Urſprung aus, und erinnern vielmehr an Bildungen eines weitverbreiteten Feſtlandes, reich an Sümpfen und Süßwaſſertümpeln, in welchen unter rieſigen Farnen und Schachtelhalmen gewaltige Landeidechſen gediehen. So viele merkwürdige Funde aber auch hier im Laufe der letzten zwanzig Jahre gemacht worden ſind, die ſeltſamſten traten erſt im Frühjahr 1875 ans Licht. In einer linſenförmigen Mergelbank des ſogen. Stubenſandſteins kam eine Anzahl lichtblauer Knochen und Schuppen zu Tage, deren Farbe ſich ſcharf von dem graugrünlichen Sand-Mergel abhob, in den fie gebettet waren. Die gut geſchul— ten Arbeiter ſammelten auf das Sorgfältigſte alle Bruchſtücke und brachten ſie dem lang— jährigen Abnehmer ihrer Funde, der mit der Nadel jedes Sandkörnchen entfernte, und ) Mit drei lithographiſchen Tafeln und drei Holzſchnitten. Stuttgart E. Schwei— zerbart'ſche Verlagsbuchhandlung (E. Koch) 1877. 22 S. in gr. 4. N ss —— —„—-᷑—:C—24ʃ nach anderthalbjähriger geduldiger Arbeit, wurde eine Gruppe” von vierundzwanzig Individuen einer bisher unbekannten Eidechſe blosgelegt, die nun eine Zierde des K. Na— turalienkabinets in Stuttgart bildet, und in einem prächtigen Farbendruck der Origi— nalabhandlung dargeſtellt iſt. Trotz der lebensvollen, zum Theil elegant geſchlängelten Stellungen, welche die gepanzerten Körper dieſer Eidechſen auf der Platte einnehmen, iſt jedoch nicht daran zu denken, daß ſie etwa lebend in ihrem Tümpel begraben worden wären; ihre Lage unter- und über— einander, der theilweiſe Zerfall der Knochen zeigt vielmehr klar, daß ſie dort erſt als Leichen zuſammengeſchwemmt worden ſind. Die Knochenplatten der Panzerung, wie auch die inneren Knochen, ſind in Vivianit ver— wandelt, und ſo vortrefflich erhalten, daß ſich ſogar Dünnſchliffe herſtellen ließen. Aus den einzelnen Exemplaren, deren ver— ſchiedenartige Wendungen den Bau der äußeren Skelettheile in großer Vollſtändig— keit zeigen, ließ ſich folgende Charakteriſtik des Thieres ableiten. Der ganze Körper der Vogelechſe vom Scheitelbein an bis zum letzten Schwanzwirbel iſt in ein regelmäßiges Syſtem von Panzer- platten eingehüllt, wie unter den lebenden Rep— tilien nichts Gleichartiges exiſtirt. Als ähnlich bepanzert können nur die Krokodile und unter dieſen eigentlich nur die Gaviale in Betracht gezogen werden. Ein großer Unter— ſchied bleibt aber ſtets darin, daß die Pan⸗ zer der lebenden Krokodile mit Ausnahme der Rücken- und Nackenſchuppen mehr oder minder hornartig ſind, während die Panzer unſeres Trias-Reptils durch und durch verknöchert erſcheinen. Dieſes Panzerhemd, welches den im Durchſchnitt 0,80 Meter langen Körper des Aötoſaurus mit Ausnahme des Kopfes vollſtändig ein— e F — 7 ie Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 59 hüllt und aus ca. 70 knöchernen Schup- penringen beſteht, hat ihm den Namen des gepanzerten (kerratus) eingetragen. Jeder einzelne, den walzenförmigen Leib der Echſe umſpannende Schuppenring beſteht aus zwei meiſt oblongen Rückenplatten, die in der Mittellinie zuſammenſtoßen, einem Paar quadratiſchen Seitenſchildern und je vier Paar quadratiſchen Unterſchildern d. h. im Geſammt zwölf Platten. Form und Größe der Platten ändern ſich, je nach dem Kör⸗ perumfang; ſie greifen mit Ausnahme der in der Mittellinie ſich begegnenden Platten leicht dachziegelförmig übereinander und ſind an den Beugeſtellen des Halſes wie der Füße durch runde und ovale zierliche Knochen— ſchuppen erſetzt. Sämmtliche Schuppen ſind mehr oder weniger auf der Außenſeite ge— wölbt (am meiſten die Rückenſchilder) und mit einer ſtrahligen Sculptur verſehen, ähn— lich kleinen Sonnenbildern. Betrachten wir nun zunächſt den Kopf, ſo glauben wir eher einen Vogel oder einen Meeraal zu ſehen, als einen Saurier oder Krokodil-Verwandten. Das durchbrochene Kopfſkelet, an welchem neben Augenhöhle und Naſenhöhle noch drei weitere Höhlen vorhanden find, nämlich eine Ihränenbein- grube, Schläfengrube und Unterkiefergrube, und das Fehlen der knöchernen Scheidewände, welche die Grubenpaare trennen, iſt ſo typiſch vogelartig, daß der Saurier hiernach feinen Geſchlechtsnamen Adtosaurus (& 6s der Adler, gerços die Eidechſe) erhielt. Die erläuternde Unterſchrift der beiſtehenden Schädelabbildung, deren Benutzung uns die Verlagshandlung freundlichſt geſtattete, deutet die Vogelähnlichkeiten der einzelnen Theile noch näher an. In dem Oberkiefer be— finden ſich neun geſonderte, tief in die Knochen eingeſenkte Zahnhöhlen, in welchen ebenſo— gleichförmige Zähne viele untereinander ſtecken, die ſeitlich zuſammengedrückt, durch— aus keine Aehnlichkeit mit Eidechſen- oder Krokodilzähnen haben, wohl aber mit denen der Flugeidechſen (Pterodactylus und Rham- phorynchus). Ebenſo charakteriſtiſch für Aötosaurus wie für Pterodactylus iſt dabei das Aufhören der Zahnreihe vor den Augenhöhlen. Der Zdwiſchenkiefer enthält vier mittlere Oberzähne, und der Zahntheil des Unterkiefers zwölf oder möglicherweiſe auch dreizehn Unterzähne. Was die durch die ausgezeichnete Er— haltung des Schuppenpanzers meiſt ver— borgenen Knochen des inneren Skeletes und namentlich der Wirbelſäule betrifft, ſo waren wahrſcheinlich ebenſoviele Wirbel wie Pan— zerringe, alſo gegen ſiebzig Stück vorhan— handen, die am Halſe mehr denen des Moni— tor gleichen, während die Lendenwirbel einen krokodilinen Charakter zeigen. Auch in dem Schultergürtel und dem Beckentheil miſchen fi auf das Seltſamſte die Eigenthümlich— keiten von Krokodil, Eidechſe und Vogel. Zu dem krokodilartigen Bruſtbein und dem ſaurierartigen Rabenbein geſellt ſich ein Schulterblatt, welches weder zu Krokodil noch zu Saurier ſtimmt, ſondern geradezu vogelartig genannt werden muß, und in ſeiner Geſtalt an die Skapula der Raub⸗ vögel erinnert. Die 0,120 — 0,142 Meter langen Vorderbeine kommen in ihrer ge— ſammten Bildung denjenigen der Wüſten⸗ eidechſe (Varanus) am nächſten. Die Bild— ung der Beckenknochen iſt weder denen der Krokodile, noch denen der Saurier recht ähnlich; ſie erinnert eher an diejenigen der Säugethiere, am meiſten aber an diejenigen der Dinoſaurier, namentlich Zanclodon. Die Totallänge der Hinterfüße beträgt 0,225 Meter, ſo daß ſich das Längenverhältniß der vordren zu den hintern Extremitäten wie 5:9 ſtellt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Schädel von Adtosaurus ferratus Fraas, o Hinterhauptsbein (os oecipitale), p das von allen bekannten Reptilien durch feine paarige Bildung abweichende Scheitelbein (os parietale), k das aus fünf durch Nähte vereinigten, paarigen Knochen beſtehende Stirnbein (os frontale), n das ſchnabelförmig vorgeſtreckte Naſenbein (os nasale), i der Zwiſchenkiefer (os intermaxillare), m der Oberkiefer, 1 das Thränenbein (os lacrymale), welches große Aehnlichkeit mit demjenigen der Vögel, beſonders der Kraniche, beſitzt, ju das Jochbein (os jugale), mit welchem das ebenfalls ſehr vogelähnliche Qua- drato jugale verbunden iſt, qu das Quadratbein (os quadratum), an welchem der Gelenktheil des Unterkiefers (at) hängt. Zwiſchen dieſem und dem Zahntheil (pars dentalis) d umſchließen die beiden Winkelbeine ag (os angulare) ein großes, länglich ovales Kinnladenloch (koramen mandibulum), welches bedeutend zur Erleichterung des Schädels dient und nächſt dem Thränenloch am meiſten zur Vogelähnlichkeit beiträgt. Längsdurchſchnitt Zahnes eines 4: J). 1 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 61 Während wir aus der ausführlichen Beſchreibung des Thieres, wie ſie Herr Prof. Fraas mit Hülfe der prächtigen Tafeln ſeiner Monographie bietet, nur wenige Einzel— heiten herausgreifen konnten, ſcheint es uns zweckmäßig, dasjenige, was er am Schluſſe ſeiner Abhandlung über die Stellung dieſes Thieres im Syſteme ſagt, wörtlich wieder— zugeben: „Die Schwierigkeit der Stellung von Aötoſaurus im Syſtem,“ jagt er, „iſt aus dem Bisherigen ſchon hinlänglich klar geworden. Wir haben keinen Krokodilinen vor uns: davon überzeugt uns ein Blick auf den Schädel mit dem beweglichen Qua— dratbein und der doppelten Naſenhöhle, auf das Rabenbein, den Rollhügel am Ober— ſchenkelknochen, den aufſteigenden Fortſatz des Sprungbeins und den nicht mit Schil— dern, ſondern mit Knochenplatten bedeckten Körper. Ebenſowenig haben wir es aber ausſchließlich mit dem Lacertiliencharakter zu thun, wenn auch die getrennten Nafen- löcher und das bewegliche Quadratbein da— für ſprechen, denn das Scheitelbein iſt paarig und das Stirnbein beſteht aus einer großen Anzahl einzelner Theile. Wie die einzelnen Knochen des Schädels bald nach der einen, bald nach der andern Familie der Reptile hinweiſen, ſo auch die verſchiedenen Extremitäten. Die vordern Extremitäten weiſen in ihrem oberen Theile zu den Krokodilinen, im untern Theile zu den Varanen. Bei den hintern Extremi— täten iſt der Fall ein umgekehrter, indem der obere Theil an Dinoſaurier erinnert, der untere an Krokodilinen. Durch Schädel und Vorderextremitäten aber blickt immer ein Vogel durch, deſſen Typus man im viermal durchbrochenen Oberſchädel, im durchbrochenen Unterkiefer und dem ſäbel— förmigen Schulterblatt erkennt. Man möchte in der That auch den Muth verlieren, einem paläontologiſchen Fund, wenn er noch ſo vollſtändig iſt, wie dies glück— licherweiſe bei Aötoſaurus zutrifft, alsbald ſeine Stellung in der Reihe der Reptile anzuweiſen, wenn man ſich die wunderbaren, faſt fabelhaft klingenden Entdeckungen foſſiler Reptile in Südafrika?) vergegenwärtigt, welche uns das Stückwerk unſeres paläonto— logiſchen Wiſſens in ſeiner vollen Größe vor Augen führen. Um die neuen Geſchlechter unterzubringen, müſſen ganz neue Ordnungen und Gruppen geſchaffen werden, dieſe ſelbſt aber öffnen uns den Einblick in eine reiche Welt der Vorzeit, aus der ſich die Reptile der Jetztwelt nur wie kümmerliche Reſte er halten haben. Da iſt 1) ein Reichthum der Dinoſaurier, die als die jüngſten Rep— tile der afrikaniſchen Trias angeſehen werden. Die bezüglichen Geſchlechter, je in mehr— fachen Arten, find: Tapinocephalus, Pareia- saurus, Anthodon. 2) Von der Ordnung der Theriodontia hatte man bis jetzt noch gar keine Ahnung. Es ſind Saurier mit der ausgebildeten Zahnung der Fleiſchfreſſer und mit Kopfformen, welche glauben machen, man habe wirklich Köpfe fleiſchfreſſender Säugethiere vor ſich. Lycosaurus, Tigri- saurus haben die reinſte Zahnformel der Carnivoren. Eine eigene Gruppe bilden ferner Cynodracon, Cynochampsa, Cyno- suchus, Galeosaurus, Scaloposaurus, Pro- ) Der „Deseriptive and illustrated cata- logue of the fossil reptilia of South Africa by R. Owen“ 1876, giebt eine lange Reihe vollſtändig neuer Reptilgeſchlechter, welche zwiſchen dem 33. und 31.“ ſüdlicher Breite von den Karroo's des Kaplandes aus einer abſoluten Meereshöhe von 1200 — 1800 Fuß ſtammen und ſämmtlich der Trias ange— hören. Mit Recht ſtellt der gelehrte Verfaſſer an die Spitze ſeines Katalogs das alte Wort des Plinius: Semper aliquid novi Africa affert. — . colophon, Gorgonops. 3) Nicht minder merkwürdig und geradezu unbegreiflich iſt die reiche Ordnung der Anomodontia, bei welchen nur entweder zwei rieſige Zähne etwa in der Mitte der Kiefers beſtehen, oder ein wirkliches Fehlen der Zähne ſtatt— findet. Dicynodon iſt in mehr als zehn Arten vertreten: fürchterliche Schädel bis zur Größe von Nilpferdſchädeln. Am Oberarm fehlt ihnen das condyloide Loch nicht, das allen katzenartigen Säugethieren eigen iſt. Oudenodon iſt ein reich ver— tretenes Geſchlecht aus der Gruppe der Cryptodontia; den Schluß bilden Sau— rier mit Schildkrötenköpfen: Kistocephalus, Endothiodon mit einer Anzahl hinter und neben einander ſtehender Mahlzähne hinter einem kräftigen Eckzahn. Von den Laby⸗ rinthodonten, welche Owen zu den Am— phibien ſtellt, ſchweigen wir ganz und führen nur Owen's Worte ſelber an: „Wenn wir die großartige Entwickelung der ausge— ſtorbenen Triasreptile den dürftigen Reſten lebender Reptile gegenüberſtellen, ſo ſcheint es, als hätten wir ſtatt eines organiſchen Fortſchreitens dieſer Thierklaſſe es nur mit Entartung und Rückſchritt zu thun.“ An Triasreptilen finden wir Halswirbel mit kugelförmigen Gelenkköpfen, wie beim Nas— horn; Heiligenbeine die aus fünf und ſechs Wirbeln zuſammengeſetzt find; zuſam— mengeſetzte Kauzähne, wie bei Megatherien; Jochbögen wie bei Känguruh's; Zähne, welche einzelnen Funktionen der Ernährung angepaßt ſind, wie bei warmblütigen Vierfüßlern, und ſchließlich eine knochige Struktur der Vordertatze, deren Daumen zwei Phalangen hat, während die übrigen vier Finger drei Phalangenglieder zählen. Von allen dieſen Merkmalen iſt der Zoologie an lebenden Arten kaltblütiger, luſtathmender Eileger nichts bekannt, und Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wäre die Exiſtenz ſolcher Thiere ohne die Paläontologie durchaus unbekannt geblieben. Jetzt aber wiſſen wir, daß die reiche Aus— ſtattung der warmblütigen Säugethiere in früheren Zeiten eine Klaſſe kaltblütiger Thiere ſchmückte, welche dieſe Vorzüge wie— der verloren haben. Zur Zeit der Trias ſtanden die Reptile auf einem Höhepunkte der Entwickelung; ſie waren in der Leibes— maſſe am größten, am zahlreichſten in den Individuen, am meiſten variirend in den Arten, am beſten ausgeſtattet mit den Werk— zeugen der Fortbewegung und den Werk— zeugen der Ernährung, um ſowohl mit animaliſcher als auch mit pflanzlicher Nahr— ung fertig zu werden. Aber dieſe voll— kommenen Bauformen ſind den Reptilien wieder genommen und auf eine andere Thierklaſſe übertragen worden, ſo daß, was einſt der Vorzug der Reptilien war, heute nur noch bei den Vierfüßlern von höherer Beſchaffenheit des Lebensſyſtems auftritt. Die Krokodilinen theilte Huxley 1875 ein in 1) die Ordnung der Parasuchia (Stagnolepis und Belodon der Trias) 2) Mesosuchia (Teleosaurus, Steneosau- rus, Pholidosaurus, Hyposaurus der Jura und der Kreide) 3) Eusuchia (Gavialis, Crocodilus, Caiman, Jacare der Gegen— wart). Es nähern ſich nun die Para- suchia in allen Punkten, in denen ſie von den übrigen Krokodilinen abweichen, den Ornithoſceliden und Lacertilien. Mit Recht vermuthet daher Huxley und nach ihm Dr. B. Vetter in Dresden, daß die Eigen— thümlichkeiten, welche die Paraſuchien mit den Ornithoſceliden gemein haben, auf eine ge— meinſchaftliche Abſtammung beider Formen von einem einfacheren, wahrſcheinlich lacerti— lienartigen Typus hinweiſen. Schon in den Dinoſauriern kann man trotz der Maſſigkeit ihrer Körperformen Anklänge —— — ung ee Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 63 an Vögel wiederfinden, andrerſeits fehlen den triaſiſchen Ornithoſceliden einige weſent— liche Ordnungsmerkmale, an deren Stelle Lacertiliencharakter tritt. Bereits mehren ſich die Brücken, welche einſt ſtreng geſchie— dene Thiergruppen einander näher rücken, und mit vollem Recht wird die Hoffnung ausgeſprochen, daß gerade die Trias, deren Armuth an Foſſilien bisher landesübliche Phraſe war, mit der Zeit immer vollſtän— diger die Bindeglieder zwiſchen der Primär— und Secundärzeit liefern werde. Wohl ſteht Astosaurus als einer der von der Wiſſenſchaft erwarteten Ornitho— ſceliden mit lacertilem Charakter nunmehr da, doch löſt er noch keines der Räthſel des vielverzweigten Stammbaums der Reptilien, bildet vielmehr für ſich ſelbſt wieder ein neues Räthſel, das erſt durch weitere Funde in der Trias ſeine Erklärung finden wird.“ Vom IX. Anthropologen- Tage. (Die Schädelfrage und die ägyptiſch— ſyriſche Stein-Zeit.) Am erſten Tage der diesjährigen Ber- ſammlung der deutſchen anthropologiſchen Geſellſchaft in Kiel (12. — 14. Auguſt) hielt der geheime Rath Virchow einen Vortrag über die Statiſtik der Schädelformen Deutſchland's, in welchem er zu dem überraſchenden Reſultate kam, daß die Schä— delform ſich nicht nach Abſtammung und Sprache richte, ihre dolichocephalen und brachycephalen Typen nicht im Rahmen der Nationalität bilde, ſondern daß die Kurz— köpfe ſich ſeinen neuen Feſtſtellungen gemäß, der Alpen- und Gebirgslinie folgend, quer über unſern Welttheil verbreiten, während die Langköpfe in der Ebene gefunden wer— den. Darnach ſtänden die Anthropologen alſo nach langjährigen Meſſungen und darauf gebauten, oft höchſt abenteuerlichen Hypo— theſen nunmehr vor der Wahrſcheinlichkeit, daß ſich in der Schädelform nicht im Sinne des guten Vater Gall die Fähigkeiten und Mängel der verſchiedenen Raſſen, ſondern in erſter Reihe topographiſche und klimatiſche Eigenthümlichkeiten geltend machen. Eine ſchnellere und ſchönere Beſtätigung der neu— lichen Bemerkung Häckel's, daß die lan— desübliche Anthropologie und Schädelmeſſerei nicht viel mehr als Spielerei geweſen, konnte kaum erwartet werden. Unter den übrigen Vorträgen erregt beſonders derjenige von Dr. Mook aus Kairo über ägyptiſche Steinzeit In— tereſſe. Bekanntlich erſcheinen jene älteſten Culturländer: Aegypten, die Sinaihalbinſel, Paläſtina, Syrien und Arabien ſtellenweiſe an der Oberfläche wie beſät mit rohen Stein— werkzeugen, zum Beweiſe, daß der älteſten Cultur auch hier eine allerälteſte vorange— gangen iſt, von der nur die Steine erzählen. Es hatten nun namentlich deutſche Reiſende und Forſcher, die Aegyptologen Lepſius und Ebers voran, den auswärtigen For- ſchern gegenüber behauptet, jene rohen Stein— ſplitter würden dort einzig und allein durch die ſtarken Temperaturunterſchiede zwiſchen Tag und Nacht, oder durch Regen, der auf das heiße Geſtein fällt, abgeſplittert. Deſor, Eſcher von der Linth, Fraas und andre deutſche Geologen überzeugten ſich durch den Augenſchein von dem Vorkommen der noch zuſammenpaſſenden Theile ſolcher durch Temperaturwechſel geſprungenen Steine. Fraas ſah eines Morgens einen Feuer— ſteinſplitter in den Strahlen der Morgen- ſonne ſich ablöſen und Wetzſtein hörte in Syrien Dioritblöcke in der Sonnengluth mit einem lauten Knall zerſpringen. Wenn nun auch zweifellos in jenen heißen Ländern 64 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. auf dieſe Weiſe Steinſplitter gebildet werden, jo konnte Dr. Mook doch eine reiche Sammlung roher Steinwaffen aus Aegypten vorlegen, deren Beſchaffenheit jeden Zweifel in ihre Herſtellung durch Menſchenhand ausſchließt. Dr. Mook wendete ſich dann ſpeziell gegen die Anſicht Browne's, welcher die Anfertigung der Steininſtrumente von Helouan nicht vor das 15.— 18. Jahr— hundert vor unſre Zeitrechnung ſetzen wollte, und bewies das Gegentheil durch ſeine Unter— ſuchungen ägyptiſcher Wohnplätze und Kno— chenfunde, deren hohes Alter und prähiſto— riſcher Charakter gerade in Aegypten am beſten ins Licht tritt, da man weiß, wie dort in den fernften hiſtoriſchen Zeiten die Todten behandelt wurden. Virchow hielt es für „nationaler“, Lepſius und die andern Landsleute zu vertheidigen, und berief ſich auf Schweinfurth, der ebenfalls gerechte Zweifel an der Echtheit der über die ganze Wüſte verbreiteten Steinmeſſer aus— geſprochen habe. Dr. Mook konnte ihn aber hinſichtlich Schweinfurth's beru— higen, da dieſer inzwiſchen ſeine Meinung geändert habe. Auch Prof. Oskar Fraas hat in der vor kurzem veröffentlichten Fort— ſetzung ſeines Buches: „Aus dem Ori— ent“) die Echtheit der prähiſtoriſchen Funde der ſyriſchen, ägyptiſchen und arabiſchen Wüſte auf Grund ſeiner neuern Unterſuch— ungen anerkannt, indem er einen ſcharfen Unterſchied macht zwiſchen den jedem Wüſten— reiſenden bekannten, durch Temperaturwechſel entſtehenden Steinſplittern und den Arte— fakten. Als Erklärung, weshalb dieſe Steine jetzt zahlreich auf der Oberfläche gefunden wer— den, giebt Fraas den Umſtand an, daß der fortwährende Wind auf dem ſterilen Boden den trocknen quaternären Sand hinweggeweht Stuttgart, E. Schweizerbart'ſche Buchhandlung (E. Koch) 1878. habe. Wenn man andererſeits zum Gegen— beweiſe anführt, daß dieſe Splitter in weiter Ausdehnung über Gegenden zerſtreut liegen, die, weil den glühendſten Sonnenſtrahlen aus— geſetzt, unbewohnbar und völlig ſteril ſind, fo beweiſt er aus jüngern Kalktuff-Ab- drücken von Eichen-, Buchen- und Birken— blättern, daß die Wüſte früher ein viel ge— mäßigteres Klima gehabt und zum Theil reich bewaldet geweſen ſei. Die quaternären Schichten und Höhlen am Libanon enthalten ſolche Artefakte gleichzeitig mit den Reſten des Menſchen und vorweltlicher Thiere (Höhlenbär, Höhlenlöwe, Wollhaar-Rhino— zeros, Urſtier und Urſchwein, Pferd und Hirſch) ganz wie bei uns. Dieſe Anfänge der Cultur mögen hier ſtattgefunden haben, während ein großer Theil Europa's noch mit Eis bedeckt war und kühle Winde her— über ſandte. Ref. möchte hierbei noch darauf aufmerkſam machen, daß die alten Juden bereits vor einigen Jahrtauſenden in dieſer Frage ſchärfer geſehen zu haben ſcheinen, als Lepſius und Virchow, indem ſie dieſe Kieſelſteinmeſſer ſogleich für das erkannten, was ſie ſind, wirkliche Werkzeuge. Vor vier Jahren entdeckte der franzöſiſche Archäologe Viktor Guér in in der Nähe der Ruinen von Jericho einen Ort, der über und unter der Oberfläche ſehr reich an ſolchen zuge— ſchärften Steinen iſt, und Dſcheljul von den Arabern genannt wird. Gué rin er— innerte ſich hierbei einer Stelle im fünften Capitel des Buches Joſua, worin es heißt: „Der Herr ſprach zu Joſua: Mache dir ſteinerne Meſſer und beſchneide die Kinder Iſraels zum andern Mal.“ Da nun oben- drein hinzugefügt wird, daß die Stätte dieſer Maſſenexecution in jener Gegend lag und „Gilgal genannt ward bis auf den heutigen Tag“, jo hat Gukrin möglicherweiſe wirk— lich die Gegend, welche der Verfaſſer des f 3 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Buches Joſua im Auge hatte, aufgefunden und an den daſelbſt verſtreuten zahlreichen Steinmeſſern richtig erkannt. Djeljul-Gilgal klingt wenigſtens ſehr verführeriſch. Eine andre Frage wäre es, ob wirklich Joſua ſo viel hundert Steinmeſſer abgeſtumpft ha— ben könnte, als da umherliegen, und ob es nicht vielleicht, ſtatt die Steinmeſſer von der Maſſenbeſchneidung herſtammen zu laſſen, richtiger wäre, die Sache umgekehrt zu neh— men, und die Beſchneidungsgeſchichte von den bei Gilgal maſſenhaft zerſtreueten Stein— meſſern abzuleiten. Verdachte berechtigende Moment liegt darin, daß der mythiſche und bekanntlich äußerſt wunderſüchtige Verfaſſer des Buches Joſua an dieſe reiche prähiſtoriſche Fundſtätte von Gilgal noch allerlei andre Geſchichten an— knüpft. Hierher hatte er das Lager verlegt, von wo die Juden aufbrachen, um die Mauern von Jericho umzublaſen; doch dabei konnten die Steinmeſſer nicht wohl gebraucht worden ſein. Nun hatte man ſie aber in alten Zeiten zur Beſchneidung angewendet, und daran ließ ſich eine leichte Erklärung knüpfen. Man darf ſich nur erinnern, wie ſich bei uns an jede beſondre Steinbildung Lokalſagen knüpfen, um dem jüdiſchen Alter— thumsforſcher Gerechtigkeit widerfahren zu laſſen. Aber zu dieſer dreiſten Exegeſe drängen auch noch mehrere andere Umſtände. Die Steinzeit-Menſchen hatten bekanntlich und aus pſychologiſch ganz verſtändlichen Gründen, auf der ganzen Welt die Gewohn— heit angenommen, dem Verſtorbenen nicht nur ſeine eigenen Steinwaffen, ſondern noch eine ganze Menge anderer für den Gebrauch in jener Welt mit ins Grab zu legen. (Vergl. Kosmos I. S. 146 und III. S. 71.) Nun erzählt eine nicht in den Text unſerer Bibeln übergegangene Stelle der Septua— ginta, nachdem vom Tode und Begräbniß Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. Herr befahl. Das zu einem ſolchen Joſua's die Rede geweſen iſt: „Und da legten ſie mit ihm in das Grab, worin ſie ihn begruben, die Steinmeſſer, womit er die Kinder Iſrael's beſchnitt bei Gilgal, als er ſie aus Aegypten führte, wie der Und ſie ſind dort bis auf den heutigen Tag.“ Viltor Gué rin glaubte alsbald in einer Grotte der Gegend, die allenfalls als Grab gedient haben konnte, das Grab Joſua's entdeckt zu haben, weil nämlich in dem Boden dieſer Grotte eben— falls viele ſolcher Steinmeſſer, wie zu Gil— gal enthalten waren. Auf dieſe Weiſe könnte man freilich beinahe in allen Ländern der Welt Joſua-Gräber entdecken, und damals, als ich in den Schriften der Pariſer Aka— demie der Inſchriften — wenn ich nicht irre vom Jahre 1874 — jene Tollheiten las, kam mir der Gedanke, daß der Verfaſſer des Buches Joſua wahrſcheinlich einmal der Oeffnung eines Grabes aus der Steinzeit beigewohnt haben wird und dieſes dann wegen der Steinmeſſer für das Grab Jo— ſua's gehalten haben muß, da er jo beſtimmt ſagen kann, die Attribute Joſua's ſeien noch zu ſeiner Zeit darin geweſen. Ich wußte damals nicht, daß E. Tylor bereits die— ſelbe Bemerkung gemacht hat, gehe aber weiter als Tylor, indem ich mir die Geſchichte vom Steinfelde zu Gilgal ganz ebenſo er— kläre, ja ich ſtehe nicht an, den unbekannten Verfaſſer des Buches Joſua als den Erz— vater der prähiſtoriſchen Forſchung überhaupt zu verehren. Beinahe jedes Kapitel ſeines Buches knüpft er nämlich an ein andres vorzeitliches Steindenkmal des gelobten Yan- des, welches bis auf die Tage des Erzählers Zeugniß für die Thaten der Väter ablegen mußte und für manche Leute noch heute fo thut. Auf dem Steinfelde von Gilgal ſtanden außerdem zwölf große Steine auf— gerichtet, vielleicht im Kreiſe, wie an ſo vielen 66 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Orten, wofür die Monatszahl ſpricht, und dieſe Verbindung eines Steinkreiſes mit maſſenhaften Feuerſteinwaffen iſt gewiß ſehr lehrreich. In der That iſt Paläſtina be— ſonders reich auch an megalithiſchen Denk— malen aller Art und der Herzog von Luines und Kapitän Ir by haben ihrer eine ſehr große Zahl in der Nähe des Jordan be— obachtet. Jene zwölf, wahrſcheinlich zu einem Kromlech vereinigten Dolmen von Gilgal hätten die Juden, ſo erzählt der Verfaſſer, zur Erinnerung aus dem Jordanbett mit genommen, als ſie trocknen Fußes hindurch— zogen. Aber auch mitten im Jordan ſelbſt ſeien zwölf andere Steine aufgerichtet worden, die man zum Wahrzeichen ebenfalls noch ſehen könnte. Dieſe beiden Geſchichten ſtehen im ſechsten Kapitel; im ſiebenten wird ein „großes“ Steingrab im Thale Achor er— klärt, als das Grab Achan's des „Geſtei— nigten“. Im folgenden Kapitel wird ein zweites ebenfalls „großes“ Steingrab er— örtert, unter welchem der König Ai begraben liegen ſollte und ein „Altar“ aus ge— waltigen unbehauenen Steinen auf dem Berge Ebal. Im zehnten Kapitel wird eine „noch heutigen Tages“ mit großen Steinblöcken verſchloſſene Grotte, offenbar ein Höhlengrab, „hiſtoriſch“ erörtert. In den letzten Kapiteln endlich iſt wieder von Steinhaufen, einem „großen Stein unter der Eiche“, und einigen „Erinnerungs-Al— tären“, die „nicht zum Opfer gedient ha— ben“ () immer mit genauer Ortsangabe die Rede. Mit einem Worte, dieſes Buch, in welchem das Jordan-, Jericho- und Sonnenſtillſtands-Wunder nebſt einigen an— dern deſſelbigen Gleichen erzählt werden, iſt die älteſte Urkunde über prähiſtoriſche Funde von Steinmeſſern und Steinmonumenten aller Art, und nach einem ſolchen Anfange darf man ſich nicht wundern, wenn die Nachfolger des Pſeudo-Joſua noch heut— zutage in ihren Deutungen mitunter Wunder verrichten. K. Die Erblichkeit der Farbenblindheit. Herr Profeſſor Delboeuf hat in jüngſter Zeit, wie er der Redaktion brief— lich mittheilte, eine Familie beobachtet, in welcher der Vater, ſowie ſeine beiden Kin— der und drei Kinder des einen von ihnen, ſämmtlich Daltonianer ſind. Und zwar war die Art der Abweichung bei ihnen und anderen Perſonen, die Herr Delboeuf inzwiſchen Gelegenheit hatte zu unterſuchen, immer von derſelben Art wie die ſeinige; bei Allen wurde die Abweichung durch Fuchſinlöſung aufgehoben. Dadurch wird in der That die von dem Beobachter aus— gedrückte Meinung ſehr wahrſcheinlich, daß es ſich hierbei vielleicht um eine bloße Uebertreibung allgemeiner Anlagen, z. B. Verminderung des rothen Farbſtoffes der Netzhaut handeln könnte. P ö ˙²˙wwͤÄ %ͤÜ6: r r ee \ 1 Profeſſor Dr. Auguſt Weismann, Studien zur Des cendenztheorie. IJ. Ueber den Saiſon-Dimor⸗ phismus der Schmetterlinge. 96 Seiten mit 2 Farbendrucktafeln. II. Ueber die letzten Urſachen der Transmutationen. 336 S. mit 5 Farbendrucktafeln. Leipzig, W. Engelmann, 1875 — 76. 8°, » er Specialtitel des zweiten Theiles bezeichnet das Grundthema, welches alle in dieſer Sammlung bereits er- ſchienenen Studien mehr oder weni— ger vernehmlich durchklingt. Nicht alſo um eine Vermehrung des Beobachtungs-Mate⸗ rials — ſo viel des Neuen dieſe Studien auch bringen — handelt es ſich hier in erſter Reihe, ſondern um die Verarbeitung und Gruppirung eines derartig ausgewähl— ten Materials, um darnach die große Haupt— frage des Darwinismus zu beantworten: „Sind die Naturvorgänge rein mechaniſche Wirkungen der Natur— kräfte, oder müſſen wir in den Organismen eine unbekannte trei— bende Entwickelungskraft anneh— men, wie ſie von verſchiedenen Forſchern unter allerlei Namen aufgeſtellt wird? Weismann nennt dieſe von ihm ſehr Literatur und Kritik. gründlich abgewieſene Triebkraft, um ihre Verwandtſchaft mit dem Begriffe der in den vierziger Jahren beſeitigten (ontogene— tiſchen) Lebenskraft anzudeuten, die phy- letiſche Lebenskraft, Nägeli hatte fie als Vervollkommnungsprincip, Kölliker als Schöpfungsgeſetz, Askenaſy als beſtimmt gerichtete Variation, Hartmann, Huber u. A. als organiſches Entwickelungs— geſetz bezeichnet. Die hier vorliegende Prüfung dieſer Principienfrage iſt darum außerordentlich glücklich durchgeführt, weil ſie uns Allen die Theilnahme ermöglicht. Sie ſetzt keine koſtſpieligen Reiſen an den Meeresſtrand oder in ferne Länder voraus, ſie verlangt keine Arbeit in zoologiſchen In— ſtituten und keine Geſchicklichkeit in der Zer— gliederungskunſt, indem ſie ihre hauptſächliche Arbeit an der heimiſchen und uns allen zugänglichen Inſektenwelt vornimmt. Die Schmetterlinge und ihre Entwickelung, bei welchen ohnehin für die Mehrzahl aller Menſchen das Studium der Zoologie und Entwickelungsgeſchichte beginnt, und bei den Meiſten leider auch aufhört, muß die haupt⸗ ſächlichſten Beweismittel hergeben. Ref. malt ſich gern aus, wie ſchön dieſes Buch un— zähligen Naturfreunden, die im Walde und auf dem Lande leben, als Anleitung dienen könnte, um ſich mit Erfolg an der För— 68 Literatur und Kritik. derung der modernen Biologie zu betheili— gen. In der Verfolgung der Entwickelungs— geſchichte der Inſekten giebt es noch ein unermeßliches Erntefeld, zu deſſen Bearbeit— ung das bloße Auge und die Lupe aus— reichen und an welches ſich dennoch, wie wir hier erſehen, Erörterungen der höchſten Principienfragen knüpfen laſſen. Mit ganz anderem Intereſſe als demjenigen, mit wel— chem wir einſt die Raupe pflegten, um den Falter daraus zu ziehen, lernen wir hier ihre Veränderungen bei jeder Häutung wür— digen, wenn wir erfahren, daß dieſe Ver— änderungen ſich bis in ihre Einzelheiten als ein Produkt der äußeren Lebensverhält— niſſe erklären laſſen, denen die Raupenart in älteren Zeiten ausgeſetzt war, ja daß wir dieſe Veränderungen unter Umſtänden ſelbſt neu herbeiführen können. Das letz— tere Verhältniß wird in der erſten Abhand— lung beleuchtet, die eine Erklärung der von Wallace als Saiſon-Dimorphis— mus bezeichneten Eigenthümlichkeit zahl— reicher Schmetterlingsarten verſucht. Man hat nämlich ſchon ſeit längerer Zeit bemerkt, daß manche in Färbung, Zeichnung und ſelbſt im Flügelſchnitt ziemlich verſchieden erſcheinende und darnach als beſondere Arten betrachtete Schmetterlinge zu derſelben Art gehören, ſofern bei ihnen die aus über— winterten Puppen hervorgehende erſte Früh— lingsbrut mehr oder weniger verſchieden iſt von den Sommerbruten. Die Art der Eck— flügler (Vanessa), an welchen dieſe Beob— achtung in den dreißiger Jahren zuerſt ge— macht wurde, trug vorher die beiden Art— namen V. Levana und V. Prorsa. Beide Formen ſind ſo verſchieden, daß man die eine aus den Eiern der andern ſelbſt ge— zogen haben muß, um die letzten Zweifel zu überwinden, denn erſtere (die Winter— form) iſt braungelb mit ſchwarzen Flecken und Strichen, letztere (die Sommerform) tiefſchwarz mit einer breiten weißen Binde über beide Flügel. Aehnliche Doppelgängerei findet man bei mehreren Weißlingen und Bläulingen und von einem unſerem Segel— falter verwandten Schmetterlinge (Papilio Ajax) hat der amerikaniſche Entomologe Edwards durch Züchtungsverſuche nach— gewieſen, daß er regelmäßig in drei ver— ſchieden benannten Formen auftritt, nämlich in zwei unter einander verſchiedenen Früh— lingsbruten und in drei unter ſich gleichen Sommergenerationen. Um zu prüfen, ob die Temperatur es allein ſei, welche, die Puppenruhe verlän— gernd oder verkürzend, dieſe Verſchieden— heiten hervorbringt, ſetzte der Verfaſſer eine Anzahl von Puppen der Sommergeneration jener Vanessa-Art einer ſtark (durch Eis) erniedrigten Temperatur aus und erlangte dadurch, daß jedesmal eine gewiſſe größere Zahl in einer zwar der Wintergeneration nicht völlig gleichen, aber doch mehr oder weniger ähnlichen Form (Porima) aus— ſchlüpfte. Noch vollkommner gelang dies mit einem kleinen Weißling (Pieris Napi), deſſen Sommerpuppen drei Monate lang in einen Eiskeller gebracht, ſämmtlich (60 Exemplare!) Schmetterlinge ansſchlüpfen ließen, welche die Charaktere der Winter— Generation (namentlich beſtehend in ſtark ſchwarzer Beſtäubung der Flügelwurzeln auf der Oberſeite und ſchwarzgrünlicher der Adern auf der Unterſeite der Unterflügel) beſonders kräftig entwickelt zeigten. Umge— kehrt gelang es dagegen bei keinem dieſer Schmetterlinge durch Erhöhung der Tem— peratur die Sommerform aus Winter— puppen hervorzubringen. Es kann ſich demnach hier um keine Veränderung han— deln, welche durch den Temperaturwechſel an ſich hervorgebracht würde, und die Un— a P} veränderlichkeit der Wintergeneration ließ vermuthen, daß ſie die Urform der Art ſei, auf welche die erſt aus ihr entwickelte Sommerform regelmäßig zurückſchlägt, wenn im Laufe des Jahres jene klimatiſchen Ver— hältniſſe, unter denen die Urform lebte, wiederkehren. In der Kälteperiode, deren Spuren wir überall im nördlichen Europa finden, war der Sommer jedenfalls kurz und verhält— nißmäßig kühl, und die vorhandenen Tag— falter konnten alle nur eine Generation im Jahre hervorbringen; ſie waren „Mo— nogoneuonten“. Als nun das Klima all— mälig wärmer wurde, mußte ein Zeitraum eintreten, in welchem der Sommer ſo lange dauerte, daß eine zweite Generation ſich einſchieben konnte. Die Puppen der Levana- Brut, welche bisher den langen Winter im Schlaf zubrachten, um erſt im nächſten Sommer als Schmetterling zu erwachen, konnten jetzt noch während deſſelben Som— mers, in welchem ſie als Räupchen das Ei verlaſſen hatten, als Schmetterling umher— fliegen, und erſt die von dieſem abgeſetzte Brut überwinterte als Puppe. Somit trat damit ein Zuſtand ein, in welchem die eine Generation unter bedeutend anderen Um— ſtänden heranwuchs, als die zweite. Durch dieſen Umſtand mag allmälig die Prorsa- Form aus der Levana entſtanden fein, in die ſie regelmäßig zurückſchlägt, wenn im Winter die klimatiſchen Verhältniſſe der Eis— zeit das Uebergewicht gewinnen. Dieſe Hy- potheſe erklärt ſehr leicht, warum die Le- vana-Brut nicht direkt zur Prorsa-Form erzogen werden kann, während dieſe un— mittelbar zum Rückſchlag gebracht werden kann. Bei dem oben erwähnten kleinen Weißling drängt ſich dieſe Hypotheſe noch viel nachdrücklicher auf, da dieſer Tagfalter in den Gegenden, die das Klima der deut— Literatur und Kritik. ſchen Eiszeit heute beſitzen, wie z. B. in den Hochalpen und Polarländern, ausſchließ— lich in einer einzigen Generation und Va— rietät auftritt (P. Bryoniae), die als die potenzirte Winterform von P. Napi be⸗ trachtet werden kann. Der zur Regel gewordene Atavismus dieſer Inſekten, die Folge einer Spaltung in zwei oder mehrere klimatiſche Varietäten, die einander nach dem Geſetz der „homo— chronen Vererbung“ ablöſen, bietet nun die größte Aehnlichkeit und vielleicht die Er— klärung eines Theiles jener Räthſel dar, welche wir als Generationswechſel oder Metageneſe bezeichnen. Wir können näm⸗ lich leicht begreifen, wie unter regelmäßig alternirenden äußeren Einflüſſen urſprüng— lich gleichgeſtaltete Reihen von Generationen Ungleichartigkeiten gewinnen, die im regel— mäßigen Cyclus wiederkehren. Der Faktor, der die Umwandlung bewirkte, die Tempe⸗ raturänderung, wird aber ſchließlich zum Hervorgehen mehrerer ſelbſtſtändiger Arten führen, denn wie wir oben ſahen, daß in kalten Regionen nur die Winterform des kleinen Weißlings beſtehen kann, ſo wird in ſolchen, wo kein Winter den Sommer unterbricht, nur die Sommerform aus- dauern können und ſich immer mehr in ihrer beſonderen Richtung entwickeln. Wir können nicht den geiſtreichen Bemerkungen folgen, die der Verfaſſer über das Ver— hältniß dieſer beſonderen Art des Genera— tionswechſels zur Heterogonie und Meta— morphoſe macht, aber alle dieſe Fortpflanz- ungsformen laſſen ſich durch das ſchon er— wähnte Geſetz der homochronen Vererbung erklären, das wir im gewöhnlichen Leben am allgemeinſten in jenen betrübenden Yor- men gewahren, durch welche Fehler und Gebrechen, wie Blindheit, Geiſteskrankheiten u. dergl. bei den Kindern in ähnlichem 70 Alter wie bei ihren Eltern und Voreltern aufzutreten pflegen. Auch die Metamorphoſe der Inſekten wird neuerdings von Lub bock und ande— ren Naturforſchern ganz allgemein durch indirekte Einwirkung verſchiedener Lebens— bedingungen auf die verſchiedenen Entwickel— ungsperioden eines Inſekts zurückgeführt, und der größte Theil des zweiten Bandes der Weis mann'ſchen Studien beſchäftigt ſich mit dem Nachweiſe, daß dieſe Umwand— lungen wirklich nicht durch eine phyletiſche Lebenskraft, ſondern lediglich durch die Lebensverhältniſſe hervorgebracht wurden. Beſonders beweiſend für dieſe Auffaſſung ſind die ſogenannten „madenförmigen“ Larven, die wir in den verſchiedenſten In— ſektenklaſſen, z. B. bei Hautflüglern, Zwei— flüglern und ſogar bei Käfern antreffen. Dieſe madenförmigen Larven, deren Freß⸗—, Bewegungs- und Sinnesorgane mehr oder weniger reducirt erſcheinen, könnten in Folge deſſen für ſehr primitive Formen gehalten werden, aber, wie dies wohl zuerſt Fritz Müller erkannt hat, ſind es vielmehr verhältnißmäßig neue Formen, denen da— durch, daß ihre an Intelligenz fortgeſchrit— tenen Eltern ſie für das Larvenleben mit flüſſiger Nahrung verſorgten, Kiefer, Kopf, Augen, Beine und wohl auch der After zum Theil überflüſſig wurden und daher verloren gingen. Nach den ſchönen Unterſuchungen Bütſchli's über die embryonale Ent— wickelung der Biene wiſſen wir, daß der Embryo der Made einen vollſtändigen, aus vier Segmenten beſtehenden Kopf mit drei Kieferpaaren wie die Blattwespenlarven oder Afterraupen beſitzt, dieſe Theile aber, ebenſo wie die typiſchen drei Gliedmaßen— paare zurückbildet, ehe er noch als Made ausſchlüpft. Aehnliche Rückbildungen, die ſich nur durch die Anpaſſung an eine neue Literatur und Kritik. Lebensweiſe erklären laſſen, findet man auch bei Dipteren und beſonders ſchön bei den Oelkäfern oder Maiwürmern, deren Larven, zuerſt einem vollkommenen Inſekt ähnlich, mit langen Beinen und Fühlern umherlaufen, dann im Bienenhonig ſchmarotzend, ſehr madenähnlich werden und endlich aus einer durchaus madenartigen Puppe als voll— kommene Inſekten hervorgehen. Hier ſehen wir deutlich, daß die Larven— zuſtände der Inſekten nur Anpaſſungen an äußere Verhältniſſe ſind, denn das wäre doch eine ſehr ſonderbare „phyletiſche Lebens— kraft“ und eine „ſehr unbeſtimmt gerichtete Variation“, welche die Gliedmaßen, die das vollkommene Inſekt braucht, erſt vollſtändig anlegen und dann ebenſo vollſtändig zurück— bilden wollte, um ſie ſchließlich doch wieder neu zu bilden. Es würde von dieſem Ge— ſichtspunkte beinahe ausſehen, als ob die ihrer Sache nicht ganz ſichere „Lebenskraft“ das Bild der Imago erſt „im Unreinen“ probirte, dann völlig auslöſchte und endlich beim dritten, vierten oder fünften Verſuche leidlich zu Stande brächte. Wir ſehen hier— aus, daß ſolche Annäherungen unter den Larvenformen, die durch convergente Zücht— ung entſtehen, nichts mit der allgemeinen Blutsverwandtſchaft der Inſekten zu thun haben, und Weismann in ſeiner Abhand— lung über den phyletiſchen Parallel- ismus bei metamorphiſchen Arten hat dies ſehr ſchön an vielen Beiſpielen nachgewieſen. Die Hymenopteren, Dipteren und Käfer, deren Larven» vorübergehend Madenform annehmen, ſind darum mit einander durchaus nicht näher verwandt und ebenſo wenig brauchen es Schmetterlinge zu ſein, deren Raupen in gewiſſen Stadien einander ſehr ähnlich ſind. Ein Syſtem der Raupen würde daher unter Umſtänden ſehr anders ausfallen als das Syſtem der Schmetterlinge, wenn nicht die ganze Ent— wickelungsgeſchichte des Inſekts in Betracht gezogen wird. In letzterem Falle kann allerdings, wie Weismann in ſeiner Abhandlung: „On— togeneſe und Morphologie der Sphingiden-Zeichnung“ nachgewie— ſen hat, das Studium der Entwickelungs— geſchichte außerordentlich zur Aufhellung des Stammbaumes und der natürlichen Ver— wandtſchaft beitragen. Denn hier zeigt ſich z. B., daß Veränderungen, die eine Raupe durch beſtimmte Anpaſſungen erworben hat, bei anderen, die offenbar Abkömmlinge der—⸗ ſelben ſind, in eine frühere Lebensperiode, wie ſie durch die verſchiedenen Häutungen bezeichnet werden, hinaufrückt, ſo daß eine Schmetterlingsart, deren Raupe einen auf- fallenden Charakter der Färbung und Zeich— nung ihrer Verwandten früher aufweiſt als dieſe, meiſt als jüngere Art betrachtet wer— den kann. Hinſichtlich der Färbungen und Zeichnungen der Raupen zeigt nun Weis- mann auf das Klarſte, daß ſie den Thieren nützlich und demnach offenbar durch Natur— züchtung entſtehen. Im Innern von Bäumen und Pflanzenmark lebende Raupen find farb- los, die freilebenden beſitzen entweder Schutz⸗ färbungen, wenn ſie nämlich von ihren Feinden gern gefreſſen werden, oder Trutz— färbungen, wenn ſie übelſchmeckend ſind. Von den vielen Beiſpielen, die der Ver— faſſer über den biologiſchen Werth der Raupenfärbung anführt, ſeien hier nur einige wenige erwähnt. Schon die Häufig⸗ keit der grünen Farbe bei den Raupen zeigt, daß es ihnen nützlich iſt, auf dem Futterkraut nicht geſehen zu werden, und mitunter wird ſogar die für einen Maler nicht leicht zu treffende Nüance der Blatt⸗ färbung nachgeahmt, ſo z. B. das eigen— thümliche Graugrün des Sanddorns von Literatur und Kritik. 11 der Raupe des Sanddorn - Schwärmers. Zahlreiche Raupen, die in der Jugend gleichmäßig grün ausſehen, verändern ſpäter dieſe Farbe, welche wohl das kleine Thier, aber nicht ein größeres genügend ſchützen kann (namentlich bei den Sphingiden). So wird die Raupe des großen wie des kleinen Weinſchwärmers und ebenſo die des Nacht— kerzenſchwärmers ſpäter bräunlich bis ſchwärz— lich. Dann hören ſie aber auf, bei Tage zu freſſen, und halten ſich an dürren Stengeln oder Blättern reſp. auf der Erde auf, wo ſie dann ebenſo ſchwer zu ſehen ſind, wie vorher in ihrem grünen Jugend— kleide auf dem Laube. Der erwachſenen Raupe muß es be— greiflich ſehr nützlich werden, um ſie un— kenntlicher zu machen, wenn die breite grüne oder andersfarbige Fläche durch hellere oder dunklere Streifen in mehrere kleine Felder zerlegt wird. Namentlich muß es für Raupen, die an ſchmalblättrigen, vielſtengligen, oder ſonſt geſtreiften Kräutern leben, nützlich werden, wenn ſie Längsſtreifen auf dem ſympathiſch gefärbten Grunde beſitzen. Eine grüne und weißgeſtreifte Raupe, die an einem Grasſtengel ſitzt, entzieht ſich ſelbſt, wenn ſie daran umherkriecht, einem weniger ſcharfen Blicke. So kann es Jemanden, der dieſe Verhältniſſe nicht kennt, auffallend erſcheinen, daß die mit Augen gezierten Tagſchmetterlinge aus der Familie der Sa— tyriden ſämmtlich längsſtreifige, aber nicht augenfleckige Raupen haben. Aber dieſe Thatſache erklärt ſich leicht, da alle dieſe ſtreifigen Satyriden-Raupen auf Gräſern leben. Bei den meiſten iſt die Grundfarbe grün, bei einzelnen aber wird die erwachſene Raupe braun und verbirgt ſich dann wie die braunen Schwärmerraupen am Tage auf der Erde, um nur des Nachts zu freſſen. Ebenſo ſind die meiſten Pieriden- und 12 Hesperiden-Raupen längsſtreifig und leben auf ſchmalblättrigen und feinſtengligen Schoten- und Hülſenpflanzen, die obendrein, wie die Kleearten, meiſt im Graſe wachſen. Die Raupe des Ginſterſpanners ſieht in Folge ihrer ſchmalen Streifen genau aus wie der feinkantige Stengel dieſer Pflanze, kurz die Längsſtreifung findet ſich überall da, wo man ſie aus Nützlichkeitsgründen erwarten muß. Viel ſchwerer verſtändlich erſcheinen auf den erſten Blick die ſchrägen Streifen, welche den dicken grünen Körper vieler Schwärmer-Raupen zieren. Indeſſen wer— den auch dieſe Schrägſtreifen für denjenigen, der dieſe Raupen ſuchen ſoll, bald ver— ſtändlich. Sie ahmen offenbar die Seiten— rippen der breiten Blätter nach, welche der Raupe als Nahrung dienen. So iſt die Raupe des Abendpfauenauges vermöge dieſer parallelen Schrägſtreifen nur ſchwer von dem Weidenblatte zu unterſcheiden, auf dem ſie ſitzt. Daß dieſe Auffaſſung die richtige iſt, beweiſt der Umſtand, daß ſolche Schrägſtreifen außer bei den grünen Schwärmer-Raupen auch bei anderen Fa— milien vorkommen, aber immer nur bei ſolchen Raupen, die Blätter mit Seiten— rippen freſſen, aber nie bei ſolchen, die auf Gräſern und Nadelhölzern leben. Unter den Schwärmer-Raupen entbehrt keine der auf Blattpflanzen lebenden Arten der Schrägſtreifen; wir erinnern nur an Li— gufter-, Linden, Pappelſchwärmer, Todten— kopf u. ſ. w. Bei der Raupe des ſonſt naheverwandten Fichtenſchwärmers fehlen ſie dagegen. Ebenſo haben die auf Saalweide und Zitterpappel lebenden Raupen der ver— ſchiedenen Arten der Schillerfalter dieſe Schrägſtriche und ſind deshalb, wie den Schmetterlingszüchtern bekannt iſt, ſchwierig zu finden. Literatur und Kritik. Auffallend kann es nun erſcheinen, daß dieſe ſonſt zur Verbergung ſo nützlichen hellen Schrägſtriche mitunter von lebhaft farbigen Säumen eingefaßt ſind, ſo lila beim Liguſterſchwärmer, roth beim Linden— ſchwärmer, beim Todtenkopf blau, bei an— deren gar ſchwarzrothweiß u. ſ. w. In der That erſcheinen dieſe Streifen im hellen Sonnenſchein ſehr auffallend, aber wenn man dieſe Raupen an ihrem wirklichen Standorte im Laubdunkel beobachtet, ſo wirken jene Farbenſäume täuſchend wie kräftige Schlagſchatten der helleren Blatt— rippen, die ſie nachahmen. Auf ähnliche Weiſe gelang es Weismann eine Menge Details der Raupenzeichnung zu erklären, und überall fand er, alle Umſtände in Be— tracht gezogen, daß die erreichte Färbung und Zeichnung dem Thiere nützlich ſein mußte, alſo als biologiſch werthvoller An— paſſungscharakter gedeutet werden konnte. Und zwar ergaben ſich die ausgezeichnetſten Artcharaktere meiſt durch die Zeit ihres Auftretens als ſpätere Errungenſchaften, während die der ganzen Gruppe gemein— ſamen Charaktere gleichmäßig bei allen Ver— wandten in einer früheren Jugendperiode erſcheinen, um in einigen Fällen zu ver— ſchwinden, in anderen ſich umzuwandeln oder weiter auszubilden. Daraus geht hervor, daß auch hier die Ontogeneſe ein abgekürztes Bild der Phylogeneſe darſtellt, und daß man demnach aus der Entſtehungs— weiſe der Zeichnung, wenn man diejenige der verwandten Arten kennt, den Stamm— baum entziffern kann. Aus der Einzel— beobachtung ergaben ſich drei Hauptgeſetze: 1. Die Entwickelung der Raupenzeichnung beginnt mit dem Einfachen und ſchreitet allmälig zum Zuſammengeſetzten vor. 2. Neue Charaktere erſcheinen zuerſt im letzten Stadium der Ontogeneſe. 3. Dieſelben — 0 re ee EEE rücken dann allmälig in frühere Stadien der Ontogeneſe zurück und verdrängen ſo die älteren Charaktere bis zum völligen Verſchwinden derſelben. So beſitzt die Raupe des großen Weinſchwärmers, den die Wiſſenſchaft in Folge der Eigenthüm— lichkeit derſelben, die vordern Ringe rüſſel— artig vorzuſtrecken, nach dem in ein Schwein verwandelten Gefährten des Odyſſeus, El— penor getauft hat, daſſelbe Jugendkleid wie der kleine Weinſchwärmer oder das kleine Schweinchen (Porcellus), aber ſie erſcheinen bei dem letzteren in einer früheren Alters— ſtufe, und ſcheinen demnach anzudeuten, daß das kleinere Schweinchen von dem größeren abſtammt. Trotz dieſer genauen Uebereinſtimmung der nur bei Porcellus weiter geſchrittenen Ontogeneſe hatten einige Forſcher dieſe im Flügelſchnitt etwas ab— weichenden Schmetterlinge von einander trennen wollen, was aber ihrer Entwickelungs— geſchichte nach nicht ſtatthaft ſein würde. Aus dieſem Beiſpiele und aus man— chem anderen ließe ſich ſchließen, daß dieſe nachträglichen Umwandelungen der Larven auf das vollkommne Inſekt nicht zurückwirkten und ebenſo wenig die des Letzteren auf die Larve, und wirklich hat Weis mann dieſen Schluß durch viele Nachweiſe zu erhärten geſucht. Sei dem nun, wie ihm wolle, jeden— falls iſt er durch alle ſeine Beobachtungen zu dem Schluſſe geführt und in demſelben beſtärkt worden, daß die Umwandlungen der Inſekten in allen ihren Lebensſtadien nur durch die Lebensverhältniſſe, nicht aber durch eine phyletiſche Lebenskraft hervor— gebracht werden. In ſeiner letzten Abhand— lung „über die mechaniſche Auffaſſ— ung der Natur“ faßt er die Ergebniſſe ſeiner Unterſuchungen in mehrere Sätze zu— ſammen, die ich möglichſt wörtlich anführen will: „Somit“, ſagt er, „beruht die Ver— Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. Literatur und Kritik. 7 0 ſchiedenheit der Individuen gleicher Abſtamm— ung in letzter Inſtanz lediglich auf der Ungleichheit der äußern Einflüſſe, und zwar einerſeits derjenigen, welche die Entwickel— ung der Vorfahren, andererſeits derjenigen, welche das betreffende Individuum ſelbſt von dem eingeſchlagenen Wege, d. h. von der durch Vererbung übertragenen Ent— wickelungsrichtung um ein Geringes ablen— ken. . . .. Auf dieſe Weiſe läßt ſich die Thatſache der individuellen Variabilität ganz wohl verſtehen; der lebende Organismus enthält in ſich ſelbſt kein Prinzip der Ver⸗ änderlichkeit, er iſt das ſtatiſche Moment in dem Entwickelungsprozeſſe der organi— ſchen Welt und würde ſtets nur wieder genaue Copien ſeiner ſelbſt liefern, wenn nicht die Ungleichheit der äußern Einflüſſe ein jedes neuentſtehende Individuum in ſeiner Entwickelungsrichtung ablenkte; dieſe Einflüſſe find alſo das dynamiſche Ele— ment des Proceſſes Wenn nun die Verſchiedenheiten bei Individuen gleichen Stammes auf der Wirkung ungleicher Ein— flüſſe beruhen, ſo iſt die Variation ſelbſt nichts anders, als die Reaktion des Organismus auf einen beſtimmten äußern Reiz, die Qualität der Vari— ation wird demnach beſtimmt werden durch die Qualität des Reizes und die Qualität des Organismus. In dem bisher betrach— teten Falle der individuellen Variation war dieſe letztere gleich, der Reiz aber un— gleich, und auf dieſem Wege entſtanden bei Organismen von gleicher phyſiſcher Conſtitution kleine Ungleichheiten, Variationen von verſchiedener Qualität. Daſſelbe Reſul⸗ tat, nämlich verſchiedene Variationsquali— täten, kann aber auch auf dem umgekehrten Wege entſtehen, dadurch, daß Organismen von verſchiedener phyſiſcher Natur von gleich e n äußern Einflüſſen getroffen werden. 10 74 Die Antwort des Organismus auf den | gedeutet haben mag. genug übrig, um dieſe Studien, zu einer Abänderungsreiz wird je nach ſeiner Natur eine andere ſein oder mit andern Worten: Organismen verſchiedener Art reagiren verſchiedenartig, wenn ſie von den gleichen Abänderungs— reizen getroffen werden. Die phy- ſiſche Natur des Organismus ſpielt die Hauptrolle in Bezug auf die Qualität der Variationen, ein jeder ſpecifiſche Organis— mus kann daher wohl ungemein zahlreiche, aber nicht alle irgendwie denkbaren Vari— ationen hervorbringen, nämlich nur ſolche, welche ſeine phyſiſche Zuſammen— ſetzung überhaupt möglich macht. Daraus folgt dann weiter, daß die Vari— ationsmöglichkeiten um ſo weiter von ein— ander verſchieden ſind bei zwei Arten, je weiter deren phyſiſche Conſtitution (die Mor— phologie des Körpers einbegriffen) von einander abweicht, daß der Variationskreis bei jeder Art ein eigenthümlicher iſt. Somit werden wir auf dieſem Wege zu der Er— kenntniß geführt, daß allerdings eine „be— ſtimmt gerichtete Variation“ be ſtehen muß, aber nicht im Sinne Asken— aſy's und Hartmann's als Ausfluß eines unbekannten, innern Entwickelungs— prinzips, ſondern als nothwendige d. h. mechaniſche Folge der ungleichen phyſiſchen Natur der Arten, welche ſelbſt bei glei— chem Reiz mit einer ungleichen Variation antworten muß.“ Weismann's Studien, aus denen wir hier nur einige Einzelnheiten mittheilen konnten, enthalten ſo viel anregende Ge— danken, daß einzelnen ideenarmen Köpfen dabei Angſt und bange geworden iſt. Wie dem alten Swammerdammen iſt die In— ſektenwelt ihm eine „Bibel der Natur“ geworden, in die er — wir wollen es den Gegnern zugeben, — auch Einiges hinein Literatur und Kritik. Sicher bleibt dennoch der hervorragendſten Erſcheinungen der dar— winiſtiſchen Literatur zu machen. Die Aus- führung der Farbentafeln und die geſammte Ausstattung entſpricht dem Rufe der Ver— lagsfirma auf's Beſte. K. Die Bedeutung des Anpaſſungs— geſetzes für die Therapie mit be— ſonderer Berückſichtigung der hygieniſchen und diätetiſchen Heilmethoden von Dr. H. Kühne, dirig. Arzt der Waſſerheil— anſtalt „Nerothal“ in Wiesbaden. Leipzig 1878. Ernſt Günther's Verlag. Zu den zahlreichen Beweiſen, von welch befruchtendem und erlöſendem Einfluß die nach Darwin benannte genetiſche Anſchau— ungsweiſe der Natur auf alle mit der Natur ſich befaſſende Wiſſenszweige und Künſte iſt, liefert die vorliegende Schrift einen neuen, glänzenden Beitrag. Ein erfahrener Thera- peut zeigt hier, wie die merkwürdige Wirk— ung der phyſiologiſchen Anpaſſungsmechanis⸗ men die Urſache iſt, daß die Heilkunſt trotz der gewaltigen Fortſchritte der äußerlichen Hilfsmittel doch im Ganzen ſeit Jahrhunderten ſich mehr im Kreiſe dreht, als fortſchreitet, und die Heilwiſſenſchaft, als Ganzes be— trachtet, eine Sammlung von lauter Wider— ſprüchen iſt; daß gegen ein und dieſelbe Krankheit mit den entgegengeſetzteſten Mitteln operirt wird, daß das gleiche Mittel mit Erfolg gegen die verſchiedenartigſten Krank— heiten anwendbar iſt, und über die Erfolge des gleichen Mittels bei der gleichen Krank— heit die widerſprechendſten Erfahrungen vor⸗ liegen und daß praktiſch im Rahmen der Heilkunſt ſo widerſprechende Dinge Platz haben, wie das allopathiſche Etwas und das homöopathiſche Nichts. Indem der Ver— Literatur und Kritik. faſſer dieſe Widerſprüche aus der Wirkung der Anpaſſungsmechanismen erklärt, hat er ſich das große Verdienſt erworben, die The— rapie von dem Alp dieſes Zwieſpaltes er— löſt zu haben. Der Verfaſſer geht von der allgemein bekannten Thatſache aus, daß der Menſch als Ganzes die Fähigkeit hat, ſich den ver— ſchiedenſten Lebensbedingungen anzupaſſen, dann von der durch die Phyſiologie feſtge— ſtellten Thatſache, daß im Körper zahlreiche, aus Nerven beſtehende ſogenannte regulato— riſche Mechanismen vorhanden ſind, deren Thätigkeit darin beſteht, jeder Störung des Gleichgewichtszuſtandes durch Herbeiführung eines neuen andersartigen Gleichgewichts— zuſtandes ein Ende zu bereiten. Indem Ver⸗ faſſer die Herbeiführung des Gleichgewichtes als Anpaſſung an die neuen Bedingungen bezeichnet, kommt er dazu, dieſen Mechanis— men den treffenden Namen Anpaſſungs— mechanismen zu geben, und das Be— ſtreben derſelben, beziehungsweiſe das des Geſammtkörpers, die neue Gleichgewichtslage zu gewinnen, nennt er die Anpaſſungs-⸗ thätigkeit. Der Verfaſſer ſpricht alle wichtigeren therapeutiſchen Methoden, namentlich die Badekuren, Trinkkuren, Luftkuren, Ernähr— ungskuren, auch einige medikamentöſe Ap— plikationen durch und zeigt, wie bei allen, mögen ſie ſo verſchieden ſein wie ſie wollen, die Hauptwirkung darin beſteht, daß ſie die Anpaſſungsmechanismen in Bewegung ſetzen. Von dieſen berückſichtigt er am ausführ- lichſten den vaſomotoriſchen Mechanismus, der die Weite der Blutgefäße und damit das Durchblutungsmaß der einzelnen Or— gane und Körpertheile beſtimmt und aus zwei antagoniſtiſchen Nervengebieten, den ge— fäßerweiternden (depreſſoriſchen) und gefäß— verengernden (preſſoriſchen), ſich zuſammen— 75 ſetzt. Daraus, daß jeder therapeutiſche Ein- griff dieſen Apparat in Bewegung ſetzt, ja daß dies häufig faſt die einzige Wirkung iſt, erklärt es ſich, daß die verſchiedenartigſten Eingriffe die gleiche Wirkung haben können. Aus der Art, wie die Anpaſſungsmecha— nismen zuſammengeſetzt ſind, erklärt der Verfaſſer auch die Thatſache, daß der gleiche Eingriff ganz entgegengeſetzte Folgen haben kann, ja geradezu haben muß. Z. B. die Weite eines Blutgefäßes iſt das Ergebniß eines gewiſſen Gleichgewichtszuſtandes zwi— ſchen der Einwirkung der erweiternden und der verengernden Nerven. Bewirkt eine Reizung ſtärkere Thätigkeit der Verenger— ungsnerven, ſo verkleinert ſich das Kaliber der Gefäße. Allein da jeder erhöhten Thä— tigkeit eines Nerven der Zuſtand der Er— müdung folgt, ſo gewinnt nach einiger Zeit der nicht ermüdete Antagoniſt die Ober— hand und die Wirkung ſchlägt ins Gegen— theil um; dieſer Umſchlag erfolgt um ſo ſchneller, je kräftiger der Reiz war und das kann ſo weit gehen, daß die Anfangs— wirkung, in unſerem Fall die Verengerung, der Zeit nach verſchwinden wird und die Erweiterung allein zum Ausdruck kommt. Ein und derſelbe Reiz wirkt alſo gerade entgegengeſetzt, wenn er die Stärke des Ueberreizes gewinnt. Die Weite einer Blutgefäßprovinz kann aber auch durch Einwirkung auf die andere Seite des vaſomotoriſchen Anpaſſungsmecha— nismus, die Erweiterungsnerven, beeinflußt werden und zwar wieder in doppelter Weiſe: Reizung derſelben hat Erweiterung, Lähm— ung durch Ueberreiz Verengerung zur Folge. Da nun die therapeutiſchen Eingriffe, welche auf die Erweiterungsnerven direkt wirken, ganz andere ſind als die, welche die Ver— engerungsnerven in erſter Linie treffen, ſo erklärt ſich auch die Thatſache, daß 113 76 ganz verſchiedenartige Eingriffe die gleichen Wirkungen haben können. Weiter iſt der Nachweis von Wichtig— keit für die Therapie, daß die Thätigkeit der Anpaſſungsmechanismen geradezu der wichtigſte und häufig allein bewirkte Erfolg eines Heileingriffes iſt. Namentlich zeigt der Verfaſſer, daß bei chemiſchen Eingriffen die Thätigkeit der Anpaſſungsmechanismen den beabſichtigten chemiſchen Effekt in der Regel geradezu verhindert, ja ſogar das Gegentheil hervorbringt. Es wird das als ſchützende Thätigkeit der Anpaſſungsmecha— nismen bezeichnet. Ein Beiſpiel iſt: Wenn man eine mit vermehrter Säurebildung im Körper verbundene Krankheit durch Verab— reichung von Alkali abgebenden Salzen be— kämpfen will, ſo kommt es vor, daß der Körper mehr Säure bildet als zuvor, um die Alkalien durch Neutraliſation unſchädlich zu machen. Als ganz beſonders wichtig für die Therapie ſchildert er das zeitliche Moment. Nach dem Verfaſſer iſt die nächſte Folge jedes therapeutiſchen Eingriffs die Wach— rufung der Anpaſſungsthätigkeit, d. h. des Beſtrebens, einen neuen dieſem Eingriff ent— ſprechenden Gleichgewichtszuſtand herbeizu— führen. Sobald nun dieſes Beſtreben zum Ziele geführt hat, das neue Gleichgewicht erreicht iſt, ſo hört die Anpaſſungsthätigkeit auf und damit verſchwindet in der Regel gerade die Wirkung, welche der therapeu— tiſche Eingriff bezweckte und erreichte und damit hat derſelbe ſeine Wirkſamkeit ver— loren oder die Wirkung iſt eine völlig an— dere. Der Zeitpunkt dieſer ſogenannten Sät— tigung oder Kurgewöhnung trete bei Badeku— ren, Trinkkuren, Luftkuren in der Regel nach 4—6 Wochen ein und wenn man dann nach Aufgabe der Kur von einer ſoge— nannten Nachwirkung ſpreche, ſo ſei das Literatur und Kritik. gar nichts anders, als daß das Aufhören der Kur wiederum eine Störung des Gleich— gewichtes ſei, mit dem Reſultat, daß die Anpaſſungsthätigkeit aufs Neue beginne, um den Körper an den kurloſen Zuſtand an— zupaſſen. Der Verfaſſer erklärt es mit Recht für eine große Lücke unſeres thera— peutiſchen Wiſſens, daß man bei den ver— ſchiedenen Therapismen nicht ſcharf zwiſchen ihrer Wirkung in der Periode der Anpaſſungs— thätigkeit und derjenigen nach bewerkſtel— ligter Anpaſſung unterſcheide, durch die Nicht— beachtung dieſes Unterſchiedes ſei manche Con— fuſion und Unklarheit entſtanden. Es iſt natürlich nicht möglich, auf die Fülle des intereſſanten Details dieſer Schrift einzugehen, die ſicher kein Arzt ohne das Gefühl des Dankes für die gewordene Auf— klärung aus der Hand legen wird. Es ſoll hier nur noch bemerkt werden, daß dieſe Schrift nicht blos von Aerzten, ſondern auch von Patienten geleſen werden ſollte und auch geleſen werden kann. Trotzdem, daß es voll von Kritik iſt, enthält es ſo viel des Poſitiven, daß es unbedingt nicht blos beim Arzt, ſondern auch beim Laien das Vertrauen auf das ärztliche Können kräftigen und dem zum Nihilismus ſich gipfelnden Kri— ticismus beider Theile Abbruch thun muß. J. Geſchichte der Beziehungen zwi— ſchen Theologie und Natur wiſſen— ſchaft, mit beſondrer Rückſicht auf Schöpfungsgeſchichte von Dr. O. Zöckler, Profeſſor der Theologie in Greifswald. Erſte Hälfte. Güters⸗ loh, C. Bertelsmann 1877. 779 S. 8. Von der wohlberechtigten Anſicht aus— gehend, daß unter den Schöpfungsmythen der verſchiedenen Völker die jüdiſche Dicht— ung weitaus den Vorzug der würdigſten und erhabenſten Auffaſſung gegenüber den oft maßloſen und zuweilen ſelbſt komiſch wirkenden Phantaſien anderer Völker ver— diene, wird man dem vorliegenden Buche ein bedeutendes kulturhiſtoriſches Intereſſe nicht abſprechen dürfen. Der Verfaſſer iſt ſeiner Aufgabe mit einer großen Beleſenheit und Gelehrſamkeit gerecht geworden, und wir freuen uns zu denken, daß vielleicht der einſchlägige Artikel im erſten Hefte vorliegender Zeitſchrift, auf den er S. 14 hinweiſt und noch an mehreren andern Stellen zurückkommt, ihm vielleicht die An— regung zu dieſer verdienſtlichen Arbeit ge— geben haben mag. Wir wollen ihm daher keineswegs den Vorwurf der Einſeitigkeit, den er gegen jenen Artikel erhebt, zurück— geben, denn wir halten es für ganz ſelbſt— verſtändlich, daß ein theologiſcher Autor die Dinge nicht von jener einen Seite, ſon— dern von der andern betrachten muß. Jede Partei-Anſicht erſcheint aber dem Geg— ner nothwendig einſeitig, und indem er den Gegenſtand von ſeiner Seite beleuchtet, muß ihm die andere ſogar als Schattenſeite erſcheinen. Aber auch wenn ſich Referent, ſoviel es ihm nur möglich iſt, auf die Licht— ſeite des Buches ſtellt, kann er gewiſſe leiſe Befürchtungen nicht unterdrücken, daß viel— leicht die meiſten Leſer dieſer Zeitſchrift es für keinen allzugroßen Gewinn anſehen möchten, zu erfahren, wie die einzelnen Kirchenlichter secundum ordinem über jene Cardinalfragen der Schöpfung gedacht haben, ob nämlich die Welt in einem ein— zigen Augenblicke oder in mehreren Ab— ſätzen, im Frühlinge oder im Herbſt, im Voll- oder im Neumond erſchaffen worden ſei, was man unter dem vor der Sonne und den andern Geſtirnen erſchaffenen Lichte und unter den überhimmliſchen Waſſern zu verſtehen habe, wann die Engel erſchaffen Literatur und Kritik. Zu worden ſeien, und was dergleichen Pendants zu der Frage: wie viel Engel auf einer Nadelſpitze tanzen können? mehr ſind. Sie mögen vielleicht ſogar finden, daß eine weniger ins Einzelne gehende Erörterung der ſich in immerwährenden Wiederholungen ergehenden Antworten lesbarer ausgefallen ſein würde, indeſſen hat der Verfaſſer bereits ſelbſt her— vorgehoben, daß man ſich ja nur an die allgemeine Darſtellung zu halten brauche, und die ſpecielleren Nachweiſe zum Nach— ſchlagen benützen könne, um ſogleich zu er— fahren, wie ein beſtimmter Autor über dieſe und jene Hauptfrage gedacht habe. Für ſeine Perſon hat Referent auch dieſen Theil mit großem Intereſſe geleſen, für vorliegende Zeitſchrift aber mag es genügen, wenn nur auf einige die moderne Weltanſchauung be— treffende Kapitel näher eingegangen wird. Der Verfaſſer hat nämlich am Schluſſe ſeiner Darſtellung der Schriftauslegung jeder größeren Epoche ein beſonderes Kapitel über vermeintlich evolutioniſtiſche Anklänge bei den Kirchenſchriftſtellern angefügt, in denen er freilich das Hauptbemühen darauf richtet, dieſelben vor dem Verdachte zu ſchützen, als hätten ſie irgendwelche dar— winiſtiſche Anwandlungen gehabt. Bekanntlich läßt der bibliſche Text die Pflanzen und Thiere nicht direkt erſchaffen werden, ſondern es wird dem Waſſer und der Erde geheißen, ſie hervorzubringen, und zwar dem erſteren nicht blos die Er— zeugung der Fiſche, ſondern auch die der Vö— gel. Der heilige Au guſtin iſt noch weiter gegangen, und hat, trotzdem er zu denjeni— gen gehört, welche die Welt nach Luther's Ausdruck auf einen „Hui,“ d. h. in einem Augenblick erſchaffen werden laſſen, der Bibel entgegen, vielfach die Meinung aus— gedrückt, auch der Menſch ſei nicht direkt, ſondern ähnlich wie die Pflanzen und Thiere (ar ra a 78 Literatur und Kritik. indirekt erſchaffen worden. „Nur als künf— tig erſt zu Aktualiſirender, als vorläufiger Entwurf oder Plan, wurde auch der Menſch am ſechſten Tage erſchaffen, als ein zu— künftig erſt werden Sollender, als Schöpf— ungsplan, nicht als Vollzug dieſes Planes (... homo factus est qui esset futurus, ratio creandi hominis, non actio ereati .. .) Der Verfaſſer verwendet viele Mühe da— rauf, zu beweiſen, daß dieſe Anſichten durch— aus keine evolutioniſtiſche Tendenz beſäßen. Indeſſen möchten wir ihn doch darauf auf— merkſam machen daß die Anſichten verſchie— dener überzeugter Evolutioniſten der Gegen— wart — z. B. diejenigen von Weismann, A. R. Wallace, Mivart und vieler An— deren — ſich nur höchſt unweſentlich von obiger Anſicht des heiligen Auguſtin unter— ſcheiden dürften. Der Erde ſelbſt konnte man eine augenblickliche Enſtehung zuſchrei— ben in einer Zeit, wo man noch keine Vorſtell— ung hatte, wie langſam Weltkörper ſich bil— den; den Pflanzen und Thieren dagegen, deren allmäliges Wachsthum man alle Tage ſieht, lag es näher, auch eine derartige erſte Entſtehungsweiſe zuzuſchreiben. Aller— dings hat man nicht im Allgemeinen die Idee einer allmäligen und langſamen Um— bildung der niedern Geſchöpfe zu höheren ins Auge gefaßt, aber dies doch wohl nur, weil man nicht auf den Gedanken gekommen iſt, nicht aber, weil er an ſich ketzeriſch hätte erſcheinen müſſen. Wir ſehen den heiligen Auguſtin nur die augenblickliche Vollendung der Idee des zu Erſchaffenden betonen, nicht die Ausführung, die orthodoxe Kirchenlehre berührt fi) hier ganz mit platoniſchen Grund— ſätzen, und ein principieller Gegenſatz zu evo lutioniſtiſchen Anſichten iſt nirgends zu ſpüren. Im Gegentheil wurde ſogar die Gelegenheit wahrgenommen, ſich denſelben anzuſchließen, wo ſie irgend am Horizonte auftauchten. Beſonders geſchah dies hinſichtlich des Waſſer-Urſprungs der Vögel (Geneſis 1, 20), der gar bald von verſchiedenen Seiten ſo gedeutet wurde, daß die Vögel durch eine ſpätere allmälige Umbildung echter Waſſer— thiere entſtanden ſeien. In Folge eines merkwürdigen linguiſtiſchen Zufalls hat ſo— gar Severian, Biſchof von Gabala in Syrien, bereits im vierten Jahrhundert die ſeit Kurzem erſt zur allgemeineren Ueber— zeugung gelangte Abſtammung der Vögel von den Reptilien buchſtäblich in ſeinem Geneſis-Commentar gelehrt. Wie nämlich bereits Baſilius der Große die Ent— wickelung des Seidenſchmetterlings aus der Raupe als Sinnbild der Auferſtehung ver— wendete, ſo gebraucht Severian jenes Beiſpiel einer noch erſtaunlicheren Evolution als Symbol der chriſtlichen Taufe. Wie einſt, meint er, aus häßlichen waſſerbewohnen— den Reptilien frei am Himmel umherflie— gende Vögel entſtanden ſeien, ſo rufe Gott bei der Taufe dem neugebärenden Waſſer gleichſam zu: „Es laſſe das Waſſer die aus ſich hervorgehen, welche (unreine) Kriechthiere waren, nun aber lebendige Seelen ſind!“ Marius Victor, von Maſſilia (F um 450) welcher die hebräiſche Schöpfungsmythe poetiſch behandelt hat, ſchildert wie die Fiſche allmälig (sensim) zu Vögeln werden mit folgenden Worten: Und nicht genug, daß Fiſche in reichlicher Fülle dort wimmeln, Daß ſie mit ſchuppiger Haut an der obern Fläche ſich tummeln: Nein, erſt flatternd im Waſſer, wird allge— mach droben im Aether Zum Durchſegler der leichten Luft der ge— lehrige Vogel. Auch hatten ſchon ältere Kirchenlehrer, wie der heilige Baſilius, betont, daß ja Fiſche und Vögel völlig gleich organiſirt ſeien, die einen flögen im Waſſer, die an— dern im Aether. Leider hat der Verfaſſer nicht ausgeführt, wie dieſe Anſchauung von der Fiſchnatur der Vögel in ſpäteren Jahr— hunderten zu lebhaften und höchſt lehr— reichen Controverſen führte, vor die Con— cile gebracht wurde und zu der Entſcheid— ung führte, daß die Vögel keine — Fiſche ſeien und alſo auch in den Faſten nicht verſpeiſt werden dürften. Dieſes Kapitel aus „der Entwickelungsgeſchichte der Ent— wickelungsgeſchichte“ würde beſſer als ganze Bände zeigen, wie und wozu die Kirche Entwickelungsgeſchichte und Zoologie ſtudirte und verdiente daher einmal eingehend be— arbeitet zu werden. Doch gehen wir den Spuren einer geſunderen Betrachtung der Natur weiter nach. Ein irländiſcher Geiſtlicher, der in der zweiten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts ein Buch von den Wundern der heiligen Schrift (De mirabilibus Seripturae Sacrae) verfaßte und in der Schöpfungsfrage viel- fach mit dem heiligen Auguſtin ging, zeigte ein anerkennenswerthes Beſtreben, keinen der außerordentlichen Vorgänge des bibliſchen Berichtes anders als naturgeſetzlich vermittelt zu denken; namentlich hinſichtlich der Sintfluth, für deren möglicherweiſe lokale Auffaſſung er an Ueberſchwemmungen der Ufer, Durchbrüche und inſelbildenden Thätigkeit des Meeres hinweiſt und daran thiergeographiſche Fragen knüpft. Er glaubt ſich das Bevölkertſein ſeines heimathlichen Eilands Hibernien mit den gleichen Thier— arten wie die benachbarten Länder, den nämlichen Wölfen, Hirſchen, Wildſchweinen, Füchſen, Dachſen, Haſen u. ſ. w. nicht wohl anders als durch die Annahme eines ur— ſprünglichen, nachher vom Meere zerſtörten Zuſammenhangs deſſelben mit dem Feſtlande erklären zu können. Es ſei doch weniger Literatur und Kritik. 7 wahrſcheinlich, wenn auch möglich, daß dieſe wilden Thiere in Irland wie anderswo direkt von der Erde erzeugt worden ſeien. Im Mittelalter fanden ſich bei den Ara— bern und Juden evolutioniſtiſche Gedanken in pantheiſtiſcher Faſſung, namentlich bei Averroes; die chriſtlichen Philoſophen haben mehrfach den obigen Gedanken der blos virtuellen Schöpfung in dem Sinne mancher heutigen Evolutioniften ausgeführt, namentlich iſt dies von Seiten des Sco— tus Erigena geſchehen. „Ausgehend von der platoniſchen Vorausſetzung eines Belebt— ſeins aller, auch der vororganiſchen Cre— aturen, verlegt er den Urſprung nicht blos des körperlichen, ſondern auch des ſeeliſchen Seins der Thiere in die gemeinſame Mutter und Grundlage aller irdiſchen Exiſtenzen, die Erde; dies freilich nicht, ohne daß Gottes ſchöpferiſches Befehlwort die in ihr ſchlum— mernden Lebenskräfte weckte und das zu— nächſt nur cauſal oder potentiell in ihr ent— haltene Leben hervorriefe. „Weil demnach,“ (ſo heißt es De divis. natur. IV. 4) „in dieſer für ſie alle gemeinſamen Erde, ſämmtliche Thiere nach Leib und Seele ihren Urſachen und Urgründen nach (causaliter et primordialiter) geſchaffen ſind, — — — ſo iſt's kein Wunder, wenn dieſelbe durch gött— lichen Befehl geheißen wird, „lebendige Seele“ d. i. lebendige Thiernatur (animam viven- tem, h. e. animal vivens) hervorzubringen, auf, daß ſie eben das, was ſie urſächlicher— weiſe und verborgen den Urſachen und Grün— den nach enthielt, offenbarlich in Geſtalt von Gattungen und Arten hervorbrächte.“ Nirgends begegnet man einer Vermuth— ung, daß der Menſch aus den Thieren ge— worden ſein könne, wie nach obiger Anſicht die Vögel aus Fiſchen oder Reptilien. Wie die Araber zwiſchen wilden Thieren und Menſchen die intelligenten Thiere (Ameiſen, i 80 Bienen u. a.) als Mittelſtufe einſchoben, ſo betrachtete Picus Mirandula die Hausthiere als ſolche, natürlich ohne jeden evolutioniſtiſchen Nebengedanken. Doch konnte der ſcharfſichtige Albertus Magnus in Hinblick auf die Aehnlichkeit des Menſchen mit den Säugethieren nicht umhin, eine er— läuternde Bemerkung zu machen, die ſich als der Vorfahr des Linné'ſchen Diktum: „Die Natur macht keine Sprünge“ aus— weiſt. „Die Natur“ ſagt er im Eingange des zweiten Buches feiner Schrift De ani- malibus, „bringt keine weit von einander abſtehenden Geſchlechter hervor, ohne ein gewiſſes Mittelglied zwiſchen ſie hineinzu— bilden; fie geht von einem Extrem zum au- dern immer nur durch gewiſſe Medien über.“ Wie uns ſcheint, mit Recht, weiſt der Verfaſſer die neuerlich von Hugo Spitzer aufgeſtellte Anſicht zurück, daß die Nomi— naliſten mit ihrer Leugnung der Gattungs— und Artbegriffe die Idee des Darwinismus vorbegründet hätten. Eine prinzipielle Ueber— einſtimmung mag hier allerdings vorhanden ſein, jedenfalls aber keine eigentliche Berühr— ung in der beiderſeitigen Auffaſſung der Welt. Die Gattungsfrage kam zunächſt beim Menſchen zum Austrag. Bekanntlich ſind in der Frage von der Abſtammung des Menſchen die Rollen vertauſcht, die Gläubigen ſtellen ſich auf einen darwiniſti— ſchen Standpunkt, indem ſie annehmen, die ſo ſehr verſchiedenen Menſchenarten ſeien durch die Abänderung einer Urraſſe entſtan— den, und die Darwiniſten ſtellen ſich auf den bibliſchen Standpunkt, indem ſie dies acceptiren. Indeſſen ſind erſtere begreiflich nicht ohne innere Kämpfe auf dieſen Stand— punkt gelangt. Die Entdeckung Amerika's gab den lebendigen Anſtoß und Para— celſus war angeblich einer der erſten, wel— cher einen Adam americanus poſtulirte, Literatur und Kritik. und außer dem weißen und rothen Adam auch einen ſchwarzen aufgeſtellt haben ſoll. Cäſalpin und beſonders Peyre— rius, geſt. 1676, adoptirten dieſen Stand— punkt des mehrfachen Menſchenurſprungs, und der Letztere behielt dieſe Anſicht trotz Gefängniß und erzwungenen Uebertritt zur orthodoxen Lehre im Geheimen bei. Die Entdeckung Amerika's brachte indeſſen nicht nur die Co- und Prä-Adamiten-Hy⸗ potheſe hervor, ſondern ſie erregte auch ſtarke Zweifel, ob man an einen allgemeinen Schöpfungsmittelpunkt und an eine allge— meine Fluth noch ferner glauben könne. Dieſe Frage iſt früher in dieſer Zeitſchrift (I. S. 36) ausführlich erörtert worden, und zu den Anſichten des dort analyſirten Buches von Abraham van der Mylius (11637) wäre nur noch nachzutragen, daß Torquemada die erſten Menſchen und Thiere durch Engel auf dem Luftwege dort— hin verpflanzt ſein ließ. Unter den Schöpfungsauslegern der Re— formationszeit macht Prof. Zöckler auf den arminianiſirenden engliſchen Rechtsge— lehrten Matthew Hale (F 1676) aufmerk— ſam, weil derſelbe in ſeinem Buche über die Herkunft des Menſchengeſchlechts (The Origination of Mankind) dem evolutioni- ſtiſchen Standpunkt bedenkliche Conceſſionen gemacht hat. Urſprünglich war natürlich die orthodoxe Lehrmeinung für die Conſtanz der Arten, der auch Paracelſus in ſeinem Buche über die Erzeugung des Men— ſchen einen merkwürdigen Ausdruck gegeben hat. „Wiewohl uns auch zufallen etliche Fürbildungen,“ beginnt er, „die uns da bewegen zu philoſophiren, daß mehr denn Ein Vater ſei geweſen im Erſten Geſchöpf der Menſchen: als ein beſonder geſchöpffter Vatter der Monoeulorum, ein beſonderer der Gnomi, ein beſonderer der Zweyfüßigen Literatur und Kritik. 81 — dann die Philoſophey vermag nicht, daß ein zweyfüßiger Vatter gebere einen Cyelo— pem, ſondern das Widerſpiel alſo verſtehen ſollt; dann nur ſein's Gleichen hanget an ſeines Gleichen, und nichts an Ungleichen — ſo u. ſ. w.“ Den ſtrengſten Ausdruck des Conſtanz-Dogmas findet man wohl in dem 1554 erſchienenen reichhaltigen Geneſis— Commentar des Berner Theologen Wolf— gang Musculus, woſelbſt er zur Er— läuterung der bei der Pflanzenſchöpfung und ſonſt gebrauchten Worte: „ein jegliches in ſeiner Art“ ſich wie folgt ausläßt: „Gott hat alſo in keiner Weiſe zugelaſſen, oder geordnet, daß aus Jeglichem Jegliches hervor— gehe (ut de quolibet nascatur quodlibet). Er hat die Erde gewiſſermaßen zur allgemei— nen Mutter aller ihrer Gewächſe beſtellt, .. fie darf aber innerhalb derſelben we— der Gattungen noch Formen, noch Natur- kräfte, noch Farben oder Gerüche u. ſ. w. irgendwie ändern. So dem Befehle Gottes gehorſamend, erhält ſie alle Creaturen und und giebt ſie jo wieder, wie fie ſie empfängt.... Denn ein Gott der Ordnung iſt Gott, der nicht gewollt hat, daß irgend welche Miſch— ung der Gattungen (confusio generum) eintrete, ſondern daß eines jeden Baumes, Krauts und Gewächſes Art ſammt allen dazu gehörigen Eigenſchaften erhalten bleibe.“ Ganz ähnlich äußern ſich Zanchius, Hot— tin ger und die meiſten reformirten Schrift— ſteller über dieſen Punkt, nur Danäus ließ der Natur etwas mehr Spielraum. Am weiteſten aber geht in dieſem Punkte Hale, in ſeinem ſchon erwähnten Buche. Er giebt die Arten völlig Preis und hält nur gleichſam an einem urſprünglich er⸗ ſchaffenen Stammvater für jede Gattung feſt. „Wiewohl wir uns“ ſagt er, „nicht einbilden müſſen, als wenn alle ſolche Gatt— ungen und Arten auf ſolche Weiſe geſchaffen worden, wie fie jetzt von uns geſehen wer— den, ſondern daß ſolches allein von denen Gattungen und Arten gilt, welche wir primitivas et radicales species, Gatt— ungen, jo gleichſam die Wurzel und der Ur- ſprung aller andern ſind, nennen mögen. Denn wie vielerlei Arten der Thiere ſehen wir jetzt, welche vielleicht derſelbigen Gatt— ung und Art nicht ſind, die geſchaffen worden, ſondern durch vielfältige Begebniß ſich vielfältig verändert haben, wie ſolches in den verſchiedenen Arten der Leiber der Schafe, der Hunde, der Spechte und Papageyen und anderer dergleichen zu ſehen.“ Trotz dieſer ſtarken Conceſſion an die Evolutions— theorie hielt der auch in anderen Rich— tungen ſehr verſtändig urtheilende und auf Naturerſcheinungen aller Art aufmerkſame Mann daran feſt, daß jene Urformen der Gattungen, alſo die Urväter der Spechte, Papageyen, Schafe u. ſ. w. mit einem Schlage fertig erſchaffen worden ſeien, die Pflanzen ſogar derartig, daß ſie ſogleich mit Früchten und Samen beladen geweſen ſeien. Ebenſo weiſt er mit Entrüſtung die Meinung der Autochthoniſten zurück, welche meinten, der Menſch ſei in Amerika wie in Aſien und Europa dem Boden als Pflanze entſproſſen, dann zum Thiere geworden und erſt ſpäter habe der Schöpfer ihm „die menſchliche Seele in die thieriſche Bruſt gehaucht“. (Inspirat brutum divino a peetore pectus hatte ſchon zur Zeit Con— ſtantin des Großen der ſpaniſche Presbyter Cajus Vettius Aquilinus (Juvencus) in ſeiner Umdichtung des erſten Buches Moſis geſungen). „Er hat“ ſagt, ähnliche Anſchauungen energiſch abwehrend, in Be— zug auf die Erſchaffung Adam's Hale: „nicht etwa erſtlich gelebt wie die Pflanze, hernach wie ein Thier und dann erſt wie ein Menſch, ſondern er iſt alsbald und * Kosmos, II. Jahrg. Heft 7. #1 — 82 Literatur und Kritik. auf Einmal ein vollkommner, lebendiger, vernünftiger Menſch geweſen: die ganze Handlung der Erſchaffung war in Einem Augenblicke vollbracht.“ — Aus der vor— liegenden Blumenleſe wird der freundliche Leſer einestheils vielleicht entnehmen, daß meine Bemerkung von dem „IFlickwerk, welches entſteht, wenn Verſtand und Ueber— lieferung einander Complimente und Zuge— ſtändniſſe machen“ nicht ganz ſo einſeitig war, wie Profeſſor Zöckler findet, hoff— entlich aber auch, daß die Arbeit deſſelben nicht nur für Theologen, ſondern auch für Darwiniſten und im Allgemeinen für Na— tur- und Culturforſcher von einem erheb— lichen Intereſſe iſt. Hoffentlich können wir bald auch über den zweiten Band berichten, der den Zeitraum von Newton bis auf unſre Tage umfaſſen und ſomit das Werk zum Abſchluſſe bringen foll, K. Ernſt Haeckel, das Protiſtenreich. Eine populäre Ueberſicht über das For— mengebiet der niederſten Lebeweſen. Mit einem wiſſenſchaftlichen Anhange (Syſtem der Protiſten). Mit zahlreichen Holzſchnit— ten. Leipzig. Ernſt Günther's Verlag 1878. 104 S. mit 58 Holzſchnitten in 8. Es war eine glückliche Idee, die vier Abhandlungen über Protiſten, welche der Verfaſſer für den „Kosmos“ geſchrieben, zu einem Bändchen zu vereinigen, um ſo auch weiteren Kreiſen einen leichten und durch ein reichliches Anſchauungsmaterial unter— ſtützten Ueberblick über die niederſten Lebens— formen zu gewähren, an die ſich alle Fun— damentalfragen der Biologie knüpfen. Neu hinzugekommen iſt der wiſſenſchaftliche Anhang, welcher ein Syſtem der Protiſten nach den neueſten Anſchauungen bietet. In der Schöpf— ung deutſcher Namen dem hierin ſo aus— nehmend glücklichen Oken nacheifernd, theilt der Verfaſſer den von ihm ſelbſt in ſeinen primitivſten und ausgebildetſten Formen (Moneren und Radiolarien) erforſchten Mi— krokosmos in vierzehn Klaſſen und 45 Ordnungen, nämlich: 1. Urlinge (Monera Haeckel), 2. Lappinge (Lobosa Carpenter) 3. Gregaringe (Gregarinae Dufour), 4. Geißlinge (Flagellata Ehrenberg), 5. Mitt⸗ linge (Catallacta Haeckel), 6. Wimper⸗ linge (Ciliata J. Mueller), 7. Starrlinge oder Saug⸗Infuſorien (Acinetae Ehren- berg), 8. Labyrinthinge (Labyrinthuleae Cienkowsky), 9. Schachtlinge oder Stab— thierchen (Bacillariae), 10. Pilze (Fungi Linné), 11. Netzinge oder Schleimpilze (Myxomycetes Wallroth), 12. Kammer— linge (Thalamophora Hertwig), 13. Sonn- linge (Heliozoa Haeckel), und 14. Strah- linge (Radiolaria J. Mueller). Beſonders dürfte die ausführliche Darſtellung des jetzigen Standes der Bathybius-Frage viele Leſer intereſſiren. Die Ausſtattung iſt gediegen. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. ie Begründung des modernen Realismus führt ſich auf den an Charakter zwar weniger Ad ſo größeren Franz Baco von Verulam zurück, den geprieſenen Na- tionaldenker des im eminenten Sinne ba— coniſch denkenden England's, den berühm⸗ ten Lordkanzler unter König Jacob I., dem er ſeine Erhebung zum Viscount von St. Albans verdankte. Baco's Philoſophie iſt bis heute das unübertroffene Muſterſtatut des Realismus. Nun iſt aber jede wirklich bedeutungsvolle Philoſophie nach Baco's eigenem Aus— drucke „die Tochter ihrer Zeit“. Jede bedeutſame Philoſophie thut nichts anderes, als daß ſie die in den beſten Geiſtern der Zeit vereinzelten und zerſtreuten Grundge— danken und Grundbeſtrebungen wie Licht— ſtrahlen in dem Focus ihres Syſtems ſammelt und dieſe ſo gewonnene Lichtfülle in die folgende Zeit erleuchtend und er— wärmend hineinreflektirt. So erwächſt auch —— Ueber Ba co von Perulam, den Begründer des modernen Realismus, und feine Bedeutung für die Gegenwart. Von Fritz Schultze. erhabenen, an Geiſt aber um Baco's Philoſophie aus “einem Zeit || alter, deſſen Grundgedanken und hauptſäch⸗ lichſten Intereſſen. Dem ſpecifiſchen Mittelalter gegenüber erhebt fi mit dem 15. und 16. Jahr- hundert eine ganz neue Zeit. In der kur— zen Spanne von zehn Decennien wird der Horizont des menſchlichen Geiſtes in einer bis dahin nicht geſehenen Weiſe erweitert. Mit der Auffindung Amerika's im Zeit- alter der großen Entdeckungen eröffnet ſich der alten Welt eine neue Welt, nicht blos im räumlichen, ſondern erſt recht im geiſtigen Sinne. Wiederum beginnt eine großartige Völkerwanderung und erzeugt in dem Körper der alternden Europa Säfteſtrömungen, die ungeahnte, bis dahin latent gebliebene Kräfte auslöſen und einen wunderbaren Verjüngungsproceß einleiten. Und wie nach Weſten hin der geographiſche Horizont ins Unermeßliche erweitert wird, ſo nun auch von Oſten her der hiſtoriſche Geſichtskreis: aus ihrem Grabe erheben ſich im Zeitalter des Humanismus die Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. 84 I! | Geiſter des klaſſiſchen Alterthums, die licht— entwöhnten Augen der mittelalterlichen Menſchen blendend mit all' ihrer Formen— pracht und Gedankenfülle — eine neue Er— ziehung des Menſchengeſchlechts beginnt. Von der Erforſchung der äußeren Welt geht der Menſch über zur Durchdringung auch der inneren Welt ſeines Gemüthes und ſeines Gewiſſens und entdeckt hier in dem tiefſten Grund ſeines eigenen Selbſtes den göttlichen Kern der Religion wieder, den er lange Zeit hindurch in einem blos Aeußerlichen geſehen hat. Die Schätze der Kunſt und Wiſſenſchaft aus längſt unter— gegangen geglaubten Culturen, die Güter und Produkte neuentdeckter Fernen, die Ge— danken und Gefühle der inneren Geiſtes— und Gewiſſenswelt — alles kommt in ein unaufhaltſames Rollen — die Erde ſelbſt widerſteht dieſem Bewegungsdrange nicht; auch ſie will ihren wirklichen Mittelpunkt finden, und eine abſolut veränderte Welt— perſpektive eröffnet ſich, indem Koperni— kus die endliche Welt ins Unendliche er— weitert. Und wie durch die Entdeckung des Umlaufes der Planeten um die Sonne die wahre Natur des Weltgebäudes erſchloſſen wird, ſo thut nun auch die wahre Erkenntniß der körperlichen Natur der thieriſchen Organismen ihren erſten wichtigen Schritt, indem William Harvey den Umlauf des Blutes und das Herz als den Centralkörper dieſes kreiſenden Planetenſtromes erkeunt und damit das Fundament der geſammten neueren biolo— giſchen Wiſſenſchaft legt. epochemachenden Entdeckungen gehen aber Hand in Hand, ja bilden in gewiſſem Grade die Vorausſetzung derſelben — die großen Erfindungen. Ohne den Com— paß keine Bewältigung der öden Weiten des Meeres, ohne das Schießpulver nicht die Schultze, Ueber Baco von Verulam. Mit all dieſen f | Geiſt ift es geweſen, der in kürzeſter Zeit leichte Unterwerfung der fremden Naturvölker, ohne das Fernrohr kein Durchdringen der unendlichen Strecken des Weltraums, ohne die Buchdruckerpreſſe keine Ver— breitung der geiſtigen Großthaten. Wunder— bar erhebt ſich die Herrſchaft des Menſchen über die Natur, indem ſein Geiſt mit Hülfe ſeiner Erfindungen ſie zwingt, ihre Geheimniſſe ihm zu entdecken. Der Geiſt, der unbewußt überall Ba— co's Zeitalter durchdringt und ſeine Ström— ungen leitet, iſt im eminenten Sinne der Geiſt der Entdeckung und Erfindung und eben dieſer Geiſt iſt es, den Baco in ſeiner Philoſophie ſich und der denkenden Welt klar zu Bewußtſein bringt. Dieſer alle Verhältniſſe völlig verwandelt hat, der die Menſchheit aus beſchränkter Enge heraus— riß und ſie zu gewaltigen Eroberern des Erdballes machte, der in die Dämmerung des Mittelalters das helle Licht des Tages hineingoß, der ungehemmte Bewegung auf allen Lebeusgebieten, geiſtige Freiheit und materiellen Wohlſtand erzeugte, kurz die Summe der menſchlichen Glück— ſeligkeit nach Baco's Meinung um ein Ungeheures vermehrte. Und doch ſind alle dieſe Erfindungen und Entdeckungen mehr dem Zufall als der bewußten plan— mäßigen Abſicht zu verdanken geweſen. Wenn ſchon das blos zufällige Erfinden und Entdecken dieſen gewaltigen Umſchwung aller menſchlichen Zuſtände herbeizuführen vermochte, wie nun erſt muß ſich die Glücks— lage des Menſchengeſchlechtes geſtalten, wenn mit bewußter Planmäßigkeit auf Entdeckungen und Erfindungen hingearbeitet wird, wenn methodiſche Behandlung und die Continuität der geiſtigen Ar— beit durch Geſchlechter hindurch da eintritt, wo bisher nur der Einzelne für ſich blind— ——— —— Schultze, Ueber Baco von Verulam. 85 lings umhertappte und auf ein einziges Ge— winnloos viele Millionen von Nieten kamen! Das Erfinden und Entdecken von den Launen des Zufalls befreien, es zu einer mit Bewußtſein und Planmäßig— keit betriebenen Kunſt erheben, die allge— meine Methode dieſer Entdeckungs- und Erfindungskunſt geben, das iſt es, was Baco will und wozu er die Grundfteine in der That gelegt hat. Unter dieſen Ge— ſichtspunkten läßt ſich in der Kürze das Programm der baconiſchen Philoſophie entwickeln, dieſer Philoſophie der Natur— wiſſenſchaften und der Technik. Das höchſte irdiſche Streben eines jeden Menſchen muß nach Ba co dahin gerichtet ſein, das Glück der Menſchheit ſo viel wie möglich zu befördern. Nur dann aber kann das wahre Glück der Menſchen ent— ſtehen und beftchen, wenn dieſelben im höchſten Grade friedlich gegen einander verfahren, d. h. wenn die größte Humani— tät herrſcht. Dieſe Humanität kann aber allein da erzeugt werden, wo die Menſch— heit im Stande iſt, die höchſte Stufe geiſtiger wie ſittlicher Bildung ſich zu erringen. So lange aber die Menſchen von der materiellen Noth des Lebens noch ſo ſehr bedrängt werden, daß ihr ganzes Thun und Treiben davon in Anſpruch ge— nommen wird, ſo lange können ſie nicht für ihre geiſtige und ſittliche Bildung wirken, ſo lange herrſcht bei Hunger und Durſt allein die ſelbſtſüchtige rohe Begierde, die den Menſchen dem Menſchen gegen— über zum Wolfe macht. Je abhängiger demnach der Menſch noch von den Feſſeln der Materie iſt, je ſchwächer er noch den Gefahren, mit denen die Natur ihn von allen Seiten bedroht, gegenüberſteht, — um ſo mehr hat er rein um des materiellen Le— bensgewinnſtes mit der Natur zukämpfen, um ſo ferner liegt ihm ſeine geiſtige und ſittliche Ausbildung. Nur in dem Maße alſo, in welchem der Menſch ſich von den Zufällen der Natur zu befreien verſteht, nur in dem Maße, als die Natur nicht ihn, ſondern er die Natur zu be— herrſchen lernt, gewinnt er, vom Kampfe befreit, Zeit und Kraft zur Entfaltung ſeines Geiſtes und Gemüthes. Die Herr— ſchaft des Menſchen über die Natur iſt alſo das univerſelle Mittel, wodurch er ſein höchſtes geiſtiges und ſittliches Ziel erreichen, den Zuſtand höchſter Humanität erzeugen, das Glück der Menſchheit begründen kann. Wie iſt das regnum hominis, die Herrſchaft des Menſchen über die Natur zu begründen, das iſt alſo das eigentliche baconiſche Problem, um welches es ſich handelt. Wir beherrſchen die Natur nur inſofern, als wir im Stande ſind, ihre gewaltigen Kräfte nach unſerem Willen zu lenken. Zu dem Zweck müſſen wir aber erſt vor allen Dingen das eigenthümliche Weſen dieſer Kräfte erkannt haben. Nur das Wiſſen giebt hier das Können, nur die Wiſſenſchaft von der Natur die Macht über die Na— tur. Aber dieſe Wiſſenſchaft der Natur kann der Menſch nur gewinnen im ver— trauteſten Umgange mit der Natur felbft; nur durch die wiſſenſchaftliche Erforſchung, deren alleiniges Mittel die methodiſche Erfahrung iſt, dringen wir in ihre Ge— heimniſſe. Damit liegt der Weg, den Baco genommen haben will, klar vor uns: Entdeckung der Naturgeſetze durch methodiſche Erfahrung zum Zweck ihrer Anwendung in Geſtalt von Erfindungen zur Beherrſchung der Natur — das iſt der realiſtiſche Unterbau der baconiſchen Philoſophie, auf dem ſich der idealiſtiſche Ober— 86 Schultze, Ueber Baco von Verulam. bau erhebt: Begründung der Glück— | ſeligkeit der Menſchheit durch die Ermöglichung wahrer Cultur und Humanität. So geläufig uns heutzutage dieſe Ge— dankenzuſammenhänge ſein mögen, eine ſo vollkommen neue Offenbarung waren ſie doch in und aus Baco's Munde; war doch von Entdecken und Erfinden, von der Erforſchung der Natur und ihrer Geſetze, von der Begründung des irdischen Glückes der Menſchen in dem rein auf das Jenſeits gerichteten Mittelalter keine Rede geweſen — hatte doch vielmehr der einzige Mann, der bereits im 13. Jahrh. ähnliche Gedanken wie Franz Baco verkündigte, der ſogar merkwürdigerweiſe auch Baco, nur mit dem Vornamen Rogerus, hieß, und der mit Recht ein Experiment der Geſchichte auf unſeren Baco hin ge nannt worden iſt — hatte doch dieſer Mann, ein Solitär ſeiner Zeit, ſeine ein— zige Schuld, nämlich die, ein Anachronis— mus im Zeitalter der Transſcendenz zu ſein, mit Exil und ſchwerem Kerker büßen müſſen, obgleich Papſt Clemens IV. in eigener Perſon ſein Gönner und Beſchützer geweſen. Eben weil Baco's Ideen ſonſt noch gar kein Vorbild in der früheren Ge— dankenwelt hatten, ſo erneuert er nichts, was ſchon dageweſen wäre, ſo darf er alſo auch das große, dem König Jacob gewid— mete Werk, das dieſe Gedanken entwickeln ſoll, mit Recht die „Magna Instauratio“ nennen, die große Neu ſchöpfung, im Gegen— ſatz zu einer bloßen Restauratio eines Früheren, Aelteren. Wir wollen einen gedrängten Ueberblick über die ſechs Theile dieſer magna instauratio gewinnen, von denen indeſſen nur zwei von Baco ſelbſt ausgeführt ſind und der Natur der Sache nach ausgeführt werden konnten. Um die Nothwendigkeit der neuen Wiſſenſchaft der Entdeckung und Erfindung dem Zeitalter einleuchtend zu machen, muß Baco vor allen Dingen den kläglichen Zu— ſtand des bisherigen ſcholaſtiſchen Wiſſens unwiderleglich klar darlegen. Deshalb bildet den erſten Theil der Magna Instauratio das Werk: De dignitate et augmentis scientiarum (Ueber den Werth und die Vermehrung der Wiſſenſchaften) welches, ehe es für den Zweck der Magna Instauratio lateiniſch umgearbeitet wurde, ſchon im Jahre 1603 in engliſcher Sprache unter dem Titel „advancement of learning“ (die Förderung der Wiſſenſchaften) erſchienen war. Dem kritiſchen Zweck des Werkes entſprechend, entwirft Baco in ihm gewiſſermaßen einen Atlas der Wiſſenſchaften, deſſen verſchiedene Kartenblätter den Beſchauer belehren, wie man auf dem globus intellectualis vielmehr bemüht geweſen ſei, in Wüſtenſtrecken Fata— Morgana -Bildern nachzujagen, als daß man die ganz nahe liegenden, weiten, herrlichen Länder mit fruchtbaren Auen und ſchiffbaren Strömen der Erforſchung für werth gehalten habe. Bei dieſer Mufterung zeigt ſich zunächſt eine Reihe von Wiſſenſchaften, die, wie z. B. die Aſtrologie, die Magie und die Alchemie, dieſen Namen gar nicht verdienen und daher ganz aufzugeben ſind. Eine andere Reihe von Wiſſenſchaften giebt es, die zwar mit Recht exiſtiren, die aber weit hinter der wahren Löſung ihrer Auf— gabe zurückgeblieben ſind. Hierher gehört z. B. die Geſchichtsſchreibung, die zwar fort— während gepflegt iſt, aber nicht nach kri— tiſchen Grundſätzen. Es iſt erſtaunlich zu ſehen, mit welcher Divination Baco hier faſt alle die Grundſätze unſerer heutigen kritiſchen Geſchichtsforſchung entwickelt, Nor— men, die er ſelbſt in ſeiner Geſchichte Hein— rich's VII. zu verwirklichen ſtrebte. Eine ma U Schultze, Ueber Baco von Verulam | dritte Reihe von Wiſſenſchaften endlich iſt überhaupt erſt ganz neu in's Leben zu rufen. Hierher gehört zuerſt wiederum die Geſchichte, die zwar als Staaten- und Kirchen— geſchichte, wenn auch nicht kritiſch genug, ſchon exiſtirt, in der aber ganze weite Ge— bietstheile noch völlig unbebaut und brach liegen. Könnte Baco ſehen, wie unendlich ſpecialiſirt in unſeren Tagen die Geſchichts— ſchreibung entwickelt iſt, er würde anerkennen müſſen, daß man nicht blos ſeinen Forder— ungen auf das Genaueſte nachgekommen ſei, ſondern dieſelben noch übertroffen habe. Er verlangt nichts anderes als, allgemein aus— gedrückt, eine Geſchichte der menſch— lichen Vorſtellungen im weiteſten Sinne. Die menſchlichen Vorſtellungen ſind niedergelegt in den Literaturwerken und Kunſtwerken, auch dieſe Benennungen im weiteſten Sinne gefaßt. Alſo geht Baco's Forderung auf Geſchichte der Literaturen und der Künſte. In erſterer Hinſicht verlangt er nicht blos Geſchichte der allge— meinen poetiſchen Literatur, ſondern auch Geſchichte der Philoſophie, des Rechtes, der Mathematik, kurz der Wiſſenſchaften über— haupt. In zweiter Hinſicht fordert er Geſchichte der verſchiedenſten Künſte und Induſtriezweige, alſo nicht blos Kunſtge— | ſchichte im engeren Sinne, ſondern, worauf er ein ganz beſonderes Gewicht legt, eine Geſchichte der Technik — eine Technologie. Gerade dieſe Theile der Geſchichte laſſen nach Baco's treffender Anſicht mehr als die blos politiſche Ge— ſchichte, die ihre Motive vielfach abſichtlich dem Auge der Welt verbirgt, den innerſten Geiſt der Zeiten erkennen, und Baco hat demnach Recht, wenn er geiſtvoll jagt: „Wenn die Geſchichte der Welt in dieſem Theile vernachläſſigt wird, ſo gleicht ſie einer Bildſäule des Polyphem | men mit ausgeriſſenem Auge.“ Vor allen Dingen aber iſt eine wahre Ge— ſchichte der Natur erſt völlig neu zu ſchaffen — als Grundlage für die Natur- wiſſenſchaft bildet ſie für Baco ſogar den wichtigſten Theil aller Geſchichte. Es || iſt daher begreiflich, daß er hier ſeine For— derungen ganz außerordentlich ſpecialiſirt darbietet. In einer ſeiner kleineren Schriften, der „Parasceue“, entwirft er einen „eata- logus historiarum particularium“, der in 130 Nummern Deſiderien alles das andeu— tet, was in Mechanik, Phyſik, Chemie, Zoologie, Botanik, Mineralogie, Medicin, Anthropo- logie u. ſ. w. heutzutage nur Bedeutſames ausgeführt und geleiſtet iſt. Es iſt fozu- ſagen ein wiſſenſchaftlicher Tagesbefehl, ge— richtet an die kommenden Jahrhunderte, der paſſend als Motto das Wort aus Fauſt auf dem Titelblatte trüge: „Drum ſchonet mir an dieſem Tag Proſpekte nicht und nicht Maſchinen. Gebraucht das groß' und kleine Himmelslicht, Die Sterne dürfet ihr verſchwenden. An Feuer, Waſſer, Felſenwänden, An Thier und Vögeln fehlt es nicht. So ſchreitet in dem engen Bretterhaus Den ganzen Kreis der Schöpfung aus, Uud wandelt, mit bedächt'ger Schnelle, Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.“ Das Buch „über den Werth und die Vermehrung der Wiſſenſchaften“ iſt alſo eine Art Encyklopädie der Wiſſenſchaften, aber mit der Eigenthümlichkeit, daß dieſe Encyklopädie nicht ſchon die Reſultate der Forſchung als reife Ernte darbietet, viel- mehr erſt die Samenkörner ausſtreut, aus denen die Ernte gewonnen werden ſoll. Mit Recht nennt d' Alembert Baco's Werk „eatologue immense de ce qui reste à découvrir“, während man d' Alem— bert's und Diderot's weltberühmte En— cyklopädie, die ſich ausdrücklich auf Baco Schultze, Ueber Baco von Verulam. als ihren Stammvater beruft, nennen könnte: | herrſchte der neidiſche Ariſtoteles, der, catalogue immense de ce qui a été dé- couvert. Sie iſt die Ernte aus Baco's Saat, der Rentenertrag des von Baco an— gelegten Capitals, auf dem als Grundſtock mithin auch alle unſere heutigen Encyklopädien wie die ſogenannten Converſationslexica beruhen. Die durchgängige Mangelhaftigkeit des beſtehenden Gebäudes der Wiſſenſchaft iſt klar gelegt. Woher denn dieſer Zuſtand des Verfalls oder, beſſer geſagt, der Un— entwickeltheit? Die Erklärung, welche Baco u. a. am nachdrücklichſten hervorhebt, iſt nicht blos für ihn ſelbſt charakteriſtiſch, ſon— dern ſie enthüllt uns überhaupt eine ſpe— cifiſche Eigenthümlichkeit des modernen Rea— lismus, ſeine geringe Hochſchätzung nämlich gegen das claſſiſche Alterthum. Unſer über— triebener Reſpekt vor dem Alterthum, ſeinen Werken, ſeiner Autorität, erklärt Baco, hat uns vor allem anderen bisher verhin— dert, auf eigenen Füßen zu ſtehen und mit eigenen Augen zu ſehen. Und doch hat dieſes Alterthum gar nicht die Würde des erfahrenen Alters, dem man mit Recht ſich unterwerfen müßte, denn, ſagt Baco in Uebereinſtimmung mit Gior— dano Bruno, antiquitas saeculi ju- ventus mundi (das Alterthum iſt die Ju— gendzeit der Welt); Wir ſind um ſo viel tauſend Jahr älter und alſo auch gereifter als jene ſogen. Alten. Die Weltanſchauung des Alterthums iſt von den größten Irr— thümern durchſetzt: Platon hat ſie durch theologische Dogmen, A riſtoteles fie durch logiſche Kategorieen verdorben; hätte man ſtatt dieſer beiden wenigſtens noch Natur- philoſophen wie Empedokles, Demo- krit und andere zum Muſter genommen U ſo wäre man bald auf den richtigen Weg engeren Sinne giebt, vielmehr die Erklär— wahrer Naturforſchung gelangt; ſtatt deſſen wie der türkiſche Sultan, nur dann ſicher zu regieren glaubte, wenn er alle vermeint— lichen Kronprätendenten umbrachte, und der daher an die Stelle der werthvollen Natur— philoſophie des Alterthums ſeine Wort— weisheit zu ſetzen wußte, eine Wortklauberei, die zwar für ſcholaſtiſche Profeſſoren ſehr bequem war, aber ſehr wenig am Platze iſt, wo es ſich um wahre Weltweisheit d. h. um Sachkenntniß handelt. Dieſe ſind jetzt zu ſchaffen, und ebendazu die Methode und das Inſtrument, die Logik des Entdeckens und Erfindens, zu geben, iſt die Aufgabe des zweiten Theiles der Magna Instauratio, welcher im Gegenſatz zu dem vorzugsweiſe die deduktive Lo— gik entwickelnden Organon des Ariſtoteles die induktive Logik enthalten ſoll und deshalb mit einer gewiſſen Polemik von Baco als das „Neue Organon“ (Novum Organon) bezeichnet wird. Dieſes „Neue Organon“, Baco's be— rühmteſtes Werk, erſchien, nachdem er es zwölfmal umgearbeitet hatte, zuerſt im Jahre 1620, während Baco noch im Zenith ſeiner politiſchen Machtfülle ſtand, und iſt ſeitdem in zahlloſen Auflagen in alle Cul— turſprachen übertragen. Es umfaßt ſozu— ſagen die Inſtitutionen des Realismus; es enthält in claſſiſcher Darſtellung die für alle Zeiten muſtergültigen Grundlinien der ex— perimentellen Methode der Erfahrungswiſſen— ſchaften, und alle Syſteme der induktiven Logik, wie ſie beſonders in England aus— gebildet ſind, bis auf die neueſten von Whewell, Mill und Jevons, haben daher hier ihren Urquell. Das Ziel wirklicher Naturwiſſen— ſchaft iſt nicht blos die Beſchreibung der Natur, welche die Naturgeſchichte im ung der Naturerſcheinungen durch Auffind- ung der ihnen zu Grunde liegenden Na— turgeſetze. Dieſer richtigen Interpre— tation der Natur ſtellen ſich aber zwei große Hinderniſſe in den Weg: einmal ſind es eine Reihe von vorgefaßten Mei— nungen, von Vorurtheilen, durch deren Brille der Menſch die Natur im falſchen Lichte ſieht — andrerſeits begeht der Menſch immer und immer wieder den Fehler, daß er aus einer zu geringen Menge von Erfahrungsmaterial heraus voreilig auf das Weſen der Dinge zu ſchließen pflegt. So anticipirt ſein Geiſt ein Bild der Natur, das, aus falſchen Vorausſetzungen abſtrahirt, nur ein Trugbild ſein kann. Die Methodenlehre der Naturforſchung hat alſo zwei Hauptaufgaben: erſtens die negative, die menſchlichen Trugbegriffe, oder wie Baco ſie nennt, die Idole im Menſchengeiſte zu zerſtören; zweitens die poſitive, den Weg zu zeigen, wie in richtiger Weiſe wiſſenſchaftliche Er— fahrung gemacht wird. Daher zerfällt auch das Neue Organon in zwei Theile, den zerſtörenden, der die Idole kenn— zeichnet und ſie vernichtet, und in den aufbauenden, der die Methode der In— duktion entwickelt. Hinſichtlich der Trugbegriffe weiß Baco zwei Hauptgruppen aufzuführen, deren jede ſich in zwei Unterklaſſen zerlegt. Die erſte Hauptgruppe umfaßt die Idole, welche der Menſchheit wie dem einzelnen Menſchen im Laufe ihrer geſchichtlichen Entwicklung allmälig entſtanden ſind. Die zweite enthält diejenigen, welche den Menſchen von Natur eigen ſind, im Weſen der menſchlichen Natur als ſolcher liegen. Ein Beiſpiel der geſchichtlich gegebenen Idole bietet uns die ptolemäiſche Weltauffaſſung, wenn fie, ſich ſtützend auf ihr mehr als 10005 Schultze, Ueber Baco von Verulam. jähriges Beſtehen, durch Gewohnheit und ſinnlichen Schein im Geiſte des Menſchen feſtgewurzelt, den Menſchen verhindert, die Richtigkeit der kopernikaniſchen Ent- deckung einzuſehen, und dadurch ſelbſt große Geiſter wie einen Descartes, Tycho de Brahe, ja einen Ba co ſelbſt dazu bringt, ſich dem Kopernikus gegenüber zweifelnd bis zur Ablehnung zu verhalten. Es ge— hören unter dieſe Idole alle blos auf Au— torität hin angenommenen Vorſtellungen, die Baco in ſophiſtiſche, empiriſche und abergläubiſche eintheilt. So große und un— antaſtbare Bedeutung die Autorität nach Baco im praktiſchen, politiſchen, ſittlichen und religiöſen Leben haben ſoll, ſo geringe hat ſie in der Wiſſenſchaft, wo niemals eine Autorität als Grund, ſondern nur der richtige Grund als Autorität gelten darf. In der Wiſſenſchaft gilt kein pytha— goreiſches „Er hat's geſagt!“, ſondern nur Selbſt ſehen, Selbſt beobachten, Selbſt— denken. Aber wenn wir auch ſelbſtforſchend lernen wollen, wer lehrt uns? Da iſt es zunächſt die Sprache, welche, ſei es in der geſprochenen Rede oder den geſchriebenen Werken, uns über die Dinge berichtet. Wir glauben die Dinge zu kennen, wenn wir die Worte darüber vernommen haben. Aber das Wort iſt nur das vieldeutige Zeichen der Sache, nicht die Sache ſelbſt. „Mit Worten ein Syſtem bereiten“, das war ja eben der größte Fehler der Vergangenheit. Nicht Wort weisheit, ſon— dern Sach kenntniß, nicht Worte hören, ſondern Dinge ſehen, das iſt Baco's Geſetz, wodurch ein gewaltiger Dornenwald von traditionell gewordenen Trugbegriffen, die der einſeitigen Verwendung der Sprache entſtammen, zerſtört und der Anſchau— ungsunterricht begründet wird, dieſes Schiboleth heutiger Pädagogik für alle — k ——ͤ—m | 1 90 Unterrichtsanſtalten von der Volksſchule bis hin zur Hochſchule. Mächtiger noch als dieſe geſchichtlich gegebenen Idole ſind, weil im Weſen des Menſchen begründet, die natürlich gege— benen. Es liegt in unſerer ſinnlichen Natur, daß wir die Sonne ſich bewegen ſehen trotz unſeres beſſeren aſtronomiſchen Wiſſens. Es liegt in unſerem Weſen, un— willkürlich unſere menſchlichen Empfin— dungen, Gefühle, Wollungen, abſtracte Be— griffe auf die Natur zu übertragen — wer aber mit der Geſchichte der Wiſſenſchaften vertraut iſt, weiß, welch ungeheure und ungeheuerliche Folgen es bis heutigen Tages immer wieder gehabt hat, wenn der Menſch und nicht nach ihren eigenen Principien betrachtet. Seine Empfindung des Grünen im Augennerv hält er für etwas Objectives, am Blatte Befindliches — dieſer kleine Irrthum! und jede wahre Farbentheorie iſt unmöglich. Seine Wollungen, Zwecke und Abſichten ſchiebt er der Natur unter — und es entſteht eine teleologiſche Naturer— klärung, der die wahren eausae efficientes verſchloſſen bleiben. Seine abſtracten Be— griffe, wie den Artbegriff, trägt er als Geſetz in die Natur hinein, und jede mit den Thatſachen der Natur in Uebereinſtimm— ung ſtehende Entwickelungsgeſchichte iſt auf— gehoben. Die Bedeutſamkeit des zweiten Theiles des Neuen Organon, der die Fundamente der inductiven Logik legt, leuchtet jedem Empiriker ſofort ein — aber von nicht geringerer Bedeutung iſt auch die Idolen— lehre Baco's, deren Grundzüge wir hier eben nur andeuten konnten. Die in— ductive Logik kann die Methodenlehre der Naturwiſſenſchaft ſtets nur in der allge— meinen, freilich ſchon ſehr complicirten Linear— Schultze, Ueber Baco von Berulam. zeichnung geben. Dieſe erhält ihre ver— ſchiedene Färbung und Schattirung in jeder Specialwiſſenſchaft, je nach der beſonderen Natur derſelben. Sie iſt in der Chemie nach dem Gegenſtande derſelben um Einiges anders geartet als in der Botanik; und alſo muß auch die ſpecielle Methoden— lehre einer jeden beſonderen Wiſſenſchaft der Behandlung und Erörterung eben dieſer Wiſſenſchaft ſelbſt überlaſſen bleiben. Dagegen die Lehre von den Idolen d. h. von den in jedem Menſchengeiſte als ſolchem ſich findenden Trugvorſtellungen und falſchen Begriffen zu entwickeln, iſt weder Gegen— ſtand der Chemie, noch der Botanik, noch irgend einer Specialwiſſenſchaft — ſie fällt jo die Natur nach Analogie ſeiner jelbft | recht eigentlich in das Gebiet der Philoſo— phie der Naturwiſſenſchaft. Baco hat nur die Grundlagen der Idolenlehre entwickelt; ſeine vier Hauptklaſſen von Idolen hat aber ſchon Merſenne, der bekannte Freund Des- cartes', mit Recht die vier Säulen des Organon genannt, denn wir ſagen nicht zu viel, wenn wir behaupten, daß unſere ganze kritiſche Philoſophie nichts anderes iſt als die vertiefte und allfeitige Entwickel— ung der baconiſchen Idolenlehre, — hat doch dieſe kritiſche Philoſophie keine andere Auf— gabe, als den Begriff der Erfahrung in der Retorte der Kritik mehr und mehr von den Schlacken der Idole zu läutern. Da denn der menſchliche Geiſt von dieſen Trugbegriffen wie von böſen Gewal— ten umlagert iſt, ſo muß er unaufhörlich ſich wappnen mit dem Amulet, das ſie allein zu ſchrecken weiß: dem Zweifel. Während im Mittelalter keine größere Sünde war als der Zweifel, ſo erklärt Baco nun den Zweifel für die größte und heiligſte Pflicht des wiſſenſchaftlichen Forſchers. Es iſt nicht der Zweifel gemeint blos um der Luſt des Verneinens willen, nicht der nihiliſtiſche 5 4 Zweifel aus blos zerſtörender Frivolität, es iſt vielmehr der aufbauende Zweifel, der aus dem Wahrheitsbedürfniß entſpringt, der aus dem ſteten Bewußtſein der Mög— lichkeit des Irrthums hervorgeht; es iſt derſelbe Zweifel, den Sokrates als Aus— gangspunkt aller Wiſſenſchaft in ſeinem Satze: „Ich weiß, daß ich nicht weiß“, proclamirte, den Descartes in dem erſten Satze ſeiner Methodenlehre an die Spitze des Forſchens ſtellte. Es iſt der Zweifel gründlicher Kritik, der ſubjektive Selbſt— überhebung und eiteln Wiſſenswahn zerſtört und erſt wahre objektive Fundamente des Wiſſens begründet. Es iſt der Zweifel, der den menſchlichen Geiſt reinigt von allem Erdenſtaube der Trugbegriffe, daß er wieder rein wird wie ein ſchuldloſes Kind, „auf daß, wie Baco ſagt, in das Reich der menſchlichen Herrſchaft, welches in den Wiſſen— ſchaften beſteht, der Eingang wie in das Himmelreich nur den Kindern offen ſei.“ So gereinigt von allen Trugvorſtell— ungen, kann nun der menſchliche Geiſt an die Erforſchung der Natur herantreten, jetzt erſt iſt ihm die „reine Erfahrung“ möglich gemacht. Thatſachen. ung“ der Thatſachen iſt noch keine Erklär— ung derſelben, alſo noch keine Wiſſenſchaft. Jetzt heißt es: Von den Thatſachen zu den Urſachen! Wie aber gewinnen wir die Ur— ſachen? Dieſe Frage beantwortet der zweite Theil des Organon, indem er die Grund— züge der Induktion entwickelt: Jede Er- ſcheinung tritt unter einer Reihe von Une ſtänden und Bedingungen auf. Das wiſſen— ſchaftliche Problem iſt zunächſt, die wirklich nothwendigen Bedingungen von den blos zufälligen Umſtänden zu unterſcheiden. Dies iſt nur möglich durch die Vergleichung einer | großen Anzahl von Fällen oder „Inſtan— Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. Zuerſt ſammelt dieſe nur die Aber dieſe „einfache Aufzähl⸗ Schultze, Ueber Baco von Verulam. 91 zen“, in denen unter ähnlichen Verhält- niſſen die Erſcheinung zu Tage tritt reſp. nicht zu Tage tritt. Je nachdem die Er- ſcheinung unter dieſen ähnlichen Verhält— niſſen auftritt oder nicht, haben wir pofi= tive oder negative Inſtanzen. Durch Abziehung der eigenthümlichen Sonderbeding⸗ ungen der negativen Inſtanzen von den eigenthümlichen Sonderbedingungen der po- ſitiven Inſtanzen ergiebt ſich für die letzteren die „wahre Differenz“ d. h. die An⸗ zahl der Bedingungen, welche die wirklichen causas efficientes der Erſcheinung aus— machen: die begriffliche Formulirung der wahren Differenz ergibt das Geſetz, oder, wie Baco ſich ausdrückt, das „Axiom“, welches aber erſt dann Gültigkeit bean- ſpruchen kann, wenn es die Feuerprobe des Experimentes, deſſen Bedeutung Baco in klarſter Weiſe erkennt, durch— laufen hat. Ich muß es mir verſagen, in die Einzel— heiten der baconiſchen Induktion einzugehen; ich kann hier nicht berühren, was Baco über die Beſchleunigung der Induktion durch die ſogen. „prärogativen In— ſtanzen“ vorbringt; ich will jetzt nur die Aufmerkſamkeit auf das lenken, was er Bahnbrechendes über das wahre Weſen der wiſſenſchaftlichen Hypotheſe und ihre Noth- wendigkeit für die Auffindung der höheren, zur Erkenntniß der „Einheit der Na— tur“ führenden Geſetze lehrt. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Begründer der induktiven Logik den größten Nachdruck auf die erfahrungsgemäße Erforſchung der Ein- zelerſcheinungen legt. Aber dieſe Erforſchung iſt ihm nur Mittel zum Zweck. Der letztere beſteht vielmehr in der Auffindung der den Thatſachen zu Grunde liegenden Urſachen, deren begriffliche Formulirung „das Geſetz“ bildet. Aber offenbar ſind auch die Geſetze wieder von ſehr verſchie— denem Umfang hinſichtlich ihrer Geltung. Dieſes Geſetz gilt nur für eine Gruppe von Thatſachen, jenes für einen ganzen Complex von ſolchen Gruppen. Alſo unterſcheiden ſich auch die Geſetze wieder in allgemeinere und ſpeciellere. Offenbar kann die ſtets fortſchreitende induktive Er— kenntniß nicht bei den ſpecielleren Geſetzen ſtehen bleiben, ſondern muß von ihnen ſtufenweis zu den allgemeineren emporſtei— gen. Das letzte Ziel wäre offenbar das Geſetz, worin alle Erſcheinungen ohne Ausnahme übereinſtimmten, in welchem alſo „die Einheit der Natur“ ge— funden wäre. Die Erkenntniß der „Ein— heit der Natur“ iſt demnach zweifellos das letzte und höchſte Ziel aller Naturwiſſen— ſchaft. Nun iſt aber dieſe Verallgemeiner— ung der ſpecielleren Geſetze doch nur durch die ſtets wiederholte Vergleichung ihres Inhaltes und Umfanges zu erreichen. Durch dieſe nur im Denken zu vollziehende Ver— gleichung erſchließen wir zunächſt rein gedanklich ein höheres Geſetz, das wir dann durch die Empirie entweder beſtätigt oder verneint finden, d. h. wir machen eine Hypotheſe. Die Hypotheſe iſt alſo ein abſolut unentbehrliches Werkzeug der in- duktiven Naturwiſſenſchaft, dieſe nicht blos zufällig oder äußerlich, ſondern in ihrem innerſten Weſen begründet; ſie beruht auf Vergleichung der Theile der Natur und ſetzt deren ſo oder ſo gefaßte innere Ver— wandtſchaft voraus. Jeder Hypotheſe liegt alſo der Gedanke der inneren Verwandtſchaft der Dinge zu Grunde, deren völlige Con— ſequenz auf die „Einheit der Natur“ hinzielt. Daher niemals ſtehen bleiben bei dem Ein— zelnen, weder den Einzelerſcheinungen noch den Einzelgeſetzen, ſondern ſtets zu den all— gemeineren Einheiten hinaufſteigen, durch Schultze, Ueber Baco von Verulam. Vergleichung die Verwandtſchaft der Dinge bis hin zur völligen Einheit der Natur entdecken, das heißt nach Baco wirkliche Naturkenntniß ſchaffen. Daher ſagt er, nachdem er auf die Wichtigkeit der Erforſchung der Einzelerſcheinungen hinge— wieſen hat (Novum organon II. 26. Ausg. Spedding und Ellis Bd. J. S. 275): „Dabei iſt aber ſorgfältig Acht zu geben, daß der menſchliche Geiſt, wenn er eine Anzahl jener Particulargeſetze gefunden — und in Folge davon die Natur in einzelne Theile zerlegt hat, ſich dabei nicht beruhige; vielmehr ſoll er ſich nun anſchicken zur Auf— findung des dieſen beſonderen Geſetzen zu Grunde liegenden allgemeinen und großen Ge— ſetzes; er ſoll nicht meinen, daß die Natur auch in ihren Grundwurzeln vielfältig und zer— klüftet ſei, und er ſoll nicht von der einheitlichen Auffaſſung der Natur wie von einem unnöthigen, ſubtilen, reinen Abſtrak— tum ſich abwenden und davor zurück— ſchrecken.“ — „Es iſt wahrlich“, äußert er ſich an einer anderen Stelle in demſelben Sinne (Deseriptio globi intellectualis, cap. III. Ausg. Spedding und Ellis, Bd. III. S. 732), „von geringem Nutzen, daß man alle die unzähligen Varietäten der Iris oder Tulpen oder Muſcheln oder Hunde oder Falken im Gedächtniß habe und kenne. Denn dieſe ſind nichts anderes als leichte Spiele der Natur, die nur eine individuelle Bedeutung haben. Man hat mit ihnen eine ausgeſuchte Kenntniß von Einzeldingen, aber wiſſenſchaftliche Erkenntniß nur im allergeringſten Maße. Gerade mit ſolchem Tand aber brüſtet ſich ja die ge— wöhnliche Naturgeſchichte. Wenn dieſelbe dadurch ihrem Weſen ungetreu geworden und entartet iſt und mit höchſt überflüſſigen Din- gen Luxus getrieben hat, ſo hat ſie dage— gen große und wichtige Gebiete entweder gänzlich überſehen oder wenigſtens mit leicht— fertiger Nachläſſigkeit behandelt. Mit ihrer ganzen Art der Forſchung und Zuſammen— häufung von Material zeigt ſie ſich keines— wegs für das Ziel geeignet, welches wir meinen: für die Begründung wahrer Na— turerkenntniß.“ Dieſe wahre Naturerfennt- niß wird allein durch die Anwendung der Hypotheſe im erklärten Sinne erreicht d. h. durch die Vergleichung der, wie Baco fie nennt, „conformen oder propor— tionalen Fälle, welche wir auch wohl als Parallelfälle oder natürliche Aehnlichkeiten bezeichnen. Es ſind die— jenigen, welche die Aehnlichkeiten und Ver— wandtſchaften der Dinge zeigen, nicht aber blos innerhalb der einzelnen Unterarten, ſondern vielmehr in der Geſammtheit aller Dinge. Sie ſind daher gewiſſer— maßen die erſten und unterſten Stufen zur Einheit der Natur. Zwar geht aus ihnen nicht ohne Weiteres und von Anfang an ein Axiom hervor, ſie zeigen vielmehr nur eine gewiſſe Ueberein— ſtimmung in den Dingen an und machen dieſelben bemerkbar. Wenn ſie nun aber auch nicht viel zur Auffindung kleinerer Ge— ſetze beitragen, ſo enthüllen ſie nichtsdeſto— weniger in ſehr nützlicher Weiſe die Fabri— kation der Theile des Weltalls (partium universi fabricam) und geben gewiſſer— maßen eine Anatomie der Glieder deſſelben und von hier aus führen ſie uns wie an der Hand bisweilen auf erhabene und herr— liche Allgemeingeſetze, beſonders auf die, welche mehr die Geſammtgeſtaltung der ganzen Welt als die einfacheren Naturvorgänge be— treffen.“ (Nov. org. II. 27. Cit. Ausg. Bd. I. S. 277.) Die Beiſpiele der Vergleichung, welche Baco giebt und welche die innere Ver— wandtſchaft im Sinne der Einheit der Na— Schultze, Ueber Baco von Verulam. 93 tur ahnen laſſen ſollen, ſind nun allerdings noch ſehr geringfügig und von ſehr ver— ſchiedenem Werthe, aber es kommt hier weniger auf die Illuſtrirung ſeines Ge— dankens, als auf den Gedanken ſelbſt an: den Gedanken der comparativen Methode und der Einheit der Natur. So vergleicht er als im Grunde conform die Floſſen der Fiſche, die Beine der Vierfüßer, und die Beine und Flügel der Vögel; ſo die Zähne der zahntragenden Thiere und den Schnabel der Vögel; ſo als conform und blos hin— ſichtlich der Lage nach außen und innen ver— ſchieden die Geſchlechtstheile der männlichen und weiblichen Weſen. Hinſichtlich der Ge— ſtaltung der Erde vergleicht er Afrika und Südamerika: „beide haben ähnliche Landengen und ähnliche Vorgebirge, was kein bloßer Zufall ſein kann. So auch die alte und neue Welt darin, daß ſie nach Norden breit und ausgedehnt, nach Süden aber ſchmal und zugeſpitzt find.“ (L. c. pag. 280). Auge und Spiegel, Ohr und echogebende Wand, eigenthümliche Formen in der Rhe— torik und Muſik, in der Logik und Mathe⸗ matik laſſen ſich ebenfalls vergleichen und weiſen auf höhere, ihnen zu Grunde liegende einheitlichen Bedingungen hin. Ueberall ſind ſolche Vergleichungen zu machen, denn (I. e. pag. 280): „Man muß dies mit allem Nachdruck vorſchreiben und dazu mahnen, daß der Fleiß der Menſchen in der Un— terſuchung und Aufhäufung von naturge— ſchichtlichem Material von nun an einen ganz anderen und gerade entgegengeſetzten Weg einſchlage, als er bisher gegangen iſt. Bisher nämlich haben die Menſchen alle ihre Sorg— falt darauf verwendet, die Verſchieden— heit der Dinge und die genauen Unter- ſchiede der Thiere, Pflanzen und Geſteine darzuthun, und doch ſind die meiſten dieſer Unterſchiede mehr Spiele der Natur als 8 94 Schultze, Ueber Baco von Verulam. irgend welcher ernſten Bedeutung für die Wiſſenſchaft. Gewiß dienen derartige Dinge der Ergötzung und oftmals auch dem praktiſchen Nutzen — wenig aber oder gar nichts, um in das Innere der Natur zu blicken. Daher muß jetzt die Arbeit ſich umwenden hin zur Erforſchung und Beobachtung der Aehnlich— keiten und Analogieen in den Dingen, ſo— wohl in ihrer Ganzheit als in ihren Theilen. Denn ſie eben bilden die Einheit der Natur und legen den Grund zur wirklichen Wiſſenſchaft.“ Baco kennt aber auch wohl die Gefahren, denen ſolche Vergleichungen vielfach ausgeſetzt ſind, und er fügt das beherzigenswerthe Wort hinzu: „Dabei muß man aber durchaus mit ſtrengem Ernſt auf ſeiner Hut ſein, daß man als conforme oder proportionale Fälle nur die gelten läßt, welche (wie wir ſchon oben ſagten) natürliche Aehnlichkeiten zeigen, d. h. reale, in der ſubſtantiellen Natur der Dinge ſelbſt liegende Aehnlichkeiten, nicht blos zu— fällige oder vereinzelte, noch weniger aber aber— gläubiſche und wunderbare, wie ſie die Schriftſteller über natürliche Magie oft auf— zeigen, Menſchen freilich von ſo leichtem Ge— wicht, daß man ſie bei den ernſten Dingen, die wir hier vorhaben, gar nicht nennen ſollte; Menſchen, die mit großer Eitelkeit und Unwiſſenheit nichtige Aehnlichkeiten und geheimnißvolle Bezüge zwiſchen den Dingen beſchreiben und vielfach auch erdichten.“ Baco iſt es alſo, der hier mit allem Nachdruck die Naturforſchung auf die Ver- wandtſchaft der Dinge hinweiſt. Dem ein— dringenden Blick des vergleichenden For- ſchers enthüllt ſich die Einheit der Natur; was wir als ſtarre Arten hinſtellen, ſind nur Produkte menſchlicher, abſtrakter Ver— ſtandesunterſcheidung. So ſind ſchon bei Baco die Gedanken angelegt, die John Locke, auch ein bisher nicht beachteter Vor— | lichen Erfahrung zugefteht. Nur dieſe iſt es, gänger Darwin's, ganz im Sinne dieſes ſeines um zwei Jahrhunderte ſpäter gebor— nen Landsmannes entwickelte. Der Art— begriff, ſetzt Locke auseinander, entſpringt dem menſchlichen Verſtande, er liegt nicht in der Natur. Bildet die Natur Arten, ſo handelte ſie nach Begriffen und Zwecken; dieſe aber auf ſie übertragen, hieße ſie in arger Weiſe anthropomorphiſiren. Und wenn die Natur nach Zwecken handelte, wie könnte ſie dann ihre Zwecke ſo verfehlen, wie fie es doch da thut, wo fie Mißgebur- ten hervorbringt? Oder aber es müßten auch die Mißgeburten beſondere Arten ſein! Läge die Art als reale Conſtante in der Natur, fo müßten alle Typen abſolut un- veränderlich ſein, und doch ſind ſie in Wirk— lichkeit variabel und ſchreiten oft in ihren Einzelindividuen weit über ihre Grenzen hinaus. Fortpflanzung könnte dann aus⸗ nahmslos nur innerhalb derſelben Art ſtatt— finden, und jede Baſtardzengung gehörte dann ſchlechthin zu den Unmöglichkeiten. (Locke, An Essay concerning human understanding, III. ch. 6, S 14 — 20; Ss 23 — 27). Wie ſich an Baco's Nachfolger, Locke, auf das Deutlichſte zeigt, liegt ſchon Baco's Auffaſſung der induktiven Methode ganz in der Richtung auf die Tendenz unſerer modernen Natur- wiſſenſchaft, in der Mannichfaltigkeit ſtets die Einheit zu ſuchen, die Einheit der Natur zum Polarſtern aller Naturbetrachtung zu erheben. Nur eine ſolche Naturforſchung iſt es, welcher Baco den Namen einer „experientia literata“, einer wiſſenſchaft— welche es wie die Bienen macht, die von überall aus den Pflanzen ihr Material nicht blos ſammeln, ſondern es zu Wachs und Honig verarbeiten, während die bloßen Beſchreiber der Natur es nur machen “ die blos ſammelnden Ameiſen, die Metaphy— ſiker aber wie die Spinnen ihre Fäden rein aus ſich ſelbſt ziehen und doch nie die Natur in ihre Netze einfangen. Mit dem zweiten Theile der magna instauratio, dem Neuen Organon, iſt die Und naturgemäß zu Ende. Denn nun beginnt ja die ſpecielle Arbeit, nach den aufgeſtellten Grundſätzen die Natur zu er— forſchen. Baco vorwerfen, daß er bei dieſer Arbeit nichts geleiſtet habe, wie Liebig dieſen Vorwurf erhoben hat, heißt ſoviel als etwa Kopernikus vorwerfen, daß er nicht auch Kepler's und New— ton's Arbeit gethan habe. Wenn Baco auch in der empiriſchen Naturwiſſenſchaft mit feinen im Einzelnen verfehlten Experi— menten ſelbſt nichts Poſitives geleiſtet hat, ſo hat er doch das Programm entworfen, welches die Nachwelt ausgeführt hat und zwar ausgeführt hat — auf Baco's be geiſternde Anregung hin. Baco jagt ſelbſt, er wolle nicht dem menſchlichen Hoch— muth ein Kapitol oder eine Pyramide er⸗ richten, ſondern im Menſchengeiſte nur die Grundſteine zu einem heiligen Tempel legen, deſſen Vorbild das Univerſum ſelbſt ſei. Dieſe Grundſteine ſind die Theile der Magna Instauratio. Die Kritik der Wiſſenſchaften bildete den erſten, die Methodenlehre den zweiten Theil. Jetzt ſollte den Forder— ungen der Methodenlehre gemäß als dritter Theil folgen die Sammlung der Thatſachen, die „einfache Aufzählung“ wie Baco es nennt. Daß dieſer dritte Theil, die sylva sylvarum, natürlich nur noch einen hiſto— riſchen Werth haben kann, liegt auf der Hand, denn die wahre sylva sylvarum wäre ja der ganze Inbegriff aller heu— tigen und zukünftigen Naturbeſchreibung. Auf dieſer Materialſammlung ſollte ſich nun Schultze, Ueber Baco von Berulam. eigentliche Philoſophie Baco' s zu Ende. 95 der vierte Theil aufbauen, die Inter- pretation der Natur d. h. die Natur⸗ geſetze ſelbſt, alſo die eigentliche Naturwiſſen— ſchaft. Endlich der fünfte und ſechſte Theil ſollte das Ziel der baconiſchen Philo— ſophie vollenden, nämlich zeigen, wie dieſe Geſetze theils ſchon in Erfindungen ver— körpert ſeien, theils wie ſie zu neuen Er— findungen zu verwenden ſeien. Dieſe Ab— leitung der Erfindungen aus den gefundenen Naturgeſetzen iſt es, was Baco als „De— duktion“ bezeichnet. Selbſtverſtändlich giebt Baco, indem er dieſe Theile als noth— wendig hinſtellt, nur Poſtulate, nicht wirkliche Reſultate. Das Titelbild der Magna Instauratio zeigt eben nur ein Schiff, wie es gerade durch die Säulen des Hercules hindurchſegelt in den end— loſen Ocean hinein; es zeigt noch nicht dieſes Schiff, wie es die Weltumſegelung bereits vollendet hat. Durch Wiſſen zum Können, durch Können zur Macht über die Natur, dadurch zur fitt- lichen Freiheit, Cultur und Hu- manität. Naturwiſſenſchaft und Technik das nothwendige Mittel— glied in dieſem Proceß — das iſt in der Kürze noch einmal das baconiſche Ideengerüſt des Realismus. Obgleich Baco's Werke ſchon bei feinen Lebzeiten epochemachend waren, ſo konnte doch in den hochwogenden Fluthen der revolutionä— ren Zeiten, welche bald nach Baco's Tode die nächſten Decennien hindurch England durchwühlten, die von ihm geſtreute Saat noch nicht den rechten Boden finden. Doch waren es einzelne wenige Männer, welche, aus den politiſchen Stürmen zur ruhigen Mutter Natur ſich flüchtend, in der Stille die „Neue Philoſophie“, wie ſie dieſelbe in ihren Schriften nennen, zu cultiviren anfingen. Sie verſammelten ſich zuerſt in 1 Oxford im Haufe des nachmaligen Biſchofs Wilkins und beſprachen hier Gegen— ſtände der Phyſik, Chemie, Aſtronomie, Statik, Mechanik, Anatomie u. ſ. w., indem ſie ausdrücklich politiſche und theologiſche Objekte von ihren Discuſſionen ausſchloſſen. Später kamen ſie in London zuſammen, und hier zogen ſie bald die Aufmerkſamkeit König Karl's II. auf ſich. Im Jahre 1660 accreditirte der König gewiſſermaßen von Staatswegen die „Neue Philoſophie“, | indem er aus jenen fich verſammelnden Forſchern die „Königliche Societät der Wiſ— ſenſchaften“ bildete. Damit war der Baco— nismus zum vollſten Siege gelangt, und von dieſem Jahre an datirt der ungeheure Aufſchwung der realiſtiſchen Wiſſenſchaften zunächſt in England und dann auch auf dem Continent. „In wenig Monaten“ (nach der Gründung der Royal Society), ſagt Macaulay in ſeiner Geſchichte England's, „ward die Erfahrungswiſſenſchaft Mode. Die Transfuſion des Blutes, das Wägen der Luft, die Fixirung des Queckſilbers traten in dem öffentlichen Bewußtſein an die Stelle, welche noch kürzlich von den Strei— tigkeiten über die Rota eingenommen ward. Träume über die beſte Form der Regier— ung wichen Träumen über Schwingen, mit welchen man von dem Tower nach der Abtei fliegen könnte, und über Schiffe mit doppelten Kielen, welche im heftigſten Sturme nicht untergehen würden. Alle Klaſſen wurden durch die vorherrſchende Stimmung fortgeriſſen; Cavaliere und Rundköpfe, Män— ner der Sthaatskirche und Puritaner waren auf einmal verbündet; Geiſtliche, Juriſten, Staatsmänner, Edle, Fürſten erhöhten den Triumph der Philoſophie Baco's. Dichter ſangen mit Inbrunſt von dem Herannahen des goldenen Zeitalters; Cow ley drängte & Verſen, welche reich an Gedanken und 96 Schultze, Ueber Baco von Verulam. glänzend an Geiſt waren, das erwählte Volk, Beſitz zu nehmen von dem verheiße— nen Lande, wo Milch und Honig flöſſe, welches ihr großer Befreier und Geſetzgeber von der Höhe von Pisga geſehen hätte, das zu betreten ihm aber nicht vergönnt worden wäre. Dryden ſtimmte mit mehr Eifer als Kunde in den allgemeinen Ruf ein und prophezeite Dinge, welche weder er, noch ſonſt jemand begriff . . . .. So⸗ wohl der oberſte Richter Hale als der Lordſiegelbewahrer Guildford ſtahlen ihrer Beſchäftigung in den Gerichtshöfen einige Stunden, um über Hysroſtatik zu ſchrei— ben . . . . Die Chemie beſchäftigte eine Zeitlang die Aufmerkſamkeit des wandel— baren Buckingham Karl ſelbſt hatte ein Laboratorium zu Whitehall und war dort viel thätiger und aufmerkſamer als am Tiſche des Geheimen Raths. . .. Es war faſt nothwendig für einen fei— nen Gentleman, über Luftpumpen und Fernröhre zu ſprechen und ſelbſt Frauen von gutem Ton hielten es dann und wann für angemeſſen, Geſchmack für die Natur— wiſſenſchaften zu affektiren, kamen in Kut— ſchen mit Sechſen, um die Gresham-Merk— würdigkeiten zu beſuchen und brachen in einen Schrei des Entzückens darüber aus, daß ein Magnet wirklich eine Nadel an— ziehe, und daß eine Fliege, durch ein Mi— kroſkop betrachtet, wirklich ſo groß ſei wie ein Sperling. Der Geiſt von Fran— cis Baco, ſchließt Macaulay, war wieder erſtanden, ein Geiſt wunderbarer Kühnheit —— 2 und Nüchternheit.“ Und ſogleich folgte den naturwiſſenſchaftlichen Entdeckungen auch die praktiſche Anwendung. Eine weitgehende Reform der Landwirthſchaft begann, die Medicin wurde auf empiriſcher Baſis völlig umgewandelt, die erſten geſundheitspolizei— lichen Maßregeln wurden getroffen; in der Br. Schultze, Ueber Baco von Verulam. Chemie trat bahnbrechend Boyle, in der Botanik Sloane, in der Zoologie Ray auf. John Wallis reformirte die Statik, Halley ſtellte ſeine Forſchungen über Ebbe und Fluth, die Geſetze des Magnetismus und den Lauf der Kometen an. So erhob ſich eine glänzende Reihe von wiſſenſchaft— lichen Geſtirnen, unter denen endlich Iſaac Newton mit ſeinen „Mathematiſchen Principien der Naturphiloſophie“ als leuchtende Sonne emporſtieg. Auch die Länder des Continents folgten dem Zuge des neuen Geiſtes. Ich brauche für Deutſch— land nur an Kepler, an Otto von Guerike, und an den in Dresden ge— ſtorbenen Walter v. Tſchirnhauſen zu erinnern. So wie die Royal Society ihre Forſchungen in den Philosophical Trans- actions veröffentlichte, ſo erſchienen nun auch in Frankreich das Journal des Sa- vants, in Deutſchland die Acta Eruditorum. Aber noch auf einem anderen Gebiete, nämlich dem der Pädagogik, ſollte, zu— mal in Deutſchland, die baconiſche Philo— ſophie eine epochemachende Reform hervor— rufen. Gegenüber dem Formalismus der ausſchließlichen Lateinſchule waren es Wolf— gang Ratke und ſeine Anhänger, die Ratichianer, welche den Sprachunter— richt nach baconiſchen Grundſätzen umzuge— ſtalten ſtrebten; war es endlich einer der größten Pädagogen aller Zeiten, Amos Comenius, der Vater unſerer modernen Pädagogik, welcher mit ausdrücklicher Berufung auf Baco nicht blos die Me— thode des Unterrichts in naturaliſtiſch— pſychologiſcher Weiſe reformirte, ſondern auch vor allen Dingen zum erſten Mal die Einführung der Realien in den Unter richtsſtoff mit Begeiſterung verfocht. Es war auf der einen Seite die ſtets fortſchreitende Entwickelung der Naturwiſſenſchaften und 97 ihrer Bedeutung für das praktiſche Leben, auf der anderen Seite die erfriſchende realiſtiſche Briſe, die ſeit Comenius in der Pädagogik ſich erhoben hatte — in Folge wovon im Jahre 1706 der Prediger Chriſtian Semler in Halle zum erſten Mal die Idee der Realſchule klar erfaßte, wie er auch dieſen Namen zuerſt gebrauchte, eine Idee, die er, nachdem ſie von der preußiſchen Regierung und der Berliner Societät der Wiſſenſchaft höchlich gebilligt war, im Jahre 1738 in ſeiner „mathematiſchen, mechaniſchen und öconomiſchen Realſchule bei der Stadt Halle“ praktiſch zur Ausführung brachte. Semler's Beiſpiel rief eine Menge von ähnlichen Anſtalten in's Leben, unter denen die bedeutendſte und für die Folgezeit muſtergültige 1746 von Joh. Jul. Hecker in Berlin gegründet und 1748 als erſte derartige Staatsanſtalt anerkannt wurde. Ich brauche nicht erſt zu ſagen, daß auch die polytechniſchen Hochſchulen aus demſelben Geiſt und demſelben Bedürf— niß hervorgewachſen ſind, daß alſo auch ſie in Baco ihren Ahnherrn zu verehren haben. Herrliche Früchte hat der baconiſche Rea— lismus getragen — aber es geziemt dem gerechten Urtheiler über die Fülle des Lichts auch den Schatten nicht zu vergeſſen, damit nicht, wie Kant einmal ſagt, der Lobredner den Tadler aufſuche. Ein ſo nothwendiges Glied der Realismus in der Organiſation der Geiſteswelt iſt, ſo iſt er doch nur die Hälfte derſelben — nicht das Ganze! Für ſich allein iſt er weder gründlich, noch kritiſch, denn er vernachläſſigt eine Un— ſumme von ebenfalls realiter exiſtirenden Thatſachen und Bedürfniſſen des Menſchen— geiftes, die wir als die idealen zu bezeid- nen pflegen. Er iſt, will er allein der Inbegriff alles Wiſſens und aller Wiſſen⸗ Ba —— 98 Schultze, Ueber Baco von Verulam. ſchaft fein, ebenſo einſeitig und führt deshalb ebenſo ſehr in ſeinen letzten Con— ſequenzen zur Aufhebung alles kritiſchen Wiſſens, wie ſein Gegenſatz, der Idealismus, für ſich allein einſeitig iſt und ebenfalls in Selbſtaufhebung endet. Ein Blick auf die Geſchichte der beiden, nur in ihrer Vereinig— ung wahrhaft fruchtbaren Geiſteselemente zeigt die verhängnißvolle Mißentwickelung, die ſie in ihrer eigenſinnigen Abwendung von einander genommen haben. Baco's Realismus, von Hobbes auf Ethik, Politik und Religion angewendet, führte bereits zur Sanktification des ſtarrſten Abſolutismus, der rückſichtsloſeſten geiſtigen Sclaverei auf all den genannten Gebieten. Der baconiſche Satz: „Alles Wiſſen iſt = Erfahrung“ erzeugte in Locke's einſeitiger Fortbildung den Senſualismus: „Alle Erfahrung iſt nur finnlideWahr- nehmung,“ ein Satz, der in ſeiner con— ſequenten Entwickelung in Hume zum ſchnei— digen Skepticismus, in den franzöſiſchen Materialiſten des 18. Jahrh. zum abſoluten theoretiſchen wie ethiſchen Materialismus führte, der als letzte Frucht einen alles zer— ſtörenden Nihilismus zeitigte, wie er in den blutigen Tagen von 1789 fürchterlich zur praktiſchen Vollendung kam. Aber es iſt wunderbar und lehrreich zu ſehen, wie der von den Bedingungen der realen Wirklichkeit ganz losgelöſte Idea— lismus ebenfalls genau zu denſelben letzten Conſequenzen des Aufhörens aller Conſe— quenz jederzeit gekommen iſt. Ich will hier jetzt nicht darauf hinweiſen, wie ſchon der rein auf das Transſcendente gerichtete Idea— lismus des Mittelalters eben in Baco's Nachfolgern in den einſeitigen Realismus umſchlug — ich will vielmehr nur an die Entwickelung der geiſtigen Strömungen in dieſem Jahrhundert erinnern. Welche Früchte her der ſeit Fichte's Auftreten ganz abſtrakte Idealismus der deutſchen Philo— ſophie in letzter Inſtanz getragen? Ich bin weit davon entfernt, die großartigen Geiſtesanregungen, die aus dieſem Idealis— mus nach allen Seiten hin hervorgegangen ſind, zu verkennen, aber ſein letztes Ende war doch der gänzliche Bankerott, aus dem nichts hervorſprang als Negation, nichts als Skepticismus, nichts als der durch und durch dogmatiſche Materialismus, der freilich in dieſem 19. Jahrhundert viel wirkungsvoller auftreten konnte als im 18., weil er die ſcharfe dialektiſche Methode des Idealismus einerſeits, und die gewaltigen Reſultate der heutigen Naturwiſſenſchaft anderſeits für ſeine Zwecke zu gebrauchen verſtand. Fabula docet. Die geſchichtliche Entwickelung lehrt, daß jede einſeitige Entfaltung, ſei es des Realismus, ſei es des Idealismus, in's Leere führt, und daß nur in der richtigen Verſchmelzung beider, zu welcher der von jenen Idealiſten zu raſch überſprungene Kant die kritiſche Anweiſung geliefert hat, der heilvolle Standpunkt zu finden iſt, der auf der feſten Bafis des Realismus die idealen Güter der Menſchheit pflegt. ö 1 1 Urſprung und Entwickelung der Binneswerkzeuge. Von Ernft Haeckel. (Schluß.) ie merkwürdigen Hörzellen des Ohres ſind zu ihrer be— ſonderen Leiſtung, zur Schall— empfindung, dadurch be— fähigt, daß ſie feine borſten— förmige Fortſätze tragen, die Hörhärchen (Fig. 16). Fig. 16. Hörzellen aus der ſogenannten Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. Daher werden ſie auch als „Haarzellen“ (nicht recht paſſend) bezeichnet. Bald trägt jede Hörzelle oder Haarzelle nur ein feines Hörhärchen, bald ein ganzes Bündel oder Büſchel von ſolchen. Die Schallwellen, welche durch das Waſſer oder durch die Luft dem Thierkörper zugeleitet werden, „Schnecke“ vom Ohre einer Taube (Columba). A, B. © drei einzelne „Haarzellen“, A und B von der Seite (im Profil), C von der äußern Endfläche geſehen. a Bündel von Hörhärchen; b helle, becherförmige Stelle; e Kern mit Kernkörper; d dunkler Faden (der wahrſcheinlich in eine feinſte Nerven-Endfaſer übergeht). D Eine Haarzelle (e) in Verbindung mit einer Zahnzelle (k) und eigenthümlichen Kolben- Anhängen (8). E Eine „Tegmental⸗Zelle“ mit dunklem Innenſtück (m) und hellem Außenſtück (n). 14 100 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. treffen dieſe Hörzellen, und verſetzen deren Nähe der Nervencentra liegen, bald tiefer Härchen in Schwingungen. Bei vielen im Inneren, bald ganz oberflächlich, unter anderen Thieren ſind wahrſcheinlich ſolche der Haut. Dieſe „Hörbläschen“ (Fig. einzelne Hörzellen in der äußeren 17a) ſind mit Flüſſigkeit oder Gallerte Oberhaut unregelmäßig oder an beſtimmten erfüllt und ihre Wand iſt innen mit einer Stellen zerſtreut, ſo z. B. bei Polypen, Schicht Zellen ausgekleidet, die entweder Meduſen, Würmern u. ſ. w. Bei den ſämmtlich oder doch theilweiſe feine Härchen meiſten niederen Thieren aber ſind die Hör- tragen und ſich dadurch als Hörzellen aus— zellen im Inneren von zwei kugeligen Bläs- weiſen (Fig. 18 e). chen angebracht, welche gewöhnlich in der Fig. 17. Fig. 18. Fig. 17. Seelen⸗Apparat einer Floſſenſchnecke (Firola oder Pterotrachea). a Hörbläschen. gs Gehirn. e Nerven (Schlundring). o Augen. 1 Linſe. ch Pigment⸗ haut des Auges. r Ausbreitung des Sehnerven. Fig. 18. Hörbläschen einer Muſchel (Cyelas). e Aeußere Kapſel des Hörbläschens. e Hörzellen (mit Hörhärchen). o Hörſteinchen (Otolith). Von außen tritt ein Hörnerv an das ten Schallwellen auf und überſetzen fie in Bläschen heran (Fig. 17) und vertheilt die Empfindung des Geräuſches oder Tones, ſeine feinſten Fäſerchen an die einzelnen der nun durch den Hörnerven dem Nerven— Hörzellen. In der Mitte des Bläschens Centrum zugeführt wird. ſchwebt gewöhnlich ein Hörſteinchen oder In dieſer einfachen Form, als kugelige, Otolith (Fig. 180) d. h. eine Kugel, die geſchloſſene Hörbläschen, welche Hörwaſſer aus kohlenſaurer Kalkerde beſteht, oder eine und in der Mitte einen Hörſtein enthalten, Concretion, die aus vielen Kalkkryſtallen treffen wir die Hörorgane bei ſehr vielen zuſammengeſetzt iſt. Die zarten Spitzen Würmern verſchiedener Klaſſen, bei Mantel— der Hörhaare, wie wir die feinen Härchen thieren, Muſcheln, Schnecken, Kracken und der Hörzellen nenen, ſcheinen meiſtens die Krebſen an. Unter den Krebsthieren aber Oberfläche des Hörſteinchens zu berühren. zeichnen ſich viele, unter Anderen auch unſer Die Schwingungen der Schallwellen, welche gewöhnlicher Flußkrebs und der Hummer, von außen durch die Körperwand dem dadurch aus, daß die Hörbläschen nicht Hörbläschen zugeleitet werden, übertragen geſchloſſen, ſondern durch einen kurzen ſich durch deſſen Wand auf das Hör- Gang mit der äußeren Haut verbunden waſſer und den darin ſchwebenden Hörſtein. ſind und hier offen in das Waſſer münden. Die Hörhärchen nehmen die hier geſammel- An Stelle der gewöhnlichen kalkigen Hör— £ Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. ſteinchen, die vom Thier ſelbſt gebildet werden, finden ſich aber bei dieſen Krebſen kleine Kieſelſteinchen oder Sandkörnchen, die von außen aufgenommen werden. Trotzdem iſt der Gehörſinn hier ſehr entwickelt und zahlreiche feine Härchen an der Innenwand der Hörtaſche dienen zur Wahrnehmung der verſchiedenen Töne. Giebt man auf einer Violine Töne von verſchiedener Höhe an und beobachtet gleichzeitig die Hörtaſche unter dem Mikroſkop, ſo ſieht man, daß bei jedem Ton nur ein beſtimmtes Hörhaar in Schwing— ungen geräth. Es iſt alſo eine förmliche Tonklaviatur vorhanden, ſo daß der Wellen— zahl jedes Tones ein Härchen von beſtimm— ter Länge entſpricht. Dieſe Thatſachen ſind in mehrfacher Beziehung von hohem Intereſſe, vorzüglich deshalb, weil ſie uns auf die Urſprungs— ſtätte der inneren Hörbläschen hinführen, auf die äußere Haut. Die Hörbläschen entſtehen in der Hautoberfläche als ſeichte Grübchen, die mit Haarzellen ausgekleidet ſind. Allmälig werden dieſe Grübchen tiefer, geſtalten ſich zu Hörtaſchen und indem ſie ſich ganz von der Haut abſchnüren, zu ges ſchloſſenen Hörbläschen. Auch bei den Meduſen läßt ſich, ebenſo wie bei den Kreb— ſen, durch vergleichende Zuſammenſtellung der neben einander vorkommenden Entwickelungs— ſtufen dieſe ſtammesgeſchichtliche Entſtehung der Gehörbläschen feſtſtellen und durch die keimesgeſchichtliche Unterſuchung wird ſie lediglich beſtätigt. Bei manchen Meduſen ſind es ſogar verkürzte Fühler, welche ſich unmittelbar in Hörbläschen verwandeln; ſie werden von der äußeren Haut umwachſen und liegen dann als Hörkölbchen im Inne⸗ ren eines Bläschens. Die Hörhaare im Inneren deſſelben, welche jetzt Schallwellen empfinden, waren früher einfache Taſthaare der Oberhautzellen und empfanden nur 101 Druckſchwankungen; fie haben fi allmälig dem Verſtändniß der ſchnelleren Schall— ſchwingungen angepaßt. Wir ſehen hier wieder, wie ſchwierig die Unterſcheidung zwiſchen Hörorganen und Taſtorganen iſt. Denn wir können es den zarten Hörhärchen unter dem Mikroſkope nicht anſehen, ob ſie blos Druckſchwankun— gen wahrnehmen, oder ob ſie bereits Schall— ſchwingungen empfinden gelernt haben. Das iſt aber um ſo mehr zu berückſichtigten, als wir bei vielen niederen Thieren, namentlich Gliederthieren, welche offenbar Gehör be— ſitzen, bisher nicht im Stande geweſen ſind, beſondere Organe dafür nachzuweiſen. Gerade bei dieſen Gliederthieren aber finden wir haartragende Sinneszellen, die mit Haut— nerven zuſammenhängen, in der Haut weit verbreitet vor; und da ihr feſter und elaſtiſcher Hautpanzer für die Fortpflanzung der Schallwellen vorzüglich ſich eignet, iſt es ſehr wohl möglich, daß verſchiedene Stellen der Hautdecke hier als Hör— werkzeuge thätig find, Dieſe Vermuth⸗ ung iſt um ſo mehr gerechtfertigt, als auch ausgebildete Hörbläschen bei den Glieder thieren an ſehr verſchiedenen Hautſtellen auftreten. Während ſie bei unſeren gewöhn— lichen Krebſen und Krabben ganz vorn im Kopfe, an der Baſis der inneren Fühler liegen, finden wir ſie dagegen bei anderen Krebſen (Mysis) umgekehrt hinten am Schwanz. Bei den muſikaliſchen Heuſchrecken liegen die Gehörorgane bald an den Seiten der Bruſt, jo bei den berüchtigten Wander- heuſchrecken (Acridina), bald ſogar in den Schienbeinen der Vorderfüße (3. B. bei den Heimchen und den grünen Graspferdchen, Grylliden und Locuſtiden). Unzweifelhaft ſind dieſe Gehörorgane an verſchiedenen Stellen, unabhängig von einander, bei den verſchiedenen Gliederthieren aus der Haut 7 — 102 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. entſtanden. Denn wenn ſie von einer ge- beſteht aber aus zwei Abtheilungen, aus meinſamen Stammform ererbt wären, würden dem oberen Gehörſchlauch und dem unteren ſie an entſprechenden (oder homologen) Kör- Gehörſäckchen. In jeder Abtheilung liegt perſtellen liegen. ein Hörſtein oder ein Haufen von zuſammen— Auf eine weit höhere Entwickelungs- gebackenen Kalkkryſtallen; und in deren ftufe erhebt ſich das Hörorgan bei den Nähe breitet ſich auf der Innenwand der Wirbelthieren, obgleich ſich die Einrichtung Bläschen der Hörnerv aus, deſſen feinſte deſſelben im Weſentlichen an diejenige der Fäſerchen mit den hier ſitzenden Hörhaaren Würmer anſchließt. Mit einziger Ausnahme in Verbindung treten. Von dem oberen des niederſten Vertebraten, des berühmten Hörſchlauch gehen überall drei ring- oder Lanzetthierchens (Amphioxus), finden wir halbcirkelförmige Kanäle aus; ihre Höhle bei allen Wirbelthieren, von den Fiſchen ſteht mit derjenigen des Hörſchlauchs in Ver— bis zum Menſchen hinauf, im Kopfe ein bindung und iſt ebenfalls mit Hörwaſſer paar anſehnliche Hörblaſen vor. Jede Blaſe gefüllt (Fig. 19). Fig. 19. Hörbläschen (oder ſogenannte „häutige Hörlabyrinthe“) von verſchiedenen Wirbelthieren: A vom Menſchen, B vom Kalbe, C vom Hechte, D vom Geier, E vom Froſche. 1, 2, 3 Die drei Ringcanäle (1 horizontaler, 2 oberer, 3 hinterer); 4 gemeinſames Canalſtück; 5 Ampulle (blaſenförmige Erweiterung). 6 Gehörſchlauch. 7 Gehörſäckchen. Von dem unteren Hörſäckchen hingegen wegen ſeiner äußeren Aehnlichkeit mit einem entwickelt ſich bei den höheren Wirbel— 1 die Schnecke genannt hat. thieren ein eigenthümliches Organ, das man Wie es ſcheint, iſt dieſe Schnecke allein im Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. Stande, die muſikaliſchen Tonempfindungen zu vermitteln, während der Gehörſchlauch nur zur Wahrnehmung von Geräuſchen befähigt iſt. Der feinere Bau dieſes inneren Ge— hörorganes iſt beim Menſchen und bei den höheren Wirbelthieren ſo außerordentlich ver— wickelt, daß man ihm mit Recht den Namen des Labyrinthes beigelegt hat. Und doch iſt der erſtaunliche Wunderbau dieſes Labyrinthes, aus deſſen Irrgängen uns nur der Ariadnefaden der Entwickelungs— geſchichte den Ausweg zeigt, urſprünglich weiter Nichts als ein einfaches Hörbläschen, und iſt auch gleich den einfachen Hörbläs— chen der niederen Thiere aus der äußeren Haut entſtanden. Dieſe merkwürdige Ent— deckung wurde im Jahre 1831 von Emil Huſchke in Jena gemacht. Um uns von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, brauchen wir blos ein Hühnerei zu unterſuchen, das anderthalb Tage in der Brütmaſchine ge— legen hat. Da erblicken wir ſeitlich an der Kopfanlage des jungen Hühnerkeims ein paar ſeichte Grübchen, von den Zellen des Hautſinnesblattes ausgekleidet. Schon am dritten Tage der Bebrütung ſind dieſelben zu tiefen Hörtäſchchen geworden, die nur noch durch einen engen Gang mit der äuße— ren Haut zuſammenhängen (vergl. oben Fig. 2, 3g); und am Ende des dritten Tages ſchnüren ſie ſich vollſtändig von der Haut ab (Fig. 20, A, B). Am vierten Tage rücken die abgeſchnürten rundlichen Hörbläschen bereits tiefer in den Kopf hin⸗ ein. Bald ſchnürt ſich jedes Bläschen in der Mitte ein, ſo daß ſich der obere Hör— ſchlauch vom unteren Hörſäckchen ſondert. (Fig. 20, C, D.) Fig. 20. Entwickelung des Hörbläschens (oder Gehör-Labyrinthes) beim bebrüteten. Hühnchen (in fünf auf einander folgenden Stufen, A — E). Schädelanlage. fl Gehörgrübchen. Schnecke. (Senkrechte Querſchnitte der Iv Gehörbläschen. Ir Labyrinthanhang. e Anlage der esp Hinterer Bogengang. ese Aeußerer Bogengang. jr Jugular-Vene (Droſſelader). In beiden Abtheilungen bilden ſich Hörſteinchen. Aus dem Hörſchlauch wach— ſen die drei Ringcanäle hervor, aus dem Hörſäckchen die Schnecke (Fig. 20 E). So ſind denn alle Hauptbeſtandtheile des Labyrinthes angelegt und erlangen allmälig ihre feinere Ausbildung. Aber auch die feinſten Hörzellen, welche ſich ſpäter in der Schnecke entwickeln, ſind doch ur— 2 ſprünglich Nichts, als Abkömmlinge von | gewöhnlichen Hautzellen. Auch hier wieder iſt die Keimesgeſchichte nur ein ge— drängter Auszug der Stammes— | geſchichte; und auf demſelben Wege, auf dem ſich das Hörlabyrinth des Hühner— keims in wenigen Tagen aus der äußeren Haut entwickelt, auf demſelben Wege hat ſich auch der Wunderbau unſeres menſch— . 104 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. lichen Hörlabyrinthes im Laufe vieler Millio— nen Jahre aus einfachen Hörbläschen nie— derer Thiere geſchichtlich entwickelt. Derjenige Theil des Hörlabyrinthes, der beim Menſchen und den übrigen höhe— ren Wirbelthieren alle anderen Theile an bewunderungswürdiger Feinheit und Zu— ſammenſetzung des Baues übertrifft, iſt das ſogenannte Corti'ſche Organ oder die Deckhaut der Schnecke (Membrana tec- toria cochleae, Fig. 21). 7 42 ul | 1 a B Innere Zellendecke (Epithel der Spiralfurche). C Pfeilerköpfe (Cortiſche Bogen). D Netz- platte mit den äußeren Haarzellen. E Aeußere Zellendecke (Epithel der Grundmembran). a Zellen der Spiralfurche. b Aeußere Grenz— linie der Hörzähne. e, q Maſchenwerk zwi— ſchen den Deckzellen. d Spiralgefäß. e Innere Haarzellen. f Innere Pfeilerköpfe. g Grenze zwiſchen k und h. h Aeußere Pfeilerköpfe. k — p Drei Reihen von äußeren Haar— zellen. r Stützzellen. (Stark vergrößert.) Dieſes wunderbare Organ verhält ſich zu dem einfachen Hörbläschen niederer Thiere (Fig. 18) ungefähr ähnlich, wie ein Bechſtein'- ſcher Flügel erſter Qualität mit feiner unüber- troffenen Claviatur zu der einfachen ſchwin— genden Schnur oder Saite, die ein Indianer über einen Bogen geſpannt hat. Da finden wir in dem Schneckenkanal einen tunnel- artigen Gang, der von einer Reihe zier— licher knöcherner Bogen, den Corti'ſchen Bogen, überwölbt wird (e). Jeder Bogen beſteht aus einem inneren (k) und einem äußeren Pfeiler (h). Auf dieſen Corti'- ſchen Bogen ruhen die wichtigſten akuſtiſchen Beſtandtheile der Schnecke, die mit feinen Borſten beſetzten, muſikaliſchen Haarzellen, in denen die feinſten Fäſerchen des Hör— nerven endigen. Auf den Köpfen der inne— ren Pfeiler (k) ruht nur eine Reihe von inneren Haarzellen (e), dagegen auf den Köpfen der äußeren Pfeiler (h) 3—5 Reihen von äußeren Haarzellen (k—p). Es iſt wahrſcheinlich, daß die Zahl und Ausbildung dieſer Haarzellen die muſika— liſchen Fähigkeiten der verſchiedenen Säuge— thiere bedingt. Der muſikaliſche Culturmenſch ſcheint 4—5 Reihen, der rohe Naturmenſch 3—4 Reihen, das gewöhnliche Säugethier aber nur 3 Reihen von äußeren Haar— zellen zu beſitzen; der Wagner'ſche Muſik— menſch der Zukunft wird wahrſcheinlich 6 oder noch mehr Reihen beſitzen. Die höchſt verwickelte Zuſammenſetzung und Anordnung der Zellen im Corti'ſchen Organ erinnert vielfach an die ähnlichen Verhältniſſe in der Sehhaut oder Netzhaut des Auges; und wie die letztere aus einer einfachen Schicht von Sehzellen, jo hat ſich das erſtere aus einer einfachen Lage von Hörzellen im Laufe vieler Millionen Jahre allmälig entwickelt. Sowohl dieſe Sehzellen, wie jene Hörzellen ſtammen von gewöhnlichen Oberhautzellen . U we Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. ab und haben ſich erſt allmälig von der äußeren Hautfläche in das geſchützte Innere des Körpers zurückgezogen. Mit dem Ausbau dieſes bewunderungs— würdigen Labyrinthes iſt nun aber die Zu— ſammenſetzung des akuſtiſchen Apparats beim Menſchen und den höheren Wirbelthieren keineswegs erſchöpft. Vielmehr geſellen ſich zu dieſem weſentlichſten Theile des Hör— organs noch andere äußere Theile, welche die Schallwellen auffangen und zum Laby— rinthe hinführen. Den Fiſchen fehlen ſolche noch. Bei dieſen Waſſerthieren treten die Schallwellen unmittelbar aus dem Waſſer auf die Haut und die Kopfknochen über, und von da auf das innen im Kopf ge— legene Labyrinth. Bei manchen Fiſchen wird die Schallempfindung noch dadurch verſtärkt, daß das Labyrinth in eigenthümliche Ver— bindung mit der luftgefüllten Schwimm— blaſe tritt und zwar bei den Häringen mittelſt beſonderer Luftkanäle, bei den Karpfen und Welſen durch eine Kette von Gehörknöchel— chen. Der hyoroſtatiſche Apparat der Schwimmblaſe dient dann als Reſonanzboden. Ein beſonderer Schallleitungs— apparat entwickelt ſich bereits bei den Amphibien, den Salamandern, Fröſchen u. ſ. w. Da dieſe Thiere abwechſelnd im Waſſer und auf dem Lande leben, iſt ihnen ein ſolcher Apparat, bei der ſchlechteren Schallleitung der Luft, von großem Vor— theil. Ein rundes Trommelfell oder Pau— kenfell, das in der äußeren Kopfhaut liegt und die Schallwellen aus der Luft aufnimmt, begrenzt eine luftgefüllte Trommel oder Pau⸗ keuhöhle, welche durch eine Röhre, die Ohr— trompete, in die Schlundhöhle mündet. Das Labyrinth liegt innen an der Trommelhöhle und erhält die Schallwellen theils durch die darin enthaltene Luft zugeführt, theils durch das Hörſäulchen (Columella), einen ſtabför⸗ 105 migen Knochen, welcher das Trommelfell direkt mit der Labyrinthwand verbindet. Dieſer ganze Leitungsapparat, den die Am— phibien weiterhin auf die höheren Wirbel— thiere vererbt haben, hat ſich urſprünglich aus der erſten Kiemenſpalte und den beiden angrenzenden Kiemenbogen der Fiſche ent— wickelt; das wird durch die vergleichende Anatomie im Einklang mit der Keimesge— ſchichte bewieſen. Ein Entwickelungsprodukt der äußeren Kopfhaut aus viel ſpäterer Zeit iſt das äußere Ohr, welches der Menſch mit den Säuge— thieren theilt. Figur 22. Gehörorgan des Menſchen. (Linkes Ohr, von vorn geſehen.) a Ohr- muſchel. b Aeußerer Gehörgang. e Trommel- fell. d Trommelhöhle. e Ohrtrompete. fgh Die drei Gehörknöchelchen (k Hammer, g Ambos, h Steigbügel). i Gehörſchlauch. k Die drei Ringcanäle. 1 Gehörſäckchen. m Schnecke. n Hörnerv. Dieſes äußere Ohr beſteht aus der Ohrmuſchel (Fig. 22 a), welche die Schall- wellen aus der Luft auffängt, und dem äußeren Gehörgang (b) der fie zum Trom— melfell (e) führt. Dieſelben entwickeln ſich aus einer ringförmigen Hautfalte, welche 106 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. die Umgebung der erſten Kiemenſpalte jenige der Cultur-Völker weit übertrifft, begrenzt. Bei den feinhörigen Säuge— thieren, die an Schärfe des Gehörs den Menſchen bei weitem übertreffen, iſt die Ohrmuſchel viel ſtärker entwickelt und frei beweglich. Durch beſondere Muskeln wird ſowohl ihre Stellung als ihre Form ver— ändert, um die Schallwellen aus verſchie⸗ denen Richtungen in möglichſt günſtiger Lage aufzufangen. Ganz auffallend groß und beweglich ſind daher die äußeren Ohren bei Wüſtenbewohnern, bei den Spring— mäuſen und Füchſen der Sahara; denn hier gilt es, in der Todesſtille der weiten Ebene auch die leiſeſten Töne aus weiter Ferne aufzufangen. gegen, der an Schärfe und Feinheit der Schall⸗Empfindung wie der Geruchsempfin— dung weit hinter jenen Thieren zurückſteht, hat die Ohrmuſchel ihren Werth verloren Organ herabgeſunken. Menſchen mit ab— geſchnittenen Ohren hören noch eben ſo gut wie vorher. Auch bei vielen Hausthieren mit ſchlaff herabhängenden Ohren, Hunden, Beim Menſchen hin- | können auch ihre Ohrmuſchel gewöhnlich noch gut bewegen und einſtellen. Indeſſen auch manche bevorzugte Perſonen unter den Culturvölkern ſind heute noch dazu fähig, und einige berühmte Phyſiologen, z. B. Johannes Müller, haben es lediglich durch ener— giſche, lange fortgeſetzte Willensanſtrengung und vieljährige Uebung dazu gebracht, ihre Ohren wieder frei und lebhaft zu bewegen. Es iſt dies eins der merkwürdigſten Bei— ſpiele für die große Macht der Uebung und Gewohnheit, des gewaltigſten Hebels der Anpaſſung. Denn allein durch fortgeſetzte Nerventhätigkeit, durch die Macht des an- haltenden Willens, ſind hier alte, bereits außer Dienſt getretene Muskeln wieder in den activen Dienſt zurückverſetzt. Auch in anderen Beziehungen liefert die geſchichtliche Entwickelung unſeres Gehör— und iſt zu einem unnützen oder rudimentären organs uns ſehr lehrreiche Aufſchlüſſe über die erſtaunliche Macht der Uebung und Ge— wohnheit, der Erziehung und Anpaſſung. Welcher Gegenſatz zwiſchen den rohen Ton— Kaninchen, Ziegen, hat der Nichtgebrauch der Ohrmuskeln in Folge zuſtandes zu ihrer Entartung geführt; auch hier iſt flüſſig geworden und außer Dienſt getreten. Daß die Ohrmuſchel ordentliche Mannigfaltigkeit ihrer Größe und Geſtalt, wodurch ſie vielleicht alle an⸗ In großen Ver⸗ deren Organe übertrifft. ſammlungen, in denen unſer Intereſſe nicht genügend gefeſſelt iſt, giebt es keine lehr— reichere Unterhaltung, als die vergleichende | Betrachtung der unendlich mannigfaltigen Ohrmuſcheln. Die Auſtralneger, Papuas, Hottentotten und andere Wilde, deren Gehörſchärfe die— des Cultur⸗ die Ohrmuſchel allmälig über- des Menſchen ein rudimentäres Organ iſt, zeigt auch die außer- Empfindungen eines Wilden, deſſen höchſter muſikaliſcher Genuß die rhythmiſche Wieder- holung eines Geräuſches oder höchſtens eines einfachen Tones der Trommel oder Pfeife iſt; und dem muſikaliſchen Verſtändniß eines gebildeten Culturmenſchen, deſſen Ohr ſich an den claſſiſchen Harmonien einer Mozart— ſchen Oper oder einer Beethoven'ſchen Symphonie ergötzt! Und welcher größere Ge— genſatz noch zwiſchen dieſen letzteren und den übercultivirten Schwärmern für Wagner’- ſche Zukunfsmuſik, die nur noch in ver- wickelten Disharmonien das eigentliche Ziel äſthetiſchen Ton-Genuſſes finden! Schauen dieſe Zukunfts-Muſiker doch auf die Ton- Empfindungen von uns gewöhnlichen Cul- turmenſchen mit derſelben mitleidigen Ber- achtung herab, mit der wir die rohe Ton— Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. kunſt der Wilden, die einförmigen Klänge eines Tam⸗Tam oder einer ſchrillen Pfeife anhören. Aber auch unſere Stammältern vor fünftauſend oder zehntauſend Jahren waren ſicher ſolche Wilde; und das muſikaliſche Gehör unſerer Kinder durchläuft in wenigen Jahren noch denſelben Stufengang der Ent— wickelung, welchen in der Culturgeſchichte die Ton⸗Aeſthetik von der Wildenmuſik bis zum Zukunfts⸗Concert durchlaufen mußte! Da ſich jede organiſche Leiſtung oder Arbeit nur Hand in Hand mit ihrem Organ entwickelt, ſo unterliegt es keinem Zweifel, daß mit dieſem geſchichtlichen Fortſchritte der Tonempfindung auch eine entſprechende Ver— vollkommnung unſeres Hör-Labyrinths eng verknüpft iſt. Der feinere Bau unſerer Schnecke iſt heute ein anderer, als er bei unſeren wilden Vorfahren vor fünftauſend Jahren war. Und auch das Hörlabyrinth der wilden Naturvölker wird vermuthlich im feineren Bau noch heute gewiſſe Unter— ſchiede von dem der Culturvölker darbieten. Damit ſteht nicht im Widerſpruch, daß die erſteren ein ſchärferes Gehör beſitzen als die letzteren. Denn die Schärfe des Ohres beim fernhörenden Wilden iſt ganz etwas Anderes als die Feinheit des muſikaliſch gebildeten Gehörs beim Culturmenſchen. Die ſtärkere quantitative Leiſtung des erſteren iſt von der höheren qualitativen Leiſtung des letzteren ganz verſchieden. Daſſelbe gilt auch vom Geruchsſinn und Geſichtsſinn. Wenn die Wilden viel weiter in die Ferne ſehen und viel deutlicher ſchwache Gerüche wahrnehmen können, als der Culturmenſch, ſo iſt ihnen doch dieſer weit überlegen in der feinen Unterſcheidung der Gerüche und in der äſthetiſchen Ausbildung des Farbenſinns und Formenſinns, dem Reſultate tauſend⸗ jähriger Culturentwickelung. Ganz ähnliche Verhältniſſe der hiſtoriſchen Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. 107 Entwickelung und der ſtufenweiſen Ausbild— ung, wie beim Hörorgan, finden wir auch beim Sehorgan. Auch das Auge, dieſes herrlichſte und vollkommenſte aller Sinneswerkzeuge, iſt nicht durch den Macht⸗ ſpruch eines planmäßig bildenden Schöpfers plötzlich in's Daſein gerufen worden, ſondern hat ſich gleich allen anderen Organen durch natürliche Züchtung im Kampfe um's Daſein langſam und allmälig von ſelbſt entwickelt. Wie Aug und Ohr, dieſe beiden edelſten Sin⸗ neswerkzeuge, die Organe des Schön— heitsgefühls, in ihrem anatomiſchen Bau und ihrer phyſiologiſchen Thätigkeit vielfach verſchieden und doch vergleichbar ſind, ſo gilt das auch von ihrer Entwickelungsgeſchichte. In ähnlicher Weiſe, wie der Hörſinn des Ohres aus dem Taſtſinn der Haut, hat ſich der Lichtſinn des Auges aus dem Wärmeſinn der Haut hervorgebildet. Die vergleichende Anatomie und Keimesge— ſchichte zeigt uns beim Auge, wie beim Ohr, eine lange Kette von verſchiedenen Entwickelungsſtufen. Auch hier dürfen wir daraus den ſtammesgeſchichtlichen Schluß ziehen, daß das bewunderungswürdige Seh- werkzeug des Menſchen und der höheren Thiere nur das letzte Ergebniß einer langen Reihe von Anpaſſungs Vorgängen iſt, die durch Vererbung allmälig angehäuft wurden und die uns Schritt für Schritt von der niederſten zur höchſten Bildungs— ſtufe hinauf führen. Der erſte Anfang des Sehorgans bei niederen Thieren iſt nichts Anderes, als ein einfacher, dunkler Fleck in der hellen Haut, gewöhnlich ein ſchwarzer Pigment— fleck. Sogar ſchon bei einzelligen Protiſten ſcheinen ſolche dunkle Farbſtoff-Fleckchen die Lichtempfindung zu vermitteln (vergl. oben Fig. 8). Einzelne Farbſtoff-Zellen oder Haufen ſolcher Pigmentzellen bilden den CCC 15 108 Anfang zu einem einfachſten Auge bei vielen Pflanzenthieren und Würmern. Wenn ſich in der hellen Haut derſelben an einzel— nen Stellen Farbſtoff oder Pigment ab— lagert, ſo müſſen dieſe dunkeln Flecke die Temperatur-Veränderungen des umgebenden Waſſers oder der Luft ſtärker empfinden, als die benachbarten helleren Hauttheile. Denn bekanntlich werden die Licht- und Wärme-⸗Strahlen von dunkeln Körpern ver ſchluckt oder abſorbirt, von hellen zurück— geworfen oder reflectirt. Ein ſchwarzer Stein wird im Sonnenſchein viel raſcher heiß als ein weißer. Mit der Bildung dunkler Flecken in der Haut iſt daher ſchon der erſte Anfang zu einem Auge gemacht, aber freilich nur zu einem Wärmeauge oder Licht— auge, das Warm und Kalt, Hell und Dunkel beſſer unterſcheidet, als die umgebende übrige Haut. Die gewöhnlichen Hautnerven, welche an jene dunkeln Farbſtoffzellen oder Bigment- zellen der Haut herantreten, haben bereits die erſte Stufe der glänzenden Laufbahn betre— ten, auf der fie ſich zum höchſten Sinnesner— ven, zum Sehnerven entwickeln. Aber von einem wirklichen Auge ver— langen wir doch mehr, als die bloße Unter— ſcheidung von Hell und Dunkel. Das wahre Auge entwirft ja ein Bild von den Gegen— ſtänden der umgebenden Außenwelt; und die innere Augenfläche, auf welcher dieſes Bild wie auf der ſenſitiven Platte eines photo— graphiſchen Apparates oder einer Zauber— laterne entworfen wird, iſt die Ausbreitung des Sehnerven, die ſogenannte Netzhaut (oder Retina). Ein ſolches Bild kann aber auf dieſer empfindenden Nervenfläche erſt dann zu Stande kommen, wenn ein licht— brechender Körper, eine Linſe, vorhanden iſt. Dieſe gewölbte Linſe, einem Brillenglaſe oder einem einfachen Vergrößerungsglaſe ähnlich, ſammelt die Lichtſtrahlen, die von Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. den äußeren Gegenſtänden kommen und entwirft auf der Netzhaut ein verkleinertes Bild davon, welches von den Sehzellen empfunden und von dem Sehnerven zum Gehirn fortgeleitet wird. Mit der Bildung einer durchſichtigen, lichtbrechenden Linſe, der Kryſtalllinſe, geſchieht daher der große Fort— ſchritt von einem bloßen Lichtauge zu einem wirklichen Bildauge. Dieſer bedeutungs— volle Fortſchritt vollzieht ſich bei niederen Thieren, insbeſondere Würmern und Pflan— zenthieren in ſehr verſchiedener Weiſe. Bald iſt es eine einzige, ſtark angeſchwollene, kugelige oder linſenförmige, gewölbte Haut— zelle, die ſich zur Kryſtalllinſe entwickelt, bald eine Gruppe von vereinigten Haut— zellen, bald nur eine erhärtete Ausſcheidung der Haut (wie die Chitinlinſe der Glieder— thiere). Jetzt ſind bereits alle Bauſteine für den Aufbau des viel verwickelteren Auges der höheren Thiere und des Menſchen ge— geben, nämlich: 1) eine lichtbrechende, in der Haut gelegene Linſe; 2) der Seh— nerv, der ſich an der inneren Fläche der Linſe als Retina ausbreitet; und 3) eine Pigmenthaut oder Farbenhaut, eine Schicht von dunkeln Hautzellen, welche die Netzhaut und ſomit auch die Linſe umgeben. Die Kryſtallinſe bricht die Lichtſtrahlen und ſammelt ſie zu Bildern; die Pigmenthaut verſchluckt oder abſorbirt dieſelben, und die Sehzellen der Netzhaut ſetzen ſie in Em— pfindung um, welche durch den Sehnerven zum Central-Apparat des Gehirns geleitet wird. Alle dieſe weſentlichen Theile eines einfachen Auges ſind urſprünglich Bildungen der äußeren Haut; das beweiſt die ver— gleichende Anatomie in Verbindung mit der Keimesgeſchichte. Wir ziehen daraus für die Stammesgeſchichte der Thiere den hoch— wichtigen Schluß, daß auch die langſame . U ²˙àWJàMJ ] ’ NW!—⏑— -m ̃ »m Pr und allmälige geſchichtliche Entwickelung der Seh-Werkzeuge im Laufe vieler Mil- lionen Jahre denſelben Weg gegangen iſt, und daß überall das Auge urſprünglich aus Zellen der Hautdecke ſich entwickelt hat. Friilich iſt nun noch ein weiter Weg von dieſem einfachen Auge der niederen Thiere mit ſeinen drei weſentlichen Beſtandtheilen, bis zu dem viel vollkommneren Auge der höheren Thiere, das aus mehr als dreißig verſchiedenen Organ-Theilen zuſammengeſetzt ſein kann. So intereſſant es auch iſt, dieſen langen Stufengang aufſteigender Entwickel— ung Schritt für Schritt zu verfolgen, ſo können wir doch hier wegen der ſchwierigen Verwickelung der feineren anatomiſchen und genetiſchen Verhältniſſe nicht näher darauf eingehen. Der wundervolle Bau des Au— ges in den verſchiedenen Thier-Klaſſen iſt viel mannigfaltiger und vollkommener als der des Ohres. Und wie der Geſichtsſinn hoch über den Gehörſinn ſich erhebt, wie die bildende Kunſt hoch erhäkben über der Tonkunſt ſteht, ſo iſt auch der Bau und die Entwickelung des Auges ungleich in— tereſſanter und merkwürdiger, als diejenigen des Ohres, aber freilich auch ebenſo viel ſchwieriger. Wir müſſen uns daher ſchließ— lich hier mit einigen kurzen Andeutungen über die weitere geſchichtliche Entwickelung des Seh-Organs begnügen. Zunächſt verbeſſert die natürliche Zücht— ung bei der weiteren Ausbildung des Auges den lichtbrechenden Apparat, indem ſie an die Stelle einer einfachen Linſe eine ſehr verwickelte Combination von verſchieden lichtbrechenden Körpern ſetzt, von denen die wichtigſten eine harte geſchichtete Linſe und ein weicher, halbflüſſiger Glaskörper ſind (Fig. 23, 1, h,). Dadurch werden die op— tiſchen Fehler der einfachen Linſe vermieden. Sodann tritt an die Stelle einer einfachen Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. 109 Farbenhaut eine verſchiedenartige, aus meh— reren Schichten zuſammengeſetzte Aderhaut oder Choroidea, mit reflektirenden Tapeten, Sichelfortſätzen, Kammern u. ſ. w. Endlich und vor Allen wird der nervöſe Apparat des Auges außerordentlich vervollkommnet. An die Stelle einer einfachen Nerven-Ausbreit⸗ ung tritt eine ſehr verwickelte Netzhaut-Bild⸗ ung, welche aus vielen verſchiedenen Schichten zuſammengeſetzt iſt. Beſonders lehrreich für dieſe hiſtoriſche Entwickelung des Auges iſt die große Gruppe der Würmer, weil wir hier eine voll- ftändige Stufenleiter der Ausbildung deſ— ſelben verfolgen können. Bei den niederſten Würmern wird das Auge blos durch ein— zelne Farbſtoffzellen oder Pigmentzellen ver— treten. Bei anderen geſellen ſich dazu licht— brechende Zellen, die eine einfachſte Linſe bilden. Hinter dieſen Linſenzellen entwickeln ſich Sehzellen, welche in einer einfachen Lage eine Netzhaut einfachſter Art bilden und mit den feinſten Endfäſerchen des Sehnerven in Verbindung ſtehen. Endlich bei den Al— ciopiden, hochorganiſirten Ringelwürmern, die an der Oberfläche des Meeres ſchwim— men, hat die Anpaſſung an dieſe Lebensweiſe eine ſolche Vervollkommnung des Auges be— dingt, daß es den Augen niederer Wirbel- thiere Nichts nachgiebt (Fig. 23). Da | finden wir einen großen kugeligen Augapfel, der außen eine geſchichtete kugelige Linſe (Y, innen einen umfangreichen Glaskörper (öh) umſchließt. Unmittelbar um dieſen herum liegen die lichtempfindenden Stäbchen der Sehzellen (b), welche durch eine Schicht von Farbſtoffzellen (p) von der äußeren Aus⸗ breitung des Sehnerven (o), der Netzhaut (01) getrennt werden. Die äußere Hautdecke (i umhüllt den ganzen, frei vorragenden Aug— apfel und bildet über demſelben eine durchſichtige Hornhaut oder Cornea (e). 110 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. % Fig. 24. Auge des Menſchen im Querſchnitt. a Schutzhaut (Selera). b Hornhaut (Cornea). e Ober⸗ haut (Conjunctiva). d Ringvene der Iris. e Ader— haut (Choroidea). f Ciliar-Muskel. g Faltenkranz (Corona eiliaris). h Regenbogenhaut (Iris). i Seh— nerv. k Vorderer Grenzrand der Netzhaut. 1 Kryſtall⸗ linſe. m Waſſerhaut (Membrana Descemeti). n Pig⸗ menthaut (Pigmentosa). o Netzhaut. p Petits⸗ Canal. q Gelber Fleck der Netzhaut. Fig. 23. Auge eines Ringelwurms (Alciope). 1 Linſe. h Glaskörper. b Stäb⸗ chenzellenſchicht. p Pigmentſchicht (Pigmen- tosa). o Sehnerv. o, Ausbreitung deſſelben. i Hautdecke, welche vorn über dem Auge eine Hornhaut bildet (Cornea, c). Vergleichen wir das hoch entwickelte liegt innen an der ſtarken äußeren Schutz— Auge dieſes Wurmes mit demjenigen des Menſchen (Fig. 24) oder eines anderen höheren Wirbelthieres, ſo finden wir in allen weſentlichen Stücken eine überein— ſtimmende Anordnung der Theile. Nur iſt die Hornhaut (b) hier ſtärker vorge— wölbt, die Linſe (1) dagegen flacher gewölbt. Eine blutgefäßreiche Aderhaut (Choroidea) (e) Fig. 25. Die Pigmenthaut (Pigmentosa). von der Seite, e eine dergl. haut (a) und ſetzt ſich vorn in die gefärbte Regenbogenhaut oder Iris (h) fort, welche das Sehloch oder die Pupille umgiebt. Zwiſchen der Aderhaut (e) und der Netz— haut (o) liegt eine einfache Schicht von ſehr regelmäßig ſechseckigen Pigmentzellen, welche mit ſchwarzem Farbſtoff gefüllt ſind (Fig. 25 a). a Zehn Zellen von der Fläche, b zwei dergl. mit anhängendem Stäbchen. Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. Dieſe „ſchwarze Tapete“ oder Pig- menthaut (Pigmentosa) gehört ſowohl ihrem Urſprung, wie ihrer optiſchen Bedeutung nach zur Netzhaut. Der wichtigſte und merkwürdigſte Theil des Auges iſt beim Menſchen wie bei den übrigen Thieren die ſogenannte Netzhaut oder Retina, eine ſehr zarte und dünne Haut, welche weſentlich durch die Sehzellen gebildet wird. Dieſe „Sehzellen“ hängen mit den feinſten Endfäſerchen des Sehnerven zuſammen und ſind, gleich den meiſten an— deren Sinneszellen, ſchlanke, ſtäbchenförmige Zellen. Bei den niederen Thieren ſind dieſe optiſchen Stäbchenzellen von einfacher und gleichartiger Beſchaffenheit. Bei den höheren Thieren hingegen ſondern ſie ſich in zwei verſchiedenartige Bildungen, die als Stäb— chen und Zapfen bezeichnet werden. (Fig. 26). und dickere Zapfenzellen ſtehen zwiſchen ſechs Et Die Stäbchenzellen find länger und dünner, die Zapfenzellen kürzer und dicker. Die Stübchenzellen, welche außen ein dünnes cylindriſches Stäbchen tragen, ſcheinen blos die Formen der Bilder, dagegen die Zapfenzellen, welche einen ſpitzen koniſchen Zapfen tragen, die Farben derſelben zur Empfindung zu bringen. Daher werden die niederen Thiere, deren Sehnerven-Faſern ſämmtlich in Stäbchen— zellen endigen, blos farbloſe Bilder ſehen und Farben überhaupt nicht kennen. Nur jene höheren Thiere, die zwiſchen den Stäb— chenzellen auch noch Zapfenzellen beſitzen, ſcheinen Farben unterſcheiden zu könen. Bei Fledermäuſen und anderen nächtlichen Thieren finden wir nur wenige oder gar keine Zapfen in der Retina. Um ſo zahlreicher und ent- wickelter ſind die Zapfen bei den Eidechſen und Vögeln, die den Sonnenſchein lieben und offenbar einen ſehr entwickelten Far— benſinn beſitzen. Beim Menſchen, wie bei den anderen höheren Wirbelthieren, können wir nicht weniger als zehn verſchiedene Schichten in der Retina unterſcheiden. (Fig. 27.) Zu äußerſt liegt die Schicht der ſchwarzen Pigmentzellen (Pigmentosa, 10), unmittelbar darunter die Schicht der Sehzellen mit ihren Stäbchen und Zapfen (7 — 9). Dieſe iſt durch eine dünne Zwiſchenkörnerſchicht (6) von einer dicken Lage Körnerzellen (5) getrennt und dieſe wieder durch eine ſehr dicke granu— lirte Schicht (4) von einer Lage großer Ganglienzellen (3), die unmittelbar mit den Faſern des Sehnerven (2) in Zuſammen— hang ſtehen. Die Complication im Bau und in der Anordnung dieſer Retina-Ele— mente entſpricht den optiſchen Entwickelungs— ſtufen des Auges, ſo daß alſo bei geübten Malern dieſelbe weit vollkommener ſein wird, längeren und dünneren Stäbchenzellen. als beim rohen Naturmenſchen. | Fig. 27. Senkrechter Durchſchnitt durch ein Stückchen Netzhaut des Menſchen. 1. Innere Grenzhaut. 2. Sehnervenfaſern. 3. Ganglienzellen. 4. Innere, granulirte Schicht. 5. Innere Körnerzellenſchicht. 6. Aeußere Zwi— ſchenkörnerſchicht. 7. Sehzellen. 8. Aeußere Grenzhaut. 9. Stäbchen und Zapfen der Sehzellen. 10. Innere Grenzhaut. Zu dieſen wichtigſten optiſchen Theilen des Auges geſellen ſich nun beim Menſchen, wie bei allen höheren Thieren, noch zahlreiche Hülfsapparate, welche den älteren, niederen Thieren fehlen; ſo namentlich innere Augen— muskeln, welche die Form des Auges ver— ändern und die Linſe auf verſchiedene Ent— fernung einſtellen; äußere Augenmuskeln, welche den Augapfel nach verſchiedenen Richtungen hin bewegen. Um den ganzen Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. Augapfel herum bildet ſich eine feſte äußere Schutzhaut (Selera , in welcher oft ſogar (z. B. bei den Vögeln) ein Ring von Knochenplatten entſteht. Vorn geht die Sclera in eine durchſichtige Hornhaut (Cor— nea) über. Die Thränen-Organe, welche die äußere Oberfläche des Augapfels glatt und rein erhalten, entwickeln ſich nur bei den drei höheren Wirbelthier-Klaſſen, Rep— tilien, Vögeln und Säugethieren. Dagegen kommen die Augenlider, welche als ſchützende und reinigende Vorhänge über die äußere Augenfläche vorgezogen werden, ſchon bei den Fiſchen vor, und haben ſich von dieſen auf die höheren Wirbelthiere vererbt. Nicht minder intereſſant als dieſe viel— fältigen Fortſchritte ſind aber auch die Rückſchritte, welche ſich in der Augen— bildung vieler Thierklaſſen vorfinden. Tief im Innern des Kopfes, von dicker Haut und Muskeln überzogen, finden wir bei einzel— nen Thieren verſchiedener Klaſſen wirkliche Augen, welche nicht ſehen. Unter den Wirbelthieren giebt es blinde Maul— würfe und Wühlmäuſe, blinde Schlangen und Eidechſen, blinde Amphibien und Fiſche. Unter den Gliederthieren kennen wir zahl— reiche blinde Käfer und Krebſe. Alle dieſe blinden Thiere haben ſich an das Leben im Dunkeln gewöhnt; ſie meiden das Tages— licht und wohnen in Höhlen oder Gängen unter der Erde. Dabei haben ſie ſich das Sehen abgewöhnt, und durch den Nicht— gebrauch der Organe iſt das Organ ſelbſt verkümmert. Alle die genannten Höhlenthiere ſind nicht urſprünglich blind, ſondern ſtammen von Vorfahren ab, die im Lichte lebten und wohlentwickelte Aue beſaßen. Das verkümmerte Auge unter dem undurchſichtigen Felle iſt bei dieſen blinden Thieren auf allen Stufen der Rückbildung zu finden. Unter den höheren 5 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. Krebſen, deren Augen auf langen, frei beweglichen Stielen ſitzen, giebt es einige blinde Höhlenbewohner (nahe Vettern un— ſeres Flußkrebſes), bei denen das Auge ſelbſt verſchwunden, aber der Augenſtiel noch vorhanden iſt. Wie Darwin treffend bemerkt, iſt hier das Geſtell des Fernrohres übrig geblieben, das Fernrohr ſelbſt ver— loren gegangen. Solche rudimentäre Augen, welche nicht ſehen, wie überhaupt viele Thatſachen aus der Entwickelungsgeſchichte der Sinnes— werkzeuge, beweiſen auf das Klarſte, daß auch die vollkommenſten Sinnesorgane nicht das künſtliche Produkt eines vor— bedachten Schöpfungsplanes, ſon— dern daß ſie gleich allen anderen Organen des Thierkörpers das un bewußte Er- zeugniß der natürlichen Züchtung im „Kampf ums Daſein“ ſind. Ganz be— ſonders überzeugend ſpricht für dieſe mech a— niſche oder moniſtiſche Theorie der Sinnesentwickelung auch die Thatſache, daß ſich gelegentlich bei verſchiedenen Thieren Augen an ſolchen Körperſtellen entwickeln, die ſonſt niemals Augen tragen. So haben z. B. die höheren Weichthiere, die Tinten- fiſche und Schnecken, immer nur ein paar Augen am Kopfe, gleich den Wirbelthieren. Aber bei einigen Schnecken, den Onchidien, entwickeln ſich außerdem noch Augen in großer Zahl auf dem Rücken, und was das Merkwürdigſte iſt, der Bau dieſer Rücken— augen gleicht nicht demjenigen der Kopf— augen der Schnecken, ſondern demjenigen der Wirbelthieraugen! Die echten Muſchel— thiere haben ihren Kopf und ſomit auch ihre beiden Kopfaugen verloren. Zum Erſatze dafür haben ſich bei einzelnen Muſcheln (Pecten) zahlreiche ſchöne, grüne Augen am Mantelrande entwickelt, d. h. am Außenrande einer großen Hautfalte des . 113 Rückens, die den Körper wie ein Mantel umgiebt. Bei den höheren Würmern finden wir gewöhnlich nur ein paar Augen am Kopfe. Aber einzelne Ringelwürmer (Fabricia) haben außerdem noch ein paar Augen hinten am Schwanze, und andere (Polyophthalmus) beſitzen an jedem Gliede ein paar Augen. Dieſe und viele ähnliche Thatſachen bezeugen auf das Klarſte, daß auch die Augen, gleich den anderen Or— ganen der Thierkörpers, durch Anpaſſung an die äußeren Lebensbedingungen ſich ſelbſt gebildet haben. Die bewunderungswürdige Macht, welche die Anpaſſung auch auf die fortſchreitende Ver— vollkommnung des höchſten Sinnesorganes beſtändig ausübt, läßt ſich ſelbſt innerhalb der kürzern Zeitſpanne der menſchlichen Culturgeſchichte bis auf den heutigen Tag im Einzelnen verfolgen. Insbeſondere er— ſcheint der höhere Farbenſinn heute bei uns ungleich mehr entwickelt, als er bei unſeren Vorfahren vor Jahrtauſenden be— ſtand. Sind doch ſogar viele Forſcher jetzt zu der Anſicht gelangt, daß die Menſchheit vor zweitauſend Jahren nur die niederen Farben des Spektrums, roth, orange und gelb unterſchied, während die höheren Töne, grüne, blaue und violette Farbe, ihr noch unbekannt waren. Für die Begründung dieſer Annahme ſind viele gewichtige Be— weiſe aus den Kunſtwerken und Schriftdenk— mälern des Alterthums angeführt worden, aber freilich ſprechen auch viele andere Be— weiſe dagegen. Der darauf bezügliche Streit, an welchem ſich namentlich der engliſche Miniſter Gladſtone, der Breslauer Oph- thalmolog Magnus, ferner Dr. E. Krauſe u. A. betheiligt haben, dauert auch heute noch fort. Wenn wir bedenken, wie unge— mein verſchieden der Farbenſinn ſelbſt heute noch unter den Culturvölkern und einzelnen * Br a us pp a een 114 Haeckel, Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge. | Perſonen entwickelt ift, wie weit die Farben— blindheit, der Daltonismus, in ver— ſchiedenen Graden verbreitet iſt, dann werden wir das wenigſtens ſicher behaupten dürfen, daß der hoch entwickelte Farbenſinn der Gegenwart erſt ein ſpätes Erzeugniß der Culturentwickelung iſt. Ganz beſonders ſpricht dafür die ſpäte Entwickelung der Landſchaftsmalerei, die erſt in un— ſerem Jahrhundert zu einer früher nicht geahnten Vollendung gediehen iſt. Wir empfinden die feineren Farbenſchönheiten der Natur ungleich ſchärfer als unſere Vor— fahren im Mittelalter. Die feineren Zapfen- formen der Netzhaut, welche höheren Farben— ſinn vermitteln, haben ſich daher wahr— ſcheinlich erſt im Laufe der letzten Jahr— tauſende allmälig entwickelt. Sehen wir doch noch heute bei den zurückgebliebenen Wilden eine Rohheit des Farbenſinnes (ebenſo wie des Tonſinnes) die den ge— bildeten Schönheitsſinn erſchreckt. Aber auch die Kinder lieben die ſchreiende Zu— ſammenſtellung greller Farben ebenſo wie die Wilden, und die Empfänglichkeit für die Harmonie zarter Farbentöne iſt erſt das Produkt äſthetiſcher Erziehung! Auch hier beim Auge, wie beim Ohr, iſt es die Erziehung und Ausbildung, die Uebung und Gewöhnung, mit einem Worte die Anpaſſung, welche das Sinnesor— gan und ſeine äſthetiſche Leiſtung all— mälig ſo hoch emporgehoben hat; und durch Vererbung wird nun dieſer ſtei— gende Erwerb von Generation zu Genera— tion übertragen. Angeſichts der erſtaun— lichen Fortſchritte, die unſer Farbenſinn und Tonſinn bereits in hiſtoriſcher Zeit gemacht haben, dürfen wir hoffen, dieſelben durch weitere ſorgfältige Ausbildung und Erzieh— ung noch auf eine weit höhere Stufe der | Vollendung emporzuheben. Und wenn wir bedenken, daß die edle Kunſt, dieſer herr— lichſte Beſitz der Menſchheit, in erſter Linie von der Ausbildung jener beiden äſthetiſchen Sinneswerkzeuge abhängt, ſo dürfen wir hoffen, durch die fortſchreitende Vervollkommnung des Ohres und Auges auch die Tonkunſt und die bildende Kunſt in ferneren Jahrtauſenden noch ſehr weſent— lich zu vervollkommnen. So eröffnet uns die heutige Entwickelungslehre auch in ihrer Anwendung auf die geſchichtliche Entwickel— ung der Sinneswerkzeuge den erfreulichſten Fernblick in eine vollkommnere Zukunft! Nachſchrift: Der vorſtehende Vor— trag über „Urſprung und Entwickelung der Sinneswerkzeuge“, den ich am 25. März 1878 im „Wiſſenſchaftlichen Club“ zu Wien gehalten habe, beanſprucht keineswegs eine umfaſſende Ueberſicht über alle die verſchiedenen Seiten dieſes großen, intereſ— ſanten Erſcheinungsgebietes zu geben. Viel⸗ mehr war ſein Hauptzweck, einen klaren Einblick in die morphologiſche Seite deſſelben zu liefern und den gemeinſamen Urſprung aller Sinneswerkzeuge aus der äußeren Haut des Thierkörpers, die Ab— ſtammung aller Sinneszellen von Hautzellen nachzuweiſen. Die phy— ſiologiſche Seite des Gebietes wurde nur flüchtig berührt. Als Ergänzung dienen für die Leſer des „Kosmos“ die im erſten Bande deſſelben veröffentlichten trefflichen Aufſätze von Guſtav Jaeger über die Organanfänge (J. Sehorgan. II. Hörorgan, S. 94, 201, ſowie über „Far⸗ ben und Farbenſinn“ (S. 486); ferner von H. Magnus und Ernſt Krauſe über „die geſchichtliche Entwickelung des Farben— ſinnes“ (S. 264, 423). Ernſt Haeckel. Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Aus dem Engliſchen des Alfred Ruffel Wallace.) > aturgegenftände beſitzen wahr- N Farbe. Das „himmliſche“ b ſcheinlich keine Eigenſchaft, die | | Blau des Firmamentes, die glühenden Tin- ten des Sonnenunterganges, die exquiſite Reinheit ſchneebedeckter Berge und die zahl- loſen Abſtufungen von Grün, die uns die | pflanzenbedeckte Erdoberfläche zeigt, find eine nie verſiegende Quelle des Vergnügens für Alle, die ſich der unſchätzbaren Gabe der Sehkraft erfreuen. wechſelnden Gemäldes. Von dieſen weit— verbreiteten und gedämpften Farbenſchat⸗ tirungen abſtechend, bietet ſich uns im wohl geiſtig als moraliſch wohlthut. ) Anmerk. der Red. Dieſer Aufſatz | erſchien zuerſt in Macmillan’s Magazine und iſt, wie wir ſoeben nach vollendeter Ueber- ſetzung erſehen, in des Verfaſſers neues Buch: Tropical Nature and other Essais, London, Macmillan and Co 1878 übergegangen, von welchem intereſſanten Werke wir demnächſt | eine Beſprechung bringen. Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. Aber dieſe bilden ge wiſſermaßen doch nur den Rahmen und Hintergrund eines wunderbaren und ſtets Pflanzen- und Thierreich eine unendliche Mannigfaltigkeit von Gegenſtänden dar, die W a uns gleichviel reines, geiſtiges im ſchönſten und verſchiedenartigſten Farben⸗ Vergnügen gewähren, als ihre ſchmuck prangen. Blumen, Inſekten und Vögel ſind die Organismen, die am meiſten in dieſer Weiſe ausgeſchmückt ſind; und die Symmetrie ihrer Formen, die Verſchieden— heit ihres Baues und die verſchwenderiſche Menge, in der ſie die Erde beleben und be— kleiden, macht ſie zu Gegenſtänden allge— meiner Bewunderung. Der Einfluß dieſes Farbenreichthums auf unſer geiſtiges und moraliſches Weſen iſt unbeſtreitbar. Das Kind und der Wilde bewundern gleicher— weiſe die heiteren Farben der Blume, des Vogels und des Schmetterlings; und Vielen von uns gewährt ihr Anblick eine tröſtende Stärkung und einen Genuß, der uns ſo— Es kann daher kaum auffallen, daß dieſes Ver⸗ hältniß lange als eine genügende Erklärung der Farbenerſcheinungen in der Natur an— geſehen wurde, und obwohl die Thatſache, daß jo manche Blume „ungeſehen und ver- gebens“ ihre Blüthenpracht nur zum Spiel der Wüſtenwinde zu entfalten ſcheint, das J 16 116 Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Genügende der Erklärung zweifelhaft machen mochte, ſo war doch die leichte Antwort zur Hand: daß, mit der Ausdehnung ſeiner Entdeckungen, der Menſch früher oder ſpäter jede verborgene Schönheit, die die Natur irgendwo verſteckt, aufzufinden und zu ge— nießen wiſſen würde. Dieſe Theorie hatte eine große Stütze an der Schwierigkeit, irgend einen anderen Nutzen oder eine an— dere Bedeutung mit den Farben zu verbinden, mit denen ſo viele Naturgegenſtände aus— geſtattet ſind. Warum ſollte auch die ein— fache Ginſterpflanze mit goldenem Aufputz ausgeſtattet ſein, warum der ſtachliche Kak— tus mit rothen Glocken? Warum ſollten unſere Felder mit Butterblumen belebt und die mit Haidekraut bedeckten Berge in Pur- pur gekleidet ſein? Warum ſollte jedes Land ſeinen eigenthümlichen Blüthenſchmuck hervorbringen und die Felſen der Alpen in Farbenpracht glühen, wenn nicht zum Zwecke der Betrachtung und des Vergnügens der Menſchen? Was könnten dem Schmetter— linge ſeine buntgezeichneten Flügel, was dem Kolibri ſeine im Juwelenglanz ſtrahlende Bruſt nützen, wären ſie nicht dazu da, die letzten Striche künſtleriſcher Vollendung in ein Weltgemälde hineinzulegen, das zu gleicher Zeit darauf berechnet iſt, dem Menſchengeſchlecht Genuß und Verfeinerung zu gewähren.. Die Naturforſcher glaubten lange, daß Farbe von geringer Wichtigkeit und als Art⸗Charakter ganz unzuverläßig fe. Die viel- fachen Fälle von Schwankungen der Färb— ung führten zu dieſer Anſicht. Das Vor— kommen weißer Amſeln, weißer Pfauen, ſchwarzer Leoparden, weißer Glockenblumen daß ſie, abgeſehen von dem Reiz ihrer und weißer, blauer oder blaßrother Kreuz— blumen (Polygala) führte zu dem Glauben, Wichtigkeit ſein könne und daß ſie alſo zu einer ganz andern Gattung von Charaktern gehöre, als Form und Struktur. Man fängt aber jetzt an, einzuſehen, daß dieſe Fälle, obwohl ziemlich zahlreich, doch im Ganzen nur Ausnahmen ſind, und daß Farbe in der Regel eine beſtändige Charaktereigenſchaft iſt. Die große Mehrheit der Arten, ſowohl von Thieren als Pflanzen, unterſcheidet ſich durch ihnen eigenthümliche Färbungen, die unter ſich ſehr wenig abweichen, während oft die un— bedeutendſten Zeichnungen bei Tauſenden und Millionen von Individuen unverändert die— ſelben ſind. Alle unſere Feldranunkeln ſind ohne Ausnahme gelb, unſere wilden Mohn— blumen roth; und viele unſerer Schmetterlings— arten und Vögel ſtimmen in Tauſenden von Individuen in jedem Fleck und jedem Streifen ihrer Färbung überein. Wir finden ſogar, daß Farbe in ganzen Geſchlechtern und an— deren Artengruppen dieſelbe bleibt. Die | Ginſterarten find alle gelb; die Korallen— ſträucher (Erythrina) alle roth; viele Ge— ſchlechter der Carabiden ſind ganz ſchwarz; ganze Familien der Vögel — wie die Kletterſchwänze (Dendrocolaptidae) — find braun. Unter Schmetterlingen find die zahl— reichen Arten der Lycaena alle mehr oder weniger blau; die von Pontia weiß und die von Callidryas gelb. Ein umfaſſender Ueberblick über die organiſche Welt führt uns daher zum Schluſſe, daß Farbe keines— wegs eine ſo unwichtige oder unbeſtändige Charaktereigenſchaft iſt, als auf den erſten Anblick erſcheinen möchte; und je mehr wir die Sache unterſuchen, deſto mehr werden wir überzeugt, daß dieſe Eigenſchaft irgend einem Naturzwecke dienen muß; und Mannigfaltigkeit und Schönheit, unſeres daß Färbung in ihrem Weſen unbeſtändig fei; | daß ſie deshalb von nur geringer oder keiner aufmerkſamen Studiums wohl werth iſt und uns viele Geheimniſſe enthüllen kann. Um die große Mannigfaltigkeit der Thatſachen, die ſich auf die Färbung in der organiſchen Welt beziehen, auf verſtänd— liche Weiſe zu gruppiren, wird es am beſten ſein, zu erwägen, inwiefern die hauptſäch— lichſten bis jetzt vorgeſchlagenen Theorien im Stande ſind, eine Erklärung zu liefern. Eine der am meiſten auf der Hand liegen— den und populärſten dieſer Theorien, die auch noch gegenwärtig, wenigſtens theilweiſe, von vielen hervorragenden Naturforſchern aufrecht erhalten wird, iſt die, daß Farbe einer direkten Thätigkeit und Einwirkung der Wärme und des Lichtes der Sonne entſpringt. Damit findet ohne Weiteres die große Anzahl brillant gefärbter Vögel, Inſekten und Blumen, die zwiſchen den Wendekreiſen gefunden werden, ihre Er— klärung. Hier aber müſſen wir die Frage aufwerfen, ob es denn wirklich Thatſache iſt, daß Farben mehr in tropiſchen als in gemäßigten Klimaten — im Verhältniß zur Geſammtanzahl der vertretenen Species — entwickelt werden? Und ſogar, wenn dies ſich beſtätigen ſollte, müſſen wir unterſuchen, ob es nicht ſo viele und ſo auffällige Aus— nahmen von dieſer Regel giebt, um darauf hinzuweiſen, daß einige andere Urſachen, als der direkte Einfluß des Sonnenlichtes und der Wärme, zu Grunde liegen könnten. Da dies eine ſehr wichtige Frage iſt, wollen wir ſie des Weiteren beleuchten. Unzweifelhaft giebt es eine unermeß— lich größere Anzahl reich gefärbter Vögel und Inſekten in tropiſchen, als in gemäßig— ten und kalten Klimaten, aber es iſt durch— aus nicht ſo gewiß, daß das Verhältniß der ſo gefärbten zu den düſter gefärbten viel oder überhaupt größer iſt. Natur- forſcher und Sammler wiſſen ſehr wohl, daß die Mehrheit aller tropiſchen Vögel von ſchlichter Färbung iſt; und es giebt Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. 117 ganze Familien, die hunderte von Arten um— faſſen, von denen nicht Eine eine Spur von brillanter Färbung zeigt. Solche ſind die Timaliden der öſtlichen und die Dendrocolaptiden der weſtlichen Hemiſphäre. Viele Gruppen von Vögeln, die allgemeine Verbreitung haben, ſind wiederum in der Tropenzone nicht reicher gefärbt, als in der gemäßigten; es find dies Droſſeln, Zaunkönige, Ziegenmelker, Habichte, Haſel— hühner, Brachvögel und Schnepfen; und wenn das Licht und die Wärme der Tro— pen irgend eine unmittelbar färbende Wirk— ung ausüben, jo iſt es gewiß ganz außer- ordentlich, daß bei Gruppen, die in Form, Struktur und Gewohnheiten ſolche Abweich— ungen zeigen, wie die obengenannten, die tropiſchen Arten ſich in keiner Weiſe von denen der gemäßigten Zone unterſcheiden. Die brillant gefärbten tropiſchen Vögel gehören zumeiſt zu Gruppen, die entweder ganz oder faſt ganz tropiſch ſind, wie die Seidenſchwänze, Tukane, Kuruku's und Prachtdroſſeln, aber da es vielleicht eine gleiche Anzahl Gruppen giebt, die ganz und gar ſchlichtfarbig find, während an— dere ſchlicht und lebhaft gefärbte Arten in nahezu gleichen Proportionen enthalten, ſo iſt der Beweis durchaus nicht ſtark, daß das Licht oder die Hitze der Tropen irgend Etwas mit der Sache zu thun habe. Es giebt aber auch Gruppen, in denen die kalten und gemäßigten Zonen ſchöner gefärbte Arten erzeugen, als die Tropen. So ſind z. B. die arktiſchen Enten und Taucher ſchöner als die der Tropen; während die Königsenten des gemäßigten Amerika und die Mandarinente von Nordchina die am ſchönſten gefärbten der ganzen Familie ſind. Bei den Faſanen haben wir die pracht— vollen Gold- und Silberfaſanen in Nord— china und der Mongolei und den ſtolzen 118 Glanzfaſan (Phasianus impeyanus) in dem gemäßigten Klima des nordweſtlichen Hima— laya, als Gegenſtück zu den Pfauen und den feuerrückigen Faſanen des tropiſchen Aſien's. Seltſam iſt dann die Thatſache, daß die meiſten lebhaft gefärbten Vögel der Tropen Bewohner der Wälder ſind, deren Schatten ſie gegen das direkte Licht der Sonne ſchützt, und daß ſie am häufigſten am Aequator vorkommen, wo der wolkenbedeckte Himmel ſehr vorwiegt; während andererſeits Stellen, wo Licht und Hitze im höchſten Grade wirken, oft ſchlichtgefärbte Vögel haben. So iſt es z. B. in der Sahara und in anderen Wüſten, in denen faſt alles Lebende ſand— farbig iſt; aber der ſeltſamſte Fall iſt der der Gallopagos-Inſeln, die unter dem Aequator und nicht weit von Südamerika entfernt liegen, in dem die prächtigſten Farben in Ueberfülle vorhanden ſind, und die dennoch durch die vorwiegend ſchlichten und düſteren Farben ihrer Vögel, Inſekten und Blumen ſich charakteriſiren, ſo daß Darwin bei ihrem Anblick an die kalten, öden Gefilde Patagonien's erinnert wurde. Die Inſekten ſind in tropiſchen Ländern im Allgemeinen wundervoll farbenprächtig, und irgend Jemand, der eine Sammlung ſüd— amerikaniſcher oder malayiſcher Schmetter— linge betrachtet, würde jede Idee zurück— weiſen, daß dieſelben nicht lebhafter gefärbt ſeien, als durchſchnittlich die europäiſchen Arten, und darin würde er wahrſcheinlich Recht haben. Unterſuchen wir die Sache aber näher, ſo finden wir, daß alle brillanter gefärbten Gruppen ausſchließlich tropiſch ſind, daß dagegen bei allen weit verbreite— ten Gattungen zwiſchen den Arten der kalten und warmen Länder wenig Unterſchied in der Färbung ſtattfindet. Pfauenauge, Trauermantel und Admiral So ſtehen die europäiſchen Eckflügler, zu denen das ſchöne werden kann. im Verhältniß zur Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. gehören, ganz auf der Höhe tropiſcher Schön— heit derſelben Gruppe. Die Bemerkung paßt gleicherweiſe auf die kleinen Bläulinge und Feuerfalter, während die „Apollo“ Schmetterlinge der Alpenregion eine zarte Schönheit beſitzen, die kaum übertroffen Bei anderen Inſekten, die weniger direkt vom Klima und der Vege— tation abhängig ſind, finden wir ſogar noch größere Anomalien. In der ungeheuer zahlreichen Familie der Carabiden oder räuberiſchen Laufkäfer ſind die nördlichen Formen denen der Tropenzone vollauf gleich, wenn ſie ſie nicht übertreffen. Es giebt auch überall in den heißen Ländern Tauſende von düſter gefärbten Inſektenarten, und wenn dieſe alle geſammelt wären, würden ſie nicht unwahrſcheinlich den Durchſchnittsbetrag der Färbung auf ziemlich dieſelbe Stufe her— unterbringen, die ſie in gemäßigten Zonen behauptet. Die falſcheſte Auffaſſung dieſes Gegen— ſtandes aber treffen wir erſt, wenn wir zum Pflanzenreich übergehen. Im Reich— thum und in der Mannigfaltigkeit ihrer Blumenfarben hält man die Tropenregion allgemein für unübertrefflich, nicht allein abſolut, ſondern auch vergleichweiſe im Ver— hältniß zur ganzen Maſſe des Pflanzen— wuchſes und der Geſammtanzahl der Arten. Zwölf Jahre perſönlicher Beobachtung unter der Pflanzenwelt der öſtlichen und weſtlichen Tropen hat mich dagegen überzeugt, daß dieſer Glaube gänzlich irrig iſt, und daß, ganzen Anzahl der Pflanzenarten, diejenigen, die lebhaft gefärbte Blüthen haben, in Wahrheit in den ge— mäßigten Zonen häufiger ſind, als zwiſchen den Wendekreiſen. Man wird finden, daß dieſe Behauptung durchaus nicht ſo extra— vagant iſt, als ſie auf den erſten Anblick erſcheinen mag, wenn man ſich überzeugt, Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. wie viele der auserleſenſten Schmuckſtücke unſerer Treibgärten und Blumenausſtellungen in Wahrheit als Pflanzen der gemäßigten Zone denen der tropiſchen gegenüberſtehen. Die Fülle der Farbenſchönheit unſerer Rhododendren, Azaleen und Kamellien, unſerer Pelargonien, Calceolarien und Ci— nerarien, — die alle im ſtrengen Sinne Pflanzen der gemäßigten Zone ſind, — kann gewiß von keinen tropiſchen Produkten übertroffen werden, wenn ihnen überhaupt Gleiches an die Seite geſtellt werden kann!?) * 5 Es mag der Einwurf gemacht werden, daß die meiſten der erwähnten Pflanzen aus- | erleſene, eultivirte Varietäten find, die in ihrer Färbung ihre Wurzelſtammart weit übertreffen, während die tropiſchen Pflanzen zumeiſt einfache wilde Arten ſind. Dieſes aber berührt die Frage, um die es ſich han— delt, in der That nur wenig. Denn die Wir können aber noch weiter gehen und prachtvollen Spielarten unſerer Blumenzüchter ſind alle unter dem Einfluſſe unſeres wolkigen Himmels erzeugt worden, und ſogar mit einer noch größeren Herabminderung der Lichtmenge, in Folge der Nothwendigkeit, ſie unter Glas gegen unſere plötzlichen Temperaturwechſel zu drängen, die kaum jemals, ! ſchützen, jo daß fie ſelbſt ein weiterer Beweis | dafür find, daß tropiſches Licht und Wärme für Erzeugung intenfiver und bunter Färb— ungen nicht erforderlich ſind. Ein anderer wichtiger Punkt iſt der, daß dieſe cultivirten Spielarten eine Anzahl wilder Arten ver⸗ wenn überhaupt cultivirt werden. Es giebt Dutzende von Arten wilder Roſenpappeln, die in ihren Farben faſt ebenſoſehr variiren, als die cultivirten Spielarten; und daſſelbe mag von den Pentſtemon's, Rhododendren und vielen anderen Blumen behauptet werden; und wenn wohlgewachſene Exemplare aller dieſer Arten zuſammeugeſtellt würden, dürften ſie einen großen Effekt erzielen. Es iſt aber für unſere Kunſtgärtner viel leichter und vor— theilhafter, Varietäten von einer oder zwei Arten zu ziehen, die alle eine ähnliche Cultur erfordern, als fünfzig verſchiedene Arten, von denen die meiſten eine beſondere Behandlung 119 behaupten, daß die abgehärteten Pflanzen unſerer kalten gemäßigten Zone denjenigen der Tropen gleichkommen, wenn ſie ſie nicht übertreffnn. Denken wir nur an ſolche prächtigen Gruppen des Blumenreiches, wie die Roſen, Päonien, Nofenpappeln, an die Löwenmaul⸗, Laburnum- und Wistaria- Arten, an ſpaniſchen Flieder, an Lilien, Schwertlilien und Tulpen, Hyazinthen, Ane— monen, Enzianen und Mohnblumen und ſogar an unſeren beſcheidenen Ginſter, an Haidekraut und Pfriemenkraut; und wir mögen irgend ein Tropenland herausfordern, Blüthenfarben in größerer Maſſe und Mannigfaltigkeit hervorzubringen. Es mag wahr ſein, daß einzelne tropiſche Büſche und Blüthen Alles im übrigen Theile der Welt übertreffen; aber das kann man er— erwarten, denn die Tropenzone umfaßt eine viel größere Landfläche, als die beiden ge— mäßigten Zonen, und in Folge ihres günſtigeren Klima's producirt ſie eine im Verhältniß noch größere Anzahl von Pflanzen— arten und eine große Zahl eigenthümlicher natürlicher Ordnungen. Direkte Beobachtung in tropiſchen Wäl- dern, Ebenen und Gebirgen unterſtützt dieſe Anſchauung vollſtändig. Gelegentlich werden wir durch eine gewaltige Maſſe prächtiger Farben in Erſtaunen verſetzt; aber in der Regel blicken wir auf eine endloſe Ausdehnung grünen Blattwuchſes, der nur hier und da durch einzelne Blüthen belebt wird, die nicht beſonders in die Augen fallen. Selbſt die Orchideen, deren prächtige Blumen unſere Treibhäuſer zieren, bilden keine Ausnahme von dieſer Regel. Nur nöthig machen. Das Reſultat iſt, daß die bunte Schönheit der gemäßigten Flora ſogar jetzt wenig bekannt iſt, ausgenommen den Botanikern und wenigen Liebhabern. 120 an günſtigen Stellen finden wir fie in Ueberfülle; die Arten mit kleinen und wenig in die Augen fallenden Blüthen wiegen in großem Maße vor; und die Blüthezeit jeder Art iſt von ſo kurzer Dauer, daß ſie ſelten irgend einen markirten Farbeneffekt in der Mitte der ungeheuren Blättermaſſe, die ſie umgiebt, hervorbringen. Ein er— fahrener Sammler in den öſtlichen Tropen— gegenden erzählte mir einmal, daß ein ein— ziger Berg in Java dreihundert Arten von Orchideen allein producire, aber nur zwei Procent der ganzen Anzahl beſäßen Farben— ſchmuck oder Ausſehen genug, um ihre Sendung nach der Heimath als Geſchäfts— ſpeculation werth zu ſein. Die Matten und Felſenhänge der Alpen, die offenen Ebenen am Cap der guten Hoffnung oder Auſtralien's, die Blumen-Prairien von Nord— amerika liefern eine Menge und eine Ver— ſchiedenheit von Blüthenfarbe, die ſicherlich zwiſchen den Tropen nicht übertroffen wird. Es ſcheint uns alſo, daß wir die Theorie aufgeben können, die Entwickelung der Farben in der Natur ſei unmittelbar abhängig von, oder ſtünde in irgend welchem Verhältniß zu dem Betrage der Sonnen— wärme und des Lichtes, da ſie durch die Thatſachen durchaus nicht geſtützt wird. Dennoch aber giebt es einige ſeltene und wenig bekannte Erſcheinungen, die den Beweis liefern, daß das Licht in Ausnahmefällen unmittelbar die Farben der Naturgegen— ſtände beeinflußt. Wir werden wohl thun, dieſe zu betrachten, ehe wir zu anderen Ge— genſtänden übergehen. Vor wenigen Jahren lenkte Herr T. W. Wood die Aufmerkſamkeit auf die ſeltſamen | Wechſel in der Farbe der Puppe des kleinen Kohlweißlings (Pontia rapae), wenn die Raupen deſſelben in Käſtchen, deren Wände verſchiedenfarbig waren, unterge— Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. bracht wurden. So wurden dieſelben in ſchwarzen Kiſten ſehr dunkel, in weißen faſt weiß. Er bewies ferner, daß ähnliche Wechſel auch im Naturzuſtande ſich ereigne— ten, indem Puppen, die an einer ange— weißten Mauer befeſtigt waren, nahezu weiß wurden, an einer rothen Mauer röthlich, an einem getheerten Pfahl beinahe ſchwarz. Es iſt auch beobachtet worden, daß der Cocon des Nachtpfauenauges entweder weiß oder braun iſt, je nach der Färbung der Umgeb— ung. Aber das merkwürdigſte Beiſpiel dieſer Art eines Wechſels liefert die Puppe eines afri— kaniſchen Schmetterlings (Papilio Nireus), die am Cap von Mrs. Barber! beobachtet wurde, und die (mit einer colorirten Tafel) in den Transactions of the Entomolo- gical Society 1874 p. 19 beſchrieben iſt. Die Raupe lebt am Orangenbaum und auch an einem Waldbaum (Vepris lan- ceolata), der Blätter von hellerem Grün hat, als jener, und ihre Farbe ſtimmt mit der der Blätter, von denen ſie ſich nährt, überein, iſt alſo, wenn die Raupe vom Orangenbaum zehrt, ein dunkleres Grün, als im anderen Falle. Die Puppe findet man gewöhnlich zwiſchen den beblätterten Zweigen der Nährpflanze oder irgend eines Nachbarbaumes hängend, oft aber haftet ſie wahrſcheinlich an größeren Zweigen; und Mrs. Barber hat entdeckt, daß ſie die Eigenſchaft beſitzt, diejenige Farbe, mehr oder weniger genau, ſelbſt anzunehmen, die irgend ein Naturgegenſtand hat, mit dem ſie in Berührung kommen mag. Eine Anzahl der Raupen wurde in einen Be— hälter mit einer Glasdecke gebracht. Eine Seite des Behälters war eine rothe Ziegel— ſteinmauer, die anderen Seiten von gelbli— chem Holz. Sie wurde mit Orangen— blättern gefüttert und ein Zweig eines Flaſchenbürſten-Baumes (Banksia) wurde a. ebenfalls in den Behälter gelegt. Als ſie groß gefüttert waren, hefteten ſich einige an den Orangezweigen feſt, andere an dem Flaſchenbürſtenbaumzweig, und dieſe verwandelten ſich ſämmtlich in grüne Puppen, aber die Farbe einer Jeden ſtimmte genau mit der der Blätter, die ſie umga— ben, überein; die eine war dunkler, die andere matt, verblichen grün. Eine andere Raupe heftete ſich an das Holz, und die Puppe bekam dieſelbe gelbliche Farbe, während eine ſich grade dort feſtſetzte, wo Holz und Ziegel aneinanderſtießen, und dieſe wurde auf einer Seite roth, auf der anderen gelb! Dieſe merkwürdigen Wechſel würden vielleicht keinen Glauben gefunden haben, wenn nicht die Beobachtungen des Herrn Wood vorher bekannt geweſen wären; beide aber ſtützen ſich einander und zwingen ung, fie als wirkliche Natur— erſcheinungen zu acceptiren. Es iſt eine Art natürlicher Photographie, indem die beſonderen farbigen Strahlen, denen die junge Puppe in ihrem weichen halbtrans— parenten Zuſtande ausgeſetzt iſt, einen ſolchen chemiſchen Einfluß auf die organiſchen Säfte ausüben, daß in der erhärteten Hülle dieſelbe Färbung erzeugt wird. Es iſt indeſſen intereſſant, zu bemerken, daß die Färbung, die ſo erworben werden kann, auf das Bereich der Farben ſolcher Natur— gegenſtände beſchränkt zu ſein ſcheint, mit denen in Berührung zu kommen für die Puppe eine gewiſſe Wahrſcheinlichkeit beſteht; denn als Mrs. Barber eine der Raupen mit einem Stücke Scharlachtuch umhüllte, wurde gar kein Farbenwechſel hervorgerufen, die Puppe behielt die gewöhnliche grüne Farbe, aber die kleinen rothen Flecken, mit denen ſie gezeichnet war, waren glänzender als gewöhnlich. Bei dieſen Raupen und Puppen ſowohl, Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. 121 als bei der großen Mehrheit aller Fälle, in denen ein Farbenwechſel bei Thieren vorkommt, iſt der Vorgang ein ganz un— willkührlicher; unter einigen der höheren Thiere aber kann die Farbe der Hautdecke nach Belieben des Thieres verändert werden, oder zum mindeſten durch eine reflektoriſche Thätigkeit, die vom Gefühl abhängt. Der merkwürdigſte Fall dieſer Art iſt der des Chamäleon's, welches die Fähigkeit hat, feine Farbe von einem trüben Weiß in eine Menge anderer Schattirungen zu verwan— deln. Als Urſache dieſer ſonderbaren Fähig— keit ſind zwei Schichten von beweglichen Pigmentzellen nachgewieſen worden, die tief in der Haut liegen, aber nahe an die Oberfläche gebracht werden können. Die Farbenſchichten ſind gelblich und bläulich und ſie können durch den Druck paſſender Muskeln entweder zuſammen oder einzeln in die Höhe gedrängt werden. Wird kein Druck ausgeübt, ſo iſt die Farbe ein ſchmutzi— ges Weiß; dieſes wechſelt in verſchiedene Schattirungen grüner, gelber, brauner oder bläulicher Farbe, je nachdem mehr oder weniger des einen oder des andern Farb— ſtoffs hinaufgetrieben und ſichtbar wird. Das Thier iſt außerordentlich träge und ohne Vertheidigungsmittel, und ſeine Fähig— keit, ſeine Farbe mit der der umgebenden Gegenſtände in Uebereinſtimmung zu bringen, iſt weſentlich für ſeine Exiſtenz. Auch hier, wie bei der Puppe von Papilio Nireus, können ſolche Farben, wie Scharlach und Blau, die in der unmittelbaren Umgebung des Thieres nicht vorkommen, nicht produ— cirt werden. Etwas ähnliche Farbenwechſel kommen vor bei etlichen See-Garneelen und Plattfiſchen, je nach der Farbe des Bodens, über dem ſie ſich befinden. Sehr auffällig iſt dieſe Fähigkeit bei der Chamä⸗ leon-Garneele (Mysis chamaeleon). Dieſe iſt grau, wenn fie ſich über Sand befindet, aber braun oder grün, wenn zwiſchen See gräſern von dieſen Farben. Das Experi— ment zeigt jedoch, daß der Wechſel nicht vorkommt, wenn ſie geblendet iſt, wir hier wahrſcheinlich ebenfalls einen Fall freiwilliger oder reflektoriſcher Thätigkeit der Sinne vor uns haben.“) Viele Fälle find be- kannt, in denen Inſekten derſelben Art eine verſchiedene Färbung je nach ihrer Umgebung beſitzen. Dieſe Eigenſchaft tritt beſonders bei einigen ſüdafrikaniſchen Heuſchrecken her— vor, die mit der Farbe des Bodens har— moniren, auf dem man ſie findet, während einige Raupen, die ſich von zwei oder mehreren Pflanzen nähren, dieſen entſprechend ihre Farbe verändern. Einige ſolche Wechſel hat Herr R. Meldola in einer Abhand— lung über „Wechſelnde Schutzfärbung bei Inſekten“ *) aufgeführt, und einige der— ſelben mögen vielleicht einer photogra— phiſchen Wirkung des reflektirten Lichtes zuzuſchreiben ſein. In andern Fällen aber iſt es bewieſen worden, daß das grüne Chlorophyll in den Gefäßen blattfreſſender Inſekten unverändert bleibt, und da es durch die durchſcheinende Haut ſichtbar wird, pro— ducirt es dieſelbe Farbe, wie die der näh— renden Pflanze. Dieſe ſonderbaren Fähigkeiten des Farben— wechſels und der dadurch bewirkten Anpaſſung ſind jedoch ſelten und nur Ausnahmen. Als Regel giebt es keine unmittelbare Verbind— ung zwiſchen den Farben der Organismen und der Art Licht, der ſie ausgeſetzt ſind. Man nn dies deutlich bei den meiſten 9 pierüber findet der Leſer eine lehrreiche Zuſammenſtellung in Seidlitz' Beiträge zur Descendenz-Theorie. 1. Die chromatiſche Funk— tion, als natürliches Schutzmittel (Leipzig 1876), ) Variable Protective Coloring in Insects, Proc. of Zoological Soc. of London 1873 p. 153. ſo daß Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Seefiſchen und bei ſolchen Seethieren, wie Schildkröten, deren Rücken immer dunkel ſind, obwohl dieſer Theil dem blauen und weißen Lichte des Himmels und der Wolken ausgeſetzt iſt, während ihr Unterleib ſehr allgemein weiß iſt, obwohl derſelbe beſtändig nur das tief-blaue oder dämmergrüne Licht von unten empfängt. Sieht man hinunter auf den Rücken eines Fiſches, ſo iſt der— ſelbe beinahe unſichtbar, während für einen Feind, der von unten heraufblickt, die helle Unterſeite gleicherweiſe unſichtbar ſein würde gegen den lichten Hintergrund der Wolken und des Himmels. Ebenſo ſtehen die präch— tigen Farben der Schmetterlinge, welche die Tiefen des tropiſchen Waldes bewohnen, in keiner Beziehung zu der Art des Lichtes, das auf ſie fällt, und das faſt gänzlich von grünem Laube, dunkelbraunem Boden oder blauem Himmel herkommt, und die glänzen— den Unterflügel vieler Mottenarten, die nur bei Nacht bloßgeſtellt werden, bilden einen merkwürdigen Gegenſatz gegen die nüchterne Färbung der Oberflügel, die mehr oder weniger den verſchiedenen Farben der umgebenden Natur ausgeſetzt ſind. Wir ſchließen alſo, daß weder der all— gemeine Einfluß des Sonnenlichtes und der Sonnenwärme, noch auch die beſondere Ein— wirkung der verſchiedenfarbigen Strahlen entſprechende Urſachen der wundervollen Mannigfaltigkeit, Intenſität und Zuſammen⸗ geſetztheit der Farben ſind, die uns allent— halben in der Thier- und Pflanzenwelt vor Augen ſtehen. Wir wollen deshalb dieſe Farben von einem umfaſſenderen Geſichts— punkte aus betrachten, und nach dem Nutzen, welchen ſie thatſächlich ihren Beſitzern ge— währen, oder den beſonderen Beziehungen, in welchen ſie zu den Gewohnheiten der— ſelben ſtehen, in Klaſſen gruppiren. Dieſe biologiſche Claſſification, wie wir ſie nennen 8 9 a 1 können, der Farben lebender Organismen, ſcheint am beſten durch eine Eintheilung in folgende fünf Gruppen ihren Aus— druck finden: 1. Schutzfärbungen, 2. Warnende Färbungen a) von Weſen, die einen be— ſondern Schutz genießen, b) von ſchutzloſen Weſen, die a nachahmen, 3. Geſchlechtliche Färbungen, 4. Typiſche Färbungen (der Arten oder Gattungen) und Pflanzen: 5. Anziehende Färbungen. Die Natur der erſten beiden Gruppen, der ſchützenden und warnenden Färbungen, iſt in meinem Capitel über „Nachahmung und andere ſchützende Aehnlichkeiten unter Thieren“ ) fo vollſtändig ausgeführt und illuſtrirt worden, daß an dieſer Stelle nichts weiter hinzugefügt zu werden braucht als Thiere: ö Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. ein paar Worte allgemeiner Auseinander- ſetzung. Schützende Färbungen ſind außer— ordentlich häufig in der Natur, indem ſie alle weißen arktiſchen Thiere, alle ſand— farbigen Wüſtenformen und die grünen Vögel und Inſekten tropiſcher Wälder um— faſſen. Hierher gehören auch Tauſende von Fällen ſpecieller Aehnlichkeiten, — von Vögeln mit den Umgebungen ihrer Neſter, und be— ſonders von Inſekten mit der Rinde, den Blättern, den Blumen oder dem Boden, auf welchem ſie wohnen. Säugethiere, Fiſche und Reptilien, ebenſowohl als Mollusken und andere wirbelloſe Seethiere weiſen ähn— liche Erſcheinungen auf; und je mehr man die Gewohnheiten von Thieren unterſucht, deſto zahlreichere Fälle werden gefunden, in ) Wallace, Beiträge zur Theorie der na- türlichen Zuchtwahl. Meyer. Deutſch von A. B. Erlangen. 1870. 123 denen ihre Farben darauf hinwirken, ſie entweder vor ihren Feinden oder vor den Weſen, auf deren Koſten fie leben, zu ver- bergen. Eine der am ſpäteſten beobachteten und ſeltſamſten dieſer ſchützenden Aehnlich— keiten theilte mir Sir Charles Dilke kürz— lich mit. Man zeigte ihm in Java eine fleiſchfarbene Mantis, die wenn fie in Ruhe ſich befand, genau einer gleichfarbenen Dr- chisblüthe glich. Die Mantis iſt ein fleiſch— freſſendes Inſekt, das ſtillliegend auf ſeine Beute lauert, und ihre Aehnlichkeit mit einer Blume würde alſo wirklich die Inſekten, von denen ſie ſich nährt, herbeiziehen. Dieſe Art lebt beſonders von Schmetterlingen und ſtellt alſo in Wahrheit eine lebende Falle vor, die zu gleicher Zeit ihre eigene Lock— ſpeiſe bildet! *) Jeder, der Thiere und be— ) Anmerk. der Red. Schweinfurth berichtet („Im Herzen Afrika's.“ I. Aufl. S. 391) über die Mimiery verſchiedener Mantis-Arten im Dinka-Lande Folgendes: „Auf den fauſt— großen Blüthenköpfen einer prachtvoll purpur- rothen, mannshoch aus dem Graſe lichter Waldſtellen aufſtarrenden Kugeldiſtel (Echi- nops) ſaßen unbemerkt, vermöge einer ſchütz— enden Aehnlichkeit, wie der Laubfroſch auf jungem Blattwerk oder wie das Schneehuhn auf den weißen Feldern des Nordens, ſeltſam geformte Mantis, welche das nämliche Purpur⸗ roth an allen Körpertheilen zur Schau trugen wie der prachtvolle Blüthenknäuel, welcher ihr Mikrokosmos war. Dieſer Theil von Afrika iſt durch eine ganze Reihe von Arten dieſer vielgeſtaltigen Gattung ausgezeichnet. Es fiel mir auf, ſo oft ich ſie fand, daß ſie ihren Aufenthaltsort überall der Körperfarbe anzupaſſen beſtrebt ſind, ſo daß ſie wie wirk— liche Geſpenſter (Empusa) den Pflanzenſammler überraſchen. Ihre monſtröſen Körperformen haben etwas wahrhaft harpyenhaftes. Auf den erſten Blick erſchienen die Köpfe des Echinops, in denen die Inſekten ſaßen, wie Mißbildungen der Pflanze, da die letzteren ähnlich der Gottesanbeterin mit ihren 79 Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. 17 124 ſonders Juſekten in ihren heimischen Auf— enthaltsorten und Stellungen beobachtet hat, | kann begreifen, wie es zugeht, daß ein In— ſekt, das in einer Sammlung in hervor— ragender Weiſe ins Geſicht fällt, dennoch, als es lebte, in ſeiner eigenthümlichen ru— henden Stellung und unter ſeiner gewöhn— lichen Umgebung vollkommen verborgen erſcheinen konnte. Auf Grund der bloßen Beſichtigung eines Thieres können wir kaum jemals entſcheiden, ob ſeine Farben ſchützender Natur ſind oder nicht. Niemand würde Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. glauben, daß die ausgeſucht ſchöne Raupe des Nachtpfauenauges deren Grün mit blaß— rothen Sternen beſprenkelt iſt, ſich einer ſchützenden Färbung erfreute; aber wenn die— ſelbe vom Haidekraut ſich nährt, harmonirt ihre Farbe ſo genau mit dem Laube und den Blumen, daß das Thier beinahe nicht zu ſehen iſt. An jedem Tage werden neue Fälle ſchützender Färbung ſogar in unſerem eigenen Lande entdeckt, und es wird klarer und klarer, daß das Bedürfniß nach Schutz eine ſehr wichtige Rolle bei der Beſtimmung der wirklichen Färbung der Thiere geſpielt hat. Die zweite Claſſe, die der warnenden Färbungen, iſt außerordentlich intereſſant, in— dem das Ziel und die Wirkung derſelben nicht das Verbergen, ſondern das anſchauliche Hervorheben des belebten Gegenſtandes iſt. Dieſen Weſen iſt es von Nutzen, geſehen und erkannt zu werden. Der Grund iſt, daß ſie Vertheidigungsmittel beſitzen, die, wenn ſie erkannt ſind, hinreichen, um ihre Feinde vom Angriff abzuſchrecken, die da— hervorragten, als wären ſie monſtröſe Blüthen. Ich habe rothe, gelbe, grüne und braune Arten gefunden; die merkwürdigſte aber von allen war eine von grasgrüner Färbung, welche ſich während meines Aufenthalts in der Meſchera auf der Spitze des Zeltdachs eingefunden hatte; ſie hatte mindeſtens eine Länge von zehn Zoll!“ gegen, fände der Angriff doch wirklich ſtatt, in der Regel nicht hinreichen würden, um das Leben des angegriffenen Thieres zu retten. Die beſten Beiſpiele dieſer ſo be— ſonders geſchützten Thiere ſind zwei aus— gedehnte Schmetterlingsfamilien, die Dana— iden und Acraeiden, welche viele hundert Arten umfaſſen, die die Tropenländer aller Welttheile bewohnen. Dieſe Inſekten ſind insgemein groß, ſämmtlich auffallend, oft auf's prächtigſte gefärbt und mit allen denf- baren Farben und Muſtern geziert; ſie fliegen alle langſam und verſuchen niemals, ſich zu verbergen. Trotzdem rührt ſie weder je ein Vogel, noch eine Spinne, noch eine Eidechſe, noch ein Affe an, obgleich dieſelben andere Schmetterlinge freſſen. Der Grund iſt ein— fach der, daß ſie zur Nahrung nicht tauglich ſind, indem ihre Säfte einen penetranten Geruch und Geſchmack haben, vor welchem alle jene Thiere ſich durchaus ekeln. Nun ſehen wir auch den Grund ihrer auffallenden Färbung und ihres langſamen Fluges. Es iſt gut für ſie, geſehen und erkannt zu werden, denn alsdann werden ſie niemals beläſtigt; glichen ſie aber in Form und Farbe anderen Schmetterlingen, oder flögen ſie ſo ſchnell, daß ihre Beſonderheiten nicht leicht bemerkt werden könnten, ſo würden ſie gefangen und, wenn auch nicht gefreſſen, verletzt oder getödtet werden Sobald die Urſache der Abſonderlichkeit dieſer Schmetterlinge er— kannt war, ſah man auch, daß dieſelbe Erklärung auf andere Thiergruppen An— wendung findet. So ſind Bienen und Wes— pen und andere ſtechende Inſekten durch ihre Färbung auffallend und ausgezeichnet; viele weiche und anſcheinend vertheidigungsloſe Käfer und viele lebhaft gefärbte Nachtfalter find, wie ſich herausſtellt, von grade jo widrigem Geſchmacke, als die obenbenannten Schmetterlinge; andere Käfer, deren harte und glänzende Panzer ſie für inſektenfreſſende Vögel unſchmackhaft machen, ſind auch zu— weilen prunkend gefärbt; und dieſelbe Regel paßt auch auf Raupen, indem alle die braunen und grünen (oder die mit Schutz— färbung verſehenen Arten) gierig von den Vögeln gefreſſen werden; während die auf— fallenden Arten, die ſich niemals verbergen, — die der Stachelbeerſpanner und Woll— krauteulen (Verbasci), — von den in— ſektenfreſſenden Vögeln, Eidechſen, Fröſchen und Spinnen als Nahrung abſolut zurück— gewieſen werden. Einige gleichbedeutende Beiſpiele finden ſich unter den Wirbelthieren. Ich will hier nur einen ſehr intereſſanten Fall erwähnen, der in meinem früheren Werke noch nicht aufgeführt wurde. In ſeinem reizenden Buche „The Naturalist in Nicaragua“ erzählt uns Herr Belt, daß in jenem Lande ein Froſch ſehr häufig iſt, der während des Tages herumſpringt, ſich niemals verbirgt und der in Roth und Blau prunkend gefärbt iſt. Fröſche ſind nun in der Regel grün, braun oder erdfarbig, freſſen zumeiſt in der Dunkelheit und werden alle von Schlangen oder Vögeln gefreſſen. Herr Belt, der volles Vertrauen in die Theorie der ſchützenden und warnenden Farben ſetzte, zu deren Begründung er ſelbſt einige werthvolle Thatſachen und Beobacht— ungen beigetragen hatte, war überzeugt, daß dieſer Froſch ungenießbar ſein müſſe. Er nahm einen mit nach Haus und warf ihn vor ſeine Enten und Hühner; alle weigerten ſich ihn zu berühren, mit Ausnahme einer jungen Ente, die ihn in ihren Schnabel nahm, aber ihn ſogleich wieder fallen ließ und davonlief, indem ſie ihren Kopf ſchüt— telte, als ob ſie etwas Ekelhaftes los werden wollte. In dieſem Falle wurde alſo die Ungenießbarkeit des Froſches auf Grund ſeiner Färbung und Gewohnheiten vorher— Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. 5 geſagt, und wir können keinen überzeugenderen Beweis von der Wahrheit einer Theorie haben, als ſolche Vorausſagungen. Die Thatſache, daß fleiſchfreſſende Thiere durchweg alle dieſe beſonders geſchützten Gruppen unberührt laſſen, und daß dieſe alſo gänzlich vor der beſtändigen Verfolg— ung bewahrt ſind, welche alle anderen nicht ſo geſchützten Weſen erleiden, würde es offenbar für ſolche der letzteren Gruppen, die bis auf's äußerſte verfolgt werden, vor— theilhaft machen, irrthümlich als Zugehörige der erſteren Gruppen angeſehen zu werden. Zu dieſem Zwecke wäre es für fie noth— wendig, dieſelbe Geſtalt, Farbe und Ge— wohnheit zu beſitzen. Sonderbar iſt es nun, daß überall, wo eine umfangreiche Gruppe von unmittelbar geſchützten Thier— formen (Abtheilung: „a“ der mit warnen- den Farben ausgeſtatteten) ſich findet, auch ſicher einige ſonſt vertheidigungsloſe Thiere angetroffen werden, die jenen in ihrem äußeren Ausſehen ſo gleichen, daß ſie mit ihnen ver— wechſelt werden, und die auf dieſe Weiſe gewiſ— ſermaßen unter falſchen Vorwänden ſich Si— cherheit verſchaffen (Abtheilung: „b“ der mit warnenden Farben geſchützten). Dies nennt man Nachahmung (Mimiery), und die Er- ſcheinung iſt ſchon in vollſtändiger Weiſe von ihrem Entdecker, Herrn Bates, von mir ſelbſt, von Herrn Trimen und Anderen behandelt worden. An dieſer Stelle iſt es nur nothwendig zu ſagen, daß die ungenießbaren Danaiden und Acraeiden von ein paar Arten anderer Schmetterlingsgruppen begleitet wer— den (Leptaliden, Papilio-, Diadema-Arten und Motten), die alle wirklich eßbar find, aber die in Folge ihrer großen Aehnlichkeit mit irgend einer Art der nicht eßbaren Gruppen der— ſelben Gegend den Angriffen entgehen. Glei— cherweiſe giebt es ein paar eßbare Käfer, die genau ſo ausſehen, wie Arten ungenieß— N = — es barer Gruppen; und andere, die weich find, gleichen denen, die ihrer Härte wegen als ungenießbar verſchmäht werden. Aus dem— ſelben Grunde werden Wespen von kleinen Schmetterlingen nachahmungsweiſe darge— ſtellt, und Ameiſen von Käfern; auch un— ſchädliche Schlangen leihen ſich das Aus— ſehen giftiger, und vertheidigungsloſe Kukuke erſcheinen äußerlich wie gefährliche Habichte. Wie dieſe ſeltſamen Nachahmungen herbei— geführt worden und welchen Geſetzen ſie unterworfen ſind, iſt in dem ſchon erwähnten Werke auseinandergeſetzt Die dritte Claſſe, — die der geſchlecht— lichen Färbung — umfaßt alle die Fälle, in denen die Farben beider Geſchlechter ſich unterſcheiden. Dieſe Unterſcheidung iſt ſehr allgemein, und ſehr verſchieden in ihrem Betrage, fie ſchwankt von einer geringen Ab— weichung der Schattirung bis zu einem gänz- lichen Wechſel der Färbung. Unterſchiede dieſer Art finden ſich unter allen Claſſen von Thieren, in denen die Geſchlechter ge— trennt ſind, ſind aber bei manchen Gruppen viel häufiger, als bei anderen. Bei den Säugethieren, Reptilien und Fiſchen ſind ſie vergleichsweiſe ſelten und von keinem bedeu— tenden Betrage; wogegen ſie bei Vögeln ſehr häufig und ſehr ſtark entwickelt ſind. Bei den Inſekten find fie unter den Schmetter- | lingen ſehr häufig und umfaſſend, während ſie bei Käfern, Wespen und Halbflüglern vergleichsweiſe ungewöhnlich ſind. geſchmückt iſt, während das Weibchen in Dieſe Erſcheinungen der geſchlechtlichen Färbungsabweichungen, ebenſowohl wie die der Färbung überhaupt, ſind ſich bei den Ehegatten zeigt. der Kopf des Männchens roth, der des beiden, eine ähnliche Rolle ſpielenden, aber ganz und gar nicht verwandten Gruppen der Vögel und Schmetterlinge in wunder- barer Weiſe ähnlich, und da beide reichlichen Stoff darbieten, werden wir unſer Studium des Gegenſtandes hauptſächlich auf ſie be— Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. ſchränken. Der gewöhnlichſte Fall geſchlecht— lich verſchiedener Färbung iſt der, in denen das Männchen im Allgemeinen dieſelbe Farbe hat, als das Weibchen, nur daß dieſelbe in— tenſiver und brillanter iſt. So iſt es bei vielen Droſſeln, Finken und Habichten, und unter den Schmetterlingen bei der Mehr- heit unſerer britiſchen Arten. Beſonders ausgedrückt iſt die größere Farbenintenſität in den Fällen, in denen das Männchen kleiner iſt, wie bei vielen Habichten und Falken, und bei den meiſten Tag- und Nacht- Schmetterlingen, bei denen die Ge— ſchlechter in (allgemeiner) Färbung ſich nicht weſentlich unterſcheiden. Bei einer anderen weitverbreiteten Reihe ſehen wir Flecken lebhafter Farbe beim Männchen, die beim Weibchen nur in viel weniger lebhaften Schattirungen vorhanden ſind, oder ganz und gar fehlen, wie z. B. beim Gold— hähnchen (Regulus eristatus), dem grünen Specht und den meiſten der Aurorafalter (Anthocharis). Fahren wir in unſerer Umſchau weiter fort, ſo finden wir größere und größere Verſchiedenheiten in den Ge— ſchlechtern und endlich gelangen wir zu ſolchen extremen Fällen, wie die einiger Faſane, der Seidenſchwänze, Tanagra- und Paradiesvögel, bei denen das Männchen mit den prunkendſten und lebendigſten Farben der Regel mattbraun oder olivengrün iſt und oft nicht die geringſte Anuäherung an die glänzende Farbenausſchmückung ihres Bei vielen Spechten iſt Weibchens gelb; während die Männchen einiger Papageien rothe Stellen haben, haben die Weibchen blaue, wie bei Psitta- eula diophthalma. Bei vielen ſüdameri— kaniſchen Papilio-Arten hat das Männchen grüne Stellen, das Weibchen entſprechend 1 2 — J 0 rothe; bei verschiedenen Arten der Gattung Epicalia hat das Männchen orangefarbene Streifen, das Weibchen blaue, es zeigt ſich alſo hier faſt derſelbe Farbenwechſel, wie bei dem erwähnten kleinen Papageien. Reichere Details über die Verſchiedenheiten geſchlecht— licher Färbung finden unſere Leſer in Darwin's „Abſtammung des Menſchen, Capitel X bis XVIII, und in den Capiteln III, IV und VII meiner Beiträge zur Theorie der geſchlechtlichen Zuchtwahl. Die vierte Gruppe, — die der typisch gefärbten Thiere, — umfaßt alle Arten, die in beiden Geſchlechtern brillant oder auffallend gefärbt ſind, und für deren eigenthümliche Farben wir keinen Lebens— dienſt, können. her die meiſten der größten und ſchönſten Schmetterlingsarten, unzählige glänzend gefärbte Käfer, Heuſchrecken, Libellen und Hautflügler, ein paar Säugethiere wie die Zebra's, eine große Anzahl von Seefiſchen, tauſende von geſtreiften und gefleckten Raupen und eine Fülle von Weichthieren, Sternthieren und anderen Seebewohnern. Unter dieſe haben wir einige eingeſchloſſen, die, wie die lebhaft gefärbten Raupen, war⸗ nende Färbungen haben; da nämlich jene Theorie nicht die beſonderen Farben oder die verſchiedenartigen Muſter erklärt, mit denen ſie geſchmückt ſind, ſo iſt es am beſten, ſie ebenfalls in dieſe Claſſe mit ein— zuſchließen. Es mag eine bedeutungsvolle Thatſache ſein, daß alle die brillant ge— färbten, oben erwähnten Vogelarten ent— weder in Löchern niſten oder bedeckte Neſter bauen, ſo daß die Weibchen während der Brütezeit nicht jenes Schutzes bedürfen, keinen beſonderen Nutzen angeben Sie umfaßt eine ungeheure Zahl prächtiger Vögel, wie die Eisvögel, die Bartvögel, Tukane, Lory's, Meiſen und Staare; unter den Inſekten gehören hier- Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. 127 welchen ich für eine der Haupturſachen der matten Farbe der weiblichen Vögel halte, deren Gatten lebhaft gefärbt ſind. Dieſer Gegenſtand iſt vollauf behandelt worden in meinen „Beiträgen“, Capitel VII. Da die Farben der Pflanzen und Blumen von denen der Thiere, ſowohl ihrer Vertheilung als ihrer Funktion nach, ſehr verſchieden ſind, wird es gut ſein, ſie be— ſonders zu behandeln. Wir wollen deshalb jetzt noch überlegen, wie die allgemeinen Thatſachen der Färbung, die wir hier ſkizzirt Die Farben, die wir an materiellen Gegenſtänden wahrnehmen, werden ent— weder durch Abſorption oder durch die Interferenz einiger der Strahlen erzeugt, die in ihrer Zuſammenſetzung das weiße Licht bilden. Abſorptionsfärbungen ſind die häufigſten; fie umfaſſen alle mit Un- durchſichtigkeit verbundenen Färbungen der Blumen und Inſekten und ſind in allen Farben der Farbſtoffe vorhanden. Sie werden dadurch hervorgerufen, daß Strahlen, deren Lichtwellen von einer gewiſſen Länge ſind, abſorbirt werden, während die anderen Strahlen reflektirt werden und das Gefühl der Farbe hervorrufen. Wenn alle farbigen Strahlen des Sonnenlichtes in der gehörigen Proportion reflektirt werden, dann iſt die Farbe eines Gegenſtandes weiß; werden alle abſorbirt, ſo iſt ſie ſchwarz. Werden nur die blauen Strahlen abſorbirt, ſo er— gibt ſich als Farbe das Orangeroth; und im Allgemeinen, wenn ein Gegenſtand in irgend einer beſtimmten Färbung von uns geſehen wird, ſo geſchieht dies deshalb, weil die Complementär-Farbenſtrahlen des Sonnenlichtes von ihm abſorbirt werden. Das Warum dieſer Thatſache, daß nur Strahlen von beſtimmtem Brechungsver— mögen reflektirt werden, während das übrige | { | e 128 zuſtrömende Licht von den Gegenſtänden ab— ſorbirt wird, wird durch die Art und Weiſe der Anordnung der kleinſten Theile der Materie, die den betreffenden Gegenſtand bildet, erklärt. Chemiſche Einwirkung be— dingt faſt immer auch eine Aenderung in der Anordnung der kleinſten Theile; und chemiſche Einwirkung iſt die mächtigſte Ur— ſache des Farbenwechſels. Mitunter bringt einfache Auflöſung eines Körpers in Waſſer einen wunderbaren Wechſel hervor, wie es z. B. bei den wohlbekannten Anilinfarben der Fall iſt — indem z. B. das Magenta- Roth und Anilin Violett in feſter Geſtalt goldene oder broncefarbene Schattirungen zeigen. Herr Ackroyd hat dieſen Ge— gegenſtand neuerdings unterſucht“) und hat gezeigt, daß eine große Anzahl Körper, die durch Hitze verändert werden, wenn ſie ab— kühlen, wieder ihre normale Färbung an— nehmen, und daß dieſer Farbenwechſel faſt immer in der Richtung der Strahlen von geringerem Brechungsvermögen oder der längeren Wellenlängen vor ſich geht; und er ſetzt den Farbenwechſel mit dem durch die Wärme verurſachten Auseinanderrücken der Moleküle in Zuſammenhang. Als Bei— ſpiele können erwähnt werden Queckſilber— Oxyd, das orangegelb iſt, das aber beim Erhitzen der Reihe nach orangeroth, roth und braun wird; Chromoxyd iſt grün und wird in der Hitze gelb; Zinnober iſt ſcharlach— roth und wird braunroth; und metabor— ſaures Kupfer iſt blau und wird grün und grüngelb. Die Farbſtoffe ſind bei Thieren ſehr verſchiedener Art. Im Roth der Flügel des Turaco hat man Kupfer gefunden, und Herr Sorby hat nicht weniger als *) Metachromatism or Color - Change, Chemical News, August 1876. Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. ſieben beſondere Farbſtoffe in den Vogel— eiern entdeckt, von denen einige mit denen des Blutes und der Galle chemiſch ver— wandt ſind. Dieſelben Farben werden bei verſchiedenen Thiergruppen oft durch ganz verſchiedene Stoffe erzeugt, wie ſich dadurch zeigt, daß das Roth der Flügel der Pim— pinellen-Motte durch Salpeterſäure in Gelb verwandelt wird, während das Roth des rothen Admiralſchmetterlings keine ſolche Veränderung erleidet. Dieſe von Farbſtoffen herrührenden Färbungen haben bei Thieren, je nach ihrer Lage in der umgebenden Hülle, einen ver— ſchiedenen Charakter. Nach Dr. Hagen's Claſſification ſind „Farben der Epidermis“ ſolche, die in der äußeren chitinhaltigen Haut der Inſekten, in den Haaren der Säugethiere und zum Theil in den Federn der Vögel ſich vorfinden. Sie ſind oft ſehr intenſiv und auffallend und ver— bleichen nicht nach dem Tode. „Farben der Hypodermis“ ſind ſolche, die in den un— teren weichen Lagen der Haut ſich befinden. Dieſe ſind häufig heller und lebendiger in ihren Schattirungen und welken gewöhnlich nach dem Tode. Viele rothen und gelben Farben der Schmetterlinge und Vögel ge— hören dieſer Claſſe an, und ebenſo die äußerſt lebhaften Farben der nackten Haut der Köpfe vieler Vögel. Dieſe Farben treten mitunter aus den Poren heraus und bilden eine verbleichende Ausblühung an der Oberfläche. Farben, die auf Interferenz beruhen, ſind in der organiſchen Welt weniger häufig. Sie entſtehen auf zwei Arten: entweder durch Reflektion von den beiden Ober— flächen eines durchſcheinenden Häutchens, wie man bei Seifenblaſen und bei dünnen auf Waſſer liegenden Oelſchichten ſehen kann; oder durch feine Streifen, welche Farbe ent— Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. weder mit reflektirtem oder durchgehendem Licht zur Erſcheinung bringen, wie man es bei Perlmutter und bei mit feinen Linien gezeichneten Metallflächen wahrnehmen kann. In beiden Fällen entſteht die Farbe dadurch, daß das Licht einer Wellenlänge neutraliſirt wird, indem ein Theil dieſer Wellen eine halbe Wellenlänge hinter dem anderen Theile zurückbleibt, wie das in jedem Lehrbuche der Optik auseinandergeſetzt iſt. Das Re— ſultat iſt, daß die Ergänzungsfarbe der neutraliſirten Lichtſtrahlen ſichtbar wird, und da die Dicke des Häutchens oder die Fein— heit der eingezeichneten Riſſe Abweichungen unterliegt, kann irgend eine Farbe zum Vor— ſchein kommen. Dies wird als Urſache vieler der metalliſch glänzenden Färbungen der In— ſekten ſowohl als der Federn der Vögel angeſehen. Die regenbogenartig ſpielenden Farben der Flügel der Libellen werden her— vorgerufen durch das Aufeinanderliegen zweier oder mehrerer durchſichtiger Blätt— chen, während das glänzende Blau des Schillerfalters und anderer Schmetterlinge wahrſcheinlich feinen Rißzeichnungen zu ver— danken iſt. Die hier angedeutete Skizze der Natur der Farben in der organiſchen Welt, ob— wohl unvollkommen, wird wenigſtens ge— nügen, um zu zeigen, wie zahlreich und verſchiedenartig die Urſachen ſind, die fort— während darauf zielen, Farben in den ani— maliſchen Geweben hervorzubringen. Be— denken wir nun, daß, um Weiß hervor- zubringen, ſämmtliche Strahlen, die einen Gegenſtand treffen, in denſelben Propor— tionen reflektirt werden müſſen, in denen ſie im Sonnenlichte gemiſcht ſind, während andrerſeits, wenn Strahlen irgend einer oder mehrerer Arten abſorbirt oder neutra- liſirt werden, das ſich ergebende reflektirte Licht farbig ſein wird, und daß dieſe Fär— 129 bung unendlich verſchieden ſein kann, je nach den Verhältniſſen, in welchen ver— ſchiedene Strahlen reflektirt oder abſorbirt werden, — ſo müſſen wir ſchon erwarten, daß Weiß verhältnißmäßig ſelten und aus- nahmsweiſe in der Natur vorkommen wird, wie es in der That der Fall iſt. Dieſelbe Bemerkung paßt auf Schwarz, welche Farbe durch Abſorption aller der verſchiedenen Licht— ſtrahlen entſteht. Viele der zuſammenge— ſetzten Stoffe, die in den Körpern von Thieren und Pflanzen ſich befinden, ſind Veränderungen ihrer Farbe unter dem Ein— fluſſe des Lichtes, der Wärme oder chemi— ſcher Vorgänge unterworfen, und wir wiſſen, daß während der Dauer des phyſiologiſchen Proceſſes der Entwickelung und des Wachs— thums fortwährend chemiſche Proceſſe vor ſich gehen. Wir finden auch, daß jeder äußere Charakterzug kleinen Veränderungen unterworfen iſt, die bei nahe verwandten Arten für uns gewöhnlich ſichtbar werden; wir können alſo nicht zweifeln, daß die Ausdehnung und die Dicke der durch— ſcheinenden Blättchen und die Feinheit der Riſſe oder Runzeln der Hautdecken fort— während kleine Aenderungen erleidet; und dieſe Aenderungen bringen häufig Aender— ungen der Farbe hervor. Dieſe Betracht— ungen machen es wahrſcheinlich, daß die Farbe ein normales und ſogar nothwendiges Ergebniß des complicirten Baues der Thiere und Pflanzen iſt; und daß es diejenigen Theile eines Organismus, die ſich fort— während neuen Bedingungen anpaſſen, und die auch fortwährend der Wirkung des Lichtes und der Wärme unterworfen ſind, fein werden, in denen Farbenveränderun— »gen am häufigſten auftreten. Es iſt nun kaum zweifelhaft, daß die äußerlichen Abän- derungen der Thiere und Pflanzen zur Anpaſſ— ung an die Umgebung viel zahlreicher ſind, — — — — — 130 als die innern. Man ſieht dies an dem verſchiedenartigen Charakter der Hautbe— deckungen und der Anhängſel der Thiere (Haare, Horn, Schuppen, Federn u. ſ. w.) und ebenſo bei Pflanzen (Blätter, Rinden, Blumen, Früchte), im Vergleich mit der verhältnißmäßigen Einförmigkeit des Ge— füges und der Zuſammenſetzung ihrer in— neren Gebilde; und dies ſtimmt ferner über— ein mit der Einförmigkeit der Färbung des Blutes, der Muskeln, der Nerven und der Knochen durch ausgedehnte Thiergruppen, im Vergleich mit der großen Verſchieden— heit der Farben ihrer äußeren Organe. Es ſcheint ein richtiger Schluß, daß Farbe an ſich als normal betrachtet werden kann, und ihr Vorkommen keiner ſpeciellen Erklärung bedarf; während die Abweſenheit von Farbe (d. h. entweder Weiß oder Schwarz), oder das Vorwiegen gewiſſer Farben bis zum beſtändigen Ausſchluß anderer, ebenſo wie andere Umgeſtaltungen der Lebensweiſe leben— der Weſen, auf die Bedürfniſſe der Art zurückgeführt werden müſſen. Oder, wenn wir die Sache von einem andern Stand— punkte betrachten, möchten wir behaupten, Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. daß Farbe immer das Beſtreben hat, in abweichenden Schattirungen da zu erſcheinen, wo dieſe fehlen, und daß die natürliche Ausleſe beſtändig ſolche Schattirungen aus— merzt, die der Species nachtheilig ſind, und ſolche erhält und verſtärkt, die ihr nütz— lich ſind. Dieſe Anſchauung ſtimmt vollkommen mit der Thatſache überein, daß Farben, die ſelten oder nie im Naturzuſtande bei einer Art erſcheinen, fortwährend unter gezähmten Thieren und cultivirten Pflanzen auftauchen. Sie zeigt uns, daß die Fähigkeit der Farben— entwickelung immer gegenwärtig iſt, ſo daß beinahe jede gewünſchte Schattirung hervor— gebracht werden kann, die unter gewiſſeu Um— ſtänden, wenn auch in noch ſo kleinem Maße, nützlich ſein könnte. Sehen wir nun zu, wie dieſe Grund— ſätze uns in den Stand ſetzen, die verſchiedenen Farbenerſcheinungen in der Natur zu verſtehen und zu erklären, indem wir ſie in der Reihen— folge unſerer auf ihren Lebensdienſt ge— gründeten Eintheilung (S. 123) vor— nehmen. (Schluß folgt.) —— . — — Di politiſche Verfalſung auf den primitiven Culturſtufen. Von M. Ruliſcher. n den primitiven Communen meinſchaften eines gewiſſen Landes gegen giebt es keine andere Macht als einander, wie auch die Macht der einzelnen die Commune ſelbſt, keine öffent- -Communen den Genoſſen derſelben gegen— liche Gewalt, als die Gewalt über, und beweiſen andererſeits, daß ſich der ſämmtlichen Mitglieder, der kein einzelnes Mitglied der Gemeinſchaft Genoſſen, der „Brüder“, keinen anderen höhere Rechte anmaßen durfte oder konnte, Willen, als den Willen, der ſich in den als andere Genoſſen beſaßen. Sie zeigen Verſammlungen der Commune manifeſtirt. dann, daß auf den primitiven Culturſtufen Der Einzelne hat keine beſonderen, von der die Geſammtheit der Genoſſen nur in außer— | Commune unabhängigen Intereſſen. Sein ordentlichen Gelegenheiten ſich gedrungen fühlt, Wohl hängt von dem Wohl der ganzen einer einzelnen Perſönlichkeit eine ausſchließ— Gemeinſchaft ab. Seine Bedürfniſſe wer- liche Stellung zu geben, eine exceptionelle den in der Commune und durch die Com- Gewalt einzuräumen. Und dieſe außer— mune befriedigt. Die Commune iſt eine ordentliche Gelegenheit war der Krieg: Nur „Welt“ für ſich, ein Mikrokosmos, — es durch den Krieg konnten ſich Einzelne her⸗ ift „feine Welt“, die Welt jedes Mitgliedes. vorthun und für die Kriegführung waren Und was die Welt wünſcht, wünſcht auch einzelne Perſönlichkeiten mit einer gewiſſen er; worin Alle — tout le monde — höheren Macht von der Geſammtheit be— übereinſtimmen, dazu muß und darf auch kleidet. Als die Commune die Nothwen— jeder Einzelne ſeine Einwilligung geben. digkeit einſah, dieſem Einzelnen eine ge— Die Thatſachen, die wir ſogleich aus wiſſe Macht einzuräumen, einen Häuptling dem Leben der Communen anführen wer- aus ihrer Mitte zu wählen, ſo wählte ſie den, beſtätigen und beweiſen unſere An- ihn nur auf eine gewiſſe beſchränkte Zeit. nahme poſitiv wie negativ. Sie zeigen Die Commune gab einen Theil ihrer ſou— einerſeits die vollkommene Selbſtſtändigkeit veränen Macht einer einzelnen Perſönlichkeit und Unabhängigkeit der verſchiedenen Ge- nur „auf Zeit“ und behielt dieſe „Herr⸗ Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. i 18 ——— — —— 182 ſchaft auf Zeit“ unter ihrer beſtändigen und fortwährenden Controle und Oberauf— ſicht. Es iſt alſo leicht einzuſehen, daß die Erblichkeit der Häuptlingswürde, wie die Erblichkeit des Eigenthums, auf den primitiven Culturſtufen eine Unmöglichkeit iſt. Dieſer von uns aufgeſtellte Satz wird im Verlaufe dieſer Unterſuchungen noch näher beleuchtet werden, aber ſchon hier müſſen wir auf dieſen Punkt — das Fehlen der Erblichkeit der Häuptlingswürde auf den erſten Stufen der ſocialen Ent— wickelung — aufmerkſam machen. Wie in Bezug auf das erbliche Privateigenthum, ſo ſind in Bezug auf die Erblichkeit der Herrſcherwürde die Berichte der älteren Schriftſteller, wie der weitaus größeren Maſſe von Reiſenden, die das Leben der Wilden in der Neuzeit beobachten, ſehr kritiſch aufzunehmen und zu behandeln. Das Princip der Erblichkeit findet allerdings ſeine Anwendung auf verſchiedene Erſchein— ungen des ſocialen Lebens, aber auf einer viel ſpäteren Entwickelungsſtufe als die— jenige, mit der wir uns gegenwärtig be— ſchäftigen, und demjenigen Stadium der Entwickelung, wo das Princip der Erb— lichkeit zur Geltung gelangt, geht ein ſolches voran, wo ſeine Anwendung auf irgend welcher Sphäre des geſellſchaftlichen Lebens gänzlich unbekannt iſt. Da endlich die Häuptlingswürde dem Krieg ihren Urſprung verdankt und ſpeciell für den Krieg con— ſtituirt wird, fo erſcheint ſchon a priori eine Wahl zu dieſem Zwecke aus der Mitte der älteren Leute nichts we— niger als wahrſcheinlich. Dort, wo Tapfer— keit und jugendlicher Muth den Ausſchlag giebt, wo Erfahrungen und Traditionen vollkommen überflüſſig ſind, wie dies im primitiven Kriege der Fall iſt, können ältere Leute keineswegs mit einer Miſſion Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. betraut werden, welcher ihre Kräfte nicht gewachſen ſein würden. Auch in dieſer Be— ziehung alſo müſſen wir uns gegenüber den Berichten älterer Schriftſteller wie neuerer Beobachter kritiſch verhalten und ſie nur dann annehmen, wenn ſie mit unſeren Prämiſſen übereinſtimmen. Bei den nordamerikaniſchen Indianern hatte „die Verſammlung des Volkes, d. h. der ſelbſtſtändigen Männer . . .. die ſou⸗ veräne Macht.“ !) „Den Beſchlüſſen der Volksverſammlungen,“ erzählen die Reiſen— den, „unterwerfen ſich alle mit Achtung. Wenn ſich Einzelne den Anordnungen wider- ſetzen, ſo finden ſie doch keinen Anklang, ſondern werden als entartete Geſchöpfe be— trachtet, die es nicht wagen dürfen, ſich zu den Anderen zu geſellen, ſondern einzeln herumſchweifen müſſen und keine Anſprüche an den Schutz der Nation haben.“ 2) Hier braucht man zur Verwirklichung des ge— meinſchaftlichen Willens keine mit beſonde— ren Vollmachten ausgeſtattete executive Ge— walt. Die geſetzgebende, wie die executive Gewalt liegt in den Händen der Geſammt— heit der ganzen Commune. Die meiſten Gemeinſchaften der Eskimo ſtehen ganz „vereinzelt und in voller Unabhängigkeit von einander“.3) In dieſen Gemeinſchaften hat man keine anerkannten Oberhäupter bemerkt. „Bei großen Zügen folgen ſie dem verſtändigſten Manne, können ſich aber, ſobald fie wollen, von ihm trennen.“ Ueber— haupt begehrt bei ihnen „Niemand ſich über den Anderen etwas anzumaßen, ihm vorzuſchreiben, ihn zur Rechenſchaft für ſeine Handlungen zu fordern, oder zu all— gemeinen Bedürfniſſen Abgaben zu be— ) Waitz, Anthropologie der Natur— völker. III. S. 148. 2) Klemm, Allg. Culturg. II. S. 130. ) Waitz, III. S. 309. Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. gehren“.!) Die Cibola in Amerika hatten „keine Häuptlinge, die eine beſtimmte Ge— walt gehabt hätten“. Bei einigen nord— amerikaniſchen Völkern dünkte ſich jeder Einzelne „vollkommen frei und unverant— wortlich für alle ſeine Thaten: es war nur perſönliche, freiwillige Nachgiebigkeit, wenn man ſich dem Häuptling fügte. Nur im Kriege änderte ſich meiſt das Verhältniß, da die allgemeine Sicher— heit und das Gelingen des Unternehmens alsdann eine ſtrenge Disciplin und eine diktatoriſche Gewalt des Häuptlings als nothwendig erſcheinen ließ.“ ?) Ebenſo find noch jetzt bei den Sioux die Anordnungen und Beſchlüſſe der Häuptlinge „durchaus nicht maßgebend, ſie können aus eigener Macht keine Verträge ſchließen, und müſſen ſich durch Freigebigkeit in allgemeiner Gunſt erhalten, denn obgleich ihre Würde eigent- lich erblich (?) iſt, werden fie doch bis— weilen abgeſetzt. Nur im Kriege giebt der Häuptling für deſſen Dauer beſtimmte Geſetze.“ )) Nach ihrer eignen Ausſage haben die Sioux nie Häuptlinge gekannt, „ehe ſie ihren Rex in Wabaſhaw von den Engländern“ erhielten.?) Von den Cariben der Inſeln „betrachtete ſich jeder Einzelne als vollkommen frei und unabhängig, im Frieden gab es keine Häuptlinge, die An— führer zum Kriege aber werden aus den älteren (2) Leuten frei erwählt. ... Von richterlichen Urtheilen und Strafen war keine Rede.“ In Friedenszeiten hatten die Häuptlinge mit der Gerechtigkeitspflege nichts zu ſchaffen.“)) Wo bei den nordamerika— 1) Klemm, II. S. 293. 2) Waitz, IV. S. 230. 3) Waitz, III. S. 125. ) Idem |. c. 5) Baſtian, Rechtsv. § 89, auch Waitz, ibid. 1. c. 6) Rochefort, S. 523. Waitz, III. S. 383. Klemm, II. S. 124. niſchen Indianern auch Häuptlinge waren, war ihre „Macht von ihrer perſönlichen Autorität und nächſtdem von dem Anſehen und dem Willen der Männer aus dem Volke .. ., die ſich durch Kriegsthaten aus— gezeichnet hatten“, abhängig. „Dieſe letz— teren dünkten ſich dem Häuptling nicht unter- worfen, ſondern vollkommen frei und ſelbſt— ſtändig, ſie thaten ſeinem Anſehen oft großen Eintrag und konnten Unternehmungen faſt jeder Art auf eigene Hand organiſiren, fo- bald ſie andere zur Theilnahme daran zu gewinnen wußten.“ ) Bei den Charruas, einem der Pampasvölker, ſind „Alle — einander gleich und keinem Häuptling unter- worfen“.) Bei den Pampas-Indianern entſcheidet die Verſammlung des Volkes, in der es ordnungslos und oft turbulent zu— geht . . ., ſowohl über Krieg und Frieden, als auch über Angelegenheiten der Reli— gion.“ ?) Der Häuptling „erhält feine Würde durch Wahl“. Wenn dabei hinzu— gefügt wird, daß dieſe Häuptlinge in Frie— denszeiten despotiſch walten, während ſie im Kriege keine Macht beſitzen, ſo muß man annehmen, daß die Beobachter ſich geirrt haben, denn das Gegentheil von dem, was ſie bemerkt haben wollen, kann nur der Wirklichkeit entſprechen. Wie ſchon Klemm bemerkt hat, bezieht ſich bei allen Amerikanern „die Gewalt und das Anſehen der Häuptlinge mehr auf die äußeren Angelegenheiten, denn auf das Innere.“ ) Bei den Abiponen iſt, nach Dobritzhoffer, die Häuptlingswürde nur „für den Krieg beſtimmt“, oder wie er ſich auch anders ausdrückt, ſie „gilt mehr der Abwehr der feindlichen Angriffe, als der Erhaltung der Ord— 1) Waitz, III. S. 147. 2) Idem IJ. c. ) Waitz, III. S. 499. ) Klemm, II. S. 125. a nung oder des Rechtes im Innern“, und darum „leiſten fie ihm auch nur auf Kriegs— zügen einigen Gehorſam“. Dieſer Häupt— ling (die Spanier nannten ihn Cazique) wird „weder durch Abgaben, noch durch andere Dienſtleiſtungen verehrt, Niemand unterwirft ſich ſeinem Ausſpruch, keiner geſteht ihm das Recht zu, Verbrechen zu beſtrafen.“ Bisweilen bekleiden dieſe Würde auch Weiber.!) Ebenſo wie bei den Abi- ponen mußte bei den Delawaren und Iro keſen der Häuptling „für feinen Unter- halt . . . . ſelbſt Sorge tragen “.) Die „rohen Taculli haben Häuptlinge faſt nur dem Namen nach“. Die Apachen und Navajas haben „nur im Kriege“ Häupt— linge. Bei den Araucanern hatten die „Häuptlinge, wie noch jetzt bei den Pe— huenche, keine Zwangsgewalt. Abgaben wurden nicht bezahlt und Gehorſam über— haupt nur im Kriege gefordert“. Bei den Warrans ſteht jede Dorfcommune unter einem Häuptling. Bei den Cherokee waren die Häuptlinge gewählt. Bei den Chi— nooks wird in vielen Orten die Häupt— lingswürde „durch Wahl vergeben“. Bei den Seliſch werden die „Anführer zu Kriegs— und Jagdzügen jährlich neu gewählt“. Bei den Chiquitas war die Häuptlings— würde „nicht erblich, ſondern wurde durch Es wird hinzugefügt, Wahl vergeben“. daß an dieſe Würde ſich „das Vorrecht mehrere Weiber zu haben“ knüpfte.) Bei Dorf „von einem gewählten Häuptling re— giert. halten“.%) Bei den Indianern der Pueb— S. 476. 2) Klemm, III. S. 125. 3) Waitz, III. S. 125, 338, 513 u. f. ) Waitz, IV. S. 209 u. flgde. ) Klemm, II. S. 123. Waitz, III. ! | Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. los iſt jedes Dorf unabhängig von dem andern und wählt ſich alljährlich ſeine Be— amten, richtiger ſeine Häuptlinge, ſelbſt: neben dem Häuptling, deſſen Wahl in Santa Fe jedesmal angezeigt werden muß, ſteht ein hoher Rath: außerdem giebt es Heinen Anführer für den Krieg.“ Wie bei den Mogquis ift bei ihnen die Eftufa Rath- und Verſammlungshaus. „Die Gewalt der Häuptlinge . . . iſt in Gali- fornien größer als faſt irgendwo ſonſt, doch ſind die einzelnen Banden von einander unabhängig. Bisweilen hat man auch Weiber mit dieſer Würde bei ihnen bekleidet ge— funden.!) Wir bringen dieſen Bericht über die Californier, obwohl er in Manchem unſerer Annahme widerſpricht, indem er von einer größeren Macht der Häuptlinge ſpricht. Die Unwahrſcheinlichkeit der Wahr— nehmung leuchtet ſchon aus dem Umſtand hervor, daß auch Frauen dieſe Macht be— kleiden. Mit einer ſolchen Miſſion können ſie nur dann betraut werden, wenn ſie den Männern vollkommen gleichgeſtellt ſind. Dies iſt wirklich der Fall im rein com— munalen Leben, welches bei den Califor— niern bis zu den ſpäteſten Zeiten ſich er— halten hat. In einem ſolchen Zuſtande des ſocialen Lebens aber kann von einer höheren Macht der Häuptlinge nicht die Rede ſein. Es iſt ſchon öfters erwähnt worden, daß das Häuptlingsweſen dem Krieg ſeinen Urſprung verdankt. Es müſſen den Moqui wird nach Schoolkraft jedes alſo bei der Wahl derſelben diejenigen Eigen— ſchaften einzelner Perſönlichkeiten berückſich— Die Rathsverſammlungen werden in der Eſtufa, dem Schwitzhaus, abge- tigt werden, die ſie für die Kriegführung befähigen, die einen Sieg der unter ihrer Leitung ſtehenden Commune über alle feind— lichen Communen vorausſehen laſſen, die das Gelingen kriegeriſcher Unternehmungen verbürgen. Die Tapferkeit, der Muth, die ) Waitz, IV. S. 242. 3 Kuliſcher, Kühnheit und auch die Schlauheit der Be— treffenden muß auf die Probe geſtellt und erwieſen werden, um ihnen die Kriegführ— ung anvertrauen zu können. In Braſilien tritt der Stärkſte an die Spitze des Stam— mes. Er darf keinen menſchlichen Gegner fürchten. Ueber dieſe Frage entſcheidet oft ein Zweikampf.!) Ebenſo begründet, nach v. Martius, der Anführer der Tupi, — Tupixabo genannt, — ſein Vorrecht auf feine Stärke und feinen Verſtand.?) In Chili prüfte man die Stärke der Can⸗ didaten auf die Häuptlingswürde damit, daß ſie „einen ſchweren Holzblock ſchleppen mußten“. „Die Caraiben der Antillen und der Guiana ertheilten die Würde der Häuptlinge nur nach vielfachen Beweiſen von Standhaftigkeit und Ausdauer in Er⸗ tragung von Schmerzen und körperlichen Anſtrengungen. Bei den Rothhäuten hat, nach Simonin, der Tapferſte, derjenige, der die größte Zahl der Scalpe erbeutet, viele Feinde ermordet, oder viele Büffel getödtet hat, derjenige, der eine ruhmreiche That vollbracht hat, durch große Bered— ſamkeit ſich auszeichnet (Schlauheit), das Recht auf die Häuptlingswürde.) Die Maconde in Afrika find, wie Li— vingſtone erzählt, „alle unabhängig und es giebt bei ihnen keinen herrſchenden Häupt— fing.” %) Die Wakamba im Innern von Afrika „ſtehen nur unter einzelnen Häupt— lingen von rein perſönlichem Anſehen“.“) Bei den Dualla am Cameroon haben die einzelnen Orte „ihre Häuptlinge, welche durchaus unabhängig einander gegenüber— Er: deren . im eigenen Gebiet aber 9 Baſtian, ee S. 143. 2) Idem 1. c. auch S ) Idem S 58 u. 54. ) Waller, Letzte Reiſe von 1 in 5 5 Hamburg 1875. I. S. | 5) Waitz, II. S. 423. Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 135 ſolche bis zum Antritt des neuen. A auch nur beſchränkt iſt“.!) Bei den M’Pong- wes ſteht „jedes ihrer Dörfer ... für ſich allein unter einem Häuptling. Dieſe werden gewählt, müſſen jedoch einer be— ſtimmten Familie (2) angehören und be— ſitzen nur geringe Macht, da die höchſte Entſcheidung in allen wichtigſten Dingen von dem verſammelten Volke gegeben wird. Die Häuptlinge der kleinen Negervölker haben nicht ſelten eine ähnliche Stellung: ihre Abhängigkeit iſt oft ebenſo groß oder ſelbſt größer als ihre Macht.“ ?) Daß auch Länder in Afrika, die gegenwärtig eine ſtreng ausgebildete politiſche Organi— ſation darbieten, auf einer früheren Cultur— ſtufe die Selbſtregierung ausübten, ähnlich denjenigen Communen, von denen wir direkte Nachrichten beſitzen, beweiſt eine merkwürdige Inſtitution der allgemeinen Friedloſig— keit nach dem Tode des alten Herrſchers Wenn in Aſchanti der Herrſcher „ſtirbt, zertrümmern ſeine Weiber alle ſeine Koſtbarkeiten, es tritt eine allgemeine ſtrafloſe Anarchie ein, Raub und Mord wüthen im Lande. In Widah, Yariba und Benin entſteht bei ſolchen Gelegenheiten ebenfalls eine vollſtän— dige Unordnung, bei welcher Perſon und Eigenthum keine Art von Sicherheit mehr genießen; dieſe dauert indeſſen an dem erſten Orte nur fünf Tage.“ ) Dieſen von vielen Reiſenden mitgetheilten That— ſachen fügt Waitz folgende Bemerkung hin— zu: Das Herkommen hat dieſe Anarchie „auf eine beſtimmte und kurze Zeit be— ſchränkt und es ergiebt ſich daraus vor Allem, daß ſie keineswegs auf einer wirk— lichen Auflöſung aller geſellſchaftlichen Bande beruht, ſondern nur als eine plötzliche Locker— 1) Reichenau, Zeitſchrift für Ethno- logie, S. 178. 2) Waitz, II. S. 151-152. ) Idem II. S. 147. — 2 136 ung derſelben zu betrachten iſt, die trotz der Entfeffelung aller Leidenſchaften noch immer von der Sitte beherrſcht wird und zu keinem wirklichen Verfalle der Geſell— ſchaft führt.“ !) Aus dieſer Bemerkung, wie aus den früher angeführten Thatſachen, erhellt am deutlichſten, daß man dieſer Inſtitution keine Zweckmäßigkeits— gründe unterſchieben kann, denn ſie haben keine und können einen derartigen Grund nicht haben. Es iſt alſo eine Inſtitution, die von einer längſt vergangenen Cultur— ſtufe auf die ſpätere vererbt worden iſt. Sie bildet einen ausgearteten Ueberreſt eines früheren normalen Zuſtandes. Dieſe Inſtitu— tion der jeweiligen Anarchie finden wir auch „in Dahomey, wo der Tod des Herrſchers erſt nach 18 Monaten bekannt gemacht wird, während deren der Thronfolger mit den beiden höchſten Beamten in ſeinem Namen regiert.?) In dieſem Falle kann alſo die Anarchie auch nicht dadurch erklärt werden, daß ſie durch die Wahlagitation zu Gunſten eines neuen Häuptlings, der noch beſtimmt werden müßte, hervorgerufen wird, denn der Nachfolger iſt gleich bei der Hand und im Regieren thätig. Sie erſcheint alſo für die Gegenwart als ein vollſtändig nutzloſes Treiben, von derjenigen Zeit vererbt, wo ſie eben unumgänglich nothwendig war, d. h. in demjenigen Zuſtande, wo die Wählbarkeit der Häuptlinge auch in Da— homey noch gültig war und die Verſchieden— heiten der Anſichten Streitigkeiten der ent— gegengeſetzten Parteien hervorzubringen pfleg— ten. Auch in Loango „tritt wie in Dahomey und einigen anderen Ländern mit dem Tode des Oberhauptes eine allgemeine Anar— chie von mehreren Monaten ein, während deren ſogar die Feldarbeit ganz ruht.“) 9 Waitz, IL S. 147. 2) Idem 1. c. 3) Idem II. S. 153. Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. Livingſtone, der von dem Zuſtande der Anarchie bei den Banpyai berichtet, fügt in ſeinem Berichte die ſie hervorrufende Urſache hinzu. „Herrſcht vor der Wahl Anarchie im Lande, ſo wird ſie doch durch dieſelbe beendigt.“ Von einer ſolchen Anarchie „unter dem Vorwande der Trauer beim Tode eines Mambo (Provinzial-Gou— verneurs) hören wir auch bei den Maro— vis.“ “) Als die Engländer in Auſtralien in Brisbane eine Perſönlichkeit zum Häuptling ernannten, mußte der durch eine „Medaille zum Häuptling Beſtallte . . . ſein Amt bei Rückkehr zu ſeinen Stammesgenoſſen nieder— legen, da unter dieſen unwillige Oppoſition ausbrach, als ſie hörten, durch die Eng— länder einem unter ſich als Selaven übergeben zu ſein.“?) Die Unterordnung wird alſo auf dieſer Culturſtufe als Sklaverei betrachtet, und nur zwingende Gründe ſind im Stande, dieſe Volksanſichten zu ändern. Auf der Oſterinſel war jeder Diſtrikt für ſich „an einen Häuptling-Morai geknüpft und beſtand in vollkommener Gleichheit und Freiheit.“ Ebenſo „zerſplittert unter mehrere Häuptlinge iſt die oberſte Gewalt in Neuſeeland, wo, wie im Kaukaſus, das Land in viele ſelbſtſtändige Theile vertheilt iſt.“ In jedem Thale in Nukahiva „gab es irgend einen Angeſehenen. . .. Sein Wort galt jedoch nicht mehr als das irgend eines anderen. Auch auf Tanna, auf den neuen Hebriden, iſt jedes Dorf . .. unab— hängig und vereinigt ſich nur dann mit den Nachbarn, wenn ihr gemeinſchaftlicher eutzen, etwa ein feindlicher Anfall, es erfordert. Leute von Jahren (?) und bewährter Tapferkeit ſcheinen bei dem ge— meinen Volke in gewiſſem Anſehen zu ſtehen, ) Waitz, II. S. 398. ) Baſtian, Rechtsv. S. 98. eine Rangordnung noch unbekannt zu fein.” !) Von einem entſprechenden Zuſtande der Geſellſchaft bei den Juden, wo die Häupt⸗ lingswürde fehlte, berichtet die bibliſche Chronik. „In jenen Tagen,“ heißt es dort, „war kein König in Israel, ein Jeg— licher that, was recht war in ſeinen Augen.“ ) Diefen Bericht dürfen wir nicht wörtlich nehmen. Jeder that, was ihm recht war, inſofern ſeine Handlungen ſeinen Genoſſen nicht ſchaden konnten. Der Bericht entſpricht alſo der Wirklichkeit in dem Sinne, daß die jüdiſchen Communen der damaligen Zeit einer einzelnen Per- ſönlichkeit nicht untergeordnet waren. Jede Genoſſenſchaft ſtand ſpäter unter einem ge— wählten Oberhaupte.?) „Wenn auch der Wortlaut der heiligen Schrift,“ ſagt Munk, „ſich über dieſen letzten Punkt — Wahl der Häuptlinge — nicht ausſpricht, ſo iſt doch die Thatſache nicht zu beſtreiten.“ “) Es iſt allgemein angenommen und wird überall gelehrt, daß die indiſche Bevölkerung in eine Anzahl von horizontalen Schichten, deren jede eine Kaſte bildet, eingetheilt iſt. Dieſe populär gewordene Anſicht iſt, wie ein genauer Kenner der indiſchen Zuſtände und eine wiſſenſchaftliche Autorität erſten Ranges, Henry Main, behauptet, den wirklichen Zuſtänden in dieſem Lande nicht entſprechend und iſt ein vollkommener Irr— thum (an entire mistake). Es iſt über⸗ haupt zweifelhaft, ob die brahminiſche Theorie der kaſtenmäßigen Aufſchichtung der Gefell- ſchaft je einen praktiſchen Werth im ge— ſchichtlichen Leben dieſes Volkes gehabt habe. Wahrſcheinlich iſt, daß ihr in der neueren Zeit eine viel größere Bedeutung beigelegt ) Klemm, IV. S. 333 u. f. 2) Richter, XXI, 25. ) Könige, VIII, 1. ) Munk, Palestine. Paris. p. 400, Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 5 137 wurde, als ſie in älterer Zeit hatte. Der thatſächliche Zuſtand der indiſchen Bevölker— ung iſt der: daß ſie in eine große Anzahl von ſelbſtſtändigen, unabhängigen, organi— ſirten ſocialen Gruppen, in Communen eingetheilt iſt, deren Mitglieder ſich mit allerlei Erwerbsmitteln befaſſen können. Die indiſchen Communen ſind bis zur Zeit noch ſo eingerichtet, daß ſie „ihr collektives Leben führen können, ohne je in die Lage zu gerathen, auf die Hülfe einer außer der Commune ſtehenden Perſönlichkeit oder Körperſchaft Anſpruch zu machen. Die Häuptlinge — der Vorſtand der Gemein— ſchaften — werden meiſtentheils gewählt. Sie ſind ebenſo Diener der Gemeinſchaften (servant of the community), wie alle übrigen Mitglieder derſelben, die keine öffent- liche Gewalt beſitzen.!) Die Beduinen „ſind in Stämme getheilt, welche ebenſo viele unabhängige Staaten bilden und deren jeder ſein beſonderes Gebiet hat, das eben hinreicht, die Heerden zu ernäh— ren. Jeder Stamm bildet ein oder meh— rere Lager, die das Land allgemach ab— weiden.“ An der Spitze jedes Stammes ſteht ein Schech oder Sheikh.) „Seine Befehle,“ ſagt Burkhardt, „würden mit Verachtung behandelt werden, aber ſeinem Rathe pflegt man zu folgen, wenn er zu— mal für einen in öffentlichen und Privat- Angelegenheiten erfahrenen Mann gilt.“ Wenn der Scheikh „den Erwartungen ſeines Stammes nicht entſpricht,“ fo kann er „feiner Würde entſetzt werden“ und ein Anderer wird an ſeine Stelle gewählt. Er „bezieht kein jährliches Einkommen von ſeinem Stamm oder Lager.“ 3) Nach dem Bericht von Steller ſollen die ) Main, Village- Communities, p. 56, 125, 145, 219. 2) Klemm, IV. S. 185. 3) Burkhardt, S. 93. Klemm, J. c. | Kamtſchadalen in allen Zeiten „Beherrſcher gehabt haben, deren Gewalt ſich jedoch nur auf den Oberbefehl in den Feldzügen erſtreckte, in die Rechtsverhältniſſe durften ſie ſich nicht mengen.“ Wie Radde berichtet, hat bei den Swanen der Einzelne „Nichts zu entſcheiden, die Beſtimmung der Mitglieder einer Ge— noſſenſchaft oder wenigſtens eines Dorfes muß befolgt werden.““ kommen zur Volksverſammlung „die Brüder— ſchaften (Gemeinſchaften) eines Gaues oder Stammes. . . . Alle Streitigkeiten ſtehen unter dem Ausſpruche der Volksverſamm— lung, ſie ſelbſt iſt heilig und unverletzlich, und der Ausſpruch, den ſie gethan, hat allgemeine Gültigkeit.“ ?) Von der Ver— faſſung der Lappen jagt Klemm: „Lapp- ländiſche Könige hat es nie gegeben, eben— ſo wenig findet man anders ge— nannte Machthaber; und hat es deren gegeben, ſo wird auch ihre Gewalt auf— gehört haben, ſobald ihre Thätigkeit vor— über war, die auch nur etwa eine einge— ſchränkte, vorübergehende fein konnte.“ “) Die Hunnen rühmten ſich, daß ſie „alle unter ſich gleich wären, daß ſie weder Herren noch Unfreie kennten.“ ?) Die geſellſchaft— liche Organiſation der älteren Slaven iſt der Organiſation der Hunnen ähnlich, wie Maciejowsky ſagt. Er könnte die Aehnlichkeit noch irgendwo anders finden; mit anderen Worten, bei allen Völkern auf der entſprechenden Stufe des geſchicht— lichen Daſeins, wie wir es geſehen haben und noch weiter ſehen werden. Von den alten Polen ſagt Boguchwala: „Lechi- tae, qui nullum regem seu prin- eipem inter se tanquam fratres et ab 1) Baſtian, N: 5 324. 2) Klemm, IV. S. ) Idem III. S. 65. ) Maciejo Da: ſchichte, I. 1835. S. Bei den Tſcherkeſſen e Nechtsge- | | Kuliſcher, Die politische Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. uno patre ortum habentes.“ 1) In einer ſpäteren Zeit hatten die polniſchen Gemein— ſchaften gewählte Häuptlinge — Könige. Das Verhältniß des Königs zu der ihn wählenden Gemeinſchaft wird folgender— maßen geſchildert: „Accepit autem a po— pulo rei publicae administrandae po— testatem, non ut prineipes qui ex ar- bitrio suo imperaret, sed ut praetor, qui ex aequo et bono imperaret.“ 2) Procopius erzählt von den Slaven und Anten: „Dieſe Völker ... find keinem Einzelnen unterthänig. Von alter Zeit her beherrſchen die Völker ſich ſelbſt und darum hat ſich bei ihnen die Gewohnheit feſtgeſetzt, von Nützlichem und Schädlichem gemeinſchaftlich ſich zu berathen.“?) In der ruſſiſchen Chronik der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts heißt es: „Von alten Zeiten her kamen die Bewohner von Now— gorod, von Smolensk, von Kieff, von Po— lotzkt und den anderen Marken in den Volks— verſammlungen — Wjetſche — zuſammen, um Rath zu pflegen und einen Entſchluß zu faſſen.““) Wenn die Enſtſcheidung Geltung haben ſollte, war eine abſolute Stimmenmehrheit ungenügend, das Votum mußte einſtimmig gefaßt fein.?) Wie Prof. Siergejewitſch meint, wäre ein Votum nach der Stimmenmehrheit nur dann mög— lich, wenn die executive Gewalt ſo viel Macht hätte, ihren Willen auch gegen den Willen der Minderheit durchzuführen. Dies war aber keineswegs der Fall, da die exe— ) Boguchwala bei Sommersberg II. S. 20. Maciejowski, I. S. 82. Anm. 141. ) Maciejowski, I. S. 77, Anm. 117. ) Beſtuſ GN Rd Ruſſiſche e- ſchichte (ru fisch), 1 „ 9 Sieg ew Der Fürſt und die Volksverſammlung (ruſſiſch), S. 19. Siehe auch Bieliajew, 83. 5) ) Beftufcen- Rjum in, Ruſſiſche Ge- ſchichte, I. S. 52 Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. cutive Gewalt dort beim Volke lag.!) So antworten im Jahre 1213 die Bewohner von Perejaslaw auf die Frage des Fürſten Jaroslaw einſtimmig, oder, mit den Worten des Chroniſten, „ſie gaben eine Antwort mit einem Munde.“ ) Die Volksverſammlungen — Wjetſche — der alten Slaven wurden in Tem— peln abgehalten, „wie uns die Chroniſten ausdrücklich von der Inſel Rügen und den baltiſchen Slaven berichten.) einem gewöhnlichen Häuptling, Fürſten, oder Kniazen.“) Noch im 12. Jahrhundert hört man auf einer Volksverſammlung in Nowgorod die Aeußerung, daß die Com— mune das Recht habe, über die Häuptlings— würde nach ihrem Belieben zu verfügen.“) Wie ſie von der Commune gewählt wer— den, ſo können ſie auch von derſelben ab— geſetzt werden. Sie ſind überhaupt voll— kommen dem „Willen“ — der Wolja — der Gemeinſchaft untergeordnet, und nur mit dieſer Bedingung können ſie ihren Poſten behalten. Dies iſt der Fall nicht das freicommunale Leben auch in ſpäteren Zeiten, noch bis zur Zerſtörung ihrer Un- abhängigkeit durch die Fürſten von Moskau auch in den ſüdöſtlichen Gegenden Ruß— lands. Die Hauptbedeutung des Fürſten in den älteren ruſſiſchen Communen iſt die Heerführung. Zu dieſem Zweck nur finden 15) F a. a. O. S. 53. ) Idem S. 54. >) Maciejowsky, I. S. 208. ) Koſtomarow, Die ruſſiſche Geſchichte in Sehensbefchteibungen (ruſſiſch). Petersburg 1873 74. J. 40. 9 Chronif 115 Nowgorod, I. S. 37. Siergejewitſch, au und Volksverſamm⸗ lung ꝛc., S. 364. Koſtomarow, Die Re⸗ publifen Babe ige (ruſſiſch). Petersburg 1863. 1. S. 108 Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. S. 331, auch S bellum.“ ) nur in Nowgorod und Pskow, wo ſich, der gleich. im 15. Jahrhundert, erhalten hat, ſondern 139 die Communen die Häuptlingswürde noth- wendig.!) Noch zu Tacitus Zeit war die Häupt⸗ lingswürde, die königliche Macht, bei vielen germaniſchen Völkern eine unbekannte Er- ſcheinung. Ihr Daſein war eine Aus- nahme, keine Regel. Unzweifelhaft blieb dieſe Erſcheinung auch ſpäterhin unbekannt bei einem großen Theil der germaniſchen Völker bis zur vollkommenen Zerſtörung Jede Commune — jedes Udiel — ſtand unter ihrer Unabhängigkeit.?) Eine alte Chronik erzählt von den Dithmarſchen, ganz analog mit dem, was wir von den Juden wiſſen, daß ſie keine Herren und kein Haupt haben und daher thun, was ſie wollen: „De Dithmarſchen leven ſunder Heren und Ho— vedt, und dohn, wadt je willen.“ ?) Die Häuptlingswürde wurde auch bei den ger— maniſchen Völkern durch Krieg und für den Krieg hervorgerufen. Von den Sachſen erzählt Witekind von Corvei: „Si autem universale bellum ingruerit, sorte eligitur, cui omnes obedire opor- tuerit ad administrandum imminens Die Häuptlinge wurden alſo nur auf Kriegszeit gewählt. Nach Beendigung des Krieges wurden die Mit- glieder der Genoſſenſchaft wieder alle einan— Dies berichtet von den Sachſen ausdrücklich Beda: „Peracto autem bello, rursum aequalis potentiae omnes fiunt.“ ?) Ebenſo berichtet Caeſar, daß die deutſchen Communen erſt im Falle eines Krieges einen Häuptling wählten.“) Die— 1) Koſtomarow, Die Republiken Nord- rußlands, I. S. 150, 151. 0 Freeman, Comparative London 1873. p. 164165. 3) Maurer, Einleitung in die Mark-, Hof⸗, ai: und Stadtverfaſſung. une 1854. 291-292. Freeman, ib. S. 4 05 ie Met e S. 229. 5) Freeman, ibid. S. 6) De Bello Gallico, VI. 25 Maurer . 140, Polities, 19 A Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 140 jenige Anſicht alſo, die dem Häuptling bei den Germanen richterliche Gewalt urſprüng— lich zuſchreibt, muß als eine verfehlte be— trachtet werden. „Wie das Heer,“ ſagt Waitz, „nur das im Kriege befindliche Volk darſtellt, ſo ſind auch alle militäriſchen Verhältniſſe nirgend von den übri— gen Zuſtänden des Lebens zu trennen; immer befinden ſich kriegeriſche und richterliche Gewalt in einer Hand; wie das Volk Heer iſt, die Verſammlung des Volkes Gericht, ſo iſt der Richter auch der Heerführer.“ 1) Wir haben aus den That— ſachen, die wir bisher angeführt haben, ge— ſehen, daß gerade das Gegentheil von dem, was Waitz an dieſer Stelle behauptet, überall die Wahrheit iſt, — daß nämlich die militäriſchen Verhältniſſe mit dem ge— wöhnlichen Gang der Dinge in der pri— mitiven Geſellſchaft nichts gemein haben, daß auch der Heerführer mit der Gerech— tigkeitspflege in Friedenszeiten nichts zu thun hat. Es iſt ein außerordentlicher Zuſtand, der die Creirung eines „Herrſchers auf Zeit“ hervorruft; im ordentlichen, ge— wöhnlichen Zuftand wird die Thätigkeit des Häuptlings von der Gemeinſchaft nicht in Anſpruch genommen. Allerdings bleibt auf einer ſpäteren Stufe die Häuptlingswürde eine permanente. Das Produkt des Krieges bürgert ſich in der friedlichen Geſellſchaft ein. Was durch den Krieg gefüet wird, erntet man überall in Friedenszeiten. Die Frucht mag für die Geſellſchaft ſchlecht oder gut ſein, immer wurzelt ſie ſich in den Boden ein und treibt Blätter und Blüthen. Der kleine Samen der zeitweiligen Häupt— lingswürde verwandelt ſich im Laufe der Zeit in den großartigen Baum des König— thums, welches mit der Gewalt des Heer— ) Waitz, Deutſche Verfaſſungsgeſchichte, J. S. 36. Freeman, S. 459. | führers auch die Gewalt des Richters ver⸗ einigt. Aber dieſe Vereinigung kommt erſt in ſpäteren Zeiten zu Stande. Urſprüng— lich weiß man nichts von einer einzelnen Perſönlichkeit, die ſich das Recht anmaßen ſollte, ein anderes Mitglied der Gemein— ſchaft zur Rechenſchaft zu ziehen und über ihn ein Urtheil auszuſprechen. Das kann und darf nur die Gemeinſchaft thun und Niemand außer ihr. Wir können alſo zu— ſammen mit Waitz ſagen: Die Volks- verſammlung bildet das Gericht, aber eben nur ſie allein, — das bewaffnete Volk bildet das primitive Heer; !) aber der Heer— führer, müſſen wir im Widerſpruch mit Waitz hinzufügen, iſt kein Richter, we— nigſtens nicht in älterer Zeit. Nirgends finden wir eine Ausnahme von der von uns aufgeſtellten Regel, und eine ſolche Ausnahme können wir auch bei den Ger— manen nicht vorausſetzen, obwohl auch manche Berichte, wie der unten citirte des Tacitus, unſerer Annahme in Manchem widerſprechen. Dort und dann, wo und wann die Häuptlingswürde, die Könige, Grafen, Herzoge, bei den Germanen auf— gekommen ſind, waren ſie gewählte Herrſcher auf Zeit. „Eliguntur,“ heißt es bei Tacitus, in iisdem coneiliis et prinei- pes, qui jura (?) per pagos vicosque reddunt. 2) Von der Wählbarkeit der Häuptlinge bei germaniſchen Völkerſchaften berichtet auch Dithmar, ein Annaliſt des 10. Jahrhunderts. „Bajuarios,“ heißt es bei ihm, „ab initio ducem eligendi liberam habere potestatem.“ 83) Derſelbe berichtet auch, daß Eckard zum Herzog von Thüringen gemacht wurde „totius populi consensu“. Bei den Dänen war noch ) S. auch Freeman, Comp. Pol. S. 197. 2) Tacitus, Germ. 12, 3) Hallam, ibid. S. 74. Anm. I. | \ a Tl. u re zu König Knut's Zeiten „die höchſte Staatsgewalt beim Volke und dieſes Volk ſtellte ſich in einem einzigen Stande, dem Stande des angeſeſſenen freien Bauern, dar.) Die Wahl der Häuptlinge bei den Ger— manen „geſchah in allgemeiner Volksver— ſammlung, welche in Deutſchland gern an gewiſſe Orte gebunden war; im weſtgothi— ſchen Reich an dem Orte, wo der König geſtorben war, meiſtens in der Hauptſtadt Toledo.“ ?) Die Macht dieſer Häuptlinge war ungemein beſchränkt. Die Entſcheid— ung in allen wichtigen Fragen hing von der Verſammlung der Communalmitglieder ab.“) Dies bemerkt auch Tacitus: „Nee regibus,“ jagt er, „infinita ac libera potestas.“ ) Die Volksverſammlung ver— gab dieſe Würde und konnte fie auch ab— nehmen.?) Das Verhalten der deutſchen Communen, der Marken, zu ihren gewähl— ten Herren, — Grafen, Oberſten, Mär— kern, Vogten, — wird im Bibrauer Weiß— thum auf folgende Art dargeſtellt: „Die Wile das er den Merkern recht und ebin die Zeit Kaiſer Karls um das Jahr 790 tut, ſo han ſie ihn lieb und wert, — dede (thäte) er aber den Merkern nit recht und ebin, ſie mochtin einen andern ſetzen.“ Die Selbſtherrlichkeit, die Unabhängigkeit der Marken, wird noch in ſpäterer Zeit in manchen Rechtsquellen ausdrücklich hervor— gehoben. So heißt es im Bibrauer Weiß— 1) Dahlmann, Geſchichte von 186 mark 0840 — 1843). Hamburg. I. S. 166 1 Deutſche le re 9 1844. I. S 15 Welcker, „Adel“, © 9 Grimm, Rechtsalterth. S. 232. — Welcker, in dem Staatslexikon von Rotteck und Welcker. I. (3. Aufl.) unter „Adel“ S. 208. Hallam, Middle Age, I. S. 70. ) Germ. c. 7. 5) Freeman, Comp. Pol. S. 164. Kuliſcher, Die politische Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 9. in dem Vertrag von 141 thum: „Wir weiſen auf unſern Eid Biger Mark, Walt, Waſſer,“ und Weide, als wite (weit) als ſie begriffen hat, den Märkern zu rechtlichem Eigen und hat die von Nie— mand zu Lehen weder von Könige, oder von Kaiſer, noch von Burgen, oder von Städten, dan ſie ihr recht eigen iſt.“ Merkwürdig iſt es, daß wir in deutſchen Ländern in ſpäteren Zeiten einem geſetzlichen Zuſtand der Anarchie, wie wir ihn bei den afrikaniſchen Völkern gefunden haben, be— gegnen. Die Anarchie wird als geſetz— mäßige Ordnung während der Wahl eines neuen Herzogs in Kärnthen anerkannt. „Als lange der Fürſt auf dem Stuhle ſitzt, haben die Gradnecker von Alters her das, ſo viel Heu für ſich zu mähen, als ſie können, es ſei denn, daß es von ihnen gelöſet werde, die Räuber haben Freiheit zu plündern und die Portendörfer zu brennen im Lande, wo ſie nur wollen, wer ſich anders mit ihnen darob nicht ver— trägt.“ Der Urſprung dieſer Sitte wird von dem Predigermönch von Leoben „in unter Herzog Ingo, der ſich zum Chriſten— thum bekehren ließ“, geſetzt. “) Anklänge an die Anarchie, die während eines Interregnums ſtattfindet, finden wir übrigens auch noch an anderen Orten im Mittelalter. „Si aliquid unieuique per interregna sine culpa sublatum est, audientia habeta restauretur,“ heißt es Andely (Foedus Andeliacum) vom Jahre 587.2) ) Grimm, S. 503, 502, 254. 2) Hallam, Middle Age, I. Anm. 3. S. 80. RER e Die neueren Arbeiten über die phyfikalifche und chemiſche Natur der Sonne. n einem vor ungefähr zweihundert Jahren erſchienenen Werke des Jeſuiten— Paters Kircher befindet ſich ein von dem Pater Secchi reproducir— tes Bild der Sonne, welches dieſelbe rings mit kleinen Flämmchen dicht beſetzt zeigt. In vieler Beziehung entſprechende Bilder ſind neuerdings auf dem Wege der Photo— graphie von dem franzöſiſchen Aſtronomen J. Janſſen in Meudon erhalten worden. Von dem Gedanken ausgehend, daß eine in ſo kurzer Zeit aufgenommene Photo— graphie, damit auch für die hellſten Theile feine Ueberexponirung ſtattfinden konnte, die Details deutlicher zeigen müſſe, als ſie das Auge je erblicken kann, begann Janſſen im vergangenen Jahre Sonnenbilder photo— graphiſch zu erzeugen, indem er die Expo— ſitionszeit bis auf 3000 Sekunde vermin— derte. Die erhaltenen Platten wurden dann bedeutend vergrößert und ließen nun Eigen— thümlichkeiten erkennen, über welche Janſſen wiederholt an die Pariſer Academie der Wiſſenſchaften berichtet hat.“) Die Photo- graphien zeigen die Sonnenoberfläche mit ) Comptes rendus T. 85. p. 1249. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. einer allgemeinen Granulirung bedeckt, deren Elemente indeſſen nicht jene allgemeine Zungen- oder Weidenblätter-Form zeigten, wie das Kirche r'ſche Bild. Jene Formen kommen allerdings ebenfalls unter den Gra— | nulationen vor, aber im Ganzen ſeltener, während die Grundform der Körnung rund— lich, wenn auch ſehr veränderlich iſt. Offen— bar geben ſie ſich als die Folgen lebhafter Proceſſe in der Sonnen-Photoſphäre zu erkennen, die vielleicht in zahlloſen Gas— ſtrömungen beſtehen könnten, welche an die Oberfläche treten und dort kleine Wölkchen erzeugen, denn in der Granulation ſind die hellen Körnchen in der Minderheit. Auch bietet die Anordnung der Körnchen gewiſſe Regelmäßigkeiten dar, durch welche die Ober— fläche der Sonne wie mit einem polygonen Netze überzogen erſcheint, was auf eine Theilung der Sonnenoberfläche in Gebiete größerer und geringerer Thätigkeit hindeutet. S. P. Langley, der ein ſehr ſchönes Glaspoſitiv dieſer Aufnahmen erhalten hatte, bemerkte indeſſen,) daß die vorwiegend rundliche Erſcheinung der Körner doch am Ende nur daher rühren möchte, daß ſie aus der Vogelperſpektive aufgenommen ſeien: „Wir können“, ſagt er, „die Photoſphäre einem Kornfelde vergleichen, von welchem 9 Americ. Journ. of Science April 1878 p. 297. wir aus der Vogelſchau, wenn es in Ruhe iſt, nur die abgerundeten Spitzen der Aehren ſehen. Wenn aber Windſtöße über die Oberfläche dahingehen und hier und da die Spitzen beugen, ſo zeigt ſich mehr von der Geſtalt des Halmes. Dies iſt, wie mir ſcheint, die paſſendſte Erklärung der ver— längerten Geſtalt der Granulationen, welche in ſo intereſſanter Weiſe die Janſ ſen'ſchen Photographien dort zeigen, wo die Wirk— ung der Sonnenſtrömungen von theilweiſer Verdunkelung angezeigt und begleitet wird. Drückt ein Wirbelwind das Getreide nieder, ſo zeigt er die Halme überall der Länge nach exponirt, wie die Fäden der dunk— leren Flecke.“ Auf einer anderen Platte dieſer Auf- nahmen bemerkte W. Huggins wiederholt die Tendenz der Körnung, ſich zu einer Spirale anzuordnen, und dabei eine mehr oder minder große Abnahme der Deutlich— keit in den Umriſſen der einzelnen Kör— ner, ein Ausſehen, welches wirbelwindartige Störungen in den betreffenden Regionen der Sonnen-Atmoſphäre verräth. Da er jhon früher ähnliche Spiralbildungen auf der gekörnten Sonnenoberfläche direkt be— obachtet hatte, ſo fielen ſie ihm in den photographiſchen Sonnenbildern deſto leichter ins Auge.“) Im Allgemeinen ähnliche Folgerungen leitet L. Reſpighi aus ſeinen vieljährigen ſpektroſcopiſchen Beobachtungen der Sonne ab. Dieſelben zeigten Erſcheinungen, die man kaum anders deuten kann, als daß fortwährend Blaſen glühender Dämpfe vom Innern der Sonne aufſteigen und die Ober— fläche durchbrechen, ſo daß dieſe in eine be— ſtändig ſiedende und wallende Bewegung geräth. Die ſpektroſcopiſchen Bilder der ) Monthly Notices of the R. Astronom. Soc. Bd. 38. p. 101. 1878. | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. : 143 Chromoſphäre, beſonders die des Waſſer— ſtoffs, zeigen keine auf der Photoſphäre gleichmäßig aufgelagerte Gasſchicht, ſondern einen Wald oder ein Staket kleiner Strahlen, die bald mehr oder weniger deutlich und glän— zend, von wechſelnder Höhe und Dicke ſind, bald zu Gruppen oder Bündeln von größerer Höhe ſich vereinigen und ſenkrecht gerichtet oder geneigt ſind. Von Zeit zu Zeit wird dieſe Einförmigkeit an einigen Stellen durch Strahlen von rieſenhafter Dicke und Höhe unterbrochen, oder durch in großer Aus— dehnung zerſtreute Gasmaſſen, welche ganz eigenthümliche Verzweigungen und ſehr ſchnelle Geſtaltveränderung zeigen. So zeigt ſich in der Chromoſphäre ein beſtändiges Wallen, welches hervorgebracht wird durch rings her— vorbrechende glühende Gaſe und Dämpfe, und man kann annehmen, daß durch dieſen Proceß die gleichmäßige Wärme und Leuchtfähig— keit der äußeren Schichten unterhalten wird. Die größeren Eruptionen glühender Gas— maſſen, die man am Sonnenrande als Protuberanzen bezeichnet und zum Theil mit den Fackeln identificirt hat, aber anderer- ſeits auch als die Urſachen der Sonnen— flecken anſieht, zeigen bekanntlich eine Perio— dicität, die mit dem Erdmagnetismus und andern irdiſchen Vorgängen in einem zwei— fellofen Zuſammenhange ſteht. Auf die Periode des Flecken- und Protuberanzen⸗ Maximums der Jahre 1869 — 71 iſt ein noch immer andauerndes und bei der letzten Sonnenfinſterniß (29. Inli c.) ſehr auf— fallendes Minimum gefolgt, ſo daß die Erſcheinung in dieſer Richtung bei Weitem nicht fo intereſſant war, als bei den Finſter— niſſen der erwähnten Maximal-Periode. Unter den Aſtronomen herrſcht ziemlich allgemein | | die Meinung, daß die größere Häufigkeit der Flecken und Fackeln ein Beweis ſei für eine ſtärkere Thätigkeit an der Sonnen— 144 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. oberfläche. Allein Reſpighi findet, daß ſie auch ſehr wohl von einer ungleich— mäßigeren Vertheilung der Proceſſe bedingt ſein könnte, wenn nämlich dieſe nur an einzelnen Stellen der Sonnenoberfläche ge— ſteigert, an andern aber dafür vermindert aufträten. In der That zeigte ſich die Chromoſphäre in der Epoche des Flecken— Maximums von 1870 — 71 gewöhnlich von vielen und rieſigen Protuberanzen beſetzt und häufigen, bedeutenden Eruptionen unter— worfen, namentlich in der Gegend der Flecke, von Zeit zu Zeit war ſie auch auf weiten Gebieten von kleinen und leb— haften Strahlen beſetzt, aber dafür waren andere Theile ruhiger und weniger lebhaft. Gegenwärtig zur Zeit des Fleden-Mint- mums zeigt ſich die Chromoſphäre fat ganz frei von Protuberanzen, großen Strah— len oder Eruptionen, aber in ihrer ganzen Ausdehnung iſt ſie reicher an kleinen Strah— len, als in der Maximum-Epoche, ſo daß der Durchſchnitts-Grad der eruptiven Thätig— keit in beiden Epochen nahezu derſelbe oder doch nur wenig verſchieden ſein dürfte. Aus allen dieſen Verhältniſſen ſchloß Reſpighi bereits im Jahre 1870, daß man ſich die in ihrer Form ſehr regel— mäßige Sonnenoberfläche als aus einer Schicht beſtehend denken müſſe, die der freien Ausdehnung der im Sonnen -Innern ſich entwickelnden glühenden Gaſe und Dämpfe einen gewiſſen Widerſtand bietet und ſie zwingt, ſich gewaltſam in Form kleinerer Blaſen oder größerer Eruptionen den Durch— gang zu verſchaffen. Der Zuſtand einer glühenden Flüſſigkeit, die ſich durch Abkühl— ung der glühenden Dämpfe bildet, ſchien ihm für dieſes Widerſtand leiſtende Me— dium am wahrſcheinlichſten. Die Wider— ſtandsfähigkeit dieſer Flüſſigkeit kann nun durch verſchiedene Urſachen verändert und für die einzelen Regionen der Sonnen— oberfläche ungleich gemacht werden. Schon die Rotation der Sonne muß eine ſolche Ungleichheit hervorbringen, und hier zeigte ſich in der That, daß an den Polen ver— hältnißmäßig am ſeltenſten größere Erup— tionen vorkommen, häufiger dagegen in den Zonen mittlerer Breite, worauf ſie beim dreißigſten Breitengrade ihr Häufigkeits— maximum erreichen und gegen den Aequator hin wieder abnehmen, obwohl das dort vorhandene Minimum nicht dem der Pole gleichkommt. In den Maximum⸗-Perioden rücken dann die Protuberanzen gegen die Pole vor. Die Urſache der Periodicität ſucht nun Reſpighi weder im Innern der Sonnenmaſſe, noch in den Einwirkungen äußerer Weltkörper, wie der Planeten, ſon— dern er glaubt, daß ſie eine Folge der vor— wiegenden Wärmeausſtrahlung der Ober— fläche ſei, die dadurch allmälig ein Maxi- mum ihrer Conſiſtenz erlange, den kleineren Blaſen ſtellenweiſe den Durchbruch verſage, worauf ſich die innere Kraft der Sonne zu ſtärkeren Durchbrüchen ſteigere, wodurch dann wieder ein Gleichgewicht herbeigeführt werde, da hierdurch die Oberflächenſchicht durch Zufluß heißerer Maſſen wieder dünn— flüſſiger werde. Ein derartiges regelmäßiges Auf- und Abwogen läßt ſich im Allge— meinen wohl denken, nur wird es ſchwer, die große Regelmäßigkeit der Sonnenflecken— Periode damit in einen unmittelbaren und alleinigen Zuſammenhang zu denken, eine Schwierigkeit, welche auch Reſpighi völlig zugiebt ). Gewiſſe Verſchiedenheiten zwiſchen den kleinen Flammen, Fackeln, Protuberanzen und Eruptionen untereinander, namentlich in chemiſcher Beziehung, ſofern die einen Y nRespighi, Atti della Accad. dei Lincei 3. Ser. Vol. I. p. 1271. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. vorwiegend Metalldämpfe, die andern vor— wiegend Waſſerſtoffgas im glühenden Zu— ſtande enthalten, legen die Frage nahe, ob dieſe Verſchiedenheiten nicht auch abhängen könnten von der chemiſchen Ungleichheit der dampfförmigen Hüllen, bis zu denen die Eruptionen emporſteigen. Man nimmt be— kanntlich jetzt allgemein an, daß die Sonne von mehreren Gashüllen umgeben iſt, die von unten angefangen mit den Namen Photoſphäre, umkehrende Schicht, Chromo— ſphäre und Corona bezeichnet werden. Ra— phael Meldola hat kürzlich über die Mit- wirkung dieſer Faktoren eine der Lohſe'- ſchen Hypotheſe n) ähnliche Vermuthung auf- geſtellt, die manche mit dem Spektralapparat beobachtete Eigenthümlichkeiten aufzuklären geeignet ſcheint. Er nimmt zunächſt mit Stoney an, daß ſich in der Sonnen— atmoſphäre die verſchiedenen Elementarſtoffe zu Höhen erheben, die ſich umgekehrt ver— halten, wie ihre Dampfdichten. Darnach müßten die Metalldämpfe die unterſten Schichten bilden, während die Gaſe, Sauer- ſtoff, Stickſtoff und namentlich Waſſerſtoff, ſich durch die Chromoſphäre bis in die Corona und wahrſcheinlich noch weiter hinaus erſtrecken. Mit der Erhebung der Atmo— ſphäre würde aber gleichzeitig die Tempe- ratur abnehmen, ſo daß die Elemente, welche in der Photoſphäre, der umkehrenden Schicht und der Chromoſphäre ſich nicht mit ein- ander verbinden können, dazu in einer be— ſtimmten Höhe im Stande ſein würden. Man würde alſo eine beſondere Höhen— Region vorausſetzen können, in denen Waſſerſtoff, Stickſtoff und andere leichte Elemente ſich mit Sauerſtoff verbinden könnten, und dieſe Region darnach die Ver— brennungsſchicht nennen, über welche hinaus ſich wahrſcheinlich nur eine an Waſſerſtoff ) Kosmos III. S. 352. 145 reiche Hülle ausdehnen würde. Durch dieſe Verbrennungsproceſſe würden unver— bundene Theile jener drei Gaſe ins Glühen gerathen und dadurch erklären, daß Sauer— ſtoff und Stickſtoff als leuchtende Linien im Sonnenſpektrum erſcheinen, wie Draper entdeckt hat,) während dies beim Waſſer— ſtoff für gewöhnlich nicht geſchehen kann, da durch die weiter ausgedehnte Waſſerſtoff— hülle die hellen Linien wieder in dunkle verwandelt werden, was bei den erſteren beiden Gaſen wegen ihrer größeren Schwere und geringeren Verbreitung in der äußerſten Atmoſphäre nicht der Fall iſt. Durch jene Verbrennungen würden dann Maſſen von Waſſerdampf und anderen Verbindungen erzeugt werden, deren Gegenwart Pater Secchi in der Nähe der Sonnenflecke feſt— geſtellt zu haben glaubt. In ganz ähnlicher Weiſe wie Lohſe knüpft Meldola hieran Betrachtungen über die Ent— wickelung der Sonne und Fixſterne, aus denen wir den bemerkenswertheſten Paſſus ausführ- licher folgen laſſen: „Wir müſſen a priori vorausſetzen“, ſagt er, „daß in der Geſchichte jedes Sternes eine Periode vorhanden ſein muß, in der chemiſche Verbindungen ſich zu bilden anfangen können. Eine ſolche Verbindung wird anfangen in den äußeren kühleren Theilen der Sternatmoſphäre und mit einer Wärme-Entwidelung, welche die Energie chemiſcher Trennung darſtellt. In—⸗ dem der Stern ſich (trotz dieſer neuen Wärme⸗Zunahme) allmälig weiter abkühlt, wird die Verbrennungszone, die man ſich wie eine äußere Schale denken muß, allmälig nach den eentralen Theilen vor— dringen, und es wird ein Stern mit per- manent hellen Linien in ſeinem Spektrum entſtehen. In den früheren Abſchnitten der Entwickelungsperiode, die man die chemiſche 9 Kosmos II. S. 261. 146 nennen darf, und in welche die Sonne ein- getreten zu ſein ſcheint, werden die Linien 5 a | der nicht metalliſchen Elemente allein hell erſcheinen, gehen aber bei ihrer relativen | Schwäche und den großen Entfernungen der Sterne zum Theil verloren, ehe ſie unſere Spektroſcope erreichen. Wenn aber die Verbrennungszone genügend vorgedrun— gen iſt, um die metalliſchen Linien aus dunklen in helle zu verwandeln, ſo werden ſie die Linien der Nichtmetalle an Hellig— keit übertreffen, und wir werden ein von | den hellen Linien der Metalle kleinſter Dampf— dichte durchzogenes continuirliches Spektrum erhalten. Solche Sterne können nur unter denjenigen erwartet werden, welche jo zu ſagen in die letzte Phaſe ihrer chemiſchen Periode eingetreten find. Es iſt bezeich— nend, das y Cassiopeiae, p Lyrae und „ Argo, drei Sterne mit hellen Linien, ſämmtlich ein ſo verwickeltes Spektrum zeigen, daß ſie dieſe Anſicht unterſtützen. Vor der wirklichen Umkehrung der Metall— linien muß eine Periode in der Lebensge— ſchichte vieler Sterne vorausgeſetzt werden, in welcher die Temperatur und Ausdehn— ung der Verbrennungszone gerade hinreicht, die dunklen Linien derjenigen Metalle aus— zulöſchen, welche ſchließlich als helle Linien auftreten werden. Dies mag möglicher— weile mit den Waſſerſtofflinien in & Orio- nis jetzt der Fall ſein, und nach der vor— liegenden Hypotheſe kann es vielleicht vor— ausgeſagt werden, daß dieſer Stern früher oder ſpäter permanent helle Waſſerſtofflinien darbieten wird.“ Meldola macht noch darauf aufmerkſam, daß man dieſe perio— diſche Aufbeſſerung der Temperaturverhält— niſſe ſich abkühlender Geſtirne durch chemiſche Thätigkeit bei Altersberechnungen in Betracht ziehen müſſe, und daß dieſe Auffaſſung auch auf das Problem einiger veränderlicher Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Sterne und namentlich der plötzlich auf— lodernden Sterne angewendet werden könne.“) Die Unterſuchung der Linien im ultra— violetten Theile des Sonnen-Spektrums, deſſen Ausdehnung ſich nach der Höhe der Sonne richtet und zwiſchen elf Uhr und ein Uhr dreißig Minuten am größeſten iſt, ſowie Betrachtungen über die relative In— tenſität der dunklen Linien haben A. Cornu zu dem auch früher bereits vermutheten Schluſſe geführt, daß in dieſer Intenfitäts- ſtärte ein Mittel zur quantitativen Schätz— ung der Beſtandtheile gegeben ſei, welche in den abſorbirenden Schichten der Sonnen— hülle enthalten find. Nach dieſer Anſchau— ungsweiſe ergäbe ſich dann, daß der Eiſen— dampf, dem bei Weitem die meiſten und dunkelſten Linien des gewöhnlichen wie des ultravioletten Spektrums entſprechen, auch am weitaus reichlichſten daſelbſt vorhanden ſei. An die zweite Stelle kämen Nickel und Magneſium, dann Calcium, Alumi— nium, Natrium, Waſſerſtoff, endlich Man— gan, Cobalt, Titan, Chrom und Zinn. Prüft man dieſe nach der Menge ihres Vorkommens an der Sonnenoberfläche ge— ordnete Reihe von Elementen, in welcher Eiſen, Nickel und Magneſium die Haupt⸗ rolle ſpielen, ſo wird man überraſcht von der Analogie dieſer Zuſammenſetzung mit derjenigen der Meteoriten, deren größter Theil aus Eiſen mit Yo Nickel verbunden beſteht. In dem Meteoreiſen kommt dieſe Legirung faſt rein vor, in den Meteor— ſteinen erſcheint das Nickeleiſen mit Mag— neſia-Silikaten verſchiedener Zuſammenſetz— ung gemiſcht. Das auf den ultravioletten Theil ausgedehnte Studium des Spektrums führt ſomit zu dem Schluſſe, daß die Lage und relative Helligkeit der dunklen Linien des Sonnenſpektrums durch das abſorbirende *) Philosophical Magazine July 1878. Vermögen einer Schicht hervorgebracht wird, deren quantitative Zuſammenſetzung der— jenigen der verflüchtigten Aörolithen analog wäre. Dieſes Ergebniß iſt ſehr intereſſant, da bekanntlich von mehreren Seiten die Asrolithen des Weltraums wie eine Speiſe betrachtet worden ſind, durch welche das Sonnenfeuer beſtändig genährt werde.“) Zu dieſen Vermuthungen über die chemiſche Conſtitution der Sonne kommt der in neueſter Zeit von J. N. Lockyer geführte Nachweis, daß in der Corona über der Chromoſphäre, alſo in einem Gebiete nie— drigerer Temperatur Kohlenſtoff vorhanden iſt, eine Thatſache, die von dem Entdecker ſchon vor vier Jahren vermuthet wurde, aber erſt durch genaue Feſtſtellung der Kohlenſtoffſtreifen im Spektrum zu einiger Sicherheit erhoben werden konnte. Dadurch wird der früher von Lockyer ausgeſprochene Gedanke, daß die äußere Atmoſphäre der Sonne (und möglicherweiſe die Zuſammen— ſetzung der aus den äußeren Theilen hervor— gegangenen äußeren Planeten) mehr nicht- metalliſch als metalliſch ſein möchte, einiger— maßen geſtützt.“ “) Zum Schluſſe haben wir noch zu er— wähnen, daß die letzte Sonnenfinſterniß allem Anſcheine nach die alte Frage nach der Zuſammengehörigkeit des Zodiakal-Lichtes mit der Sonne zur Entſcheidung gebracht hat. Profeſſor Newcomb ſah die Corona flügelartig in der Richtung der Ekliptik ſich ausbreiten zu beiden Seiten der verdunkelten Sonne bis auf ſechs Grad jederſeits. S. P. Langley ſchätzte dieſe „Flügel der Sonnenſcheibe“, die möglicherweiſe zu der Darſtellung der geflügelten Sonnenſcheibe der Egypter die erſte Veranlaſſung gegeben ) Comptes rendus T. 86 p. 101 und 315. **) Proceedings of the Royal Society Vol. 27 p. 308. Kosmos, II. Ja hrg. Heft 8. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 147 haben könnten, und die er ebenfalls auf das Thierkreislicht bezieht, auf zwölf Sonnen— durchmeſſer, und ebenſoweit ſah ſie Profeſſor Cleveland Abbe, der die Sonne von Pike's Peak aus einer Höhe von 14000 Fuß beobachtete, ausgedehnt. Er glaubt dieſe Schwingen eher auf einen Meteorring beziehen zu ſollen, was der anderen Auf- faſſung im Uebrigen nicht widerſpricht.“) Leuchtendes Fleifd). In der Mittheilung des Herrn Dr. Nüeſch über „leuchtende Bakterien“, von welchen der „Kosmos“ (Bd. III. S. 246) einen Bericht bringt, glaubt Erſterer, daß aus älterer Zeit nur eine Beobachtung über leuchtendes Fleiſch vorliege, welche Fab ri— cius ab Aquapendente überliefert hat. Ich finde nun noch einige ältere Notizen hierüber, die ich Prieſtley's „Geſchichte der Optik“ (überſ. von Klügel) entnehme und welche fo genau mit Nüeſch's Be obachtungen übereinſtimmen, daß ſie hier wohl eine Stelle finden dürfen. Bartholinus erzählt in feiner Schrift De luce animalium: „Eine alte arme Frau zu Montpellier hatte 1641 ein Stück Fleiſch auf dem Markte gekauft, welches ſie den folgenden Tag kochen wollte. Sie hatte es in ihrer Schlafkammer aufgehängt und ſah, da ſie eben in der Nacht nicht ſchlafen konnte, einen ſolchen Glanz an dem Fleiſche, daß die Stelle, wo es hing, ganz hell davon ward. Ein Stück dieſes leuchtenden Fleiſches wurde dem Gouverneur der Stadt, Hein— rich von Bourbon, Herzog von Conde überbracht, der es einige Stunden lang mit größtem Erſtaunen betrachtete. Das Licht dieſes Fleiſches ſchien weißlich und war nicht . Nature N. 459 und 460. 1878. . 148 über die ganze Fläche deſſelben verbreitet, ſondern nur an gewiſſen Stellen ſichtbar, als wenn eine Anzahl Diamanten von un— gleichem Glanze darüber verſtreut geweſen wäre. Man bewahrte das Fleiſch auf, bis es faul zu werden anfing, worauf das Licht verſchwand, welches, wie ſich einige andächtige Leute einbildeten, in der Geſtalt eines Kreuzes geſchah.“ Auch Nüeſch bemerkte, daß beim Eintritt der Fäulniß das Leuchten aufhörte. Ferner machte Boyle einige Beobacht— ungen über leuchtende Fiſche und leuchtendes Fleiſch und fand, daß zwar Waſſer das Licht einiger Stücke leuchtenden Kalbfleiſches nicht ſogleich auslöſchte, was aber Weingeiſt im Augenblick that. Dieſer Wirkung des Wein— geiſtes erwähnt Nüeſch gleichfalls. „Es war zufälliger Weiſe, daß Boyle am Speiſefleiſche ein Leuchten beobachtete. Den 15. Februar 1672 ward einer von ſeinen Bedienten durch ein leuchtendes Stück Kalbfleiſch ſehr in Schrecken geſetzt, — wie Nüeſch's Dienſtmädchen über die leuch— tenden Schweinscoteletten — welches man einige Tage aufgehoben hatte, das aber ohne allen üblen Geruch und ganz eßbar war. Der Bediente hinterbrachte ſeinem Herrn dieſe wunderbare Begebenheit ſogleich, und dieſer, ob er gleich ſchon ſich ſchlafen gelegt hatte, ließ es alſobald vor ſich bringen und betrachtete es mit größter Aufmerkſam— keit. Weil er muthmaßte, es möchte der damalige Zuſtand der Atmoſphäre einigen Antheil an dieſer Erſcheinung haben, ſo führt er bei der Beſchreibung derſelben an, daß der Wind Südweſt und unruhig, die Witterung für die damalige Jahreszeit warm, der Mond über das letzte Viertel, und die Höhe des Queckſilbers im Baro— meter 29/6 Zoll war.“ Dr. S. Kaliſcher. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Rückbildung der Sehorgane bei im Finſtern lebenden Inſekten, Spinnen und Krebſen. Dr. Anton Stecker in Prag hat fürz- lich eine intereſſante Arbeit über die Ver— kümmerung der Augen bei einigen an ver— ſteckten Plätzen lebenden Oberwelt-Spinnen veröffentlicht.?) Um dem Leſer aber ein klareres Bild von den hier obwaltenden Verhältniſſen zu geben, wollen wir in et- was weiterem Umfange, als es der Verfaſſer bereits ſelbſt gethan, einige der zahlreichen Beobachtungen, welche der ausgezeichnetſte Kenner dieſer Verhältniſſe, Dr. Guſtav Jo- ſeph, hierüber früher veröffentlicht hat,“) heranziehen, wodurch Vieles an Verſtänd— lichkeit gewinnen wird. Wir beginnen zu— nächſt mit den neuen Beobachtungen Stecker's. Bei gewiſſen Scorpions- oder Scheerenſpinnen, namentlich der Gattungen Chernes und Chelifer, fand er eine Anzahl von Exemplaren, bei denen die Sehorgane und zwar ebenſowohl die äußern als die innern Theile ſtark verkümmert waren. In den ſyſtematiſchen Werken wird als Charakter der erſteren Gattung völlige Blindheit an— gegeben, und es mußte daher ſehr auffallend erſcheinen, daß nicht wenige Exemplare der in Böhmen häufigen wanzenartigen Scor— pionsmilbe (Chernes eimicoides Str.) dennoch an denjenigen Stellen des Kopfbruſt— ſchildes, wo ſich bei der naheſtehenden Gattung Chelifer die beiden großen zuſammengeſetzten, mit einer einfachen Hornhaut verſehenen Au- ) Morphologiſches Jahrbuch von Carl Gegenbauer. IV. 2. (1878.) ) Die Tropfſteingrotten in Krain und die denſelben eigenthümliche Thierwelt. Berlin, 1875. — Weitere Ausführungen fin- den ſich in dem dreiundfünfzigſten Jahres- bericht der Schleſiſchen Geſellſchaft für vater— ländiſche Cultur (1876) S. 39. gen befinden, mit lichten, etwas durchſchei— nenden Flecken verſehen waren. Die mikro— ſcopiſche Zergliederung ergab deutlich ausge— bildete Sehnerven, Sehganglien und lobi optiei, nur die äußeren Aufnahme-Apparate fehlten; die Nerven endigten blind in einer uhrglasförmigen Vertiefung der Oberhaut— ſchicht, der aber an dieſer Stelle die Ein— lagerung der undurchſichtig machenden Chi— tinkörnchen mangelte. Bei andern Exemplaren fehlten alle die genannten Theile des inneren Sehapparates, und dann waren auch jene Augenflecke mit zahlreichen Chitin-Einlager— ungen erfüllt. Somit ließ ſich hier die Rückbildung des Sehorgans, wie ſie bei im Dunklen lebenden Inſekten jo häufig vor— kömmt, auf mannigfachen Stufen beob— achten. Die Zahl der mit lichten, durchſichtigen Augenflecken verſehenen Individuen betraf auf je hundert 30—35 Exemplare, jo daß der Verluſt des Sehvermögens noch nicht alt zu ſein ſcheint. Für das Vorhandenſein vollkommener Sehorgane in irgend einer früheren Zeitperiode ſpricht der Vergleich mit den wohlausgebildeten Augen der ver— wandten Gattungen Cheiridium, Chelifer und beſonders der ſehr naheſtehenden von Stecker entdeckten Gattung Eetoceras, die mit zwei großen Augen verſehen iſt. Der Verluſt des Sehvermögens erſcheint bei Chernes allmälig durch den beſtändigen Aufenthalt in dunklen Räumen hervorgerufen, d. h. durch den bei langen Generationen hintereinander ſtattgehabten Nichtgebrauch. Der Befund deutet hierbei darauf hin, daß zunächſt das äußere Auge unter Vermin— derung ſeines Umfanges ſich zurückgebildet hat, während die innern Organe eben noch fungirten, ſo lange die lichten Stellen irgend einen Lichtreiz einließen. i Die von Dr. Guſt. Joſeph an Grotten— thieren angeſtellten Beobachtungen hatten Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 149 bereits früher die intereſſante Thatſache er— geben, daß dieſe Organe zuweilen in der embryonalen Entwickelung noch vollkommen ausgebildet auftreten. Am lehrreichſten für dieſen Vorgang iſt die in unterirdiſchen Ge— wäſſern lebende blinde Grotten-Garneele Troglocaris Schmidtii D.). Dieſes Thier gleicht nämlich ſeinen oberweltlichen ſehenden Verwandten (Cariden) auch in Bezug auf die äußere Form der Augäpfel. Aber die Hornhaut an denſelben iſt undurchſichtig und im Innern findet ſich keine Spur eines lichtbrechenden Mediums, ſondern nur fett— reiches Bindegewebe. Und ſtatt des Seh— nerven zieht ſich von dem obern Schlund— nervenknoten ein bindegewebiger Strang bis in den Augenſtiel und durch dieſen hindurch bis in den Augapfel. „Die Erſcheinung eines Sinnesorgans in äußerer Form ohne innern Gehalt, ohne Ausſtattung mit der Möglichkeit einer Ausübung der Sinnes— funktion würde vollkommen widerſinnig fein,“ ſetzt Dr. Joſeph ſehr richtig hinzu, „wenn wir nicht annehmen wollten, daß die Vor— fahren dieſes Thieres mit normal conftru- irten und normal thätigen Augäpfeln aus⸗ geſtattet geweſen ſeien. Zu dieſer Annahme drängt auch meine Entdeckung, daß der Embryo des in Rede ſtehenden Thieres noch kurze Zeit vor dem Ausſchlüpfen aus dem Ei Augäpfel beſitzt, mit lichtbrechenden Medien ausgeſtattet und mit einem normalen Sehnerven verbunden. Die heutige Ent- wickelungsgeſchichte jedes Individuums dieſes Thieres wiederholt alſo in Kürze auffallend treu das Schickſal der Art in der Vorzeit.“ Bei einer andern blinden Krebsart (Ny- phargus stygius) glaubte Dr. Joſeph ebenfalls ein ſchrittweiſes Zurückſchreiten der Sehwerkzeuge wahrzunehmen, in dem Maße, wie das Thier in immer tiefere und finſterere Theile der Grotte vorgedrungen war. Er 150 fand nämlich in einem Waſſerbaſſin des vordern halbdunklen Raumes einer Grotte eine Gruppe Individuen mit deutlichen Hornhautfacetten, Kryſtallkegeln, Sehſtäben und nervöſen Elementen, die aber in geringer Zahl vorhanden und mit dürftiger Pigment- lage verſehen waren, während bei andern Individuen die Augen auf den Zuſtand von einfachen Spinnenaugen reducirt er— ſchienen. In ähnlicher Weiſe verkümmert erſcheinen die verkleinerten Augen mehrerer in der Dämmerung lebender Käfergattungen (J. B. Trechus, Bythinus), da fie nur aus 50 — 20 Hornhautfacetten, Kryſtall— kegeln und Sehſtäben zuſammengeſetzt er— wandten oberweltlichen Gattungen zu Hun— Noch weiter erſcheint die Reduktion bei ei— nigen Arten von Tauſendfüßlern und Aſſeln fortgeſchritten, deren Augen auf einfache Spinnenaugen zurückgegangen ſind, während ihre oberweltlichen Verwandten mit zuſammen— geſetzten Augen verſehen ſind. Auch ſchon bei oberirdiſchen Thieren tritt dieſe Reduktion ein, wenn die Thiere vorwiegend im Dunk— len z. B. unter Baumrinden, Flechten und Moos leben. So fand A. Steckel Ex— emplare von Chelifer ixoides Hahn, die ſehr zurückgebildet waren, während dieſe Art ſonſt mit ausgebildeten Augen verſehen iſt. Eines der merkwürdigſten Vorkommen fand derſelbe Naturforſcher bei einem Exemplare der Eingangs erwähnten Chernes eimicoides, die ein einziges wahres, wenn auch ſehr kleines Cyklopenauge vorn an der Mittel— linie des Kopfbruſtſtücks trug. Ehe dieſe Reduktion zum vollſtändigen Verluſte führt, erſcheint bei einigen Spinnen, Springſchwänzen und Waſſerflöhen noch eine Art Anlauf zur anderweiten Correktur des ſcheinen, während dieſe Gebilde bei den ver- derten und Tauſenden in jedem Auge zählen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. und Verküm merung der Augen ſoll durch Vervielfältigung derſelben ausgeglichen werden. Zwei von Dr. Joſeph entdeckte Spinnen (Nyetyphantes und Troglyphantes) zeigen ſechzehn und mehr Augen, die äußerſt klein und nur bei auffallendem Lichte wahrnehmbar ſind. Eine von Schiödte beſchriebene Po— duride ſoll vierundzwanzig ſolcher kaum ſicht— baren Augen beſitzen. Ein anderer Ausweg, den wir namentlich bei Dämmerungs- und Tiefſeethieren antreffen, iſt die ungeheure Vergrößerung des Auges, um das ſpärliche Licht in größeren Maſſen einzulaſſen, ein Fall, der z. B. bei den Urkrebſen oder Tri- lobiten neben dem gänzlichen Verluſt der Augen einherging und alſo merkwürdiger Weiſe an denſelben grenzen kann. Bei einem Flohkrebſe der Tiefſee, welcher während der Challenger-Expedition unweit Gibraltar aus einer Tiefe von 2180 Meter empor— gebracht wurde, bedecken die beiden Augen die Oberfläche des ganzen, verhältnißmäßig großen Kopfes, ſo daß die Augen den vierten bis fünften Theil der geſammten Körper- oberfläche einnehmen. Und bei dieſem, dar- nach Wunderauge (Thaumops pellueida) genannten, Thiere ſtellt ſich der Sehnerv ebenſo reichlich veräſtelt dar, wie wir ſo— gleich von den blinden Scheerenſpinnen Stecker's erfahren werden. Es war bei dieſen zunächſt intereſſant, zu verſuchen, ob das bei den gewöhnlich ganz blinden Thieren verhältnißmäßig häufige Auftreten rudimentärer Augen etwa als ein ataviſtiſches Vorkommen zu deuten ſei, da bei dieſen ſich in oberirdiſchen Schlupf— winkeln aufhaltenden Thieren einmal ein dem Nyphargus ähnlicher Fall nicht an— nehmbar erſcheint, und andrerſeits die aus der nahen Verwandtſchaft ſehender Spinnen geſchloſſene relative Neuheit des Augenver— luſtes ein ſolches Wiedererſcheinen wahr— theilweiſen Lichtmangels. Die Verkleinerung Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſcheinlicher machen könnte. Bei ſeinen über dieſen Punkt fortgeſetzten Beobachtungen und Züchtungsverſuchen fand nun Stecker, daß wenn die Begattung zwiſchen Chernes- Individuen ſtattfindet, welche den lichten Augenfleck beſitzen, die direkten Nachkommen durchgehends daſſelbe Merkmal zeigen, und das Umgekehrte fand bei der Begattung zwiſchen völlig blinden Thieren ſtatt. Es ergiebt ſich daher, daß diejenigen Chernes⸗ Individuen, welche Sehnerv und Augenfleck beſitzen, eine für ſich abgeſchloſſene Gene- ration bilden und anſcheinend kein atavi— ſtiſches Vorkommen darſtellen. Da ſich der urſprüngliche Sehnerv hierbei in allen Vererbungsfällen an den lichten Stellen vielfach veräſtelte, ſo liegt die Vermuthung nahe, daß die Chitinhaut dort ebenfalls andre Funktionen übernommen habe, ſie könnte aber nur zur Perception von Taſt⸗ oder Gehörsempfindungen dienen, da der Verfaſſer die Geruchsorgane bei allen Cherne— liden in kammartig aufgereiheten Büſcheln auf den Kieferfühlern nachgewieſen hat. Dieſe Bemerkung bezieht ſich auf die | merkwürdige Thatſache, daß Dr. Joſeph bei einzelnen Arthropoden, die im Dunklen leben, eine Art Umbildung des Sehorgans in ein Taſtwerkzeug nachgewieſen hat. Als letztes Aufflackern des Strebens, den Ver— luſt des Sehvermögens zu compenſiren, ſagt derſelbe, iſt der Erſatz des Auges durch ein Taſtwerkzeug zu betrachten. Bei zwei Arten von Käfern (Acrophthalmus capilla- tus und Adelops capilliger) welche er in der Grotte God jama unweit der croatiſchen Grenze entdeckte, befindet ſich an der Stelle des Kopfes, wo bei den oberweltlichen ver— wandten Gattungen die Augen ſtehen, ein auf einem zarten Hügelchen befindliches feines Taſthaar. Zu dem eigenthümlich geſtalteten Innern des Hügelchens erſtreckt nommen) 151 ſich ein vom obern Schlundnervenknoten ausgehender feiner Nerv. Statt dieſes Taſthaares beſitzen die Arten einer andern blinden Käfergattung (Amaurops) ein dickeres Taſtſtäbchen, welches einem mit rauher höckeriger Oberfläche verſehenen Tuberkel aufſitzt. Die von dem Verfaſſer entdeckten Arten der Poduriden-Gattung Anurophorus beſitzen an Stelle der Augen ebenfalls Taſt— haare. Endlich hat bei einem der Tief- ſeefauna angehörigen blinden Krebſe die Stelle der fehlenden Augen ein drittes Fühlerpaar eingenommen. „Dieſes Eintreten eines Taſtnerven als Erſatz des Sehnerven,“ fährt Dr. Joſeph fort, „dürfte andeuten, daß der Sehnerv bei niedern Thieren urſprünglich kein eigenartiger ſenſoriſcher Nerv in der ſtrengen Bedeutung iſt, wie er bei Wirbelthieren (Lanzettfiſchchen ausge— erſcheint. Urſprünglich nichts Anderes als ein ſenſibler Nerv, hat er ſich mit gleichzeitig allmäliger Ausbildung eines vom Lichte afficirbaren Endapparates zu einem ſenſoriſchen Nerven umgebildet. Des— halb kann es nicht ſeltſam erſcheinen, daß bei Untergang des Endapparates durch Nicht— gebrauch und bei Schwund des Sehnerven an der Stelle des Körpers, welche durch Vererbung zum Sitze eines Endapparates für einen Sinnesnerv beſtimmt iſt, ein Zweig des Sinnesnerven der allgemeinen Verbreitung, welcher den Taſtſinn und Temperaturſinn vermittelt, mit einem paſſen⸗ den Endapparate Erſatz leiſtet.“ Ueberhaupt ſcheinen ſich alle Glieder der Grottenthiere in Taſtapparate zu verwandeln, ihre Füße ſind viel zarter und ſchlanker als die ihrer im Freien lebenden nächſten Verwandten. Uebrigens wäre, wie Dr. Joſeph hervorhebt, die Anſicht, daß alle die zahl— reichen blinden Grottenthiere ihre Augen - | erſt in Folge des Nichtgebrauchs verloren 152 hätten, nachdem fie durch geologiſche und meteorologiſche Vorgänge oder um der Ver— folgung zu entgehen dort Zuflucht gefunden haben, ſo ſicher ſie für die erwähnten Fälle und unter den Wirbelthieren für die Cäci— lien, Aalmolche und Olme gelten, doch in ſolcher Allgemeinheit nicht wohl haltbar. „Hierbei iſt,“ ſagt er, „vor Allem zu erwäh— nen, daß faſt ſämmtliche Grottenbewohner Thiergruppen angehören, welche auch auf der Oberwelt ſehr verborgen leben und lichtſcheu find. Ferner kommt die Eigen— ſchaft der Augenloſigkeit den Grottenthieren nicht ausſchließlich zu. Abgeſehen von der großen Menge im entwickelten Zuſtande paraſitiſch lebender Weſen, entbehren auch andere oberweltliche Thiere der Augen. So ſind die Larven vieler Gliederthiere blind. nehmbaren Augen und die Sehnerven erſchei— nen nur als kurze Stummel am obern Schlundnervenknoten, neben dem Urſprunge der Fühlernerven. Erſt in dem Zeitraume während der drittletzten und vorletzten Häut— ung haben ſich jene Keime zu eigentlichen Nerven verlängert und mit Endapparaten in Verbindung geſetzt, welche in dem Inte- Sind dergleichen gument entſtanden ſind. Larven oberweltlicher Thiere nach den finſtern Räumen der Grotten verſchlagen worden und haben den neuen Lebensbedingungen ſich angepaßt, ſo würde die Augenloſigkeit der aus ihnen hervorgegangenen vollkom- menen Thiere nicht als Rückbildung, ſondern als Hemmung, als Stehenbleiben der Anlage auf dem Zuſtande des Larvenlebens aufgefaßt werden müſſen. Das Weſen der Augenloſigkeit der Grottenthiere würde dann dieſer Auffaſſung gemäß nicht unver— mittelt daſtehen, ſondern ſich Zuſtänden oberweltlicher Thiere anſchließen. Dieſe Erklärung des Mangels des Sehvermögens irdiſchen Neſtern von gewiſſen Sie beſitzen keine äußerlich wahr- blinde Fauna zuſammenſetzen. Urwelt noch viel mannigfaltigere Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wird wahrſcheinlich bei ſehr vielen blinden Arten von Gliederthieren zutreffen, welche im entwickelten Zuſtande keine Spur jenes Sinnesapparates im Integument und in früheren Entwicklungsſtufen nur einen ver— kümmerten Sehnervenkeim aufweiſen. Und Geſchöpfe dieſer Art ſind nicht nur im Innern der Grotten zu finden, ſondern eine Anzahl von Arten bewohnen Oertlich— keiten der Oberwelt, welche vom Lichte nicht erreicht werden. In Ameiſenhaufen werden mehrere augenloſe Käferarten (Amau— rops, Bythinus, Claviger) als Gäſte ge— hegt und bewirthet, die weder als ent— wickelte Thiere noch als Larven eine Spur eines Sehorganes oder eines Sehnerven beſitzen. Ebenſo kommen in den unter— Nagern, ferner unter großen Steinen in Südeuropa oder Nordafrika, im Mulme hohler Bäume und an Baumwurzeln zahlreiche Arten augen— loſer Gliederthiere vor, die eine anſehnliche Dieſelbe iſt auch in unſern tiefen Brunnen und im Grundwaſſer durch mehrere blinde Krebſe (3. B. Gammarus puteanus und Cyelops coecus) vertreten. Außerdem ergeben die Reſultate paläontologiſcher Forſchungen, daß die Oertlichkeiten, welche Repräſentanten dieſer blinden Fauna beherbergten, in der waren als in der gegenwärtigen Erdepoche. Unter Mooſen und Rinden der Bäume, an Baum— wurzeln, unter abgefallenem Laube haben damals viel zahlreichere Arten blinder Glie— derthiere gewohnt, deren wohlerhaltene Reſte als Einſchlüſſe in Copal, Bernſtein und tertiären Steinformationen uns aufbewahrt ſind. Es ergiebt ſich daraus, daß die jetzige blinde Grottenfauna und blinde Fauna überhaupt nur ein in die gegenwärtige Schöpfung hineinragender Reſt einer weit Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. größeren und mannigfaltigeren blinden Fauna iſt, deren Glieder im Kampfe um das Daſein gegen die mit Augen ausgeſtatteten Mitgeſchöpfe überall da unterlagen und vertilgt wurden, wo der Beſitz des Sehver— mögens von entſchiedenem Vortheile war, und nur da ſich erhielten, wo — wie in der ewigen Nacht der Grotten — auf dem Beſitze der Augen die Entſcheidung jenes Kampfes weder baſirt war noch iſt.“ IX. Verſammlung der dentſchen anthropologiſchen Geſellſchaft zu Kiel.“) Vom Strande des Bodenſee's waren diesmal die deutſchen Anthropologen an die Ufer der Oſtſee gewandert, und ſtatt daß im Hintergrunde die ſtolzen Zinnen der Alpenrieſen winkten, waren es diesmal die dunklen Buchenhaine, welche den Gruß den Fremdlingen entgegenrauſchten. Was die Eintheilung der Tage der Verſammlung betrifft, ſo hatte man am 10. Auguſt eine Station zu Hamburg ge— macht, wo man ſchöne Gelegenheit fand, die dortige junge ethnologiſche und prä— hiſtoriſche Sammlung mit ihren reichen Funden von Urnenfeldern — ſo beſonders von Bergedorf — und ihren Artefakten von Neuſeeland und Peru, ſowie das Muſeum Godeffroy mit ſeinen reichen Schätzen an zoolo— giſchem Material in Augenſchein nehmen zu können. Zugleich gab der Beſuch des z00°- logiſchen Gartens den Anthropologen Anlaß, das Benehmen der anthropoiden Affen zur ) Mit Einverſtändniß der Redaktion wird der Verfaſſer in Zukunft eine kurze, unparteiiſche Umſchau über die Reſultate bei den Verſammlungen der deutſchen anthropo— logiſchen Geſellſchaft bringen. 9 153 Vergleichung hinreichend muſtern zu können. Von Hamburg, ſeinem intereſſanten Treiben und Leben, ſeinen Muſeen und ſeiner Seewarte führte die Bahn quer durch das wieſenreiche Holſtein an die Bucht von Kiel. Dort in den Räumen der „Harmonie“ tagte der Congreß vom 12.— 14. Auguſt. Neben der Verſamm⸗ lungsſaale hatte Panſch (Kiel) eine Collek— tion urgeſchichtlicher, ethnologiſcher und ana— tomiſcher Objekte veranſtaltet. Da war ein prächtiger Ovibos moseatus von Grönland zu ſehen, mächtige Geweihe von Cervus elaphos lieferten die Moore des Nordens, ebenſo trefflich hatten dieſe die Knochen des Torfſchweines und des Bos primigenius conſervirt. Stein-, Bronce- und Eiſen— artefakte vom meerumſchlungenen Boden in reicher Auswahl hatten Private und die Gymnaſien zu Rendsburg und Eutin aus- geſtellt; darunter die berühmte Broncekeule von Mönkhagen im Beſitze von G. Behncke— Kiel. Daneben lagen die Artefakte aus dem norddeutſchen Diluvium mit Knochen von Dickhäutern in den Seen, welche Neh— ring bei Wolfenbüttel an's Licht gezogen hatte. Auf der anderen Seite feſſelten die Schädelreihen aus Gegenwart und Vergan— genheit, welche Panſch ausgeſtellt hatte, und einige Verbeſſerungen der Meßmethode von Schädeln und ganzen Figuren, welche Hilgendorf und Körbin von Berlin mitgebracht hatten. Die Mitte des Saales nahmen plaſtiſche Abbildungen von Ring— wällen im Samland ein, welche als „VIihus“ theilweiſe der deutſche Orden gegründet, theilweiſe die Eingeborenen vor einem halben Jahrtauſend gegen die Einfälle der Ruſſen benutzt hatten. Noch mehr Reichthum an Artefakten der drei Perioden, welche hier im Anſchluſſe an die nordiſchen Gelehrten von den Conſervatoren Handelmann und Meſtorf ſtramm feſtgehalten werden, 154 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. bot den Gäſten das neu eröffnete Kieler Muſeum. Einen gedruckten Bericht über ſeinen Hauptinhalt legte Handelmann als Feſtſchrift den Anthropologen vor. Wenn wir hier an die Goldfunde der Inſel Sylt, die Reſte von Goldbrakteaten vom Kirchſpiel Haddeby, den goldenen Eid— ring von Wittenborn, die Bronceſchwerter und Broncemeißel von Sylt, endlich das Fahrzeug von Nydam und den Einbaum aus dem Vaalermoor, ſowie den impoſanten Reichthum an Steinbeilen und Steinmeißeln, an Schleifſteinen und Flintmeſſern erinnern, glauben wir einen kleinen Tribut der Dank— barkeit gegen die Gründer und Führer des Muſeums abzutragen. Einzig ſteht dieſe Sammlung in Deutſchland da durch ihre Moorfunde, welche in ihrer Integrität ein vollſtändiges Bild von der Culturſtufe der Saxones prisei uns Spätlingen entrollen! Nach Beendigung der Aufgabe zu Kiel führte die Verſammlung das Dampfroß vorbei an den lieblichen Seen von Plön und Ratzeburg mit ihrem „melancholiſchen“ Ausblick zur alten Hanſaſtadt Lübeck. Der 15. Auguſt wurde darauf verwandt, die Sammlungen der gemeinnützigen Geſellſchaft zu beſichtigen: beſonderes Intereſſe erregten mehrere ſonderartige Broncen. logiſche Muſeum bietet eine ſeltene Voll— ſtändigkeit der Species und beſonders mehrere hübſch arrangirte Gruppen von Gorilla's und Chimpanſe's. Beſichtigt wurden in der Umgebung der alte germaniſche (7) Burgwall von Alt-Lübeck?“) an der Trave, der ſlaviſche Burgwall von Pöppendorf, endlich der Grabhügel zu Waldhauſen! !) mit ) Vergl. Zeitſchrift des Vereines für Lübeck'ſche Geſchichte und Alterthumskunde 2. Heft. Lübeck 1858. S. 221— 249. thumskunde. 1. Heft. Lübeck 1844. ſeinen gewaltigen Dolmen im Innern. Den nächſten Tag nahm ein Ausflug in die Nähe von Mölln in Beſchlag; dort im Gehege von Ritzerau wurden größere und kleinere Erdgrabhügel geöffnet, Trichtergruben unter- ſucht, Hochäcker angezweifelt,“) Flintſteine zu Artefakten zurechtgeſchlagen und endlich Ab— ſchied genommen. Wahrhaftig ein reiches Menu von der Tafel der nordiſchen Schätze! Dies der Verlauf der Tage des Congreſſes, den beſonders die An— weſenheit einer Reihe fremder Gäſte ſchmückte. Da waren Acland von Oxford, Mon- telius von Stockholm, Tolmatſcheff von Kaſan, Stieda von Dorpat, Mook von Cairo, Wankel von Böhmen, Poeſche von Waſhington, Eckhoff von Leeuwarden. Von den deutſchen Anthropologen waren die Hauptvertreter anweſend, jo Schaaff— hauſen, Virchow, Fraas, Ranke, Voß, Liſſauer, Krauſe und Andere, es fehlten von den gewöhnlichen Gäſten Ecker, Kollmann, Lin denſchmit. Im Allgemeinen trug die Kieler Ver— ſammlung im Gegenſatz zu den bewegten Tagen von Conſtanz einen ruhigeren Cha- rakter; die Broncefrage blieb ziemlich unbe— rührt, über die Schädelmeßmethode hatten die Urnen und Gefäße der Umgebung und Das zoo⸗ ſich die deutſchen Anthropologen gelegentlich der Naturforſcherverſammlung zu München über die Horizontale in der Weiſe geeinigt, daß ihre Endpunkte der obere Rand der Ohr- öffnung ſenkrecht über der Mitte und die tiefſte Stelle der unteren Kante des Augen- höhlenrandes find. Die Frage von Thayin— gen ſchlug gelegentlich der Demonſtration des Schädels von Ovibos moscatus aus Grönland durch Fraas nur leiſe Wellen, ) Vergl. über Hochäcker die neueſte, in— tereſſante Schrift, auf die wir zurückkommen, 0 Vergl. Beiträge zur nordiſchen Alter- von Dr. M. Muth: Ueber den Ackerbau der Germanen. Wien 1878. —. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 155 indem Ranke bezweifeln zu müſſen glaubte, daß die plaſtiſche Abbildung aus der Thayin— ger Höhle gerade dieſen Wiederkäuer dar— ſtellen müſſe und nicht einen anderen; der Bandwurm der Finnenſchädel zog ſich dies— mal nicht durch die Verſammlung, ebenſo— wenig ſpukte die Keltenfrage. Als ein latenter Gegenſatz zog ſich der Stand— punkt von Schaaffhauſen und Virchow in der Anthropogenie durch die Verhand— lungen. Jener betonte in ſeiner Eröffnungs— rede den Nachweis der Entwickelung vom Unvollkommenen zum Vollkommenen, vom Einfachen zum Complicirten und bekämpfte die Anſicht, daß die Entwickelung des Menſchen aus dem Stamme der Anthro— poiden ein Stein des Anſtoßes für das Ideale im Menſchenleben ſein könne. Lehrt man denn etwa, bemerkte er, duß der Menſch wieder zum Thiere werden ſolle? Sprechen nicht die Sittenlehrer aller Zeiten von den thieriſchen Begierden der Men— ſchen? Virchow betonte nach potenzirten Zeichnungen der Schädel des Auſtralnegers und Melaneſiers, ſowie eines Mikrokephalen einerſeits und des Gorilla und Chimpanſe andererſeits, den anatomiſchen Gegenſatz in der Schädelbildung des Menſchen und des Anthropoiden. Der Gegenſatz in der Hori— zontale, ſowie in der Bildung der Schädel— höhle ſei zu auffallend; ein Uebergang ſei bis jetzt zwiſchen dem anatomiſch und phyſiologiſch niedrigſt ſtehenden Menſchen, ſelbſt dem Mikrokephalos und dem Gorilla, in keiner Weiſe conſtatirt. Im Allgemeinen wiederholte Virchow damit die Anſchau- ungen, die er in ſeinem zu Leipzig am Fortſchritte. 13. März 1878 gehaltenen Vortrage über „Anthropologie und Anthropogenie“ nieder— gelegt hat. Zu einer Discuſſion der ver— Es war nur ein Schatten des die Wiſſen- ſchaft zur Zeit bewegenden Streites, der auf die Kieler Verſammlung fiel, nur leiſe Furchen zog hier der geſchleuderte Stein. Um zunächſt von den officiellen drei Arbeiten der Geſellſchaft zu berichten, fo theilte Fraas mit, daß die Herſtellung der „prähiſtoriſchen Karte Deutſchland's“ im letzten Jahre bedeutende Fortſchritte gemacht habe. Das Material ſei eingeſandt von Böhmen, Brandenburg, Braunſchweig, Caſſel, Franken, Hannover, Heſſen, Deutſch-Oeſter— reich (Dr. M. Much), Polen, Pommern, Poſen, Rheinpfalz, Rheinpreußen, Sachſen, Schleſien. Bayern wird für ſich bearbeitet. Ausgeſtellt war mit Zugrundlage der Dechen- ſchen Karte ein Theil von Oſtdeutſchland: Schleſien, Brandenburg, Pommern. Dieſe Darſtellung aus der Hand des königl. bayeriſchen Hauptmanns von Tröltſch läßt zwar deutlich Complexe der Stein-, Bronce- und Eiſencultur erkennen, doch muß man bei dem Maßſtabe (1: 1,400,000) auf das Erkennen der Details verzichten. Unter den competenten Forſchern iſt man außerdem einig, daß die Behandlung der römiſchen Funde in Deutſchland eine conſe— quenter Weiſe nachfolgende ſein muß. Gehen doch die Römerfunde bis an die Elbe, ja Oder und Weichſel, und wandeln ſie doch auf denſelben Wegen, die vorher der etru— riſche Marchand und der phöniciſche (2) Händler zog. Die Handelswege waren ſeit Alters ſo ziemlich gleich; die Natur hat dem Boden ihre Straße eingezeichnet. Die „Statiſtik des anthropologiſchen Materiales in Deutſchland“ macht nach Schaaffhauſen's Bericht gleichfalls gute Fertig ſind die Cataloge der Muſeen zu Bonn, Göttingen, Freiburg, Darmſtadt, Stuttgart, Frankfurt a. M., Leip- ſchiedenen Anſichten hierüber kam es nicht. zig; in naher Ausſicht ſtehen die von München, Königsberg u. a. O. Eine Horizontale iſt * Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. J 21 156 jetzt vereinbart und darin zwiſchen ihm und Virchow tot diserimina rerum Einigkeit erzielt. Auf dem Mitte Auguft zu Paris tagenden internationalen anthro— pologiſchen Congreß ſoll eine internationale Schädelmeßmethode vereinbart werden.“) Als Vertreter der deutſchen Anthropologen wur— den hierfür beſtimmt: Ecker, Schaaff— hauſen, Virchow. Die dritte bisherige Aufgabe: die Herſtellung der Schulkinderkarte des deut— ſchen Reiches, iſt nach Virchow's Mit— theilung gelöſt. Nur Hamburg hat ſich der Aufgabe, „welche eine Beſchränkung der perſönlichen Freiheit involbire“ (heurekas)), entzogen. Merkwürdiger Weiſe waren die drei Karten mit den Complexionen der Haare, der Augen und der Haut nicht aus— geſtellt zu Kiel, wohl aber zu Paris. Um den officiellen Theil der Verſamm— lungen gleich hier zu vervollſtändigen, ſo ſei mitgetheilt, daß zum Präſidenten der nächſten 10. Verſammlung Fraas beſtimmt wurde; Schaaffhauſen und Virchow per erhielten die Chargen als Vicepräſidenten, | Ranke wurde an Stelle des austretenden Kollmann zum Generalſecretär ernannt. Nach Weiß mann's, des Schatzmeiſters, Be— richt war die Mitgliederzahl von 1602 auf 1936 letztes Jahr geſtiegen. Zweig— vereine mit je über 100 Mitgliedern haben ſich zu Kiel und Münſter gegründet. Von der für 1878 — 79 verfügbaren Summe von 7396 Mark erhielten Virchow und Fraas Beiträge für die Schulkinderkarte und die prähiſtoriſche Karte; Summen für Ausgrabungen von 100 —200 Mark be ) Dieſelbe fand dort ihren Haken inſofern, als die Franzoſen unter Broca behaupteten: ſie trügen den Kopf höher als wir. Aller— dings ſcheint zur Zeit die „Kopfhängerei“ bei uns imm er mehr um ſich zu greifen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. kamen Dahlem für Regensburg, Engel— hardt für oberfränkiſche Höhlen, Mehlis für die Limburg, Klopfleiſch für Jena. Weißmann übernahm wieder das Amt des Kaſſenführers. — Als Ort der näch— ſten Generalverſammlung ward nach ge— führten Unterhandlungen Straßburg i. E. beſtimmt. Der dortige Regierungspräſident erklärte hierzu ſeine Zuſtimmung; Ger— land von dort übernahm für dieſe Ver— ſammlung die Geſchäftsführung. Den Mittelpunkt der zahlreichen Vorträge und Demonſtrationen, welche die Tage von Kiel füllten, bildete die Betrachtung der Anthro— pologie und der Ethnologie von Deutſchland. Das Hauptverdienſt für dieſe Unterſuchungen fällt Virchow zu, der die Schädelformen in Deutſchland zum Gegen— ſtande der Specialforſchung gemacht hat und der andererſeits in der Lage war, durch archäo— logiſche Objekte die Grenze des Germanen— thums gegen Oſten, gegen die Slaven, genauer zu präciſiren. Aus ſeinem Vortrage über die „Schädelformen in Deutſchland“ ſei her— vorgehoben, daß er die ganze Geſchichte dieſer eraniologiſchen Unterſuchung von den Behauptungen Quatrefage's an über die Eigenthümlichkeiten der race prussienne, zu den Unterſuchungen von Ecker, der den langköpfigen Reihengräbertypus entdeckte, zu den Beſtimmungen von Rütimeyer und His über den kurzköpfigen Charakter der Alemannen und den langſchädligen der Römer bis zu den Unterſuchungen Hölder's in Schwaben an lebenden Schädeln in kurzen Riſſen verfolgte. Nach ſeinen Ausführungen trat mit der Beſtimmung der Complexionen der Schulkinder eine neue Periode ein. Nun kann man tabellariſch und kartographiſch die Ausbreitung der blonden Langköpfe von ihrer Akme in Pommern und Schleswig⸗ Holſtein, den vaginae gentium, bis nach 0 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Süddeutſchland an die Donaulinie und nach | Weſtdeutſchland an die Rheinlinie verfolgen. Von Süden und Weſten aus tritt den Blonden ein anderer brünetter und nach den Unterſuchungen Kollmann's und | Ranke's kurzköpfiger Menſchenſchlag ent- gegen. Die Verbreitung dieſer braunen, klurzköpfigen Raſſe läßt ſich nach Virchow, | wozu die Demonſtrationen Ranke's kommen, | längſt der Linie der Alpen und des Balkan | durch ganz Europa verfolgen. Von Albanien und Illyrien find jüngſt exquiſite Kurzköpfe bekannt geworden. Nach Ranke ſteigt der Index der bayeriſchen Schädel in regel— mäßiger Linie vom Main bis zum Hoch— gebirge, wo er 83,6 erreicht. Während in Franken eine blonde Bevölkerung mit meſokephalem Schädel wohnt, trifft man jenſeits der Waſſerſcheide der Alpen durch— weg eine dunkle, kurzköpfige Raſſe an, deren Index bei Botzen ſich auf 86 erhöht. Die dolichokephale Bevölkerung iſt darnach der blonden, blauäugigen, hellhäutigen Raſſe zu ſubſummiren. Doch zeigen die Meſſ— ungen Virchow's, daß durchaus nicht die ganze blonde Raſſe den Typus der Lang— Ekoöpfigkeit beſitze. Er unterſcheidet drei Schädel- formen in Deutſchland, im Lande der Ger— manen nördlich des Mains. Vom Niederrhein bis zur Niederelbe trifft man auf eine Bevölkerung mit niederer Stirne, mächtigen Augenbrauen-Wülſten, hohem Geſichte, exzentriſchem Hinterhaupte. Dieſe bezeichnet man als chamäokephal, ſie decken ſich mit den alten Frieſen. Krauſe fand deren typiſche Schädel noch in der Gegend von Hamburg. Eine zweite Form reprä— ſentiren die Schädel der ſogenannten, beſon— ders am Rhein gefundenen, Reihengräber. Ihre Merkmale ſind die exquiſite Dolichoke— phalie, die weniger zurückfliehende Stirn, das ſpitze, ausgeprägte Hinterhaupt. Man 157 identificirt ſie mit den Franken und Ale— mannen, welche die Gaue links und rechts des Rheins bis an die Scheide von Donau und Weſer in Beſitz genommen haben. Eine dritte Form glaubt Virchow in einem meſokephalen Typus entdeckt zu haben, welchen er nach dem Fundorte den Thü— ringern zuſchreibt. Im Allgemeinen iſt zu bemerken, daß nach den complementären Funktionen die Schädel je niedriger, um ſo breiter und umgekehrt ſich geſtalten. Eine perſiſtirende Naht, die Kreuznaht, ermöglicht uach gemachten Beobachtungen?) den Ueber⸗ gang von der Langköpfigkeit zur Kurz⸗ köpfigkeit. Die drei Schädelformen mit ihren blonden Beſitzern breiteten ſich vom Norden und Nordoſten Deutſchlands einſt in der Richtung der Radien aus bis zum Rande des Erzgebirges, dem Main- und Rheinthale, um ſich im Süden mit der autochthonen dunklen Bevölkerung zu miſchen. Da die Schädelformen der Slaven bis jetzt nach Typen weniger zu beſtimmen ſind, und auch die Bevölkerung im Weſten Deutſch— lands zu ſtark gemiſchten Charakter trägt, beſitzt die verhältnißmäßige Reinheit der Schädelformen der am wenigſten gemiſchten deutſchen Stämme am meiſten Anziehung für den Anthropologen. Doch, ſcheint uns, dürften hierbei auch die übrigen Körper— male nicht vergeſſen werden, ſo Geſichts— winkel, Hautſchattirung, Naſenprofil, Körper— maße ꝛc. Die Betonung der Schädelformen allein, beſonders in ihren Differenzen, muß zur Einſeitigkeit führen. Der Menſch be— ſteht eben nicht aus dem Schädel allein. Auch aus dem archäologiſchen Materiale ſuchte die Verſammlung Reſultate zu ziehen für die ethnologiſchen Grenzen zwiſchen den ) Virchow beobachtete dieſen Uebergang bei einem Grabfunde von Wiesbaden und zu Alsheim lin Heſſen). eu. 158 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | Germanen und beſonders ihren engverwandten | überdies zu den charakteriſtiſchen Zügen der Nachbarn, den Slaven. Keramik aus der merovingiſchen Periode. Der Slavismus drängt ſich zur Zeit Im Gegenſatze nun zu dieſen Ausführungen, nicht nur auf dem politiſchen und ſocialen Gebiete in den Vordergrund, ſondern von mancher Seite ſucht man ihm auch auf dem ethnologiſchen Gebiete eine exorbitante und unverdiente Stellung zu geben. Giebt es doch Leute, welche keinen Anſtand nehmen, | die Sueben, den Hauptfaktor für die Ver— breitung und Ausdehnung des Germanen— thums, aus denen des Arioviſtus Schaaren beſtanden und die in Italien und Spanien, Afrika und Frankreich germaniſche Reiche errichteten, kurzweg für Slaven zu erklären!“) Anläßlich der Unterſuchung zweier räthſel— hafter Schachte auf der Limburg hatte man bis in eine Tiefe von 8 Metern Scherben von ziemlich gleicher Ornamentation entdeckt, welche in Randwülſten mit Nägeleindrücken, Ringen, Punkten, Strichen beſteht und die ſich, vorzugsweiſe mit Parallelſtrichen und Schnureindrücken, nur auf den oberen Theil der Gefäße erſtreckt. Nach der Vergleichung dieſer Ornamentik mit der von den Ring— mauerfunden bei Dürkheim, denen vom Cheruſkerlande im Teutoburgerwalde, dem Chattenlande im Naſſauiſchen, den Ring— wällen in Niederöſterreich und anderen kera— miſchen Funden auf ſpecifiſch deutſchem Boden glaubte Referent dieſen nach gleicher Weiſe ornamentirten Scherben germaniſchen Cha— rakter zuſchreiben zu müſſen. Dazu ſind dieſe Gefäße faſt ohne Ausnahme ohne Dreh— ſcheibe verfertigt und unterſcheiden ſich da— durch ſowohl von den ſlaviſchen als auch den römiſchen. Ihre Ornamentik leitet ) Herr Poeſche in feinem „genialen“ Werke: Die Arier. Für dieſen giebt es in dieſer Frage nur Weſerbe und Latham; die allerdings noch fernerer, vergleichender Studien der germaniſtiſchen Forſcher ſehr bedürfen, machte Virchow auf die hiſto— riſch beglaubigte Ausdehnung der ſlaviſchen Stämme aufmerkſam. Dieſe erſtreckten ſich bis an die Unterelbe, ja bis nach Hannover ſüdlich vom Harz; bis zum Rhöngebirge drangen einzelne Schaaren vor; im Ganzen jedoch bildet in Mitteldeutſchland die thürin— giſche Saale ihre Grenze; dann beſetzten ſie das Mainthal bis zur Frankenhöhe; weiter im Süden drängten ſie die Bajuvaren zu— rück bis nach Mähren und im Südoſten über das rechte Innufer. In einer zweimal nach Weſten — an der Saale und am Inn — eingebogenen Curve erſtreckt ſich alſo das Slavenland von der Niederelbe bis an den Buſen von Trieſt. Auf dieſem Boden findet man beſonders im Nordoſten als Spuren der Slavenſtämme die runden Erd— burgwälle. Ihre keramiſchen Einſchlüſſe geben als Typus — ſogenannten Burg— walltypus — die Ornamente der Wellen— linie, des Mäander, des Wolfzahns, die Reihen kleiner Punkte, ferner das Fehlen von Wülſten und Henkeln, ſowie aller plaſtiſchen Ornamentik; zudem zeigen faſt alle Gefäße vom Burgwalltypus die An— wendung der Drehſcheibe. Die Burgwälle charakteriſirt ferner ihre Verbindung mit Pfahlbauten, wovon auf rein germaniſchem Boden keine Spur. Ferner hat man an kufiſchen, arabiſchen und ſonſt orientaliſchen Münzen Anhaltspunkte für Handelsbezieh— ungen der Slaven mit dem Oſten. Die Archäologie ſtimmt darnach mit den hiſto— riſchen Nachrichten überein, daß die Slaven wo bleiben Teuß und Dahn, Mommſen vom 5.— 11. Jahrhundert im Oſten Eu— und Grimm? ropa's, wenig berührt von weſtlicher Cultur, I compakt ſaßen und Culturbeziehungen zum Süden — Byzanz — und dem Südoſten — Perſien und Arabien — unterhielten. Das Wellen- und das Spiralornament, als Charakteriſtictum den Slaven zuge— ſchrieben, iſt eine Unrichtigkeit. Das Spiral ornament war zur Zeit der ſogenannten Broncecultur mit ihr durch ganz Europa verbreitet und das Wellenornament erſcheint als eine Beigabe der Drehſcheibe. Es hieße den Werth der Archäologie durchaus ver— kennen, wenn man glaubte, gewiſſe Orna— mentationsformen richteten ſich nach ethno— logiſchen Syſtemen. Wie war es mit der romaniſchen und gothiſchen Baukunſt? Sie wurde von Norwegen bis Sicilien überall da gepflegt, wo culturelles Verſtändniß und techniſche Möglichkeit vorlag; ſo auch hier bei Wellenlinie und Spirale! Um das noch zur Sprache gebrachte ethnologiſche Material für Deutſchland hier anzuſchließen, ſei der Bericht von Ranke über ausgedehnte, künſtliche Höhlungen in Südbayern, ſo in Unter-Pachern bei Dachau nud in Kiſſing bei Augsburg erwähnt. Vertiefungen in den Wänden der Gänge, der Bau derſelben und andere Anhalts— punkte erinnern an egyptiſche Katakomben. In München iſt man geneigt, dieſe Gänge einer — allerdings erſt poſtulirten — rhäto-etruriſchen Urbevölkerung nördlich der Alpen zuzuſchreiben. Eine genaue Unter— ſuchung und Vergleichung weiterer ſolcher unterirdiſchen Gänge, von denen an vielen Orten Süd⸗ und Mitteldeutſchlands die Sagen melden, mag Licht in ihre Beſtimm— ung bringen. Einen Beitrag zu den ger— maniſchen Alterthümern am Rhein brachte Schaaffhauſen mit Mittheilungen über den dreifachen Ringwall im Hundsrück bei Otzenhauſen, den Steinring aus Baſalt— äulen bei Siegen, den Ringwall am Hoch— 0 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 159 thurme an der Ahr, welche ſich in der Bauart an ſolche auf dem Taunus anſchließen. Auf germaniſchem Boden reichen nach Mittheilung des Referenten die Steinringwälle bis an die Defileen der Kinzig und Mudau. Im Norden erſtrecken ſie ſich über die Rhön, den Südweſtabhang des Thüringerwaldes, das Fichtelgebirge und den fränkiſchen Jura bis Kehlheim an der Mündung der Alt- mühl in die Donau. Ihre Unterſuchung und Vermeſſung wäre eine dankenswerthe Auf— gabe der in ihrem Rayon liegenden anthro— pologiſchen und archäologiſchen Vereine. Es gilt hier, für den Weſten daſſelbe zu leiſten, was für den Nordoſten Virchow und die Berliner Geſellſchaft für Anthropologie voll— bracht hat. Intereſſante Notizen brachte auch Stieda über die Ethnologie der Oſt— ſeeprovinzen. Dort gehören 6 PCt. dem deutſchen, 5 pCt. dem ruſſiſchen Stamme an, das Uebrige theilt ſich in Eſthen mit einem Schädelindex von 79 PCt., welche eine Zahl von 6— 800,000 ausmachen und in mit den Lieven (noch 2000) verſchmel— zende Letten (ca. 1 Million), deren Indices im Durchſchnitte 80 PCt. ergeben. Aus dem Gebiete der Urgeſchichte gab Mook (Cairo) Mittheilungen und Fundſtücke aus der Steinzeit Egypten's; gegen Lepſius glaubt er die Anſicht feſthalten zu müſſen, daß die zahlreichen Flintfrag— mente zu beiden Ufern des Niles einer primitiven, egyptiſchen Steinzeit angehörten.“) Virchow legte die auch aus dem „Archiv für Anthropologie“ (XI. Bd. 1878) bekann⸗ ten Funde von Nehring aus dem Dilu— vium bei Weſteregeln und Tiede vor, wo in einer Tiefe von 18 Fuß neben Reſten von Mammuth und Ren trefflich geſchliffene Feuerſteinbeile aufgegraben wurden. Klop— ) Vergl. dazu: Kosmos, 1878, vor. Heft, S. 63 — 66. r 160 fleiſch berichtete über feine Grabfunde bei Jena: man könne zwei Gräberarten unterſcheiden, eine, wo die Urne bei dem Urboden im Aufbau ſtehe, die andere, wo ſie im gewachſenen Boden unter dem Aufbau ver— borgen ſei. Die Ornamentik der Gefäße zeigt Anwendung der Schnur und Cannelirung. Bronce- und Steinartefakte zeigten ſich wenig, ſeien aber verbunden angetroffen worden. Hierin ſtimmt mit Bezug auf die Erdhügel— gräber Klopfleiſch der Anſicht Hoſtmann's über die Gleichzeitigkeit von Eiſen und Bronce bei. Auch dieſe mit Abbildungen reich illuſtrirte Arbeit kommt im „Archiv für Anthropo— logie“ zur Veröffentlichung. Alle überhaupt von der Geſellſchaft ſuſtentirten Ausgrab— ungen ſollten ex officio im „Archiv“ pub— licirt werden! Nur ſo kann dieſe Zeitſchrift mit der Zeit ein Compendium für die anthropologiſchen Arbeiten in Deutſchland werden. Ueber die Töpfebildung der Urzeit ſprach Ranke die Anſicht aus, die— ſelben wären urſprünglich in einem Korbe aus Geflechte gebrannt worden. Die Funde in den Höhlen bei Regensburg und Patten— ſtein lieferten hierfür unzweideutige Beweiſe. Auch die Entſtehung der Ornamentik auf den primitiven Gefäßen ſei darnach zu er— klären. Die Ornamente der Gefäße ſtellten urſprünglich das Geflechte: Blättereindrücke, Stengellinien, Verzweigungen vor. So kann man dies deutlich an den Gefäßen aus dem alten germaniſchen Grabfelde bei Mens— heim bemerken, ferner an Gefäßen aus Dithmarſchen u. ſ. w. Die Hauptpunkte der Kieler Ver— ſammlung glauben wir damit ſkizzirt zu haben. So reich dieſelbe nun an Anregung beſonders auf dem Gebiete der Craniologie war, ſo bedauerlich war gerade hier, wo man an der Quelle ſaß, das Fehlen der Förderung der Broncefrage. Gerade Kleinere Mittheilungen und Journalſchan. dieſe hätte hier am meiſten über paſſendes Material verfügen und daran anknüpfen können. Bedauern müſſen wir auch, daß ſolide Vertreter der deutſchen Mythologie und Sagenforſchung dem Congreſſe fehlten. Bei manchen Discuſſionen, ſo über den Zweck der ſogenannten Schalenſteine, den unterirdiſchen Gängen in Oberbayern und Schwaben, wäre die Anweſenheit von Männern wie Mannhardt und Schwartz ſehr am Platze geweſen. Hoffentlich ſind das Wünſche, die im Intereſſe der Geſellſchaft zu Straßburg ihrer Erfüllung in vermehrtem Maßſtabe zu— gehen. Was zum Schluſſe die Form der Verſammlung betrifft, ſo iſt bei der Ausdehnung der Geſellſchaft, dem maſſen— haften und verſchiedenen Material, gleichfalls eine Zahl von Verbeſſerungen anzubringen. Vor Allem ſollte die Reihe der Vorträge zur Ermöglichung einer Discuſſion vom Vorſtande einige Wochen vor der Verſamm— lung feſtgeſetzt werden. Diesmal fehlte bei der Unmöglichkeit der Vorbereitung auf die Themata die Discuſſion faſt ganz. Dann er— ſcheint es bei dem überreichen Material paſſend, daſſelbe wenigſtens in drei Sektionen zu vertheilen, je für Anthropologie, Urgeſchichte, Ethnologie, und in Hauptverſammlungen von competenter Seite über die Erfolge der Sektionsſitzungen Bericht erſtatten zu laſſen. Drittens diente zur Verfolgung brennender Fragen die Anſetzung von Fragen und Theſen. Nur auf dieſe Weiſe kann für die Zukunft einer gewiſſen Verſumpfung — sit venia verbo! — der Generalver— ſammlungen vorgebeugt und für ihre con— ſtante Lebensfähigkeit die nöthige äußere Garantie gegeben werden. Auch die Gene— ralverſammlung der deutſchen Geſchichts— und Alterthumsmethode wendet mit Erfolg die vorgeſchlagene Geſchäftsordnung an. Dr. C. Mehlis. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Zuſammengeſetzte Portraits. Mehrere Forſcher, unter Anderen Herbert Spencer, hatten ſich ſchon früher mit dem Gedanken beſchäftigt, ob ſich nicht ein op— tiſches Verfahren ausmitteln ließe, um meh— rere in gleicher Größe und Geſichtsſtell— ung aufgenommene Portraits einer oder ver— ſchiedener Perſonen zu einem Einzelbilde zu vereinigen, um dadurch den mittleren Typus, wie ihn ſonſt nur ein geſchickter Menſchenkenner und Maler zu abſtrahiren vermag, auf mechaniſchem Wege zu erhalten. Ende vorigen Jahres wurde Charles Dar— win darauf aufmerkſam gemacht, wie leicht ſich in einem Stereoſkope verſchiedene Portraits mit einander combiniren laſſen, und Francis Galton, der ſich durch ſeine Forſchungen über die Geſetze der Erblich— keit kürzlich einen Namen gemacht hat, legte im April dieſes Jahres dem anthropologiſchen Inſtitute zu London ein Verfahren vor, nach welchem man auf photographiſchem Wege leicht aus zehn Einzelphotographien auf photographiſchem Wege ein Durchſchnitts— bild herſtellen kann. Das Verfahren be— ſteht darin, daß die in gleicher Lage und Größe aufgenommenen Portraits mittelſt einer Vorrichtung, welche die gleiche Höhe der 161 Augen und Naſalwurzel ſichert, eines nach dem Andern, je zehn Sekunden lang, auf dieſelbe Platte wirken können. Es wird als ſehr überraſchend geſchildert, wie das ſo erzielte Idealbild mit jedem Einzelbilde Aehnlichkeiten darbietet und doch keinem gleicht. Das Verfahren iſt in erſter Reihe beſtimmt, den Typus verſchiedener Menſchen— raſſen für anthropologiſche Zwecke auf mech— aniſchem Wege durch Vermiſchung verſchie— dener Individualitäten abzuleiten, doch verſpricht ſich Herr Galton auch für das Studium der Erblichkeitsgeſetze eine inter- eſſante Ausbeute, ſofern man ſie z. B. durch die Portraits ſämmtlicher Kinder zu einem Geſammtbilde vereinigen und mit den ver— einigten Bildern der Eltern, vielleicht der Großeltern und Elterngeſchwiſter verglei— chen kann. Auch die Vereinigung ver— ſchiedener Portraits derſelben Perſon ſoll Idealbilder ſchaffen, die an Aehnlichkeit alle Einzelbilder übertreffenn. Galton be— ſchreibt ferner eine Vorrichtung, um mittelſt Prismen mehr als zwei Viſitenkarten-Por⸗ traits zu einem Einzelbilde zu vereinigen. Ausführlicheres über die Methoden und eine Portraitprobe findet der Leſer in der engliſchen Zeitſchrift Nature No. 447, 1878. en I | a. 5 Literatur und Britik. Der Rigi, Berg, Thal und See. Natur— geſchichtliche Darſtellung der Landſchaft von L. Rütimeyer. Mit einer Karte in Farbendruck und vierzehn Illuſtra— tionen nach Skizzen des Verfaſſers auf Holz gezeichnet von A. Stieler, ge— ſchnitten von A. Cloß. H. Georg's Ver— lag. Baſel-Genf-Lyon 1877. 160 Seiten in Quart. [ nter den Tauſenden, die den Rigi N alljährlich feiner entzückenden Lage und fi 6 Ausſicht wegen beſteigen, befindet ſich 9 ſicherlich ein anſehnlicher Procentſatz von Beſuchern, deren Auge mit eindringlichem Intereſſe auch an dem ungewöhnlichen Bau der Berggruppe haften bleibt, und welche die Fragen nicht loswerden, die ſich an die Ent— ſtehungsweiſe derſelben knüpfen. Das große wiſſenſchaftliche Alpenpublikum wird es daher mit lebhaftem Danke begrüßen müſſen, daß Rütimeyer die Muße eines durch Geſund— heitsrückſichten gebotenen längeren Aufent— halts an dieſem bevorzugten Berge dazu benutzt hat, die von der Bildungsgeſchichte zeugenden Spuren ringsumher im Einzelnen zu durchforſchen und das Gefundene in einer claſſiſchen Darſtellung einem weitern Leſer— kreiſe zugänglich zu machen. In einem inleitenden Abſchnitte ſchildert er zunächſt: die Landſchaft und ihren allge— meinen Inhalt, indem er durch ein— gehende künſtleriſche und naturforſcherliche Zergliederung den eigenthümlichen Reiz der— ſelben, über den ſich ſo Wenige klar werden, erörtert. Er weist dabei nach, daß es nicht allein die iſolirte Erhebung des Gipfels aus einem Kranze größerer, von hohen Berg— zügen umgebenen Seebecken, die ihn noch heute beinahe zur Inſel machen, und die dadurch bedingte eigenartige Fernſicht ſind, welche Auge und Sinn gefangen nehmen, ſondern daß hier der äſthetiſche Genuß we— ſentlich mit durch das erdgeſchichtliche In— tereſſe beeinflußt wird. Dreizehn ganzſeitige Landſchaftsſkizzen, die von dem Verfaſſer ſelbſt aufgenommen wurden, ermöglichen uns der Schilderung in unmittelbarer An— ſchauung zu folgen, wenn ſie im zweiten Abſchnitt die Geſtalt und den allge— meinen Bau des Berges erörtert, der eine länglich vierſeitige, abgeſtutzte Pyramide darſtellt, deren Körper durch die Linie Low— erz-Vitznau in zwei weſentlich verſchiedene Theile getheilt wird. Der weſtliche Theil nämlich, die eigentliche Pyramide von Rigi— kulm nebſt der Scheideck und dem Doſſen, beſteht aus Nagelfluhbänken, die mit 30° Neigung von Weſten gegen Oſten fallen und ſich deutlich dem aus Süden und Oſten kommenden Beobachter als Terraſſen oder Bänder darſtellen, während der öſtliche Theil, der Vitznauer Stock und die Hochfluh, aus Kalkgebirge beſtehen, zur Hälfte alſo, wenn der Anſchein nicht trügt, Strombildung, zur Hälfte Meeresabſatz. In dem dritten Capitel, welches Verwitterung und Bergſtürze überſchrieben ift, erhalten wir einen Abriß der neueren Geſchichte des Ber— ges, ſeiner Umgeſtaltung durch Luft und Waſſer, insbeſondere durch Bergrutſche, die ja hier ihr claſſiſches Gebiet haben, ſo daß der Verfaſſer dem vielbeſchriebenen Goldauer Bergſturz eine ganze Folge unbeſchriebener aus der Nachbarſchaft anreihen kann. Die Geſchichte der neueren Zeit wird in dem nächſten Capitel, welches von den Bach— runſen und Tobeln handelt, fortgeſetzt, und hier finden wir über die Eroſionswirk— ung kleinerer Waſſerrinnſale einige Bemerk— ungen, die wir ihrer Bedeutung halber und zugleich als Probe der lebendigen Darftell- ung theilweiſe hier einſchalten wollen: „Unmittelbar über Vitznau“, erzählt der Verfaſſer, „wo die Eiſenbahn den feſten Fels betritt, durchſchneidet ſie an der ſogenannten „Platte“ mit 27° Neigung ein Maſſiv von Nagelfluh, das mit 30“ Gefäll von den Höhen des Heuberg und Brand zu Tage fällt. Zwiſchen dieſem und dem über— liegenden Felsband öffnet ſich im Schatten von Kaſtanienbäumen, die leider von den Sprengarbeiten arg mitgenommen wurden, die Grotte von Waldisbalm, gegen— wärtig in widerwärtigſter Weiſe durch Re— clamen, die man in großen Lettern an den führt quer über den Rücken der Platte zu der Balm. Wie die Sprengarbeit bewies, iſt die Nagelfluh der Platte eines der här— teſten Geſteine am ganzen Berge. Der weitere Verlauf des Felſenbandes zeigt, daß ſie der Kosmos, II. Jahrg. Heft 8. Literatur und Kritik. obern Stufe des Rigi, der ſogenannten 163 bunten Nagelfluh angehört, einem Conglo— merat aus ſehr verſchiedenartigen und ver— ſchiedenfarbigen Geröllen, Kalken, groben Sandſteinen, Quarziten, vornehmlich aber aus allerlei bunten Graniten und Porphyren und andern kryſtalliniſchen Geſteinen. Der Umfang der Gerölle wechſelt von Fauſtgröße bis zu Durchmeſſern von mehreren Fußen. Der Kitt, der ſie verbindet, beſteht aus einem feinern oder gröbern Gemenge ähn— licher Subſtanzen wie die Gerölle ſelbſt, von dem Korn eines Sandſteines bis zu dem einer gröbern Breccie. Obſchon die Rollſteine durchweg vollkommen abgerundet ſind, ſo haftet an ihnen der Cement doch mit ſolcher Zähigkeit, daß es faſt unmöglich iſt, einzelne Gerölle unverſehrt herauszu— ſchlagen. Hammerſchläge brechen quer durch Gerölle und Kitt, ja letzterer leiſtet oft grö— ßeren Widerſtand als jene. Kleine Waſſerrinnen, die im Sommer nur nach Regengüſſen Waſſer führen, durch— furchen in ziemlicher Anzahl den Rücken der Platte. Ueber eine der größeren führt die Brücke zu der Balm. Steigt man über dieſe Schichten durch den Wald hinauf zu den Häuſern von Brand und Heuberg, ſo ſtößt man auf ganze Syſteme ſolcher Waſſer— rinnen, welche ſich auf den Felſenplatten wie Adern hinunterſchlängeln. Der Durch— meſſer der Adern wechſelt von wenigen Zollen bis zu vielen Fußen, ja bis zu einigen Klaftern. Häufig ſind in ihren Lauf runde Keſſel, ebenfalls von verſchiedener Größe, eingeſchaltet, in welchen ſich das Waſſer Felſen geklebt hat, verunziert. Ein Fußweg wie in klaren Becken ſammelt, die ſich nur oberflächlich entleeren können. Die Becken ſind groß genug, daß ſie ſelbſt bei größerer Dürre, während welcher die Rinnen trocken liegen, oft noch Wochen lang mit Waſſer gefüllt bleiben. Die Wandungen der Keſſel wie der Rinnen ſind durchweg ſpiegelglatt 164 polirt und bilden bei der bunten Färbung der Gerölle eine höchſt elegante Moſaik aus weißen, grauen, rothen, grünen, ſchwarzen Steinen mit gleich buntgeſprenkelten, doch vorherrſchend grauen und rothen Zwiſchen— räumen von Cement. Die Erſcheinung iſt ſo überraſchend und zierlich, daß ſie vor Allem durch ihre Schön— heit feſſelt. Die bunten, glänzend geſchürten, mit dem klarſten Waſſer gefüllten Keſſel laden zum Baden ein, wozu ſie oft reich— lich groß genug ſind. Doch gebührt ihnen noch ein andrer Beifall. Man darf wohl ſagen, daß in dieſer Erſcheinung ein höchſt bedeutſames geologiſches Phänomen vor Augen liegt. Nicht etwa ein unbekanntes; kein andres als jenes, welches das alte Sprich— wort ausdrückt, daß der Tropfen den Stein aushöhlt. Hier aber iſt dieſe gemeine Sage in einer Art und in einem Maßſtabe ver— wirklicht, welcher in Erſtaunen ſetzt. Nie— Literatur und Kritik. erſten Anlaß zur Bildung jener Keſſel gab. Man trifft dieſe letzteren in allen möglichen Stadien der Arbeit und des Wachsthums, von der leichten Ausweitung der Ader, einem bloßen Aneurysma, wie es die Chirurgen nennen würden, bis zu Aushöhlungen von Klaftertiefe. Und man darf darauf zählen, den Anlaß für jede Erweiterung, für jeden Keſſel bald zu finden. Immer iſt es ein Punkt größeren Widerſtands, hinter welchem das Waſſer zu bohren anfing. Die Mo— dificationen dieſes Vorgangs ſind unerſchöpf— lich, aber überall gleich ſprechend, gleich zier— lich und bei geringem Nachdenken gleich mand kann zweifeln, daß das Waſſer dieſe Rinnen und Keſſel ausgemeißelt und polirt hat. Aber man muß das Verhältniß zwi— ſchen der thätigen Kraft und dem Wider— ſtand wohl ins Auge faſſen, wenn man den Vorgang in ſeiner vollen Tragweite würdigen will. Das Wunder liegt einmal darin, daß Geſteine von dem verſchiedenſten Gefüge, von allen möglichen Härtegraden, weiche Kalke, körnige Sandſteine und Gra— nite, ſplittrige Porphyre, zähe Quarzite, Cement von der mannigfaltigſten Zuſammen— ſetzung, — in gleichem Maße angegriffen find, Nur ſelten findet man, daß ein här— terer Stein größeren Widerſtand leiſtete und alſo über ſeine Umgebung vorragt. Und wo dies der Fall iſt, treten ſofort | neue Erſcheinungen auf. Ohne alle Aus- nahme iſt hinter einem ſolchen Hinderniß die Ader erweitert; ja man kann ſich leicht überzeugen, daß grade dies jeweilen den N s - — bedeutſam. In den obern Theilen der Schlucht, wo alles mehr concentrirt iſt, ſteigern ſie ſich zu Verhältniſſen, die auch dem Gleichgiltigſten imponiren müſſen. Die Keſſel, wie von Künſtlerhand aus farbigem Porphyr geſchnitten und ſpiegelglatt polirt, gewinnen Tiefen von Klaftern, und die dazwiſchen liegenden Rinnen, die eingeſchal— teten Waſſerfälle, ſind dann in entſprechendem Maße größer. Das zweite Wunder liegt in der offen— baren Raſchheit dieſes Vorgangs ... Daß Waſſerfäden, die im Sand von Bachbetten ihren Weg bahnen, ſich hinter jedem größeren Sandkorn erweitern und gabeln, ſcheint ſelbſtverſtändlich. Aber daß kleine Bäche von dem Querſchnitt weniger Quadratzolle, die nur während eines Theils des Jahres fließen, ſich in Geſteinen, an welchen der beſtgeſtählte Hammer ſplittert, ſo raſch ein— bohren, daß ſie nur ſelten Zeit nehmen, ſich um die härteren Theile deſſelben zu bekümmern, ſollte billig zu mehrerem Nach— denken auffordern, als dies zu geſchehen pflegt. Legen wir, wozu wohl alles Recht vor— liegt, an den Vorgang einen größeren Maß— ſtab, wenden wir ihn, um gleich die volle Tragweite anzudeuten, auf große Flüſſe an, die von ewigen Schneefeldern genährt, Jahr— tauſende hindurch aus mächtigen Gebirgen herunterfließen, ſo öffnet uns das kleine Bild von Vitznau Perſpektiven, um welche ſich die Geologie wohl ernſthaft wird be— kümmern müſſen. Sähe man bei dieſer prächtigen Sculp= tur von Felſen nicht den Künſtler an der Arbeit, ſo müßte man eher denken, daß der Meißel hart und das Material weich war, als umgekehrt. Um ein triviales, aber nicht unzutreffendes Bild zu gebrauchen, ſo machen die Furchen und Keſſel, welche in den nach Härte und Farbe gleich bunten Fels ſo zierlich eingegraben ſind, den Ein— druck, als ob ſie aus einem weichen Pud— ding mit ſcharfem Hohlmeißel ſo geſchickt und raſch ausgeſchnitten wären, daß Man- deln, Beeren, kurz die feſteren Beſtand— theile nicht Zeit fanden, mehr Widerſtand zu leiſten als der weichere Theil. Hierbei iſt indeß zuzugeben, daß das Waſſer es nicht allein iſt, welches die Ar— beit leiſtet. ſtärkerem Anſchwellen auch größere Gerölle führen, deren Reibung an den Wänden der Adern mit in Anſchlag kommt. That trifft man in den meiſten Keſſeln ein oder mehrere Rollſteine, welche ſicher an der Aushöhlung Theil nahmen. Immer— hin ſind dieſe Waſſermengen viel zu klein, als daß ſie im Stande wären, dieſe Roll— ſteine in den Keſſeln in unausgeſetzter Be— wegung zu erhalten, wie etwa in den ſchönen Rieſentöpfen an den Fällen des Rheins bei Laufenburg und anderwärts. zeigt der ſchon erwähnte Umſtand, daß das Waſſer in den Keſſeln meiſt vollkommen klar iſt, und ſelbſt am Boden derſelben ſich Sand in höchſt geringer Menge findet, daß das Waſſer geringer mechaniſcher Hilfs— mittel bedarf, um ſolche Arbeit zu liefern.“ Es wird meiſt Sand, bei In der Ueberdies ſpiegelglatt geſchliffenen Wänden den Weg Literatur und Kritik. 165 Gelegenheit dieſelben Vorgänge im ver— größerten Maßſtabe zu beobachten, boten verſchiedene ähnliche Waſſereinſchnitte im Gebirge. In der Nähe von Gonten bei Thun hat der gleichnamige Bach in das Nagelfluh-Gebirge einen Einſchnitt hervor— gebracht, der ſtellenweiſe bis hundert Fuß tief ſenkrecht in den Felſen geht. Man denkt bei dieſen eng klaffenden Riſſen im harten Fels gewöhnlich zuerſt an eine ge— waltſame Spaltung durch Erdbeben, Erup— tionen oder Senkungen. Aber dort kann man ſich leicht überzeugen, daß die ganze mächtige Klamm ihren Urſprung nur dem Bache verdankt, der ſeine Arbeit unver— droſſen fortſetzt und ſich ſtets weiter rück— wärts in das Gebirge einſägt. Die beid— ſeitigen Felswände ſind wie mit dem Beil gehauen und in den unterſten Theilen in der Nähe des Waſſers, da wo die Ver- witterung der bloßgelegten Wände noch nicht Platz gegriffen, geht der Schnitt blank durch die härteſten Gerölle. Da der Vor— gang hier derſelbe iſt wie in Vitznau und an andern Orten, nur um das Hundert— fache vergrößert, ſo frägt der Verfaſſer mit Recht: „Was hindert, ihn noch einmal um das Hundertfache zu vergrößern? Wer dürfte, ſofern nicht noch andere Kräfte als diejenigen des Waſſers nachweislich vor— liegen, noch größere Bilder nur um ihrer Größe willen von der Vergleichung aus— ſchließen? Sollte dieſe Kraft nicht ausge— reicht haben, um die rieſige Spalte der Via mala zu bilden, durch deren Wind- ungen der Rhein in dunkler Tiefe zwiſchen in's Freie ſucht, oder die Clus von Gaſtern, wo zwiſchen den himmelhohen, in ewigen Firn aufragenden Felsgeſtellen des Dolden— horn und der Altels die Kander in's offne Thal ſtürzt? Geht doch die Aehnlichkeit a 166 mit den Miniaturbildern in Vitznau bis in kleine Züge. An den engſten Stellen der Rheinſchlucht ſieht man nicht ſelten, daß Felsblöcke, die ſich in der Spalte feſt— geklemmt, das Waſſer zwangen, hinterher und ringsherum ſein Bett beckenartig zu erweitern, um den Bann zu löſen.“ Aus der jüngeren Zeit zur älteren übergehend, ſchildert der Verfaſſer in dem Capitel: Erratiſche Erſcheinungen die Spuren der Eisbedeckung, die ſich durch zahlreiche Findlinge, Granite, namentlich vom Gotthard, Kalk- und Sandſteinblöcke durch die Moränen, Schliff-Flächen und abgerun— deten Hügel (roches moutonnées) der Um— gebung als einen den ganzen Leib des Berges bis zur Höhe von 10—1200 Meter um⸗ ſpannende ausweiſt. Nur die höchften Gipfel der Gruppe ragten damals als öde Felsinſeln aus der Eisfluth empor, deren höchſten Stand der Verfaſſer durch Wolken— ſtreifen auf den Anſichten anzudeuten ver— ſuchte. Sind dieſe peripheriſchen Erſchein— ungen noch einigermaßen verſtändlich, ſo legt der geognoſtiſche Kern, der im vor- letzten Capitel geſchilderte Leib des Berges, urgeſchichtliche Probleme dar, deren wahr— ſcheinliche Löſung der Verfaſſer in vorſich- tiger Reſerve nur andeutet. Die Nagelfluh läßt ſich kaum anders begreifen, als in— dem man ſie als tertiäre Geröllablager— ungen reißender Bergſtröme auffaßt, wo— ſelbſt ſie die Ufer und Buchten des Molaſſe— Meeres in der Nähe der Strommündungen bezeichnen. Aber ihre Lagerung ſowohl, wie die Beſchaffenheit ihrer Gerölle bietet noch einen großen Reſt ungelöſter Probleme, ebenſo wie die Thal- und Seebildungen in der Umgebung des Berges, die der Ver— faſſer im letzten Capitel beleuchtet. Wir brauchen nach der oben gegebenen Probe weder darauf hinzuweiſen, daß das Literatur und Kritik. Werk reich an neuen Gedanken iſt, noch daß es in einer allgemeinverſtändlichen Sprache geſchrieben iſt. Zu dem guten Gedanken, ein von Tauſenden aufgeſuchtes Wallfahrtsziel der Alpen zum Ausgangs- punkte einer erdgeſchichtlichen Betrachtung zu machen, geſellte ſich eine ſo genaue Detail— kenntniß und ein künſtleriſch ſo geſchultes Auge, um uns eine Muſterſchilderung zu geben, wie fie der Regina montium von Rechts wegen vor andern Bergen gebührt, und ebenſo iſt den Anforderungen an ein wür— diges äußeres Gewand von Seiten der Ver— lagshandlung in anerkennenswerther Weiſe genügt worden. Die menſchliche Arbeitskraft. Von Dr. Guſtav Jäger, Prof. der Zoo— logie, Anthropologie und Phyſiologie in Stuttgart. München, Druck und Verlag von R. Oldenbourg 1878. Seuchenfeſtigkeit und Conſtitutions— kraft und ihre Beziehung zum ſpeci— fiſchen Gewicht des Lebenden von Dr. med. Guſtav Jäger, Prof. des Königlichen Polytechnikum und der Thier— arzneiſchule in Stuttgart und der land— wirthſchaftlichen Akademie Hohenheim. Leipzig, Ernſt Günther's Verlag 1878. Beide Schriften des geſchätzten Verfaſſers ſind faſt gleichzeitig erſchienen, und es läßt ſich nicht verkennen, daß die zweite ſich aus der erſten entwickelt hat, — worin die gleich— zeitige Beſprechung beider auch ihre Be— gründung finden möge. „Die menſchliche Arbeitskraft“ bildet ein neues Glied in der Kette jener populären Abhandlungen über die „Naturkräfte“ und nimmt unter ihnen einen hohen Rang ein. Nachdem der Verfaſſer, geſtützt auf die phyſiologiſche Abtheilung ſeines Lehrbuches BEN. Literatur und Kritik. 167 der allgemeinen Zoologie“), einen gemein- Man könnte ſich darüber wundern, daß verſtändlichen Abriß der einſchlägigen phyſio- für ähnliche Fälle nicht längſt die Be— logiſchen Thatſachen gegeben hat, behandelt ſtimmung des ſpecifiſchen Gewichtes heran— er mit beſonderer Ausführlichkeit und in gezogen wurde, um ein entſcheidendes Urtheil gewohnter ſelbſtſtändiger origineller Weiſe über das Weſen der Körpergewichtszunahme alle die Arbeitskraft fördernden und hemmen- zu gewinnen, indeſſen liegt die Annahme den Momente; namentlich bieten die Kapitel nahe, daß wohl ſchon früher daran gedacht, über die Berufsarbeit, das Turnen und aber davon wieder abgeſtanden wurde, weil das Militärweſen ſoviel Neues und Be- man die Sache nicht für ausführbar hielt. Ab— herzigenswerthes, daß man nicht allein die geſehen von den techniſchen Schwierigkeiten Verbreitung des Buches im Volke, ſondern wird die ſicherſte Methode der Wägung, im auch feine eingehende Berückſichtigung von Waſſer, ſchon deshalb keine ganz exakten Seiten der Regierungen nur dringend wün- Reſultate liefern, weil der Luftgehalt der ſchen kann. — Lungen kaum in allen zu vergleichenden In der Broſchüre über „Seuchenfeſtig-⸗ [Fällen auf der gleichen Höhe gehalten keit ꝛc.“ hat nun der Verfaſſer die ſchon werden kann. Ferner kann die ſehr ver— im obigen Werke berührte Frage über die ſchiedene Menge der Darmgaſe und viel— Bedeutung des ſpecifiſchen Gewichtes für leicht auch der Blutgaſe bei den einzelnen den Beſtand und die Entwickelung des Menſchen leicht zu Fehlſchlüſſen Veran— thieriſchen Organismus, der nicht hoch genug laſſung geben, wenn man das Verhältniß zu veranſchlagenden Wichtigkeit der Sache zwiſchen Waſſer und den ſpecifiſch ſchwereren entſprechend, ausführlich bearbeitet. Wenn Körperbeſtandtheilen feſtſtellen will. auch die Zunahme des abſoluten Körper- Es iſt nun das große Verdienſt des gewichts ſchon ſeit alten Zeiten meiſt als Verfaſſers, angeregt durch die Ergebniſſe Zeichen eines günſtigen Geſundheitszuſtandes vielfacher Verſuche über die Erhöhung der oder Krankheitsverlaufes aufgefaßt wurde, Leitungsfähigkeit der Nerven bei vorgängiger ſo benutzte man doch erſt in der neueren Waſſerentziehung, ſowie zahlreicher Beobacht— Zeit genaue Wägungen des Kranken, um ungen, die eine ganz bedeutende Zunahme des die nöthige Sicherheit in der Beurtheilung ein- ſpecifiſchen Körpergewichtes nach waſſerent— ſchlägiger Fälle herbeizuführen. Selbſtver- ziehender Lebensweiſe zeigen, muthig an die ſtändlich kann aber die Zunahme des ab- Ueberwindung dieſer Hinderniſſe gegangen zu ſoluten Körpergewichtes unter Umſtänden ſein, und wenn ihm das auch noch nicht voll— auch eine Verſchlimmerung der Krankheit mit ſtändig geglückt iſt, fo haben ſich doch jo ſich führen (wie bei waſſerſüchtigen Zuftänden), bedeutende Unterſchiede im ſpecifiſchen Ge— und ſo bedeutet auch bei den verſchiedenen wicht herausgeſtellt, daß man ſchon jetzt Formen der Schwindſucht ein Steigen der die Ueberzeugung der Brauchbarkeit einer ſelbſt Geſammtmaſſe noch keineswegs eine günſtige nicht ganz vollkommenen Methode gewinnt. Wendung, wie noch ſo häufig von Aerzten Die Heranziehung der Aufſtellungen und Kranken angenommen wird, weil es von Naegeli über die Exiſtenzbeding— ſich hier in den meiſten Fällen um An- ungen der Spaltpilze, welche höchſt wahr— ſammlung von Waſſer und Fett handelt. ſcheinlich eine Rolle in der Geneſe vieler ) Leipzig, Ernſt Günther's Verlag 1878. Krankheiten ſpielen, iſt einer jener glück— 168 lichen Griffe, wie wir fie bei dem ideen— reichen Verfaſſer gewohnt ſind, und wir können nur dringend wünſchen, daß er von allen Seiten diejenige Unterſtützung finden möge, die dazu gehört, um den gefundenen Schatz vollſtändig zu heben. Abgeſehen von dem hohen Intereſſe, welches dieſe Broſchüre jedem Fachmanne ein— flößen muß, iſt noch der Nutzen in Anſchlag zu bringen, den jeder Laie aus den in ihr enthaltenen hygieniſchen und diätetiſchen Vorſchriften für die Bewahrung ſeiner Ge— ſundheit ziehen kann. Wir empfehlen daher dieſe Schrift unſeren Leſern aufs beſte. Kn. Dr. Hermann Heinrich Ploß. Das Kind in Brauch und Sitte der Völker. Anthropologiſche Studien. Stutt— gart, Auguſt Auerbach. 2 Bde. 616 S. in 8. Der Gegenſtand, welcher in dieſem Buche behandelt wird, war offenbar einer ſo eingehenden und ſorgfältigen Bearbeit— ung wie er hier gefunden hat, vollkommen würdig, nicht blos vom Standpunkte der Sittengeſchichte, ſondern auch von demjenigen der Urgeſchichte, Mythologie, Pſychologie, Anthropologie und Ethnologie. Denn in den Sitten und Gebräuchen des Familien— lebens, die mit der größten Hartnäckigkeit fortgepflanzt werden, concentrirt ſich wie in einem natürlichen Focus die Empfind— ungsweiſe des Volkes und in dieſer ein gut Theil der Abſtammungs- und Urge— ſchichte deſſelben. Allerdings hat der Ver— faſſer zunächſt mehr ſammeln und grup— piren, als ein Facit ziehen oder die pſychologiſche Analyſe beginnen wollen, aber es iſt ſchon höchſt werthvoll, alles das mit zuverläſſigen Quellen-Angaben geſammelt und in Parallele geſtellt zu finden, was Manches Literatur und Kritik. die einzelnen Stämme während der Schwan— gerſchaft der Mutter und bei der Geburt des Kindes beobachten, wie ſie Vater, Mutter und Kind behandeln, das Letztere legen, wickeln, tragen, ſtillen, benennen, taufen, welche diätetiſchen, mediciniſchen und chirur— giſch-kosmetiſchen Proceduren fie vornehmen, wie ihre Kinder-Spiele und ieder und Erziehungsmethoden beſchaffen find u. ſ. w. würde an Verſtändlichkeit ge— wonnen haben, wenn der Herr Verfaſſer als Einleitung kurz dasjenige erwähnt hätte, was Mac Lennan, Lubbock, Giraud— Teulon und Andere in neuerer Zeit über den Urſprung der Familie erarbeitet haben. Die ſonderbare Sitte der Couvade z. B. welche der Verfaſſer ausführlich behandelt hat, läßt ſich faſt nur auf Grund dieſer Forſch— ungen über die Vorgeſchichte der Familie einigermaßen befriedigend erklären. In andern Punkten hat jedoch der Verfaſſer mit Glück verſucht, dem Gedankengange der Naturvölker nachzugehen, ſo z. B. in dem Capitel, welches von der Darreichung ſym— boliſcher Spielzeuge für den Säugling handelt. So naheliegend der Gedanke iſt, dem Kinde nach Fröbel'ſchen Principien durch das Spiel Vorliebe für die Hand— habung gewiſſer Waffen und Werkzeuge, beſondrer Pflichten und Hantirungen einzu— flößen, ſo naheliegend iſt es auch, dieſe nach dem Geſchlechte des Kindes wechſelnden Geſchenke dem Auge noch vor dem Ver— ſtändniß des Spieles darzubieten, um die Vorliebe tief einzupflanzen, und man kann ſich daraus wahrſcheinlich am beſten die Entſtehung gewiſſer ſymboliſchen Handlungen und Attribute, die bei den Naturvölkern üblich ſind, erklären. Grade wie man bei uns den kleinen Mädchen womöglich ſchon in der Wiege die bedeut— ſame Puppe ſchenkt, ſo entſtanden wohl auch — Zu Literatur und Kritik. jene aus der Alterthümlichkeit des Ge— brauches erwachſenen Meinungen über die Nothwendigkeit und geheimnißvolle Wirk— ſamkeit ſolcher Spenden. „Bei den Sioux- und Algonfin-Indi- anern in Nordamerika heftet der Vater, welcher wünſcht, daß ſein Sohn ein ebenſo guter Jäger werde wie er ſelbſt, einen kleinen Bogen an die Wiege, die Natchez hingegen legen die Knaben auf Pantherfelle, die Mädchen auf Büffelhäute, um ihnen die Gemüthsart dieſer Thiere beizubringen. Der Guarani in Südamerika ſchenkt ſeinem Knaben Degen, Bogen und Pfeil in ver— kleinertem Maßſtabe und ermahnt ihn dabei ausdrücklich, ſich einſt als Mann in den Waffen zu üben und muthig gegen die Feinde zu ſein. Schon bei den alten Mexi— kanern erhielt das Kind vom Vater je nach dem Gewerbe deſſelben Nachbildungen von Werkzeug, Waffen u. ſ. w., das Mädchen aber eine kleine Spindel oder Webewerkzeug. Ganz ähnlich man an andern Punkten der Erde. Iſt die Geburt der Malayin der Samoa— Inſeln glücklich abgelaufen und das Kind ein Knabe, ſo wird ſein Nabel an einer Keule abgeſchnitten, damit der kleine Welt— bürger ein tüchtiger Krieger werde; iſt es ein Mädchen, ſo wird dieſe Procedur auf einem Brette vollzogen, auf welchem die Rinde (Tapa), woraus man Kleider ver— fertigt, weich geklopft und verarbeitet wird, damit das Mädchen zu einer geſchickten Hausfrau heranwachſe. Alſo ſofort nach der Geburt beginnt nach der Vorſtellung dieſer Völker der Einfluß ſymboliſcher Hand— lungen. — Bei den Guinea ⸗Negern legt der Namengeber den Knaben auf einen Schild und giebt ihm einen Bogen in die Hand, das Mädchen hingegen wird von einer Frau auf eine Matte gelegt und mit einem Stöckchen verfährt 169 zum Umrühren der Speiſen beſchenkt. — Der Lappländer hängt ſeinem Sohne als Spielwerk Bogen, Pfeile und Spieße aus Renthierhorn oder aus Zinn gemacht an die Wiege, um ihn ſchon früh an den Um— gang mit Waffen zu gewöhnen und ihm Liebe zu denſelben einzuflößen, der Tochter aber hängt er Flügel, Füße und Schnabel des Schneehuhns hin, um ſie fort und fort auf das ſchöne Beiſpiel des reinlichen und behenden Vogels hinzuweiſen. — Die alten Chineſen legten bei einem Knaben einen Bogen links, bei einem Mädchen ein Gürtel— tuch rechts von der Thür des Hauſes .... und ähnlich ſchmückten die alten Griechen die Thüre des Hauſes bei der Geburt eines Knaben mit einem Olivenkranz, bei der eines Mädchens mit Wolle. Die Neu— griechen hingegen geben dem Knaben Kuchen, Geld und Schwert, dem Mädchen Spindel und Spinnrocken in die Wiege, um jenen reich, glücklich und ſtark, dieſes aber fleißig werden zu laſſen. Die Montenegriner legen dem Knaben Piſtole und Büchſe, dem Mädchen ebenfalls Spindel und Rocken neben die Wiege und laſſen das Kind am Tauftage dieſe Gegenſtände küſſen; es ſoll dieſelben alſo ſchon frühzeitig lieben lernen.“ Auch aus Norddeutſchland weiſt der Verfaſſer ähnliche Taufgebräuche nach, und es iſt höchſt lehrreich zu ſehen, wie aus ähnlichen Grundvorſtellungen ähnliche Ge— bräuche bei den verſchiedenſten Völkern des Erdballs erwachſen ſind. Zum Theil werden dieſelben auch aus gemeinſamer Ahnen— Wurzel ſtammen, denn auch in der Zeit bleiben ſich die Kinderſpielzeuge ſehr gleich. Kinderklappern und Kinderpfeifchen in Ge— ſtalt hohlleibiger thönerner Vögel und vier— füßiger Thiere hat man bereits in uralten Kindergräbern gefunden. Beſonders ergiebig wird dieſe durch langjähriges Sammeln Literatur gewonnene Fundgrube nach der dem Ver— faſſer am nächſten liegenden ärztlichen Seite, und was er über künſtliche Verunſtaltung des Körpers, namentlich des Schädels und der Genitalien durch direkte Erkundigungen bei naturwiſſenſchaftlichen Reiſenden, Miſſio- nären und Aerzten über dieſe Punkte ge— ſammelt hat, würde man in den Reiſe— werken ſelbſt meiſt vergeblich ſuchen. So ſtellt ſich denn dieſes Buch nach den verſchie— denſten Seiten als ein ſehr werthvoller Beitrag zur Anthropologie und Ethno- logie dar. Ueber die heutige Aufgabe der Naturgeſchichte. Eröffnungs-Rede der 61. Verſammlung der Schweizeriſchen naturforſchenden Geſellſchaft, gehalten von dem Präſidenten C. Brunner von Wattenwyl. Bern, B. F. Haller, 1878. 24 S. in 8. In dieſer Eröffnungs-Rede erhalten wir nach gegenſeitiger Abwägung der ver— ſchiedenen Schöpfungstheorien das durch lebendige Beiſpiele erläuterte Facit, daß die Darwin'ſche Auffaſſung nicht allein die den Thatſachen am meiſten entſprechende, ſondern auch die würdigſte Auffaſſung der Natur Jede Schöpfung, deren Glieder der ſei. Plaſticität ermangelt hätten, würde den ſich verändernden Lebensbedingungen gegenüber, ein vergängliches ephemeres Werk geweſen ſein, nur die Anpaſſungsfähigkeit und Ver— änderlichkeit des Lebens konnte die Dauer, das ewige Leben, oder wenigſtens ein lan— ä—ö— — und Kritik. ges Beſtehen garantiren. An drcaſtiſchen Beiſpielen zeigt der Verfaſſer, daß die übliche Utilitätsſucherei z. B. bei Taſchen— berg zur Blasphemie führt, indem ſie erſt die Schlupfwespen preiſt, welche den Raupen ein qualvolles Ende bereiten, und dann auch die Schwalbe, weil ſie die Schlupf— wespen vernichtet. Der Abſcheu unſerer Zeitgenoſſen vor der Affen-Abſtammung wird durch das Beiſpiel des Flohes per— ſiflirt, der ſeine Herkunft von gemeinen Stechmücken nicht anerkennen will. „Ge— ſtützt darauf, daß er in intimen Beziehun- gen zu der Krone der Schöpfung ſteht und dieſe ſogar ſo zu ſagen beherrſcht, wird er ſich zur Perle dieſer Krone aufwerfen.“ Zum Schluſſe weiſt er auf denjenigen Unterſchied des Menſchen vom Thiere hin, der ihm am meiſten zur Ehre gereicht und ihn am beſtimmteſten von demſelben unter— ſcheiden möchte. „Der Menſch forſcht über das Weſen der Dinge nach, nicht mit dem Endzweck, ſeine Exiſtenz durch die erlangte Kenntniß zu verbeſſern, ſondern um die Dinge zu erkennen — und dieſes Stre- ben der Erkenntniß der Wahrheit an ſich iſt unſere Gottähnlichkeit! Das Be— dürfniß nach Wahrheit manifeſtirt ſich in der Religion wie in der Philoſophie, und es ſcheint mir, daß nicht bald ein Zweig des menſchlichen Wiſſens dieſen Zweck reiner zum Ausdruck bringt, als die Naturforſch— ung.“ Wahrlich eine nachahmenswerthe Rede bei Eröffnung von Naturforſcher— Verſammlungen. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Die Entdeckung der Leele. Von Prof. Dr. G. Jäger. Un einem Aufſatz der „Deut- [Fe ſchen Revue“ *) habe ich die Be⸗ 62 J hauptung aufgeſtellt, die Seele entdeckt zu haben, indem ich einen ganz beſtimmten chemiſchen Beſtandtheil des Körpers als Seele de— nuncirte, nämlich jenen Stoff, bez. jene Stoffe, welche die völlige Specifität des Ausdünſtungsgeruchs und des Fleiſch— geſchmacks bedingen. Da ich mich im erſten mich dem Leſer dieſer Zeitſchrift gegenüber kurz faſſen; aber ein Mißverſtändniß muß ich doch beſeitigen: Was wir an einem lebenden Weſen (Thier oder Pflanze) riechen und ſchmecken, iſt wahrſcheinlich in keinem einzigen Falle nur eine einzige chemiſche Subſtanz, jondern | ein Gemenge von Stoffen, deren Bedeutung nicht gleichartig iſt; ſicher hat ein Theil davon lediglich die eines Auswurfſtoffes, der vorher innerhalb des Körpers als ſol— cher eine Rolle ſpielt, aber nicht die ) Juli 1878: „Der todte Punkt in der Zoologie“. 1 der Seele. Dahin gehören z. B. beim Säugethier wahrſcheinlich alle ſogenannten Schweißſäuren, d. h. Säuren der Fett— ſäurenreihe, und die Aether derſelben. Aber nicht blos ſolche allgemein vorkommenden Ausdünſtungsſtoffe, wie die genannten, ſpreche ich von dem Verdacht, die Seele zu ſein, frei, ſondern auch viele von denen, die man bisher ſo nach dem allgemeinen Sprachgebrauch unter die Specifica rechnet. Bande des Kosmos (S. 17 u. 306) über dieſe Stoffe ausgeſprochen habe, ſo kann ich So haben gewiß manche der ätheriſchen Oele, die man den Pflanzen abgewinnt, entweder direkt nichts mit der Seele zu thun, oder bilden wenigſtens nur noch ein Zerſetzungs— produkt derſelben und ſind dann lediglich Auswurfſtoff. Dies geht ſchon daraus her— vor, daß manche dieſer ätheriſchen Oele mehreren verſchiedenen Pflanzenarten gemein— ſchaftlich zukommen. Der Seelenſtoff muß abſolut ſpecifiſch ſein; er darf ſich bei gar keiner anderen Species in völlig identiſcher Weiſe vorfinden; was aber ſehr möglich, ja faſt nothwendig iſt, iſt folgendes: Da zwei verwandte Arten verwandte Seelen haben, ſo kann es nicht ausbleiben, daß bei der Zerſetzung des Seelenſtoffes Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. N 172 der Art A ein Abſpaltungsprodukt auftritt, das auch bei der Zerſetzung der Seele von B erſcheint. Das Rettigöl, das Senföl und andere ſcheinen mir z. B. ſolche Stoffe zu ſein, die nicht die Seele ſelbſt ſind, ſondern nur eine in ihrem Molecül ent— haltene Atomgruppe, die bei der Zerſetzung derſelben frei wird. So iſt es wohl mög— lich, daß eine dieſer flüchtigen chemiſchen Verbindungen bei weit verſchiedenen Thier— arten vorkommt und nun zwar nicht deren Seelenſtoff ſelbſt, aber doch ein Abſpaltungs— produkt derſelben iſt. Ich habe hier unter den Thieren ſpeciell den Moſchusduft im Auge. Derſelbe kommt bei Tintenfiſchen, Käfern, Schmetterlingen, Krokodilen, Geiern, Raben, Wiederkäuern, Raubthieren u. ſ. w. vor, aber bei genauer Vergleichung dieſer „Moſchusthiere“ riecht ſelbſt ein weniger feiner Geruchsſinn doch ſofort beim Moſchus— käfer den Käfer, bei der Eledone moschata den Tintenfiſch, bei dem Krokodil das Rep— til, beim Geier den Vogel und beim Moſchus— thier den Wiederkäuer heraus. Hier giebt es nur zwei Möglichkeiten: entweder liegen lauter verſchiedene Moſchusſorten vor, oder wir haben es in jedem Falle mit einem Gemenge des ſpecifiſchen Seelenſtoffes, mit einem allgemeinen Zerſetzungsprodukte des- ſelben zu thun. Ueberhaupt, wenn meine Behauptung, die Seele ſei eine beſtimmte chemiſche Sub— ſtanz, richtig iſt, fo unterliegt dieſe den Ge— ſetzen des Stoffwechſels gerade ſo gut wie die übrigen Miſchungsbeſtandtheile des Kör— pers. Das Material zu ihrer Bildung wird von außen in der Nahrung aufge— nommen und nachdem ſie ihre Dienſte im Körper gethan — wovon nachher — wird ſie auch wieder abgeſondert und zwar wahr— ſcheinlich nicht ohne vorher die eine oder andere Zerſetzung erfahren zu haben. Da Jäger, Die Entdeckung der Seele. ferner dieſe Zerſetzungsprodukte genau ſo flüchtig ſind wie die Seele ſelbſt, ſo muß der Ausdünſtungsgeruch die erſtere eben jo ſicher enthalten als die letztere. Wir wer— den übrigens weiter unten noch viel ge— nauer die Sache fixiren können und nament— lich auch erfahren, auf welcher Fläche des Körpers der Seelenſtoff am reinſten, d. h. nicht getrübt durch Auswurfſtoffe anderer Art, zur Abdünſtung kommt. I. Meinen weiteren Erörterungen ſtelle ich am ſchicklichſten das Wort meines Lands— mannes Schiller voran aus ſeinem Ge— dicht „die Weltweiſen“: Doch weil, was ein Profeſſor ſpricht, Nicht gleich zu Allen dringet, So übt Natur die Mutterpflicht Und ſorgt, daß nie die Kette bricht Und daß der Reif nicht ſpringet. Einſtweilen, bis den Bau der Welt Philoſophie zuſammen hält, Erhält ſie das Getriebe Durch Hunger und durch Liebe. Hiermit verweiſt der Dichter die von der Philoſophie bisher vergebens angeſtrebte Löſung des Räthſels nicht blos vor das Forum der Naturwiſſenſchaften überhaupt, ſondern ſpeciell vor das der Zoologie, in deren Gebiet die Erſcheinungen des Hungers und der Liebe gehören. Wie ſehr der Dichter den Nagel auf den Kopf getroffen hat, werden die folgenden Zeilen lehren. Verſucht ein Leſer ſich in einem Hand— buch der Phyſiologie darüber zu belehren, was Hunger und Liebe ſei, ſo wird er dort nichts finden als einige Symptome, aber keine Spur davon, was es denn eigentlich für Kräfte ſind, die da als treibend, agi— tirend und ſchließlich dirigirend auftreten. Ich glaube das jetzt ganz genau ſagen zu können: Die Erklärung des Hungers — um mit dieſem zu beginnen — iſt natürlich S Zu Jäger, Die Entdeckung der Seele. nur dann richtig, wenn ſie zugleich den Zuſtand des Sattſeins, das Sättigungs— gefühl erklärt. Beide Zuſtände eines lebenden Weſens unterſcheiden ſich dadurch von einander, daß das Sattſein ein Zu- ſtand der Ruhe oder wenigſtens des Be— ruhigtſeins, der Hunger ein Zuſtand der Unruhe, der Aufregung und zwar einer Nervenaufregung iſt. Welcher Art iſt nun der hier wirkſame Nervenreiz? Die Sache iſt ſo: Ein Thier iſt ſatt, wenn ſeine Körper— ſäfte fo viele, leicht oxydirbare Subſtanzen, insbeſondere Fette und Kohlenhydrate, ent— halten, daß der fort und fort in den Kör— per eindringende Sauerſtoff in der Haupt— ſache von dieſen dingfeſt gemacht und ver— hindert wird, die Eiweißtheile des Körpers anzugreifen und zu zerſetzen. Sobald nun der Vorrath von Circulationsfett und cir— culirenden Kohlenhydraten erſchöpft iſt, be— ginnt, wie die Experimente bei hungern— den Thieren unwiderleglich darthun, eine umfänglichere Eiweißzerſetzung, und mit ihr erſcheint der Hunger. Er iſt ein Sym p- tom der Eiweißzerſetzung. Wie ich in meinen oben erwähnten Artikeln im Kosmos und in der Deutſchen Revue ſagte, ſteckt der Stoff, welchen ich als die Seele bezeichne, im Molecül des Eiweißes. So lange dieſes unverſehrt iſt, befindet ſich die Seele im gebundenen Zuſtand und iſt völlig wirkungslos. Mit der Eiweißzerſetzung da— gegen wird die Seele frei und tritt als ſelbſtſtändig agirender Faktor auf. Betrach- ten wir zuerſt die Eiweißzerſetzung außer— halb des Körpers im Reagensglaſe. Wenn man aus Blut oder Fleiſch eines Thieres ſich ein möglichſt reines, geſchmack— und geruchloſes Eiweiß darſtellt und daſſelbe durch eine Säure zerſetzt, ſo erſcheint ein flüchtiger Stoff, der bei jeder Thierart 173 anders, alſo völlig ſpecifiſch iſt. Je nad) der Intenſität der Zerſetzung gleicht der auftretende Geruch dem ſpezifiſchen Koth— geruch des Thieres oder dem Geruch, welchen das Fleiſch beim Kochen entwickelt — dem ſpecifiſchen Bouillongeruch. Erſteren erhalten wir z. B., wenn wir zur Zerſetzung Phosphorſäure verwenden, letzte— ren mit der ſchwächeren Schwefelſäure. Auf dieſe Differenz kommen wir ſpäter zurück. Das von mir gemeinte Specificum ſteckt im Eiweiß, wird frei, ſobald dieſes zerſetzt wird, und iſt in unſerem Fall der Ner— venreiz, das Excitans oder Nervi— num, das die Nervenaufregung des Hungers erzeugt. Daß der ſpecifiſche Ausdünſtungsgeruch eines Thieres (oder einer Pflanze) für ein Thier, das ſich von ihm (reſp. ihr) nährt, als ſehr energiſcher Nervenreiz wirkt, iſt unumſtößliche Thatſache und ſomit die Quali tät dieſer Stoffe als „Nervina“ außer Zweifel. Was man bisher überſehen hat, iſt die Rolle, die fie als Nervina im Leibe ihres Erzeugers ſpielen. Sie ſind hier ſo gut Nervina, wie außerhalb deſſelben; da— bei iſt es aber nicht ſo gemeint, daß wir uns ſelbſt riechen oder ſchmecken, das wäre eine Sinnesempfindung, und eine ſolche iſt der Hunger nicht, ſondern ein Gemeingefühl. Der chemiſche Stoff, um den es ſich han— delt, durchdringt, als in hohem Grade flüchtig und löslich, den ganzen Körper und wirkt direkt auf das ganze Nervenſyſtem, genau ſo wie ein in unſere Säftemaſſe ge— langtes Medicament oder die von Joh. Ranke nachgewieſenen Ermüdungsſtoffe. Wenn meine Lehre vom Hunger richtig iſt, dann muß ein Thier im Hungerzuſtand eine ſtärkere ſpecifiſche Ausdünſtung haben, als wenn es ſatt iſt. Dies iſt in der That der Fall: verhungerte Thiere haben einen 174 Jäger, Die Entdeckung der Seele. viel ſtärkeren Ausdünſtungsgeruch, und ihr Fleiſch iſt viel reicher an ſchmeckenden Be— ſtandtheilen. Ein weiterer weſentlicher Punkt bei der Erklärung des Hungers iſt, daß die vom Hunger in Scene geſetzte Thätigkeit unter den genießbaren Naturgegenſtänden eine beſtimmte Auswahl trifft; mit andern Worten: die Nahrungswahl muß aus der gleichen Urſache erklärt werden. Auch hierzu reicht meine Lehre vollſtändig aus. Das Thier nimmt, wenn es die Wahl hat, nur ſolche Nahrung, deren Ausdünſtungsgeruch bezüglich -Geſchmack ihm angenehm iſt und weiſt alles Unangenehme zurück. Der Kern— punkt der Frage iſt alſo: Was iſt an— genehm und was iſt unangenehm? Es iſt das keine den fraglichen Stoffen an und für ſich eigene Qualität — wie könnte ſonſt ein und derſelbe Duft dem einen Thier angenehm, dem anderen höchſt fatal ſein? Die Bewegung, welche das Molecül eines Geruchſtoffes ausführt, iſt an und für ſich eben ſo wenig angenehm oder unangenehm, als ein einzelner Ton. Auf dem Gebiet der Schallſchwingungen kommt die Qualität von „angenehm“ oder „unangenehm“ erſt dann in Frage, wenn mindeſtens zweierlei Töne zugleich erklingen. Angenehm iſt dann das, was wir die Harmonie der Töne nennen, unangenehm iſt das Diſſonanzver— hältniß. Worauf das beruht, ſetze ich als bekannt voraus. Bei den Gerüchen iſt es genau ebenſo; es gehört hierzu das Zu— ſammentreffen von mindeſtens zweierlei Duft— ſtoffen; harmoniren die Duftbewegungen des einen mit denen des anderen, ſo iſt das Reſultat ein angenehmer, andernfalls ein unangenehmer Eindruck. Die zwei Duftſtoffe nun, um die es ſich bei der Nahrungswahl handelt, ſind erſtens der Nahrungs duft, zweitens der Selbſtduft und zwar ſo: Wenn ein Thier hungrig iſt, fo ent— ſtrömt ſein ſpecifiſcher Ausdünſtungsgeruch allen Körperoberflächen, alſo auch der Riechſchleimhaut, ja ihr ſogar am reinſten, d. h. nicht verunreinigt durch Schweißſäuren wie in der Hautausdünſtung. Bei einem Hungrigen iſt alſo der Selbſt— duft in verſtärktem Maße auf der Riech— ſchleimhaut vorhanden, und dort findet das entſcheidende Zuſammentreffen deſſelben mit dem Nahrungsduft ſtatt. Bezüglich der Geſchmacksſtoffe findet die Begegnung auf den Geſchmackspapillen ſtatt. Dieſe Erklärung leiſtet alles, was man verlangen kann, nämlich auch das, warum ein und derſelbe Speiſeduft, der den Hung— rigen reizt, ihn gleichgültig läßt, wenn er ſatt iſt. Im letzteren Fall fehlt das die Reizung bedingende Moment der Harmonie, weil bei einem ſatten Menſchen mit der Einſtellung der Eiweißzerſetzung auch die Entwickelung des Selbſtduftes fortfällt, alſo letzterer auf der Riechſchleimhaut nicht oder nicht in genügender Menge vorhanden iſt, wenn der Speiſeduft ankommt. Der Ekel vor einer Speiſe, von der man einmal zu viel oder zu lange Zeit hindurch ge— geſſen hat, läßt ſich darnach ſo erklären, daß eine Sättigung des Körpers mit dem Duft⸗ und Geſchmacksſtoff jener Speiſe ſtattgefunden hat, beim Hunger nun ein Zerſetzungsprodukt derſelben flüchtig wird und auf Riech- und Geſchmacksfläche er— ſcheint, das in Disharmonie mit dem friſchen Duft- und Geſchmacksſtoff der Speiſe ſteht. So erklärt es ſich auch, daß die Zeit dieſen Widerwillen heilt. Wenden wir uns nun zur Erklärung der Liebe, wobei ich jedoch etwas voraus— ſenden muß. Es iſt bekannte Thatſache, daß die ver— ſchiedeuen Organe eines und deſſelben Thieres . * 7 verſchiedenartige Duft- und Geſchmacksſtoffe beſitzen. Jeder weiß, daß bei gleicher Zu— bereitung Niere, Leber, Bröschen, Hirn, Muskelfleiſch, Kutteln u. ſ. w. eines Thieres leicht am Geſchmack unterſchieden werden, und mit der Naſe überzeugt man ſich, daß auch ihre Duftſtoffe verſchieden ſind. Der Arzt weiß ferner, daß Knocheneiter, Lungen— eiter, Abdominaleiter, Muskelwundeneiter am Duft deutlich unterſchieden werden können. Ja es iſt Thatſache, daß manche Aerzte die Krankheiten „riechen“ d. h. am Ausdünſt— ungsgeruch erkennen. Ich ſage daher: Jedes differente Organ hat ſeinen eigenartigen Seelenſtoff; es giebt eine Muskelſeele, Nieren— ſeele, Leberſeele, Nerven- und Gehiruſeele, | die aber alle nur Modificationen d. h. Differencirungen des primä⸗ ren Eiſeelenſtoffes ſind. In welchem Verhältniß ſie zu einander ſtehen, davon ſpäter, hier ſoll nur geſagt werden, daß die Geſchlechtsſtoffe d. h. Eier und Samen ebenfalls ihre eigenthümliche Seelenſtoff— modification im Molecül ihres Albuminates führen. Der ſtark auffallende Geruchſtoff des Samens hat längſt einen eigenen wiſſen— ſchaftlichen Namen, aura seminalis, den des Eies nenne ich aura ovulalis. Die Liebe — ich meine natürlich hier zunächſt nur die geſchlechtliche — iſt ein Zuſtand der Nervenaufregung, genau wie der Hunger, nur daß ſie ſich auf andere Gebiete des Nervenapparates wirft. Auch hier iſt das Excitans ein flüchtiger, chemiſcher Stoff, deſſen Flüchtigkeit dadurch zu Tage tritt, daß auch er im Ausdünſtungsgeruch erſcheint: zur Brunſtzeit iſt der Ausdünſt— ungsgeruch bei allen Thieren nicht blos verſtärkt, ſondern „modificirt“; dies gilt auch vom Menſchen. Allgemein bekannt iſt, daß das menſchliche Weib zur Zeit der Menſtruation einen anderen Ausdünſtungs— Jäger, Die Entdeckung der Seele. 175 geruch hat, an den ſich eine Menge von Volksaberglauben knüpft. Erfahrene riechen ihn ſofort und ich kann hinzufügen, daß auch beim Manne mit dem Eintritt der Ge— ſchlechtsreife eine Veränderung des Aus— dünſtungsgeruches eintritt. Ein Jeder kann ſich durch Beriechung der Leibwäſche über— zeugen, daß Knabenwäſche anders duftet, als Männerwäſche. Ob zwiſchen derjenigen von weiblichen Kindern und mannbaren | | Mädchen ein Unterſchied beſteht, konnte ich noch nicht prüfen, dagegen iſt der Geruch von Männerwäſche und Frauenwäſche deut— lich erkennbar verſchieden. Das Excitans, das ſich im Geſchlechts— trieb äußert, iſt beim Manne nun die aura seminalis, beim Weibe die aura ovulalis. An der unreifen Hode eines jungen Thieres mangelt die aura seminalis, fie tritt erſt auf, wenn der Samen reif iſt und — wie das ja bei den meiſten Thieren der Fall iſt — ſich bewegt. Dieſe vermehrte phyſio— logiſche Arbeit iſt mit einer Zerſetzung der Samen-Nucleine, da aber Nuclein eine Syntheſe von Lecithin und Eiweiß iſt, mit einer Eiweißzerſetzung verbunden und zwar, da in deſſen Molecül der Duftſtoff ſteckt, unter Entwickelung des letzteren. Dieſer durchdringt die ganze Säftemaſſe und bei manchen Thieren, z. B. den Gemsböcken, ſo ſehr, daß das Fleiſch derſelben für viele Menſchen ekelhaft, ungenießbar wird. Daß die Geſchlechtsdüfte in hohem Grade nervenaufregend ſind, wiſſen wir aus der Wirkung, die ſie auf das andere Geſchlecht ausüben. Was bisher überſehen wurde, iſt, daß ſie auch im Leibe ihres Erzeugers als Nervina wirken und die charakteriſtiſche Nervenaufregung des Geſchlechtstriebes er— zeugen. Beim weiblichen Thiere ſpielt die aura ovulalis die gleiche Rolle. Sie iſt nicht jo bekannt wie der Samenduft, aber. n 176 wer z. B. einen reifen Fiſchrogen beriecht, wird finden, daß ſie ſo energiſch iſt, wie letzterer. Bei dem Säugethier-Ei entzieht ſie ſich nur der direkten Ermittelung durch die Kleinheit und verſteckte Lage des Ob— jelts. Bei dem Vogel-Ei kommt uns die— ſelbe in einem ſpäteren Stadium, dann aber ebenfalls ſehr energiſch zue Wahrnehmung, denn ein angebrütetes Ei riecht auffallend ſtark und ſchmeckt ganz anders als zur Zeit, wo es ruht. Die bei vielen Eiern, namentlich Fiſch-Eiern, conſtatirten, ſchon vor der Befruchtung ähnlich wie bei den Samenfäden eintretenden Dotterbewegungen, die mit Eiweißzerſtörung, alſo auch mit Duft- entbindung verbunden ſind, ſind die Symp— tome der Eireife. Wie beim Hunger iſt auch bei der Liebe der Trieb nicht richtungslos, ſondern auf ein beſtimmtes Objekt gerichtet, und die hierbei getroffene Auswahl iſt bei allen Thieren, deren phyſikaliſcher Seelenapparat nicht zu ſo überwiegender Entwickelung ge— langt iſt, wie beim Menſchen und zum Theil auch den Vögeln — ganz allein von dem Geruchsſinn beeinflußt und hängt von der Harmonie und Disharmonie der beiden in Betracht kommenden Duftſtoffe ab: Auf der Riechſchleimhaut des Männchens iſt der Samenduft präſent und begegnet dort dem Eiduft des Weibchens, mit dem es ent— weder harmonirt oder nicht; das umge— kehrte iſt beim Weibchen der Fall. Mit der Ausſtoßung des Samens und des Eies iſt die Quelle der Duftſtoffe verſiegt, und der Geſchlechtstrieb verſchwindet. Auch in dem Stück verhält ſich die Liebe wie der Hunger, daß der Geſchlechts— duft dann keine Wirkung auf das andere Geſchlecht macht, wenn dieſes nicht ſelbſt im Zuſtande der Liebe ſich befindet: Weil dann der eigne Geſchlechtsduft auf der Jäger, Die Entdeckung der Seele. Riechſchleimhaut des letzteren nicht präſent iſt, ſo kann der fremde Geſchlechtsduft keine „angenehme“ Qualität erlangen. Ja es kann ſogar die Sache, wie beim Ekel vor einer ſonſt gern genoſſenen Speiſe, in's Gegentheil umſchlagen. Dies zeigen uns die Thiere, bei denen die Weibchen nach erfolgter Conception ihre Männchen meiden, ja fliehen. Am deutlichſten iſt das bei den vielen — wenn auch nicht allen — Säuge— thieren, deren Eier ſich im Leibe der Mutter fortentwickeln. Wir müſſen deshalb und weil dabei noch andere pſychiſche Erſcheinungen auftreten, dieſen Fall noch weiter verfolgen. Die geſchlechtliche Aufregung legt ſich beim Weibchen nach erfolgter Conception deshalb, weil mit ihr offenbar die Quelle für die Entbindung der ſpecifiſchen aura ovulalis verſiegt: Das Ei iſt jetzt ein Gemenge von Samen und Dotter und damit ſeine Ausdünſtung entſchieden anders geworden; dieſelbe hat ihre nervenreizende Eigenſchaft verloren, wir können vielleicht ſagen: ſie iſt neutraliſirt. Beim Men— ſchen können wir aber deutlich ſehen, daß auch von dem ſich entwickelnden Ei noch eine pſychiſche Beeinfluſſung ausgeht, die nur durch die Emanation eines Duftſtoffes aus der Frucht er⸗ klärt werden kann, da ſie ſich in dem Auftreten von Idioſynkraſien des Geſchmacks- und Geruchsſin— nes und pſychiſchen Umſtimmungen äußert. Thatſache iſt, daß ſchwangere Frauen Speiſen und Gerüche zurückweiſen, die ihnen vorher angenehm waren, ja oft allen Appetit nach Speiſen verlieren, alle Speiſen zurückweiſen oder umgekehrt Gelüſte nach Dingen bekommen, die ſie vorher ver— abſcheuten. Dies erklärt ſich völlig durch die Annahme, daß auf der Riech- und Schmeckſchleimhaut chemiſche Stoffe vor— ——— 0 Jäger, Die Entdeckung der Seele. handen ſind, die vorher nicht gegenwärtig den Charakter der Aufregung oder Leiden— waren, und daß ſomit für die Speiſedüfte und Geſchmäcke andere Harmonie- und Disharmonie-Verhältniſſe beſtehen. Die pſychiſchen Alterationen erklären ſich daraus, daß dieſe Stoffe auch in der Säftemaſſe präſent ſind und die Erregbarkeit der Nerven beeinfluſſen. Da das mit der Ausſtoßung der Frucht aufhört, ſo können dieſe chemi— ſchen Stoffe nichts Anderes ſein, als die Ausdünſtungsſtoffe der Frucht. Auch der Wechſel der Idioſynkraſien während der Schwangerſchaft erklärt ſich leicht daraus, daß mit der fortſchreitenden Gewebe- und Organdifferencirung der Frucht neue Mo— dificationen der Duftſtoffe auftreten: Muskel— düfte, Leberdüfte, Nierendüfte u. ſ. f. Die Flucht trächtiger Weibchen vor den Männ— chen erklärt ſich vollkommen durch die An— nahme, daß die jetzt auf der Oberfläche der Riechſchleimhaut zur Präſenz gelangen— den Ausdünſtungsdüfte der Leibesfrucht in Disharmonie mit dem Brunſtduft des Männ— chens ſtehen. Bekanntlich kommt dieſe Mannesſcheu während der Schwangerſchaft manchmal in einem bis zur Geiſteskrank— heit ſich ſteigernden Grade vor. Das Charakteriſtiſche der ſexuellen Liebe iſt 1) daß ſie nur zur Zeit der Ge— ſchlechtsreife vorhanden iſt, weil eben das ſie bedingende Excitans die Brunſtdüfte ſind, 2) dadurch, daß ſie ein Zuſtand der Nervenaufregung und vom Verſtand d. h. den Erfahrungsmechanismen wenig be- einflußt iſt. zwei andern Arten der Liebe, die fami— liäre, Eltern und Kinder zuſammenbindende, und die ſociale (Freundesliebe) dadurch, 1) daß die in Frage kommenden Seelenſtoffe nicht die ſexuellen, ſondern die allgemeinen ſind, dieſe Liebe alſo unabhängig iſt von der Geſchlechtsreife; 2) daß ſie viel weniger Hiervon unterſcheiden ſich die Theorie der Seele gehört hatte, interpellirte 177 | ſchaft tragen. Am nächſten ſteht der ſexuellen Liebe die Eltern- reſp. Jungenliebe, kurz die interfamiliäre; ſie trägt noch am meiſten den Charakter des Inſtinktiven, Leidenſchaftlichen, von den Erfahrungsmecha— nismen weniger Beeinflußten. Deshalb iſt auch bei ihr die Betheiligung der Duftſtoffe noch ſehr deutlich. Schon die Thatſache, daß junge Meerſchweinchen, deren Geruchs— organ man zerſtört, ihre Mutter nicht mehr erkennen und lieben, und eine Meerſchwein— chenmutter, deren Geruchsſinn zerſtört iſt, ihre Kinder nicht mehr findet und liebt, ferner die früher (Kosmos Bd. I, ©. 316) von mir berichtete Thatſache, daß die Schafmütter ihre Elternliebe nur unter der Bedingung ſympathiſcher Ausdünſtung des Jungen bethätigen, zeigt, daß auch bei dieſem pſychologiſchen Verhältniß die Duft— ſtoffe der spiritus rector ſind. Ich kann ein neues höchſt intereſſantes, zu leicht anzuſtellenden Verſuchen aufforderndes Bei— ſpiel anführen: Einer meiner Bekannten, der von meiner mich über die Sache bei einem Beſuch, den ich ihm machte, in Gegenwart ſeiner Frau und ſeiner Schwiegermutter. Als ich nun davon ſprach, daß jeder Menſch vom andern durch ſeinen Ausdünſtungsgeruch unterſchieden werden könne, ſtimmte die Schwiegermutter ſofort bei und erzählte mir, ſie habe bei ihren verheiratheten Töchtern wiederholt die Beob— achtung gemacht, daß ein kleines Kind ſeine Mutter „rieche“, d. h. mit dem Geruchsſinn von andern Perſonen unterſcheide, und zwar daran, daß ſie oft geſehen habe, wie ein mit geſchloſſenen Augen daliegendes Kind ſich nach der vorübergehenden Mutter ge— wendet und nach ihr die Arme ausgeſtreckt 178 habe, während dies niemals geſchehen fet, wenn eine andere Perſon vorüberging. Die Frau eines andern meiner Bekannten be— hauptet das Gleiche. Dem kann ich hinzu— fügen: Wenn ein Säugling die gewohnte Bruſt mit einer fremden vertauſchen ſoll, ſo paſſirt es zwar nicht immer, aber oft, daß das Kind die fremde Bruſt abſolut nicht annehmen will; dieſer Widerſtand kann dann gebrochen werden, wenn man die fremde Bruſt „verwittert“, indem man Milch von der gewohnten Bruſt dazu nimmt. Ich bin überzeugt, daß es ſogar genügt, wenn die Mutter auch nur das oberfläch— liche Hautſecret ihrer Bruſt der fremden Bruſt aufſtreicht. Ferner: wenn die Mutter einem ſchlafenden, aber durſtigen Kind auch nur die Hand giebt, ſo ſucht das Kind nach der Warze oder ſucht zu ſaugen, während der Vater einen ſolchen Verſuch meiſt reſultatlos machen wird: das Kind unterſcheidet Vater und Mutter nach der Hautausdünſtung. wäre höchſt intereſſant, Verſuche hierüber machen und im Kos— mos zur Veröffentlichung bringen würde. Die Erklärung liegt nun wohl darin: der erſte Punkt iſt, daß der Aus— dünſtungsgeruch von Mutter und Kind verſchieden iſt, was man am Duft der Wäſche in concentrirter, niemand verborgen Damit bleibender Weiſe conſtatiren kann. iſt die Möglichkeit ſowohl von Harmonie und Disharmonie, als auch von Indifferenz beider Düfte gegeben und deshalb ſehen wir auch, daß bei zahlreichen Thierarten die Alten ſich um ihre Jungen, beziehungsweiſe Eier, nicht im geringſten kümmern, ja manche ſie ſogar auffreſſen und tödten; letz— teres geſchieht allerdings meiſt nur väter— licherſeits. Interfamiliäre Bande ſind alſo keine allgemeine Erſcheinung, ſondern ge— Es wenn einer der Leſer, der momentan dazu in der Lage iſt, Jäger, Die Entdeckung der Seele. knüpft an die Harmonie der allgemeinen Duftſtoffe von Mutter und Kind. Durch dieſe Annahme wird auch erklärt, warum die interfamiliäre Liebe meiſt von be— grenzter Dauer iſt. Mit der bei den heranwachſenden Jungen vor ſich ge— henden Abänderung des Duftſtoffes, wobei namentlich der Moment der Geſchlechtsreife der Jungen oder umgekehrt das Auftreten einer neuen Brunſtperiode bei der Mutter eine große Rolle ſpielt, ſchlägt das Har- monieverhältniß oft plötzlich in's Gegentheil um, in Disharmonie oder in Indifferenz. Die ſociale Liebe, welche die ge— ſellig lebenden Thiere verbindet, und deren ſublimſte Form die Freundesliebe beim Menſchen iſt, entwickelt ſich offenbar erſt ſecun— där, zunächſt aus der interfamiliären und darum ſpielt bei ihr die Erfahrung und Gewohnheit, bei der die phyſikaliſchen Sinne natürlich in hohem Grade Antheil nehmen, eine erhebliche Rolle. Deshalb iſt die Mitwirkung der Duftſtoffe hier nicht ſo augen— fällig, wenigſtens in poſitiver Bedeutung, aber um ſo deutlicher doch in negativer. Wir denken z. B. nie daran, daß ein Theil der Sympathie, die uns an einen Freund und Genoſſen bindet, auch dem Umſtand zuzuſchreiben iſt, daß er eine uns ſympa— thiſche Ausdünſtung hat, aber doch hat jeder erfahren, daß ein Menſch, deſſen Aus- dünſtung uns permanent unſympathiſch iſt, nie Objekt eines eigentlichen Freundſchafts— bundes wird. Ich will endlich nur daran erinnern, daß die ſociale Spaltung zwiſchen Juden und Chriſten eine „inſtinktive“ und auf die mangelnde Harmonie ihrer Ausdünſt— ungsdüfte zurückzuführen iſt. Der Volks— mund nennt ja deshalb den Juden „ſtinkend“, eleganter ſpricht man jetzt von „pſychiſcher Disharmonie“. Dieſelbe Disharmonie be— ſteht zwiſchen Weißen und Negern, zwiſchen u a u n Jäger, Die Entdeckung der Seele. erſteren und Chineſen u. ſ. f. Dieſe Diffe⸗ renz der Racen- und Völkergerüche ſpielt | eine gewaltige Rolle in der Geſchichte der denn, was den Haſen mit einemmal in Menſchen und Völker. Das führt uns natürlich auf die Kehr- ſeite der Liebe, auf Haß, Angſt und Furcht. „Inſtinktiver“ Haß und „inſtink⸗ tive“ Furcht entſpringen dem Verhältniſſe der Disharmonie zwiſchen Selbſtduft und Objektduft. Moritz Carriere hat in der Beilage der Allgemeinen Zeitung (Nr. 220 und 221) meine Seelentheorie be— ſprochen. Er ſagt, anfangs habe er ge— glaubt, er habe es mit einer Myſtification zu thun, ein Schalk wolle den Einfall: in der Seele einen greifbaren Stoff und Miſchungsbeſtandtheil zu ſehen, perſifliren, allein er habe ſich doch bald vom Gegen- theil überzeugt. Nur zu meiner Bemerk⸗ ung, daß das Thier ſeinen Feind inſtinkt⸗ mäßig, d. h. weil er ſtinke, fürchte, macht er die Anmerkung: „Hier iſt aber doch der Spaß offenbar!“ Ich entgegne ihm, daß ich dabei in völligem Ernſte bin und daß jeder ſich davon äußerſt leicht über— zeugen kann. Herr Carriere verfüge ſich nur einmal in die Raubthierhäuſer eines zoologiſchen Gartens und er wird finden, daß alle Raubthiere für unſere Naſe ſtinken, ja daß den infamſten, geradezu fasciniren⸗ den Geſtank dasjenige Raubthier beſitzt, welches des Menſchen natürlichſter „inſtinkt⸗ mäßiger“ Feind iſt, das ſich zu ihm ver- hält, wie die Katze zur Maus, nämlich der Tiger. Es iſt bekannt, daß die An— weſenheit einer Katze in einem Haus, ſelbſt wenn dieſe keine einzige Maus fängt — wie das von den zahlreichen Angorakatzen der Pariſer Ladenbeſitzer und Portiers faſt ohne Ausnahme behauptet werden darf — meiſt genügt, um die Mäuſe aus einem Hauſe zu vertreiben. Es geſchieht das durch nichts Anderes, als dadurch, daß der Maus die Ausdünſtung der Katze ſo fürchterlich iſt, wie uns die des Tigers. Was iſt es paniſchen Schreck verſetzt, wenn ihm die Witterung eines Fuchſes, eines Hundes oder des Jägers in die Naſe kommt? oder das Schaf, wenn es den Wolf wittert? — Geſtank iſt es. Doch damit iſt die Sache durchaus nicht erledigt, wie ſchon einfach daraus hervorgeht, daß Haß, Angſt, Furcht, Freude, Trauer, Zorn, Wuth ꝛc. nicht blos von Empfindungen der chemiſchen Sinne, ſondern auch von den phyſikaliſchen Sinnen, ja ſogar von bloßen Vorſtellungen ꝛc. aus angeregt werden. Wenn aber die ſpecifiſchen Duftſtoffe nicht noch in anderer Weiſe, als durch Erregung von Sinnesempfindungen betheiligt wären, ſo würde meine Deutung derſelben als „Seele“ mit Recht verworfen. Doch will ich das einem beſonderen Abſchnitt vorbehalten, und zum Schluſſe hier nur noch die Erwartung ausſprechen, es möchte, nachdem ich dem vom Dichter dem Zoo— logen zugewieſenen Problem, „Hunger“ und „Liebe“ zu erklären, gerecht geworden, der analytiſchen Chemie gefallen, die hier aktiv und ſelbſtſtändig auftretenden Stoffe zum Gegenſtand ihres Studiums zu machen. II Haben wir im erſten Abſchnitt geſehen, daß die mehr phyſiſchen Affekte, wie Hunger und Liebe, die Folge der Emanation von flüchtigen, mit großen Triebkräften aus⸗ geſtatteten Stoffen ſind, die der Eiweiß⸗ zerſetzung entſpringen, ſo iſt es die Aufgabe dieſes Abſchnittes, zu zeigen, daß ſich dies bei den vorwiegend rein pſpchiſchen Affekten ebenſo verhält, und daß aus der Wirkung dieſer Stoffe ſich auch die Erſcheinungen des Willens erklären laſſen. Zuerſt muß die qualitative Frage er- u Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. 24 180 örtert werden. Ich habe früher gejagt, jedes Organ, beziehungsweiſe jede Gewebs— art, enthalte ihren ſpecifiſchen Seelenſtoff in Geſtalt ihres ſpecifiſchen Duftes. Beim Hunger handelt es ſich um eine Entbind- ung aller dieſer Duftarten, weil die Eiweißzerſtörung in allen Geweben, wenn auch nicht in allen gleich ſtark, ſtattfindet; was ſomit hier als Nervenreiz auftritt, iſt ein Mixtum compoſitum aus allen. Bei der ſexuellen Liebe handelt es ſich um die ſogenannten „Brunſtdüfte“ d. h. den Samenduft und den Eiduft. Bei den im engeren Sinne „pſychiſchen Affekten“, wie Trauer, Freude, Zorn, Wuth, Haß, Hoffnung, Angſt, Furcht ꝛc., ſowie bei den Erſcheinungen des Willens handelt es ſich nun um die ſpecifiſchen Duftſtoffe des Ge- hirns, alſo um den Gehirnſeelenſtoff. Jede Erregung des Nervenapparats, mag ſie von den Sinnesorganen oder von innen heraus erfolgen, verläuft mit einer Zerſetzung von beſeelten Gehirnſtoffen, wobei deren Seelen— ſtoff frei wird. Dieſem kommt ebenſo, ja wahrſcheinlich in noch höherem Grade als den Duftſtoffen der anderen Organe, die Eigenſchaften eines Nervinum d. h. eines Stoffes zu, der ſehr energiſch auf den Nerven— apparat wirkt. Ehe wir nun die dabei obwaltenden Verhältniſſe betrachten, muß zuvor das Ver— hältniß beſprochen werden, in welchem der Gehirnſeelenſtoff zu den Seelenſtoffen der übrigen Organe ſteht: Das Verhältniß iſt das der Beherrſchung. Gerade ſo wie das Nervenſyſtem den ganzen Körper phyſikaliſch beherrſcht, übt es auch die chemiſche Herr— ſchaft aus; die Gehirnſeele ſpielt jedesmal mit, wenn irgend etwas im Körper vor ſich geht, und bei allen Anſtößen, die von außen kommen, alſo bei allen Empfindungen, iſt ſie die erſte, welche ihren Einfluß in die Jäger, Die Entdeckung der Seele. Wagſchale legt, weil ſie hierbei jedesmal frei wird und ſelbſtſtändig handelnd auf— tritt. Wie? werden wir ſpäter ſehen. Die Herrſchaft iſt jedoch keine un— bedingte; ſchon bei der Liebe ſahen wir, daß hier ein Seelenſtoff zur Wirkung kommt, der anderswo, nämlich aus den Generations— ſtoffen entſpringt und die Gehirnſeele ge— legentlich faſt vollſtändig zu unterjochen ver— mag — „Die Liebe iſt blind.“ Auch beim Hunger geräth der letztere unter die Botmäßig⸗ keit von Seelenſtoffen, die anderwärts ihren urſprünglichen Sitz haben. Einen dritten Fall bieten uns die Krankheiten, wovon ich übrigens erſt weiter unten ausführlicher ſprechen will. Für die Erſcheinungen, welche der Ge- hirnſeelenſtoff hervorbringt, iſt es von größter Wichtigkeit, daß bei der Eiweißzer— ſetzung der darin enthaltene Duftſtoff, wie ſchon oben geſagt, in zwei antagoniſtiſchen Modificationen auftritt, nämlich bei An— wendung ſchwächerer Zerſetzungsmittel als „Bouillonduft“, bei Anwendung von ſtärkeren als „Kothduft“. Wir wiſſen nun längſt, daß dieſe Duftſtoffe für den, der ſie riecht, ganz entſchiedene Nervina find und zwar von entgegengeſetzter Wirkung: der Bouillon duft wirkt belebend, angenehm, excitomotoriſch, Appetit erregend, der Fäcalduft unangenehm, ekelerregend, depreſſoriſch. Was man bis jetzt überſehen hat, iſt erſtens, daß auch im lebenden Körper, je nach der Stärke des Reizes, beide Modificationen, die ich in der Folge als „Luſtduft“ oder Luſtmodi⸗ fication der Gehirnſeele, und „Unluſtduft“ oder Unluſtmodification unterſcheiden will, auftreten und daß ſie dann im Körper ihres Erzeugers gerade jo auf den Nervenapparat wirken, als wenn ſie mit der Athmungsluft oder mit Speiſen in ihn eindringen. Der Erſtere wirkt dann excitomotoriſch, erhöht die 4 . e Jäger, Die Entdeckung der Seele. und Leitungsfähigkeit des Erregbarkeit Nervenapparates und bedingtſo den pſychiſchen Affekt der Luſt, Freude, Fröhlichkeit, und des Thätigkeitstriebes, ſteht alſo in nächſter Bezieh-⸗ ung zu den Beſchleunigungsnerven. Letztere dagegen bewirkt den Affekt der Unluſt, Trauer, Niedergeſchlagenheit, Angſt ze. und ſteht in näherer Beziehung zu den Hemmungs— nerven. Daß dem ſo iſt, läßt ſich leicht zeigen, denn im Zuſtand der Angſt iſt der Ausdünſtungs geruch und Fleiſchgeſchmack eines Thieres ganz anders, als in der Freude. Am leichteſten gelingt der Nachweis bei der Angſt, ſpeciell beim höchſten Grade derſelben, der Todesangſt. Jeder erfahren, der öfter Thiere getödtet hat. Ich will hierzu eines eigenen, mir in peinlicher Erinnerung gebliebenen Falles erwähnen, bei dem ich einen Fachgenoſſen, meinen Studien— Freund Dr. Albert Günther am britiſchen Muſeum, zum Zeugen habe. Als völlige Neulinge wollten wir in des Letzteren Eltern— hauſe behufs Fertigung eines Skelettes eine Katze tödten. Da wir es ungeſchickt an— griffen, ſo gelang es uns erſt nach mehreren verzweifelten Auſtrengungen, wobei die Katze ihren Harn auf den Zimmerboden entleerte. Es erfüllte ſich nun nicht blos ſofort das Zimmer mit einem intenſiven Geſtank, ſondern dies wiederholte ſich durch länger als ein Jahr jedesmal ſo oft der Zimmerboden wieder aufgewaſchen wurde. Brehm ſagt in feinem „Thierleben“ (Bd. I, S. 539), daß einem von Berittenen gehetzten Wolfe, wenn er ſich endlich in höchſter Todesangſt gelähmt und wehrlos ſtelle, „ein abſcheulicher Geruch entſtröme.“ Bekannt iſt ferner, daß das Fleiſch von Hirſchen, die auf der Parforcejagd erlegt werden, jo durchtränkt von Ekelſtoffen iſt, Der Das hat daß man es überall nur den Hunden zu — — — = freſſen giebt. ſie geprügelt werden, ſobald ſie dabei in große Angſt gerathen, einen intenſiven Ge— ſtank verbreiten. Derſelbe entſtammt freilich manchmal einer in der Augſt ſo leicht ein- tretenden Koth- oder Harnentleerung, aber dieſe Exerete ſtinken eben dann viel heftiger als ſonſt, namentlich der Harn. Oft aber iſt von einer Entleerung durchaus nichts wahr— zunehmen, ſondern der Geruch kommt ganz entſchieden nur aus der Haut hervor.“) In einer weniger extremen Quantität tritt dieſer Stoff als der ſogenannte „Wildgout“ auf. Um Hammelfleiſch oder Schweinefleiſch „wild“ zu machen, hetzt und ängſtigt man das Thier vor dem Schlachten, woraus deutlich zu ſehen iſt, daß der Wildgout nichts anderes iſt als der Angſtſtoff. Gewiß iſt Jedem, der öfter Wildpret genießt, ſchon aufgefallen, daß manchmal der Wild— geſchmack ſehr ſtark, manchmal ſehr ſchrdach iſt; dies rührt nur davon her, daß im letzteren Fall das Thier durch einen un— vermutheten, raſch tödtenden Schuß, im erſteren erſt nach längerer Verfolgung oder längerem Todeskampf erlegt wurde. Ein anderer Fall, der bis zu einem gewiſſen Grad ein Gegenſtück iſt, weil wir hier den angenehmen Luſtſtoff zur Wahrnehm— ung bringen, iſt leicht bei Fiſchen zu beobachten. Jeder Angler weiß aus Erfahrung, daß ſelbſt ſolche Fiſche, die von den Hausfrauen, auf dem Markt als geſchmacklos verachtet werden, ) In demſelben Augenblicke, da dieſer mein Aufſatz fertig zur Druckerei abgehen ſoll, iſt mir die Gelegenheit gegeben worden, den Angſtſtoff auch im Harn des Menſchen zu riechen und zwar in einer wahrhaft frap- panten und überzeugenden Weiſe, in Folge einer intenſiveren Gefahr, durch die zwei meiner Familienglieder in große Alteration und Seelenangſt verſetzt worden. 181 Ein weiterer, ſehr leicht zu beobachtender Fall iſt der, daß Hunde, wenn 182 wie z. B. die Naſe und der Schuppfiſch, vortrefflichen Wohlgeſchmack haben, wenn man ſie unmittelbar nach der Entreißung aus ihrem Element tödtet, während ſie allen Wohlgeſchmack verlieren, wenn man fie entweder im Trockenen ſich zu Tode zap— peln oder in einer Legel oder einem Fiſch— kaſten ſich abängſtigen läßt. Es gilt auch von Edelfiſchen, wie dem Hecht und der Forelle, daß ſie friſch aus dem Waſſer viel beſſer ſind als aus dem Fiſchkaſten, und ich eſſe deshalb ſchon längſt, außer wenn ich anſtandshalber dazu genöthigt bin, keinen Süßwaſſerfiſch, den ich nicht ſelbſt gefangen habe. Das kann nun ſo erklärt werden, daß der Angſtſtoff der Fiſche zwar für unſere chemiſchen Sinne kein Ekelſtoff, aber doch dem uns angenehmen Luſtſtoff des Fiſches entgegengeſetzt iſt. Da ein Fiſch, der nach der Angel fährt, im Stadium der zu den Luſtgefühlen gehörigen Begierde iſt, fo*ift der Wohlgeſchmack der geangelten Fiſche die Luſtmodification der Fiſchſeele. Beim Hunde und wohl den meiſten Säugethieren iſt es umgekehrt: hier wirkt der Angſtſtoff ſtark auf unſere chemiſchen Sinne, der Luſtſtoff dagegen ſchwach, aber ſchon der Umſtand, daß ein Hund in freudig erregter Gemüthsſtimmung entſchieden nicht ſtinkt, beweiſt, daß hier ein antagoniſtiſch ſich verhaltender Duftſtoff frei wird. Wenn ich übrigens meine langjährigen Erfahr— ungen mit Hunden zu Rathe ziehe, jo bin ich überzeugt, daß wir auch beim Hunde den Luſtſtoff deutlich riechen. Wenn ein Hund in freudiger Erregung ſeinen Herrn umſpringt, an ihm aufſteigt und ihn im Ge— ſicht leckt, ſo hat ſein Athem einen ent— ſchieden ſtärkeren und zwar keineswegs un— angenehmen Geruch. Hierzu gehört nun allerdings der Nach— weis, daß dieſe Verſtärkung des Athem⸗ . Jäger, Die Entdeckung der Seele. geruchs in der Freude nicht einfache Wirkung der vermehrten Körperarbeit, ſondern an die beſtimmte pſychiſche Erregung geknüpft iſt. Entſcheidend würde ſein, wenn ſich nachweiſen ließe, daß ein Hund bei Ableiſtung einer quantitativ gleichen, aber nicht mit pſychiſcher Erregung verbundenen Körperarbeit, z. B. im Tretrad oder am Hundewagen, dieſe Stei- gerung des Athemgeruchs nicht zeige. Meine Wahrnehmungen ſind hierzu nicht friſch genug. Endlich müßte auch feſtgeſtellt werden, daß der Hund im Hungerzuſtand qualitativ anders duftet als in der Freude. Vielleicht iſt einer meiner Leſer in der Lage, es zu prüfen und in dieſer Zeitſchrift Mittheilung zu machen. Ich kann übrigens in gewiſſem Sinne den Hund ſelbſt zum Zeugen aufrufen, und das iſt zugleich ein neuer Beitrag zum Capitel der „Sympathie und Antipathie“. Wenn man einen Hund in Gegenwart eines anderen Hundes prügelt oder bloß in Angſt verſetzt, ſo beißt der letztere in der Regel nach ihm, iſt dagegen ein Hund in freudig er— regter Stimmung, ſo reißt er ſehr leicht andere Hunde in die gleiche Stimmung hinein. Sollte das nicht daher kommen, daß der geprügelte Hund, weil er ſtinkt, den Haß des anderen auf ſich zieht, der freudige Hund dagegen, weil er für die Naſe ſeines Genoſſen wohlriecht, dieſen ebenfalls anheitert? Da der Hund in hervor ragendem Maße „Geruchthier“ iſt, ſcheint mir dieſe Erklärung ſehr wahrſcheinlich. Uebrigens iſt der Sache noch auf an⸗ dere Weiſe beizukommen, beziehungsweiſe muß der Beweis für meine Aufſtellungen noch von anderer Seite erbracht werden. Mein Cardinalſatz lautet: Die als Seele wirkſamen Duftſtoffe ſtecken im Mo— lecül des Eiweißes und die pſychi— ſchen Erſcheinungen gehen deshalb Hand in Hand mit der Eiweiß— f . Jäger, Die Entdeckung der Seele. muß ſowohl bei freudiger Erregung als auch bei Angſt eine ſtärkere Eiweißzerſetzung nach— gewieſen werden können, als bei bloßer Muskelarbeit. Dies iſt in der That der Fall: 1) Alle Beobachter ſtimmen darin über- ein, daß bei Muskelarbeit entweder gar keine Stickſtoffvermehrung oder eine nur ſehr unbedeutende im Harn gefunden wird. 2) Dr. Böcker und Dr. Benecke!) haben nachgewieſen, daß bei intenſiver freu— diger Erregung die Menge der im Harn zur Ausſcheidung gelangenden Umſatzprodukte der Eiweißzerſetzung ſehr bedeutend vermehrt iſt. 3) Das Gleiche iſt von Prout und Haughton beim Menſchen für die Angſt nachgewieſen. Von den Thieren iſt es längſt bekannt, daß das Fleiſch zu Tode gehetzten Wildes große Mengen des der Eiweißzer— ſetzung entſtammenden Kreatins, ſogar bis zu 3 PCt. der Trockenſubſtanz, enthält. Der dritte Beweis für die Richtigkeit meiner Behauptung, daß bei den antago— niſtiſchen Affekten antagoniſtiſch ſich verhal— tende Duftſtoffe die Urſache ſind, liegt in der Thatſache, daß die chemiſchen Sinne entgegengeſetzt alterirt ſind. Im Zuſtand der Luſt und Freude haben Menſch und Thier nicht blos geſteigerten Appetit, ſondern zerſetzung. — Wenn das richtig iſt, ſo das Eſſen „ſchmeckt ihnen“, wie man ſagt, es berührt ihre chemiſchen Sinne ſehr' an- genehm. Umgekehrt im Zuſtand der Un— luſt, Trauer, Angſt, Niedergeſchlagenheit, ſchlechter Laune: „das gleiche Eſſen ſchmeckt ihm nicht“ d. h. es iſt nicht im Stande, einen angenehmen Eindruck auf ſeine Sinnes⸗ organe zu machen. Dieſe bisher unbegreif— liche und doch alltäglich zu beobachtende Thatſache erklärt ſich aus meiner Seelen⸗ lehre höchſt einfach: Im Zuſtand der Fröh⸗ ) Benecke, Pathologie des Stoffwechſels, S. 50. 183 lichkeit iſt auf Riech- und Geſchmacksſchleim— haut die Luſtmodification des Gehirnſeelen— ſtoffs präſent, im Zuſtand gemüthlicher Depreſſion die Unluſtmodification, und mit letzterem ſtehen Speiſedüfte und -Geſchmäcke, die mit dem erſteren harmoniſch ſind, in Disharmonie. Der vierte und entſcheidendſte Beweis wäre natürlich, wenn man auch aus dem todten Gehirn direkt die beiden Duft— modificationen durch Zerſetzungsmittel ſo entwickeln könnte, wie dies z. B. beim Hühnereiweiß ſo leicht gelingt. Mein College Dr. O. Schmidt, Profeſſor der Chemie und Phyſik an der hieſigen Thierarzneiſchule, hat die bei der Knappheit ſeiner Zeit ſehr hoch zu ſchätzende Güte gehabt, in meiner Anweſenheit einige Verſuche vorzunehmen. Ich gebe in kurzem das Reſultat. Das erſte iſt, daß — im Vergleich zu Hühnereiweiß, aus dem erſt die Kochhitze den Duft zu entwickeln vermag, ſelbſt wenn man ſehr ſtarke Säuren zugeſetzt hat — die Duftſtoffe des Gehirns ſehr leicht frei werden, nämlich ſchon ohne jede Erhitzung. Das zweite Reſultat iſt: Sofort nach dem Säurezuſatz tritt blitzartig ſchnell ein Ekelduft auf, der eben ſo raſch verfliegt, als er erſchienen iſt. Von da an kann man machen, was man will, es erſcheint nur jener Duft, den Jeder an einem gekochten Hirn wahrnimmt. Dieſes Reſultat deute ich ſo: Die von uns angewandten Zerſetzungsmittel (Phos— phorſäure, Oxalſäure, Schwefelſäure) ſind auch im verdünnten Zuſtand ſchon ſo ſtarke Reize, daß ſie ſofort die Unluſtmodification entbinden, und es wird ſich zeigen, ob es bei weiterer Fortſetzung der Verſuche, ge— lingt, Zerſetzungsweiſen zu finden, welche die Luſtmodification entbinden. Ferner: Der als Nachwirkung auftretende Duftſtoff ſcheint * mir ein „Tertium“ zu fein, nämlich ein Stoff, aus welchem die eigentlichen Gehirn— ſeelenſtoffe erſt heranreifen müſſen; und zwar ſo: Wir wiſſen von den Drüſen, daß ſie, um ihr Specificum, z. B. Pepſin, ſecerniren zu können, erſt „geladen“ werden müſſen. Die Ladung ſtammt von Stoffen, bei denen z. B. das Pepſin nicht ſchon als ſolches vorgebildet zu ſein braucht, die alſo bei andersartiger Zerſetzung gar nicht Pepſin liefern würden, ſondern eine andere Atom— gruppe, die man allenfalls ein „Pepſinogen“ nennen könnte. In dieſem Sinne iſt mög— licherweiſe der dritte Hirnduft nicht Pſyche ſelbſt, ſondern ein „Pſychogen“, das unter normalen Verhältniſſen im lebenden Gehirn gar nicht zur Entwickelung kommt, ſondern höchſtens bei pathologiſchen Proceſſen. Wenn das Pſychogen in dieſem Fall, woran ich kaum zweifeln möchte, eine pſychiſche Wirk— ung ausübt, ſo wird dieſe nach dem Ein— druck, den ſie auf unſere Sinnesorgane macht, eine excitomotoriſche ſein. Vielleicht bedingt daſſelbe die Tobſuchterſcheinungen im Beginne acuter Geiſteskrankheiten? iſt vielleicht Delirienſtoff? Kurz, wir ſtehen hier beim Gehirn in chemiſcher Beziehung noch vor Räthſeln, gerade ſo wie in morpholo— giſcher und phyſikaliſcher Beziehung. Jedenfalls liegt in dem Reſultat dieſer wenigen Entbindungsverſuche durchaus nichts gegen meine Seelenlehre Sprechendes, im Gegentheil: die hohe Zerſetzbarkeit, die extreme Flüchtigkeit des Ekelſtoffes find Eigen- ſchaften der Gehirndüfte, die durchaus dafür ſprechen. Die hier nachgewieſene chemiſche Empfindlichkeit entſpricht der bekannten phyſi⸗ Immerhin liegt kaliſchen Empfindlichkeit. aber ſo lange, bis die Verſuche beſſeren Erfolg haben, der Schwerpunkt der Be | weisführung darin, daß am lebenden Thier die antagoniſtiſche Differenz zwiſchen Jäger, Die Entdeckung der Seele. | Angſtſtoff und Luſtſtoff laut zu unſeren chemiſchen Sinnen ſpricht. Zum Verſtändniß der Seelenerſchein— | ungen gehören ferner folgende zwei Punkte: | Eine Sinnesempfindung — möge fie | nun von den chemiſchen oder von den phyfi- kaliſchen Sinnen ausgehen — ruft durch- | aus nicht immer einen Affekt hervor, ſondern | erſt wenn der Eindruck einen gewiſſen Schwellenwerth erreicht. Erreicht er dieſen nicht, ſo bleibt die Thätigkeit des Seelen⸗ apparates eine rein contemplative (Wahr⸗ nehmung) oder verſtandesmäßige (Beobacht— ung, Ueberlegung, Beurtheilung), kurz ein⸗ fache, ſogenannte geiſtige Arbeit, bei der es | ſich nur um phyſikaliſche Erregungscirculation durch die Erfahrungsmechanismen handelt. | Das von mir als Seele (Pſyche) Bezeichnete | kommt hierbei gar nicht in Betracht, ſondern außer der phyſikaliſchen Thätigkeit der Er— | fahrungsmechanismen und Sinneswerkzeuge nur der Geiſt (pneuma), der, wie wir ſpäter ſehen werden, der Träger des Be— wußtſeins und etwas von der „Seele“ ganz Verſchiedenes iſt. Daß dem ſo iſt, ſehen wir erſtens daran, daß bei einfacher Wahr- nehmung auch bei Reflexen von Affekt keine Rede iſt, zweitens daran, daß auch ſonſt keine Symptome von Eiweiß zerſetzung — denn nur bei ihr tritt die Seele in Aktion — wahrzunehmen iſt. Benecke ſagt (a. a. O. S. 117): „Die Zunahme der Ausſcheidung von Phosphorſäure und Chlornatrium in Folge von angeſtrengter geiſtiger Thätigkeit wurde von Jul. Vogel feſtgeſtellt. Aber die Gewißheit über die Steigerung des Stick— ſtoffumſatzes durch geiſtige Arbeit iſt bis dahin noch nicht erreicht.“ Ich bin auch überzeugt, daß es ſich hier verhält, wie bei der reinen Muskelarbeit: man wird nichts finden, denn es handelt ſich Jäger, Die Entdeckung der Seele. hierbei um keine Eiweißzerſetzung. Dafür iſt mir das ſicherſte Zeichen eben das, daß ſich kein Affekt einſtellt. Dieſer erſcheint erſt, wenn die Erregung des Seelenappa— rates jo ſtark wird, daß eine Eiweißzer— ſtörung erfolgt, oder ſo lange fortgeſetzt wird, bis die leichter oxydabeln Stoffe des Nervenapparates aufgebraucht ſind und der Sauerſtoff die Hirnalbuminate angreift. Der zweite Punkt, und zwar ein neuer, bisher von der Phyſiologie wenig beachteter und nicht erklärter, iſt folgender: Ueberſchreitet die Erregung der Erfahr— ungscentra den — wie ich es nennen will — Schwellenwerth des Affektes nicht, fo klingt die Erregung allmälig ab, dieſelbe bleibt auf die Erfahrungsmechanismen be⸗ ſchränkt und hinterläßt als Nachwirkung unr die Erinnerung, die als Thätigkeit des Bewußtſeins aufzufaſſen iſt. Iſt dagegen der Schwellenwerth des Affektes über— ſchritten, ſo haben wir es mit einer Nach— wirkung zu thun. Zum Verſtändniß derſelben gelangen wir, wenn wir annehmen, daß die Erregung die ſpecifiſchen Gehirn— ſeelenſtoffe frei gemacht habe: Dieſe ſind nun zwar wohl flüchtig und werden ſchließlich aus dem Körper hinausgeſchafft, allein das geht nicht ſo raſch, namentlich wenn ihre Menge größer war. Deshalb bedingen ſie pſychiſche „Zuſtände“ von längerer oder kürzerer Dauer, und darin liegt der gewaltige Unterſchied zwiſchem einer unbeſeelten Ma— ſchine und einem beſeelten Organismus. Beide reagiren auf den Anſtoß, aber bei letzterem iſt die Nachwirkung eine länger anhaltende Stimmung, weil bei dem An— ſtoß Stoffe entbunden werden, welche die Erregbarkeit erhöhen — fröhliche Stimm⸗ ung, Luſtgefühl — oder herabſetzen — traurige, deprimirte Stimmung. Bei der erſteren findet nichts dergleichen ſtatt, eine 185 induſtrielle Maſchine iſt weder traurig noch fröhlich, ſondern ſie arbeitet eben einfach oder ruht. Wenden wir uns jetzt, nachdem die Grundlagen gewonnen, zur Erklärung der weſentlichſten Affekte. Trifft ein genügend ſtarker Sinnesreiz harmoniſcher Qualität die Sinnesorgane eines Thieres, ſo wird der Zuſtand der Begierde erzeugt. Der Reiz iſt ange— nehm, und bei der Zerſetzung der Gehirn— ſubſtanz tritt die excitomotoriſch wirkende Luſtmodification des Gehirnſeelenſtoffes auf: das Thier handelt, ergreift das Objekt ſeiner Begierde, ſeines Hungers oder ſeiner Liebe. Iſt das geſchehen, ſo kommt die Nachwirkung: der excitomotoriſche Gehirn- ſeelenſtoff iſt nicht ſofort neutraliſirt, oder verduftet. Er wirkt nach und erzeugt die fröhliche, freudige, gehobene Gemüthsſtimm⸗ ung, die wir Freude nennen. Gelingt dagegen die Ergreifung des Objekts der | Begierde nicht, fo dauert die Erregung nicht blos fort, ſondern ſie gewinnt an Stärke, ſo daß endlich der Stärkegrad erreicht wird, bei welchem der Gehirnſeelenſtoff nicht mehr in der excitomotoriſchen Luſtmodification, ſondern in der deprimirend wirkenden „Un— luſtmodification“ erſcheint. Das Reſultat iſt die traurige, niedergeſchlagene, deprimirte Stimmung: das, was wir die Trauer nennen. Hieran ſchließt ſich der Zuſtand der Hoffnung oder Erwartung. Die Urſache der hier vorliegenden Nervenaufregung iſt ebenfalls die Luſtmodification des Gehirn- ſeelenſtoffes, aber die Entbindung deſſelben geht nicht von den Sinnescentren, ſondern von den Erfahrungs- oder Erinnerungscentren aus, und die Sinne entbehren eines Objektes, weshalb die Thätigkeitsauslöſung ausbleibt. Werden die Sinnesorgane von einem genügend ſtarken Reiz getroffen, der dis— harmoniſcher Natur iſt, ſo ſind zwei Fälle möglich: Der eine Fall iſt der, daß die Erregung mäßige Stärke hat, jo daß mun bei der ſtattfindenden Eiweißzerſtörung der Gehirn— ſeelenſtoff in der excitomotoriſchen, Thätigkeit auslöſenden oder Thätigkeitsluſt erzeugenden Luſtmodification auftritt. Der niedere Grad des jetzt auftretenden Affektes iſt das Muth— gefühl. Steigt die Erregungsſtärke und damit die Quantität des excitirenden Seelen— ſtoffes, ſo erſcheint der Affekt des Zornes, und noch eine Stufe höher auf der Inten— ſitätsſcala ſteht die Wuth. Mit dem Aus- druck Haß bezeichnen wir nur eine ſich conftant bleibende Beziehung zwiſchen dem Subjekt und einem beſtimmten Objekt, wobei von letzterem ſtets eine disharmoniſche Sinnes— empfindung (oder Vorſtellung) des obigen Stärkegrades ausgeht. Iſt durch die von dem excitomotoriſchen Seelenſtoff ausgelöſte Thätigkeit das widrige Objekt vernichtet, ſo bleibt als Nachwirkung des Luſtſtoffes zuerſt der Affekt der Freude, der dann allmälig zu dem geringeren Affekt der Befriedigung abklingt, bis mit der Abdunſtung des Luſtſtoffes die Nervenaufregung ſich gänzlich gelegt hat und „Seelenruhe“ eintritt. Iſt dagegen die Entfernung oder Ver— nichtung des widrigen Objektes nicht ge— lungen, ſo dauert die Erregung fort und cumulirt ſich, bis endlich die Stärke erreicht wird, bei welcher der Seelenſtoff in der Unluſtmodification auftritt. Das Reſultat iſt die Furcht, von der Trauer dadurch unter— ſchieden, daß ſie mit Unruhe verbunden iſt, weil der excitomotoriſche Stoff noch eine Zeit lang fortwirkt. Iſt dieſer verſchwunden, dann kommt die Trauer, Reſignation. Der zweite Fall iſt, daß eine Empfindung oder Vorſtellung) eine noch höhere Reizſtärke Jäger, Die Entdeckung der Seele. erreicht, ſo daß jetzt der Gehirnſeelenſtoff nicht mehr in der excitomotoriſchen Luſt⸗ modification, ſondern in der deprimirenden Unluſtmodification erſcheint, daß die Reiz⸗ Stärke — um mich techniſch auszudrücken — den Schwellenwerth der Unluſt über- ſchreitet. Der jetzt auftretende Affekt iſt die Angſt, die ſich ſteigert bis zur Todesangſt. Bei weiteren Graden ſehen wir noch Be— wegungsauslöſungen, aber dieſelben finden in Motionscentren ſtatt, die Antagoniſten von denjenigen find, welche durch die Luft modification erregt werden. Mäßige Gefahr erregt die Angriffscentra, das Vorwärts— bewegungscentrum, die Centra der Streck— muskeln und Schließmuskeln. Der Angſtſtoff erregt die Fluchtcentra, die Centra der Beuge⸗ muskeln und der Oeffnungsmuskeln u. ſ. f. Wird der widrige Eindruck noch ſtärker, ſo er- folgt zwar eine plötzliche intenſive Bewegungs⸗ auslöſung, das Erſchrecken, Entſetzen, der aber raſch die Erſcheinungen der Lähmung durch Ueberreiz folgen (lähmende Wirkung des Schreckens) und dieſer Lähmungszuſtand iſt die Angſt. Das ungeſtörte Abklingen dieſes Affek⸗ tes liefert die Trauer, Niedergeſchlagenheit. Iſt dagegen ein Thier der Gefahr glücklich entronnen, ſo iſt die Nachwirkung ganz anderer Art. Der Angftftoff kann nicht ſofort be— ſeitigt werden, er wirkt noch fort, aber neben ihm tritt jetzt der Luſt- oder Freudeſtoff auf, weil die von der Gefahr ausgegangene Erregung zwar noch nicht aufgehört hat — fie wirkt nämlich noch in den Erinnerungs⸗ centren nach, aber viel ſchwächer. So erſcheint bei der von ihr bewirkten Eiweißzerſetzung nicht mehr die Unluſtmodification des Gehirn- ſeelenſtoffes, ſondern die excitomotoriſche Luſt⸗ modification. Das Geſchöpf iſt jetzt in einer gemiſchten, zwiſchen Angſt und Freude hin und her ſchwankenden Stimmung, bis endlich die freudige deshalb die Oberhand gewinnt, verſiecht iſt, der letztere abdunſtet und der Freu— denſtoff allein übrig bleibt, bis endlich mit ſeiner Ausſtoßung der Zuſtand der „Seelen— ruhe“ zurückkehrt. Das letzte Stadium iſt, wenn man ſich einer glücklich überſtandenen gen Reizſtärke, welche die Erregung der Er— innerungscentra (im Vergleich zu der der Empfindungscentra) beſitzt, nur die Luſt⸗ modification der Gehirnſeele, und der von ihr erzeugte Affekt iſt immer der der Freude. Nur wenn die Erinnerung noch recht lebhaft iſt, ſo kann im Anfang noch einmal die Angſt— ſtoffmodification zur Entbindung kommen. Im Bisherigen glaube ich den Leſer davon überzeugt zu haben, daß durch die Wirkung der Luſtſtoffe ſich die im engern Sinne „ſeeliſchen Affekte“ vollkommen ebenſo un— gezwungen erklären laſſen, als die mehr ſomatiſchen Affekte des Hungers und der Liebe, und wenn wir noch das rein ſomatiſche Gemeingefühl der Ermüdung hereinziehen würden, jo könnten wir die Caſuiſtik völlig erſchöpfen, was hier nicht meine Abſicht iſt. Es bleibt nun zunächſt noch übrig zu zeigen, daß auch einige Erſcheinungen des Willens aus den Wirkungen der von mir bezeichneten Seelenſtoffe erkärt werden. Der Wille ift fo recht eigentlich der Spiritus rector der Leibesmaſchine, denn er entſcheidet zwiſchen Thun und Laſſen und die Richtung von beiden. Hier kommen die Duftſtoffe (und Geſchmacksſtoffe) in dreifacher Weiſe zur Geltung. 1. Unmittelbar thätig ſind ſie durch ihre Präſenz auf Riech- und Geſchmacksſchleim⸗ haut, indem ſie dort die Qualität des chemiſch Angenehmen und des chemiſch Unangenehmen bedingen und auf dieſe Weiſe beſtimmen, ob etwas begehrt oder verabſcheut wird. 2. Mittelbar thätig bei der Sinnes⸗ Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. Jäger, Die Entdeckung der Seele. und Taſtſinn, erfolgt. 2 weil die Quelle der Augſtſtoff-Entbindung | empfindung find ſie dadurch, daß an der Hand der chemiſchen Sinne, wie leicht nach— gewieſen werden kann, die Erziehung der phyſikaliſchen Sinne, Gehörſinn, Geſichtsſinn Endziel der ganzen Erziehung des lebenden Geſchöpfes iſt die Gefahr erinnert; dann erſcheint bei der gerin- Selbſterhaltung und die Fortpflanzung, und in beiden Zielen handelt es fi) um die Her- ſtellung der richtigen chemiſchen Relationen: auf dem Gebiet der Selbſterhaltung um die Einverleibung der chemiſch richtigen Nahrung und die Feindesflucht, die Flucht vor den chemiſch und dadurch auch mechaniſch überlegenen Feinden; — auf dem Gebiet der Fortpflanzung um die Auffindung von und die Verbindung mit einem andern lebenden Weſen, deſſen Geſchlechtsſtoffe in der richtigen chemiſchen Relation mit den eigenen ſtehen. Hier ſprechen überall zuerſt und zuletzt die chemiſchen Sinne das entſcheidende Wort und die phyſikaliſchen ſind bloße Zwiſchenſtation, blos Mittel zum Zweck und werden deshalb von den erſteren geſchult. Am leichteſten kann man das beim neugeborenen Menſchen— kind ſehen. Daſſelbe prüft die ſich ihm darbie⸗ tenden Objekte zuerſt chemiſch, d. h. es ſteckt ſie in den Mund, und da es nach dem früher Geſagten einen ſehr feinen Geruchsſinn hat, ſo führt dies auch zu einer Prüfung mit der Naſe. An die hierbei gemachten Er— fahrungen knüpfen die Empfindungen, die durch die phyſikaliſchen Sinne vermittelt werden, an und können allerdings ſo voll— kommen erzogen werden, daß ſie der Be— mutterung von Seiten der chemiſchen Sinne nicht mehr bedürfen. 3. Eutſcheiden die Duftſtoffe auch innerlich zwiſchen Thun und Laſſen, Lieben und Haſſen, Beſchleunigen oder Hemmen, „Ja“ oder „Nein“, weil je nach der Intenſität des Reizes der Gehirnſeelenſtoff entweder in der excitirenden, dem „Ja“ entſprechenden (@ Luſtmodification, oder in der dem „Nein“ ent— ſprechenden depreſſoriſchen, bewegungshemmen— den Unluſt modification auftritt. Experimentell erhärtet iſt, daß durch alle Motionscentra hindurch das Geſetz des Antagonismus geht, jedes Centrum hat ſeinen das Gegentheil hervorrufenden Antagoniſten. Indem nun durchweg die Luſtmodification für den einen, die Unluſtmodification für den andern der beiden Antagoniſten der adäquate Reiz iſt, iſt der Luſtſtoff bildlich geſprochen der Steuer— mann der Maſchine, der rechts oder links, vorwärts oder rückwärts, Angriff oder Flucht, Beugung oder Streckung, Oeffnung oder Schließung, Beſchleunigung oder Hemmung kommandirt reſp. ausführt. Kurz die Selbſt— düfte führen das Commando und handhaben das Steuerruder der Körpermaſchine, fie ſind „der Wille“. Dieſer iſt völlig unfrei, wenn nur die eine Modification auftritt; erſcheinen dagegen gleichzeitig beide, ſo findet ein Kampf der Antagoniſten ſtatt, bis einer die Oberhand bekommt — Entſchluß. Nun ſind noch zwei Nachträge zu machen, der erſte bezieht ſich auf die pſychiſche Be— einfluſſung durch pathologiſche Vor— gänge. Sie beſteht in Folgendem: Sobald irgendwo ein krankhafter Proceß eine Eiweißzerſtörung in Scene ſetzt, ſo werden Duftſtoffe entbunden, welche den Seelenapparat afficiren, eben weil ſie „nervina“ ſind. Die krankhaften Eiweiß— zerſtörungen gehören nun faſt immer in die Kategorie der Eiweißzerſtörung durch ſtarke Reize, wobei die Eiweißſeele in der Unluſt— modification frei wird. So erklärt es ſich, daß faſt alle Krankheiten ein lebendes Weſen in den Zuſtand der traurigen, niedergeſchla— genen Seelenſtimmung verſetzen, daß ſie faſt alle mit Alterationen der chemiſchen Sinne verknüpft ſind: Appetitloſigkeit, Widerwillen gegen Speiſen überhaupt, oder beſtimmte Jäger, Die Entdeckung der Seele. Speiſen, Widerwillen gegen Düfte. Belannt- lich wirken in dieſer Weiſe Krankheiten der Verdauungsorgane ganz beſonders ſtark und das erklärt ſich jetzt ſehr einfach dadurch, daß hier ohnehin ſchon die Bedingungen zur Entbindung der Eiweißſeele in der „Fäcal“- oder „Unluſtmodification“ gegeben ſind, denn ſie findet ja hier ſtets auch im geſunden Zu— ſtand ſtatt. Sobald nun hier krankhafte Reizung vorhanden iſt, ſo wird ſie eine fort— dauernde Quelle großer Mengen von „Fäcal— duft“. Indem dieſer den ganzen Körper, alſo auch den Nervenapparat, durchdringt, erzeugt er die für Verdauungskranke ſo charakteriſtiſche pſychiſche Depreſſion. Ich bezweifle nicht, daß meine Seelenlehre auch auf dem Ge— biet der Geiſteskrankheiten manches Licht bringen wird, muß das aber Andern über— laſſen, da ich kein Pſychiatriker bin. Eine andere Seite der pathologiſchen Wirkung der Seelenſtoffe iſt folgende. Be— kanntlich ruft Angſt wäſſerige Exſudation im Darm bis zu unfreiwilligen Kothentleerun— gen hervor. Dies glaube ich jetzt als direkte, lähmungsartige Beeinfluſſung der Darmwände durch den ins Blut gelangen— den Angſtſtoff anſehen zu müſſen. Nun gewinnen wir dadurch und durch das, was ich in meiner kürzlich erſchienenen Schrift) über Immunität gegen Anſteckung ſagte, eine weitere Erklärung für die Thatſache, daß durch Angſt die Seuchenfeſtigkeit eines Menſchen ſofort abnimmt (ganz beſonders bei der Cholera): Einerſeits begünſtigt der erhöhte Waſſergehalt der Darmcontenta die Vermehrung der belebten Fermente, andrer— ſeits iſt mit der Halblähmung der Darm— wände die Energie der mit dem Ferment ) „Seuchenfeſtigkeit und Conſtitutions— kraft und ihre Beziehung zum ſpeeifiſchen Gewicht des Lebenden.“ Leipzig, 1878, Eruſt Günther's Verlag. um die Nährſtofflöſung kämpfenden Ge— webszellen der erſten Wege geſchwächt. Jäger, Die Entdeckung der Seele. N Der zweite Nachtrag hat das zum Ge- | genſtand, was der Pſychologe das Tem— perament nennt. Auch hier bringt meine Seelenlehre erhöhte Klarheit und erſetzt die bloße Symptomatologie durch die Angabe der Urſache der Symptome. Ich verzichte aber hier ebenſo, wie bei den Affekten, auf eine Beſprechung der ganzen Caſuiſtik, ſon— dern halte mich an die gewöhnliche Vier— theilung der Temperamente. Die Erſcheinungen des ſanguini— ſchen Temperaments erklären ſich ſo: Der Seelenſtoff iſt hier mit dem Eiweißkern lockerer verbunden, wird leichter frei, wes— halb ein Sanguiniker leicht in Affekt zu verſetzen iſt. Hiermit harmonirt die größere Flüchtigkeit des Duftſtoffes, durch welche die kurze Dauer der Affekte erklärt iſt. Endlich weiſt die Leichtigkeit, mit der der Affekt wieder in den entgegengeſetzten um— ſchlägt, auf eine leichtere Zerſtörbarkeit des Seelenſtoffes hin. Das Gegenſtück iſt der Choleriker. Bei ihm haftet der Gehirnduftſtoff ſehr feſt am Eiweißkern, weshalb ein ſolcher Menſch ſchwer in Affekt zu verſetzen iſt. Damit harmonirt die Dauerhaftigkeit der Affekte: der einmal entbundene Stoff hat eine große mechaniſche Adhäſion an die lebendige Sub— ſtanz. Weiter harmonirt damit die geringe Zerſetzbarkeit, ſo daß ein Affekt nicht ſo raſch in einen anderen umſchlägt. Ganz beſonders beweiſend für meinen Cardinalſatz, daß die Affekte Symptome der Eiweißzerſetzung ſind, iſt das phleg— matiſche Temperament. Daſſelbe iſt charakteriſtiſch für Leute, die viel Organ— fett in ſich abgelagert haben. Da Fett leichter oxydabel iſt als Eiweiß, fo nimmt es den Sauerſtoff für ſich in Anſpruch | 189 und es kommen mithin immer nur geringe Mengen von Eiweiß zur Zerſetzung, alſo auch geringe Quantitäten von Seelenſtoff zur Entbindung. Magere, fettarme Leute ſind keine Phlegmatiker, ſondern entweder Choleriker oder Sanguiniker. Das melancholiſche Temperament ſcheint darauf zu beruhen, daß der Gehirn— ſeelenſtoff eine beſondere Neigung dazu hat, in der Unluſtmodification frei zu werden — große Zerſetzungsfähigkeit deſſelben. III. Das bisher Geſagte ſind Dinge, die Jeder, dem es Ernſt um die Sache iſt, nachprüfen kann, und wenn Jemand finden ſollte, daß ich hier und da falſch oder ungenau beobachtet habe, ſo laſſe ich mich gern rektificiren. Daß dieſe Dinge mit einem Schlage völlig klar geſtellt werden können, er— warte ich am allerwenigſten. Was ich aber mit Beſtimmtheit behaupte, iſt das, daß der von mir wohl jetzt ganz klar bezeichnete Miſchungsbe— ſtandtheil eines lebenden Weſens deſſen Seele if. Moritz Car— rière, der meine Seelenlehre im Allge— meinen günſtig aufnimmt, ſagt a. a. O.: „So ſeltſam Jäger's Hypotheſe ſich anſieht, ſie trägt das Wahrheitskorn in ſich: der Organismus bedarf einer Ge— ſtaltungskraft und dieſe iſt die Seele, und wir nehmen ihre Individualität in dem Gepräge wahr, das ſie dem Ausdünſtungs— ſtoff giebt, den die in der Atmoſphäre ſich auflöſenden Theile des Organismus auf ganz eigenthümliche Weiſe an ſich tragen.“ Alſo Karriere erklärt die Düfte für Produkte der Seele, ich für die Seele ſelbſt. Welches Recht habe ich dazu? Erſtlich habe ich das des Entdeckers, der feine Sache taufen darf. Wenn Car- rière das entdeckt hätte, was er unter — e er —— — — — — — — —— „Seele“ verſteht, dann hätte er das Recht, dem Kind den Namen zu geben. Wir werden übrigens nachher ſehen, daß die Sache ſchon längſt getauft iſt, ich alſo nicht einmal mehr freie Wahl habe. Weiter möchte ich ihm Folgendes ent— gegnen: Die Ausdünſtungsſtoffe ſind aller— dings wieder das Produkt irgend einer lich genug gezeigt habe, eine höchſt aktive, ſelbſtſtändige Rolle und haben auf Grund deſſen das Recht der Majorennität erlangt. Um ein Beiſpiel zu gebrauchen: So lange Jemand noch ein unſelbſtſtändiges Kind iſt, bezeichnet man ihn als den Sohn ſeines Vaters, in dem Augenblick aber, wo er majorenn geworden, führt er einen eigenen Namen. Das Gleiche würde ich dem ant— worten, der mir entgegnen wollte, dieſe Stoffe ſeien Produkte des Leibes. Ich habe gezeigt, daß dieſe Stoffe in dem Ge— häuſe des Leibes die Rolle des Herrn im Hauſe ſpielen, und daraus ergiebt ſich zum mindeſten die Gleichberechtigung in der Be— nennungsweiſe. Kein Menſch leugnet, daß die Triebe, die Inſtinkte, die Affekte und der Wille in das Capitel der Seelenerſcheinungen ge— hören. Wenn nun ein Naturforſcher die Entdeckung macht, daß alle dieſe Erſchein— ungen ihre Erklärung in der Anweſenheit eines ganz beſtimmten, „freien“, greifbaren, chemiſchen Stoffes finden, ſo wird er — da das Kind ja unter allen Umſtänden ge— tauft werden muß — unbedingt nach dem ihm bereits offerirten bekannten und po— pulären Wort greifen, anſtatt ein neues mit Hülfe des griechiſchen Wörterbuches zu ſchmieden. Eines iſt richtig: es könnte ein Streit um das „Wort“ entſtehen. Es giebt wenig Worte, die ſo maltraitirt wor— den ſind und noch werden, wie das Wort Jäger, Die Entdeckung der Seele. „Seele“. Ich erinnere nur an die Worte „Weltſeele“ und „Atomſeele“. Das Wort „Seele“ ſpielt gegenwärtig eine ähnliche Rolle, wie ſeiner Zeit in der Zoologie das Wort „Infuſorium“, worunter man all das kleine Zeug verſtand, das man mit bloßem Auge nicht ſehen kann. Genau ſo wird jetzt das Wort „Seele“ für alles das Urſache, aber ſie ſpielen, wie ich jetzt deut— | gebraucht, was man überhaupt, auch mit dem Mikroſkop, nicht ſieht. Deshalb ift das Schickſal, welches das Wort durch meine Entdeckung erfährt, genau das gleiche, welches das Wort „Infuſorium“ über ſich ergehen laſſen mußte. Die Detailforſcher auf dem Gebiete der Zwergorganismen haben das letztere zum Namen einer ganz beſtimmten, zoologiſch wohl abgegrenzten Gruppe derſelben gemacht, und ſo mache ich es auch: es iſt das Enktdeckerrecht, und wenn in Zukunft einer etwas anderes mit die— ſem Worte bezeichnete, ſo hätte er dazu ebenſo wenig ein wiſſenſchaftliches Recht, als wenn Jemand heute in Ehrenberg'ſcher Manier eine Diatomee ein Infuſorium nennen wollte. In einen Wortſtreit könnte ich übrigens nur mit den Philoſophen kommen, nicht aber mit der Theologie. Allerdings hat ſich bei den Theologen unter dem Einfluſſe der dualiſtiſchen Phi— loſophie eine gewiſſe Laxheit des Ausdrucks eingeſchlichen, inſofern ſie zum Theil die Worte Seele und Geiſt verwechſeln oder ſynonym gebrauchen. Wenn z. B. von der Unſterblichkeit der Seele geſprochen wird, ſo iſt das gegen die bibliſche Anſchauung, nach welcher die Seele ſterblich und, wie Moſes ſagt, im Blute ſteckt, und nur der Geiſt unſterblich iſt. So lange die ſterb— liche Seele, welche durch die Bezeichnung „ſterblich“ auch vom Theologen für ein Ob— jekt der Naturforſchung erklärt iſt, von letzterer nicht entdeckt war, konnte man eine ſolche Nachläſſigkeit des Ausdrucks ſich wohl erlauben. Es wird aber fortan nicht mehr angängig ſein, und ich möchte die Theolo— gen auffordern, nicht durch Beibehaltung dieſer laxen Methode die ſchon ohnedies große Verwirrung der Geiſter zu vermehren. Die Frage nach der Natur des „Geiſtes“ kann ich kurz dahin beantworten: derſelbe ift transcendent und feine Funktion ift die Vorſtellung. Daß derſelbe von etwas anderem ausgeht als von den Seelenſtoffen, ſchließe ich ganz einfach daraus: Während, wie der Leſer ſah, durch die von mir bezeichneten Stoffe ſich voll— ſtändig all die Kräfte erklären laſſen, die in den Trieben, Inſtinkten, Affekten und dem Willen zu Tage treten; während wir durch die Annahme einer freilich noch völlig dunklen phyſikaliſchen Stimmung der Erfahrungs— centren“) uns wenigſtens bildweiſe eine Er— klärung der Leiſtung des morphologiſchen Seelenapparats auf dem intellektuellen Ge— biete geben können, iſt und bleibt das Weſen der Vorſtellung transcendent. Bei der lakoniſchen Faſſung meiner vor— läufigen Notiz in der „Deutſchen Revue“ war es unvermeidlich, daß meine Anſchau— ungen Durch die obigen Auseinanderſetzungen halte ich jede Möglichkeit eines Mißverſtändniſſes für beſeitigt und glaube deshalb auch der Mühe enthoben zu ſein, die in einigen Be— ſprechungen meiner Seelenlehre zu Tage ge— tretenen Mißverſtändniſſe einer beſonderen Beſprechung zu unterziehen. Zum Schluß noch eins: Von theologiſcher Seite bin ich belehrt worden, daß ich einen Theil der Priorität an Moſes abzutreten ) Vergl. m. Lehrb. d. allg. Zool. Bd. II. § 114. Leipzig, 1877. Ernſt Günther's Verlag. theilweiſe mißverſtanden wurden. Jäger, Die Entdeckung der Seele. 1 habe, der erklärt, daß die Seele „im Blute ſtecke“. Moritz Carrieĩre bin ich ſehr verbunden für die Mittheilung, daß be— reits Carus den Ausdünſtungsgeruch als die „Seele“ bezeichnet hat. Derſelbe nimmt die Seele als das individuelle Bild— ungsprincip an, das Tiefinnerliche, das ſich im Leib ein Symbol ſeines Weſens geſtaltet und aus der Sphäre des Unbewußten ſich in das Licht des Bewußtſeins erhebt. Er ſagt: „Es iſt nicht blos die feſte, bleibende Geſtaltung, es iſt noch mehr viel— leicht die ſtille tiefe Erzitterung unbewuß— ter Gefühle, welche in dem Aeußern ſich ſpiegelt, welche im Ton der Stimme anklingt und in Wärme, Duft und elektriſcher Spannung ſich kundgiebt, wodurch auch der bewußte Geiſt berührt wird. Ueberhaupt iſt es diejenige Seite ſinnlicher Erkenntniß, welche wir mit dem Namen Geruch belegen, worin, eben weil ihr ſtets der in der Luft ſich auflöſende Organismus wahrnehmbar wird, namentlich die Wahrnehmung der Qualität unbewußter Exiſtenz einer anderen Seele gewährt wird.“ Ein gewiſſes Prioritätsrecht gebührt alſo unſtreitig Carus, und ich will es durchaus nicht verkleinern, namentlich unter— ſcheidet auch er ſcharf zwiſchen Seele und bewußtem Geiſt. Doch glaube ich, iſt ſeine Priorität bei der Entdeckung der Seele kaum größer, als Oken's Priori tät bezüglich der Entdeckung der Zelle. Deshalb wird man mir einiges Verdienſt bei derſelben auch vom objektiven Stand— punkt nicht abſprechen können. Höchſt merk— würdig iſt, daß, wie uns M. Karriere belehrt, Goethe, der ſo vieles erſt ſpäter Klargeſtelltes „gerochen“ hat, auch die Seele roch. N Pe De. Ar N J. Theorie der Schutz- farben: Wir haben ge | ſehen, daß gedämpfte oder ſchützende Färbungen in ihren unendlich verſchiedenen Ab— ſtufungen in jeder Abtheilung des Thier— reichs vorhanden ſind. Ganze Familien oder Geſchlechter find oft in dieſer Weiſe gefärbt. Nun ſind die verſchiedenen braunen, erdigen, aſchigen und andern neutralen Farben— ſchattirungen diejenigen, die am leichteſten producirt werden, denn ſie entſtehen durch unregelmäßige Miſchung verſchiedener Far— benſtrahlen; während reine Schattirungen entweder Strahlen nur einer Art, oder be— ſtimmte Miſchungen zweier oder mehrerer Ar— ten von Lichtſtrahlen in gehöriger Proportion erfordern. Dies wird gut dargelegt durch die vergleichsweiſe Schwierigkeit, reine Far— benſchattirungen durch Miſchung von zwei oder mehreren Farbſtoffen zu erzielen, während eine auf's Gerathewohl gemachte Miſchung einer Anzahl Farbſtoffe faſt ſicher braune, olivenartige oder andere neutrale oder ſchmutzige Farben liefert. Eine unbeſtimmte oder unregelmäßige Abſorption einiger Licht- | Die Türbung der Thiere und Pflanzen. Aus dem Engliſchen des Alfred Kuflel Wallace. (Schluß.) ſtrahlen und die Zurückwerfung der anderen würde alſo gedämpfte Farbentöne hervor bringen; während reine und lebendige Farben eine vollkommen beſtimmte Abſorption eines Theiles der farbigen Lichtſtrahlen erfordern, damit der andere Theil die wahre Comple— mentärfarbe erzeugen könne. Da dies die Sachlage iſt, können wir erwarten, daß jene braunen Schattirungen vorkommen werden, wenn das Bedürfniß nach Schutz nur ein ſehr geringes oder ſogar wenn es gar nicht vorhanden iſt, vorausgeſetzt, daß helle Farben nicht in irgend einer Weiſe der Art von Nutzen ſind. Sobald aber eine reine Farbe Schutz gewährt, wie Grün in den Tropen- wäldern oder Weiß auf den arktiſchen Schnee— feldern, iſt es nicht ſchwer, dieſelbe vermit— telſt der natürlichen Ausleſe auf der Linie der fortwährenden kleinen Abweichungen in der Farbenſchattirung hervorzurufen. Solche Abweichungen mögen, wie wir geſehen haben, auf ſehr mannigfache Weiſe hervorgebracht werden, entweder durch chemiſche Veränderung der Abſonderungen oder durch Verſchiebung der Lage der kleinſten Theile im Aufbau der Körperoberfläche; auch können ſie durch einen Wechſel der Nahrung, durch die photographiſche Wirkung des Lichtes und durch den normalen Proceß der Abänderung in der Zeugung verurſacht werden. Schützende Farben bieten alſo der Erklärung keine Schwierigkeiten dar, ſo ſeltſam und com— plicirt ſie auch in gewiſſen Fällen ſein mögen. Die Theorie der warnenden Färbungen: Dieſe unterſcheiden ſich ſtark von denen der letzten Claſſe, da ſie uns eine Mannigfaltigkeit brillanter Farbentöne bieten, die oft von der größten Reinheit ſind und auffallende Muſter und ſcharfe Contraſte aufweiſen. Ihre Nützlichkeit hängt von ihrer herausfordernden Sichtbarkeit und nicht von der Gegenwart irgend einer einzel— nen Farbe ab, daher finden wir unter dieſer Gruppe einige der in der ausgeſuchteſten Weiſe gefärbten Naturgegenſtände. Viele der nicht eßbaren Raupen ſind auffallend ſchön; während die Danaiden, Helikoniden und die beſchützten Gruppen der Papilioniden eine Reihe Schmetterlinge umfaſſen, die mit den glänzendſten Farbencontraſten geſchmückt ſind. Die leuchtenden Farben vieler Seeane— monen und Seeſchnecken ſind wahrſcheinlich in dieſem Sinne Schutzfärbungen, indem ſie als eine Anzeige ihrer Ungenießbarkeit dienen. Nach unſerer Theorie bietet keine dieſer Farben irgend welche Schwierigkeit dar. Wo Auf— fälligkeit von Nutzen war, wurde jede Ab— weichung, die nach glänzenderen und reineren Farben hinſtrebte, auserleſen, und das Reſul— tat ſind die ſchöne Mannigfaltigkeit und die Contraſte, die wir finden. Gehen wir aber zu jenen Gruppen über, die nur dadurch Schutz gewinnen, daß ſie mit ſolchen brillant gefärbten, aber un— genießbaren Weſen verwechſelt werden, ſo beſteht in der That eine Schwierigkeit, und für viele Geiſter ift fie fo groß, daß fie ihnen unüberwindlich ſcheint. Es wird deshalb Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. 193 | gut fein, eine Erklärung des Herganges zu verſuchen, durch welchen dieſe Aehnlichkeit herbeigeführt wurde. Der ſchwierigſte Fall, der zugleich als Typus der ganzen Klaſſe von Erſcheinungen gelten kann, iſt der des Genus Leptalis (einer Gruppe ſüdamerikaniſcher Schmetterlinge, die mit unſeren gemeinen weißen und gelben Arten verwandt iſt). Viele der größeren Arten dieſer | Gattung find noch weiß und gelb, und fie ſind alle für Vögel und inſektenfreſſende Thiere genießbar. Es giebt aber auch eine Anzahl Arten der Leptalis, die brillant roth, gelb und ſchwarz find, und die, Strei- fen für Streifen und Fleck für Fleck, einigen Danaiden und Heliconiden gleichen, die die— ſelbe Gegend bewohnen und widrig und ungenießbar ſind. Nun wird gewöhnlich der Einwand erhoben, daß eine geringe Annäherung an eine dieſer ſo beſchützten Schmetterlingsarten nutzlos fein würde, wäh— | rend eine größere plötzliche Abänderung | unter der Theorie des allmäligen Wechſels durch unbemerkbar kleine Abänderungen nicht zuläſſig iſt. Dieſer Einwand hängt faſt ganz und gar von der Vorausſetzung ab, daß, als die erſten Schritte zur Nach— ahmung unternommen wurden, die ſüd— amerikaniſchen Danaiden daſſelbe waren, was ſie jetzt ſind, während die Vorfahren der Leptaliden den gewöhnlichen weißen und gelben Pieriden, mit denen ſie verbunden find, gleich waren. Aber die Danatden- Schmetterlinge Südamerika's find fo un— geheuer zahlreich und ſo verſchieden unter ſich, nicht nur in Färbung, ſondern auch im Bau, daß wir ſicher annehmen können, ſie ſeien von grauem Alter und haben große Veränderungen erlitten. Eine große An— zahl von ihnen ſind jedoch noch jetzt von vergleichsweiſe einfachen Farben, die oft äußerſt elegant werden in Folge der zarten 194 Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Durchſichtigkeit der Flügelhäute, die aber fonft durchaus nicht auffallender Natur ſind. Viele haben nur dunkel ſchattirte oder purpurne Streifen und Flecken, andere haben Flecken eines röthlichen oder gelblichen Braun — welches vielleicht bei Schmetterlingen die gemeinſte Farbe iſt, — während eine beträchtliche Anzahl mit Gelb, einer eben— falls ſehr gemeinen Farbe, colorirt iſt, die ganz beſonders die Pieriden charakteri— ſirt, zu deren Familie Leptalis gehört. Wir können deshalb billigerweiſe voraus— ſetzen, daß auf den früheren Stufen der Entwickelung der Danaiden, zur Zeit, als fie zuerſt anfingen, jene widrigen Ausſcheid— ungen ſich anzueignen, die jetzt ihr Schutz— mittel ſind, lich einfache war, entweder dunkel ſchattirt mit helleren Streifen und Flecken, oder gelblich mit ſchwarzen Rändern und mit- unter mit röthlichen Streifen oder Flecken. Zu jener Zeit hatten ſie wahrſcheinlich kürzere Flügel und ſchnelleren Flug, gerade wie andere unbeſchützte Schmetterlings— familien. Aber ſobald ſie für irgend welche Feinde entſchieden unſchmackhaft wurden, wurde es für ſie zum Vortheil, auf der Stelle von allen eßbaren Arten unterſchieden zu werden, und da Schmetterlinge unzweifel— haft damals an Färbung ſchon ſehr ver— ſchieden waren, während beinahe alle Flügel hatten, die für einen ziemlich ſchnellen, ruck— weiſen Flug ſich eigneten, ſo mochte die beſte Auszeichnung in einer Veränderung der Umriſſe und der Gewohnheiten gefunden werden. Auf dieſe Weiſe erwuchs die Erhaltung ſolcher Spielarten, die ſich durch längere Flügel, Körper und Fühlhörner und langſameren Flug bemerkbar machten. Dieſe Charaktere zeichnen jetzt die ganze Familie in jedem Theile der Welt aus. Grade auf dieſer Stufe der Entwickelung mochte es ihre Färbung eine ziem nun geſchehen, daß einige der ſchwächer fliegenden Pieriden, die zufälligerweiſe einigen Danaiden-Arten ihrer Umgebung an Färb⸗ ung und Flügelumriſſen ähnlich waren, dann und wann von dem gemeinſamen Feind für jene gehalten wurden und auf dieſe Weiſe einen Vortheil im Kampfe um's Daſein gewannen. Geben wir zu, daß dieſer eine Schritt gemacht wurde, ſo folgt alles Andere unvermeidlich im Wege einfacher Variation und des Ueberlebens des Paſſendſten. So bald als der widrige Schmetterling in Form und Farbe ſich fo weit veränderte, daß der entſprechende eß— bare Schmetterling ihm nicht mehr glich, war der letztere Angriffen ausgeſetzt, und blos diejenigen ſeiner Spielarten, die die Aehnlichkeit weiter entwickelten, blieben er- halten. Wir können auch wohl voraus— ſetzen, daß zu gleicher Zeit die Feinde ſcharfſichtiger wurden und fähiger, kleinere Unterſchiede wahrzunehmen. Dies führte zur Vernichtung aller abweichenden Spiel— arten und erhielt dagegen in einer fort— während wachſenden Zuſammengeſetztheit die äußere Nachahmungsähnlichkeit, die uns jetzt ſo in Erſtaunen ſetzt. Während der langen Zeitalter, in denen dieſer Proceß vor ſich ging, mag manche Leptalis aus- geſtorben ſein, weil ſie nicht genügend nach der verlangten Richtung hinüberſpielte, um eine ſchützende Aehnlichkeit mit ihrem Nach— bar zu behaupten; und dies harmonirt mit der kleinen Anzahl von Fällen wahrer Mimicry, d. h. ſchützender Aehnlichkeit mit anderen lebenden Arten, verglichen mit der Häufigkeit jener ſchützenden Aehnlichkeiten mit pflanzlichen und anorganiſchen Gegen— ſtänden, deren Formen weniger abgegrenzt und deren Farben weniger dem Wechſel unterworfen ſind. Ungefähr ein Dutzend anderer Schmetterlings- und Nachtfalterge— ! ; f i Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. ſchlechter ahmen den Danaiden in den ver— ſchiedenen Welttheilen nach, und genau die— ſelbe Erklärung paßt auf Alle. repräſentiren jene Arten jeder Gruppe, die, zur Zeit als die Danaiden zuerſt ihre ſchützenden Abſonderungen erwarben, äußer— lich zufälligerweiſe einigen von ihnen ähnlich waren und vermittelſt gleichlaufender Abän— derung, die durch eine ſtrenge Ausleſe be— günſtigt wurde, im Stande geweſen ſind, die ſchützende Aehnlichkeit aufrecht zu erhalten.“) Die Theorie der geſchlecht— lichen Farben. — In feinen berühm⸗ ten Werke über die Abſtammung des Men- ſchen und die geſchlechtliche Zuchtwahl hat Herr Dar win die geſchlechtlichen Farben in Verbindung mit anderen Geſchlechts— charakteren abgehandelt. Er iſt zu dem Schluſſe gelangt, daß alle oder bei— nahe alle dieſe Farben bei den höheren Thieren (unter dieſen ſind Inſekten und alle Wirbelthiere mit einbegriffen) einer frei- willigen geſchlechtlichen Ausleſe entſpringen, und daß eine Verſchiedenheit der Färb— ung bei den Geſchlechtern in erſter Linie in der Vererbung von Färbungsverſchieden— heiten, entweder blos auf das eine Ge— ſchlecht oder auch auf beide Geſchlechter, ihren Grund habe. Die dabei ſich voll— ziehende Unterſcheidung hinge von einem unbekannten Geſetz ab und ſei nicht auf natürliche Ausleſe zurückzuführen. Ich habe lange geglaubt, daß dieſe ) Der Leſer, der ſich eingehender über dieſen Gegenſtand zu unterrichten wünſcht, ſollte Herrn Bates’ Originalabhandlung: „Contributions to an Insekt Fauna of the Amazon Valley“ in den „Transact. of Linnean Society, vol. XXIII p. 495“; Herrn Trimen's Aufſatz ibid. vol. XXVI p. 497; des Ver⸗ faſſers Arbeit über „Mimiery“ etc. zu Rathe | ziehen, und, wenn feine Schmetterlingsſamm⸗ I lungen zur Hand find, die Tafeln der Helico- nidae und Leptalidae in „Hewitsons Exotic | Butterflies“ und „Felder's Novara-Reiſe“ be⸗ ö nutzen. Sie 195 Theorie Darwin's irrig ſei, und habe zu begründen verſucht, daß die erſte Urſache eines geſchlechtlichen Unterſchiedes in der Färbung das Bedürfniß nach Schutz ſei, welches bei dem Weibchen jene glänzenden Farben unterdrücke, die an ſich bei beiden Geſchlechtern in Folge allgemeiner Geſetze hervorgebracht würden, auch habe ich ver— ſucht, viele der ſchwierigeren Fälle auf Grund dieſes Princips zu erklären.“) Da ich ſeither viel über dieſen Gegenſtand nach— gedacht habe und zu Anſichten gelangt bin, die mir von einiger Wichtigkeit zu ſein ſcheinen, wird es gut ſein, in Kürze die Theorie, die ich mir zu eigen gemacht, zu ſkizziren, und darauf ihre Anwendbar⸗ keit auf einige der in Darwin's Werk näher beſchriebenen Fälle nachzuweiſen. Die ſehr häufig hervorragende Ueber- legenheit des männlichen Vogels oder In— ſektes an Farbenglanz oder Intenſität, die ſich ſelbſt dann zeigt, wenn die allgemeine Färbung bei beiden Geſchlechtern die gleiche u - \ ift, Scheint mir jetzt der größern Energie, Stärke und Lebenskraft des Männchens zu entſpringen. Die Farben eines Thieres werden gewöhnlich während einer Krankheit oder eines Schwächezuſtandes matt, während robuſte Geſundheit und Kraft ihre Inten- ſität ſteigert. Die letztere offenbart ſich am meiſten beim Männchen während der Brunft- zeit, wenn die Lebenskraft in ihrem Maxi⸗ mum ſteht. Sie iſt auch ſehr deutlich in allen den Fällen, in denen das Männchen, wie bei den Habichten und vielen Schmet⸗ terlingen und Nachtfaltern, kleiner iſt, als das Weibchen. Dieſelbe Erſcheinung zeigt ſich, wenn auch in geringerem Grade, unter den Säugethieren. Wo immer ein Farben⸗ unterſchied zwiſchen den Geſchlechtern vor— ) Vergl. die Theorie der Vogelneſter in meinen „Beiträgen“. Fa Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. 26 mm u — * 196 kommt, iſt das Männchen das dunkler ge— gefürbte oder das intenſiver gezeichnete, und der Unterſchied der Intenſität zeigt ſich während der Brunſt am deutlichſten. Zahl— reiche Fälle, die unter Hausthieren vor— kommen, beweiſen ebenfalls, daß dem männ— lichen Thiere eine Tendenz innewohnt, Ab— ſonderlichkeiten in Anhängſeln der Haut oder der Färbung zu entwickeln, und zwar ganz unabhängig von der geſchlechtlichen oder irgend einer anderen Form der Ausleſe. So werden „der Buckel des männlichen Zebu Indiens, der Schwanz der fett— ſchwänzigen Widder, die gewölbte Stirn der Böcke verſchiedener Schafraſſen, die Mähne, die langen Haare an den Hinter- beinen und die Wamme des Männchens der Berbera-Ziege“ alle von Darwin als Beiſpiele von Charaktereigenſchaften angeführt, die dem Männchen eigenthümlich, aber von keiner den Eltern und Stammes— vorfahren angehörigen Geſtaltung abgeleitet ſind. Bei den Haustauben charakteriſiren ſich die verſchiedenen Zuchtraſſen oft am ſtärkſten bei den männlichen Individuen; der Bart der Brieftauben und die bärtige Augenumfaſſung der Berbertauben ſind bei den Männchen am größten, die männlichen Kropftauben dehnen ihre Kröpfe viel weiter aus als die Weib— chen, und die männlichen Pfauentauben haben eine größere Anzahl Schwanzfedern als die Weibchen. Es giebt auch einzelne Tauben— varietäten, bei denen die Männchen mit ſchwarzen Streifen oder Flecken verziert ſind, während die Weibchen niemals dieſe Deco— ration befigen,*) während bei dem Vor— fahrenſtamme dieſer Tauben es keine Unter— ſchiede des Gefieders und der Färbung giebt, und künſtliche Zucht nicht zu ihrer Hervor— bringung angewendet wurde. ) Darwin, Das Variiren der Thiere und Pflanzen. 2. Aufl. I. S. 176. Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Die intenſivere Färbung des Männ— chens, — die als der normale geſchlecht— liche Farbenunterſchied bezeichnet werden kann, — würde durch die Kämpfe der Männchen um den Beſitz der Weibchen weiter entwickelt werden. Die Stärkſten und Energiſchſten ſind gewöhnlich im Stande, die meiſte Nachkommenſchaft zu erzeugen, und ſo würde die Farbenintenſität, — wenn ſie von Kraft abhängt oder mit ihr zu— ſammenfällt, — von ſelbſt zunehmen. Da aber Farbenverſchiedenheiten von geringen chemiſchen und mechaniſchen Veränderungen der Zuſammenſetzung und des Baues der Organismen abhängig ſind, und die zu— nehmende Kraft in ungleicher Weiſe auf die verſchiedenen Theile der Körperdecke ein- wirkt, oft zugleich mit abnormer Entwidel- ung des Haares, der Hörner, der Schup— pen, der Federn u. ſ. w., ſo würde dies beinahe mit Nothwendigkeit auch zu einer verſchiedenartigen Vertheilung der Färbung und alſo zur Erzeugung neuer Yarben- ſchattirungen und Zeichnungen führeu. Die ſo erworbenen Farben würden, wie Dar— win gezeigt hat, auf beide Geſchlechter oder auch nur auf Eins vererbt werden, je nachdem ſie im frühen Alter oder bei den Erwachſenen des neuen Geſchlechts zu— erſt erſcheinen, und auf dieſe Weiſe wären wir im Stande, von einigen der ſchärfſten Unterſcheidungen dieſer Art Rechenſchaft ab— zulegen. Mit Ausnahme der Schmetter— linge ſind bei den Inſekten die Geſchlechter faſt von gleichem Ausſehen. Daſſelbe iſt der Fall bei Säugethieren und Reptilien; die größte Abweichung von dieſer Regel kommt dagegen bei den Vögeln vor, ob— wohl ſogar bei ihnen in vielen Fällen das Geſetz der Gleichheit vorwiegt. Aber in allen Fällen, in denen die zunehmende Entwickel— ung der Farben für das Weibchen 1 D Pen Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. theilhaft wurde, wurde ſie auch durch natürliche Ausleſe in Schranken gehalten, und ſo wurden jene zahlreichen Fälle von Schutzfärbung des Weibchens allein hervorgebracht, die nur bei m dieſen beiden Thiergruppen ſich zeigen. Ein ſehr wichtiger Zweck und Nutzen der Farbe bei den höheren Thieren beſteht auch, wie ich glaube, in der Leichtigkeit der Erkennung, die ſie den Geſchlechtern und den Jungen derſelben Art gewährt, und wahrſcheinlich beſtimmt dieſe Nützlichkeit in vielen Fällen die Art der Färbung. Wenn die Unterſchiede der Größe und Geſtalt ſehr gering ſind, gewährt die Farbe das einzige Mittel einer Erkennung in der Ent— fernung oder während der Bewegung, und ſolch ein unterſcheidender Charakter muß deshalb für fliegende Inſekten von beſon— derem Werthe ſein, da dieſe fortwährend in Bewegung begriffen ſind und ſich ge— wiſſermaßen nur zufällig begegnen. Dieſe Anſchauung erklärt die ſonderbare That— ſache, daß unter den Schmetterlingen nächſt— verwandter Arten in denſelben Gegenden die Weibchen mitunter ſich beträchtlich unter- ſcheiden, während die Männchen ſich ſehr ähnlich ſind. Denn, inſofern die Männ— chen die ſchnellſten und höchſten Flieger ſind und die Weibchen aufſuchen, würde es offen— bar ein Vortheil für ſie ſein, ihre Ge— noſſinnen ſchon aus der Entfernung zu erkennen. Dieſe Eigenthümlichkeit findet ſtatt bei vielen Arten von Papilio, Dia- dema, Adolias und Colias. Bei Vögeln bedarf es ſo bezeichnender Farbenunterſchiede nicht, da in Folge ihrer höheren Organi— ſation und ihrer vollkommeneren Sinnes organe das Erkennen vermittelſt einer Com— bination verſchiedener geringerer Eigenſchaf— ten leicht gemacht iſt. Dieſer Grundſatz mag vielleicht einige Unregelmäßigkeiten der Färbung unter den höheren Thieren 197 erklären. So bemerkt Herr Darwin, indem er zugiebt, daß Haſe und Kaninchen Schutzfärbungen tragen, daß das Kanin— chen, während es nach ſeiner Höhle läuft, durch ſeinen emporſtehenden weißen Schwanz dem Jäger und unzweifelhaft auch allen Naubthieren in die Augen fällt. Grade dieſe Auffälligkeit beim Davonlaufen aber wird auch als ein Signal und zur Führ- ung der Jungen von Nutzen ſein, die da— durch in den Stand geſetzt werden, den älteren Kaninchen, um der Gefahr zu ent— gehen, ſogleich und ohne Zögern zur ſchützenden Höhle nachzufolgen, und dies mag in Folge der nächtlichen Lebensart des Thieres um ſo wichtiger ſein. Iſt dieſe Erklärung richtig — und ſie erſcheint ge— wiß wahrſcheinlich! — ſo mag ſie uns darauf hinweiſen, wie unmöglich es iſt, ohne genaue Kenntuiß der Gewohnheiten eines Thieres und ohne volle Erwägung aller Umſtände eine Entſcheidung darüber zu treffen, ob irgend eine beſtimmte Färbung ſchützend oder nützlich ſein könne oder nicht. Herr Darwin ſelbſt aber trifft ſolche Ent— ſcheidungen. So ſagt er: „Das Zebra iſt mit auffällig ſichtbaren Streifen bedeckt, und Streifen können auf den offenen Steppen Südafrikas keinen Schutz gewähren.“ Aber das Zebra iſt ein ſehr flüchtiges Thier und entbehrt, wenn es in Heerden beiſammen iſt, keineswegs der Vertheidigungsmittel. Die Streifen können möglicherweiſe deshalb auch von Nutzen ſein, indem ſie Einzelnen die Möglichkeit gewähren, ihre Genoſſen in der Entfernung zu erkennen, und ſie mögen ſo— gar ſchützender Natur ſein, wenn das Thier im Graſe liegt — zur einzigen Zeit, wo es wirklich einer Schutzfärbung bedarf. So lange die Gewohnheiten des Zebra nicht mit beſonderer Aufmerkſamkeit auf dieſen Punkt beobachtet worden ſind, dürfte es gewiß etwas ) voreilig fein zu behaupten, daß die Streifen „keinen Schutz gewähren könnten“. Die wundervolle Pracht und die end— loſe Mannigfaltigkeit der Farben, durch welche Schmetterlinge und Vögel ſich vor allen anderen Thieren auszeichnen, ſcheint in erſter Linie der übermäßigen Entwickel— ung und der endloſen Mannigfaltigkeit des Baues der als Hülle dienenden Körpertheile zu entſpringen. Keine andern Inſekten haben ſolche weit ausgeſpannte Flügel im Ver— hältniß zur Körpermaſſe — als Schmetter— linge und Nachtfalter; bei keinen variiren Größe und Geſtalt der Flügel ſo ſehr und bei keinen ſind ſie mit einer ſo ſchönen und künſtlich zuſammengeſetzten Schuppendecke be— kleidet. Den von uns ſchon aus einander geſetzten allgemeinen Grundſätzen der Farben— erzeugung gemäß müſſen die langdauernden Entfaltungen deckender Häute und Ent- wickelungen oberflächlicher Körperbautheile zu zahlreichen Farbenveränderungen geführt haben. Dieſelben wurden mitunter in Schran— ken gehalten, mitunter mit Nutzen verwen— det und befeſtigt, mitunter noch geſteigert durch die Ausleſe, die von dem Bedürfniſſe der Thiere beſtimmt wurde. Auch bei den Vögeln haben wir die wundervolle Feder— bedeckung, das am künſtlichſten gebaute, man— nigfaltigſte und in ſeinem Größenverhältniß ausgedehnteſte aller Hautanhängſel. Die endloſen Phaſen des Wachsthums und Wech— ſels während der Entwickelung der Federn und die ungeheure Ausdehnung der fein— conſtruirten Oberflächen muß der Erzeug— ung verſchiedenartiger Farbeneffekte höchſt günſtig geweſen ſein, und dieſe wurden, wenn ſie nicht ſchädlich waren, einfach zum Zwecke der Arterkennung beibehalten; wur— den aber andere Farbenſchattirungen zu Schutz- zwecken gebraucht, ſo ſind die vorhandenen oft modificirt oder unterdrückt worden. Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Ein ſehr geringer, wenn überhaupt irgend ein Theil dieſer Wirkung iſt, wie ich glaube, auf Rechnung der bewußten geſchlechtlichen Ausleſe, d. h. der wirk— lichen Wahl der prächtiger gefärbten Männ— chen ſeitens der Weibchen zu ſetzen. Un— zweifelhaft iſt es bewieſen, daß bei den Vögeln die Weibchen mitunter eine Wahl treffen; aber der Beweis dieſer Thatſache, den Herr Darwin zuſammengeſtellt hat,“) zeigt nicht, daß die Wahl durch Rückſicht auf Farben beſtimmt wird. Im Gegen— theil ſteht ein guter Theil der gewichtigſten Zeugniſſe dieſer Auffaſſung gegenüber. Alle Thatſachen ſcheinen darin übereinzuſtimmen, daß die Wahl von verſchiedenen Eigen— ſchaften des Männchens abhängt, auch von ſolchen, mit denen eine Farbenentwickel⸗ ung oft zuſammenfällt. So iſt es die An- ſicht einiger der beſten Beobachter, daß Kraft und Lebhaftigkeit die meiſte Anziehungs— kraft beſitzen, und dieſe ſind unzweifelhaft in der Regel mit intenſiver Färbung ver— bunden. Es mag auch die Entfaltung der verſchiedenen ſchmückenden Anhängſel des Männchens beim Courmachen Anziehungs— kraft ausüben; aber dieſe Anhängſel ſelbſt, mit ihren brillanten Farben und ſchattirten Muſterzeichnungen, erwachſen wahrſcheinlich auf Grund allgemeiner Wachsthumsgeſetze jener überſchwänglichen Lebenskraft, die, wie wir geſehen, eine Urſache der Farben— entwicklung iſt. Mannigfache Erwägun— gen ſcheinen aber zu beweiſen, daß der Beſitz dieſer ſchmückenden Anhängſel und glänzenden Farben nicht als eine funk— tionell wichtige Eigenſchaft des Männchens zu betrachten iſt, und daß dieſelbe nicht durch die Wirkung bewußter geſchlechtlicher Ausleſe erzeugt wurde. Unter der reich— lichen Menge von Thatſachen und Meinun- Abſtammung des Menſchen. C. 14. ü- ——... —.r.r... nn ͤ — Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. gen in Bezug auf die Entfaltung der Farbe und des Körperſchmuckes männlicher Vögel, die Herr Darwin zuſammengeſtellt hat, findet ſich keine Spur von Beweis, daß die Weibchen dieſe Entfaltung bewundern oder auch nur von ihr Notiz nehmen. Die Henne, die Pute und die Pfauhenne freſſen ruhig weiter, während die Männchen ihren Putz entfalten, und man hat Grund zu glauben, daß es viel mehr Ausdauer und Nachdrücklichkeit als Schönheit iſt, die den Sieg gewinnt. Die Beweismaſſe, die Herr Darwin geſammelt, zeigt ferner, daß jeder Vogel unter allen Umſtänden einen Gatten findet. zahl von Fällen an, wonach von einem Paare das Eine erſchoſſen wurde und das Ueberlebende unmittelbar darauf wieder gepaart gefunden wurde. Eine genügende Erklärung dafür iſt die Annahme, daß die Vernichtung der Vögel fortwährend Witt— wen und Wittwer in nahezu gleicher Zahl übrig läßt und daß ſo Jedes gleich ſeine Ergänzung findet. Darnach ergiebt ſich der Schluß, daß dauernd ungepaarte Vögel höchſt ſelten vorkommen, ſo daß, um all— gemein zu reden, jeder Vogel zur Begatt— ung und zur Erzeugung von Nachkommen— ſchaft gelangt. Dies aber würde jede Wirkung einer geſchlechtlichen Ausleſe auf Grund der Farbe oder des Schmuckes bei— nahe oder ganz aufheben, ſintemal die we— niger prächtig gefärbten Vögel eine ebenſo gute Ausſicht hätten, geſunde Nachkommen— ſchaft hinterlaſſen. Wenn dagegen höhere Farbenausſtattung mit Geſundheit und Kraft zuſammenfällt, und wenn die ge— ſunden und kräftigen Vögel am beſten für ihre Jungen ſorgen und Nachkommen— ſchaft hinterlaſſen, die, weil ſie ebenfalls ge— ſund und kräftig iſt, am beſten für ſich ſelbſt ſorgen kann, dann wird die natürliche Aus— Er giebt ſelbſt eine An- 199 leſe zur Beförderin der Farbenentwickelung. Eine andere ſehr wichtige Erwägung iſt die, daß männliche Schmetterlinge mit den prächtigſten männlichen Vögeln im Glanze ihrer Farben und der Eleganz ihrer Zeich— nungen wetteifern oder ſie ſogar übertreffen, und bei ihnen iſt nicht die Spur eines Beweiſes vorhanden, daß die Weibchen durch die Farbe der Männchen beeinflußt werden oder überhaupt irgend welche Frei— heit der Wahl beſitzen, während viele di— rekte Beweisangaben auf das Gegentheil hinweiſen. Die Schwäche des Beweis— materials zu Gunſten einer geſchlechtlichen Ausleſe bei dieſen Inſekten iſt ſo offenbar, daß Darwin gezwungen iſt, es durch die auffällig beweisſchwache Be— hauptung zu vervollſtändigen: „Zögen nicht die Weibchen ein Männchen dem andern vor, ſo müßte die Paarung ein Werk des bloßen Zufalls bleiben, und dies ſcheint nicht wahrſcheinlich zu ſein.“ “) Gerade vorher aber ſagt er: „Die Männchen käm— pfen mitunter in Nebenbuhlerſchaft und man kann ſehen, daß viele ein und daſſelbe Weibchen verfolgen und ſich an daſſelbe drängen,“ während bei den Seidenſchwär— mern „die Weibchen nicht die geringſte Wahl in Bezug auf ihre Gatten auszuüben ſcheinen.“ Sicherlich iſt es die einfache Folgerung aus allen dieſen Thatſachen, daß die Männchen um den Beſitz des faſt paſ— ſiven Weibchens kämpfen und daß das kräf— tigſte und energiſchſte, das ausdauerndſte oder mit den ſtärkſten Flügeln verſehene ſie gewinnt. Was bleibt dabei dem Zufall überlaſſen? Die natürliche Ausleſe würde wirken und, wie bei den Vögeln, die ſtärk— ſten und kräftigſten Männchen erhalten, und da dieſe in der Regel die am prächtigſten ) Abſtammung des Menſchen. 3. Aufl. Cap. 11. S. 415. \ 8 200 gefärbten find, würden die nämlichen Wirk— ungen in Bezug auf Erhöhung der Intenſität und Mannigfaltigkeit der Farben ſich er— geben, wie es bei geſchlechtlicher Ausleſe der Fall ſein könnte. Wir wollen nun ſehen, wie dieſe Grund- ſätze ſich einigen der Fälle anpaſſen, die Darwin zur Unterſtützung ſeiner Theorie bewußter geſchlechtlicher Ausleſe beibringt. Herr Darwin giebt einen ausführ— lichen Bericht über die verſchiedenen Arten der Färbung der Schmetterlinge und Nacht- falter,) durch den bewieſen wird, daß die | farbigen Stellen mehr oder weniger offen entfaltet werden, und daß ſie offenbar in | Beziehungen zu einem Beobachter ſtehen müſſen. Herr Darwin ſagt dann: „Auf Grund der verſchiedenen vorerwähnten That— ſachen iſt es unmöglich zuzugeben, daß die brillanten Farben der Schmetterlinge und einiger Nachtfalter im Allgemeinen zu Schutzzwecken erworben worden ſind. Wir haben geſehen, daß ihre Farben und elegan— ten Zeichnungen ſo angeordnet und blos— geſtellt ſind, als ob ſie zur Schau geſtellt wären. Das führt mich zu dem Glauben, daß die Weibchen die geſchmückteren Männ— chen vorziehen oder von ihnen mehr erregt werden, denn unter irgend einer anderen Vorausſetzung würde, ſo weit wir ſehen können, die Ausſchmückung der Männchen eine zweckloſe ſein.“ die brillanten Farben der Schmetterlinge „im Allgemeinen zu Schutzzwecken erworben wor- 3 hutzz den“ ſeien; aber Darwin hat ſelbſt Fälle angeführt, in denen die brillante Färbung ſo angebracht iſt, daß ſie zum Schutz dienen kann, wie z. B. die Augenflecke auf den Hinterflügeln der Nachtfalter, auf die ) Abſtammung des Menſchen. 3. Aufl. Cap. 11. S. 401421. Es iſt mir nicht be⸗ wußt, daß man jemals behauptet hat, daß Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. die Vögel ſtoßen, und die alſo die lebens— wichtigen Körpertheile retten. Es iſt in der That einigermaßen bemerkenswerth, wie ſehr allgemein die ſchwarzen Stellen, die Augen und die glän— zenden Farbenflecken an den Spitzen, den Rändern und auf den Flügelſcheiben liegen; da nun die Inſekten beim Fliegen nothwendig ſichtbar und dann den meiſten Angriffen ſeitens inſektenfreſſender Vögel ausgeſetzt ſind, ſo iſt die Lage der auffälligeren Stellen in einer gewiſſen Entfernung wahr— ſcheinlich ein wahres Schutzmittel für ſie. In einem anderen Falle giebt Darwin zu, daß die weiße Farbe der männ— lichen Geſpenſtmotte dazu beitragen mag, daß dieſelbe leichter von dem Weibchen beim Herumfliegen in der Finſterniß geſehen werden kann, und wenn wir hinzufügen, daß ſie auch leichter von anderen Arten unterſchieden werden kann, ſo haben wir bei dieſen Inſekten einen Grund für ver— ſchiedene Ausſchmückung, der die meiſten Thatſachen genügend erklärt, und brauchen nicht an die Auswahl der brillant gefärbten Männchen durch die Weibchen zu glauben, für welche nicht ein Körnchen Beweis vor— handen iſt. Die angegebenen Thatſachen zeigen, daß Schmetterlinge und andere Inſekten Farben unterſcheiden und daß ſie von Farben, die ihren eigenen ähnlich ſind, angezogen werden; ſie ſtimmen deshalb ganz mit der Auffaſſung überein, daß Farbe, die fortwährend die Tendenz hat, zu erſcheinen, zu Zwecken der Erkennung und Unterſcheidung nutzbar gemacht wird, wenn ihre Umänderung oder Unterdrückung nicht zu Schutzzwecken erfordert wird. Die Fälle der Weibchen einiger Arten von Thecla, Callidryas, Colias und Hippar- ehia, die auffälligere Zeichnungen beſitzen, als ihre Männchen, mag verſchiedene Ur— ſachen haben: fie mögen dadurch ein beſſe— res Unterſcheidungsmerkmal von anderen Arten gewinnen, zum Schutze gegen Vögel, wie es beim Gelbband (Triphaena) der Fall iſt; mitunter, wie z. B. bei Hippar- chia, mag auch die geringere Farben— intenſität des Weibchens zur ſchärferen Zeichnung Anlaß geben. Herr Darwin glaubt, daß in dieſen Fällen die Männ— chen die ſchöneren Weibchen ausgewählt haben, obwohl eine Hauptthatſache zur Stütze ſeiner Theorie der bewußten ge— ſchlechtlichen Ausleſe die iſt, daß durch das ganze Thierreich die Männchen ge— wöhnlich ſo hitzig ſind, daß ſie jedes Weib— chen annehmen, während die Weibchen ſcheu ſind und nur die ſchönſten Männchen aus— wählen, woher es nach ſeiner Annahmeſtammt, daß die Farbenpracht der Männchen im All- gemeinen die der Weibchen übertrifft. Vielleicht die ſonderbarſten Fälle eines Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. geſchlechtlichen Farbenunterſchiedes find die- ı Wäldern fih aufhalten, in denen die Heli⸗ ter gefärbt iſt, als das Männchen. Dieſes kommt am auffallendſten bei einigen Arten jenigen, in denen das Weibchen viel brillan— von Pieris in Südamerika und von Dia- dema auf den malayiſchen Inſeln vor, und in beiden Fällen gleichen die Weibchen den nicht eßbaren Danaiden und Heliconiden und erwerben ſich auf dieſe Weiſe einen Schutz. Im Falle von Pieris pyrrha, P. malenka und P. lorena find die Männ- chen einfach weiß und ſchwarz, während die Weibchen orange, gelb und ſchwarz und genau ſo geſtreift und gefleckt ſind, daß ſie Heliconiden-Arten gleichen. Darwin giebt zu, daß die Weibchen dieſe Färbung zum Schutze ſich erworben haben; da aber keine offenbare Urſache vorhanden zu ſein ſcheint, weshalb ſich dieſe Färbung auf die Weibchen beſchränken ſollte, ſo glaubt er, daß chen gerade ſo ſie auf das Weibchen keine Anziehungskraft ausübe oder abſtoßend wirke. Dieſe An— nahme ſcheint mir mit der ganzen Theorie der geſchlechtlichen Ausleſe im Wider— ſpruch zu ſtehen. Denn dieſe Theorie be— ſteht gerade darin, daß ſchon geringe Farben— entwickelung beim Männchen auf das Weib— chen eine Anziehungskraft ausübt, daß die ſo ausgezeichneten Männchen immer aus— gewählt und daß auf dieſe Weiſe die brillanten Farben der Männchen hervor— gebracht würden. In dieſem Falle ſoll dagegen der weibliche Schmetterling eine beſtändige Abneigung gegen jede Spur von Färbung gehabt haben, obwohl wir voraus- ſetzen müſſen, daß die letztere gleichzeitig mit den auf einander folgenden Veränder— ungen, die einen jo wunderbaren Wechſel in der Färbung des Weibchens hervor— brachten, fortwährend auftrat. Ziehen wir aber die Thatſache in Erwägung, daß die Weibchen dieſer Art haupſächlich in den coniden in Menge leben, während die Männ— chen viel auf offenem Felde umherfliegen und ſich in großer Anzahl mit anderen weißen und gelben Schmetterlingen an den Flußufern aufhalten, ſollte es dann nicht möglich ſein, daß das Auftreten orange— farbener Streifen und Flecken dem Männ— ſchädlich, als dem Weibchen von Nutzen war, indem es das erſtere unter feinen weißen Genoſſen zu einem aufs fallenden Zielpunkte für inſektenfreſſende Vögel machte? Das ſcheint mir wahr— ſcheinlicher, als die Vorausſetzung einer Wahl durch das Weibchen, die mit— unter zu Gunſten und dann und wann gegen jede neue Farbenentwickelung ſeitens ihres Gatten ausgeübt wurde. Der volle und intereſſante Bericht, den Herr Darwin über die Färbungen und | fie beim Männchen unterdrückt werde, weil 202 Gewohnheiten männlicher und weiblicher Vögel giebt,“) beweiſt, daß die Männchen in den meiſten, wenn nicht in allen Fällen ihr Prunkgefieder vor den Weibchen und in gegenſeitiger Nebenbuhlerſchaft entfalten; aber in Hinſicht des weſentlichen Punktes, ob die Wahl des Weibchens durch geringe Unterſchiede dieſer Farben oder Schmuck— zeichnungen bedingt wird, ſcheint ein gänz— licher Mangel alles Beweismaterials obzu— walten. Gegenüber der Behauptung von der Vorliebe der Weibchen für gewiſſe Männchen zeigen die citirten Thatſachen Gleichgültigkeit gegen Farbe, abgeſehen davon, daß eine Farbe, die der des wählenden Weibchens ähnlich iſt, den Vor— zug zu haben ſcheint. In dem Falle aber, in welchem ein Kanarienvogel- Weibchen einen Grünfinken wählte, den ſie einem Buchfinken oder Goldfinken vorzog, hatten bunte Farben offenbar keine vorwiegende Anziehungskraft. Es iſt einiges Beweis- material dafür beigebracht, daß die Weib— chen ihre Gatten wählen können und es mitunter auch thun; aber kein Beweis wird dafür geliefert, daß dieſe Wahl durch Rückſicht auf die Färbung beſtimmt werde, und nicht weniger als drei große Züch— ter meldeten Herrn Darwin, daß ſie „nicht glauben, daß die Weibchen ge— wiſſe Männchen auf Grund der Schönheit ihres Gefieders vorzögen.“ Darwin ſelbſt ſagt an einer andern Stelle: „Als allgemeine Regel ſcheint Farbe wenig Einfluß bei der Paarung der Tauben aus— zuüben. Der oft citirte Fall der Pfau— hennen Sir R. Heron's, die einen „alten ſcheckigen Hahn“ den normalfarbigen vor— zogen, iſt ein ſehr unglücklich gewählter, indem ſcheckige Vögel gerade die ſind, die im Naturzuſtande nicht begünſtigt werden, 775 ) Abſtammung, Cap. 13 u. 14. Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. ſonſt würden die Spielarten der wilden Vögel eben ſo mannigfach und buntgefleckt werden, als unſere zahmen Varietäten. Wäre ein ſolcher unregelmäßiger Geſchmack nicht eine ſeltene Ausnahme, ſo würde die Erzeugung beſtimmter Farben und Muſter durch die Ausleſe ſeitens der weiblichen Vögel oder in irgend einer andern Weiſe unmöglich ſein. | Wir gelangen jetzt zu den wunder- vollen Entwickelungen des Gefieders und der Farbe, wie ſie der Pfau und der Argusfaſan aufweiſen, und ich darf hier erwähnen, daß es gerade der letztere von Darwin vollſtändig beſprochene Vogel iſt, der zuerſt meinen Glauben an „ge— ſchlechtliche“ oder vielmehr „weibliche“ Ausleſe erſchüttert hat. Die lange Reihe allmäliger Steigerungen, durch welche die ſchön ſchattirten Augenflecke auf den Flügel- federn zweiter Reihe dieſes Vogels ſich ent— wickelten, find klar dargelegt, und das Re— ſultat iſt ein Syſtem von Zeichnungen, ſo ausgeſucht ſchattirt, daß es Bälle darzuſtellen ſcheint, die „loſe in ihren Höhlen liegen“, — rein künſtliche Gegenſtände, von denen dieſe Vögel unmöglich Kenntniß beſitzen konnten. Daß dieſes Reſultat dadurch er⸗ reicht worden ſein ſollte, daß tauſende und zehntauſende weiblicher Vögel ohne Aus— nahme diejenigen Männchen vorzogen, deren Zeichnungen in geringem Maße nach dieſer Richtung hin abwichen, und daß eine ſolche Gleichförmigkeit der Wahl durch tauſende und zehntauſende von Generationen ſich fort— ſetzte, ſcheint mir abſolut unglaublich. Und bedenken wir ferner, daß diejenigen, die nicht abwichen, aller Wahrſcheinlichkeit nach ebenfalls Gattinnen gefunden und Nach— kommenſchaft hinterlaſſen haben, ſo ſcheint es ganz unmöglich, daß das wirkliche Ergebniß Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Ohne Anſpruch darauf zu machen, ein ſo ſchwieriges Problem gänzlich zu löſen, muß ich doch auf einen Umſtand aufmerk— ſam machen, der einen Schlüſſel darzubieten ſcheint. Die am ſtärkſten gefärbten und am reichſten gegliederten Zeichnungen finden ſich an jenen Theilen des Gefieders, die die größte Modification erlitten oder die ab— normſte Entwickelung gewonnen haben. Beim Pfau iſt die Bedeckung des Schwanzes enorm entwickelt und die Augen liegen an den weit hinausgeſtreckten Enden. Bei den Paradiesvögeln find die Bruſt-, Hals-, Kopf⸗ und Schwanzfedern ſehr entwickelt und reich gefärbt. Die Federn des Huhnes und die ſchuppige Bruſt der Kolibris ſind ähnliche Entwickelungen, während bei dem Argusfaſan die Flügelfedern der zwei— | I | ten Reihe fo enorm verlängert und ver- breitert ſind, daß ſie den Flug nahezu hindern. Nun iſt es leicht zu begreifen, daß während dieſes Entwickelungsproceſſes eine ungleiche Vertheilung der Färbung in verſchiedenen Theilen derſelben Feder entſtanden ſein mag und daß Flecken und Streifen in der von Darwin bezeichneten Weiſe ſich zu ſchattirten Stellen und Augen entwickelten, ungefähr ſo, wie die Flecken nehmender Dünne der Wand vergrößern. Dies iſt um ſo wahrſcheinlicher, als bei den zahmen Vögeln Farben-Varietäten die Tendenz haben, ſymmetriſch zu werden licher Ausleſe.“) Nehmen wir nun das Zeugniß des zuverläſſigſten Correſpondenten Herrn Dar— win's an, daß die Auswahl ſeitens des Weibchens, ſo weit ſie ausgeübt wird, auf das „kräftigſte, ungeſtümſte und kampffähigſte“ Männchen fällt, und halten ) Darwin, a. a. O. 203 wir an der Annahme feſt, daß, wie es gewiß der Fall iſt, dieſe in der Regel auch die am prächtigſten gefärbten und mit dem ſchönſtentwickelten Gefieder verſehenen ſind, ſo haben wir eine wirkliche und keine hypo— thetiſche Urſache zur Hand. Denn dieſe geſündeſten, kräftigſten und ſchönſten Männ⸗ chen werden die Auswahl unter den ſchön⸗ ſten und geſündeſten Weibchen und die zahl- reichſten und geſündeſten Familien haben, und werden am beſten im Stande ſein, dieſe Familien zu beſchützen und aufzubrin- gen. Natürliche Ausleſe und was man männliche Ausleſe nennen könnte, wird dahin gehen, ihnen den Vortheil im Kampfe um's Daſein zu geben, ſie werden die ſchönſten Farben überliefern und dahin ſtreben, ſich bei der folgenden Generation weiter zu entwickeln. Uebrig bleibt jedoch, was Herr Dar— win offenbar als ſein ſtärkſtes Argument betrachtet, nämlich die Schauſtellung eines beſonderen Farben- und Federſchmuckes durch das Männchen. Unzweifelhaft iſt dies eine bemerkenswerthe und intereſſante Thatſache, aber auch fie kann aus allgemeinen Grund- ſätzen erklärt werden, als ganz unabhängig von irgend welcher Wahl oder Willens- und Ringe einer Seifenblaſe ſich mit zu⸗ äußerung des Weibchens. Während der Brunſtzeit iſt der männliche Vogel in einem Zuſtande großer Aufregung und voll über- ſtrömender Energie. Sogar Vögel, die keinen Schmuck beſitzen, entfalten ihre Flügel, und zwar ganz unabhängig von geſchlecht⸗ breiten ſie aus und flattern, erheben ihre Kämme und Schwänze, und geben ſo der nervöſen Erregbarkeit, mit der ſie überladen ſind, Ausdruck. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß Kämme und andere aufrichtbare Federn in erſter Linie zur Wegſcheuchung von Fein⸗ den von Nutzen ſein können, ſintemal ſie allgemein im Zuſtande der Wuth oder beim Kampfe erhoben werden. Jene Indi— N — — Sn Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. 00 viduen, die am kampfluſtigſten und heraus— forderndften waren und dieſe aufricht— baren Federn am häufigſten und kräftigſten zur Wirkung brachten, ſtrebten dahin, die— ſelben durch den Gebrauch zu vergrößern und ſie einigen ihrer Nachkommen ſo weiter— entwickelt zu vererben. Wenn im Laufe dieſer Entwickelung Farbe auftritt, ſo haben wir allen Grund zu glauben, daß ſie bei dieſen kampfluſtigſten und energiſchſten In— dividuen am lebhafteſten ſich zeigt, und da dieſe immer den Vortheil in dem neben— buhleriſchen Kampfe um Gattinnen haben werden (und die Ueberlegenheit des Gefie— ders und der Färbung mochte mitunter zu dieſem Vortheile beitragen), ſo ſcheint nichts einer fortſchreitenden Entwickelung dieſer Schmuckausſtattung bei allen herrſchen— den Raſſen im Wege zu ſtehen, — d. h. überall dort, wo ein ſolches Uebermaß der Lebenskraft und eine ſo vollkommene An— paſſung an die Lebensbedingungen vor— handen war, daß die durch jene Entwickel— ung erzeugte Unbequemlichkeit oder Gefahr vergleichsweiſe unbedeutend blieb und die Ueberlegenheit der Raſſe über ihre näch— ſten Verwandten nicht in Frage ſtellte. Werden alſo diejenigen Theile des Gefie— ders, die urſprünglich ſich ſträubten und entfalteten, weiter entwickelt und gefärbt, ſo wird die wirkliche Schauſtellung unter Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. dem Einfluſſe der geſchlechtlichen Erregung verſtändlich. ihrer Nebenbuhlerſchaft beobachten, welche Farben ſich am wirkſamſten zeigten, und Jedes würde verſuchen, ſo weit als freiwillige Anſtrengung es fertig bringen kann (R.), ſeinen Feind zu übertreffen, gerade wie ſie einander beim Geſange zu übertreffen ſuchen und dies mitunter ſogar bis zu ihrem eigenen Untergange fortſetzen. Es läßt ſich noch ein allgemeiner Ein— Die Männchen würden bei | wand gegen Darwin's Anſichten über dieſe Frage erheben. Er gründet ſich auf das Weſen und die Macht der „natür— lichen“ im Gegenſatze zur „geſchlechtlichen“ Ausleſe, und er ſcheint, für ſich allein, faſt die ganze Frage zu erledigen. Natürliche Ausleſe oder das Ueberleben der Tüchtigſten wirkt fortwährend und in ungeheurem Maß— ſtabe. Nehmen wir die Nachkommen jedes Vogelpaares im Jahre nur auf ſechs an, dann wird höchſtens ein Drittel derſelben übrig bleiben, während zwei Drittel, die am wenigſten Tüchtigen, ſterben. In Zwiſchen— räumen von wenigen Jahren aber, ſo oft ungünſtigere Lebensbedingungen vor— kommen, werden fünf Sechſtel, neun Zehntel oder ſogar ein größeres Verhält— niß des ganzen jährlichen Zuwachſes aus— gerottet und nur die Vollkommenſten und Paſſendſten übrig bleiben. Wenn nun dieſe Ueberlebenden nicht im Ganzen zugleich die mit Schmuck am reichſten Ausgeſtatteten ſind, ſo muß dieſe ſtrenge Naturausleſe jeden Einfluß, den eine Ausleſe ſeitens der Weibchen ausüben kann, neutraliſiren und zerſtören. Die größte Wirkung, die für die letztere Ausleſe in Anſpruch genommen werden kann, beſteht darin, daß ein geringer Bruchtheil der am wenigſten geſchmückten Männchen keine Gattinnen findte, während ein Paar der am meiſten geſchmückten mehr als die Durchſchnittszahl der Nach— kommen hinterlaſſen mögen. Nur wenn das ſtrengſte Verbindungsverhältniß zwi— ſchen Ausſchmückung und allgemeiner Voll— kommenheit beſteht, kann die erſtere ein dauernder Vortheil ſein; beſteht aber, wie ich behaupte, ein ſolches Verhältniß, ſo wird eine geſchlechtliche Ausleſe auf Grund der Ausſchmückung, für welche es wenig oder gar kein Beweismaterial giebt, unnöthig, indem alsdann die na— —— ͤ—— — | türliche Ausleſe, die eine anerkannte vera causa iſt, von ſelbſt alle beobachteten Wirk— ungen hervorbringen wird. In Betreff der Schmetterlinge wird dieſes Argument noch ſtärker, da die Fruchtbarkeit hier um ſo viel größer iſt und die Ausrottung der Unfähigen in großem Maße im Eier- und Larvenzuſtande ſtattfindet. Wenn nicht die Eier und Larven, die der Vernichtung ent— gingen und die nächſte Generation produ— cirten, auch jene waren, die die ſtärker ge— färbten Schmetterlinge hervorbringen mußten, ſo iſt es ſchwer zu begreifen, wie ein un— bedeutendes Ueberwiegen der Färbung, welche die Weibchen mitunter vorziehen, nicht ganz und gar von der außerordentlich ſtrengen Ausleſe auf Grund anderer Eigenſchaften ausgeglichen werden ſollte, der die Nach— kommenſchaft auf jeder Stufe ihrer Exiſtenz ausgeſetzt iſt. Die einzige Weiſe, in der wir die beobachteten Thatſachen erklären können, iſt in der Vorausſetzung enthalten, daß Farbe und Schmuck mit Geſundheit, Kraft und allgemeiner Fähigkeit des Ueber— lebens in genauer Wechſelbeziehung ſtehen. Wir haben gezeigt, daß Gründe zu einer ſolchen Annahme vorhanden ſind, — iſt dies aber der Fall, ſo wird bewußte ge— ſchlechtliche Ausleſe in dem Grade unnöthig, als ſie unwirkſam ſein würde. Es giebt unter den Vögeln noch einen anderen, ſehr ſeltenen Fall geſchlechtlicher Fürbung, nämlich den, wo das Weibchen entſchieden glänzender und hervortretender gezeichnet iſt, als das Männchen, wie z. B. bei der Kampfwachtel (Turmix), der bunten Schnepfe (Rhynchoea), zwei Arten von Phalaropus, und dem gemeinen Ca— ſuar (Casuarius galeatus). In allen dieſen Fällen iſt es bekannt, daß die Männchen die Eier übernehmen und ausbrüten, wäh— rend die Weibchen faſt immer größer und Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. 205 kampfluſtiger ſind. In meiner Theorie der Vogelneſter?) ſchrieb ich dieſen Unterſchied der Farbe dem größeren Schutzbedürfniſſe der Männchen zu, während dieſelben brüten. Herr Darwin erhebt den Einwand, daß der Unterſchied nicht genügend und nicht immer ſo charakteriſirt ſei, um für dieſen Zweck am meiſten zu wirken; er glaubt dage— gen, daß er auf eine umgekehrte geſchlechtliche Ausleſe zurückgeführt werden müſſe, d. h. das Weibchen übernähme die gewöhnliche Rolle des Männchens und würde um ſeiner leb— hafteren Farben willen gewählt. Wir haben ſchon die Gründe geſehen, weshalb wir | dieſe letztere Theorie in jedem Falle ver- werfen müſſen, und ich gebe auch zu, daß meine Theorie des Schutzbedürfniſſes in dieſem Falle nur theilweiſe, wenn überhaupt, anwendbar iſt. Aber die jetzt vorgetragene Theorie, daß Farbenintenſität einer allgemeinen Lebensenergie entſpringe, iſt ganz anwendbar, und die Thatſache, daß die Ueberlegenheit des Weibchens in dieſer Beziehung eine ganz ausnahmsweiſe und alſo wahrſcheinlicher Weiſe in keinem Falle ſehr alte iſt, erklärt, daß der ſo erzeugte Farbenunterſchied ein ſehr geringer iſt. Theorie der Art- und Gatt⸗ ungsfärbungen. — Die übrig bleiben— den Arten thieriſcher Färbungen, die weder als ſchützende oder warnende, noch als ge— ſchlechtliche untergebracht werden können, — erklären ſich zum größten Theil mit Leich— tigkeit aus den allgemeinen Grundſätzen der Farbenentwickelung, die wir eben nieder— gelegt haben. Es iſt ein beachtenswerther Fingerzeig, daß in den Fällen, in denen Farbe als Warnung dient, wie bei den ungenießbaren Raupen, wir nicht nur eine oder zwei grelle Farben finden, ſondern | alle mögliche, in eleganten Muſtern geordnet, ) Natural Selection, p. 251. — 206 Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. die faſt ebenſo viel Mannigfaltigkeit und Schönheit darbieten, wie die der Vögel und Inſekten. In dieſem Falle aber iſt nicht nur geſchlechtliche Ausleſe, ſondern auch das Bedürfniß nach Erkennung ſeitens anderer Weſen derſelben Art außer aller Frage. Wir können alſo dieſe Mannigfaltig- keit nur der normalen Erzeugung von Färb— ungen bei organiſchen Lebensgebilden zu— ſchreiben, wenn dieſe den Einflüſſen des Lichtes und der Luft und einer großen und ſchnellen umändernden Entwickelung unter— worfen ſind. Unter vollkommeneren Thieren, bei denen das Bedürfniß des Erkanntwerdens ſich geltend macht, finden wir die Intenſität und Mannigfaltigkeit der Farbe im höchſten Grade bei den ſüdamerikaniſchen Schmetter— lingen der Heliconiden- und Danaiden— Familien, auch unter den Nymphaliden und Eryciniden, von denen viele den nöthigen Schutz in anderer Weiſe erhalten. Auch unter den Vögeln finden wir überall da, wo die Gewohnheiten derartige ſind, daß kein beſonderer Schutz der Weibchen erforderlich iſt, — wie z. B. bei den Tiefen der tro- piſchen Wälder, wo fie naturgemüß gegen die Angriffe der Raubvögel geſchützt find, — eine faſt gleichmäßige intenſive Färb— ung, wie bei den Kurukus, Bartvögeln und Rachenvögeln (Eurylaemidae). Bei den Kolibris finden wir ein aus— gezeichnetes Beiſpiel der Wirkungsweiſe der allgemeinen Principien der Farbenentwickel— ung. Dieſelben ſind zugleich die kleinſten, die thätigſten und die lebenskräftigſten unter allen Vögeln. Wenn ſie in der Luft ſchweben, ſind ihre Flügel in Folge der Schnelligkeit ihrer Bewegungen unſichtbar, und werden ſie aufgeſchreckt, ſo ſchießen ſie mit der Schnelligkeit eines Lichtfunkens hinweg. So behende Weſen würden keine leichte Beute für einen Raubvogel ſein; und wenn ſchließlich wirklich ein ſolcher einen Kolibri erwiſcht hätte, ſo würde der kleine Biſſen kaum die Mühe des Fanges lohnen. Wir können deshalb ſicher ſein, daß ſie thatſächlich unbeläſtigt find. Die ungeheure Verſchieden— heit des Baues, des Gefieders und der Farbe, die ſie aufweiſen, deutet auf ein hohes Alterthum des Geſchlechtes, und die all— gemeine Menge ihrer Individuen beweiſt, daß ſie eine herrſchende Gruppe ſind, die allen Bedingungen ihrer Exiſtenz wohl an— gepaßt iſt. Wir finden hier alſo Alles, was für Entwickelung der Farbe und Federn nöthig iſt. Die überflüſſige Lebensenergie, die ſie bei ihren Kämpfen zeigen, und der ü berſprudelnde Thätigkeitstrieb hat ſich in einer immer zunehmenden Entwickelung der Federn und in einer immer größeren Farbenintenſität Luft gemacht, die nur durch das Bedürfniß nach Identification der Art regulirt wurde, was bei ſo kleinen und beweglichen Geſchöpfen beſonders erforder— lich ſein muß. So mögen jene merkwürdigen Unterſchiede der Färbung nahverwandter Arten entſtanden ſein, von denen Eine einen Kamm hat, der dem Topas, die An— dere einen, der dem Sapphir ähnelt. Die lebhafteren Farben und das entwickeltere Gefieder der Männchen mögen, wie ich jetzt zu glauben geneigt bin, lediglich ihrer grö— ßeren Lebensenergie und jenen allgemeinen Geſetzen zugeſchrieben werden, die ſogar bei zahmen Zuchtraſſen eine jo überlegene Ent- wickelung herbeiführen; aber in einigen Fällen mag das Schutzbedürfniß des Weib- chens beim Brüten, dem ich früher die ganze Erſcheinung zuſchrieb, einen Theil des Schmuckes unterdrückt haben, den fie ſonſt erworben haben würde. Eine andere wirklich beſtehende, obwohl bis jetzt unerklärliche Urſache der Farben— verſchiedenheit wird in dem Einfluſſe der | 1 t % 4 7 Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. Oertlichkeit erkannt. Man hat beobachtet, daß Arten von ganz verſchiedenen Gruppen in einer Gegend eine gleiche Farbe haben, wäh— rend in einer anderen Gegend die verwand— ten Arten alle denſelben Farbenwechſel durch— machen. Fälle dieſer Art ſind von Herrn Bates, Darwin und mir ſelbſt an— geführt worden, und ich habe alle ſeltneren und intereſſanteren Beiſpiele in meiner Eingabe an die biologiſche Abtheilung der British Association zu Glasgow im Jahre 1876 zuſammengeſtellt. Die wahrſchein— lichſte Urſache dieſer gleichmäßigen Verän— derungen ſcheint wohl die Gegenwart be— ſonderer Elemente oder chemiſcher Verbind— ungen im Boden, im Waſſer, in der Atmo— ſphäre, oder beſonderer organiſcher Verbind— ungen im Pflanzenreiche“) zu fein, und ein weites Feld bietet ſich, in Verbindung mit dieſem intereſſanten Gegenſtande, für die chemiſche Unterſuchung dar. Aber, wie immer wir es auch erklären mögen, die Thatſache bleibt, daß dieſelben lebendigen Farben, in beſtimmten Zeichnungen ange— ordnet, bei ganz verſchiedenen Gruppen 207 Wärme oder der Feuchtigkeit auf dieſelbe. Farbe wird auch erzeugt durch Interferenz des Lichtes bei auf einander liegenden, durch— ſcheinenden Häutchen, oder bei außerordent— lich feinen oberflächlichen Riſſen. Dieſe Grundbedingungen der Farbenerzeugung werden bei der Zuſammenſetzung der äuße— ren Körperflächen der Thiere allenthalben gefunden, ſo daß die Gegenwart der Farben als normal, ihre Abweſenheit dagegen als Ausnahme betrachtet werden muß. Farben werden bei den Thieren durch natürliche Ausleſe zu verſchiedenen Zwecken entweder feſtgehalten oder abgeändert; matte oder nachahmende Farben zur Verbergung, grelle Farben als Warnungsmittel; beſon— dere Muſterzeichnungen entweder zur Er— kennung ihrer Art durch verſprengte In— dividuen, Junge oder Weibchen, oder um den Angriff von einem lebenswichtigen Theile, wie bei den großen, brillant ge färbten Flügeln einiger Schmetterlinge und Nachtfalter, abzulenken. Farben werden erzeugt und ihre Wirk— ung erhöht durch Entwickelungsproceſſe — hervorgerufen werden, die, ſo weit wir wiſſen, nur darin übereinſtimmen, daß ſie Veränderung erleiden, oder indem ein Ueber⸗ dieſelbe Gegend bewohnen. Zur Ueberſicht wollen wir nun die Schlüſſe zuſammenſtellen, zu denen wir in Bezug auf die verſchiedenen Arten der Ent— ſtehung oder Umänderung der Farben im Thierreiche gelangt ſind: Die verſchiedenen Urſachen der Farbe im Thierreich ſind mechaniſche oder chemiſche Wechſel des Stoffes ihrer Körperbedeckun— gen, oder die Einwirkung des Lichtes, der *) Anm. d. Red. Vielleicht am meiften | dürften Unterſchiede in der Nahrung einwirken. Es iſt jetzt allgemein bekannt, daß die Kana⸗ rienzüchter prachtvoll orangefarbene Varietä- ten züchten, indem ſie ſpaniſchen Pfeffer unter das Kanarienfutter miſchen. entweder indem die Körperdecke oder ihre Anhängſel eine große Ausdehnung oder maß von Lebensenergie, wie bei den männ⸗ lichen Thieren allgemein und ganz beſonders in der Brunſtzeit, vorhanden iſt. Farben werden auch mehr oder weniger durch verſchiedene andere Urſachen beeinflußt, 3. B. durch die Art der Nahrung, die photo- graphiſche Einwirkung des Lichtes und auch durch einen noch unbekannten Localeinfluß, der wahrſcheinlich von chemiſchen Eigen⸗ thümlichkeiten des Bodens und der Bege- tation abhängig iſt. Dieſe verſchiedenen Urſachen haben in mannigfacher Weiſe Wirkung und Rückwirk⸗ ung ausgeübt, und ſind umgeſtaltet worden = EIN | durch Bedingungen, die von Alter und Ge— ſchlecht abhängen, bei der Concurrenz mit neuen Lebensformen und bei geographiſchen und klimatiſchen Veränderungen. Bei einem ſo verwickelten Gegenſtande, für den Ex— perimente und ſyſtematiſche Forſchung ſo wenig gethan haben, können wir nicht die Erklärung jedes Einzelfalles oder Löſung jeder Schwierigkeit erwarten; aber man kann annehmen, daß alle Hauptzüge der thieri— ſchen Färbungen und viele Details durch die Grundſätze, die wir niederzulegen ver— ſucht haben, erklärbar werden. Es mag vielleicht als Anmaßung be— trachtet werden, dieſen Abriß einer Auf— faſſung der Farbenerſcheinungen bei Thieren als Erſatz einer der am meiſten durch— gearbeiteten Theorien Herrn Darwin's — der der freiwilligen oder durch Anſchau— ung geregelten geſchlechtlichen Ausleſe — vorlegen zu wollen, aber ich wage zu glauben, daß er mehr im Einklange mit der Geſammtſumme der Thatſachen und ſelbſt mit der Theorie der natürlichen Aus— leſe ſtehe, und ich möchte diejenigen meiner Leſer, die für den Gegenſtand genug In— tereſſe haben, bitten, noch einmal die Kapitel II bis XVI von Darwin's Abftamm- ung des Menſchen zu leſen und die ganze Theorie von dem hier dargelegten Stand— punkte zu betrachten. Die Erklärung, daß beinahe die ge— ſammte Färbung und Ausſchmückung der Vögel und Inſekten durch Sinneswahrnehm— ung und Wahl ſeitens der Weibchen erzeugt worden ſei, hat, wie ich glaube, manchen Evolutioniſten vor den Kopf ge— ſtoßen, iſt aber zeitweilig angenommen wor— den, weil es die einzige Theorie war, die auch nur den Verſuch machte, die That— ſachen zu erklären. Es mag vielleicht Man— chen von dieſen, wie es bei mir der Fall Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. war, als eine Erlöſung erſcheinen, wenn ſie nun finden, daß die Erſcheinungen nach— weislich aus den allgemeinen Geſetzen der Entwickelung und aus der „natürlichen Aus— leſe“ abgeleitet werden kann, und dieſe letz— tere Theorie wird dadurch, wie ich hoffe, von einem abnormen Auswuchs befreit und durch die Annahme meiner Anſchauungen über den Gegenſtand größere Lebenskraft gewinnen. Obwohl wir zu dem Schluß gelangt ſind, daß tropiſches Licht und Hitze in keinem Falle als Urſachen der Färbungen betrachtet werden können, ſo bleibt doch die unanfechtbare Thatſache, daß alle intenſiveren und glänzenderen Farben vom Thierreich der Tropenwelt zur Schau getragen wer— den, während bei einigen Gruppen, z. B. den Schmetterlingen und Vögeln, ein be— zeichnendes Uebergewicht bunt gefärbter Arten vorkommt. Dieſes iſt wahrſcheinlich von mannigfachen Urſachen abzuleiten, von denen wir einige andeuten möchten, während andere noch entdeckt werden müſſen. Die üppige Vegetation der Tropen gewährt während des ganzen Jahres ſo viel Gelegenheit ver— borgener Schlupfwinkel, daß Farbe dort ohne Gefahr in viel größerem Betrage ent— wickelt werden kann, als in Klimaten, in denen die Bäume im Winter kahl ſind, und wo in dieſer Jahreszeit der Kampf der härteſte iſt, ſo daß der geringſte Unterſchied tödtlich werden kann. Gleich wichtig iſt wahrſcheinlich die Beſtändigkeit der günſtigen Bedingungen in den Tropen, die gewiſſen Gruppen erlaubte, durch lange Perioden herrſchende zu bleiben, und jo in ununter— brochener Linie jede Entwickelung der Farbe und des Gefieders, die einmal zur Geltung gelangt war, zu übertragen. Wechſel der klimatiſchen Bedingungen und namentlich die Eiszeit führten wahrſcheinlich den Unter— PF ²˙ ö ͤ—˙—ͤ—̃̃ ² Tr — LT Lan Le en ee TE — — . — — — 209 Wallace, Die Färbung der Thiere und Pflanzen. gang einer Menge hach entwickelter und ſchön gefärbter Inſekten und Vögel in den gemäßigten Zonen herbei, gerade wie ſie zum Untergange der größeren und wich— tigeren Säugethiere geführt haben, von denen wir wiſſen, daß ſie ehedem die gemäßigten Zonen beider Halbkugeln charakteriſirten. Dieſe Anſchauung wird durch die Thatſache geſtützt, daß nur unter jenen Gruppen, die jetzt ausſchließlich tropiſch ſind, alle die außerordentlicheren Entwickelungen der Färb— ung und Ausſchmückung gefunden werden. Locale Färbungsurſachen werden ihre größte Wirkſamkeit ebenfalls in den Gegenden ge— habt haben, in denen die klimatiſchen Be— dingungen dieſelben blieben und Auswan— derung unnöthig machten, während die durch Licht und Wärme erzeugte direkte Wirk— ung mächtiger zwiſchen den Tropen ſich Nachſchrift der Redaktion. Wir haben es unterlaſſen, dieſen inhaltreichen Artikel mit zahlreichen Bemerkungen zu verſehen, obwohl wir in vielen Fällen ab- weichende Anſichten hegen, und möchten bei dieſer Gelegenheit bemerken, daß ſelbſtver— ſtändlich die Mitglieder der Redaktion durch den ſtillſchweigenden Abdruck eines Auf— ſatzes keineswegs eine allgemeine Zuſtimm— ung betreffs ſeines Inhaltes bekunden. Jeder Autor iſt für ſeine Meinungen allein ver— antwortlich, und der Umſtand, daß wir entfaltete. Schließlich waren alle dieſe Ur- ſachen über einen größeren Flächenraum ausgedehnt und wirkſam, als den der ge— mäßigten Zonen, während, wenn wir dieſen Flächenraum feiner Potenz d. h. im Ver⸗ hältniß zu ſeiner Leben unterhaltenden Kraft abſchätzen, diejenigen Gebiete, die in der That ein tropiſches Klima beſitzen (und die ſich weit über die Wendekreiſe hinaus erſtrecken), ſehr viel größer ſind, als die gemäßigten Gegenden der Erde. Faſſen wir die Wirk— ungen aller dieſer verſchiedenen Urſachen zu— ſammen, ſo ſind wir vollkommen fähig, die Ueberlegenheit der tropiſchen Theile des Erdballs, nicht nur hinſichtlich des Ueber— fluſſes und der Mannigfaltigkeit ihrer Lebens— formen überhaupt, ſondern auch in Betreff der ſchmückenden Anhängſel und der leb— haften Färbung dieſer Formen, zu verſtehen. zuweilen unſere abweichende Anſicht, wo es ſich mit wenigen Worten thun läßt, ſofort zum Ausdruck bringen, ändert nichts an dieſem allgemeinen Grundſatz. Dem aufmerkſamen Leſer unſerer Zeitſchrift wird es nicht ent— gangen ſein, daß die Anſichten des Herrn Wallace über die lebhafteren Färbungen vieler Männchen, ſich ſehr nahe mit denen der Herren Beccari und Mantegazza (Kosmos, Band III. S. 38 und 253) berühren. re U Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die den Darwinismus berührenden Vorträge der LI. Verſammlung deutſcher Uaturforſcher und Aerzte.“ — zei der Berichterſtattung über Natur- Jforſcher⸗ Verſammlungen werden ſehr IN Or ſchiedene Wege eingeſchlagen. Die Tageblätter beſchränken ſich mit Recht auf die Wiedergabe der rein äußerlichen Mo— mente, indem ſie die Betheiligung, den Em— pfang und die Vergnügungen und Ausflüge ſchildern, die man den Gäſten bietet. Die engliſchen und franzöſiſchen Fachzeitungen pflegen vor Allem die Eröffnungsrede wieder— zugeben, obwohl dieſelbe meiſtens eine blos oratoriſche Leiſtung iſt, die entweder den allgemeinen Stand der Wiſſenſchaft reca— pitulirt, oder, vom Localpatriotismus getra— gen, die Verdienſte des Gaſtgebers um die Wiſſenſchaſt darſtellt. Andre Journale ſuchen durch die Aufzählung der Titel ſämmtlicher in den öffentlichen Sitzungen und Fachab— theilungen gehaltenen Vorträge ein möglichſt e Bild der verrichteten Arbeit ) Anm. d. Red. Wir haben den vor— liegenden Bericht ſo lange aufgeſchoben, weil wir die Fertigſtellung des demſelben zu Grunde gelegten „Tageblattes der Naturforſcher-Ver— ſammlung“ abwarten wollten, die in Folge verſchiedener Hinderniſſe erſt kürzlich erfolgt iſt. zu geben, womit aber kaum Jemandem ein Dienſt geleiſtet wird. Wir werden uns, unſern Raumverhältniſſen entſprechend, damit begnügen, von den auf Darwinismus und allgemeine Weltanſchauung bezüglichen Vor— trägen eine kurze Inhaltsangabe zu geben und nur bei einigen beſonders wichtigen Vorträgen länger verweilen. Gleich der erſte, den Eröffnungsreden in der öffentlichen Sitzung folgende Vor— trag beſchäftigte ſich mit einem einſchlägigen Thema: Profeſſor Oskar Schmidt aus Straßburg ſprach, an die Herausforderung Virchow's in München anknüpfend, über das Verhältniß des Darwinismus zur Socialdemokratie. Ein ſolcher Vortrag, der auf die Zurückweiſung einer Reihe von Mißverſtändniſſen eingeht, erlaubt am wenigſten einen Auszug, wir werden uns deshalb auf die Erwähnung von Ein— zelheiten beſchränken müſſen. Der Redner erwähnte zuerſt der Ausführungen von Lange, Engels und Leopold Jacoby, die daraus, daß der Socialismus eine ent- wickelungsgeſchichtliche Thatſache iſt, folgern, daß er auf „wiſſenſchaftlichen Grundlagen“ beruhe, und ſeine Ziele mit den Geſetzen der kosmiſchen Entwickelung in Verbindung bringen. Hier wies nun der Redner zu— nächſt nach, daß die Ziele des Socialis— mus, ſoweit dieſelben eine Collectivproduktion 2 I K K — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. anſtreben, am vollkommenſten bei ganz niedern Organismen verwirklicht werden, bei höheren dagegen dem Einzelerwerb Platz machen. „Die meiſten Thiere,“ ſagte er, „ar— beiten einzeln für ſich. Ihre Arbeitsmittel (Privatcapital) werden durch ihre Glied— maßen und Waffen repräſentirt. Ihren Erwerb verbrauchen ſie zur Friſtung ihres Lebens, ſie ſammeln nicht in die Scheunen; nur in den höheren Klaſſen finden wir eine Aſſociation der Arbeit und eine Sorge der Eltern für die Zukunft der Nach— kommen, Inſtinkte, welche als befeſtigte und vererbte Gewohnheiten ſich erklären laſſen, wie denn alſo doch alle dieſe inſtinktiven Handlungen ſich in Arbeiten mit allmälig geſammeltem vererbtem Privatcapital auf— löſen. Die Vergeſellſchaftung höherer Thiere kann das Ausſehen gemeinſchaftlicher, nicht inſtinktiv vor ſich gehender Arbeit haben, wie z. B. das Zuſammenrotten der Wölfe behufs Nahrungserwerbs, oder iſt auch einem Schutzbedürfniß entſprungen, wie das gemeinſame Weiden der Heerden— thiere; die Bauten der Biber, die Maſſen— neſter der Republikaner-Vögel find ſociali— ſtiſche Vervollkommnungen, welche unter un— günſtig erkannten Verhältniſſen aufgegeben werden, daher auch mit dem Scheine frei— williger Uebereinkunft auftreten. Dieſer trügeriſche Schein fehlt den Stock- und Coloniebildungen der niederen Thiere gänz— lich, wo durch Knoſpen die Fortpflanz— ung erzeugt wird (Polypenthiere ꝛc.). Es finden ſich hier geſellſchaftliche Einricht— ungen, um nicht nur das einzelne Indi— viduum an den Genüſſen, dem Schutze, der Sicherung gegen mechaniſche Unbilden theil— nehmen zu laſſen, ſondern es wird auch, wenn ſeine örtliche Stellung im Stocke für die Nahrungsaufnahme nicht günſtig it, aus dem Collektiv-Nahrungskanal geſpeiſt. In dieſen fließt der Ueberfluß der Einzelproduktion. Eine noch com— plicirtere Einrichtung in ſtreng durchge— führter Theilung der Arbeit zeigen die Röhrenquallen. Ich erinnere an dieſe all— bekannten Dinge, um als Reſultat zuſam— menzufaſſen, daß in der Thierwelt Commu— nismus und Socialismus um ſo ausge— prägter iſt, je niedriger die Gruppen ſtehen, bei denen er eingeführt iſt, daß dagegen, wo in der Thierwelt Einrichtungen an das ſocialiſtiſche Princip anklingen, bei der Ver— theilung des Erwerbs der Collektivpro— duktion der Egoismus des Einzelnen um jo ſtärker ſich repräſentirt, je höher die Thier— klaſſe ſteht.“ Im Thierreiche iſt alſo der Entwickel— ungsproceß jedenfalls ein anderer, was nicht ausſchließen würde, daß beim Menſchen die Sache umgekehrt ſein könnte, und deshalb unterſucht der Redner darauf die Behaupt— ungen näher, ob Karl Marx, wie man im ſocialiſtiſchen Lager behauptet hat, wirklich der Fortbilder der Darwin'ſchen Theorie ſei. Schlagend wies er hierbei nach, daß ſelbſt die Wortführer der Socialdemokratie den Darwinismus gründlich mißverſtanden haben, wenn ſie demſelben ähnliche Vorſtellungen wie die ihrigen unterlegen, daß nämlich die Entwickelung der Welt einer vorgefaßten Idee zu Liebe erfolgt ſei. Dieſe Anſicht ſchließt eben der Darwinismus als eine die Forſchung überhaupt überflüſſig ma— chende aus, ja in ihrer Negirung beruht ſeine Stärke und ſein Werth. Ebenſo lehrt er eine dem ſocialiſtiſchen Grundgedanken, daß die Einzelmeuſchen gleichbegabt und daher zum Genuſſe gleichberechtigt ſeien, gerade entgegengeſetzte Anſicht; er betont die Ungleichheit und den Sieg der Beſſern. Der Darwinismus ſteht über den Par— teien, er giebt den guten Keimen, die in Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. —— 1 | | | | | 212 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. den ſocialiſtiſchen Ideen liegen mögen, Hoff— nung ſich zu entwickeln, und benimmt den phantaſtiſchen Träumereien dieſe Ausſicht. Das Grundverkehrte kann wohl örtlich und zeitlich vorübergehend zur Herrſchaft gelan— gen, aber nicht beſtehen. Mit vollem Herzen können wir uns dem Wunſche anſchließen, mit welchem der Redner ſeinen gedanken— reichen Vortrag beſchloß: „Möchte es ge— lingen, der vollen Wahrheit der Darwi— niſtiſchen Entwickelungslehre das allgemeinſte Verſtändniß zu verſchaffen, damit Jeder nicht ſchon im Gegenſtrome treibende, ur— theilsfähige Menſch wüßte, was in derſel— ben enthalten iſt und was aus ihr nicht gefolgert werden kann.““) ) Dieſer Vortrag hat natürlich, da er die allgemeinen Tagesfragen berührt, bereits die vielfachſten und widerſprechendſten Beur— theilungen erfahren. Von allen Tagesblättern am ſchlechteſten bedient war wohl die gute Augsburgerin, die in ihrem blinden Zorne gegen Alles, was an Darwinismus ſtreift, das Elaborat eines Herrn A. W., welches an Unverſtand und Rohheit. das Menſchenmögliche leiſtet, abdruckte. Unter Anderm wird dem Redner in Bezug auf die Attentate „Kriecherei nach Oben“ vorgeworfen. Die Augsburgerin — denn mit ihrem Mitarbeiter wollen wir nichts zu thun haben — hätte dazu doch anſtändiger Weiſe bemerken müſſen, daß Prof. O. Schmidt ſeine Vertheidigung gegen die Virchow'ſche Denunciation ſchon im Jahre 1877 — lange vor dem allgemeinen Hep— Hep⸗-Geſchrei — aufgenommen hat und zwar in einem wiſſenſchaftlichen Blatte, welches in demſelben Verlage erſcheint, ihr alſo nicht unbekannt ſein konnte. Die Aufnahme des Handſchuhs in Kaſſel war durch die Art des Angriffs geboten, und Herr Virchow hat ebendaſelbſt noch drei Antworten bekommen, die ihm nicht angenehm ſein werden, nämlich von Prof. Hüter aus Greifswald, Profeſſor Aeby aus Bern und Profeſſor Klebs aus Prag. Von ſeinem eigenen, bis dato in Be— wunderung verſunkenen Schüler Klebs muß Von dieſer mehr allgemein gehaltenen und von philoſophiſchen Geſichtspunkten aus- gehenden Rede wenden wir uns zu den einzelnen Forſchungszweigen und werden dabei der Gleichmäßigkeit halber dieſelbe ſachliche Reihenfolge einhalten, wie ſie in unſeren Berichten eingeführt iſt. Ein allgemeineres Intereſſe in geogene— tiſcher Beziehung bot ein Vortrag des Bergrath Freiherrn von Dücker „über die Entſteh— ung der Erdbeben,“ in welchem er dieſelben in den allgemeinen Entwickelungs— proceß der Erde einreihete. Der Vortragende hat ſeit vielen Jahren auf den deutſchen Naturforſcher-Verſammlungen die auch von Elie de Beaumont und Daubrete, in neuerer Zeit ferner von Mallet, Dana, Süß und Runge getheilte Anſicht ver— treten, daß die althergebrachten Auffaſſ— ungen der Gebirgsbildungen durch Heb— ungen von unten bei genauerer Beobacht— ung der Gebirgsformen durchaus unhalt— bar werde, und daß man vielmehr unab— weislich auf die Erkenntniß verfalle, die Aufthürmung aller Schichtengebirge ſei die Folge ſeitlicher Zuſammenſchiebung der Erd— rinde beim Schrumpfen des innern Erd— kernes. Ein franzöſiſcher Naturforſcher, M. de Chancourtois, hat kürzlich durch Eintauchen eines ſtark aufgeblaſenen Kaut— ſchukballes in geſchmolzenes Wachs und nachheriges Oeffnen des daran angebrachten Hahnes, um den Ballon ſich zuſammen— ziehen zu laſſen, dieſe geogenetiſchen Erſchein— ungen nachgeahmt; das Wachs, welches ſich nicht zuſammenzieht, bildet aufſteigende Höhen— er die Drohung hören: „Prüfe ſelbſt die Richtigkeit der Angaben! Sonſt könnte es geſchehen, daß in einiger Zeit dieſelben Vor— würfe in der pathologiſchen Chemie gerechtfertigt wären welche Häckel bezüglich der Zoologie und Entwickelungsgeſchichte erhoben hat.“ und Thal-Runzeln, die ein gutes Bild des Erdreliefs geben.“) Indem der Vortragende nunmehr zur Erklärung der Erdbeben aus ähnlichen Urſachen überging, wies er zu— nächſt darauf hin, daß die Erdrinde überall mehr oder weniger in Falten gelegt iſt: „Die älteren Schichten liegen in ſtei— leren Falten, als wie die jüngeren. Die kryſtalliniſchen Schiefer der Alpen ſind aller— meiſt bis zur ſenkrechten Stellung aufge— richtet, die mächtigſten Schichtenſyſteme der niederrheiniſchen Uebergangsformation ſtehen ſelten unter 45 Grad; die Steinkohlen liegen in ſtarken Falten, die Trias desgleichen. In der Kreide finden wir ſchon aus— gedehntere flache Lagerung und in den noch jüngeren Formationen desgleichen, wenn— gleich ſtarke lokale Falten nicht ausge— ſchloſſen ſind. Außer ſolcher allgemeiner Fältel— ung zeigt uns die Beobachtung der Lagerungen im Innern, welche uns der Bergbau und andere Arbeiten ſo vielfach ermöglicht haben, faſt überall Zerreißungen, Verwerfungen und Ueberſchiebungen der Schichtenmaſſen. Wenn wir aus dieſer Thatſache weiter unabweislich folgern, daß ſolche Erſchein— ungen nur durch die großartigſten Seiten— bewegungen unſerer Erdrinde unter der ungeheueren Gewalt des Gewölbeſchubes in dem Erdgewölbe von 1718 Meilen Durch— meſſer entſtehen konnten, und wenn wir zu— geben müſſen, daß kein Grund vorliegt für die Annahme, dieſe Bewegungen hätten bereits ihr Ende gefunden, vielmehr die bekannten Hebungen und Senkungen der Küſten, Inſeln und Ländergebiete die dau— ernde Fortſetzung ſolcher Bewegungen be— weiſen, ſo muß man zugeben, daß auch plötzliche Schiebungen in der Erdrinde ent— ſtehen können und müſſen, die eben als Erdbeben fühlbar werden. Würde unſere ) Comptes rendus T. LXXXVII p. 81. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 213 Erdrinde aus weicheren Maſſen beſtehen, ſo würden die Schiebungen ſich ſtets in ſanfter unfühlbarer Weiſe vollziehen, da ſie aber zum guten Theile aus harten Felsarten beſteht, ſo wird dieſe Schiebung nach Ueber— ſchreitung der Elaſticitätsgrenze eine plötzliche Bewegung, die eben unſeren Erdbeben ent— ſpricht, hervorbringen. Für die vorerwähnte Theorie nehme ich den Vorzug in Anſpruch, daß ſie gänz— lich mit begreiflichen, einfachen, phyſikaliſchen Geſetzen arbeitet, während die anderen ſich auf unterſtellte phantaſtiſche Urſachen gründen. Wenn z. B. geſagt wird, unterirdiſche Exploſionen ſeien die Urſachen, ſo iſt es rein phantaſtiſch, Exploſionen unter ruhigen Landſtrichen zu ſupponiren, und ihre Vor— gänge ſind uns unbegreiflich. Wenn andere Forſcher Hohlräume der Erde einſtürzen laſſen, ſo iſt es unbegreiflich, wie ſo große Hohlräume entſtehen und derart einſtürzen ſollen, daß ganze Welttheile erſchüttert und ganze Landſtriche gehoben werden, anſtatt, wie es ſein müßte, ſtets entſprechende Ein— ſenkungen folgen zu laſſen. Ich weiſe noch beſonders darauf hin, daß bei den Erd— beben faſt immer ſeitliche Bewegungen wahrgenommen werden, welche nach den anderen Theorien ganz unbegreiflich ſind, während ſie nach meiner Erklärung unver— meidlich erſcheinen. Verfolgt man die angedeuteten Gedanken einfach und vorurtheilsfrei weiter, ſo wird man immer mehr Gründe finden, welche dieſelben im Einklang mit den Erſchein— ungen erſcheinen laſſen. Es möge mir nur noch erlaubt fein, auf die Thatſache hinzu— weiſen, daß in Ländern mit feſten, harten Felsmaſſen, wie der Karſt, Griechenland, Italien, die Bewegungen des Erdbebens viel verhängnißvoller ausfallen, als in ſolchen, welche vorherrſchend weichere Schie— 214 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. fermaſſen haben, z. B. Norddeutſchland. Ich deute an, daß die ſeitlichen Schiebungen gar nicht ſtattfinden können, ohne große Landſtriche in Bewegung zu ſetzen. Ich bemerke endlich, daß die Bewegung des Meeres an den Küſten ganz begreiflich wird, indem die Waſſermaſſen zuerſt durch ihr Beharrungsvermögen auf der geſchobenen Bodenſcholle zurückſchlagen und darauf nach— laufend die fatalen Verwüſtungen der Küſten ausführen.“ In einem Vortrage des Geheimen Bergrathes E. Duncker aus Halle wurden Einzelheiten mitgetheilt über die Zu— nahme der Wärme in einem nahe— zu vierhundert Fuß tiefen Schachte, den der Kaufmann Schergie zu Ja— kutzk im nördlichen Sibirien abteufen ließ, um möglichſt immerfließendes Waſſer zu bekommen. Nach den angebrachten Correk— turen war die Wärmezunahme, als man über die gefrorenen Schichten hinauskam, eine ſtetige und lieferte einen beſonders in die Augen ſpringenden Beweis für das Vorhandenſein einer von der Sonnenwirk— ung unabhängigen Wärme des Erdinnern. In der Sektion für Geographie und Ethnographie ſprach Prof. Dr. J. Rein aus Marburg über Berg- und Thal- winde und ihre Beziehung zur Vegetation vulcaniſcher Gebirge. An den Wänden der in der Sonne er— wärmten Bergſpitzen ſtreichen regelmäßig während des Tages Luftſtrömungen vom Thale zum Gipfel, die dem derſelben Richtung zugewandten Wanderer das Steigen erleichtern und ſich leicht durch die ſeitliche Nachſtrömung der weniger erwärmten Luftumgebung erklä— ren, welche die an den Bergflächen erwärm— te Luft verhindern, ſenkrecht aufzuſteigen, indem ſie ſie gleichſam gegen die Bergwand preſſen. Bei Vulcanen, die außer der in Japan beobachtet hat, und ſagte darüber Sonnenwärme häufig noch innere Wärme nach außen dringen laſſen, muß dieſer auf- ſteigende Thalwind, der ſchon in den Alpen kräftig genug iſt, um aus dem Thale be— ſtändig leichte Sämereien und Inſekten zum Gipfel zu führen, noch ſtärker werden. Prof. Rein erörterte nun die Wirkung dieſer Winde für die Beſiedlung neu auf— geſchichteter vulcaniſcher Kegel, wie er fie | ungefähr Folgendes: „Die Gebirgspflanzen Japans haben zum großen Theil, wie Radde es bei denen Armeniens nachgewieſen hat, ein ſehr biegſames Naturell und ſind nicht blos auf eine ſcharfbegrenzte Höhenzone angewieſen, wie unſere meiſten alpinen Gewächſe, ſon— dern beginnen in tieferen Schichten mit grö— ßeren Formen, bis ſie, mit dem Thalwind immer höher wandernd, endlich den arktiſch— alpinen Habitus annehmen. Andere von beſchränkterer Verbreitung geſellen ſich hier hinzu, doch gehört ihre Anſiedelung bereits einer ſpäteren Periode an, in welcher ſich beiſpielsweiſe die Gipfel des Hakuſan und Ontake ſchon lange, diejenigen des Aſama— vama und Fujinoyama noch nicht befinden. Verſetzen wir uns mit unſeren Gedanken in die Entſtehungszeit eines japaniſchen Bul- cans zurück und folgen wir ſeinem Aufbau und der ſich anſiedelnden Vegetation durch die verſchiedenen Stadien der Entwickelung 7 hindurch. Die erſte Eruptionsepoche ſei vorüber, und es habe ſich beiſpielsweiſe wie N beim Aſamayama, ein 1000 — 2000 Meter hoher flachrückiger Kegel mit breiter Baſis | und 10— 15 Neigung der Seitenwände 1 gebildet. Der mächtige Krater mit 700 — 1000 Meter Durchmeſſer ſei erkaltet, ſeine Wandung theilweiſe eingeſtürzt, Verwitter— ung und Eroſion hätten dem Ganzen ihre 1 tiefen Spuren eingeprägt. Die entſtandenen 1 1 —— —— —— —— ———(—(——— ——— — — —“ ẽ“— — — — — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 215 | Schluchten hinan trägt der Thalwind zu- nächſt den Samen. Immer höher rückt die Vegetation vor, immer beſchränkter wird die Zahl der Arten, die dieſem Marſch zu folgen vermag, die endlich in die alte Krater— wand überſchreitet und im Inneren des Keſſels ihre Wohnſtätte aufſchlägt, auf eine Gelegenheit wartend, noch höher zu ſteigen; und ſie folgt der nächſten Eruption, wenn auch Anfangs ſehr langſamen Schrittes. Aus der Mitte des alten Kraters oder ſeit— wärts von ihm hat der neue Ausbruch einen neuen Kegel aufgebaut, ſteilwandiger und ſpitzer als der erſte, dem oft noch ein dritter, ja vierter Aufſatz folgt. Das iſt der Ent— wickelungsgang vieler Vulcane, und wie der Teyde auf Teneriffa ſeinen Circus, der Veſuv die Somma als älteſten Kraterreſt aufzu— weiſen hat, ſo finden wir es auch bei vielen der mächtigſten Vuleane Aſiens und nament⸗ lich auch Japans. Als die Avantgarde aber unter den Gewächſen, die auf die an— gedeutete Weiſe in Japan an den höheren vul— caniſchen Gipfeln hinanſteigen, habe ich bei einer früheren Weyrichii Fr. Schmidt, Stellaria florida Fish. und Carex tristis M. B. bezeichnet, während das bald nachrückende Gros bes ſonders aus Alnus viridis DC., Pyrus sambucifolia Ch. A. Schl., Pinus parvi- flora S. & Z., Schizocodon soldanelloides 8. & Z., dem reizenden Alpenglöckchen Japans, ſchöner und größer als ſeine nahen Ver— wandten der europäiſchen Hochgebirge, Cor— nus canadensis L., beſteht. Zu dieſen und verſchiedenen andern Fremdlingen geſellen ſich aber in auffallender Weiſe Bürger un— ſerer deutſchen Wälder, wie Vaccinium Vitis Idaea L., Oxalis acetosella L. Ma- janthemum bifolium L., Trientalis euro- paea L. und ſteigen damit unter günſtigen Umſtänden die vulcaniſchen Gipfel Japans Gelegenheit Polygonum Botaniker namentlich bei den Flechten nach— | hinan, von 1000 bis zu 3000 Meter Höhe. Mit ſpäteren Anſiedlern, wie Cassiope, Phillodoce und andern Ericineen, mit Diaspensia, Saxifraga, aber auch mit Geum rotundifolium L., Anemone nareissiflora, bilden ſie die eigenthümlich gemiſchte Flora des japaniſchen Hochgebirges. Es iſt eine Flora, welche aus Oſtſibirien und Kamt⸗ ſchatka ſtammt, mit den kalten und heftigen Monſunen und Meeresſtrömungen des Win— ters ſüdwärts und durch Thalwinde bergan gelangte.“ In der zweiten allgemeinen Sitzung hielt Prof. de Bary aus Straßburg einen höchſt anziehenden Vortrag über Symbioſe, (das Zuſammenleben ungleichartiger Organ— ismen, die ſich gegenſeitig direkt nützen oder wenigſtens keinen Schaden zufügen), welche ſich alſo von den meiſten Fällen des thie— riſchen Paraſitismus weſentlich unterſcheidet. Ein ſolcher Fall iſt durch die Unterſuchungen des Profeſſor Schwendener und anderer gewieſen worden, die bis dahin für, durch ihre eigenartige Geſtalt wohl charakteriſirte, Pflanzen gehalten worden ſind, aber ſich lediglich als ein morphologiſches Produkt des Zuſammenlebens beſtimmter Algen— gruppen mit Pilzen herausgeſtellt haben. | Der Pilz ift dabei zwar der Quartiergeber, indem er die Alge umſpinnt, aber er lebt | zugleich von dem Gaſte, der ſich ſeinerſeits dabei ſehr wohl zu befinden ſcheint. Ein ähnliches, auf Gegenſeitigkeit gegründetes Verhältniß hat nun Prof. de Bary zwiſchen einem kleinen Farn (Azolla) und einer Alge (Anabaena) näher ſtudirt. Er ſagt darüber: „Azolla iſt der Name einer Gattung farnartiger Gewächſe, welche ungefähr aus— ſehen wie große beblätterte Mooſe und auf der Oberfläche von Gewäſſern ſchwimmend wachſen, ähnlich unſern Waſſerlinſen (Lem— naceen). Ein reich veräftelter, nach abwärts zahlreiche Wurzeln treibender Stengel iſt dicht mit zweizeilig geordneten Blättern be— ſetzt und mit dieſen horizontal auf die Waſſer— fläche gelegt. Jedes Blatt hat zwei Lappen, welche beide parallel der Waſſerfläche über— einander liegen, der eine, untere, unmittelbar auf dem Waſſer, der andere, obere, dicht über letzterem. Der Bau dieſer Pflanzen zeigt, mit ſelbſtverſtändlicher Abrechnung ſpecifiſcher Beſonderheiten, keine weſentlichen Differenzen von dem anderer Gewächſe ähnlicher Lebens— weiſe, bis auf eine ganz exceptionelle Eigen— heit. An der dem Waſſer zugekehrten, alſo untern Fläche jedes oberen Blattlappens ift ein enges Loch, welches in eine relativ ge— räumige, von der Blattfläche umſchloſſene, mit beſonderen Haaren bekleidete Höhlung führt. In dieſer nun lebt in jedem lebenden Blatte eine kleine blaugrüne Alge, aufgebaut aus einer einfachen roſenkranzförmigen Reihe länglich gerundeter, von Gallerte umgebener Zellen, wie ſolche charakteriſtiſch ſind für viele Angehörige der Noftocaceen -Familie, ſpeciell die in dieſer als Anabaena unter- ſchiedenen Formengruppe. Mit dem ſucceſſiven Abſterben der alten Blätter ſtirbt auch die Anabaena in denſelben, ſoweit die Unterſuch— ungen reichen. Andere Algen ſind in den Höhlungen nicht vorhanden. Wie und woher kommt nun der ſonderbare Gaſt in aus— nahmslos jedes Blatt hinein? Außen an den erwachſenen Theilen der Pflanze, auch an dem erwachſenen Blatte und ſelbſt am Eingang der Höhlung ſucht man ihn immer vergebens. Nur an einem Orte findet er ſich noch, nämlich dicht unter der Spitze jedes Zweiges, welche hier wie bei allen verwandten Pflanzen fortwährend in die Länge wächſt und ſuc— ceſſive neue Blätter und neue Zweige bildet. Jene äußerſte Spitze iſt hakenartig aufwärts gekrümmt, dicht unter ihr daher ein concaver Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Raum, welcher ſeitlich umgeben wird von den jungen Zweig- und Blattanfängen. Dieſer concave Raum wird nun gleichfalls von der Anabaena bewohnt. In ihm tritt dieſelbe unter die Spitze jedes der entſte— henden Zweiganfänge, um hier hinfort die bezeichnete Stellung einzunehmen. An ihm ſind die jungen Blätter angelegt, ihre oberen Lappen Anfangs flach, ſchon frühe aber an ihrer Unterfläche eine Erhebung zeigend in Form eines Ringwulſtes, welcher ſich dann raſch zur Bildung der Höhle mit ihrem Eingang vergrößert. Mit dem Beginn der Erhebung wird ein Theil der Alge in den umwölbten Raum eingeſchloſſen, um dann mit und in der Höhlung weiter zu wachſen. Die ſpätere Streckung des Stengels entfernt und iſolirt jede Blattportion der Anabaena weit von ihrer urſprünglichen Brutſtätte. Es wurde ſchon hervorgehoben, daß, wie Mettenius und Strasburger, dem wir die richtige Darſtellung dieſer Verhältniſſe ver- danken, fanden, kein Blatt ohne die Höhl— ung, keine Höhlung ohne die Anabaena iſt. Nicht minder bemerkenswerth iſt das Folgende: Man kennt von der Gattung Azolla vier zwar einander ſehr ähnliche, aber zumal durch die Fruchtbildung ſcharf unter— ſchiedene Species. Zwei derſelben ſind in Amerika und Auſtralien weit verbreitet; die dritte in Auſtralien, Aſien, Afrika, die vierte dem Nilgebiete, ſoweit bekannt, eigenthümlich. Sämmtliche Formen und ſämmtliche zur Unterſuchung gekommenen Exemplare derſelben zeigten das beſchriebene Verhalten zur Ana- baena bis zu dem Grade gleich, daß eine Unterſcheidung verſchiedener Formen der letzteren nach den einzelnen Azollen bis jetzt wenigſtens nicht möglich iſt. Es giebt eine Anzahl Fälle, wo nahe Verwandte der Azolla-Anabaena, gewöhn— lich als „Noſtoc“ beſchrieben, von Land— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. pflanzen beherbergt werden, ebenfalls in beſtimmten dazu eingerichteten Hohlräumen; immer aber mit weniger Regelmäßigkeit wie in dem beſchriebenen Beiſpiele — ſie können wenigſtens fehlen und erſt in vorgeſchrittenen Entwickelungsſtadien von außen eintreten. Es ſei von dieſen Erſcheinungen hier nur das Beiſpiel der Cycadeenwurzeln er— wähnt. Die Keimpflanze dieſer langſam wachſenden Pflanzen treibt eine dicke, rüben— ähnliche Pfahlwurzel, welche ſich wie andere Wurzeln in und an dem Boden verzweigt. An dem Grunde derſelben treten ſpäter meiſtens — ob immer, weiß ich nicht — ein oder zwei Paar von Wurzeläſten auf, welche ſich ſenkrecht erheben und 1 — 2 mal gabelig veräſtelt ſind, mit kolbig anſchwel— lenden Enden; ebenſolche gabelige Zweige entſpringen dann ſpäter, oft in dichten Klum— pen bei einander, an Aeſten der Pfahlwurzel, welche an der Bodenoberfläche verbreitet ſind. In dieſe Gabelzweige dringt nun häufig, nicht immer, zwiſchen die Zellen ein Noſtoc ein und hiermit beginnt eine charakteriſtiſche Strukturveränderung des Wurzelzweiges. Innerhalb ſeiner Rinde wächſt eine beſtimmte Parenchymſchicht, welche an den nicht von Noſtoc beſuchten Wurzeln dicht, und von den angrenzenden nicht verſchieden iſt, heran, gleichſam zu einem Gewölbe, das von ſchmalen Balken getragen, zwiſchen dieſen mit weiten, überall commu— nicirenden Zwiſchenräumen verſehen iſt. Die Balken ſind die ſtark einſeitig geſtreckten Zellen der Parenchymſchicht. Die Zwiſchen— räume werden ausgefüllt durch die maſſen— haft wachſende Alge.“ Auch dieſe Algen können, ebenſowohl wie die im Flechtenkörper wohnenden, für ſich exiſtiren, es ſind keine Paraſiten im eigentlichen Sinne. Freilich iſt es ſehr frag— | lich, ob fie dem Wirth irgend etwas nützen, was bei den Flechten zweifellos der Fall iſt. Denn von den in letzteren zuſammen— lebenden Organismen kann wohl die Alge ohne den Pilz, aber dieſer nicht ohne jene gedeihen, und am wohlſten ſcheinen ſich beide ſtets beim gemeinſamen Haushalt zu be— finden. Es iſt alſo in ihnen ein hoher Grad gegenſeitiger Anpaſſung vorhanden, und dieſes Princip allein ſcheint auch über dieſe eigenthümlichen Vorkommniſſe in der Natur einiges Licht geben zu können. Prof. de Bary bemerkte über dieſen Punkt: „Wir haben guten Grund, mit Darwin zu ſagen, ſucceſſive Anpaſſungen und corre— lative Formänderungen, Transformationen der Organismen, finden ſtatt und müſſen ſtattfinden in Folge der Einwirkungen der Außenwelt auf dieſelben einerſeits und ihrer Transformationsfähigkeit andererſeits. Wir erklären aus dem Zuſammenwirken dieſer beiden Hauptfaktoren die derzeit vorhande— nen Einrichtungen und Formen. Die meiſten derſelben finden ſich fertig und erblich fixirt vor; die Transformationen, aus welchen ſie hervorgegangen ſind, voll— ziehen ſich nicht vor unſern Augen, und wir ſind nicht im Stande, ſie willkührlich ein— treten und ausbleiben zu laſſen. Ihre Ent— ſtehung iſt in eine meiſt weit abliegende Vor— zeit zu verlegen, welche ſich relativ mehr oder minder ſicher beſtimmen läßt. — Für die Azollen z. B. muß die Entſtehung der Anabaena- bewohnten Blatthöhlung vor der Differencirung und örtlichen Trennung der vier heutigen Species ſtattgefunden haben. Ueber den Gang der Entſtehung der heu— tigen Zuſtände erhalten wir eine Vorſtell— ung theils durch die Erfahrungen über Variabilität, Transformationsfähigkeit der Arten überhaupt, durch die Reſultate ab- ſichtlicher Züchtungsproceduren, theils durch die Vergleichung neben einander vorkom— e 217 | — 218 mender, erblich fixirter Formen im fertigen und im embryonalen Eutwickelungszuſtande. Unter den vielen Faktoren, in welche die Einwirkungen der Außenwelt zerlegt werden können, ſind die Einwirkungen un— gleichnamiger Organismen auf ein- ander ein beſonders hervorragender und bei gegenſeitiger Anpaſſung in beſonders hohem Maße Form und Gewohnheit beſtim— mend. Die Geſtaltung und Einrichtung bienen— beſuchter Blumen und der Körperbau ihrer Beſucher, das Verhältniß der Azollen und ihrer Anabaena und tauſend ähnliche Ver— hältniſſe werden aus gegenſeitiger Anpaſſung, und nur aus dieſer verſtändlich. Auch hier handelt es ſich vielfach um derzeit fertige, erblich fixirte Zuſtände. Es iſt nun aber von vornherein wahrſcheinlich, daß je inniger und unmittelbarer die geſtaltbeſtimmenden Wechſelbeziehungen zwiſchen ungleichnamigen Organismen ſind, deſto eher das Gelingen abſichtlicher Transformation durch Abänder— ung jener Beziehungen zu erwarten ſteht, und viele Fälle von geſtaltbeſtimmender hafter Transformation anders als in con— Symbioſe beſtätigen dieſe Erwartung. Es würde ſchwerlich viel Zeit erfordern, die Blatthöhle in Azollen, welche ohne die Anabaena, man muß ſagen, keinen Sinn hätte, durch Entfernung der letzteren ver— ſchwinden zu machen; das hat aber aller— dings ſeine bisher unüberwundene Schwierig— keit in der Unmöglichkeit, den kleinen, feſt anhaftenden Gaſt von den zarten Zweigenden ohne Verletzung dieſer wegzunehmen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. (Abies pectinata) ein, und der von ihm occupirte Zweig, anftatt fi) wagerecht zu ſtellen und zweiſeitwendige, immergrüne Blät— ter und Aeſte zu bilden, wie der intakte Tannenzweig, erhebt ſich aufrecht, veräſtelt ſich wirtelig, wirft ſein Laub alljährlich ab und erneut es im nächſten Frühling, fo daß er dem alten Aſte aufſitzt in der Form eines kleinen, nicht immergrünen Tannen— bäumchens, das zehn und mehr Jahre alt werden kann. Dieſe Geſtaltveränderungen werden hier unmittelbar hervorgebracht durch den Para— ſiten. Sie bleiben aus, wenn man dieſen fernhält. Sie laſſen ſich alſo abſichtlich hervorrufen und erweitern. Es mag jedoch von dieſen Beiſpielen lieber abgeſehen werden, weil ſie an's patho— logiſche Gebiet grenzen, weil man ſie mit Gallen- und Geſchwulſtbildungen zuſammen— zuſtellen einigen Grund hat, und weil hier— durch ihre Anſchaulichkeit abgeſchwächt wird — mehr freilich nicht, denn wo liegt die Grenze zwiſchen krankhafter und nicht krank— ventioneller Unterſcheidung? Wir ſehen aber von ihnen ab, weil wir ſie nicht nöthig haben. Wenn in die gegabelten Cycadeenwurzeln der Noſtoc eindringt, ſo ändert ſich, wie vorhin angedeutet wurde, der Bau derſelben ganz weſentlich. In dem dichten Parenchym der Wurzel entſtehen jene weiten, den Gaſt auf— nehmenden Räume; eigene, ohne den Eintritt Es fehlt aber nicht an beſſer zugänglichen Fällen. Schon viele ſtrenge Paraſiten wirken auf ihren Wirth geſtaltungsbeſtimmend ein. Die gemeine Wolfsmilch wird, in Folge des Eindringens eines paraſitiſchen Pilzes, in der Geſtaltung ihrer Sommertriebe völlig verändert. Ein ähnlicher Schmarotzerpilz dringt in die Zweigknospen der Tanne des Gaſtes ausbleibende Wachsthumsrichtun— gen in dem aufnehmenden Gewebe beſtimmen ihre Bildung. Aehnliches, in noch viel auffallenderem Maße, ſahen wir bei den Flechten bildenden Algen und Pilzen. Von den letzteren wurde bereits das Charakteriſtiſche hervorgehoben. Die Alge ſelbſt wird von dem Augenblicke des Zutritts ihres Ge— Die Richtungen des Wachsthums, von welchen die Geſtalt abhängt, gehen andere Wege als zuvor. Ein flacher oder kugeli— ger Gallertſtock, welchen z. B. die Noſtoc⸗ algen der Gallertflechten bilden, wächſt zur Form regelmäßig verzweigter, ſelbſt ſtrauch— artiger Körper heran. Die runden oder länglichen, chlorophyllhaltigen Zellen der Pleurococcus- und Stichococcusformen än— dern, vom Flechtenpilze erfaßt, ſofort ihre Geſtalt; die Richtungsebenen ihrer Theilung können andere werden, und zwar verſchie— dene, je nachdem verſchiedene Flechtenpilze in Mitwirkung kommen. Von pathologi— ſchen Veränderungen kann hier und bei dem Cycadeenfalle keine Rede ſein; nicht nur weil es an einer Convention fehlt über das was krank und geſund zu nennen iſt; ſon— dern weil von einer Abminderung der — um kurz zu reden — Lebensenergie, von einer Beſchleunigung des ſonſt regulären Abfter- bens und ähnlichen Kriterien krankhafter Zuſtände nichts vorhanden iſt. Syntheſen haben im Gegentheil gezeigt, daß beſtimmte Algenzellen mit ihrem Ein— tritt in den Flechtenverband um ein viel— faches größer als vorher, chlorophyllreicher, in jedem Sinne kräftiger werden als zu— vor; und daß dieſes durch die ganze Lebens— zeit eines jedenfalls oft ſehr langlebigen, d. h. Jahrzehnte überdauernden Flechten conſortiums ſich gleichbleibt, iſt durch die längſt bekannten Thatſachen über den Flech— tenaufbau außer allem Zweifel. Hier und in manchen anderen Fällen, mit welchen ich die Zahl der Beiſpiele hätte vermehren können, ſieht man alſo durch die nahen Wechſelbeziehungen ungleichnamiger Sym— bionten Geſtaltungsänderungen direkt vor ſich gehen, welche keinerlei pathologiſche Be— deutung haben, und es ſteht in der Will— kühr des Experimentators, fie durch Trenn— Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. Stahl's Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 25 ung und Vereinigung der Symbionten zu verhindern oder hervorzurufen. Weil aber die Erſcheinungen, welche wir als Symbioſe zuſammengefaßt haben, nur Specialfälle derſelben in der großen Geſammtreihe der Wechſelbeziehungen von Organismen ſind, ſo liefern dieſelben einen Beitrag zur Beur⸗ theilung der letzteren überhaupt. Derſelbe iſt an und für ſich unbedeutend, es mag auch Manchem überflüſſig erſcheinen, auf denſelben beſonders aufmerkſam zu machen. Er dürfte aber darum nicht ganz ohne Werth ſein, weil er ein experimentell zu— gängliches Gebiet betrifft. Es iſt der Descendenzlehre oft vorge— worfen worden, daß es ihr an ſicherer er- perimenteller Grundlage fehle; nicht mit Recht, denn in den abſichtlichen Züchtungen von Thieren und Pflanzen liegt, wie oft genug betont worden iſt, ein ihre Haupt— ſätze begründender großartiger Fundamental— verſuch vor, gleichviel welche Bedeutung man der „uatürlichen Züchtung“ im Ein- zelnen beilegen mag für die ſucceſſive Species— Ausbildung. Ein zweiter experimenteller Angriffspunkt wird jedoch immer erwünſcht ſein, wenn er auch nur für die Aufklärung eines Theiles der Erſcheinungen benutzt werden kann. Ich wollte darum hier auf denſelben aufmerkſam machen. Was ich vorbrachte, enthielt keine einzige neue Be— obachtung, es ſind lauter bekannte Dinge. Die Belege für die Fundamentalſätze der Lehre, von der die Rede war, begegnen uns in der That, nachdem das Ei des Columbus einmal aufrecht daſteht, allerorten. Man braucht ſich nur aufmerkſam umzuſehen.“ In der Sektion für Botanik und Pflanzenphyſiologie machte Dr. Drude aus Göttingen Mittheilungen über eine eigen— thümliche Form von Dimorphismus und Befruchtung der Blüthen von Cardamine chenopodifolia St. Hilaire. Diefelbe gelangte durch die Sammlung von Lorentz nach Göttingen, woſelbſt fie aus keimfähigem Samen erzogen werden konnte. Die Hauptachſe der einjährigen Pflanze bleibt verkürzt und bildet eine armblüthige deck— blattloſe Blüthentraube aus, deren Blüthen— ſtiele ſich ſofort bei ihrer Anlage in die Erde hinabſenken, um unterirdiſch ſtecknadel— knopfgroße, ſich kaum deutlich vom Blüthen— ſtiel abhebende Blüthen zu entwickeln; dieſelben entwickeln nur vier Kelchblätter, vier ihnen opponirte Staubgefäße und einen normalen, aber nur zwei Samenknospen enthaltenden Fruchtknoten; die Antheren ragen kaum aus den eng anliegenden Kelchblättern hervor und ſchließen ſich daher dicht an die Außen— wand des Fruchtknotens an, dicht unter den dicken Stigmen; ſie entwickeln wenige große Pollenkörner, welche zur Blüthezeit die nicht aufſpringende Antherenwand mit ihren kräf— tigen Schläuchen durchbrechen und ſo, durch Fortwachſen der letzteren bis zum Stigma, eine Selbſtbefruchtung derſelben Blüthe veran— laſſen; die Pollenkörner ſelbſt bleiben in den Antheren liegen und müſſen zur Ernährung der Schläuche auf dem übrigens nicht ſehr langen Wege derſelben bis zum Stigma dienen; ſie beſitzen eine nicht klebrige Exine. Es reifen dann in kurzer Zeit zwei Samen in der, einer Draba ſehr ähnlichen, Schötchen— frucht. Gleichzeitig entwickeln ſich in den Achſeln der wurzelſtändigen Blätter dicht unter den ſich in die Erde ſenkenden Blüthen— ſtielen lange beblätterte Nebenachſen, welche eine normale Cruciferen-Blüthentraube her— vorbringen, in deren kleinen Blüthen die Pollenkörner eine klebrige Exine beſitzen; dieſelben entwickeln die normalen langen und vielſamigen Cardamine-Schoten. — Un— bekannt iſt einſtweilen der phyſiologiſche Grund dieſes Dimorphismus; jedenfalls Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. liefern beide Arten von Früchten keimfähige Samen, welche etwas zeitlich verſchieden keimen und ſich weiter entwickeln. Inter— eſſant iſt derſelbe durch die abweichende unterirdiſche Befruchtungsweiſe und durch den direkten Uebergang von Schoten zu Schötchen an derſelben Pflanze. Die ge— nannten Thatſachen ſind durch Geh. Re— gierungsrath Griſebach, Prof. Hiero— nymus aus Cordoba und den Vortragen— den im vergangenen Sommer feſtgeſtellt. In der zweiten allgemeinen Sitzung hielt Profeſſor Dr. Chr. Aeby aus Bern einen längeren Vortrag über das Verhält— niß der Mikrocephalie zum Atavismus, welcher in einem beſonderen Abdrucke vor— liegt, und im Weſentlichen dem Standpunkt entſpricht, der in dem Referate (Band II. S. 65 des Kosmos) feſtgehalten wurde. Wie dort des Weiteren erwähnt, glaubte Prof. Carl Vogt die Mikrocephalie als einen partiellen Rückſchlag des Gehirns erklären zu dürfen. Prof. Aeby vergleicht nun das Verhalten, wie es ſich bei den Mikrocephalen findet, mit zweifelloſen Fällen von Rückſchlag und ſagt: „Wir wollen nur ſolche Fälle namhaft machen, bei denen die Annahme eines Rückſchlages wenigſtens einigermaßen begründet erſcheint und ein Mißbrauch nicht gar zu offenkundig vorliegt. In dieſer Hinſicht verdient vielleicht keine einzige Erſcheinung ſo viel Vertrauen, wie die ſchon einmal erwähnte dreizehige Hip— parionform bei unſerem jetzigen Pferde. Herr Vogt beruft ſich denn auch beſonders auf ſie als auf eine derjenigen des mikro— cephalen Gehirns durchaus ebenbürtige Hemm— ungsbildung. Nun, daß man ein Gehirn, das in ſeiner Ausbildung um die Hälfte oder noch mehr hinter dem normalen Ziele zurückbleibt, ein gehemmtes nennt, iſt wohl einleuchtend genug, aber daß man dies auch einem Fuße gegenüber thun will, der ftatt nur einer Zehe deren drei entwickelt, das dürfte denn doch der deutſchen Sprache etwas viel zugemuthet ſein. Iſt das wirklich eine Hemmung, wenn das normale Ziel nicht allein erreicht, ſondern ſogar überſchritten wird? Wollen wir von einer Hemmung ſprechen, ſo geſchieht eine ſolche ſicherlich nicht beim Hipparionfuße, der ſeine ganze anfäng— liche Anlage getreulich wahrt, ſondern bei dem gewöhnlichen Pferdefuße, der von ſeiner im Foetus vorhandenen dreifachen Zehen— anlage nur die mittlere ausbildet, die beiden ſeitlichen dagegen verkümmern und ſchließlich gänzlich verſchwinden läßt. Mikro— cephalengehirn und Hipparionfuß ſind alſo nicht nur keine analogen Bildungen, ſondern das gerade Gegentheil von ſolchen. Dort wird ein Organ in ſeiner Entwickelung auf— gehalten und gelähmt, hier umgekehrt zu höherer Leiſtung angeſpornt. Dort ſinkt ein Körpertheil, der in der Differencirung einer niedrigeren Form zum Menſchen die Führerſchaft übernommen, wieder ſo tief, daß der betreffende Organismus nahezu unfähig wird, ſeine ſpecifiſchen Aufgaben zu erfüllen, hier drängt ſich ein Körpertheil wieder hervor, der ſeit langem auf jegliche Bedeutung Verzicht geleiſtet und durch ſeine Anweſenheit ebenſowenig zu nützen, als durch ſeine Abweſenheit zu ſchaden vermag. Sind das wirklich analoge Vorgänge? Ich glaube mir die Antwort erſparen zu dürfen. Berathen wir noch andere Fälle: Beim Menſchen das Os centrale in der Handwurzel, die Knochen— brücke über dem Nervus medianus unter Bildung eines for. supracondyloideum, Seſambeine an ungewöhnlichen Orten, über— zählige Muskeln aller Art, überzählige Mahlzähne und Bruſtwarzen, ſtark vor— ſpringende Eckzähne, kräftige Haarbüſchel Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | 221 wenig behaarten Stellen; bei Thieren die Eckzähne von Stuten, die Hörner bei ſonſt hornloſen Rinder- und Schafraſſen. Es iſt keinen Augenblick zu verkennen, das hier überall ein gemeinſames Princip waltet, nämlich wie beim Hipparionfuße das Wieder— auftreten eines gänzlich verſchwundenen oder wenigſtens die beſſere Ausbildung eines für gewöhnlich mehr oder weniger verkümmerten Organes. Nirgends handelt es ſich um eine Rück⸗ oder Hemmungsbildung, ſondern überall um eine Fortbildung. Trotz genauer Durch— ſicht der vorhandenen Literatur iſt es mir für Rückſchläge auf alte Zeiten, und dieſe kommen für unſere Zwecke ja allein in Betracht, nicht gelungen, einen einzigen gegen— theiligen Fall ausfindig zu machen. Wollen wir alſo wirklich die Analogie als Richterin anerkennen, jo kann fie die Mikrocephalie als ataviſtiſche Form nicht nur nicht be— günſtigen, ſie muß ſie vielmehr auf das Strengſte verurtheilen. Auf das angeblich ataviſtiſche Stehenbleiben auf fötaler Stufe brauchen wir nicht zurückzukommen, da ſolches auf die Mikrocephalen ohnehin keine An— wendung findet. Ich will aber doch nicht unterlaſſen, hervorzuheben, wie ſelbſt ein ſolches Stehenbleiben nicht nothwendiger Weiſe Hemmung iſt. Wenn beiſpielsweiſe die Müller'ſchen Gänge, ſtatt mit einander zu einem unpaaren Organe zu verſchmelzen, ihre Selbſtſtändigkeit wahren und zu zwei beſonderen, vollkommen leiſtungsfähigen Ge— bilden nuswachſen, jo iſt das ſicherlich ebenſo der Ausdruck einer geſteigerten individuellen Lebensthätigkeit, als wenn die ſeitlichen Pferdezehen, ſtatt mit der Mittelzehe zu verſchmelzen, ihre Unabhängigkeit behaupten.“ Hierbei möchte nun Referent darauf hinweiſen, daß man, das Raiſonnement des Atavismus einmal zugegeben, ſeines Er— an den Schuktern und an anderen ſonſt achtens logiſch auch diejenigen Fälle nicht Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 1 222 ausſchließen kann, welche ein Stehenbleiben irgend eines Körpertheils auf wirklich un— ausgebildeterer Stufe betreffen. Nur kann man billiger Weiſe, wie ſchon an oben an— geführter Stelle bemerkt wurde, ſolchen Fällen keine über die Thatſachen hinaus— ungsgange. Es iſt ein einfaches Stehen— bleiben auf einer Stufe deſſelben, und erſt, wenn man dieſem ſelber, der Ontogeneſe, eine phylogenetiſche Bedeutung beigelegt hat, wenn alſo nichts mehr zu beweiſen iſt, mag auch die Hemmungsbildung ein nebenſächliches Intereſſe beanſpruchen. Erſt die überzählige Bildung gewinnt, wie Prof. Aeby ſehr treffend hervorgehoben hat, eine weiter— gehende Beweiskraft, und von einer ſolchen iſt bei der Mikrocephalie nicht die Rede. Sehr beherzigenswerth waren jedenfalls die Schlußworte des Redners: „Innere und äußere Gründe haben uns dahin geführt, in der Mikrocephalie nicht eine Aeußerung des Atavismus, ſondern eine Folge krankhafter Entartung zu ſehen. Die Mikrocephalen weiſen ſomit auch nicht auf den Meilenſtein zurück, an dem der Menſch in grauer Vorzeit vorbeigegangen. Die Kluft zwiſchen dieſem und dem Thiere vermag durch ſie weder überbrückt, noch auch nur verengt zu werden. Dieſe beſteht nach wie vor, und wer ſich nicht dem Beweiſe logiſcher Schlußfolgerung, ſondern nur der der Hand ſein Haupt noch getroſt zur Ruhe legen und ſich durch die Hoffnung einwiegen laſſen, daß es vielleicht nicht ſo beizubringen. Der wiſſenſchaftliche Forſcher beſitzt dieſe Freiheit nicht. gehende Bedeutung beilegen, vor Allem keine gleiche oder gar höhere Beweiskraft zuſchreiben, als dem normalen Entwidel- | Macht wirklicher Thatſachen für die Herkunft des Menſchen beugen will, der mag vor bald gelingen werde, derartige Thatſachen Ihm bleibt ſchon jetzt keine andere Wahl, als entweder auf die letzten Conſequenzen logiſchen Denkens zu verzichten oder aber die Continuität der Menſchen- und Thierwelt anzunehmen und damit auch anzuerkennen, daß zu irgend eiuer Zeit und an irgend welchem Orte Zwiſchenformen beſtanden haben müſſen. Sollte es ihm aber verſagt ſein, dieſe ſeine Ueberzeugung frei und unumwunden zu be— kennen? Sollte ihm der Zwang auferlegt werden, damit als mit dem Myſterium einer neuen Prieſterklaſſe hintanzuhalten, bis die Pforte des Tempels durch Thatſachen geſprengt worden? Nimmermehr! Die Wiſſenſchaft, ſoll ſie anders dieſen Namen ver— dienen, duldet keinen polizeilichen Zwang. Was geforſcht, was gedacht werden darf, muß auch gelehrt werden dürfen. Erſt draußen im Kampfe ums Daſein bewährt ſich des Gedankens innerer Werth. Wenn uns etwas mit dieſem herben, unerbittlichen Kampfe verſöhnen kann, ſo iſt es die Ueber— zeugung, daß jeweilen die beſten Arten des Sieges theilhaftig werden. Sollte nicht die Zuverſicht noch weitaus tröſtlicher ſein, daß auch im Reiche der Geiſter das Gute, das Wahre triumphiren müſſe? Für den ethiſchen Menſchen iſt ja der Kampf ums— Daſein nicht mehr ein Kampf um materielle Güter und äußere Vortheile, ſondern ein Kampf um innere Läuterung, ein Kampf um Erkenntniß und Wahrheit. In dieſem Kampfe iſt ein Jeder willkommen. Und wer, dem die Waffe gegeben, möchte ſäumen, daran Theil zu nehmen, kommen doch die Früchte des Sieges allen in gleichem Maße zu Gute, den Beſiegten wie den Siegern!“ In der Sektion für Anthropologie und prähiſtoriſche Forſchung legte Profeſſor Schaaffhauſen aus Bonn Schädel aus den fränkiſchen Reihengräbern von Erben- heim vor, die Herr v. Cohauſen aus f Wiesbaden hergeſendet hat. Auffallend ift die an zwei Schädeln vorkommende, von der gewöhnlichen Reihengräberform der übrigen abweichende Bildung, deren Geſicht, zumal die Naſenbildung, einen negerartigen Typus zeigt. Auch in Jena beſinden ſich ſolche Germanenſchädel von ſehr roher Bildung. Hieran knüpft Herr Prof. Schaaffhauſen niederen Racen, und bemerkt, „daß eine Zuſammenſtellung der zahlreichen einzelnen Beobachtungen ein für die allmälige Fortbild— ung der Menſchengeſtalt überraſchendes Be— kannt ſei, zum Theil nicht gewürdigt werde. Entwickelungsgeſchichte eines jeden menſchlichen darſtellen zu können. Zuerſt habe Sömme— ring die niedere Bildung des Negerſchädels geſchildert. Den Merkmalen niederer Schädel— bildung, die zuerſt auffielen, der engen und flachen Stirne, dem ſtarken Prognathismus, wir noch hinzufügen: die kielförmige Er— hebung des Scheitels, die hochſtehenden und vorſpringenden Scheitelhöcker, die kleinen und flachgeſtellten Naſenbeine, das kurze und weite Naſenloch, die fehlende exista nasalis, die einfachen Schädelnähte, die kurze Schläfen— ſchuppe mit gerade laufender Schläfenſchuppen— naht, die kurze Hinterhauptſchuppe, die großen letzten Backenzähne, die doppelwurzeligen Prämolaren, die Verbindung der Schläfen— ſchuppe mit dem Stirubeiu. Faſt alle dieſe Merkmale ſind pithekoid. Daß die niedere Bildung des Gehirns in einer geringeren Falt— ung der Hirnrinde ihren Ausdruck findet, ging aus den Unterſuchungen von Tiedemann, R. Wagner, Gratiolet u. A. hervor, und das Hirn der von Cu vier zergliederten sogenannten Hottentotten-Venus iſt ein be— weismaterial liefere, das zum Theil nicht ge- Wir würden mit der Zeit dahin gelangen, die den vorſpringenden Muskelleiſten können Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 223 rühmtes Beiſpiel der Annäherung einer menſchlichen Hirnbildung an die der Anthro- poiden. Der kinnloſe Unterkiefer von la Naulette mit ſeiner coloſſalen Alveole für den Weisheitszahn hat wie ähnliche von mir beſchriebene menſchliche Unterkiefer aus einer Spalte von Grevenbrück einen unver— kennbaren primitiven Typus; dieſer läßt einen Vortrag über die Anatomie der ſich auch in der Zahnbildung niederer Racen nachweiſen, in dem großen mehrwurzeligen Weisheitszahn der Auſtralier, in der Lücke neben dem Eckzahn im Negergebiß, in den zweiwurzeligen Prämolaren des Oberkiefers, die ich an alten Schädeln und an denen roher Racen nachgewieſen habe. Merkwürdig iſt, daß Veſal noch zweiwurzelige Prämo— laren im Oberkiefer des Menſchen abbildet! Organes, eines jeden menſchlichen Knochens Lucae beobachtete zuerſt, daß am Humerus des Negers der Kopf mehr nach hinten ge— ſtellt iſt; das Loch am Gelenkende deſſelben iſt bei niederen Racen wie bei prähiſtori— ſchen Reſten in Frankreich und von mir in Weſtfalen beobachtet worden und iſt ein echt anthropoides Merkmal. Die größere Länge des Vorderarms beim Neger wurde zuerſt von White beobachtet, dann von Burmeiſter beſtätigt und für den Radius von Broca, Hamy und mir ſelbſt feſt— geſtellt. Auch der Neanderthaler Menſch hat dieſe Eigenthümlichkeit, ſein Humerus aber iſt nicht durchbohrt. Schon die alten Aegypter hatten eine ſchwarze Elle, die um ¼ länger war als die andern, man findet Radii beim Neger, die gerade um ½ länger ſind, als die des Europäers, bei andern muß die längere Hand noch hinzugerechnet werden. Die den Affen angenäherte Bildung des Beckens niederer Racen hat zuerſt Vrolik gezeigt. Die geringere Krümmung der Wirbel— ſäule bei denſelben iſt ebenfalls pithekoid, desgleichen eine Vermehrung der echten Rippen— paare. Der Gorilla hat 13 echte Rippen, 224 dieſe Zahl hat Blumenbach bei Boto— kuden beobachtet. Die bibliſche Erzählung, daß Eva aus der Rippe des Adam ge— ſchaffen ſei, ſteht nach Anſicht des Redners mit dieſer Thatſache vielleicht in Verbindung. Ein langer Rumpf und kurze Beine, wie das Kind ſie hat, wird bei niederen Racen beobachtet. Ein alter Typus der griechiſchen Kunſt, die Aegineten, zeigen noch dieſes urſprünglichere Verhältniß. An der Hand iſt der kleinere Daumen und die fehlende Daumenfalte niederer Racen pithekoid, die Zwiſchenhaut der Finger, welche der Gorilla hat, findet ſich bei den Aſchanteenegern, die van der Hoeven abgebildet hat. Am Femur iſt die ſtärkere Krümmung des Knochens und die ſchwächer entwickelte Criſta, wie ſie der Neanderthaler zeigt, der Affenbildung entſprechend, die von den Seiten zuſammen— gedrückte platyknemiſche Tibia iſt zwar nicht die des Affen, denn dieſe iſt mehr rundlich, aber es fehlt dieſer auch die hintere platte Fläche, an der die Wadenmuskeln liegen, dieſe ſind bei den niedern Racen, wie bei den Affen wenig entwickelt. Am Fuß iſt die vorſpringende Ferſe, der Plattfuß und die mehr abgeſtellte Zehe eine primitive Bildung. Es erinnert an den Affen, wenn Wilde, wie es viele thun, ſich des Fußes zum Greifen bedienen. An dem Höhlenmenſchen von Steeten fand der Vortragende, daß die Gelenkfläche des Metatarſus der großen Zehe gegen das os euneiforme ausgehöhlt war, wie beim Affen, um eine freiere Be wegung zu geſtatten. Die Aehnlichkeit des Kehlkopfs vom Neger mit dem des Affen hat Gibb gezeigt. Die Uebereinſtimmung des dicken ſchwarzen Haares mit rundem Quer— ſchnitt bei niederen Racen und den Anthro— poiden hat, wie ſchon Pruner-Bey, kürz— lich wieder Topinard hervorgehoben. Kleinere Mittheilungen und Journalſchan. bei niederen Racen beobachteten Merkmale primitiver Bildung auch an den prä— hiſtoriſchen Reſten des Menſchen nachgewieſen werden konnten. Wenn man den Fortſchritt der menſchlichen Cultur anerkennt, muß man auch eine Vervollkommnung der menſchlichen Organiſation vorausſetzen, denn die Leiſtung kann nicht ſchlechter oder beſſer ſein, als das Organ, welches ſie hervorbringt. Die ana— tomiſchen Beweiſe ſind für die Beziehungen des Menſchen zum Thier die wichtigſten und ſicherſten, ſie verdienen eine größere Beachtung, als ihnen bisher zu Theil ge— worden iſt.“ An dieſen Vortrag knüpfte ſich eine längere Debatte, an welcher ſich die Herren Dr. Rein, Dr. Kapp und Profeſſor Hoffmann betheiligten, und als deren ſchließliches Reſultat Herr Bergrath Dücker die Befeſtigung der Anſicht einer Verwandt— ſchaft der menſchlichen Race mit den Anthro— poiden bezeichnete. Das Elasmotherium. Von den ausgeſtorbenen Säugethieren der Diluvialzeit haben nur wenige ſo ge— ringe Spuren zurückgelaſſen, wie das Elas— motherium. Im Anfange unſeres Jahr- hunderts fand Fiſcher von Waldheim bei der Unterſuchung der paläontologiſchen Sammlungen der Univerſität Moskau den halben Unterkiefer eines bisher unbekannten Thieres, dem er einen Platz zwiſchen Rhi— noceros und Elephant anweiſen zu müſſen glaubte, und dem er in Bezug auf das eigenthümliche Ausſehen der Zähne, die aus der Länge nach gefaltenen Schmelz-Platten zu beſtehen ſchienen, den Namen Elasmo— therium (von EAeouıe, die getriebene Platte) Es iſt ungemein wichtig, daß viele dieſer beilegte. Später wurden zerſtreute Zähne in verſchiedenen Provinzen Rußlands auf- gefunden, und vor wenigen Jahren ein voll— ſtändiger Unterkiefer zu Petrowski. Ein Bruchſtück des hintern Schädeltheiles, welches im letzten Jahrhundert am Rheine entdeckt worden war und ſich in dem Muſeum des Pariſer Pflanzengartens befand, iſt kürz— lich gleichfalls als dieſem Thiere angehörig erkannt worden. Dieſe Ueberreſte waren allzuſammen zu ſpärlich, um dem Zoologen einen befriedigenden Anhalt für die Ent- räthſelung des allgemeinen Charakters dieſes Thieres zu geben. Während Geſtalt und Größe der Kinnlade eine ſtarke Aehnlichkeit mit derjenigen des Rhinoceros darbot, wurde der engere Anſchluß wieder durch die eigen— thümliche Bildung der Zähne verboten. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. dieſes Thieres in Ungarn, auf Sicilien und So intereſſant die in Bezug auf dieſen Urbewohner Europas auftauchenden Fragen auch waren, ſie blieben bisher unbeantwortet, bis im Beginne dieſes Jahres ein glück— licher Fund die Zoologen in den Beſitz eines wohlerhaltenen Schädels des Elasmo— theriums brachte. Er wurde von einigen Fiſchern im Netze aus der Wolga gezogen und zwar in der Nähe ihrer Mündung, in einem Diſtrikte, der bereits manche werth— vollen Ueberreſte von der ausgeſtorbenen Fauna Rußlands geliefert hat. Die Peters— burger Akademie der Wiſſenſchaften war der glückliche Empfänger des Schatzes, und einem ihrer Mitglieder, Dr. Alexander Brandt, verdankt die wiſſenſchaftliche Welt die erſte eingehende Beſchreibung des Schä— dels und eine Ueberſicht der Schlüſſe, die man aus ſeinem Studium ableiten konnte. ſtehenden Dimenſionen. Die Länge beträgt 33 Zoll, die Höhe mit Einſchluß des Unterkiefers 21½ Zoll, die Breite 16 ½ Zoll. Seine am meiſten auffallende Eigenthümlichkeit iſt eine enorme Knochen-Erhebung auf dem Stirn— theil. Dieſelbe iſt von Geſtalt halbkugelig, Fig. 1. Seitenanſicht des Schädels vom Elasmotherium, ca. Y,, der natürliche Größe. Der Schädel ſelbſt (Fig 1) zeigt die nach- beſitzt einen Umfang von über drei Fuß und bildet, über fünf Zoll hervortretend, einen Theil der Stirnhöhlung. Eine un— gewöhnliche Entwickelung dieſer Höhlung iſt im bemerkenswerthen Grade am Schädel des gemeinen Rindes vorhanden, noch her— vorragender aber beim Elephanten und Rhinoceros. Wie bei dem letzteren Thiere zu der Annahme führen, daß noch ein bietet die Hervorragung am Schädel des Elasmotherium eine rauhe, unebene Ober— fläche dar, die von tiefen Rinnen durch— ſchnitten wird, welche einſt Blutgefäße be— herbergt haben. Die vollkommene Analogie mit der entſprechenden Bildung des Rhino— cerosſchädels deutet mit der größten Sicher— heit auf das ehemalige Vorhandenſein eines Hornes hin, welches, nach der Größe der Blutgefäße zu urtheilen, die einſt ſeine Baſis umſchlangen, enorme Dimenſionen beſeſſen haben muß und leicht die Länge des geſamm— ten Schädels übertroffen haben mag. Das Vorhandenſein einer ähnlichen rauhen Er— hebung von viel kleineren Dimenſionen, tiefer unten in der Gegend der Naſenlöcher, könnte — . 405 1 2 \ 3 2 * ‚ N . \ * * 2 Fig. 2. Die Bildung der Zähne (Fig 2) bietet im Gegenſatze keine Aehnlichkeiten mit denen des Rhinoceros. Sie ſind aus gewundenen Falten von Zahnſchmelz-Platten, die ſich über die ganze Länge des Zahnes erſtrecken, zuſammengeſetzt, und bieten auf ihrer Ober— fläche einen wunderlich gefältelten Anblick dar. Nach dem Schädel zu urtheilen, war das Elasmotherium dem Rhinoceros-Ge— ſchlechte eng verbunden, indem es zwiſchen ihm und dem Pferdegeſchlechte ſtand. Seine Verhältniſſe übertrafen indeſſen diejenigen aller ſeiner Verwandten, ſowohl der leben— den als der ausgeſtorbenen, ſoweit ſie be— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. zweites kleineres Horn vorhanden war. Die Vorderanſicht des Schädels bietet eine allgemeine Aehnlichkeit mit derjenigen eines Pferdes oder Wiederkäuers dar. Der hintere Theil des Schädels indeſſen zeigt die Verwandtſchaft mit dem Rhinoceros, und dieſe Verwandtſchaft, wenigſtens mit den ausgeſtorbenen Gattungen, wird noch ſtärker hervorgehoben durch die knöcherne Scheide— wand, welche die Naſenhöhle theilt. Es iſt dies eine ſehr eigenthümliche und charakte— riſtiſche anatomiſche Bildung, denn mit Aus- nahme dieſer beiden Thiergeſchlechter (Rhino— ceros und Elasmotherium) beſitzen alle an— deren uns bekannten Säugethiere nur eine knorplige Scheidewand in dieſer Höhle. Größe. kannt ſind. Die Verhältniſſe des Schädels deuten auf eine Körperlänge zwiſchen 14 bis 16 Fuß. In Bezug auf Geſtalt des Körpers und der Glieder kann etwas Be— ſtimmtes nicht geſagt werden. Die Naſe war viel ſchmaler als diejenige des Rhino— ceros, während die Augen größer waren und auf einen beſſer entwickelten Geſichts— ſinn ſchließen laſſen. Die Analogie mit ſeinen Zeitgenoſſen, dem wollhaarigen Nas— horn und ſibiriſchen Mammuth, würde die Annahme eines zottigen Haarpelzes ſtützen. Die abſolute ſowohl als die verhältniß— mäßige Größe der Schädelhöhlung würde Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. auf einen niederen Grad von Intelligenz bei dem Elasmotherium ſchließen laſſen. Dr. Brandt malt es als ein mächtiges, aber plumpes, unbehilfliches und in ſeinen Bewegungen langſames Thier. Es wälzte ſich im Schlamm, käuete langſam ſein aus Gras und zarten Zweigen beſtehendes Futter und ſtreckte ſich aus, um am Uferſaum im Graſe oder Schilfe zu ruhen. Aus ſeiner gleichgültigen Stimmung mag es einzig durch den Angriff eines Rivalen aufgeſchreckt worden ſein, ſei es eines Mammuth, eines Rhinoceros oder eines der großen Raub— thiere jener fernen Epoche. Es mag dann ungeſtüm auf ſeinen Gegner losgeſtürzt ſein und verſucht haben, ihn mit ſeinem furcht— baren Horne niederzurennen. Die Funde ſeiner Ueberbleibſel zeigen, daß es einſt über den größten Theil Euro— pas hinwanderte, vom Ural bis zum Rheine und ſüdlich bis nach Sicilien. Es iſt auch höchſt wahrſcheinlich, daß ſpätere paläon— tologiſche Entdeckungen ſeine Exiſtenz auch für Aſien nachweiſen werden, in Gemein— ſchaft mit jenen anderen großen Dickhäutern, deren Ueberreſte im ſibiriſchen Eiſe ſo vor— züglich erhalten worden ſind. Es war nach aller Wahrſcheinlichkeit ein Zeitgenoſſe der Steinzeit-Menſchen, denn ſeine Reſte finden ſich in denſelben Ablager— ungen, in denen die Anthropologen die be— hauenen Feuerſteine, Knochen und andere Spuren des vorgeſchichtlichen Menſchen an— trafen. Von ihren Waffen hatte das Elas— motherium wahrſcheinlich nicht viel zu fürchten. In Verbindung mit dieſer intereſſanten Entdeckung theilt Dr. Brandt eine bei einem Tataren-Stamm in Südſibirien vor— handene Sage mit, welche den Tod eines ungeheueren weißen Ochſen ſchildert. Er beſaß indeſſen nur ein einzelnes Horn und zwar von ſolcher Größe, daß es nur mit— richteten Briefe beſchreibt Dr. Schliemann Inſel Ithaka. = m a VD — —— —— 227 | telſt Schlitten fortgeſchafft werden konnte. Möglicherweiſe eine Erinnerung an das Elasmotherium (Nature No. 458. 1878). Schliemann's prähiſtoriſchen Kunde auf Ithaka. In einem kürzlich an die Times ge— ſeine Aufſuchung der alten Hauptſtadt der Er begann ſeine Forſchung in dem Polis genannten Thale, das ſich in dem nördlichen Theile der Inſel befindet und gewöhnlich als die Stelle der Home— riſchen Hauptſtadt Ithakas betrachtet wurde, — erſtens ſeines Namens wegen, der das griechiſche Wort für Stadt iſt; zweitens wegen ſeines herrlichen Hafens in der Entfernung von nur 2 Meilen (= 3,229 Kilometer) von einer kleinen, jetzt Mathitarid genannten Inſel, die, als die einzige in der Straße zwiſchen Ithaka und Kephalonia vorhandene naturgemäß ſtets mit der Homeriſchen Aſteris gleichgeſetzt wurde, hinter welcher die Freier der Penelope dem Telemach bei ſeiner Rück— kehr von Pylos und Sparta auflauerten (Odyſſee, IV, 844—847). Als einen vierten Wahrſcheinlichkeitsgrund dafür, daß Polis die Stelle der alten Hauptſtadt Ithakas wäre, erwähnt man eine Veſte (Akropole), die man in einer Höhe von ungefähr 400 Fuß auf dem ſehr ſteilen Felſen an der Nordſeite des Hafens wahrzunehmen glaubt. Dr. Schliemann fand, daß ſie aus einem ſehr unregelmäßigen Kalkfelſen beſteht, der von der Menſchenhand offenbar nie berührt worden war und ganz ſicher nie als Vertheidigungswerk gedient haben konnte. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der Name dieſes Thales nicht, wie man bisher geglaubt, von einer wirklichen Stadt, ſondern lediglich von einer Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. 228 von der Einbildungskraft geſchaffenen Feſt— ung abgeleitet iſt. N Dieſes Thal iſt ferner der fruchtbarſte Theil Ithakas und es kann daher nie als Bauplatz einer Stadt gedient haben; in der That iſt es in Griechenland noch nicht vor— gekommen, daß eine Stadt auf fruchtbarem Lande gebaut worden wäre, und am aller— wenigſten hätte das der Fall ſein können auf der Felſeninſel Ithaka, wo pflugbares Land ſo überaus ſelten und koſtbar iſt. Die Inſel Mathitarid hat Dr. Schlie— mann beſucht und ſorgfältig gemeſſen. Ihre Länge beträgt 586 Fuß; die Breite derſelben ſchwankt zwiſchen 108 und 176 Fuß. In Anbetracht dieſer geringen Maße kann ſie unmöglich als mit der Homeriſchen Aſteris gleichbedeutend angeſehen werden, da letztere, wie der Dichter ſagt, zwei Häfen mit je doppeltem Eingange beſaß. Obwohl Dr. Schliemann aus allen dieſen Gründen vollkommen überzeugt war, daß nie eine Stadt das fruchtbare Polis— thal eingenommen haben konnte, hielt er es doch für im Intereſſe der Wiſſenſchaft wünſchenswerth, der Sache durch thatſächliche Grabungen nachzuforſchen. Er grub in demſelben viele Stollen, ſtieß aber bei faſt allen in einer Tiefe von 10 — 13 Fuß auf den natürlichen Felſengrund, außer in der Mitte des Thales, die bis zu einer großen Tiefe von einem Bergſtrom ausgehöhlt worden zu ſein ſcheint. Bruchſtücke rohgearbeiteter ſchwarzer oder weißer griechiſcher Topfwaaren und Ziegelſtücke waren Alles, was er fand. Für nur einige wenige Bruchſtücke archai— ſtiſcher Topfwaare konnte er das ſechſte Jahr— hundert v. Ch. beanſpruchen. Gräber fin— den ſich mitunter auf den benachbarten Höhen; wie aber die in ihnen enthaltenen Töpferarbeiten und Münzen beweiſen, ſind ſie aus dem dritten, vierten oder fünften Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. des Rückens, wo er in der Nähe der Kapelle | Jahrh. v. Chr. Aus derſelben Zeit find auch die in einer Höhle zur Rechten des Hafens von Polis gefundenen Alterthümer; denn eine daſelbſt von Dr. Schliemann ge— fundene Inſchrift kann mit Sicherheit das ſechſte oder ſelbſt das ſiebente Jahrhundert v. Chr. Geburt beanſpruchen. Daher muß die Annahme, daß Polis die Stelle der Homeriſchen Hauptſtadt von Ithaka ſei, nun⸗ mehr endgültig aufgegeben werden. Dr. Schliemann beſichtigte darauf ſorgfältig den übrigen, nördlichen Theil der Inſel, fand aber nirgends die Spuren einer alten Stadt, außer in der Umgebung des kleinen Gebäudes in kyklopiſchem Mauer⸗ werk, das gewöhlich „Homers Schule“ ge— nannt wird und das der Eigenthümer des Grundſtücks unlängſt in eine kleine Kirche verwandelt hat. Er verweigerte Dr. Schlie— mann die Erlaubniß, in der Kirche zu graben, geſtattete ihm jedoch, es in den an— ſtoßenden Feldern zu thun, wo eine Anzahl in den Felſen gehauener Hausfundamente und Ueberbleibſel von kyklopiſchen Mauern für das Vorhandenſein einer ehemaligen Niederlaſſung zeugten. Er grub daſelbſt ſehr viele Löcher, ſtieß aber immer bei weniger als drei Fuß auf den natürlichen Felſen und manchmal ſogar in einer Tiefe von weniger als 12 Zoll; ſo kann es keinem Zweifel unterworfen ſein, daß hier in klaſſiſcher Zeit eine Stadt beſtand, und höchſt wahr— ſcheinlich iſt es eben dieſelbe, die Seylax Per. 34 und Ptolemaeus III., 14, 13, erwähnt wird. Von dort ging Pr. Schliemann zum Aetosberge über, der auf der ſchmalen, kaum eine Meile breiten Landenge liegt, welche Nord- und Süd Ithaka mit einander ver— bindet. Er fand überall den reinſten jung— fräulichen Boden, außer ganz auf dem Kamme Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. des heiligen Georg (Hagios Georgios) eine ſehr kleine Ebene mit einer Anſammlung von 10 Fuß tiefen künſtlichen Bodens fand. Dort grub er zwei lange Gräben, in deren einem er eine 7 Fuß hohe Terraſſenmauer ans Licht brachte, die aus ungeheuren, wohl— gefügten, vielſeitigen Blöcken beſtand; dieſe Mauer mit den ſie umgebenden jüngeren Teraſſenmauern vergleichen, hieße eines Rieſen Werk mit dem von Zwergen ver— gleichen. An Topfwaaren fand er dort nichts als einige wenige Bruchſtücke ſchwarzer griechiſcher Gefäße (Vaſen). Da er hier ebenfalls in ſeinen Nachgrabungen nicht Er— folg gehabt, durchforſchte er aufs Sorgfältigſte den Aetosberg, der ſich zu einer Höhe von 1200 Fuß über die See erhebt und auf ſeinem von Menſchen roh geebneten Gipfel eine Plattform von dreieckiger Geſtalt mit zwei großen und einer kleineren Ciſterne und Ueberreſten von ſechs oder ſieben kleinen kyklopiſchen Gebäuden hat, die entweder ſelbſtſtändige Häuſer, oder, und zwar wahr— ſcheinlicher, Gemächer des großen kyklo— piſchen Herrenſitzes geweſen waren, der ſich hier befunden haben ſoll und gemeinhin „das Ulyſſes Schloß“ genannt wird. Es kann kaum irgend welchem Zweifel unter— liegen, daß der ebene Gipfel des Aetosberges nach Norden und Süd-Weſten hin durch eine ungeheure noch vorhandene kyklopiſche Mauer erweitert war, indem der Raum zwiſchen der Bergſpitze und der Mauer mit Steinen und Trümmern aufgefüllt war. So bildet der Gipfel eine viereckige ebene Plattform von 166 Fuß 8 Zoll Länge auf 127 Fuß 4 Zoll Breite, ſodaß auf dem Gipfel reichlich Raum für ein großes Herrenhaus und Hofraum vorhanden war. Nördlich und ſüdlich von der Einfaſſungs— mauer ſind Thürme von kyklopiſchem Mauer⸗ werk, von deren jedem eine ungeheure Mauer 229 von rieſigen Blöcken hinabläuft. In einer gewiſſen Eutfernung fangen dieſe beiden Mau— ern jedoch an, eine Krümmung zu bilden, und ſich ſchließlich mit einander zu ver— einigen. Noch zwei kyklopiſche Mauern laufen von der Spitze nieder, die eine in öſtlicher, die andere in ſüdöſtlicher Richtung, und vereinigen ſich mit der von den beiden erſtgenannten Mauern gebildeten krummen Linie. Schließlich wird eine rieſige Einfaſſungs— mauer ungefähr 50 Fuß unterhalb der oberen Einfaſſungsmauer erwähnt. Dieſe Mauer iſt auf der Weſtſeite eingefallen, be— findet ſich aber auf den anderen Seiten in wunderbar gutem Zuſtande. Um die Stärke der Oertlichkeit zu erhöhen, war der Fuß des Felſens weggeſchnitten worden, ſo daß er eine zwanzig Fuß hohe Felſenmauer bildet. In den Mauern ſind drei Thore erkennbar. Innerhalb aller dieſer kyklopiſchen Mauern ſtand einſt eine Stadt, die 2000, ſei es in den Felſen gehauene, ſei es von kyklopiſchem Gemäuer aufgeführte Häuſern enthalten haben kann. Von 190 dieſer Häuſer hat Dr. Schliemann die mehr oder weniger wohlerhaltenen Ueberreſte finden können. Er maß zwölf derſelben und fand fie 21 — 63 Fuß lang und 15 — 20 Fuß breit. Die gewöhnliche Größe der roh gehauenen Steine beträgt 5 Fuß in der Länge, 4 Fuß 8 Zoll in der Breite und 2 Fuß in der Dicke. Die Größe dieſer Steine übertrifft bei Weitem die der Steine in den von Dr. Schliemann in Mykenge und Tiryns entdeckten Häuſern. Einige von den Häuſern beſtanden aus nur einem Zimmer, andere hatten 4 oder 6 Gemächer. Dieſe kyklo— piſche Hauptſtadt iſt einzig in der Welt, und jeder Bewundrer Homer's ſollte ſie ſehen. Zwei Wochen lang grub Dr. Schlie— mann in dieſen kyklopiſchen Bauten mit 30 Arbeitern; aber das einzige Ergebniß all' 2 feiner Mühe waren Bruchſtücke von Töpfer- waare, die keine Aehnlichkeit mit irgend welcher in Mykenge gefundenen hat, hin— gegen der aus den beiden älteſten Städten bei Troja ſehr ähnlich iſt; Bruchſtücke von höchſt merkwürdigen Ziegeln mit einge— drückten Zierathen, auch zwei mit einer Art geſchriebener Charaktere, die er noch nicht Zeit gehabt abzuzeichnen; und die Brud)- ſtücke einer ſehr merkwürdigen Handmühle. Dr. Schliemann hat auch angefan- gen in der Stalaktitengrotte bei dem kleinen Hafen von Dexia zu graben, welcher ge— wöhnlich für den Hafen Phorkys gilt, wo Odyſſeus von den Phäaken an das Land geſetzt wurde, indem die Grotte ganz richtig als gleichbedeutend mit der Homeriſchen Nymphengrotte angeſehen wird, in welcher Odyſſeus mit Hilfe der Athene ſeine Schätze verbarg. Da er aber gerade vor dem kleinen Altare einen Graben bis auf den Felſen geführt ohne auch nur einen Scherben zu finden, gab er ſeine undankbare Nach— grabung auf. Die Grotte iſt ſehr ge— räumig und entſpricht genau Homer's Beſchreibung, wo er ſagt, „daß ſie zwei Zugänge hat, einen an der Nordſeite für Menſchen, und einen auf ihrer Südſeite für die unſterblichen Götter, denn kein Menſch kann zu dem göttlichen Thore herein.“ Das iſt Alles wahr, doch meint er mit dem Eingange für die Götter das künſtlich in dem Gewölbe der Grotte gehauene Loch, welches als Schornftein gedient haben muß, um jo wahrſcheinlicher, als ſich öſtlich in um den Rauch von den Opferfeuern abzu- geringer Entfernung von dieſer Stelle 1 führen. Von dieſem Schornſtein ſind es bis und nahe der See eine weiße Klippe mit x zum Boden der Grotte 56 Fuß, und natürlich einem bis heute Korax d. h. Rabenfels % kann kein Menſch auf dieſem Wege herein. genannten ſenkrechten Abſturz von 100 Fuß 7 Von dem Gewölbe der Grotte hängen befindet, auf den ſich Homer bezieht, wenn N unzählige Stalaktiten nieder, die Homer er Odyſſeus den Eumaeos herausfordern 4 den Gedanken der Steinurnen und Krüge, läßt, „ihn von dem großen Fels zu ſtürzen“, . der Steinrahmen und Stühle eingegeben, ſo er fände, daß er lüge (Od. XIV. 398). 8 Kleinere Mittheilungen und Jourualſchan. auf welchen die Nymphen purpurfarbene Mäntel und Schleier weben. Dr. Schlie— mann durchforſchte auf das Sorgfältigſte den ganzen ſüdlichen Theil Ithaka's. Die Stadt Vathy, die gegenwärtige Haupt⸗ ſtadt Ithaka's, iſt noch nicht hundert Jahre alt, und das gänzliche Fehlen alter Scher— ben auf dem flachen Boden ſcheint zu be— weiſen, daß im Alterthum an jener Stelle weder Stadt noch Dorf geſtanden hat. Ehe Vathy gegründet wurde, befand ſich die Stadt auf einer felſigen Anhöhe unge— fähr eine Meile weiter ſüdlich. Auf der Stelle der alten Stadt fand er nur eine ſehr geringe Anſammlung von Trümmern und keine Spur alter Topfwaare. An der Südoſtſpitze der Inſel befinden ſich, ungefähr 4½ Meile (d. h. 7 Kilo⸗ meter) von Vathy, eine Anzahl ſtallartiger Räume von durchſchnittlich 25 Fuß Länge auf 10 Fuß Breite, die theils in den Felſen gehauen, theils von kyklopiſchen, aus ganz beſonders großen Steinen aufgeführten Mauern gebildet ſind und in denen Homer die von dem göttlichen Sauhirten Eumaeos gebauten zwölf Schweineſtälle erblickt haben muß. Oeſtlich von dieſen Ställen und ihnen gerade gegenüber zeigen Tauſende ſehr gemeiner aber hüöchſt alterthümlicher Scherben das ehemalige Vorhandenſein einer alten ländlichen Wohnung an, die uns Homer als Haus und Hof des Eumaeos beſchrieben zu haben ſcheint. Es iſt dies r = wo DOM — 8 — . ꝶdCö— X—ä Unterhalb des Korax befindet ſich in einer einſpringenden Höhlung von ſelbſt geſam— meltes und ſtets reichlich vorhandenes reines Waſſer, woraus die Ueberlieferung Homer's Quelle der Arethuſa macht, aus welcher des Eumaeos Schweine getränkt wurden. Dr. Schliemann grub in den Ställen ſowohl als vor denſelben auf der Stelle der alten Wohnung; dieſe fand er mit Steinen gefüllt; auf der Stelle des Hauſes traf er jedoch den Felſen in einer Tiefe von einem Fuß und fand daſelbſt Bruchſtücke ſehr intereſſan— ter, höchſt alterthümlicher, unbemalter Töpfer— waare, worunter einige mit rothen Streifen und Maſſen von zerbrochenen Ziegeln. Dr. Schliemann giebt an, daß Ithaka, wie Utika, ein phönikiſches Wort iſt und „Anſiedlung“ bedeutet, jo wie daß der Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. a Typus der Ithaker entſchieden phönikiſch iſt. Nach Homer war des Laertes Groß— vater Poſeidon, und Mr. Gladſtone hat daher vollkommen Recht darin, daß die Abſtammung von Poſeidon immer ſoviel als „Abſtammung von den Phönikiern“ bedeutet. — Dr. Schliemann hat auch einen neuen Ferman für Troja erhalten. Er ver- ließ Athen am 18. September und zwar, um ſeine lange unterbrochenen Ausgrabun— gen Troja's fortzuſetzen. Seine erſte Arbeit wird darin beſtehen, das ganze, wahr— ſcheinlich dem Könige der alten Stadt angehörige ſchloßartige Gebäude, unmittel— bar nördlich und nordweſtlich von dem Thore, an den Tag zu fördern. \ 1 wären alſo 1230 Artikel zu beſprech ngeweſen! . Titeratur und Britik. ur Darmwin- ite von Dr. Georg Seidlitz, Aſſiſtent an der anatomiſchen Anſtalt in Königsberg. 11.*) Die bisherige literariſche Bewegung in Deutſchland (bis 1876 incl.). 8 achdem wir im erſten Abſchnitt in \ | allgemeinen Zügen die wichtigſten > Erſcheinungen der Literatur bis zum Jahre 1875 incl. kurz berückſichtigt, wobei jedoch der allzu große Umfang der 15 jährigen Druckerzeugniſſe nicht einmal die bloße Nennung aller Titel erlaubt hatte“), treten wir in das leichter zu überblickende Gebiet eines Jahres und können eher hoffen, ein annähernd voll— ſtändiges Bild der literariſchen Leiſtungen ) Vergl. Kosmos Bd. I. S. 546 u. flgde. Hierbei ſei ein ſinnverkehrender Druckfehler be— richtigt: S. 550 3. 27 (1. Spalte) ſoll fried- lich ſtehen ſtatt feindlich. ) Eine Vorſtellung des Umfanges wird man ſich machen können, wenn man erfährt, daß die Nachträge zu meinem Literaturver— zeichniß (Darw. Th. II. Aufl. Lpz. 1875 S. 286 bis 334), das, nach Ausſchluß der Rubriken Vz, Va, VI, VIII u. XIII, 950 Titel ent⸗ hält, bis zum Jahre 1874 incl. 162, und für 1875 ca. 120 Titel aufweiſen. In Summa zu gewinnen. Lückenhaft wird daſſelbe den— noch fein; denn die Beſchaffung der Publi⸗ kationen überſteigt ſchließlich die Mittel des Einzelnen, Zuſendungen aber erfolgen überaus ſpärlich, obgleich es doch im Intereſſe der Verleger ſowohl, als auch der Autoren liegen ſollte, ihre literariſchen Produkte beſprochen zu ſehen. In der Anordnung des Stoffes folgen wir der Eintheilung des vorjährigen Berichtes und werden alſo behandeln: 1. Darſtellungen, Erläuterungen ꝛc. 2. Ergänzungen zu einer organiſchen Entwickelungslehre. 3. Anwendungen auf Zoologie und Botanik. Einfluß auf andere Wiſſenſchaften. Gegner der Selektionstheorie. Gegner der Descendenztheorie. . Schöpfungsdogmatifer. . Literatur und Kritik. J. Darſtellungen, Erläuterungen und kritiſche Zegründungen der Darwin'ſchen Theorie. Während das Jahr 1875 nur zwei Werke dieſer Kategorie aufzuweiſen hatte, ſind für 1876 ſchon ſieben zu nennen. 1. Hartmann, Darwinismus und Thierproduktion. 2. Carus Sterne, Werden u. Vergehen. 3. Römer, Weſen und Begründung der Lehre Darwin's. 4. Weismann, Studien zur Descen- denztheorie. 5. Zacharias, Zur Entwickelungslehre. 6. Herbert Spencer, Prinzipien der Biologie. 7. Seidlitz, Beiträge zur Descendenz— theorie. „Darwinismus und Thierproduk— tion.“ München, Oldenbourg, 1876. — Ein anziehend geſchriebenes Buch, das ſich nament- lich die Aufgabe ſtellt, die Anwendbarkeit der Darwin'ſchen Theorie auf praktiſche Fragen, die bei der künſtlichen Züchtung der Hausthiere in Betracht kommen, darzulegen. Bei dieſem Ziele tritt die Erörterung der Theorie ſelbſt mehr zurück und nimmt kaum 30 Seiten (S. 55 — 71) ein, während um ſo ausführlicher die damit zuſammenhängenden Gebiete, nämlich die Zeugung (S. 1— 44), die Vererbung (S. 215— 232), die Literatur pro und contra Darwin und ähnliche Theorien (S. 70— 110), die Genealogie der Wirbelthiere (S. 111—153), die Ab- ſtammung unferer Hausthiere (S. 154 — 214) und endlich die Thierzüchtung (S. 233— 290) in gemeinverſtändlicher, überſichtlicher, ſich des Details enthaltender, aber gründliche Literaturkenntniß documentirender Weiſe be— 233 handelt werden, ſo daß man einen klaren Ueberblick über die älteren ſowohl, als auch über die neueſten Arbeiten und Anſichten in Betreff dieſer Fragen bekommt. Beſonders muß das Capitel über die Genealogie der Wirbelthiere und die Abſtammung der Haus— thiere als durch Specialforſchungen des Ver— faſſers (zum Theil auf ſeiner Reiſe in Afrika angeſtellt) und durch zahlreiche vortreffliche Abbildungen geſtützt, hervorgehoben werden. | Ueberall aber tritt das gemäßigte, unpartei- iſche, objektive Urtheil anſprechend entgegen und bildet einen wohlthuenden Gegenſatz zu der in neuerer Zeit überhand nehmenden perſönlichen und nur zu oft leidenſchaftlichen Polemik unſerer jüngeren Darwinianer. 2. Carus Sterne, „Werden und Vergehen. Eine Entwickelungs— geſchichte des Naturganzen.“ Berlin, 1. Prof. Dr. C. E. R. Hartmann, Bornträger 1876. — Eine gelungene Zu— ſammenfaſſung und populäre Darſtellung der Aſtrophyſik, Geologie, Paläontologie, Botanik, Zoologie und Prähiſtorie, die in lebhafter Schilderung eine anziehende, durch viele Abbildungen erläuterte Ueberſicht über das Wiſſenswertheſte dieſer Disciplinen bietet und dem Laien zur Einführung und Orien— tirung angelegentlich empfohlen werden kann. Paläontologie und Zoologie reſp. Botanik ſind in durchaus glücklicher Weiſe verſchmolzen, und dadurch die wahrſcheinliche Genealogie der Thiere und Pflanzen zum Ausdruck gebracht, ſo daß man ein lebhaftes Bild davon bekommt, wie ſich ihre Phylogenie geſtaltet haben kann. Wenn aber dieſer Vorgang hin und wieder als bewieſenes Faktum referirt wird, ſo beruht das auf einem etwas zu ſanguiniſchen Verfahren, wofür ſich als Entſchuldigung anführen läßt, daß die Anführung aller Beweiſe und Be— denken in einem populären Werke den Eindruck 234 machen würde, als ob das ganze Gebäude auf Meinung und Willkühr beruhe. Im Uebrigen iſt das Buch durchaus gut und correkt zu nennen. Specielles über die Darwin'ſche Theorie im engeren Sinne enthält es zwar nicht, ſondern ſetzt die Theorie als bekannt voraus, iſt aber dermaßen im Sinne der Descendenztheorie geſchrieben, daß es immerhin in der vorliegenden Kategorie beſprochen werden mußte. Beiläufig ſei noch bemerkt, daß ſtatt des häufig gebrauchten vieldeutigen (und daher nichtsſagenden) Schlag— wortes „Kampf um's Daſein“ und ſtatt der allzu teleologiſch klingenden, die Natur perſonificirenden Redensarten: „die Natur wollte,“ „die Natur ließ hervorgehen“ ꝛc., präciſere Ausdrucksweiſen mit Vortheil an— zuwenden geweſen wären. 3. J. Römer, „Weſen und Be⸗ gründung der Lehre Darwin's“, Kronſtadt, Gött & Sohn 1876. — Der Verfaſſer, Fachlehrer am Gymnaſium zu Kronſtadt in Siebenbürgen, macht ſich ſpeciell die Darſtellung der Darwin'ſchen Theorie zur Aufgabe und löſt ſie mit Glück und Geſchick, was um ſo erfreu— licher iſt, als die Abhandlung das vom Rector Joh. Vogt redigirte Programm des genannten Gymnaſiums für 1876 bildet und dadurch für den geſunden, in dieſer Schule herrſchenden Geiſt beredtes Zeugniß ablegt. Die neueſten Fortſchritte auf dem Gebiete der Descendenztheorie find, Dank den vortrefflichen, leider nicht weiter erſcheinenden Berichten von Spengel, gut benutzt, nur ſpeciell das Detail der Selektions— theorie iſt nicht ganz auf der zeitgemäßen Höhe, indem z. B. das Faktum der ungleichen Vererbung nicht zur Erklärung der „indi— viduellen Variabilität“ herangezogen wird, und ebenſo das unbrauchbare Schlagwort „Kampf | Literatur und Kritik. um's Daſein“ promiseue in allen möglichen Bedeutungen gebraucht wird. Leider iſt die am Schluß für das folgende Jahr angekündigte Fortſetzung nicht erſchienen, wohl aber hat der Verfaſſer ſich von Seiten des hohen Conſiſtoriums eine Disciplinar— unterſuchung zugezogen, obgleich das Schrift- chen nicht entfernt religiöſe Fragen berührt. Es iſt eben immer wieder das Schöpfungs— dogma, deſſen Verluſt die Zionswächter nicht verwinden können. Und in Sieben— bürgen ſind dieſelben nicht etwa Katholiken, ſondern eifrige Proteſtanten! 4. Prof. Dr. Weismann, „Stu— dien zur Descendenztheorie II. Ueber die letzten Urſachen der Transmuta— tion“. Leipzig, Engelman 1876.) — Der Löwenantheil an der Literatur des Jahres 1876 gehört unſtreitig Weismann, der im zweiten Bande ſeiner „Studien“ eine Reihe wahrhaft muſtergiltiger Special— unterſuchungen im Sinne der Selektions— theorie lieferte. In der erſten Abhandlung, S. 1— 140, wird auf induktivem Wege der exakte Nachweis geführt, daß eine ganze Reihe ſchwierig zu erklärender ſog. „morphologiſcher Merkmale,“ nämlich die Zeichnung der Schmetterlings— raupen, ſehr wohl der bloßen Thätigkeit der bekannten Faktoren der Naturzüchtung zuge— ſchrieben werden kann und durchaus nicht die Zuhilfenahme irgend einer unbekannten treibenden Entwickelungskraft heraus— fordert. An der Hand zahlreicher mühſamer Beobachtungen über die Ontogenie verſchie— dener Schmetterlingsraupen kommt der Ver— ) Anmerk. d. Red. Da wir dieſem werth— vollen Buche bereits eine eingehende Würdigung im „Kosmos“ (S. 62) gewidmet haben, ſo geben wir hier nur die kritiſchen Bemerk— ungen des Hrn. Referenten wieder. —̃— — ů ů — ů ů— nenn falfer, durch Vergleichung der verwandten Formen, zu folgenden wichtigen Schlüſſen: „Die Ontogeneſe der Raupen— zeichnung iſt eine zwar mehr oder weniger ſtark gekürzte, aber kaum gefälſchte Wiederholung der Phylo— | ö | geneſe.“ „Die Entwickelung beginnt mit dem Einfachen und ſchreitet allmälig zu dem Zuſammengeſetzten vor.“ „Neue Charaktere erſcheinen zu— erſt im letzten Stadium der Onto— geneſe.“ „Dieſelben rücken dann allmälig in frühere Stadien der Ontogeneſe zu rück und verdrängen ſo die älteren Charaktere bis zu völligem Ver— ſchwinden derſelben.“ Der letzte Satz wird durch ſeine Ueber— einſtimmung mit einem gleichlautenden Re— ſultate der Studien Würtemberger's an foſſilen Ammoniten zu einem wichtigen Erfahrungsſatze, von dem bei jedem Ver— gleich zwiſchen Ontogenie und Phylogenie, bei jeder Speculation über Vererbung, aus— gegangen werden muß. Leider macht der Veerfaſſer dieſe grundlegende Bedeutung für | die Vererbung dadurch etwas undeutlich, daß er mehreremal (S. 70, 72, 117, 118) | von „inneren Bildungsgeſetzen“ ſpricht (ſtatt einfach „Vererbungsgeſetze“ zu ſagen) | und dadurch zu Mißverſtändniſſen Anlaß | giebt; denn bei „inneren Bildungsgeſetzen“ denkt man nur zu leicht an die gerade be- kämpfte „Entwickelungskraft“. Eine | präciſere Ausdrucksweiſe vermißt man auch S. 73 — 74, wo es am Platz geweſen wäre, feſtzuſtellen, ob beim „Auftreten eines neuen Charakters“ ein (durch äußere Ein- wirkung) erworbenes oder ein angeborenes | neues Merkmal gemeint ſei. Dieſes hätte um | jo mehr hervorgehoben werden müſſen, als Kosmos II. Jahrg. Heft 9. ü Literatur und Kritik. man durch die Berufung auf Haeckel (S. 72) leicht glauben kann, es ſei in Haeckel's Sinn von erworbenen neuen Merkmalen die Rede, während wohl ſicher richtig die angeborenen gemeint ſind. Eine ſchärfere Erörterung dieſer Frage, die eigentlich von der nach den „letzten Ur— ſachen der Transmutation“ untrennbar iſt, hätte den Verfaſſer veranlaſſen ſollen, ſich ent— ſchieden darüber zu äußern, ob er den Grund der individuellen Ungleichheit mit Lamarck und Haeckel in der direkten Einwirkung der äußeren Einflüſſe oder mit Darwin in der ungleichen Vererbung ſieht. Eine ein⸗ gehende Prüfung dieſer einander ſtrikt gegen— überſtehenden Standpunkte wäre ſehr er- wünſcht geweſen, da dieſelben noch immer mit einander verwechſelt zu werden pflegen. Meiſt ſogar kennt man nur den erſtgenannten und hält ihn irrthümlich für den Dar— win'ſchen.“) Auch Weismann ſcheint die ungleiche Vererbung als Urſache der erſten individuellen Abweichungen durchaus nicht genügend zu würdigen, wenn er S. 76 ſagt: „Die Alternative lautet: durch eine phyletiſche Lebenskraft oder durch Reaktion des Organismus auf äußere Einflüſſe.“ In dieſem Satz iſt die Teleologie nur dem Lamarckismus gegenüber geſtellt, die Darwin'ſche Selektionstheorie mit ihrer ungleichen Ver— erbung iſt als tertium non datur ganz bei Seite geſchoben. Daſſelbe geſchieht S. 201 durch den Satz: „Es verhält ſich Alles genau ſo ꝛc.“ Auch das Wort ) So glaubt z. B. Prof. Fritz Schultze (bei Gelegenheit einer Kritik), als Urſache der individuellen Ungleichheit die ungleiche Ver— erbung ganz neu entdeckt zu haben, während ich ſeit 1869 wiederholentlich betont und nach— gewieſen habe, daß gerade dieſes die allein richtige Anſicht der Darwin'ſchen Seleftions- theorie ſei. 235 | 7 | I] 236 „Anpaſſung“ wird S. 73 u. 74 vielfach ge- braucht, ohne Betonung, daß es im Dar— win'ſchen und nicht im Lamarck-Haeckel' ſchen Sinne gemeint ſei. Es wäre hier am Platze geweſen, der zweifachen Be— deutung dieſes Wortes die Möglichkeit ab— zuſchneiden, namentlich da der Verfaſſer bei anderer Gelegenheit (S. 250 — 251) dieſen Mißſtand ſelbſt rügt. Ausgezeichnet iſt der Nachweis (S. 80 — 137), daß die Zeichnung der Raupen deren Aufenthalt entſprechend ſtets entweder ſympathiſche Färbung oder ſpecielle Anpaſſung?) oder wirkliche Mimicry (3. B. Schlangenähnlichkeit der Raupe von Deilephila Nicaea, Augenflecke als Schreck— mittel) bedingt und ſomit auf Naturzüchtung zurückzuführen iſt. In der zweiten Abhandlung (S. 141 2% Ueber den phyletiſchen Parallelismus bei metamorphen Arten“, tritt der Verfaſſer den noch ein— ſchneidenderen Beweis an, daß die Annahme einer phyletiſchen Lebenskraft in vielen Fällen den Thatſachen geradezu widerſprechen würde. Dieſes würde überall da der Fall ſein, wo die Larven nahe verwandter In— ſekten ſtarke Abweichungen von einander, als Ausrüſtung zu differenten Lebensbedingungen, aufweiſen, während die Imagines die größte Uebereinſtimmung zeigen. Dieſes Faktum der Incongruenz der Formverwandt— ſchaft bei Larven und Imagines war früher zwar bekannt, aber noch nie ſo eingehend an unſerm Beobachtungsmaterial nachgewieſen und namentlich nicht zur Widerlegung teleo— logiſcher „Lebenskräfte“ benutzt worden. ) Verf. ſagt S. 90 „Nachäffung“, es iſt aber beſſer, dieſen offenbar nur in's Deutſche übertragenen Ausdruck für Mimiery auf die ſpecielle Bedeutung dieſes Wortes zu be— ſchränken. Vergl. m. Darw. Th. II. Aufl. S. 165. Literatur und Kritik. Die dritte Abhandlung iſt dem Axolotl gewidmet und ſucht nachzuweiſen, daß es ſich bei ſeiner in der Gefangenſchaft ge— lungenen Umwandlung in ein Amblyſtoma um Atavismus handle, und daß ebenſo ſeine einſtige Entſtehung in Mexico ein Atavismus geweſen ſei, d. h. ein Rückſchlag der ganzen Art aus dem Amblyſtoma-Stadium in die ältere Siredon-Form der Vorfahren. So gewiß das Thatſächliche der Deutung richtig iſt, ſo ſcheint doch die Anwendung des Begriffes Atavismus auf dieſen Fall eine verfehlte. Gewiß iſt, daß die (übrigens außer 1872 von Weismann, nur von Gegnern der Selektionstheorie, Kölliker, Mor. Wagner, Baer vertretene) Anſicht unannehmbar (weil grundlos) war, die Metamorphoſe des Axolotl ſei eine ſprung— weiſe Weiterentwickelung der Species, unrichtig aber iſt des Verfaſſers Behauptung, ſie ſei bisher „allgemein acceptirt“ geweſen; denn es ſtand ihr bereits eine andere plaufible Erklärung gegenüber, die Weis mann gar zu kurz als nichts erklärend“ von der Hand weiſt, ohne zu bemerken, daß ſie im Thatſächlichen gerade mit ſeiner jetzigen Deutung, mit Ausſchluß des Atavismus, eigentlich übereinſtimmte.“) Dieſelbe ging nämlich dahin, daß bei der gelegentlichen Umwandlung des Axolotl zum Amblyſtoma ein für gewöhnlich in den mexicaniſchen Seen nicht zur Ausbildung gelangendes Stadium ſich entwickelt, das früher von der Species regelmäßig erreicht wurde, aber durch Zurück— rücken der Fortpflanzungsfähigkeit auf das Larvenſtadium (Paedogeneſis) in Mexico allmälig vollſtändig eliminirt zu ſein ſcheint. Die Differenz dieſer Deutung mit der von Weismann beſteht alſo nur darin, daß er ) Vergl. m. „Parthenogeneſis und ihr Verhältniß zu den übrigen Zeugungsarten“, Leipzig 1872. beide Vorgänge, ſowohl das jetzige onto— genetiſche Auftreten des Amblyſtoma-Sta— diums, als auch das frühere phylogenetiſche Verſchwinden deſſelben (Rückkehr zur Siredon— Form) Atavis mus nennen will, während wir den erſtgenannten Vorgang als eine wahrſcheinlich ſeit nicht gar zu langer Zeit eliminirte Metamorphoſe auffaſſen, die durch künſtliche äußere Einflüſſe (Trocken— leben) an einzelnen Individuen wieder her— vorgerufen werden kann, den zweitgenannten aber dahin deuten, daß dieſe Metamorphoſe durch Aus rüſtung zum continuirlichen Waſſerleben, die als allgemein werdende Pädagoneſis Platz griff, allmälig ganz aus— fiel, ſo daß ſie unter den normalen Lebens— bedingungen der Art in Mexico nicht mehr auftritt. Atavismus nennen wir aber nur eine beſtimmte Form der Ver— erbung, und nicht jede künſtlich hervor— gerufene Entwickelung eines latent vererbten Merkmales oder den Verluſt eines Ent— wickelungsſtadiums. Wenn z. B. die ſonſt latent bleibenden Merkmale des anderen Geſchlechts in Folge von Caſtrirung zum Durchbruch kommen, ſo können wir nicht von Atavismus ſprechen, und wenn eine In— ſektenart ſich zahlreiche Generationen hindurch ausschließlich pädagonetiſch als Larve fort- pflanzt, ſo können wir das ebenſowenig wie gelegentliches Auftreten eines Imago Atavis— mus nennen. Weis mann vergleicht die Fortpflanzung des Axolotl nur mit der Pädagoneſis der Cecidomyien, deren Larven durch vollſtändige Metamorphoſe zum Inſekt werden, und findet daher den Unter— ſchied ſo groß, daß er die Uebereinſtimmung überſieht. Hätte er die Pädagoneſis eines Inſektes mit unvollſtändiger Meta- morphoſe, z. B. die der Aphiden, in Vergleich gezogen, ſo hätte er die vollſte Ueberein— ſtimmung mit der Pädogoneſis des Axolotl Literatur und Kritik. 237 vor ſich gehabt. Daß die Eliminirung des Amblyſtoma-Stadiums eine Ausrüſtung zum ausſchließlichen Waſſerleben, bedingt durch das ſehr trockene, dem amphibiſchen Leben hinderliche Klima Mexico's, war, hat Weismann nachgewieſen und durch geolo— giſche Daten geſtützt. Die vierte Abhandlung „Ueber die mechaniſche Auffaſſung der Natur“ zerfällt in zwei Theile. Im erſten Theile — „Sind die Principien der Selektions— theorie mechaniſche?“ — wird E. v. Hart- mann's Behauptung, die Erklärungen der Selektionstheorie ſeien nicht rein mechaniſche, ſondern involvirten ein metaphyſiſches, teleo- logiſches Princip, in eingehender Weiſe ſchla— gend zurückgewieſen. Auch im zweiten Theile — „Mechanismus und Teleologie“ — wird die von Baer befürwortete ſprungweiſe Ent⸗ wickelung widerlegt und die Teleologie aus ihren letzten Schlupfwinkeln verjagt. Um ſo überraſchender iſt es, den Verfaſſer, — nachdem er 300 Seiten darauf verwandt hat, keine metaphyſiſche Erklärung zuzu⸗ laſſen, „ſo lange nicht bewieſen ſei, daß man ohne dieſelbe logiſcher Weiſe nicht aus— kommen könne“, — zum Schluß der Teleologie wiederum ein Hinterpförtchen öffnen zu ſehen, durch das ſie ſich voll und ganz rehabili— tiren kann. Der Deduktion, durch welche der Verfaſſer hierzu gelangt, liegt der Irrthum zu Grunde, daß Zweckmäßigkeit ohne zweck— wollendes Princip nicht erreichbar ſei, und ſomit die Harmonie der Geſammtwelt ohne metaphyſiſches Princip, ohne „Weltbau— meiſter“ nicht erklärt werden könne. Wenn aber Zweckmäßigkeit als Reſultat bei Organismen ſehr wohl (durch die Se— lektionstheorie) erklärt werden kann, wie ja Verfaſſer ſchlagend gezeigt hat, warum ſoll man denn in den viel einfacher phyſikaliſch erklärbaren anorganiſchen Verhältniſſen 238 Literatur und Kritik. des Weltalls gewollte Zweckmäßigkeit vorausſetzen? Jedenfalls iſt die eigne Forder— ung des Verfaſſers nicht erfüllt und nicht „bewieſen, daß man ohne metaphyſiſche Erklärung logiſcher Weiſe nicht auskommen | | 1 könne.“ Wiederum iſt das zweideutige Wort „Zweckmäßigkeit“ einem ſcharfſinnigen For- ſcher verhängnißvoll geworden, indem er nicht zwiſchen gewordener (naturhiſtoriſcher) und gewollter (teleologiſcher) Zweckmäßig— keit unterſchied. Für die erſtere wird man doch am Ende ein anderes Wort einführen müſſen, und ſcheint das von Moebius vorgeſchlagene „Dauermäßigkeit“ hier— zu am beſten geeignet. 5. Zacharias, „Zur Entwickel— ungslehre“. Jena, Coſtenoble 1876. Eine Sammlung kleiner, in verſchiedenen Zeitſchriften erſchienener Abhandlungen. So willkommen ein Wiederabdruck zerſtreuter Aufſätze zwar dem Literaturreferenten iſt, ſo kann derſelbe für die Förderung der »Wiſſenſchaft doch nur dann wünſchenswerth ſein, wenn die Abhandlungen vielfach benutzt zu werden Ausſicht haben, oder beſonders Anregendes bringen. Von dieſem Geſichts— punkt aus ſind die neun geſammelten Artikel von gar verſchiedenem Werthe. Die erſte Abhandlung (aus der Leipziger illuſtrirten Zeitung) iſt ein kurzer Abriß aus Haeckel's Anthropogenie mit einigen miß— verſtändlichen Uehertreibungen (z. B. S. 3: „Es hat ſich herausgeſtellt, daß ſämmtliche Thiere mit Ausnahme der Protozoen die Gaſtrulaform annehmen.“... „Von den Kalk— ſchwämmen an bis hinauf zu der Wirbel— thiergruppe iſt die Identität der Gaſtrula von verſchiedenen Forſchern feſtgeſtellt worden.“ . ) und irrthümlichen Beimengungen (3. B. S. 5. werden die Myrinoiden und Petromyzonten für Acranier erklärt!) Die zweite Abhandlung (aus dem „Aus⸗ land“ und dem „Athenäum“) enthält eine Er- widerung an Wigand und an Michelis. Der letztgenannte phantaſirende Philoſoph war kaum einer Entgegnung werth, und Wigand hätte mehr der Grund vorge— halten werden dürfen, dem ſeine Oppoſition zu entſpringen ſcheint, nämlich ſeine durchaus mangelhafte Kenntniß der unverfälſchten Darwin'ſchen Selektionstheorie. Die dritte Abhandlung (aus der Yeip- ziger illuſtrire Zeitung) iſt ein Referat über Quinet's „Schöpfung“. Die vierte Abhandlung (aus dem „Aus— land“) behandelt in kurzem Neferat die Co- hen 'ſche Befruchtungshypotheſe, die als „über- aus geiſtreich“ bezeichnet wird, bei etwas mehr Sachkenntuiß aber wohl eher als ganz unbegründet und verfehlt hätte erkannt wer— den ſollen. Die fünfte Abhandlung (aus dem „Athe- näum“) „Ueber den Urſprung des Lebens im Lichte der Entwickelungstheorie“, iſt noch verfehlter als die vierte. Der Verf. erklärt ſich von „Haeckel's Theorie der generatio aequivoca unbefriedigt“ (Jaeger's ausführlichere Theorie ſcheint ihm unbekannt geblieben zu ſein), ſtellt Haeckel's geo— zoiſcher Hypotheſe eine kosmozoiſche gegenüber“ und ſtützt ſich dabei „auf die Anſichten namhafter und geiſtvoller Männer“. Schade nur, daß ihm dabei die nöthige Kritik noch mehr abhanden kommt, als wo er Haeckel blindlings nachfolgt. Es handelt ſich hier um die zuerſt von Richter?) und Thomſon vorgebrachte Idee, die erſten Organismen ſeien nicht auf der Erde entſtan— den, ſondern mit Sternſchnuppen aus dem Weltraum niedergefallen. Aehnliche, zwar weniger plumpe, aber ebenſo phantaſtiſche und unbegründete Anſichten ſind früher von ) Vergl. Kosmos I. S. 384. \ Quinetund ſpäter von Fechner, Tyndall, Literatur und Kritik. Preyer, Mor. Wagner (nach Liebig) aufgeſtellt worden. Thomſon wurde ſchla— gend von Zoellner abgefertigt („Kometen“ S. XXIV bis XXIX), Fechner von O. Schmidt („Ausland“ 1874, Nr. 8). Bei⸗ der Autoren Wider legung ſcheint zwar an un— ſerem Verf. ſpurlos vorübergegangen zu fein, | denn er erwähnt ihrer mit keinem Wort, uns aber überheben die trefflichen Auseinander- ſetzungen Zoellner's und Schmidt's einer nochmaligen Zurückweiſung ſolcher höchſt unfruchtbaren phantaſtiſchen Speculationen, die übrigens von den ehrenwerthen Gegnern ohne Weiteres den „Darwinianern“ was man ſich allen Ernſtes verbitten muß. Leider iſt Zoellner in feinem vor- und Naturphiloſophiſches aus Jena“ erſcheint zum erſten Mal. in m. Darw. Th. 2. Aufl. S. 246 be⸗ trefflichen Buch über die Natur der Kometen ebenfalls ein kleiner Lapſus paſſirt (der richtigt iſt), neuerdings aber der größere, ſich von einem ſpiritiſtiſchen Taſchenſpieler | dupiren zu laſſen. Die ſechſte Abhandlung (aus der Leip- ziger illuſtrirten Zeitung) iſt ein Referat über Huth's „Marriage of near kin“. Die ſiebente Abhandlung (aus dem „Aus— land“) referirt in ganz kritikloſer Weiſe über Haeckel's „Ziele und Wege“, indem ſie die (in Bezug auf den Inhalt, nicht aber in Bezug auf die Form der Polemik) durchaus gerecht— fertigten Erörterungen nicht von den ebenſogrundloſen Behauptungen Haeckel's trennt. Unbegründet iſt z. B. in der Polemik gegen His die Vertheidigung der Erblich— keit erworbener Abweichungen, indem zufällig His (ohne es zu wollen und zu wiſſen) in dieſem Punkt gerade den Stand— punkt der Darwin'ſchen Selektionstheorie vertritt, den Haeckel als Lamarckianer be— kämpft. Unbegründet iſt ferner die ganze Polemik gegen Dorn, da nur eine gar zu flüchtige Würdigung der Dornen Schrift in ihr eine Unterſtützung Mich elis'- ſcher Behauptungen finden kann.“) Die achte Abhandlung (aus der „Gegen— wart“) „die Naturwiſſenſchaften als Unter- richtsgegenſtand“ behandelnd, iſt ein ſehr beachtenswerther, gut gelungener Mahnruf an die Pädagogen über die Art und Weiſe, wie der naturhiſtoriſche Unter— richt in der Schule zu betreiben iſt. Er enthält ſehr viel Vortreffliches und Wahres und muß allgemein als ſehr leſens- und beherzigenswerth empfohlen werden. Na— mentlich hätte ihn Prof. Virchow vor feiner in die Schuhe geſchoben zu werden pflegen, Rede in München mit Nutzen berückſichtigen dürfen. Die neunte Abhandlung „Darwiniſtiſches Sie hätte beſſer in's Feuilleton eines Localblattes gepaßt, am beſten aber unpublicirt bleiben können. Die verſuchte Rettung Oken's als eines „Vor— gängers von Darwin“ iſt ganz verfehlt, indem Oken nachweislich gar nicht Des— cendenztheoretiker war, ſondern blos einer ganz unklaren, etwa der Wigan d'- ſchen verwandten Evolutionsidee hul— digte. Irrthümlich iſt ferner die Be— hauptung, „die Furcht vor dem Theoretiſiren und Philoſophiren ſei bei keiner Klaſſe von Forſchern größer als bei den Biologen“; denn bekanntlich ſind gegenwärtig die meiſten Biologen (Zoologen und Botaniker) Dar— winianer, und das kann man nicht ſein, wenn man ſich vor theoretiſchen und philo— ſophiſchen Erörterungen fürchtet. Werfehlt iſt endlich der Verſuch, Haeckel dadurch vor Semper's etwas plumpen Angriffen zu ſchützen, daß letzterer auf eine Weiſe ) Näheres hierüber vergl. in m. „Bei- trägen zur Descendenztheorie“. Leipz. 1 sa 20 | ſchlecht gemacht wird (S. 105: „S. iſt ein ſog. Muſeumszoolog, d. h. er ſammelt und beobachtet, ſtopft aus und ſetzt in Spiritus“), die nur die gröbſte Unbe— kanntſchaft des Verfaſſers mit Semper's wiſſenſchaftlichen Leiſtungen documentirt, keineswegs aber (was leicht geweſen wäre) die Grundloſigkeit und Häßlichkeit der Sem per'ſchen Angriffe gegen Haeckel darthut. Die zehnte Abhandlung (aus dem „Aus— land“) iſt eine Kritik gegen Baer, die zwar berechtigt und in dem, was ſie aus— führt, richtig genannt werden muß, allein in ihren 6 ½ Seiten natürlich weit davon entfernt bleibt, „alle Hauptgründe, die Baer gegen die Darwindſche Theorie in's Feld führt, zu betrachten und zu beſprechen“, — wie auf der erſten Seite verheißen wird. Zur Widerlegung eines Baer gehört eine gründlichere Studie, als auf 6 ½ Drud- ſeiten geleiſtet werden kann. Der Wieder— abdruck dieſer Abhandlung erſcheint indeß vollkommen gerechtfertigt. Die elfte Abhandlung (aus dem „Athe— näum“) „Der Streit über den Dar— | Literatur und Kritik. nicht nur nicht aufgehoben, ſondern zum erſten Mal wirklich begründet; denn die früheren Definitionen waren alle nichts werth geweſen.““) Es kann, wie ich ſchon ge— | legentlich bemerkt habe, Schriftſtellern, die winis mus“, enthält nur einige Einwände gegen die Descendenz- und Selektionstheorie, die in der landläufigſten Weiſe, und nicht gerade mit viel Glück, discutirt und zurück— gewieſen ſind. In Bezug auf den erſten dieſer Einwände, der ſich um Art und Varietät dreht, hätte ftatt der üblichen Ant- Work; es giebt gar keige Arten“, — die, auf einen mißverſtandenen Ausſpruch Schleiden und Haeckel's hin, von ſolchen Autoren, die nie praktiſch an die Frage herantraten, d. h. nie vergleichend morpho— logiſche Studien über beſtimmte Thier- oder Pflanzenarten anſtellten, breitgetreten wird, — lieber correkt im Sinne der Selektionstheorie erwidert werden ſollen: „Es iſt der Species— begriff durch die Darwin'ſche Theorie ſich auf dieſem Gebiete ergehen wollen, nicht dringend genug empfohlen werden, ſich zuvor z. B. nach dem kleinen Rolle mit dem ABC der Descendenztheorie bekannt zu machen. Noch unglücklicher fällt die Löſung des dem Darwinismus gemachten Vorwurfs der verkappten Teleologie aus, indem die Antwort darauf lautet: „ja, Darwin ſpricht nicht nur figürlich teleologiſch, ſondern denkt auch teleologiſch, und eine teleologiſche Anſicht von dem Wirken der Natur widerſpricht dem in der Wiſſenſchaft herrſchenden Geiſte nicht.“ — Entweder der Verfaſſer legt dem Worte Teleologie einen ganz anderen Sinn bei, als wir, oder ſein zur Schau getragener „Monismus“ iſt ein ganz anders gearteter als der unſrige. 6. Herbert Spencer, „Principien der Biologie“. Band J. Deutſch von Dr. Vetter. Stuttgart. Schweizerbart 1876. — Das Original iſt zwar ſchon älteren Datums (1863 64), allein die 1876 er⸗ ſchienene Verdeutſchung des erſten Bandes bietet Veranlaſſung, das hervorragende Werk an dieſer Stelle zu beſprechen. In dem 544 S. ſtarken Bande wird zuerſt „die organiſche Materie“ und ihre Beziehung zu den ver— ſchiedenen, auf ſie wirkenden Kräfte eingehend und gründlich mit Zugrundelegung einer vorzüglichen Moleculartheorie behandelt (S. 1— 66), dann iſt (S. 69 100) das Leben im Allgemeinen und ſeine Bedingungen einer ebenſolchen Analyſe unterworfen, der noch eine Erörterung der mannichfaltigen ) Ausführliches über dieſen Punkt vergl. in m. Darw. Th. 2. Aufl. Lpz. 1875 S. 215. .... T Aufgaben der Biologie beigefügt iſt (S. 102 115). Darauf folgen die verſchiedenen Lebenserſcheinungen: Das Wachsthum (S. 115 — 143), die Ausbildung (Differencirung der Gewebe) S. 144 165, die Funktionen der Organe (S. 166 — 182), wobei namentlich die Arbeits— theilung Berückſichtigung findet, der Stoff— wechſel (S. 183 - 199) und die Anpaſ— fung S. 200-218. Hier ſei bemerkt, daß nicht „Anpaſſung“ im Sinne der Darwin'ſchen Selektionstheorie gemeint iſt, ſondern „Anpaſſung“ in Lamarck's Sinne, fo daß alfo Spencer's Bezeichnung von 1863 mit Haeckel's „Anpaſſung“ von 1865 übereinſtimmt, nur mit dem Unterſchiede, daß Spencer ihn nicht, wie Haeckel, einfach für den Darwin 'ſchen Begriff ausgiebt, ſondern genau zwiſchen beiden unterſcheidet. Dann folgt eine Erörterung über die „Individualitätsfrage“ S. 219— 226, die durch ihre ungenügende Löſung merkwürdig von den übrigen Kapiteln abſticht und von Haeckel's „Genereller Morphologie“ längſt überholt iſt, was übri— gens auch, doch in geringerem Maße, von der „Fortpflanzung“, S. 227—257, gilt. Vortrefflich aber iſt das Kapitel über die „Vererbung“ (S. 258 — 278), in welchem die Vererbung angeborener ſehr wohl von der Vererbung erworbener Ab— weichungen unterſchieden wird, und ebenſo das Kapitel über die „Variation“ S. 279 — 295. Hier werden die Urſachen der angeborenen (ſpontanen) Variation unterſucht und durch den fortſchreitenden Stoff— wechſel der Eltern und durch ungleiche Vererbung nothwendig begründet gefunden. Die (angeborene) Variation iſt alſo nach Spencer nicht ein „Antagoniſt“ der Erblichkeit. In dieſem Punkte liegt ein Hauptgegenſatz der Darwin'ſchen Selektions— Literatur und Kritik. theorie zur Lamarck-Haeckel'ſchen An— paſſungstheorie, von der die Variabilität lediglich als ein durch äußere Einflüſſe verur— ſachter „Antagoniſt“ der Erblichkeit betrachtet wird, wodurch den Gegnern ſo vielfach leichte Angriffspunkte geboten werden. Nur ſollten die Letzteren dabei nicht überſehen, daß ſolche billigen Siege bei der Darwin'ſchen Se— lektionstheorie — vorbeiſchießen. Es folgt ein überaus intereſſantes Kapitel über Fortpflanzung, Vererbung und Variation (S. 296— 317), in welchem eingehend der labile Gleichgewichtszuſtand der Molecüle in den Organismen als Urſache ihrer Variabilität, und das Streben nach Gleichgewicht als Urſache der Erblichkeit nachgewieſen wird, zugleich mit Hinweis auf hübſche Parallelen bei anorganiſchen Verbindungen. Das Kapitel über die „Claſſification“ (S. 318—337) iſt in der hiſtoriſchen Dar- ſtellung viel zu lückenhaft, um mehr als nur eine flüchtige Skizze zu ſein. Der Schluß deſſelben enthält jedoch einen ſchlagen— den Nachweis, daß die Thatſachen der natür— lichen Syſtematik unabweislich die Ver— werfung iſolirter Schöpfungsakte fordern. Dieſelbe Schlußfolgerung bringt das wichtigere Kapitel über die „geographiſche und paläontologiſche Verbreitung der Organismen“, S. 338 — 357. Daß alle die bis hierher durch Induktion gewonnenen Schlüſſe zuſammengenommen logiſcher Weiſe auf die Descendenztheorie hinführen, ohne eine andere Wahl zu laſſen, unternimmt nun der dritte Theil zu zeigen, der von der „Entwickelung des Lebens“ handelt. Es werden zuerſt ohne jede Vorausſetzung naturhiſtoriſcher That— ſachen, mit dem einfachen Apparate geſunder philoſophiſchen Logik, „Die Hypotheſe von der Species-Erſchaffung“ 241 \ 1 | | | | * (S. 361 376) und „Die Entwickel- „geographiſchen Vertheilung“ und Literatur und Kritik. ungshypotheſe“ einander gegenüber geſtellt. Dieſe beiden Kapitel gehören zu in Bezug auf die genannte Alternative ein— den geiſtreichſten Leiſtungen über dieſe, gegen- wärtig zwar nicht mehr discutirbare Alter— . 4 , | native, doch muß man bedenken, daß dies ſelben vor 14 Jahren publicirt wurden (3. Th. ſogar ſchon 1852), alſo aus einer 0 ) 9 BE ) . Zeit ſtammen, wo der Sieg der neuen Auſchauungen noch keineswegs geſichert war. 9 gs geſich In Rückſicht hierauf ſei es geſtattet, einige treffliche Sätze hier wiederzugeben: „Der Glaube an ſpecielle Schöpfungs— akte gehört zu einer Familie von Anſichten, ſchritt der Wiſſenſchaft zerſtört worden ſind, und er iſt thatſächlich das einzige Glied der Familie, welches unter gebildeten Men— ſchen heute noch ſein Leben friſtet“ (S. 364). „Sobald ein Verſuch gemacht wird, die Idee (der Schöpfungsakte) irgendwie in be— ſtimmte Form zu bringen, ſo ſtellt ſich heraus, daß ſie eine Pſeudo-Idee iſt, die keine beſtimmte Geſtalt verträgt“ (S. 367). „Es iſt dies einer jener Fälle, wo die Menſchen nicht wirklich glauben, ſondern vielmehr glauben, daß ſie glauben. Denn Glauben im eigentlichen Sinne des Wortes verlangt eine geiſtige Wiedergabe des ge— glaubten Dinges. Hier aber iſt eine ſolche geiſtige Wiedergabe niemals möglich.“ „Dieſe bloße Wort-Hypotheſe (Schöpf— ungshypotheſe), welche die Menſchen fälſchlich für eine reale oder denkbare Hypotheſe nahmen, iſt von demſelben Werthe, wie etwa die, wenn man geſtützt auf eine eintägige Beobachtung des menſchlichen Lebens behaupten wollte, daß jeder Mann und jedes Weib beſonders als ſolche geſchaffen worden ſeien.“ Alsdann werden die Thatſachen der „na— türlichen Syſteme“ (S. 389— 398), der „Embryologie“ (S. 399 — 423), der | der „Paläontologie“ (S. 424— 439) gehend geprüft und als entſchiedene Beweiſe für die einzige Möglichkeit der allmäligen Das folgende Kapitel „Urſachen der organiſchen Entwickelung“ (S. 440 — 448) enthält eigentlich nur die hiſtoriſche Einleitung zu dieſem Thema; denn es werden nur Anſichten von Erasmus, Darwin und Lamarck beſprochen und ihre Schwächen aufgedeckt; beiläufig ſind noch Dr. Maillet und die „Vestiges of Creation“ erwähnt. welche eine nach der anderen durch den Fort Dann werden die „äußeren Faktoren“ (S. 449 — 457), nämlich die Veränderungen der kosmiſchen, geologiſchen, meteorologiſchen und organiſchen Lebensbedingungen der Or- ganismen erörtert, nach dieſen die „inneren Faktoren“ (S. 458 — 470), nämlich labiler Gleichgewichtszuſtand der organiſchen | Stoffeinheiten, die Anpaſſung (im genannten Sinne), der Stoffwechſel, die ungleiche Zeug- ung, und endlich die „direkte Ausgleich— ung“, d. h. der direkt modificirende Ein- fluß äußerer Agentien auf die Individuen. Hierbei werden nun diejenigen Organiſations— verhältniſſe hervorgehoben, die von einer ſolchen direkten Anpaſſung auf keinen | Fall beeinflußt reſp. hervorgerufen fein kön— nen. Es läßt ſich das namentlich für alle paſſiven Schutzmittel gegen Feinde, für alle auf die Fortpflanzung Bezug habenden und für zahlreiche andere Ausrüſtungen leicht nachweiſen. „Neben der direkten Aus— gleichung,“ ſchließt daraus unſer Verfaſſer, muß alſo noch eine indirekte Aus— gleichung beſtehen.“ Dieſe indirekte Ausgleichung, die S. 483 — 505 erörtert wird, iſt aber nichts anderes als das „Ueberleben des Paſſendſten“ oder mit anderen Worten die Naturausleſe— Entwickelung der Arten erkannt. | | 0 Literatur und Kritik. 243 m Das Capitel bringt in kurzen Zügen eine der vorzüglichſten und correkteſten Darſtell— ungen der Darwiniſchen Selektionstheorie, namentlich geiſtreich aber und in philoſo— phiſcher Hinſicht wichtig iſt der Nachweis (S. 488 — 504), daß der Proceß der Natur- züchtung „denſelben mechaniſchen Principien unterliegt, wie alle anderen (unorganiſchen) Ausgleich— ungen.“ — Um ſo auffallender iſt es, daß ein ſehr nahe liegendes Verhältniß dem Scharfblick des Verfaſſers verſchloſſen ge— blieben. Während nämlich neben der all— gemein bekannten progreſſiven Naturzücht— ung die von den meiſten Schriftſtellern über— jehene conſervative wenigſtens angedeutet iſt (S. 486), entgeht dem Verfaſſer die re- greſſive Naturzüchtung, — d. h. die Noth—⸗ wendigkeit, daß bei Aufhören der conſer— vativen Züchtung Rückbildung des be— treffenden Organes eintreten muß, — vollſtändig, ſo daß er in den Fehler ver— fällt, die rudimentären Organe „That⸗ ſachen zu nennen, welche Darwin's Hy— potheſe nicht zu erklären vermag.“ Derſelbe Lapſus iſt Wallace, dem Mitbegründer der Selektionstheorie widerfahren, als er die ſog. „nackte“ Haut des Menſchen durch Naturzüchtung nicht zu erklären wußte. Zwei ganz kurze Capitel, „Das Zu— ſammenwirken der Faktoren“ S. 506 — 512, und „Die Con vergenz der Beweiſe“ S. 513-519, recapituliren die beſprochenen Argumente für die Richtig— keit der Descendenz- und Selektionstheorie und beſchließen hiermit den 3. Theil. Als Anhang folgt dann noch eine aus dem Jahre 1868 ſtammende Abhandlung „Ueber die jpontane Generation“ (S. 521 — 530) und „Ueber die Hypotheſe von phyſiologiſchen Einheiten“ (S. 531 — 544), die eine präciſere Faſſung Kosmos, II. Jahrg. Heft 9. und Vertheidigung der früher entwickelten Moleculartheorie enthält, und als ſtreng moniſtiſch und conſequent in der That zu dem beſten bisher auf dieſem Gebiete Ge— leiſteten gehört. Jedenfalls zeichnet ſich Spencer's Moleculartheorie vor den neue- ren Verſuchen, die Uebereinſtimmung zwiſchen organiſchen und anorganiſchen Vorgängen klar zu ſtellen, ſehr vortheilhaft dadurch aus, daß ſie nicht den geläufigen Namen irgend einer complicirten Funktion hoch differencirter Organismen auf die Bezeich— nung der einfachſten Leiſtungen aller nie— deren Organismen, oder aller organiſchen Molecüle oder gar aller Atome ausdehnt. Da ſoll nach Schopenhauer jede Kraft „Wille“ nicht nur heißen, ſondern auch ſein, nach Hering jedes organiſche Mole— cül „Gedächtniß“ beſitzen, nach Zoell— ner jedes Atom „Luſt und Unluſt“ empfinden und nach Haeckel die Summe der Kräfte jedes Atomes „Seele“ benamſt werden! Auf dieſe Weiſe hört die alte Bedeutung der Worte eben auf, ohne daß ihre neue näher definirt wäre, und er— klärt wird daher durch dieſes Verfahren gar nichts; denn das Dehnen einer Be— zeichnung über ihr gewohntes Maß hinaus kann man keine Erklärung nennen. Dieſe Fehler, ſowie jede voreilige Verallgemeiner— ung der neueren und neueſten Reformatoren vermeidet Spencer auf's Sorgfältigſte und ſteht dadurch ebenſo hoch über ihnen, wie die vorzügliche, ftreng moniſtiſche Rede Naegeli's in München über den ebendaſelbſt von Haeckel und Virchow gehaltenen. Von dieſen drei Reden, die wir im Jahresbericht für 1877 zuſammen zu betrachten haben werden, traf die maß— voll, ruhig und objektiv gehaltene Rede Naegeli's den Nagel auf den Kopf, wäh— rend die beiden anderen in übereilter Sub— L 244 jeftivität mehr oder weniger über ihr Ziel hinausſchoſſen. Kreiſen unbekannt geblieben, während letz— tere eine gewiſſe Berühmheit erlangt haben. Das große Publikum wird eben immer mehr durch den Namen des Autors als durch ge— diegenen Inhalt der Schrift angezogen. In Bezug auf die Ueberſetzung des Spencer 'ſchen Buches muß man Dr. Vetter für den fließenden deutſchen Stil ſehr dankbar ſein; denn nicht jede Ueberſetzung aus dem Engliſchen lieſt ſich ſo angenehm. Im Speciellen wäre die Frage zu ſtellen, warum „natural selection“ immer noch mit „natürliche Zuchtwahl“ überſetzt iſt. Da natural history, natural philisopher ete, zu Deutſch „Naturgeſchichte“ und „Natur- forſcher“ heißen, liegt es doch nahe, auch Naturausleſe und Naturzüchtung zu ſagen. 7. Seidlitz, „Beiträge zur Des— cendenztheorie.“ 1. Die chromatiſche Funktion als natürliches Schutzmittel. — 2. Baer und die Darwin 'ſche Theorie. Leipzig, Engelmann. 1876. “) In der erſten Abhandlung (S. 1— 36) wird die ſehr überraſchende, lange bezwei— felte Thatſache, daß bei einigen Thieren die Farbe der Körperbedeckung ſich dem Aufenthaltsorte gemäß mehr oder weniger raſch ändert, eingehend behandelt und auf ihr Zutreffen mit der Erklärungsweiſe der Selektionstheorie geprüft. Während der jähr— liche Farbenwechſel der Haare und Federn, obgleich nur bei wenigen Thieren vorkom— mend, längſt bekannt und als durch Na— turzüchtung erworbenes Schutz— mittel ſeit Darwin erkannt war, hatten die Veränderungen der durch eingelagerte Pigmentzellen bedingten Färbung der Haut bisher nur wenig Beachtung gefunden und | ) Vergl. Kosmos I. ©. 453. Dafür iſt erſtere weiteren Literatur und Kritik. waren für die Selektionstheorie noch nicht verwerthet worden. Als „chromatiſche Funktion“ wird nur ein, ohne willführ- liches Zuthun des Individuums ausgelöſter phyſiologiſcher Vorgang bezeichnet, durch welchen eine vom jeweiligen Zuſtand der Chromatophoren (Pigmentzellen) veranlaßte ſympathiſche (d. h. ſchützende) Färbung bedingt wird. Man kennt gegenwärtig als experimentell feſtgeſtellt die chromatiſche Funktion bei mehreren Fiſchen, Amphibien, Reptilien und einigen Krebſen. Das Faktum dieſes ſym— pathiſchen Farbenwechſels, der in heller Um— gebung eine hellere, im Dunkeln eine dunk— lere Färbung der Thiere verurſacht, war ſchon ſeit einiger Zeit bekannt, aber erſt durch Liſter's Experimente an Fröſchen wurde nachgewieſen, daß daſſelbe eine durch die Augen vermittelte Reflexbewegung der Chromatophoren iſt, und durch George Pouchet's Beobachtungen an Fiſchen die ſpeciellen Nervenbahnen feſtgeſtellt, auf denen die Leitung von den Augen bis zu den be— treffenden Hautſtellen erfolgt. Die zweite Abhandlung (S. 39 — 170) benutzt bei der Vertheidigung der Dar— win 'ſchen Theorie gegen die Angriffe C. E. von Baer's die Gelegenheit, um durch correktere Darſtellung die vielfachen Miß— verſtändniſſe aus dem Wege zu räumen, die meiſt der alleinige Grund und Anhalts— punkt der Oppoſition ſind, und führt zu dieſem Zweck einige präciſere Ausdrucks— weiſen und neue Erklärungswege ein, wo— rüber allein hier berichtet werden ſoll. In der erſten Abtheilung, die der Baer'ſchen „Zielſtrebigkeit“ gewidmet iſt, wird das alte Wort „Zweckmäßigkeit“ beizubehalten empfohlen mit der ſcharfen Unterſcheidung zwiſchen „gewordener“ (d. h. naturhiſtoriſcher) und „bedachter“ Literatur (d. h. teleologiſcher) Zweckmäßigkeit. Für erſtere proponirt neuerdings Moebius das Wort „Dauermäßigkeit“, das ſich ge— wiß zur Einführung empfehlen dürfte. In der zweiten Abtheilung iſt zunächſt der Unterſchied zwiſchen den Begriffen „An— paſſung“ und „Aus rüſtung“ feſtge⸗ ſtellt (S. 123 — 125). Letzterer Ausdruck ſoll die Anpaſſung im Sinne der Darwin'- ſchen Selektionstheorie, d. h. das erblich gewordene Reſultat der Naturzüchtung bezeichnen, während erſterer ausſchließlich der älteren „Lamarck'ſchen Anpaſſung“ (auch in Haeckel's Sinn), alſo dem direkten Reſultat der äußeren Einflüſſe auf die In— dividuen, vorbehalten bleibt. Entſprechend wird auch (S. 73 u. 74) zwiſchen gewiſſen „Anpaſſungs“- und „Ausrüſtungs“- Merkmalen unterſchieden, die in ihrer Erb— lichkeit und Abänderungsfähigkeit von einan— der durchaus abweichen. Von principieller Wichtigkeit iſt der S. 93—95 nachgewieſene Satz: „Die complicirtere Organiſation der höheren Thiere bedingt, daß bei ihnen die Variation der Merkmale durch die conjervative Naturzücht⸗ ung in engeren Schranken gehalten werden muß, als bei niederen Thieren.“ Daſſelbe gilt von der Er— örterung des Unterſchiedes zwiſchen einer Ver— wandlungs- und einer Descendenz— theorie (S. 103). In einer echten Descen— denztheorie, wie z. B. die Selektionstheorie eine iſt, ſollte man gar nicht von „Umwand— lung“ der Arten ſprechen, ſondern ſtets nur von „Umſetzung“ oder von „Erſetzung der alten durch die neue Form“. Viele Mißverſtändniſſe, welche die „Umwandlung“ wörtlich nehmen und die Selektionstheorie daher fälſchlich für eine Umwandlungstheorie halten, hätten dadurch vermieden werden und Kritik. 245 können. Eine Zurechtſtellung des viel- fach mißdeuteten Ausſpruches Darwin's in feiner „Ab ſtammung des Menſchen“, die Tragweite des Principes der Natur- züchtung betreffend, findet ſich S. 109 —111. Im Anſchluß hieran iſt (S. 111—114) eine Erklärung der rein morphologiſchen (d. h. wirklich nutzloſen aber nicht rudi— mentären) Merkmale verſucht. Dieſelbe geht dahin, daß ſolche Merkmale correlative Bildungen ſeien, die irgend einmal als angeborne individuelle Abweichung aufge— treten und als ſelbſt nutzlos nur dadurch bei allen Individuen einer Art allgemein erblich geworden ſeien, daß ſie von gleich— zeitig aufgetretenen nützlichen Abweichungen, bei Eintritt progreſſiver Naturzüchtung, durch gleichzeitige Vererbung („morphologiſche Korrelation“) gleichſam in's Schlepptau genommen wurden. S. 116—119 iſt eine Berechnung der Geſchwindigkeit verſucht, mit welcher, nach den Vorausſetzungen der Selektionstheorie, die Erſetzung einer alten Form durch eine neue („Umwandlung der Art“) erfolgen muß. Nach dieſer Berechnung iſt die Zahl der Generationen, die zum vollſtändigen Siege der neuen Ausrüſtungsform erforder— lich ſind, gleich dem Logarithmus der zu er— reichenden Individuenzahl (Stückzahl der ganzen Art) dividirt durch den Logarithmus der Differenz zwiſchen Propagations- und Vertilgungsexponent der neuen Ausrüſtungs— form. Wenn z. B. bei einer Thierart jedes Individuum 10 Kinder zeugt, und von einer neuen vortheilhaften Variation jedesmal 8 Kinder zu Grunde gehen, ſo bezeichnet alſo log. 2 dividirt in den log. der ganzen Individuenzahl der Art die Anzahl von Generationen, nach deren Verlauf die alte Form vollſtändig durch die neue erſetzt ſein wird. Trifft dieſer 5 246 Proceß progreſſiver Naturzüchtung nur einen abgeſonderten Individuencomplex, ſo wird er, der geringeren Individuenzahl entſpre— chend, um ſo raſcher vollendet ſein (Art— ſpaltung durch Separation). Um bei dieſer die Hälfte der Kinder die Merkmale des Vaters, und die Hälfte die Merkmale der Mutter erben, und ſind die Kinder ſtets nur unter der Kategorie gezählt, deren alledem behauptet Herr Prof. Wigand, die „Wirkung der Kreuzung ſei ganz außer Rechnung gelaſſen“ ), und der Anſatz daher „auf Koſten der Wahrheit“ fehlerhaft! Iſt das Flüchtigkeit oder Böswilligkeit? Wenn, wie zu hoffen, nur erſteres, ſo darf man erwarten, daß er ſich nachträglich von ſeinem Irrthum überzeugen und die Richtigkeit der Rechnung nachträglich anerkennen wird. Die Reihenfolge der Umbildungsvor— gänge bei progreſſiver Naturzüchtung wird S. 120— 122 erörtert und folgendermaßen dargeſtellt: 1. Uebervölkerung, 2. Ge— wohnheitswechſel, 3. Funktions- wechſel. Der Gewohnheitswechſel geht alſo dem Funktionswechſel voraus, gleichwie der Dilettantismus der Profeſſion. | Ein ſehr allgemein, auch unter Darwi— nianern verbreiteter Irrthum, daß nämlich Darwin in ſeinem erſten epochemachenden Werke ſeine Theorie nicht auf die Abſtammung des Menſchen ausgedehnt habe, wird S. 146-147 dadurch berichtigt, daß 5 Citate | aus der erften Auflage der „Entſtehung der Arten“ herangezogen werden, in denen Darwin gerade den Menſchen, Homo sapiens Linné, als Bei⸗ | Die Darwin'ſche Theorie u. die Natur Cuvier's u. Newton's. III. Bd. 1877. S. 320. Berechnung auch der Kreuzung genügend Merkmale ſie geerbt haben. Trotzdem und Rechnung zu tragen, iſt ausdrücklich an- genommen, daß bei geſchlechtlicher Zeugung Literatur und Kritik. ſpiel und als Beweis für ſeine Ausführungen ausdrücklich und namentlich nennt. Eine längere Erörterung (S. 149 — 154) iſt der Frage gewidmet, ob bei der Wahl eines Namens für ein Organ die phyſio— logiſche oder morphologiſche Bedeutung deſ— ſelben zu berückſichtigen ſei, und wird mit Baer, gegen Huxley und die neueren Anatomen, vom Standpunkte der Descendenz— theorie zu Gunſten der phyſiologiſchen ent— ſchieden. Mit Zugrundelegung dieſer Termi— nologie werden dann (S. 156 — 158) die Gründe auseinandergeſetzt, die dafür ſprechen, daß die Vorfahren des Menſchen an den Hinterextremitäten echte Hände beſaßen, die in Folge von Gewohnheitswechſel durch Funktionswechſel bei den Nachkommen all— mälig durch echte Füße erſetzt wurden. Zum Schluß wird S. 160—163 Dohrn's Abhandlung über den Funktions- wechſel beſprochen und gegen die Angriffe Haeckel's vertheidigt. (Fortſ. folgt.) Ernſt Haeckel, Geſammelte popu— läre Vorträge aus dem Gebiet der Entwickelungslehre. Erſtes Heft. Mit 50 Abbildungen im Texte und einer Farbendrucktafel. Bonn, Emil Strauß, 1878. 181 Seiten in 8. Wenn einerſeits die große Klarheit und Verſtändlichkeit dieſer ſämmtlich vor gemiſchten Hörerkreiſen gehaltenen Vorträge ſie beſonders eignet, auch gemiſchten Leſer— kreiſen zur Einführung in das Gebiet der Entwickelungslehre zu dienen, ſo hat dieſe Sammlung andrerſeits auch für eingeführte Leſer ein eigenes hiſtoriſches Intereſſe. Der erſte dieſer fünf Vorträge, welcher „Ueber die Entwickelungslehre Darwin's“ handelt, iſt nämlich derſelbe, mit welchem Haeckel die Darwin'ſche Theorie zum erſten Male in einer deutſchen Naturforſcher-Verſammlung (19. September 1863 in Stettin) zur Sprache brachte. Dem zweiten und dritten Vortrage, die im Jahre 1865 zu Jena ge— halten wurden, wohnt ein ähnlicher Sammler— werth bei. Sie handeln von der Entſtehung und dem Stammbaum des Menſchenge— ſchlechtes und gehören zur Keimesgeſchichte oder Ontogeneſe der Anthropogenie. Der vierte Vortrag über Arbeitstheilung im Natur- und Menſchenleben hat früher eine Reihe von Abdrücken in der Virchow— Holtzendorf'ſchen Sammlung erlebt, er— ſcheint aber hier in einer neuen, durch zahl— reiche und beſſere Holzſchnitte anſchaulicher gemachten Geſtalt. Vortrage über Zellſeelen und Seelenzellen, der bereits im laufenden Jahrgange der Deutſchen Rundſchau (aber ohne Abbildungen) erſchienen war und der Anſchauung der meiſten neueren Biologen Ausdruck giebt, daß wenn auch nur die Zellen des Gehirnes vom Be— wußtſein durchleuchtet ſind, doch im Eiweiß aller Zellen eine ſeeliſche Thätigkeit lebendig ſein muß. Einer beſonderen Empfehlung dieſer Vorträge bedarf es wohl beiunſern Leſern nicht, nur dem Wunſch nach baldiger Fortſetzung der Sammlung möchten wir Ausdruck geben. Prof. Dr. Vitus Graber, die Inſekten. Erſter Theil: Der Organismus der Inſekten. 403 Seiten in 89 mit 800 Original-Holzſchnitten. Zweiter Theil. Erſte Hälfte: Vergleichende Lebens— geſchichte der Inſekten. 261 Seiten mit 36 Original-Holzſchnitten. München, R. Oldenbourg 1877. Unter den eben nicht ſparſamen deut— ſchen Inſekten-Werken, die für das allge— meine Publikum beſtimmt ſind, dürfte dieſes Werk, wenn es vollendet ſein wird, viel— leicht die erſte Stelle einnehmen. Die Daſſelbe gilt von dem Literatur und Kritik. meiſten unſerer Inſektenwerke ſind entweder vom Standpunkte des Sammlers oder, wie die Taſchenberg'ſchen, von dem des Gärtners oder Oekonomen geſchrieben. Ob ein Inſekt dem Menſchen nützlich oder ſchäd— lich iſt, das iſt die Hauptſache, um die ſich die geſammte Darſtellung dreht, die überdies den contemplativen, frömmelnden Ton, wel- chen Swammerdam und Bonnet in die Inſektenkunde gebracht haben, nicht los werden kann. Die Graber 'ſchen Werke ſind von einem durchaus vorurtheilsfreien, modernen Standpunkte geſchrieben und be— ruhen größtentheils auf eigenſtem Studium des anatomiſchen Baues und der allgemei— nen Lebensgeſchichte. Wir begegnen dabei nicht mehr den althergebrachten Holzſchnitten, ſondern lauter Originalzeichnungen, unter denen die große Mehrzahl, namentlich alle diejenigen, welche der Anatomie der Inſek— ten gewidmet ſind, vortrefflich gezeichnet und geſchnitten ſind. Das hoffentlich bald abgeſchloſſen vorliegende Werk bildet den XXI. und XXII. Band der unter dem Namen „Die Naturkräfte“ erſcheinenden naturwiſſenſchaftlichen Volksbibliothek, deren billiger Preis bei ſo ausgezeichneten Leiſt— ungen wahrhaft erſtaunlich iſt. Alfred R. Wallace, die Tropen- natur und andere Aufſätze. London, 1878.3) Unter dieſem Titel hat der berühmte Mitbegründer der Selektionstheorie mehrere zum Theil ſchon früher in Zeitſchriften veröffentlichte Aufſätze zuſammengeſtellt und als ſelbſtſtändige Werke erſcheinen laſſen, die unter einander nur in loſem Zuſammen— hange ſtehen. Der wichtigſte dieſer Auf— ) Tropical Nature and other essays. By Alfred R. Wallace. London, Macmillan and Co. 1878. XIII. 356 S. 8 0. 247 0 5 248 ſätze, über die Farbe der Thiere (Cap. 5), iſt im Kosmos vollſtändig mitgetheilt worden; der Inhalt der übrigen ſoll hier kurz an— gedeutet werden. Im erſten Capitel ſind die phyſiſchen Eigenthümlichkeiten der äquatorialen Zone zuſammengeſtellt und erklärt, im zweiten die hervorſtechendſten charakteriſtiſchen Pflan— zenformen lebensfriſch geſchildert und in ihre mannigfache Anwendung verfolgt (Wald— bäume, Kletterpflanzen, Palmen, Farne, Ingwer und Bananen, Arum, Pandana— ceen, Orchideen, Bambus, Mimoſeen), dabei wird die verhältnißmäßige Spärlichkeit augenfälliger Blumen in der heißen Zone ausdrücklich hervorgehoben. Das dritte Capitel behandelt nicht minder anregend und gemeinverſtändlich, mit möglichſter Vermeid— ung aller ſyſtematiſchen Namen, das Thier— leben der Tropenwälder, insbeſondere In— ſekten und Vögel; von erſteren namentlich Tagfalter, Bienen, Wespen und Ameiſen, die Wechſelbeziehungen zwiſchen letzteren und den Pflanzen, die Blatt- und Stabheu— ſchrecken; von letzteren Papageien, Tauben, Spechte, Kukuke, Bartvögel, Pfefferfreſſer und Singvögel, außerdem Reptilien und Froſchlurche und von den Säugethieren Affen und Fledermäuſe. Im vierten Ca⸗ pitel werden zur Veranſchaulichung der Farbenpracht der Tropennatur die Colibris von den verſchiedenſten Geſichtspunkten aus betrachtet. Damit ſchließt die Behandlung des erſten Themas, die auf jeder Seite den ſcharfſichtigen Naturforſcher erkennen läßt, der ſelbſt eine Reihe von Jahren be— obachtend in den Tropenländern beider Hemiſphären gelebt hat. Die beiden folgenden Capitel behandeln die Farben in der lebenden Natur, und zwar enthält das fünfte den den Leſern des Kosmos bereits bekannten Aufſatz über die oberfläche zum Gegenſtande hat. H. M. Literatur und Kritik. ee Farbe der Thiere und geſchlechtliche Aus— leſe, das ſechſte eine Abhandlung über die Farben der Pflanzen und den Urſprung des Farbenſinnes. In dieſem Capitel werden nicht nur die anlockenden Farben der Blumen und Früchte beſprochen, ſondern auch ein— zelne Beiſpiele ſchützender und nachahmender Färbung im Pflanzenreiche beigebracht. Das „Stein-Meſembryanthemum“ des Caps der guten Hoffnung z. B. gleicht an Form und Farbe genau den Steinen, zwiſchen denen es wächſt, und entgeht dadurch ge— wöhnlich der Aufmerkſamkeit der weidenden Thiere. Eine Labiate Ajuga Ophrydis in Süd⸗Afrika gleicht in ihrer Blüthe auf— fallend einer Orchidee und lockt dadurch vielleicht ihre Kreuzungsvermittler an (7). Haſelnüſſe und andere Früchte, deren Kern verzehrt wird, erfreuen ſich, ſo lange ſie am Baum ſitzen, in der Regel einer Schutzfärb— ung. Am Schluſſe dieſes Capitels beſpricht der Verfaſſer die Entſtehung des Farben— ſinnes in einer für ihn ſehr charakteriſtiſchen Weiſe, indem er, im Einklange mit ſeiner Auffaſſung der geſchlechtlichen Ausleſe im fünften Capitel, die Fähigkeit, durch Farben angenehm erregt zu werden, den Thieren überhaupt abſpricht und ſie als ausſchließlich dem Menſchen von einem höheren Weſen auf übernatürliche Weiſe beſcheertes Gnaden- |, geſchenk betrachtet. | Die beiden letzten Kapitel endlich ent— halten zwei bereits früher in der Nature veröffentlichte Aufſätze, von denen der erſtere außer verſchiedenen anderen biologiſchen Auf- ſätzen namentlich die Beziehungen zwiſchen Inſelpflanzen und Inſekten erörtert (worüber bereits im bot. Jahresbericht für 1876 S. 941 berichtet worden iſt), der letztere die geographiſche Verbreitung der Thiere als Be— weis ſtattgehabter Veränderungen der Erd— Offene Briefe und Antworten. Geehrte Redaktion! ca iur Ihre kritiſchen Bedenken S. 34 Fu. flgde. bemerke ich Folgendes: Alle Species waren einmal Ab- normitäten früherer Thier- bez. Pflanzenformen und erhielten ſich, ſo weit ſie anderen paſſenden Lebensformen begeg— neten. Es erſcheint mir daher minder richtig, von heute herrſchenden Formen ſo ſtreng auf frühere, von heutigen conſtant gewordenen Ausnahmezuſtänden auf ehe— malige Verhältniſſe rigoros zu folgern; nur die jetzigen allgemeinen biologiſchen Erſchein— ungen und ihre Geſetzmäßigkeiten dürfen uns zur Reconſtruktion früherer Zuſtände dienen, und wenn ſolchen Annahmen die Thatſachen entſprechen, haben wir erſt richtige Erklär— ungen geliefert. Beurtheilt man die Sache derart, fo wird man mir kaum den Vor— wurf ungewöhnlicher Folgerungen machen können. S. 35 betr. Mit dieſer allerdings üblicheren Folgerung können wir die Ent— ſtehung der Steinkohlenfelder, ſowie über— haupt die S. 45 aufgezählten Thatſachen nicht erklären. Uebrigens ſind die Rhizo— carpeen,*) von denen Azolla und Salvinia ) Anmerkung der Redaktion. Die ſchwimmenden Rhizokarpeen, welche den Stein— | kohlenpflanzen bei Weitem nicht jo nahe ver- ſtets und Marsilea zuweilen ſchwimmen, inſofern als Verwandte der Steinkohlen— pflanzen aufzufaſſen, als fie eine Mittel- ſtufe zwiſchen den zahlreichen Formen aus— geſtorbener carboniſcher Gefäßkryptogamen einnehmen. — Ich erinnere z. B. an die verwandten Noeggerathien, von denen ihr Monograph Grand' Eury in ſeiner kürzlich erſchienenen Arbeit ſagt, daß es dichte Gehölze bildende Waſſerpflanzen waren, die gleichzeitig theils fluthend und ſchwim— mend, theils luftliebend waren. Daß von ehemals ſchwimmenden Gefäßkryptogamen jo wenig erhalten blieben, reſultirt ja noth— wendig daraus, daß alle rein ſchwimmenden Pflanzen dem Ocean zugeſchwemmt werden und dort ſpäter ausſterben mußten. Die etwas beblätterten Rhizome mancher Farne, die ſich zuweilen in lockerer Walderde, meiſt aber oberirdiſch laufend oder kletternd fin— den, ſcheinen mir, weil ſie chlorophylllos ſind, meine Annahme nur zu bekräftigen; da näm— lich Rhizome nur in der Erde mehr oder weniger blattlos gewordene Stämme ſind, können ſie nicht primitiv ſein; wenn Stämme unterirdiſch werden, verlieren ihre Blätter, ſo weit ſie überhaupt ſich erhalten, die Farbe und mit dem Chlorophyll auch die wandt find, als viele heute lebende echte Farne, Lycopodiaceen und Schafthalme, die alle in Sumpf- und Walderde wachſen, ſind as DE Offene Briefe und Antworten. 250 Eigenſchaft zu aſſimiliren, alſo die Funktio— nen der Blätter, welche die Exiſtenz der Pflanzen bedingen; Blätter können über— haupt nicht in der Erde erworben ſein. Die Lepidodendren und Sigillarien ſtellt man aber zu den Lycopodien und Selagi— nellen und ſie dürften daher, ebenſo wie die letzteren, nur grüne Blätter gehabt haben, die zugleich bei letzteren nie in der Erde ſich finden. S. 38 betr. Von Korallen leben die kalkloſen Verwandten Hydra und Cordy- lophora, welche Haeckel als kaum ver— änderte Nachkommen der marinen Urpolypen aus präcarboniſcher Zeit hinſtellt, im Süß— waſſer; außerdem giebt es in letzterem auch Vertreter von anderen heutigen ausge— prägten Salzwaſſerbewohnern, z. B. von Tangen, Spongien, Rhizopoden, Polyeiſti— nen, Bryozoen; und wenn ſich von Cri— noiden, Brachiopoden, Cephalopoden keine meiner Anſicht nach im Gegentheil der Hypo— theſe vom ſchwimmenden Steinkohlenwald feindlich, da ſie uns zeigen, wie ganz anders wirkliche Waſſer-Anpaſſungen aus der Gruppe der Filicales organiſirt ſind. Namentlich lehr— reich erſcheinen in dieſer Beziehung die Sporen— behälter der Rhizokarpeen, die im Waſſer reifen können, und denen nichts Aehnliches bisher aus den Steinkohlenfunden entgegen— geſtellt werden konnte. Die Sporogonien ſämmtlicher bekannten Steinkohlenpflanzen ſind Luft⸗Sporogonien, deren ausſchließliche Ausbildung, im Gegenſatze zu den Waſſer— Sporogonien der Tange, bei Pflanzen, welche nie den ſichern Mutterſchoß des Meeres ver— laſſen haben ſollen, um ſo befremdlicher er— ſcheinen müßte, als Winde zur Verbreitung der Sporen überflüſſig geweſen wären und damals nach Anſicht des Herrn Verfaſſers überhaupt nicht geweht haben ſollen. Eine Süßwaſſervertreter finden ſollten, jo dürfte die Erklärung genügen, daß ſie wenig wanderungsfähig ſind und ſich in fließen— den, ärmeren Süßwaſſern nicht anpaſſen konnten. Uebrigens waren Crinoiden und Brachiopoden früher viel häufiger als jetzt, wie auch die älteren Korallen noch nicht riffbauend waren. Für dieſe Veränderun⸗ gen und das gänzliche Ausſterben vieler früherer Waſſerthiere giebt die ſpätere Ver— ſalzung der Oceane eine leichte Erklärung. Die Folgerung, daß conſtant gewordene Abnormitäten, wie Salzthiere und Salz— pflanzen, frühere ſalzige Oceane beweiſen, wäre ebenſo unberechtigt, als wenn man aus dem ausgeprägt üppigeren polaren Vorkommen der Tange auf eiskalte älteſte Oceane ſchließen wollte. Leipzig ⸗Eutritzſch. Mit Hochachtung Dr. Otto Kuntze. zweite Schwierigkeit würde ſich in Betreff der Land-Ueberſiedelung erheben, wenn man die Steinkohlenpflanzen den vollſtändig an- gepaßten Waſſerfarnen vergleichen wollte. Die letzteren können in ſehr zahlreichen Arten nicht allein im Sumpfboden, ſondern in verhältniß— mäßig trockener Gartenerde cultivirt werden, jo daß man nicht nur das frühe Ausſterben der Steinkohlenpflanzen nicht wohl von der Un— möglichkeit der Ueberſiedelung ableiten kann, ſondern auch verſucht wird anzunehmen, die Waſſeranpaſſung der genannten kleinen Farn— gruppe ſei, ſo vollkommen ſie auch ſein mag, neueren Datums. Die älteſte Marſilia-Art, welche man gefunden hat (Marsilia Marioni Braun), entſtammt den oberſten Tertiärſchich— ten, und ebenſo reichen die foſſilen Pilularia-, Salvinia- und Isoötes-Arten, welche man kennt, nicht eben weit zurück in der Erd— geſchichte. K. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Philoſophiſche Betrachtungen über die Aebularhypotheſe. Von Carl du Prel. nſere Bewegungen beim Gehen — und überhaupt die Orts⸗ bewegungen der Thiere — ge— ſchehen nach feſten Regeln, ob— wohl wir uns derſelben in der Ausführung keineswegs bewußt find, ja ob- wohl die wenigſten Menſchen ſie auch nur kennen. Dieſe Regeln werden beſtimmt nach dem Princip der geringſten Muſkelanſtrengung. Je ökonomiſcher der Körper dabei verfährt, je größer ſeine relative Ruhe innerhalb der Locomotion iſt, deſto zweckmäßiger ſind ſeine Bewegungen, aber auch deſto ſchöner nennen wir ſie. Auch bei anderen körperlichen Fer— tigkeiten, beim Reiten, Fechten, oder bei den Bewegungen des Trapezkünſtlers erkennt man, daß Zweckmäßigkeit und Schönheit ſich decken; während der Anfänger durch Unbeſtimmtheit der Bewegungen und den Mangel an Eleganz derſelben ſich verräth, thut ſich der Geübte durch Vermeidung aller überflüſſigen und durch Beſchränkung auf die einfachſten und zweckmäßigſten Bewegungen hervor. Es iſt nicht anders in den Funktionen des menſchlichen Geiſtes, wenn er ſich etwa Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. | bemüht, ein mechaniſches Problem zu löſen. Die Geſchichte der Mechanik beweiſt den Fortgang vom Complicirten zum Einfachen; wir brauchen nur unſere Taſchenuhren mit den ehemaligen Nürnberger Eiern zu ver— gleichen. Zwar werden immer complicirtere Probleme erſonnen, immer complicirtere Me- chanismen conſtruirt; aber die Löſungsver— ſuche der Probleme werden immer einfacher, es zeigt ſich der Fortſchritt als immer größere Oekonomie in der Verwerthung uatürlicher Kräfte, und höchſt ſelten nur iſt der erſte Löſungsverſuch auch der einfachſte, von welchem nicht mehr abzugehen wäre. Wie Maſchinen, ſo werden aber auch die Theorien immer einfacher, welche wir auf— ſtellen, die irdiſchen Erſcheinungen oder das Gefüge des großen Kosmos zu erklären, und immer ſind es erſt die einfachſten, welche die ganze Erklärung liefern. Im Fetiſchis⸗ mus und Wunderglauben liegen unzweck— mäßige Funktionen des menſchlichen Geiſtes, der nach Art eines Anfängers im Fechten unökonomiſch verfährt und darum compli— cirtere Theorien aufſtellt, als etwa ein natur— wiſſenſchaftliches Lehrbuch; dem Syſtem des 33 252 Polytheismus gegenüber ift der auf einer großen Abſtraktion des menſchlichen Geiſtes beruhende Monotheismus viel einfacher und kommt einer wirklichen Erklärung viel näher. Das Syſtem des Copernicus iſt einfacher und wahrer, als das des Ptolemäus, das ſo verwickelt war, daß König Alphons von Caſtilien (1252) ſagte, er würde eine größere Einfachheit gewählt haben, wäre er bei der Schöpfung zu Rathe gezogen worden. Das Gleiche gilt von der Gravitationstheorie Newtons im Vergleich mit der Wirbeltheorie des Carteſius. Die Wahrheit iſt immer einfacher, als die ihr vorausgegangenen Hypotheſen. Darum ſcheint es faſt ein Geſetz in der geiſtigen Entwickelung der Menſchheit zu ſein, daß wir nur durch Irrthum zur Wahrheit ge— langen. Dies könnte nicht ſein, wenn nicht, wie bei phyſiſchen Fertigkeiten, ſo auch im Geiſtigen, die ökonomiſche Funktion ſchwie— riger wäre, als die verſchwenderiſche. In mathematiſchen Problemen kann man auf großen Umwegen die richtige Löſung finden; aber ſchwieriger ſind jene Löſungen, an welchen der Mathematiker die „Eleganz“ lobt. Indeſſen bedenken wir dieſes nicht immer, glauben vielmehr, complicirte Hypotheſen ſeien ſchwieriger zu erſinnen, als einfache, und darum — wie Göthe ſagt — „ärgert es die Menſchen, daß die Wahrheit jo ein- fach iſt.“ Bemächtigt ſich ein Genie eines Pro— blems, dann verfährt es mit großer Zweck— mäßigkeit, d. h. mit großer Oekonomie des Geiſtes, und hier decken ſich Zweckmäßigkeit und Wahrheit; es verfährt nach dem Princip des kleinſten Kraftaufwandes, wie es auch das Genie des Künſtlers thut, wenn es, unbewußt nach der Ariſtoteliſchen Regel ver— fahrend: „Die Kunſt iſt die gereinigte Wirk— lichkeit“, alles überflüſſige Beiwerk verſchmäht, du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. um das Weſen der Erſcheinung, das er offenbaren will, in größter Schmuckloſigkeit darzuſtellen. Die Thatſachen der Natur und die lo— giſche Verknüpfung derſelben — dies ſind die einzigen Hilfsmittel des Geiſtes, der einem ihm vorliegenden Probleme nachſinnt. Je ökonomiſcher er angelegt iſt, deſto we— niger Thatſachen werden ihm genügen, und deſto mehr wird die logiſche Verknüpfung, die er mit denſelben vornimmt, in Ueber— einſtimmung ſtehen mit ihrer realen DVer- knüpfung. Frei waltet der Geiſt nicht in Bezug auf die Thatſachen, denen er keine Gewalt anthun darf, ſondern nur in dieſer Verknüpfung derſelben, und weil die ver— bindenden Glieder oft unbekannt ſind, ſo iſt es eine Art wiſſenſchaftlicher Phantaſie, welche dabei nöthig iſt; je einfacher aber die Wege ſind, auf welchen ſie gleichſam das Werden der zu erklärenden Erſcheinungen der Natur nach— dichtet, deſto näher kommt ſie der Wahrheit. Dieſe Genügſamkeit an Thatſachen iſt es, wodurch ſich das Genie auszeichnet. Mit großer ſynthetiſcher Anlage begabt, anticipirt es gleichſam die Löſungszeit der Probleme, indem es die oft mangelhaften Erfahrungs— thatſachen unter theilweiſer Ergänzung der— ſelben durch ſeine wiſſenſchaftliche Phantaſie jo verbindet, daß ſubjektive und reale Ver— knüpfung ſich decken. Wie ſich alſo in der ganzen Beſchaffen⸗ heit des menſchlichen Intellekts, der die Formen der Wirklichkeit als Erkenntnißformen in ſich trägt, ſeine Anpaſſung an die Rea⸗ lität zeigt, ſo verräth ſich ſein Streben nach Anpaſſung auch in den Funktionen, die er zur Erklärung der Wirklichkeit anwendet. Er wird logiſch vor Allem inſofern ver— fahren, als er in feinen Theorien Wider- ſprüche vermeidet, da ſolche real nicht ge— geben ſein können; ſodann aber wird er du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. beſtrebt fein, alle ſubjektiven Zuthaten hin⸗ wegzulaſſen, womit die Vorſtellung der Welt beſchwert werden könnte. Denn je geringer dieſes ſubjektive Beiwerk iſt, je mehr wir uns rein auf das beſchränken, was die Natur ſelbſt ausſagt, d. h. je mehr wir auf dem Gebiete der reinen Erfahrung bleiben, deſto mehr wird unſere Vorſtellung mit der Wirk— lichkeit harmoniren.“) Das ökonomiſche Ver— fahren des menſchlichen Geiſtes wird ſich aber auch darin kundgeben, daß er nach Möglichkeit den Pluralismus der Principien vermeidet. Darum ſagt Kant, daß die Vernunft in der Erforſchung der Dinge „ſyſtematiſche Einheit mannichfaltiger Kräfte vorausſetze, da beſondere Naturgeſetze unter allgemeineren ſtehen, und die Erſparung der Principien nicht blos ein ökonomiſcher Grund— ſatz der Vernunft, ſondern inneres Geſetz der Natur wird.“ *) In einem anderen Sinne freilich können dem Verſtande die ſubjektiven Zuthaten oft nicht erſpart werden, dann nämlich, wenn die Summe der Erfahrungsthatſachen, in deren logiſcher Verbindung die reale Ver— bindung wiedergegeben werden will, Lücken aufweiſt, welche der Verſtand ſelbſtthätig zu ergänzen hat; aber auch dann wird er nach den angegebenen Grundſätzen der Oekonomie verfahren, indem er die Verbindung auf dem kürzeſten Wege und nur durch ſolche Kräfte herſtellt, welche anderweitig in der Erfahrung gegeben ſind. Du Mont erklärt ſehr richtig den Zuſammenhang zwiſchen dem wiſſenſchaft— lichen und demokratiſchen Fortſchritt unſerer Tage aus der demokratiſchen Natur der in- *) Siehe die vortreffliche Abhandlung von Avenarius in der „Zeitſchrift für wiſſen— ſchaftliche Philoſophie“ I. 484 — 486. ) Kritik der reinen Vernunft. Ausgabe von Kehrbach, S. 507. 253 duktiven Methode.?) Und in der That hat ſchon Baco gejagt: „Meine Weiſe, die Wiſſenſchaften aufzuſuchen, iſt ſo beſchaffen, daß der Schärfe und Stärke des Geiſtes nicht viel übrig gelaſſen wird, vielmehr ſtellt ſie die Geiſter und Anlagen einander gleich.““ “) Daß aber der Empirie je die Philoſophie entbehrlich werden könne, iſt nicht zu er⸗ warten, weil ſelbſt das vollſtändigſte Material von Thatſachen an ſich nichts nützt, ſondern erſt die ſynthetiſche Verbindung derſelben eine Erklärung liefert. Auch wußte dies Baco ſehr wohl, da er ſelbſt das ſchöne Gleichniß ausſpricht: „Diejenigen, welche die Wiſſenſchaft bearbeiten, waren entweder Em⸗ piriker oder Dogmatiker. Jene ſammeln und verbrauchen nur, wie die Ameiſen; Letztere aber, welche mit der Vernunft beginnen, ziehen wie die Spinne das Netz aus ſich ſelbſt heraus. Das Verfahren der Bienen ſteht zwiſchen Beiden; dieſe ziehen den Saft aus den Blumen in Gärten und Feldern, aber behandeln und verdauen ihn durch eigene Kräfte. Aehnlich iſt das Geſchäft der Philoſophie: es ſtützt ſich nicht aus- ſchließlich auf die Kräfte der Seele und es nimmt den von der Naturkunde und den mechaniſchen Verſuchen gebotenen Stoff nicht unverändert in das Gedächtniß auf, ſondern verändert und verarbeitet ihn im Geiſte. Deshalb können auf das engere und feſtere Bündniß beider Vermögen, des verſuchenden nämlich und des denkenden, was bis jetzt noch nicht beſtanden hat, die beſten Hoffnungen gebaut werden.“ ***) Es wird darum immer das Geſchäft der ſynthetiſchen Anlage ſein, Principien auf⸗ zuſtellen, welche eine große Summe von ) Der Fortſchritt im Lichte der Lehren Schopenhauer's und Darwin's. S. 13. * Nov. org. I. art. 61. e) Ibidem I. art. 95. 254 Erſcheinungen in organiſche Verbindung brin— gen; und wenn es ſich um Theorien handelt, welche in großen Zügen das Gefüge der Welt entwerfen, dann wird eine ſolche Auf— gabe nicht geleiſtet werden können von einem blos zur induktiven Thätigkeit tauglichen Verſtande, dem die Welt der Erſcheinungen in ihre unvermittelten Beſtandtheile ausein— anderfällt, ſondern nur von einem Verſtande, in welchem die Erfahrungsthatſachen gegen— ſeitig Licht auf einander werfen, und dem ſchon eine geringe Anzahl von Erſcheinungen ſo beredtſam wird, daß der Zuſammenhang der Dinge ſich ihm offenbart. Ein ſolcher Geiſt war Kant, als er die Nebularhypotheſe erſann, die erſt 40 Jahre ſpäter auch von Laplace, aber weniger ausführlich, aufgeſtellt wurde. Nur die große Genügſamkeit an Thatſachen, die in ſeinem Geiſte lag, konnte ihn bei der großen Mangelhaftigkeit des empiriſchen Ma— terials ſchon damals zur Löſung des Pro— blems befähigen. Er hatte große Lücken ſubjektiv zu ergänzen und hat eine geringe Summe bekannter Erſcheinungen mit größter Oekonomie verwerthet. Um ſo leichter aber kann es nun den— jenigen, welche auf ſeinen Schultern ſtehen, wenn ſie nach den Principien des Meiſters verfahren, gelingen, in den von ihm ge— zeichneten Rahmen auch das ſeither ſo reichlich angewachſene Material von Erfahrungsthat— ſachen einzufügen und hierdurch eine neue Beſtätigung dafür zu liefern, daß Kant zu jenen Bevorzugten gehörte, vor welchen die Dinge ſich entſchleiern, wie einſt die franzöſiſchen Damen vor ihren Königen. Die Methode, welche dabei einzuhalten iſt, iſt folgende: 1. Wir dürfen in der Erklärung nur ſolche Kräfte vorausſetzen, welche an irdiſchen Erſcheinungen wahrnehmbar ſind. Wir haben du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. es im ganzen Univerſum mit der gleichen Materie zu thun, die alſo auch den gleichen Geſetzen unterworfen ſein muß, weil die Gleichheit in der Reaktionsweiſe der Materie eben es iſt, was wir Geſetze nennen. 2. Der Einheitlichkeit des Weltganzen muß die Einheitlichkeit in der Vorſtellung der Geneſis entſprechen. Eine theoretiſche Geſchichte des Kosmos muß alle Erſchein— ungen des Himmels gleichmäßig umfaſſen, und zwar müſſen dieſelben nach irdiſchen Geſetzen aus einander ableitbar ſein. Der analytiſche Theil der Aufgabe be— ſteht alſo darin, das geſammte Material der empiriſchen Thatſachen namhaft zu machen. Der ſynthetiſche Theil der Aufgabe be— ſteht darin, dieſe Erſcheinungen in ſolcher Reihenfolge zu ordnen, daß hieraus eine möglichſt continuirliche naturwiſſenſchaftliche Cauſalreihe ſich ergiebt. Der wiſſenſchaftlichen Phantaſie endlich fällt die Aufgabe zu, die in dieſer Cauſal⸗ reihe eventuell vorhandenen Lücken durch ſolche Zwiſchenglieder ſubjektiv zu ergänzen, welche nach irdiſchen Geſetzen möglich ſind und welche die Lücke ganz ausfüllen. Da die im analytiſchen Theile aufzu⸗ zählenden Erſcheinungen im ſynthetiſchen Theile alle wiederkehren müſſen, nur daß ſie eine andere Reihenfolge erhalten, ſo laſſen ſich beide Aufgaben vereinigen — wäre es auch nur der Raumerſparniß wegen —, daß nur die genetiſche Darſtellung gebracht wird, und die objektiven Thatſachen darin durch beſon— deren Druck hervorgehoben werden. Die Vorfrage, von welcher der empiriſch gegebenen Erſcheinungen in der genetiſchen Darſtellung ausgegangen worden ſoll, iſt dahin zu beantworten, daß dieſes gleichgiltig iſt; denn da eine naturwiſſenſchaftliche Cau— ſalreihe ſich herausſtellen ſoll, jo können wir von den gegebenen Erſcheinungsformen der du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. Materie eine beliebige herausgreifen, und indem wir die irdiſchen Geſetze auf ſie ein— wirken laſſen, können nur die ſpäteren Entwickelungsſtadien ſich anreihen laſſen; die übrigbleibenden Glieder verrathen ſich ſodann eben hierdurch als ſolche, welche der willkührlich gewählten Anfangsform voran- zuſtellen ſind. Indeſſen wiſſen wir, daß in aller Ent- wickelung von einfachen Zuſtänden zu com⸗ plicirteren übergegangen wird, und Spencer hat in ſeinen „Grundlagen der Philoſophie“ dieſes Geſetz für alle Gebiete aus dem Grundaxiome von der Erhaltung der Kraft abgeleitet; es wird demnach von praktiſchem Vortheile ſein, die einfachſte der empiriſchen Erſcheinungsformen an den Anfang zu ſtellen, in der Hoffnung, daß alle übrigen Erſchein— ungsformen, weil fie ſpätere Entwickel— ungsphaſen vorſtellen müſſen, in der Dar— ſtellung untergebracht werden können. Es kann aber dieſe Darſtellung um ſo kürzer gefaßt werden, als es ſich dabei nur da— rum handelt, das innere Band der Erſchein— ungen, den rothen Faden der kosmiſchen Entwickelung, aufzuzeigen, und das, was wir am Himmel räumlich neben einander finden, in einer genetiſchen Succeſſion ſich folgen zu laſſen, ſo weit es die Geſchichte unſeres Sonnenſyſtems betrifft. Die einfachſte Form, in der kosmiſche Materie erſcheint, iſt die Nebelform. Schon die joniſchen Naturphiloſophen dachten ſich die Zerſtreuung der Materie als ihren ur— ſprünglichen Zuſtand; aber erſt der Spek— tralanalyſe iſt es gelungen, das Borhanden- ſein wirklicher gasförmiger Nebel zu beweiſen. Daß an dieſen Nebeln that- ſächlich Veränderungen geſchehen, hat erſt H. Holden wieder beobachtet, der an dem ſogenannten Omeganebel bemerkte, daß ein hufeiſenförmiger Arm deſſelben ſeine Lage 255 gegen die ihn umgebenden Sterne in der Zeit von 18371865 verändert hat, wäh— rend die relative Stellung dieſer Sterne die gleiche geblieben ift.”) Mag dieſes nun eine wirkliche Geſtaltveränderung dieſes Nebels ſein, oder nur ein Fortſchieben der ganzen Nebelmaſſe in irgend einer zur Geſichtslinie geneigten Ebene bedeuten, in jedem Falle gehen an Nebeln Bewegungen vor ſich. Das Geſetz, nach welchem dieſe Be— wegungen geſchehen, kann nur das Gravita— tionsgeſetz ſein, deſſen Giltigkeit in der Region der Fixſterne durch die an Doppelſternen wahrnehmbaren Bewegungen bewieſen wird. Es müſſen alſo auch die Atome eines Nebels gegen einander gravitiren. Sei es nun, daß dieſe Atome verſchie— dene Bewegungsrichtung haben, oder gleiche Bewegungsrichtung bei verſchiedener Ge— ſchwindigkeit, jo muß ein Rotiren des Ne- bels eintreten, vermöge der großen Ver— ſchiebbarkeit dieſer Materie aber die linſen— förmige Abplattung der Nebel. Die zunehmende Rotationsgeſchwindigkeit, alſo Tangentialkraft, — die aus der Verkürz⸗ ung des Durchmeſſers in Folge der Gravita— tion nothwendig ſich ergiebt, — muß nach mechaniſchen Geſetzen die Abtrennung äqua— torealer Nebelringe nach ſich ziehen. Es genügt aber die geringſte Verſchiedenheit in der Dichtigkeit dieſer Ringmaterie, um dieſe in Kugeln zu verwandeln; die Materie lagert ſich an die dichteren Stellen an, und dieſe wiederholen unter ſich den gleichen Proceß. Solche Kugeln nennen wir Pla— neten, und zwar muß ſich bei fortgeſetzter Verdichtung und wiederholter Ablöſung eine Mehrzahl von Planeten von gleicher Um laufsrichtung ergeben. Die Ber- dichtung des centralen Theiles muß, indem ) Vierteljahrsrevue der Fortſchritte der Naturwiſſenſchaften. V. 546. — 256 räumliche Bewegung gehemmt wird, Wärme und Licht und zwar von außerordentlicher Intenſität erzeugen, weil die Maſſe und die Fallräume der Materie außerordentlich groß find. So zerfallen alſo rotirende Nebel in eine leuchtende Sonne von ſehr hoher Temperatur und zahlreiche Be— gleiter. Dieſe Weltkörper müſſen ſich in verſchiedenen Abkühlungsſtadien befinden, deren Reihenfolge mit der Reihenfolge ihrer Größe zuſammenfällt; denn kleine Körper erkalten raſcher, weil ſie eine relativ größere Oberfläche, alſo Abkühlungsfläche, beſitzen. Daher beobachten wir die faſt vollſtändige Erſtarrung unſeres Mondes, die Anfänge der Erſtarrung bei den inneren Planeten, Spuren von Selbſtleuchten bei den großen Pla— neten, wodurch ſich auch die Dichtigkeit und Veränderlichkeit der Atmo- ſphäre Jupiter's erklärt, während das große Centralgeſtirn noch in hohem Glanze ſtrahlt, obgleich überſäet mit ſogenannten Poren, welche den Beginn der Erkaltung bereits andeuten, und theilweiſe bedeckt mit Schlackenfeldern, den ſogenannten Sonnen— flecken. ihrerſeits Monde abtrennen, vorerſt in der Form von Ringen, wie es die Ringe des Saturn darſtellen. Die Anzahl der Monde muß im direkten Verhältniſſe zur Rotationsgeſchwindigkeit der Planeten ſtehen, wenn nicht für nachträgliche Veränderungen eine Urſache nachweisbar iſt. Die Beob— achtung zeigt eine ungefähre Ueber— einſtimmung der Anzahl der Monde mit der Rotationsgeſchwindigkeit ihrer Planeten. Welches iſt die Urſache dieſer mangel- haften Uebereinſtimmung? Dieſe Frage iſt um ſo wichtiger, als wir dieſen Mangel analog auf die Fixſterne übertragen dürfen, Die rotirenden Planeten müſſen würde. du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. und demnach die Anzahl unſerer Planeten ebenfalls mit der Rotationsgeſchwindigkeit der Sonne nur annähernd übereinſtimmen Eine Urſache zu ſolchen nachträg— lichen Veränderungen liegt aber darin, daß die Planeten und Monde auch gegen ein— ander gravitiren müſſen, wie ſich das in den Perturbationen des Planetenſyſtems kund giebt. Dieſe gegenſeitige Anziehung geſchieht ebenfalls nach dem quadratiſchen Anziehungsgeſetze Newton's. Nun liegt es aber ganz und gar nicht in der Natur jener phyſikaliſchen Geſetze, nach welchen die Sonne ſich zuſammenzog und Begleiter zu— rückließ, daß fie dieſes quadratiſche Anzieh- ungsgeſetz reſpektiren müſſen; es iſt eine willkührliche Annahme, zu ſagen, daß die Sonne gerade ſolche Ringmaſſen in gerade ſolchen Abſtänden zurückließ, daß trotz der gegenſeitigen Anziehung die mechaniſche Zweck— mäßigkeit des Syſtems nur durch geringe Perturbationen geſtört wurde; wir müſſen vielmehr logiſcher Weiſe ſchließen, daß jene phyſikaliſchen Geſetze das quadratiſche An— ziehungsgeſetz in der That nicht reſpektirt haben, d. h. daß eben die Sonne Kinder zeugte, ganz unbekümmert darum, wie ſich dieſe unter einander vertragen würden. Thatſache iſt indeſſen ihre Verträglichkeit; von geringen Perturbationen abgeſehen iſt die mechaniſche Zweckmäßigkeit des Planeten⸗ ſyſtems gegeben. Wir ſtehen demnach vor der Alternative: Entweder ſind jene phyſi— kaliſchen Geſetze durch eine außerweltliche Urſache im Sinne einer Berückſichtigung des quadratiſchen Anziehungsgeſetzes beein— flußt worden, was nur in einer Antici— pation der noch im Schooße der Zukunft gelegenen Perturbationen hätte geſchehen können, oder es muß dieſe Berückſichtigung, welche in der Urſache nicht lag, während ſie in der Wirkung ſich thatſächlich findet, du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. durch einen einzuſchiebenden Entwickelungs— proceß vermittelt worden ſein, aus welchem der veränderliche Gleichgewichtszuſtand des derzeitigen Planetenſyſtems reſultirte. Mit anderen Worten: wenn wir die einmalige direkte Ausleſe des Zweckmäßigen durch einen Schöpfer ablehnen, ſo ſind wir logiſcher Weiſe gezwungen, zur allmäligen indirekten Ausleſe des Zweckmäßigen im Entwickel— ungsproceſſe des Kosmos zu greifen.“) ) Mein Reecenſent in der „Beilage zur Allgemeinen Zeitung“ Nr. 231 und 298, Jo⸗ hannes Huber, begeht demnach einen lo— giſchen Denkfehler, wenn er ſagt, die Dienſte, die ich der Nebularhypotheſe anbiete, ſeien „überflüffige Liebesmühe“. Er hält die Uebertragung der Darwin'ſchen Lehre auf die Kosmogenie für ſo willkührlich, etwa wie wenn ich verſucht hätte, die Principien der Wagenbauerei auf den Kosmos zu übertragen, während es für jeden Denkenden auf der Hand liegt, daß logiſcher Zwang hierzu vorliegt. Hätte er ſeine wahre Herzensmeinung: „Im Anfange ſchuf Gott Himmel und Erde!“ we— niger verſchämt und verſchleiert vorgebracht, ſondern frei geäußert, ſo hätte er damit auch das Recht erworben, ſchon im Princip mir zu widerſprechen und die Uebertragung der „in— direkten Ausleſe“ auf die Aſtronomie zu verwer— fen. Nachdem er aber wenigſtens dergleichen that, ſich in eine wiſſenſchaftliche Discuſſion ein- zulaſſen, welche die Erklärbarkeit der Erſchein— ungen vorausſetzen muß, war die bloße Frage nach der Uebertragbarkeit ganz unlogiſch. Wer den theiſtiſchen Standpunkt nur einen Augen- blick verläßt, muß dieſe Frage bejahen; nur darum kann geſtritten werden, wie viel die indirekte Ausleſe am Gefüge des Kosmos er— kläre, aber nicht, ob fie überhaupt etwas er— kläre. In meiner Darſtellung können daher wohl Irrthümer vorhanden ſein; aber wer das Princip derſelben verwirft, ſtößt eben da⸗ mit auch die Logik um. — Solche logiſchen Denkfehler können freilich nicht wundernehmen von Seite eines Recenſenten, der ſich zu der Behauptung verſteigt, meine Worte, daß die Metaphyſik in der Retirade ſei, ſeien eine 257 Wenn das quadratiſche Anziehungs⸗ geſetz in der urſprünglichen Bildung des Planetenſyſtems nicht berückſichtigt wurde, ſo mußten daraus bedeutende Störungen ſich ergeben. Eine Störung in einem Syſteme gegenſeitig noch nicht angepaßter Weltkörper kann entweder ihre Schwerkraft, oder ihre Centrifugalkraft vermehren; die von ſtarken Störungen betroffenen Welt— körper mußten demnach entweder in Spiral- bahnen ſich mit ihrem Anziehungscentrum vereinigen, oder Ellipſen, Parabeln und Hyperbeln einſchlagen. Die wenig geſtörten Planeten verän⸗ derten auch die urſprüngliche Kreisbahn nur wenig. Im Verlaufe ihrer Abkühlung und Erhärtung mußten ihre Oberflächen mehr und mehr uneben werden, Riſſe und Spal— ten mußten ſich bilden. Zwar verzögert die Sonnenwärme den Abkühlungsproceß, aber der kleine und darum raſchlebige Mond der Erde zeigt ſchon ſehr tiefe Rillen, die anwachſend den ſpontanen Zerfall in Bruchſtücke, Aſteroiden, herbeiführen, die ſich wegen ihrer unregelmäßigen Form, durch veränderlichen optiſchen Durch— meſſer, als Fragmente verrathen werden. Auf einem ſolchen Proceſſe beruhte wohl die Theilung des Kometen von Biela. Secundäre Theilungen verwandeln aber die Fragmente in einen Haufen von Meteo- riten, die, von weiteren Störungen un- gleich betroffen, ſich vorerſt über einen Theil der Bahnlänge auseinanderziehen — No- „Redensart“. Da Metaphyſik und Natur⸗ wiſſenſchaft das gleiche Erklärungsobjekt, die Welt, haben, ſo kann es keinen Fortſchritt in der einen geben, ohne daß das für beide identiſche Forſchungsfeld für die andere ein⸗ geengt würde. Die Behauptung des Necen- ſenten beſagt demnach nicht weniger, als daß die Naturwiſſenſchaft ſeit ihrem Beginne keine Fortſchritte gemacht habe. 258 du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. 4 vemberſchwarm —, endlich aber über die ganze Bahnlänge auseinander gezerrt werden, gleich einer Schlange, die ſich in den Schwanz beißt — Au guſtſchwarm. Von dieſen peviodiſchen Meteoriten— ſtrömen, welche zeitweiſe von der Erde durchſchnitten werden, werden zahlreiche Bruchſtücke vom Schwarme ganz getrennt und fallen als ſporadiſche Meteoriten gelegentlich auf die Erde, wenn ſie nicht etwa bei beſonderer Vehemenz ihres Falles in der Atmoſphäre aufgelöſt werden, in welchem Falle ſie uns als Sternſchnuppen erſcheinen. Nun ſind aber jene Planeten, welche in Folge der indirekten Ausleſe in langgeſtreckte Ellipſen, Parabeln und Hyper— beln verwieſen wurden, der Sonnenwärme entrückt, müſſen daher die verſchiedenen Ab— kühlungsſtadien viel raſcher durchlaufen; darum müſſen die in Meteoriten bereits zerfallenen Weltkörper eben die ſein, welche auf langgeſtreckten elliptiſchen, paraboliſchen oder hyperboliſchen Bahnen wandeln. Ohne Zweifel beſtehen aber einzelne Meteoriten aus erſtarrten Meeresreſten, oder müſſen wenigſtens, wie die Geſteine der Erde, Flüſſigkeiten abſor— birt haben; ſolche werden in der Nähe des Perihels theilweiſe verdunſten und mit einer Gashülle ſich umgeben, die nach Zöllner's Theorie als von der Sonne abge— wendeter Kometenſchweif abſtrömen muß, wenn ihre elektriſche Erregung mit der Elektricität der Sonne gleichartig iſt. So müſſen alſo zahlreiche Kometen mit Meteoritenſtrömen verbunden ſein. Wenn alle Fixſterne rotiren und Be gleiter haben, ſo muß auch unter dieſen in— direkte Ausleſe ſtattfinden, manche verlaſſen ihr Syſtem in paraboliſchen oder hyper— boliſchen Bahnen, werden unter Umſtänden von unſerer Sonne zu einmaligem Umlaufe genöthigt, können aber auch, je nach der Richtung, von der ſie kommen, als rück— läufige Kometen und Meteoriten er- ſcheinen. Dieſe in Kürze entworfene Darſtellung iſt nach logiſchen und phyſikaliſchen Geſetzen denkbar, freilich in dem die Meteoriten und Kometen betreffenden Theile noch ſehr ſtreitig. Wenn es daher nicht etwa gelingt, die gleiche Summe von Erſcheinungen durch Verengung der ſubjektiv ausgefüllten Lücken — von deren Ausdehnung die Erſcheinungen ſelbſt nichts offenbaren — noch näher an einander zu rücken und nach dem Princip eines noch geringeren Kraftmaßes die Geneſis unſeres Syſtems darzuſtellen, d. h. durch noch ein⸗ fachere Verſtandesoperationen zu erklären, ſo wird dieſe Darſtellung für richtig gelten müſſen. Denn daß an die Vorſtellung der Geneſis unſeres Syſtems überhaupt die Anforderung einfacher Denkoperationen ge— richtet werden muß, dies geht daraus her— vor, daß die Entwickelung unſeres Syſtems, wie überhaupt jede Entwickelung, nur in der Linie des geringſten Widerſtandes ge— ſchehen konnte, alſo nach dem Princip des kleinſten Kraftmaßes. Dieſer objektiv ge— ringſte Widerſtand muß ſich demnach noth- wendig widerſpiegeln in der Leichtigkeit der Denkoperationen, in welchen die nach— dichtende, wiſſenſchaftliche Phantaſie die Ge- neſis darſtellt. Nur indem dieſes als rich— tig anerkannt wird, iſt auch dem bekannten Worte: simplex sigillum veri ein wirk- licher Sinn gegeben, welches — da im anderen Falle gar nicht einzuſehen iſt, wa— rum nicht die Natur mechaniſche Probleme ohne die oben erwähnte Eleganz löſen ſollte — ſonſt nur als ſubjektive Anforderung des Verſtandes angeſehen werden könnte. Trotzdem aber die Nebularhypotheſe in Verbindung mit der indirekten Ausleſe ihre du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. hohe innere Wahrſcheinlichkeit ſchon durch die große Menge von Erſcheinungen offen— bart, die ſich zwanglos in ſie einfügen laſſen, werden doch von Seiten der Teleo— logen die alten Einwürfe immer von Neuem vorgebracht. Der ſchon erwähnte Recenſent zeigt es wieder ſehr deutlich, daß es „keine ärgeren Blinden giebt, als ſolche, die nicht ſehen wollen“. Die ganze Fülle der Thatſachen, welche für die Nebularhypotheſe ſpricht, hat für ihn keinen Werth, weil er in einigen anderen Punkten noch Dunkelheit herrſchen ſieht; er gleicht einem Schachſpieler, deſſen König nur mehr von einem Bauer vertheidigt wird, der aber trotz der über— wiegenden Mehrzahl der feindlichen Figuren nicht anerkennen will, daß er geſchlagen ſei. Er bringt übrigens die alten Einwürfe fo getreulich wieder, daß ich ihn als bloßen Wiederholer betrachten und im Nachfol- genden die teleologiſchen Einwürfe gegen die Nebularhypotheſe im Allgemeinen be— ſprechen kann. Die Teleologen zerfallen in zwei ſehr ungleichwerthige Kategorien, deren eine ihre Unwiſſenſchaftlichkeit ſchon dadurch verräth, daß fie nicht weiß, in wie fern Mechanis- mus und Teleologie überhaupt ohne logi⸗ ſchen Widerſpruch neben einander beſtehen können. Gegeben iſt nämlich die Thatſache, daß es der Naturwiſſenſchaft gelungen iſt, eine Reihe von Erſcheinungen auf mecha— niſche Urſachen zurückzuführen. Die Schule der logiſch denkenden Teleologen, in rich— tiger Erkenntniß der Bedeutung dieſer That— ſache, giebt die kosmiſchen Veränderungen der Naturwiſſenſchaft preis, betont aber mit Recht, daß der Mechanismus zugleich teleologiſch ſein könne, oder wie Hart— mann es ausdrückt: „der denkbar voll— kommenſte Mechanismus wäre zugleich die denkbar vollkommenſte Teleologie.“ Da⸗ gegen läßt ſich logiſch nichts einwenden. Die mechaniſche Auffaſſung treibt keineswegs nothwendig zum Materialismus; ein Natur⸗ proceß, der ſich mechaniſch abwickelt, kann trotzdem zugleich nach dem Plane ſogar eines perſönlichen Schöpfers ſich abwickeln, daher denn auch Kant ſagt, es könne „der Entwurf der Einrichtung des Univerſums von dem höchſten Verſtande ſchon in die weſentlichen Beſtimmungen der Natur ge— legt und in die allgemeinen Bewegungs- geſetze gepflanzt ſein, um ſich aus ihnen auf eine der vollkommenſten Ordnung an- gemeſſene Art ungezwungen zu entwickeln.““) Anders die unlogiſch denkenden Teleo— logen, an welche das Nachfolgende gerichtet ſein ſoll. Dieſe verſchließen ſich gegen die Bedeutung der Thatſache, daß mechaniſche Erklärungen gelungen ſind, und legen den Accent willkürlich auf jene Erſcheinungen, deren Erklärung noch ausſteht. Bei dem thatſächlichen Fortſchritte der Naturwiſſen⸗ ſchaft liegt es aber auf der Hand, daß dieſe Teleologen nur ein beſtändiges Rück— zugsgefecht liefern können. Sie ſetzen ſich aber ſchon principiell mit der Logik in Widerſpruch, indem fie ein begriffliches Ab- bild des Kosmos vorſtellen, worin ſeiner realen Einheit keine Vorſtellungseinheit corre— ſpondirt; ſie laſſen Naturgeſetze und meta— phyſiſche Agentien alternirend in den Lauf der Dinge eingreifen und betrachten die Natur als ein Gewebe, in welchem mecha— niſche und teleologiſche Fäden durcheinander laufen. Statt wenigſtens mit Spinoza zu ſagen, die Naturgeſetze ſeien „Gottes ewige Beſchlüſſe, denen ewige Wahrheit und Noth- wendigkeit einwohnt“, ſtellen ſie ſich einen Demiurgos vor, deſſen Thätigkeit darin beſteht, eine ſchlecht conſtruirte Maſchine in 5 Naturgeſchichte des Himmels. Vorrede. 259 | Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. 34 260 Gang zu erhalten. Ihrer Anſicht nach kann eine von Naturgeſetzen beherrſchte Ma— terie nur als ewiges Chaos gedacht werden; nach einer ſolchen Vorausſetzung aber ſteht man — da die zweckmäßige Geſtaltung des Kosmos empiriſch vorliegt — allerdings der neueſte Gegner der Nebularhypotheſe vor der Alternative, ſie entweder teleologiſch zu erklären oder aus einem ungeheuren Zufall abzuleiten, indem unter den zahl— loſen möglichen Combinationen der Atome auch jene Combination der Möglichkeit nach gegeben war, die wir vor Augen haben, etwa ſo, wie das große Loos aus unzäh— ligen Nieten gezogen werden kann. Da fie nun einen ſolchen Zufall mit Recht aus- ſchließen, glauben ſie zur Teleologie greifen zu müſſen. Aber die Vorausſetzung für dieſes Entweder — Oder iſt eben eine falſche. Der alte Cicero hat dieſe Argumentation auf dem Gewiſſen, von der unſere Teleo- Dieſer ſagt: logen noch immer zehren. Hic ego non miror, esse quemquam, qui sibi persuadeat, corpora quaedam solida atque individua vi et gravitate | ferri mundumque effiei ornatissimum et pulcherrimum ex eorum corporum con- cursione fortuita. Hoc qui existimat fieri potuisse, non intelligo, eur non idem putet, si innumerabiles unius et viginti formae litterarum vel aureae vel I | tius, quales libet aliquo coinciantur, posse ex lis in terram excussis annales Ennii, ut deinceps legi possint, effici; quod tantum valere fortuna.“) *) (De nat. deor. II. 37): Hier nun ſollte ich mich nicht wundern, wenn Je— mand ſich einbilden kann, gewiſſe feſte und untheilbare Körper würden durch ihre eigene Kraft und Schwere in Bewegung ge— ſetzt, ſo daß durch ihr zufälliges Zuſammen— ſtoßen die ſchönſte und prachtvollſte Welt ent— ſtünde. Wenn Jemand das für möglich hält, du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. John Tolland, Locke, Helve— Diderot, Holbach und An— dere bringen dieſe bereits von Cicero in Bezug auf die Weltentſtehung gebrauchten Worte wieder, nur daß ſtatt der Annalen des Ennius auch die Ilias genannt wird; endlich, Johannes Huber, bringt in größe— rem Spielraume ſeiner Phantaſie die neue Variation, es ſei nicht möglich, durch blin— den Wurf von Lettern das Gedicht des Lucretius herzuſtellen. Aber dieſe Argumentation, die zudem auf einem ganz falſchen Vergleiche ruht, iſt eben hinfällig, weil die Alternative, Gott oder Zufall, gar nicht vorliegt. Es giebt noch ein Drittes: die allmälige Ent— ſtehung des Zweckmäßigen im Entwidel- ungsgange des Kosmos; und wenn die Naturwiſſenſchaft auch nicht ausdrücklich aus- geſprochen hat, daß dieſe nur durch indirekte Ausleſe geſchehen könne, ſo hat ſie das doch von jeher ſtillſchweigend vorausgeſetzt; denn dieſe Annahme iſt von ihrem Standpunkte aus logiſcher Weiſe die einzig mögliche. Es iſt aber ganz und gar falſch, zu behaupten, die Naturwiſſenſchaft vermeſſe ſich, gerade die empiriſch vorliegende Com— bination der kosmiſchen Atome zu erklären. Es iſt noch keiner Kosmogenie eingefallen, nachweiſen zu wollen, warum ein gegebenes Eiſenatom gerade jetzt in einer Protuberanz neseio an ne uno quidem versu possit ſo begreife ich nicht, warum er es nicht für ebenſo möglich anſieht, daß, wenn von allen Buchſtaben des Alphabets eine unzählige Menge Formen aus Gold oder einem andern beliebigen Metall in ein Gefäß geworfen und auf die Erde geſchüttet würde, auf dieſe Art die Jahrbücher des Enn ius entſtünden, jo daß ſie nachher geleſen werden könnten. Ich zweifle aber, daß der Zufall auch nur einen einzigen Vers davon hervorzubringen im Stande ſein würde.“ r * du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. 261 der Sonne ſchwebt, ein anderes durch die Schläfe eines irdiſchen Dichters rinnt; die Naturwiſſenſchaft behauptet nur, daß die natürlichen Geſetze ausreichen, den Mecha— nismus des Sonnenſyſtems zu erklären, mag die chemiſche Zuſammenſetzung der Weltkörper eine beliebige fein. Dieſer Nach— weis aber läßt ſich führen, ohne daß dem Zufalle der geringſte Spielraum zugeſtan- den wird. Falſch iſt aber auch die Auslegung, als wolle die indirekte Ausleſe erklären, warum gerade der empiriſch vorliegende Mechanis— mus des Sonnenſyſtems entſtanden ſei, und keiner von den vielen anderen möglichen, die eben ſo zweckmäßig wären. Die Aſtronomen wiſſen es, daß mit den gegebenen Weltkörpern eine unberechen— bare Anzahl zweckmäßiger Mechanismen möglich iſt, daß alſo der vorliegende Mecha— nismus keineswegs der einzige Treffer unter lauter Nieten iſt; ſie wiſſen aber auch, daß ſie ſelbſt andere zweckmäßigere Mecha— : . 5 0 5 | nismen, mit geringeren Perturbationen, er- ſinnen könnten, daß daher unter den der Möglichkeit nach gegebenen Treffern der wirk— lich gezogene nicht einmal der höchſte iſt, welchen mit dem „großen Looſe“ zu ver— gleichen daher keinen Sinn hat. Da nun unſer Sonnenſyſtem trotz feiner Zweckmäßigleit doch nicht die denkbar höchſte Zweckmäßigkeit aufweiſt, ſo iſt die wirk— liche Alternative, vor der wir ſtehen, dieſe: Entweder wir nehmen einen Demiurgos an, der bei jedem unſerer Aſtronomen in die Schule gehen könnte, oder wir greifen zu einem Princip, welches die gegebene Mangel— haftigkeit erklärt. Ein ſolches Princip iſt nur die indirekte Ausleſe. Dieſe kann und will nur das Eine erklären, daß aus dem ungehemmten Walten der natürlichen Ge— ſetze irgend ein zweckmäßiger Mechanis— mus von den zahlreichen möglichen ſich er— geben muß. Die indirekte Ausleſe garantirt nicht etwa die höchſte Zweckmäßigkeit, fon- dern nur das Minimum der Eriftenzfähig- keit, im Thierreiche wie im Univerſum; das große Loos kann ſie ihrem Begriffe nach nicht leiſten, darum liegt dieſes auch gar nicht vor. Wir ſehen im Sonnenſyſteme an 200 Planeten, Aſteroiden und Monde gegeben, abgeſehen von der ganz unbeſtimmbaren Anzahl der Cometen. Ein Mechaniker nun, dem die Wirkungen des Gravitationsgeſetzes und die Maſſen der vorhandenen Körper bekannt wären, könnte ſein ganzes Leben damit verbringen, immer neue Conſtellatio⸗ nen derſelben zu erſinnen, die beſtandes— fähig wären, ohne mit dem Vorrathe der möglichen Conſtellationen auch nur annähernd fertig zu werden. Wir kennen die Com— bination von zwei Weltkörpern — Sonne und Planet — von drei und mehr Kör— pern bei vorhandenen Monden, die Ringe des Saturn, die verſchlungenen Bahnen der Aſteroiden, Doppelſterne und Gruppenſyſteme, und von dieſen Mitteln find wieder un⸗ zählige Variationen möglich, wäre es auch nur durch bloße Aenderung der Zwiſchen— räume. Die Bewegungen der planetariſchen Begleiter der doppelten und mehrfachen Son— nen müſſen wiederum von größter Mannig- faltigkeit fein, ohne eine Aehnlichkeit mit den Bewegungen unſerer Planeten zu haben. Aber ganz entſprechend dem Reichthum von Anpaſſungsmitteln, den das organiſche Reich offenbart, ſehen wir auch im Sonnenſyſteme die Zweckmäßigkeit des Mechanismus nicht bloß durch Maſſenvertheilung der Körper gewahrt, ſondern auch durch den Excentri— citätsbetrag und die Lage der Bahnen, durch Bewegungsrichtung und Bewegungsgeſchwin— digkeit der Geſtirne. „„ ... — — 9 262 So ift es denn kein Wunder, daß von der ungeheuren Anzahl der möglichen Con— ſtellationen eine wirklich eingetroffen iſt. Man verſteht aber nicht einmal den Be— griff der indirekten Ausleſe, wenn man ſagt, ſie wolle den empiriſchen Zuſtand des Sonnenſyſtems mit allen ſeinen mechaniſchen Details erklären. Dieſer Zuſtand iſt nicht ihr direktes Werk, ſondern Wirkung der— jenigen kosmiſchen Verhältniſſe, in welche die Ausleſe einzugreifen hatte. Die indi— rekte Ausleſe iſt aber nur ein Ausdruck für das Verhältniß, daß bei Störungen das Unzweckmäßige naturnothwendig beſei— tigt wird, während das Zweckmäßige ſich erhält. Sie ſetzt alſo ihrem Begriffe ge— mäß Störungen, d. h. eine bereits gegebene Anzahl von Weltkörpern voraus, aus de— ren gegenſeitigem Gravitiren Pertur- bationen folgen. Dieſe Mehrzahl der Be— gleiter wird nicht aus ihr abgeleitet, ſondern erſt wenn dieſe vorhanden ſind, beginnt ihre Thätigkeit. Wenn aber ſodann die indirekte Aus— leſe nachweiſen will, daß aus den kosmiſchen Veränderungen ein beſtandesfähiges Syſtem reſultiren muß, ſo kann eben ein Bewohner der Erde dies nur an den wahrnehmbaren Veränderungen unſeres Syſtems nach— weiſen, weil er eben die anderen zu wenig kennt; es iſt darum eine Verkehrtheit, ihm deswegen die Abſicht unterzuſchieben, er wolle die Entſtehung dieſes beſtimmten Syſtems aus der indirekten Ausleſe ablei— ten, da doch aus dieſem Erklärungsprincip nur die Nothwendigkeit irgend eines zweck— mäßigen Reſultates folgt, eine beſtimmt ge— richtete Tendenz aber in ihm gar nicht liegt. Die Thatſache der gegenſeitigen mechaniſchen Anpaſſung der Weltkörper iſt es alſo, welche die indirekte Ausleſe erklärt, nicht aber, daß die Natur dort dieſes, hier jenes An— 8 du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. paſſungsmitttel in Anwendung gebracht hat. So muß aber auch der beſonnene Darwiniſt zugeſtehen, daß die natürliche Zuchtwahl nur die Anpaſſung der Organismen an ihre reſpektiven Lebensbedingungen zu er— klären vermag, nicht aber warum auf der Erde die beſtimmten Organiſationsformen der empiriſch gegebenen Arten entſtehen muß— ten, und keine anderen entſtanden. Dies iſt nicht Wirkung der Zuchtwahl, ſondern folgt aus der Beſchaffenheit der organiſchen Materie und aus den allgemeinen Verhält— niſſen, in welche die Zuchtwahl einzugreifen hatte. Wenn alſo der Teleologe fragt, woher denn der Naturforſcher die Kenntniß habe, daß die Entwickelung von chaotiſchen Zuſtänden ausgehe und mit zweckmäßigen ende, ſo iſt er 1) auf die kosmiſchen Nebel zu ver— weiſen, in welchen uns Materie im Zuſtande chaotiſcher Zerſtreuung empiriſch gegeben iſt. Aus der Gleichheit der kosmiſchen Stoffe folgt aber, daß dieſer Zuſtand auch eine Entwickelungsphaſe des Sonnenſyſtems war oder ſein wird, bei eventuellem Kreislaufe aber, daß er es ſowohl war, als ſein wird. 2) Unter der Vorausſetzung, daß das Sonnenſyſtem einſt ein Nebel war, erklärt ſich eine ſolche Fülle von Erſcheinungen, daß ſchon darum dieſer Hypotheſe die höchſte Wahrſcheinlichkeit zukommt. Fragt aber der Teleologe weiter, wo— her wir denn wiſſen, daß das Planeten- ſyſtem nicht ſchon gleich bei ſeinem Entſtehen eine zweckmäßige Maſſenvertheilung gewon— nen habe, ſo begeht er erſtlich wieder einen logiſchen Denkfehler, da atfirmanti ineum- bit probatio; ſodann aber iſt ihm zu ent- gegnen: 1. Störungen finden noch jetzt ſtatt, ſogar in Beträgen, daß Umgeſtaltungen der Bahnen erfolgen. du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. 2. Wie viele Planeten abgetrennt wer— den, in welchem gegenſeitigen Abſtande das geſchieht, und welche Maſſen jeweilig ſich ablöſen, hängt ab von der Rotationsge— ſchwindigkeit der Sonne, welche — was mechaniſch undenkbar iſt — beſtändig wech— ſeln müßte, wenn ſie das quadratiſche An— ziehungsgeſetz für die Begleiter reſpektiren d. h. nur die richtigen Maſſen in zweck— mäßigen Abſtänden abtrennen ſollte. 3. Die Entſtehung von Begleitern iſt nur denkbar als Ablöſung ägquatorealer Ringe; nur am Aequator kann die Schwer— kraft durch die Tangentialkraft ausgeglichen werden. Alle Begleiter hatten demnach urſprünglich Kreisbahnen. Wenn wir alſo das Sonnenſyſtem einheitlich erklären, d. h. auch die (rechtläufigen) Cometen und Meteo— riten in die Nebularhypotheſe einfügen wollen, ſo ſind wir zur Annahme gezwungen, daß die nicht kreisförmigen Bahnen erſt durch ſpätere Störungen entſtanden ſind. Aus der weitaus überwiegenden Anzahl der Co— melen iſt aber erſichtlich, wie energiſch die indirekte Ausleſe eingegriffen haben muß, d. h. wie beträchtlich die Störungen ge— weſen ſein müſſen, mit anderen Worten, wie unzweckmäßig das Planetenſyſtem ur— ſprünglich geweſen ſein muß. Es erhellt aber auch von dieſem Geſichtspunkte aus, daß es geradezu erſtaunlich geweſen wäre, wenn bei einer jo energiſchen Ausleſe nicht wenigſtens einige (8) Planeten zurückge— blieben wären, die von der Kreisbahn nur wenig abwichen, und irgend eine der mög— lichen zweckmäßigen Conſtellationen gefun⸗ den hätten. Wenn alſo ſo gewichtige Gründe dafür ſprechen, daß die Zweckmäßigkeit nicht im Anfange gegeben war, wenn ferner aus dem Begriffe des Unzweckmäßigen folgt, beſei— tigt zu werden, während dem Zweckmäßigen 263 eo ipso Erhaltungskraft innewohnt, ſo folgt daraus mit zwingender Nothwendigkeit, daß in den kosmiſchen Mechanismen das Zweck— mäßige ſich allmälig anhäufen muß, wäh- rend das Unzweckmäßige ſucceſſive beſeitigt wird. Endlich iſt aber auch noch Folgen— des zu beachten: Wie etwa die Geologie verpflichtet iſt, die vergangene Entwickelung der Erde aus Veränderungen zu erklären, die wir noch wahrnehmen, ſo können auch nur die empiriſch wahrnehmbaren Veränder— ungen des Sonnenſyſtems es ſein, aus welchen wir auf die Geneſis unſeres Syſtems ſchließen dürfen. Dieſe wahrnehmbaren Ver— änderungen aber beweiſen ebenfalls, wie wir gleich ſehen werden, die Anhäufung des Zweckmäßigen und Verminderung des Unzweckmäßigen. Gegeben ſind uns innerhalb des Sonnen— ſyſtems zweckmäßige wie unzweckmäßige Er- ſcheinungen; das Planetenſyſtem iſt nicht ohne mechaniſche Widerſprüche, und wären auch nur Meteoriten vorhanden, welche auf die Planeten ſtürzen. Daraus folgt für eine wiſſenſchaftliche Erklärung die Ver— pflichtung: 1. Ein Erklärungsprincip aufzuſtellen, welches zweckmäßige wie unzweckmäßige Er- ſcheinungen gleichmäßig umfaßt, das Vor— handenſein Beider begreiflich macht. 2. Den Nachweis zu führen, daß die wahrnehmbaren Veränderungen im Sonnen— ſyſteme in der Richtung des Zweckmäßigen geſchehen. Der erſteren Verpflichtung genügt die indirekte Ausleſe, weil der unzweckmäßige Anfangszuſtand nachweisbar iſt, und ſie dieſen nur im Verlaufe des Entwickelungs— proceſſes beſeitigt werden läßt. Aber auch der zweiten Verpflichtung kann genügt werden: Das Geſetz der Gravita— tion iſt es, welches die Veränderungen im 264 Sonnenſyſteme beſtimmt. Einer jeden muß eine Störung vorausgehen. Weil aber innerhalb des engeren Planetenſyſtems die Störungen immer wieder ausgeglichen wer— den, mit anderen Worten weil die Planeten bereits in den Zuſtand conſervativer An— paſſung eingetreten ſind, ſo ſind wir hin— ſichtlich der Beobachtung von Bahnverän— derungen auf die Cometen angewieſen, für welche nach Obigem der Beweis einer pro— greſſiven Anpaſſung zu liefern iſt. Daß ſie noch nicht conſervativ geworden ſind, iſt aber erklärlich; denn theils ſind ſie frem— den Urſprungs, theils verweilen ſie, wenn ſie auch zu den wiederkehrenden gehören, doch nur während einer kurzen Zeit ihres Umlaufs in ihrem Anpaſſungsterrain, um es dann oft auf Jahrtauſende wieder zu ver— laſſen. Nur Störungen geben Aulaß zu Bahnveränderungen, und nur in der Planeten— region können Cometen Störungen erleiden. Vorerſt gilt es nun für alle Störun— du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypo thefe. gen, daß nur zweierlei Wirkungen eintreten können, welche beide die Exiſtenzunfähigkeit des Unzweckmäßigen darthun: Es erfolgt entweder ein Zuſammenſtoß — wie etwa beim Meteoritenfall —, dann iſt das Un— zweckmäßige beſeitigt; oder es erfolgt bloße Bahnveränderung, dann muß es doch mit der Zeit beſeitigt werden, weil Störungen und Bahnveränderungen ſo lange ſich wie— derholen müſſen, bis die Anpaſſung herge— ſtellt iſt, was bei der großen Anzahl der möglichen Anpaſſungsweiſen unfehlbar ein— mal eintreten muß. Was nun insbeſondere die Cometen be— trifft, ſo iſt der geringſte Grad von An— paſſung bei jenen wahrſcheinlich, welche unſer Syſtem als Fremdlinge betreten, wo⸗ bei ſie durch die großen Planeten beträcht— lich geſtört werden. Solche Störungen bringen entweder die Anpaſſung oder die Elimination, und beide Fälle werden durch das Verhalten des Cometen von 1770 er- läutert, der drei Jahre früher durch die Stör— ung in eine geſchloſſene Bahn gerathen war, zwölf Jahre darauf verweilte, dann aber durch eine zweite Störung wieder gezwun— gen wurde, das Syſtem zu verlaſſen. Da— gegen iſt Halley's Comet ſeit Beginn unſerer Zeitrechnung im Sonnenſyſteme ein— gebürgert; er ſcheint demnach in conſerva— tiver Anpaſſung zu ſein, gleich mehreren anderen, die ſich durch noch kürzere Umlaufs— zeiten bemerklich machen, bei welchen ſich daher die vollendete Anpaſſung aus ihrem beſtändigen Verweilen im Anpaſſungster— rain erklärt. Es kann ſomit kein Fall eintreten, durch welchen das Unzweckmäßige vermehrt würde, außer etwa vorübergehend durch neu zuge— wanderte Cometen, die aber vor der Alter— native ſtehen: Anpaſſung oder Elimination; dagegen tritt häufig der Fall ein, daß eben durch dieſe geſtellte Alternative das Unzweck— mäßige beſeitigt wird. Im Ganzen alſo kommen die Veränderungen im Sonnen— ſyſteme einer objektiven Zunahme des Zweck— mäßigen gleich; die Syſteme, wie die bio— logiſchen Gattungen, beſorgen ſelbſtthätig einen Reinigungsproceß. Es genügt alſo die indirekte Ausleſe auch der zweiten der an ſie geſtellten An— forderungen. Aus alledem ergiebt ſich klar, daß im Eutwickelungsgange des Sonnenſyſtems in der That indirekte Ausleſe des Zweck— mäßigen ſtattfindet, und daß dieſelbe ver— mögend iſt, die mechaniſche Zweckmäßigkeit des Syſtems zu erklären. Läßt man gleich— wohl dieſes Erklärungsprincip unbenützt und greift lieber zu der ganz exorbitanten Annahme, es habe einſt eine einmalige direkte Ausleſe des Zweckmäßigen durch ein mit ſuperlativen Eigenſchaften ausgerüſtetes, im Uebrigen aber menſchliches Weſen ſtatt— gefunden, ſo gebe man wenigſtens nicht vor, durch wiſſenſchaftliche Gründe beſtimmt zu ſein, ſondern geſtehe offen, nicht von philo— ſophiſcher Einſicht, ſondern von theologiſcher Abſicht geleitet zu ſein. Der wiſſenſchaftliche Forſcher dagegen erkennt, daß die Funktionsweiſe und Trag— weite der indirekten Ausleſe im Gebiete der kosmiſchen Veränderungen ſich weit deut— licher offenbart, als in der Biologie. In dieſer haben wir ſehr verwickelte Verhält— niſſe; die die Ausleſe beſorgenden Faktoren ſind in der Mehrzahl gegeben, Erblichkeit und Variation aber, welche dabei voraus— geſetzt werden, entziehen ſich bisher der natur— wiſſenſchaftlichen Erklärung. In der Aftro- | nomie dagegen liegen ſehr einfache, berechen- bare Verhältniſſe vor, und die Ausleſe wird einzig und allein durch das Gravitations— geſetz beſorgt, welches die gegenſeitige An— ziehung der planetariſchen Begleiter, ſomit Störungen bewirkt, die wiederum in ſolcher Weiſe ausgetragen werden, daß eine objek— tive Zunahme des Zweckmäßigen erfolgt. Unterzieht man daher die beiderſeitigen Ge— biete einer Abſchätzung in Hinſicht auf die indirekte Ausleſe, ſo muß man die Gebiete nicht quantitativ, ſondern die Qualität der Erſcheinungen, d. h. die Tragweite der Kräfte vergleichen, die da und dort wirk— ſam ſind und die Ausleſe beſorgen. Dieſe Bemerkung, die dem einſichtigen Leſer wohl überflüſſig erſcheint, iſt dem neueſten Geg— ner der Nebularhypotheſe gegenüber, Johannes Huber, nothwendig, welcher in quantita— tiver Abmeſſung die kleine Erdoberfläche mit der Ausdehnung des Himmels vergleicht, um den ſinnloſen Einwurf daran zu knüpfen, die indirekte Ausleſe, die nicht einmal in der Biologie alle Erſcheinungen erkläre, ſei noch weniger ausreichend als Erklärungs— princip des Univerſums. Alles in Allem iſt klar, daß der citirte Ausſpruch des Cicero ein zwar beſtehen— der, aber falſcher Vergleich iſt. Es ſchien aber nöthig, dies in einer längeren Dar— ſtellung zu erläutern, weil er in der teleo— logiſchen Literatur immer wieder vorgebracht wird, als habe er das Gewicht eines un— widerleglichen Einwurfs. Da dieſes aber ganz und gar nicht der Fall iſt, ſo dürfte auch die Aufforderung an die Gegner der Nebularhypotheſe am Platze ſein, uns mit den längſt abgegriffenen Phraſen vom „großen Looſe unter unzähligen Nieten“ und von der Unmöglichkeit, eine Ilias durch blinden Wurf der Lettern herzuſtellen, künftig zu verſchonen; ſolche Redensarten beweiſen nur unlogiſches Denken und mangelhafte Kennt— niß der zu erklärenden Erſcheinungen. Die Nebularhypotheſe hat es nur mit den Veränderungen der Materie zu thun; drei kosmologiſche Probleme ſind es demnach, welche dieſelbe unberührt läßt: die Exiſtenz der Materie, die Geſetzmäßig— keit der Materie und die Bewegung der Materie. Und während innerhalb der kos— miſchen Veränderungen jede teleologiſche Er— klärung zurückzuweiſen iſt, iſt erſt bezüglich dieſer drei Probleme die Frage geſtattet, ob eine teleologiſche Löſung derſelben noth— wendig iſt. Schon Oken in feiner Naturphiloſophie hat die Frage, wodurch der erſte Anſtoß zur Bewegung der Materie gegeben worden ſei, mit den Worten beantwortet: „Die Bewegung iſt von Ewigkeit her, und ent— ſpringt in der Welt nicht auf mechaniſche Weiſe durch Stoß, ſondern auf dynamiſche.“ Wir können uns als Urzuſtand der Materie die Ruhe denken, — dann iſt die Beweg— du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. 265 266 ung geſtörte Ruhe; oder Bewegung iſt der urſprüngliche Zuſtand, — dann iſt Ruhe gehemmte Bewegung. Beide Annahmen ſind logiſch: aber Bewegung iſt der unend— lich wahrſcheinlichere Urzuſtand, weil von den räumlichen Verhältniſſen der Materie die Ruhe nur einen Fall bezeichnet, da— gegen die Bewegung unendlich viele Fälle bezeichnen kann. Ganz richtig bemerkt Flügel (die Probleme der Philoſophie und ihre Löſungen): „Und zwar liegen für die Bewegung zwei unendliche Reihen vor, von welchen ſich die eine auf unendlich viele mögliche Geſchwindigkeiten, die andere auf unendlich viele verſchiedene Richtungen be— zieht; dabei muß wieder jedes einzelne Glied der einen Reihe mit jedem der anderen Reihe combinirt gedacht werden. Aber nur in einem Falle, nämlich wenn die Geſchwin— digkeit gleich Null iſt, hat man den Fall der Ruhe.“ Es iſt aber noch hinzuzufügen, daß Ruhe nur den Fall bezeichnet, in dem gleich ſtarke, aber entgegengeſetzte Beweg— ungen einander aufheben. Ruhe iſt feines- wegs Inactivität, ſondern ein wirklicher Widerſtand zwiſchen zwei Bewegungen; eine abſolute Ruhe giebt es alſo nicht. Da alle Kräfte bewegende Kräfte ſind, und eine Materie ohne Kraft undenkbar iſt, muß die Action, die Bewegung, der urſprüngliche Zuſtand der Materie ſein. Die Bewegung muß daher ſchon in die Definition der Materie aufgenommen werden; denn ange— nommen ſelbſt, es ſei die Materie durch eine fremde Kraft aus der Ruhe in die Bewegung übergegangen und ſei an ſich unvermögend, in Bewegung zu gerathen, ſo iſt auch gar nicht einzuſehen, wie ſie denn ohne Fort— wirken dieſer äußeren Kraft in der Beweg— ung ſich erhalten kann. Hinſichtlich der Geſetzmäßigkeit der Materie iſt zuzugeben, daß die Zurückführ⸗ du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. ung höherer Funktionen auf geſetzmäßige Kräfte keine vollſtändige Erklärung der— ſelben iſt. Dieſe geſetzmäßig wirkenden Kräfte find an fi) wieder ein Problem. Das Geſetz iſt an ſich keine Urſache, kein Agens, ſondern bedeutet nur die Gleichförmigkeit in der Reaktionsweiſe der Materie auf gleiche Ur— ſachen. Nur Kräfte ſind Urſachen. Indeſſen können aber Kräfte, deren innere Weſenheit veränderlich wäre, eine eigenſchaftsloſe Ma— terie ohne gleichmäßige Reaktionsweiſe und darum ohne geſetzmäßige Wirkſamkeit nicht gedacht werden. Wenn wir nun aber das Reſultat dieſer Geſetzmäßigkeit der Materie in Betracht ziehen, wenn wir im Sonnen- ſyſteme ſehen, daß die geſetzmäßigen Ver— änderungen einer beſtändigen Verminderung des Unzweckmäßigen gleichkommen, und Harmonie das Reſultat iſt, dann muß uns allerdings tiefes Staunen befallen über das Weſen dieſer materiellen Kräfte und ihr geſpenſtiſches Treiben; es ſcheint uns wunder- bar, daß die Urſache ſo unerbittlich mit ihrer Wirkung verbunden iſt, und das Ge— ſtändniß muß über unſere Lippen kommen, daß wir im Grunde vom Fallen des Steines nicht mehr verſtehen, als von den geheim— nißvollen Funktionen des Gehirns. Sicher iſt es in einem ſolchen Zuſtande der Verwunderung geweſen, daß Newton an Bentley ſchrieb: „Es iſt unbegreif- lich, daß unbeſeelter, roher Stoff, ohne irgend eine ſonſtige immaterielle Vermittelung, auf eine anderen Körper ohne gegenſeitige Berührung wirken kann.“ Wenn wir aber alsdann uns nicht entſchließen können, die Geſetze der Materie einem perſönlichen Ge— ſetzgeber zuzuſchreiben, dann bleibt eben kein anderer Ausweg, als daß wir in die Defini— tion der Materie eine Eigenſchaft aufnehmen, welche das Räthſel löſt. Eine ſolche Eigen— ſchaft aber, die zudem an einer Reihe von n Erſcheinungen empiriſch gegeben iſt, und die wir mit dem gleichen Rechte univerſell auf alle Materien übertragen dürfen, mit dem wir die irdiſche Eigenſchaft der Schwere auf die kosmiſche Materie übertragen haben, iſt die Empfindung. Wir müſſen, wie Zöllner ſagt, zu jenem Ausſpruche New— ton's die Antitheſe bilden, die doppelte Negation in Affirmation verwandeln und ſagen: „Es iſt begreiflich, wie beſeelter, lebendiger Stoff ohne irgend eine ſonſtige Vermittelung auf einen andern Körper ohne gegenſeitige Berührung wirken kann.““) Daß wir den Elementen der organiſirten Materie allein Empfindungen beilegen, muß als eine un— vollſtändige Induktion erkannt werden; wir können nicht dem Atomen der unorganiſchen Materie eineEigenſchaft abſprechen, die wir doch genöthigt ſind, den Aggregaten jener Atome, nämlich den belebten Körpern, zuzuſprechen. Was nicht ſchon in den Atomen ſelbſt liegt, kann auch nicht durch eine bloße beſtimmte Lager— ung der Atome in die Erſcheinung treten. Im Proceſſe der Selbſterkenntniß allein iſt uns eine Gelegenheit geboten, ins Innere der Natur zu dringen; wenn aber der äußeren Einheitlichkeit der Natur die Ein— heitlichkeit ihres inneren Weſens entſprechen ſoll, dann ſind wir auch berechtigt, aus unſerem eigenen Innern die Formel herauf— zuholen, welche die Welt erklärt. Das letzte Problem betrifft die Exiſtenz der Materie. Der menſchliche Verſtand ſtellt die Frage: Warum iſt eine Welt? Dieſe Frage gehört aber nicht in die Meta- phyſik, ſondern in die Erkenntnißtheorie, d. h. ſie muß durch die andere Frage erſetzt werden: Warum wirft der menſchliche Ver— ſtand die Frage nach einer Urſache der Welt auf? Hierauf iſt zu antworten, daß, da ) Princ. einer elektrodyn. Theorie d. Materie I. Vorrede 59. Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. 267 wir uns zwiſchen die irdiſche Dinge geſtellt finden, ein irdiſcher Verſtand in der Wahr- nehmung der ewig veränderlichen Dinge die Gewohnheit erwerben muß, für Ver— änderungen Urſachen vorauszuſetzen, eine Gewohnheit, die ſich im menſchlichen Ver— ſtande biologiſch bis zur aprioriſchen Er— kenntnißform der Cauſalität befeſtigt hat. Es liegt im Weſen unſeres Verſtandes, un⸗ willkürlich bei jeder Erſcheinung Warum? zu fragen. Darum nannte Lichtenberg den Menſchen das „raſtloſe Urſachenthier“. Wir tragen das Cauſalitätsgeſetz in uns, es iſt aprioriſch; aber es iſt zugleich em- piriſch, weil nur in einer Welt realer Ver— änderungen ein Verſtand mit aprioriſcher cauſaler Funktionsweiſe entſtehen kann. Da ſomit das Cauſalitätsgeſetz im letzten Grunde empiriſch ift, jo ergiebt ſich ſchon hieraus, daß das Recht ſeiner Anwendung nicht weiter gehen kann, als es im Inhalte des empi— riſchen Cauſalitätsgeſetzes liegt. Die ſub— jektive Funktion darf nicht weiter gehen als die objektiven Vorgänge, auf Grund deren die Funktion entſtanden iſt, und ſie darf nicht in einem anderen Sinne geſchehen, als welcher durch dieſe Vorgänge beſtimmt wird. Nun ſagen uns aber die empiriſchen Vorgänge lediglich dieſes aus, daß wenn eine Veränderung der Materie eintritt, eine Urſache, eine andere Veränderung, vor— hergegangen ſein muß. Nur Veränderungen ſind es, die wir empiriſch wahrnehmen; nie und nirgend, weder am Himmel noch auf Erden, haben wir ein Atom entſtehen oder vergehen ſehen. Die Materie iſt ledig— lich das beherrliche Subſtrat der Beränder- ungen; ſie iſt das, woran, die Kräfte ſind das, wodurch Veränderungen geſchehen, aber nicht das, wodurch das Subſtrat ent- ſteht. Das Cauſalitätsgeſetz hat demnach gar keine Beziehung zur Exiſtenz der Materie, ſondern nur zu ihren Formveränderungen. f 268 Indem wir alſo nach einer Exiſtenzurſache der Welt als Totalität fragen, geben wir der ſubjektiven Cauſalität einen ganz anderen Sinn, als welcher in der objektiven Cauſali— tät liegt, deren Abbild die erſtere doch nur ſein ſoll. lich auf Veränderungen an der Materie be— zieht, nicht auf die Exiſtenz derſelben, folgt ſchon aus dem Axiome von der Erhaltung der Kraft, welches beſagt, daß Nichts ent— ſtehen, aber auch Nichts vergehen kann. Die Summe der thätigen oder lebendigen Kräfte, wie die Summe der gebundenen oder Spannkräfte iſt unveränderlich, wie die Summe der Materie ſelbſt; Materie und Kräfte erleiden nur Umwandlungen, keine Vermehrung und keine Verminderung. Dem Experimente eines Gauklers gegenüber, der ein Ding aus Nichts entſtehen laſſen will, haben wir ſofort den Einwurf der Täuſch— ung bereit; ein Grundſatz unſeres Ver— ſtandes ſagt uns, daß nichts entſtehen oder verſchwinden, und daß die Cauſalität nur Veränderungen bewirken kann. Und doch geben wir denſelben Grundſatz in der Frage nach der Welturſache preis. Die Welt als Totalität iſt demnach urſachlos, unentſtanden und unvergänglich, d. h. ewig. In der ganzen Frage handelt es ſich lediglich darum, das Cauſalitätsbedürfniß unſeres Verſtandes zu befriedigen. Nun iſt es aber offenbar unlogiſch, um dieſes Cauſalitätsbedürfniß zu befriedigen, eine Urſache der Welt anzunehmen, welche ja, weil das Cauſalitätsbedürfniß fortdauert, ihrerſeits wieder eine weiter zurückliegende Urſache erfordert. Wenn die Welt ent— ſtanden iſt, dann kann ſie nur aus dem Nichts, etwa durch einen Schöpfungsaft ent- ſtanden ſein (weil im anderen Falle ja nur du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. wieder eine Veränderung vorliegen würde, aber kein Entſtehen); ſind wir aber beim Schöpfer angelangt, ſo iſt derſelbe für den Verſtand ſofort das gleiche Objekt, wie es vordem die Welt war, und in unbefriedig— tem Cauſalitätsbedürfniſſe fragt der Ver— ſtand nach der Urſache des Schöpfers, dem Daß 'das Cauſalitätsgeſetz ſich ausſchließ⸗ ſein eigenes Daſein das größte aller Räthſel ſein müßte. So kann alſo der regressus in infinitum nur etwa abgeſchnitten werden, wenn wir den Schöpfer zur causa sui, d. h. — um mit Schopenhauer zu reden — zum Baron von Münchhauſen machen, der ſich ſelber beim Zopfe aus dem Sumpfe zieht. So ergiebt ſich denn allerdings, daß die Frage nach einer Urſache der Welt un— logiſch iſt; aber der Verſtand, deſſen Funk— tion es iſt, Warum? zu fragen, weil ihm das Cauſalitätsgeſetz aprioriſtiſch innewohnt, kann das Räthſel, in das er ſich ſelbſt ver— ſtrickt, zwar durchſchauen, aber es kann ihm nicht gelingen, ſeine Funktion einzuſtellen, d. h. ſich ſelbſt aufzuheben. Der trang- cendentale Schein, der uns zu dieſer Frage zu berechtigen ſcheint, iſt nicht hinweg zu bringen. Wir können ihn ſo wenig be— ſeitigen, als wir den Irrthum der Sinne beſeitigen können, wenn wir etwa den Mond im Aufgange vergrößert ſehen; wir können die Sinnestäuſchung durchſchauen, können uns Rechenſchaft von ihr geben, ſind aber unvermögend, ſie zu beſeitigen. Den pſychologiſchen Urſprung aller dualiſtiſchen Vorſtellungsweiſen, welche die Welt einem außerhalb derſelben befindlichen, wie immer vorgeſtellten Schöpfer kluftartig gegenüberſtellen, hat Caspari!) darge— legt. Die urſprünglichen Feuerzünder, die Prieſter der Urzeit, erklärten ſich das Leuchten der Geſtirne durch ein falſches Gleichniß, als Erweckung himmliſcher Feuer durch . x) Urgeſchichte II. S. 371 u. flgde. du Prel, Philoſophiſche Betrachtungen über die Nebularhypotheſe. mächtigere Prieſter, als ſie ſelber waren. „Die Götter in den Geſtirnen waren daher ſeit uralter Zeit mit dem Begriffe der ſchöpferiſchen Erzeugung und Produktion im Bewußtſein der Menſchen verſchmolzen worden; ... fie beſaßen alſo die Macht der Zeugung, und die Fähigkeit des Her— vorrufens in einer für den Menſchen er— habenen Weiſe; denn vermochten die ge— weihten Hände des Prieſters das Feuer der Opfer zu erzeugen und zu entzünden, ſo beſaßen die Götter erhabener noch die menſchliche Fähigkeit, die mächtigen Himmels— feuer zu entflammen und wieder verlöſchen zu machen“. Dieſe Vorſtellung hat ſeither freilich manche Wandlungen erfahren; aber ihre als Anzeichen ihrer Richtigkeit gedeutete Lebensfähigkeit entſpringt lediglich ihrer ungeheuren Elaſticität und Dehnbarkeit; alle Vorſtellungen, von den himmliſchen Quirl— drehern angefangen, bis zu dem nur durch eine ungeheure Abſtraktion des menſchlichen Geiſtes möglich gewordenen Begriffe eines einzigen, perſönlichen Schöpfers, und vom anthropomorphen Theismus wiederum bis zum verblaßteſten Deismus, ſind nur Glieder einer Vorſtellungsweiſe, die in allmäligen Umwandlungen fortſchreitet. Darum ſollten ſich aber auch die Theologen und die dua— liſtiſch denkenden Teleologen unſerer Tage keiner Illuſion hingeben und ſollten ihre Vorſtellungsweiſe erkennen, als das, was ſie iſt: ein von ihnen noch nicht über— wundener Reſt jener Vorſtellung, welche nach der Erfindung des Feuers der prä— hiſtoriſche Menſch ſich bildete. Sie haben darum wahrlich kein Recht, von jener anderen Vorſtellungsweiſe gering zu denken, 269 welche dieſen Reſt zu überwinden vermag und ihn aus den Conſtruktionen des Kosmos verbannt; denn nicht jener Vorſtellung wird der Sieg zu Theil werden, welche nur durch ataviſtiſche Funktionen des Gehirns möglich wird, ſondern derjenigen, welche nach vorne weiſt. Wenn aber dieſe Theologen und ihnen gleichwerthige Teleologen den Dualismus gar noch in die Erſcheinungswelt ſelbſt hineintragen, wodurch ſie die Einheitlichkeit der Welt aufheben; wenn ſie die wiſſen— ſchaftliche Erklärbarkeit nur für eine Anzahl der Erſcheinungen zugeben, dagegen für die mit jedem Tage abnehmende Anzahl der unerklärten Erſcheinungen eine qualitativ verſchiedene Erklärungsweiſe fordern; wenn fie im Namen jener ataviſtiſchen Vorſtell— ungsweiſe auf einen Theil des Gebietes Beſchlag legen wollen und beiſpielsweiſe die aus der gravitirenden Bewegung ableit— baren Erſcheinungen der Wiſſenſchaft über— laſſen, dagegen aber behaupten, für die tangentiale Bewegung der Geſtirne ſei eine außerweltliche Hand erforderlich, — dann kann man ihnen wahrlich nur mit Lichten— berg antworten: „Eine der ſonderbarſten Anwendungen, die der Menſch von ſeiner Vernunft gemacht hat, iſt wohl die, es für ein Meiſterſtück zu halten, ſie nicht zu ge— brauchen und ſo, mit Flügeln geboren, ſie abzuſchneiden“, — dem ſich noch Diderot anſchließen mag: Egaré dans une foret immense pendant la nuit, je n'ai qu'une petite lumiere pour me conduire. Sur- vient un inconnu, qui me dit: „Mon ami, souffle ta bougie, pour mieux trouver ton chemin.“ Cet inconnu est un Theologien. Das mathematiſche Grundgeſetz im Dau des Pflanzenkörpers. Von Prof. Dr. S. Günther. N BER x: Verf. dieſes, als er über die äſthetiſch⸗mathematiſchen Ar⸗ beiten A. Zeiſing's und peel über deſſen Behandlungsweiſe der ſogenannten Blattſtellungslehre berichtete, die folgenden Worte nieder“): „Freilich dürfen wir uns nicht verhehlen, daß die neuere Botanik, und zwar gerade inſofern ſie An— ſpruch auf den Namen «exakt» erhebt, die Blattſtellungslehre über Bord geworfen hat, indem fie — allen teleologiſchen Erwägun— gen abhold — einen erſichtlichen cauſalen Zuſammenhang jener Geſetze mit den uns bekannten, im Pflanzenkörper wirkſamen Kräften nicht aufzudecken vermag. Da wir aber noch keineswegs behaupten können, ein ſolcher Zuſammenhang ſei abſolut und für immer unauffindbar .. ſicher die hohe Bedeutung der ganzen Hy— potheſe und damit auch die willkommene Beſtätigung anerkennen, welche Zeiſing's ) Günther, Adolph Zeiſing als Mathematiker, Zeitſchr. f. Math. u. Phyſ. Hiſt.⸗liter. Abtheil. 21. Band. S. 161. 5 or zwei Jahren ſchrieb der „ To dürfen wir Es war uns damals unbekannt, Lehre in einem der wichtigſten Zweige der organiſchen Naturwiſſenſchaft gefunden hat.“ daß be⸗ reits aus dem Kreiſe der wiſſenſchaftlichen Botanik heraus die Anregung zu einer Ver— vollkommnung der in Rede ſtehenden Theorie in exaktem Sinne gekommen und von großem Erfolge begleitet geweſen ſei. Aus dieſem Grunde erſcheint es geboten, nicht nur die damalige aphoriſtiſche Darſtellung den Um ſtänden gemäß zu erweitern und zu ergän- zen, ſondern auch einen vollſtändigen Ueber⸗ blick über den geſammten Cyclus von Une- terſuchungen zu geben, welche ſeit einer geraumen Reihe von Jahren in dieſer An— gelegenheit angeſtellt worden und energiſcher Fortführung gewärtig ſind. Ein derartiges Unternehmen wird dem Programm dieſer Zeitſchrift durchaus ent⸗ ſprechen. Iſt es doch der Gegenſatz zwiſchen der ſchroff⸗-teleologiſchen Auffaſſung und der | bewußt⸗mechaniſchen Naturerklärung, welcher gerade auf den von ihr vertretenen Gebieten allenthalben zum Ausdruck kommt und zu einer Prüfung jedes einzelnen Wiſſenszweiges auf die auch in ihm zu Tage tretende Gegenſätz— lichkeit auffordern muß. Jene Art der Natur— betrachtung, welche ausſchließlich mit präſta— bilirten Zwecken arbeitete, erkannte in der eigenthümlich rationellen Anordnung der ſeitlichen Organe des Pflanzenkörpers eine ihrer Hauptſtützen, um ſo mehr, weil die dabei beobachteten mathematiſchen Geſetze nicht als bloßes Zufallsſpiel betrachtet wer— den und andererſeits doch auch anſcheinend gar keine phyſikaliſchen Erklärungsgründe dafür beigebracht werden konnten. Gelang es demnach, dieſen Schein als Täuſchung nachzuweiſen und einen cauſalen Zuſammen⸗ hang mit bereits bekannten Kraftäußerungen auszumitteln, ſo hatte jene ältere Harmonien— lehre, welche halb unbewußt doch eigentlich die Negation jeder Naturforſchung bildete, auf ihrem eigenſten Terrain eine ſchwere Niederlage erlitten. Daß aber eine ſolche wenn auch noch nicht endgültig erfolgt, ſo doch recht gründlich vorbereitet iſt, dürfte aus dem Folgenden wohl mit aller Sicher— heit erhellen. Die mathematiſche Botanik hat, wenn erſt der die gegenwärtige Arbeitsperiode ab— ſchließende Ruhezuſtand eingetreten ſein wird, die zwei Anfangsſtadien durchlaufen, welche jeder einzelnen naturwiſſenſchaftlichen Dis— ciplin zu durchlaufen entwickelungsgeſchicht— lich vorgezeichnet ſind, ehe ſie in das dritte, das eigentlich wiſſenſchaftliche Stadium, ein- getreten iſt. Am klarſten ſpiegelt ſich dieſes Geſetz bekanntlich in der Geſchichte der Sternkunde ab, minder beſtimmt, doch aber immer noch deutlich erkennbar, in dem Ent— wickelungsgang der Optik und theoretiſchen Wärmelehre. Ueberall galt es zuerſt, die Thatſachen ſo zu erkennen und in Reihen zu ordnen, wie fie ſich der unmittelbaren Be- obachtung darſtellen; weiterhin mußten auf empiriſchem Wege die leitenden Normen Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. 271 enträthſelt und dieſe dann ſchließlich unter der Herrſchaft eines allgemeinen Natur- geſetzes zuſammengefaßt werden. Dieſen Stufengang, deſſen einzelne Abſätze in der erwähnten Disciplin durch die Namen Ptolemäus, Copernicus-Kepler und Newton gekennzeichnet ſind, werden wir auch in dem uns hier beſchäftigenden concreten Falle nachzuweiſen in der Lage ſein; die Pflanzenkunde bis in den Beginn dieſes Jahrhunderts herein repräſentirt die erſte, der Gedankenkreis der Schimper, Braun und Bravais die zweite,) end⸗ lich die im Verlaufe des letzten Jahrzehnts angebahnte Reform die dritte und voraus— ſichtlich letzte Stufe. Den für das geſammte Alterthum un— ) Der Geſchichtſchreiber der Botanik, Sachs, betrachtet die Blattſtellungslehre als eine ſo ziemlich überwundene Durchgangs— phaſe unſerer Erkenntniß, erklärt jedoch ſelbſt (Geſchichte der Botanik vom 16. Jahrhundert bis 1860. München, 1875. S. 181): „Wir möchten dieſelbe in unſerer Literatur ebenſo— wenig entbehren, als etwa die heutige Aſtro— nomie in ihrer Geſchichte die alte Theorie der Epicyklen beſeitigt wünſchen kann.“ Dieſer hübſche Ausſpruch deckt ſich gleichwohl aus zwei weſentlichen Urſachen nicht mit den That— ſachen. Denn erſtlich iſt die epicykliſche Be— wegung noch keineswegs aus der heutigen Wiſſenſchaft verbannt, ſondern wird für alle Zeiten ein wichtiges Hülfsmittel des aſtrono— miſchen Rechnens bleiben. Zweitens aber iſt die mathematiſche Theorie der Blattſtellung, wie ſie aus Schimper's Anregungen her— vorging, ſicherlich nicht der primitiven ſphä— riſchen Aſtronomie, wie ſie die Griechen pfleg— ten, ſondern mit ungleich mehr Recht der fortgeſchrittenen Theorie zu vergleichen, deren Erſchaffung wir Copernicus und Kepler verdanken, und die uns die Dinge doch ſo darſtellt, wie ſie wirklich ſind, wenn ſie auch freilich einen Grund dafür, warum ſie ſo und nicht anders ſind, nicht aufzuzeigen vermochte. 272 faßbaren Gedanken, daß auch der Bau der Pflanze allgemeine Geſetze erkennen laſſe, ſcheint zuerſt der berühmte Caesalpin in feinen „De plantis libri sex“ (Flo— renz 1583) ausgeſprochen zu haben. Ihn mochte dabei ebenſo ſehr ſeine kühne Idee von dem urſächlichen Zuſammenhange aller Naturdinge, als auch ein an kryſtallogra— phiſchen Verſuchen geſchärfter methodiſcher Blick leiten. Indeß konnte zu jener Zeit ein ſolches Apergu keine beſtimmten Formen annehmen und noch weniger von irgend welchen Folgen begleitet ſein. Erſt zwei— hundert Jahre ſpäter bemerken wir einen Fortſchritt. In einem ausſchließlich der teleologiſchen Naturbetrachtung gewidmeten, dabei aber doch neben manchem Ungeheuer— lichen ſehr viele richtige und nutzbare Ge— ſichtspunkte enthaltenden Werke?) ſpricht ſich Bonnet über die Ernährung der Gewächſe aus, als deren hauptſächlichſten Faktor er den Thau des Himmels betrachtet. Dieſen von der Pflanze leicht in ihr Inneres auf— nehmen zu laſſen, habe die Vorſehung zweck— mäßige Vorkehrung getroffen. Des Ver— faſſers eigene Worte find folgende“): „Und damit ſich die Blätter in dieſer Verrichtung nicht ſelbſt hinderten, ſo ſind ſie am Stengel und an den Aeſten dergeſtalt künſtlich ge— ſtellt, daß die unmittelbar vorangehenden niemals die folgenden bedecken. Bald ſtehen ſie paarweiſe und kreuzen ſich unter rechten ) In dieſem Buche (S. 7) findet man auch die bekannte Reihe der Planetenabſtände, welche allerdings bereits Chriſtian Wolf wahrgenommen hatte. Obwohl zunächſt nur teleologiſches Phantaſiegebilde, hat ihre Kennt— niß doch immerhin reale Früchte in der Wiſſen- ſchaft getragen. **) Bonnet, Betrachtungen über die Na— tur, mit den Zuſätzen der italieniſchen Ueber— ſetzung des Herrn Abt Spallanzani her— ausgegeben von Titius, Leipzig 1772. S. 126. Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. Winkeln; bald ſind ſie unter Polygonal— winkeln um die Aeſte ſolchergeſtalt geſtellt, daß die Winkel des unteren ſich nach den Seiten des oberen Vieleckes richten. Manch— mal ſteigen ſie längs dem Stengel oder längs den Aeſten in einer oder mehreren parallelen Spirallinien hinauf.“ Dieſe erſten primitiven Beobachtungen Bonnet's gaben ihm Anlaß, ſich eingehen— der mit der durch dieſelben ſozuſagen ſigna— liſirten Geſetzmäßigkeit des Pflanzenkörpers zu beſchäftigen. Sein mehrere getrennte Abhandlungen vereinigendes Hauptwerk: „Recherches sur P'usage des feuilles dans les plantes“ iſt ins Deutſche über— tragen worden, und wir beziehen uns hier auf dieſe deutſche Ausgabe.“) Er ſtudirte genauer die Eigenſchaft jener fünfblättrigen Spirenſtellung, welcher man gewöhnlich den Namen des „Quincunx“ beilegt, und ſtellte feſt, daß dieſe häufige Anordnung auch mit anderen Blattſtellungsformen an ein und demſelben Stengel auftrete. Ebenſowenig entging ihm die Thatſache, daß nicht blos der eine, ſondern ebenſo gut der andere Drehſinn bei den betreffenden Spiralen zur Geltung kommen könne. Ja ſogar von der Möglichkeit anderer Grundzahlen, als der oben genannten fünf, war er überzeugt. Obwohl es ihm jedoch nicht gelang, die letztgenannte Frage auf Grund thatſächlicher Belege weiter zu fördern, ſo hatte er doch den erſten Anſtoß gegeben, und De Can— dolle, der überhaupt am meiſten unter den Botanikern der nächſtfolgenden Periode an Bonnet'ſchen Traditionen feſthielt, brachte zahlreiches neues Material zur end— ) Bonnet, Unterſuchungen über den Nutzen der Blätter bei den Pflanzen, und einige andere zur Geſchichte des Wachsthums der Pflanzen gehörige Gegenſtände, überſetzt von Arnold. Nürnberg 1762. gültigen Entſcheidung der noch zweifelhaften Verhältniſſe bei. Seine hierauf bezüglichen Unterſuchungen hat er hauptſächlich im erſten Bande feiner „Organographie végétale“ (Paris 1827) niedergelegt. Bis zu dieſem Punkte war denn alſo die Frage, ob die ſeitlichen Auswüchſe des Längskörpers willkürlich oder in regelmäßig— angebbarer Weiſe an dieſem letzteren ver- theilt ſeien, in den zwanziger Jahren dieſes Jahrhunderts gediehen; bedeutend können, wie man ſieht, die bis dahin erzielten Re— ſultate in keiner Weiſe genannt werden. Da fügte es ein günſtiges Schickſal, daß durch das Zuſammenwirken zweier con— genialer und perſönlich befreundeter Männer mit einem Schlage jener Uebergang ſich vollzog, welcher die bisher erkannten unzu⸗ länglichen und zerſtreuten Details als Aus— flüſſe eines oberſten, die ganze organiſche Natur“) durchdringenden geometriſchen Satzes auffaſſen und verſtehen ließ. In den Jahren 1825 — 30 ſtudirten und arbeiteten an den Univerſitäten Heidel— berg und München gemeinſchaftlich zwei junge Leute, Karl Schimper und Alexander Braun. Zu eigener Ar- beit in dem mathematiſchen Capitel der Botanik ſcheint Letzterer der Hauptſache nach von Erſterem angeregt worden zu ſein, doch Jahre hindurch gehegten Abſicht, die ganze war es Braun vorbehalten, die erhaltenen Eindrücke in einer die Leiſtungen des Freun⸗ des weitaus überragenden Weiſe fortzubil— ) Daß damit nicht zu viel gejagt, viel- mehr auch im Bereiche der Zoologie eine ähnliche Geſetzlichkeit allem Anſchein nach ver— borgen iſt, beweiſen u. a. die zahlreichen Studien Naumann's über die Windungs- verhältniſſe der verſchiedenen Conchyliengehäuſe (Sitzungsberichte d. kgl. ſächſ. Geſellſch. d. Wiſſenſchaften). Faſt jede Species muß ſich einer ganz beſtimmten Curve der höheren Geometrie unterordnen. | | | Günther, Das mathematiſche Grundgeje im Bau des Pflanzenkörpers. 273 den. Daß er ſchon ſehr frühzeitig mit ſelbſtſtändigen Ideen über dieſe ſpätere Hauptaufgabe ſeines Lebens ſich trug, geht I is u. a. beſonders aus einem Privatbriefe vom 10. Januar 1828 hervor, in welchem er Ihreibt*): „Bei Martius habe ich neu— lich einen Vortrag über die Blätterſtellung gehalten, worin ich Alles aus dem Quirl ableite, während Martius uns acht Tage vorher einen gab, wo er Alles aus der ſpiraligen Stellung zu erklären ſuchte.“ Nicht viel ſpäter gelang ihm die folgen— reiche Entdeckung, daß in den Umläufen der Schuppen um den Körper eines Tannen⸗ zapfens eine unter allen Umſtänden gleich bleibende Normalanordnung zu Tage trete, eine Entdeckung, welche er denn auch in einer höchſt umfangreichen Monographie dem— nächſt gebührend ausbeutete.“ ) Leider hat Braun ſeine Abſicht, dieſer einleitenden weitere umfaſſende Unterſuchungen nachfolgen zu laſſen, nicht ausgeführt, wozu ihn weſentlich freundſchaftliche Rückſicht auf Schimper's reizbaren Charakter be— ſtimmte; nur für gewiſſe ſpecielle Pflanzen- formen hat er noch ſpäter — beſonders in den Schriften der Berliner „Geſell— ſchaft naturforſchender Freunde“ — die Blattſtellungsverhältniſſe erörtert. Von Schimper's Feder ſind trotz ſeiner lange Lehre ſyſtematiſch zu bearbeiten, nur einige Aphorismen in Journalen erſchienen, und ſeine Verdienſte würden wohl gänzlich der Vergeſſenheit anheim gefallen ſein, hätte nicht Braun ſeines Genoſſen ſich angenommen *) Alexander Braun /, Leopoldina, Heft XIII. S. 54 u. 55. h Braun, Vergleichende Unterſuchungen über die Ordnung der Schuppen an den Tan— nenzapfen, als einleitende Unterſuchung der Blattſtellung überhaupt, Nova Acta Acad. Leop. XV. Bd. S. 195 flgde. und in einer eigenen Abhandlung!) deſſen Leiſtungen der wiſſenſchaftlichen Welt ins Gedächtniß gerufen. Die Quinteſſenz der von beiden Forſchern erſchloſſenen Theorie in populärer Weiſe wiederzugeben, iſt der Zweck der folgenden Zeilen. Indem wir von allen Ausnahmen ab— ſehen und uns einzig und allein an die theoretiſch niaßgebende Anordnung halten, gewinnen wir folgende allgemeine Anſchau— ung. Suchen wir zwei Blätter an einem Stengel auf, deren Befeſtigungspunkte ſo nahe als möglich an einander auf ein und derſelben Seitenlinie des Axencylinders (Stengels) gelegen ſind, und verbinden wir alle zwiſchen dieſen bei— den gelegenen Stielanſätze, ihrer allmälig immer größer werdenden Entfernungen vom Erdboden entſprechend, durch einen Curven— zug, ſo erkennen wir in dieſem, wie ja ſchon Bonnet bemerkte, eine Spirale, wie ſich die Botaniker ausdrücken. Wir würden dafür lieber die mathematiſch richtigere Be— zeichnung Schraubenlinie ſubſtituiren. einzelnen Pflanzen nun iſt das Arrangement ein ſo einfaches, daß bereits ein einziger Schraubengang wieder ein Blatt ſenkrecht über das die Zählung beginnende bringt und damit den Cyklus abſchließt, jedoch wird dieſer einfachſte Fall nur ſelten ange— troffen. Häufiger treten complicirtere Verhält— niſſe auf, deren gemeinſames Band uns jedoch Braun durch ein Geſetz erkennen lehrte, welches etwa folgenden Tenor haben könnte: Bezeichnet man mit Null jenes Blatt, welches man zum Anfangs— ) Dr. Karl Schimper's Vorträge über die Möglichkeit eines wiſſenſchaftlichen Verſtändniſſes der Blattſtellung, als Andeut— ung der hauptſächlichſten Blattſtellungsgeſetze und insbeſondere der neuentdeckten Geſetze der Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. Bei gehören, welche als Geſammtheit durch die Aneinanderreihung von Cyklen verſchiedener Maße, Flora, 18. Jahrg. Nr. 10, 11, 12. punkt der Zählung machen will, ſo befindet ſich nachm Schrauben— umgängen ein ntes Blatt wieder ſenkrecht über Null, wo m unden ganze, ſonſt beliebig variirende Zahlen darſtellen m>m) Der echte Bruch — wird die Di⸗ vergenz der Blattſtellung genannt. Die dieſem Geſetze entſprechend am Stamme ſich hinaufwindende Schrauben- linie, wie ſie uns z. B. Fig. 1 für den Specialfall m = 5, n = 14 zum Aus⸗ druck bringt, führt in den grundlegenden Arbeiten der beiden Forſcher den Namen des „Grundwendels“ oder der „urſprüng— lichen Spirale“. Außer dieſer unterſcheiden dieſelben an jedem Gewächſe noch „diagno— ſtiſche“ und „paragnoſtiſche“ Spiralen, welche man ſeitdem bequemer als „ſecundäre Spi— ralen“ zuſammenzufaſſen ſich gewöhnt hat. Es ergiebt ſich nämlich, daß bei einzelnen Gattungen noch drei weitere Schrauben— linien am Stengel hinauflaufen, denen be— ziehungsweiſe all' diejenigen Blattſtiele zu— algebraiſchen Ausdrücke 3m, 3m + 1, 3m +2 (m = 0, 1, 2,3 . . .) charakteriſirt erſcheinen. Andere Pflanzenformen laſſen fünf ſolcher Nebenſpiralen wahrnehmen, andere acht u. ſ. w. Uns kommt es jedoch weſentlich auf diejenige Verbindungs⸗ linie an, welcher nicht nur ein aliquoter Theil, ſondern die Geſammtheit aller Blätter angehört, denn in dieſer Linie, welche eben der Grundwendel iſt, ſpricht ſich das ma— thematiſche Geſetz der Blattſtellung am Un— zweideutigſten aus. Würde die Beobachtung feſtgeſtellt haben, daß Zähler und Nenner des oben genann— ten Buches 1 jeden beliebigen Zahl- werth annehmen könnten, ſo müßte man ſich begnügen, eine Tabelle aller in der nen L — — ——— — - 275 Natur auftretenden Verbindungen anzulegen; von irgendwelcher Theorie könnte keine Rede mehr ſein. Allein ſo verhält es ſich in Wirklichkeit nicht; vielmehr gelang Schim⸗ per und Braun folgende wichtige Ent- deckung: Von Ausnahmen abgeſehen, ord— nen ſich alle beobachteten Diver- genzbrüche einer mathematiſchen Regel unter; d. h. es kommen nur ſolche vor, welche als Glieder in der geſetzmäßig fortſchreitenden Reihe enthalten ſind. Um die Art und Weiſe des Fortſchrei— tens in dieſer Reihe klar zu überſehen, be— trachte man drei aufeinanderfolgende Glieder derſelben, deren Beſtandtheile wir, gewöhn— lichem mathematiſchen Gebrauche folgend, durch angehängte Zahlen (Indices) ihrem Ort in der Reihe gemäß fixiren. Sind es folgende: Pe, Pa Pat il Gn ; q n 5 ſo erkennt man unmittelbar, daß DP AI = pu + pi, q fi = An - di, iſt. Da alſo Zähler und Nenner nach ein und derſelben Norm gebildet ſind, ſo müßten ſämmtliche Brüche der Einheit gleich ſein, wofern nicht der Anfangspunkt der Zählung für die Zähler ein anderer wäre als für die Nenner. Die Art und Größe der Verſchiebung kennzeichnet ſich durch nach— ſtehende Beziehung: P ni =.4 ni M> 2). Jene Reihe nun, welcher die Zähler wie die Nenner gleichmäßig angehören, iſt unter Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. dem Namen der Lam é'ſchen Reihe in der Mathematik bekannt, obwohl ihre wichtigſten Eigenſchaften bereits im dreizehnten Jahr— hundert von Leonardo Fibonacci auf— gefunden worden ſind. Andererſeits bemerkte Braun, daß von dem erſten ſymboliſchen Bruche / abgeſehen, jeder Divergenzbruch ein Näherungsbruch des unendlich fortlau— fenden Kettenbruches F ſei; dieſes Zahlgebilde alſo recht eigentlich das Blattſtellungsgeſetz repräſentire. Es ſcheint gleich hier der richtige Ort zu ſein, die Stellung der teleologiſirenden Aeſthetik eines Zeiſing zu der in Rede ſtehenden Theorie zu beſprechen und zu kennzeichnen. Der genannte Gelehrte hielt es bekanntlich für ſeine Lebensaufgabe, das Grundgeſetz des ſogenannten goldenen Schnit— tes allüberall in Kunſt und Natur als das für den ſchöpferiſchen Willen maßgebende nachzuweiſen. Daſſelbe beſteht darin, daß eine Streckentheilung dann den unſerem Auge wohlgefälligſten Eindruck hervorbrin— gen ſoll, wenn die ganze Strecke zum größe— ren Abſchnitt das gleiche Verhältniß beſitzt, wie jener zum kleineren. Jene mittlere Größe (Mediane oder Major) iſt algebraiſch durch den Ausdruck ½ (V 5—1) gegeben, wenn die getheilte Strecke ſelbſt mit der Einheit identificirt wird; entwickelt man aber dieſen Wurzelausdruck nach bekanntem Verfahren in einen continuirlichen Bruch, ſo erhält man dieſen: me ech 142 Durch Subſtitution deſſelben nimmt die Braun 'ſche Formel folgende Geſtalt an: ½% 3 — V5) 36 276 Wie leicht zu erſehen, drückt ſich jedoch hierdurch der kleinere Abſchnitt oder Minor aus, und Zeiſing durfte ſich alſo in ſeinem Sinne ſehr wohl zu der Behaupt— ung berechtigt fühlen: „Denkt man eine gewiſſe ideale Einheit durch die Anzahl der zwiſchen zwei Indi— viduen der nämlichen Seitenlinie angehörigen eingeſchobenen Blätter gegeben und drückt man die Diſtanz der beiden erſtgenannten Blätter in Theilen dieſer Einheit aus, ſo bieten die in der Natur thatſächlich zu be— obachtenden Verhältniſſe der analogen Größen eine von der ſpeciellen Beſchaffenheit der Pflanze abhängige fortſchreitende Annäherung an jenes Geſetz dar.“ Wir werden uns ſpäter überzeugen, daß und wie Zeiſing's teleologiſcher Formalismus, welcher in altpythagoräiſchem Geiſte lediglich an die Zahlen ſich hielt und die dieſen Zahlbeziehungen zu Grunde liegenden molekularmechaniſchen Bedingungen überſah, trotzdem halb unbewußt auf die richtige Spur hinüberleitete. Vorläufig haben wir es mit der Braun-Schimper'ſchen Theorie noch weiterhin zu thun. Obwohl jener erſtgenannte Kettenbruch der relativ häufigſte iſt, fo erſcheint er doch ſelbſt wieder als ein Unterfall einer noch weit allgemeineren Form, nämlich der nach— ſtehenden: 1. 1 05 m It se 1 E wo m anſcheinend jeden ganzzahlig-poſitiven Werth anzunehmen im Stande iſt. Ge— wiſſe Brakteen und Euphorbien z. B. fügen ſich dem Falle m = 3; als dem Werthe m — 4 untergeordnet erſcheinen gewiſſe Ausnahmen der Lykopodien u. ſ. w. Wer ſich über den eigentlich botaniſchen Charakter der allgemeinen Brau n'ſchen Formel unter- Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. richten will, dem iſt beſonders die Lektüre des bezüglichen Kapitels in Hof meiſter's „Handbuch“ anzurathen, welchem auch die ſo— eben angeführten Beiſpiele entnommen find*). Eine Ausnahme von der allgemeinen Regel für die Anordnung der Blätter bildet die ſogenannte Quirlbildung; alsdann bil- den“ *) „die Organe Querreihen auf der eben gelegten Oberfläche des Mutterorga- nes“. Zur völligen Einſicht in die Sache wird es gut ſein, daran zu erinnern, daß beim Abrollen des Cylinderumfangs in einer Ebene ſämmtliche auf jenem verzeich— nete Schraubenlinien in gerade Linien ſich verwandeln müſſen !*). Fallen dieſe Linien horizontal aus, ſo bilden eben die auf ihnen aufgereihten Blätter Quirle. Wer mit mathematiſchem Auge dieſen Vorgang be— trachtet, wird keinen Augenblick anſtehen, die Permanenz des früheren Geſetzes auch jetzt noch anzuerkennen, und in der That definirte Braun die betreffenden Kreiſe ſehr einfach als Schraubenlinien von der Ganghöhe Null. Nur bedarf es dann noch eines naheliegenden Zuſatzes. Da nämlich jedes vom Erdboden weiter entfernte Blatt etwas ſpäter entſtanden ſein muß, als das in der Spirale ihm unmittelbar vorauf⸗ gehende, ſo können, wenn anders jene Er— klärung der Quirlbildung das Richtige trifft, nicht ſämmtliche Blätter ein und deſſelben Parallelkreiſes gleichzeitig aus dem Axen⸗ ) Hofmeiſter, Die Lehre von der Pflanzenzelle, Leipzig 1867. S. 440. ) Naegeli-Schwendener, Das Mi- croſkop, Leipzig 1877. S. 616. ) Man denke an die analoge Merca— tor'ſche Abbildung der Kugel auf einer Cylin⸗ derfläche und durch dieſe auf einer Ebene, durch welche ja auch die der Blattſpirale ana- loge loxodromiſche Curve in eine ſämmtliche Meridiane unter gleichem Winkel ſchneidende Gerade übergeführt wird. S 2 Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. körper hervorgeſproßt ſein. In der That gelangten Schimper und Braun ſo weit, in den von ihnen mit den etwas abenteuerlichen Namen „Cyclarblatt“ und „Cyclurblatt“ belegten Blättern eines be— ſtimmten Cyclus das Anfangs- und End- glied — chronologiſch gedacht — zu er- kennen. Von letzterem war dann alſo an— zunehmen, es ſtehe um ein unendlich Geringes vertikal über dem erſten Blatt; damit über- trug ſich dann die Lehre von den Diver— genzbrüchen ohne Weiteres auch auf den ſcheinbar paradoxen Specialfall. Auch der oben ganz unverſtändlich gebliebene Diver— genzbruch gewinnt nunmehr feine an— ſchauliche Bedeutung. Zum Schluße ſei noch kurz von der ſogenannten „Prosentheſe“ Schimper's die Rede; wir behalten aus hiſtoriſchen Gründen dieſes Kunſtwort vorläufig noch bei, obwohl neuere Forſcher demſelben, als auf falſchen phyſiologiſchen Vorausſetzungen beruhend, die Berechtigung abgeſprochen haben?). Die Winkelentfernung, welche das Cyklarblatt eines Quirls von dem Cyklur des nächſt unteren trennt, iſt mit der Größe des zwiſchen zwei Blättern des nämlichen Quirles enthaltenen Kreisbogens nicht iden— tiſch, vielmehr beſteht eine Differenz, welche eben Prosentheſe genannt ward. Verſteht man unter /, irgend einen Bruch aus der bekannten Reihe ar 3 5 . unter ¾ den Divergenzcoöéfficienten für zwei aufeinanderfolgende Blätter im Quirl, ſo ſoll für die Prosentheſe der Ausdruck Eh a, u (jr) rin er gegeben fein, oder, mathematiſch geſprochen, für den Ausnahmefall der Quirlſtändigkeit 7 ) Hofmeiſter, a. a. O. S. 459. 277 würde man eine Verbindung von abſteigenden und aufſteigendeu Kettenbrüchen benöthigen. Wir haben im Vorſtehenden das Weſen der Schimper-Braun 'ſchen Neuerung, wie wir glauben hinlänglich erſchöpfend, dar- geſtellt. Allerdings wäre noch von gar mancher iutereſſanten Einzelheit ihrer Ar- beiten zu berichten, ſo beſonders betreffs des verſchiedenen Drehſinnes der Spiralen, welcher oft an demſelben Baume oder Stengel in der überraſchendſten Weiſe wech— ſelt; nicht minder müßte eine erſchöpfende geſchichtliche Ueberſicht der zahlreichen ſecun— dären Unterſuchungen gedenken, wie ſie u. a. von Lind, Ohlert, Naumann!) an⸗ geſtellt worden find. Allein wir unſerer⸗ ſeits dürfen nicht vergeſſen, daß unſere Auf- gabe eine weſentlich andere iſt und daß uns die hiſtoriſche Entwickelung nur inſofern beſchäftigt, um mit ihrer Hülfe recht augen⸗ fällig den endgültigen Sieg der bewußt— mechaniſchen über die arithmetiſch-teleologiſche Weltanſicht darthun zu können. Der nächſte Schritt zu einer Blattſtell⸗ ungslehre geſchah ein Jahrzehnt ſpäter durch die Gebrüder Bravais. Während die beiden deutſchen Gelehrten die geometri— ſchen Verhältniſſe des Pflanzenkörpers etwas einſeitig, blos unter dem Geſichtspunkte eines Subſtrates für ihre arithmologiſchen Specu— lationen, aufgefaßt hatten, ließen ſie das jenen ſelbſtſtändig zukommende Intereſſe einiger⸗ maßen außer Acht. Abſtrakt genommen ließ ſich ſonach zwiſchen jenes erſte mathe- matiſche Stadium und die vorläufig noch kaum mögliche Periode der aprioriſchen Er- gründung eine ſolche eingeſchoben denken, in der hauptſächlich die analytiſche Würdigung der Erfahrungsthatſachen zu ihrem Rechte gelangen ſollte. Zumal A. Bravais ) Naumann, Ueber den Quincunx als Grundgeſetz der Blattſtellung, Leipzig, 1845. 278 hatte von dev Möglichkeit, Mathematit, und zwar ziemlich feine, auf Gegenſtände der organiſchen Naturforſchung anzuwenden, be— reits vielfache Proben gegeben, wie dies beſonders ſeine in Gemeinſchaft mit dem bekannten Pflanzengeographen Martins unternommenen Studien über das Dicke— wachsthum der Pinusgattungen in verſchie— denen Erdſtrichenn) darthun. Wir legen dem Referate über die von beiden Fran— zoſen an den Aufſtellungen unſerer Lands— leute vorgenommenen, zum Theil tief ein— ſchneidenden Modificationen jene deutſche Bearbeitung zu Grunde), welche die ur- ſprünglich in einer Zeitſchrift abgedruckte und ſonſt ſelten gewordene Originalabhand— lung“ *) wohl ſo ziemlich erſetzt. Jene Theilſpiralen, welche nur einen beſtimmten aliquoten Theil ſämmtlicher vor— handener Blätter in gleichen Abſtänden ent- halten, werden hier als „ſecundäre“ Spiralen bezeichnet; die Anzahl ſolcher (parallelen) Schraubenlinien iſt die „ſecundäre“ Zahl. Für ein und dieſelbe Pflanze kann es ver— ſchiedene ſecundäre Zahlen d. h. verſchiedene Syſteme ſecundärer Spiralen geben, welche am beſten von einander durch den Winkel unterſchieden werden, den fie mit der Axen— richtung bilden. Sind nun — ſo lautet der erſte Bravais'ſche Hauptſatz — die ſecundären Zahlen relative Primzahlen *) A. Bravais et Ch. Martins, Sur la croissance du pin silvestre dans le nord de l'Europe, Extrait du tome XV. de l’aca- demie royale de Bruxelles. ) L. und A. Bravais, Ueber die geo— metriſche Anordnung der Blätter und der Blüthenſtände, aus dem Franzöſiſchen überſ. von Walpert, Breslau, 1839. obwohl er bei vorliegendem Aufſatz aus ziem— lich reichhaltigen Quellen ſchöpfen durfte, nicht zu Geſicht zu bekommen. Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. (Zahlen, für deren Geſammtheit kein einziger gemeinſamer Theiler außer Eins exiftirt), ſo läßt ſich behaupten, daß durch ſämmtliche Anheftungspunkte der Blätter eine und nur eine Schraubenlinie (der Grundwendel) ge— führt werden kann, und daß die Divergenz zwiſchen zwei aufeinanderfolgenden Blättern die gleiche iſt. Weſentlich anders geſtaltet ſich die Sache, wenn die ſecundären Zahlen einen gemeinſchaftlichen Diviſor K beſitzen. Alsdann nämlich finden ſich zu einem ge— wiſſen Blatte noch (k — 1) andere mit jenem in gleicher Höhe befindliche Blätter hinzu, welche ſonach einen Quirl bilden; es leuchtet ein, daß dann von einer alle Befeſtigungspunkte (insertions) verbindenden Grundſpirale nicht die Rede ſein kann. Wohl aber kreuzen ſich die verſchiedenen Quirle unter einem ſtets gleichbleibenden Divergenzwinkel. Während Schimper und Braun in dem Divergenzwinkel zweier conſecutiver Inſertionen unter allen Umſtänden einen rationalen Bruchtheil einer vollen Umdreh- ung erblickten, glaubten die beiden Bravaisd) dieſe Winkelgröße für irrational erklären zu müſſen. Ihnen zufolge kommen in der Natur nachſtehende Werthe thatſächlich vor: 1370 30“ 28“ 99930 6% 77 57,19 15188“ weitaus am häufigſten findet man den erſt⸗ genannten. Derſelbe entſpricht der recurrenten Reihe 1, 2, 3, 5, 8 . . . in einer gleich nachher zu erläuternden Weiſe, wie denn überhaupt jeder der obigen Winkelwerthe zu dem Kettenbruche 1 (m 2, 3, 4 1 iu leicht angebbarer Relation ſteht. ) L. et A. Bra vais, Memoire sur la disposition géométrique des feuilles et des inflorescences, Paris 1838. Günther, Das mathematische Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. Von den ſonſtigen Ergebniſſen der franzöſiſchen Autoren ſei, als für unſere Tendenzen bemerkenswerth, nur noch der Nachweis ſogenannter „falſcher“ Quirle hervorgehoben, welch’ letztere ſich bei ſchärferer Betrachtung in verſchiedene Spiralen auf— löſen laſſen. Auch die weitere Beobachtung, daß der Grundwendel ſowohl einerſeits bis in die unterirdiſchen Aeſte, als auch auf der anderen Seite bis in die Blüthenorgane ſich hinein verfolgen laſſe, mußte geeignet erſcheinen, auf den von der Natur befolgten „Bauplan“ ein helles Licht zu werfen. Einzelne Anſätze zur Erſetzung der rein geometriſchen durch eine mehr mecha— niſche Betrachtungsweiſe finden ſich aller— dings vor, jedoch iſt in den dahin zielenden Aeußerungen, wie wohl die Richtung und Beſchaffenheit der Spiralen in jedem Falle durch die im Pflanzenkörper thätigen Kräfte bedingt ſein möchten, ein beſtimmtes Syſtem des Nachforſchens noch nicht zu erkennen. Vergleicht man die Theorien der Deutſchen und der Franzoſen mit einander, ſo entdeckt man viel Gemeinſames, aber doch auch wie— der einzelne gewichtige Unterſcheidungslehren. Insbeſondere nimmt die erſtere der beiden an, der nämlichen Seitenlinie des Axen— cylinders gehörten ſtets mehrere Inſertionen an, während nach Bravais ſtrenge ge— nommen kein Blatt ſenkrecht über reſp. unter einem andern ſteht. Und trotzdem beſteht, worauf weiter oben bereits hingewieſen ward, zwiſchen den beiden anſcheinend ſo grundverſchiedenen An— ſchauungskreiſen ein inniger Zuſammenhang, der merkwürdiger Weiſe der ſonſt chimäriſchen Idee Zeiſing's von der präſtabilirten Aeſthetik der Naturkörper eine neue Stütze verleiht. Betrachtet man nämlich den einem Kreiſe gleichgeachteten Stengelumfang als eine nach dem goldenen Schnitt zu theilende 279 Lineargröße und ſucht zu derſelben den Minor x, jo hat man x aus der Proportion 360: (360— x) = (360 —- ): X zu entnehmen und findet x = 137 ½, alſo gleich jenem Winkel, welchem alle in der Natur vorkommenden Divergenzwinkel als einer gewiſſen idealen Grenze entgegenzu— ſtreben ſcheinen. Sollte demnach doch viel— leicht dem teleologiſchen Geſetze ein tieferer cauſaler Grund inne wohnen? Sollte viel- leicht überhaupt, oder nur in der Anwend— ung auf ſpeciell-botaniſche Verhältniſſe, das Abſprechen über die Möglichkeit einer die ganze Natur durchziehenden arithmetiſchen Schönheitsregel ein vorſchnelles geweſen ſein? Im zweiten Theile einer unlängſt erſchiene⸗ nen Schrift über rationelle Mechanik“) unter⸗ ſucht P. Langer die Gültigkeit der beiden von Fechner aufgeſtellten äſthetiſchen Funda— mentalſätze. Das Symmetriegeſetz und das auf der sectio aurea beruhende Dimenſionengeſetz ſtehen ſich unvermittelt gegenüber, es iſt die Grenzlinie für die Fälle, in welchen das eine und in welchen das andere am Platze, ſelbſt für den Geſetzgeber eine ſchwer an— gebbare. Da hat nun Langer, unſeres Bedenkens ſehr mit Recht, eine ſolche Grenze für lineare Beziehungen und damit auch für complicirtere Formverhältniſſe, in folgen⸗ der Weiſe ausgemittelt. Die Schwerkraft iſt es, die einen ſehr intregrirenden, aber bislang wenig beachteten Beſtimmungsfaktor bei der Beurtheilung eines Eindruckes, ob ſchön, ob nicht ſchön, abgiebt. Liegt eine Strecke horizontal, jo werden ihre ſämmt— lichen Punkte von der Anziehung der Erde gleichmäßig beanſprucht; es entſcheidet ſonach lediglich der „direkte“ Eindruck im Fechner ſchen Sinne, weil der „aſſociative“ voll⸗ *) Langer, die Grundprobleme der Mechanik. Eine kosmologiſche Studie, Halle, 1878. S. 55 ff. 280 fommen in den Hintergrund gedrängt ift, und der einzige geometriſch ausgezeichnete iſt der die Strecke halbirende Punkt. Gerade entgegengeſetzt verhält ſich alles bei einer vertical aufgerichteten Strecke; hier iſt der aſſociative Eindruck, welcher unwillkürlich die Schwere mit in Betracht zieht, der maß— gebende, und der goldene Schnitt tritt in ſein volles, nicht uſurpirtes Recht. Erklären wir uns mit dieſer principiellen Scheidung einverſtanden, ſo können wir der vagen An— nahme der älteren Blattſtellungslehre die immerhin ſchon viel präciſere Behauptung entgegenſtellen, daß die Neigung der inneren Pflanzenkräfte, äußerlich kennbare mathe— matiſche Geſetzmäßigkeit zu reproduciren, durch die im Bau des Stengels oder Stam— mes unmittelbar zum Ausdruck kommende Schwerkraft bedingt ſei. Allein auch dieſe Formulirung hat noch einen viel zu natur— philoſophiſchen Anſtrich, um für mehr als für einen bloßen Uebergang gelten zu können. Doch mag ſie billig dazu dienen, die neue Periode einzuleiten, zu deren Charakteriſirung wir uns nunmehr zu wen- den haben. Wie wir uns ſchon früher zu über— zeugen Gelegenheit hatten, war die moderne Pflanzenphyſiologie, die ſich im Laufe der letzten Jahrzehnte jo raſch und kräftig ent- wickelt hat, unſerer Lehre nicht eben beſonders günſtig geſtimmt, und zwar aus ſehr acht— baren Gründen. Hofmeiſter drängte den generellen Grundgedanken der ſpiraligen Blattordnung in die allgemeine Regel zu— ſammen, daß neue Seitenaxen aus dem eigentlichen Axenkörper immer an denjenigen Orten hervortreten, welche von den benach— barten Inſertionen am weiteſten entfernt ſind. Im Großen und Ganzen würden ſich die Braun-Bravais'ſchen Zahlen dieſer Norm allerdings fügen, die ſpecifiſch Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. mathematiſche Regelmäßigkeit aber käme in Wegfall. Freilich blieb damit vorläufig die Frage noch unbeantwortet, ob nicht denn doch in den von Hofmeiſter urgirten Dehnbarkeitsverhältniſſen des Pflanzenge⸗ webes ebenfalls mathematiſch fixirbare Unter- ſchiede ſich nachweiſen ließen. An dieſe wichtige Frage ſcheint zuerſt Fankhauſer“) herangetreten zu ſein. Er adoptirt im Weſentlichen die Anſichten ſeines Vorgängers, nimmt aber dazu beſonders noch die That- ſache hinzu, daß die Bildung einer neuen Inſertion ſtets dann zu erfolgen pflegt, wenn die umliegenden Zellen eine hinläng— liche Quantität Waſſer in ſich aufgenommen haben, um durch daſſelbe erweitert und nach Außen gewölbt zu werden. „Die Stelle der Bildungszone aber, an welcher die vege⸗ tativen Kräfte bis zur Anlage eines neuen Blattes oder Seitentriebes ſich ſummiren, wird durch den Ort jüngſt vorhergegangener Blattbildungen beſtimmt.“ Im Allgemeinen nun wird der gewöhnliche Zuſtand eines bereits ausgebildeten Complexes von einigen wenigen Inſertionen der ſein, daß dieſelben eine mehr oder minder willkürliche Lage am Axencylinder (Kegel) einnehmen, und daß in einer derſelben die ſproſſentreibende Kraft, von deren Weſen in phyſikaliſch— chemiſcher Hinſicht weiter oben die Rede war, ſich ſtärker geltend macht, als in den übri— gen. In dieſem wie geſagt durchgängigen Falle iſt nach Fankhauſer die Beding— ung zu einer ſpiraligen Folge der Blatt— anſätze gegeben, und wenn man ſich noch klar macht, daß neue Blätter immer über der weiteſten Lücke entſtehen, welche die unmittel- ) Verf. konnte ſich zu ſeinem Bedauern die Originale in den Berner „Mittheilungen“ nicht verſchaffen und ſah ſich auf das früher im „Kosmos“ (Bd. I. S. Referat angewieſen. 437 flgde.) erſchienene Günther, Das mathematische Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. baren Vorläufer zwiſchen ſich laſſen, ſo müſſen die Stellungsverhältniſſe der recurrenten Reihe Braun's ſich fügen. Dieſer letzte Schluß erſcheint uns mit Rückſicht auf die bekannte und auch von uns hervorgehobene algebraiſche Eigenſchaft jener Reihe als ganz plauſibel, aber doch keineswegs als völlig zwingend. Die Auffaſſung Fankhauſer's hat zweifellos das Verdienſt, die Nothwendig— keit eines der Geſammtheit der mechaniſch— phyſiologiſchen Entſtehungsbedingungen gleich— werthigen und ſie darſtellenden mathematiſchen Geſetzes dargethan und damit die Frage— ſtellung ſelber zu einer ungleich beſtimmteren gemacht zu haben, — aber daß und warum fragliches Geſetz gerade eben das des golde— nen Schnittes, kurz zu reden, ſein müßte, ſcheint uns nicht klar genug. Hier hatte nochmals die Forſchung einzuſetzen, wenn ein voll befriedigendes Reſultat erzielt werden ſollte, und, wie es ja erfahrungsmäßig ſo häufig zu gehen pflegt, ſehr bald nach jenem vorbereitenden Löſungsverſuche folgte derjenige Schwendener's, welcher von einer wirklichen und abſchließenden Löſung jedenfalls nur noch in Details ſich unterſcheidet. Unwillkürlich waren in allen bisherigen Unterſuchungen immer zwei Fragen mit einander verquickt worden, die thatſächlich doch hätten auseinandergehalten werden ſollen. Man bekümmerte ſich hauptſächlich um die Bildung neuer Blattorgane und gab allerdings zu, daß dieſelben während ihres Primordialzuſtandes durch den Druck der anderen beeinflußt würden, aber man trennte dieſe beiden Vorgänge nicht mit der nöthigen Schärfe. Schwendener hingegen erklärt“) gleich beim Beginn ſeines bahnbrechenden ) Schwendener, Ueber die Verſchieb⸗ ungen ſeitlicher Organe durch ihren gegen— ſeitigen Druck, Verhandl. d. naturforſch. Gef. zu Baſel, 6. Theil, 2. Heft, S. 229. 281 Aufſatzes, er werde von den Bedingungen des Entſtehens neuer lateraler Auswüchſe vollſtändig Abſtand nehmen und ausſchließ— lich „die nachträgliche Verſchiebung der Or— gane, nachdem ſie mindeſtens die Form von Höckern erlangt haben, durch ihren gegen— ſeitigen Druck“ behandeln. Dieſe Ver— ſchiebung ſtellt ſich uns dar als eine Reſul— tante aus der dem Mutterorgan inhärenten Wachsthumscomponenten nach Länge und Dicke. Hat letzteres z. B., wie in den meiſten Fällen, die vorwiegende Tendenz, ſich in transverſaler Richtung auszudehnen, jo werden in dieſer Richtung die Wider— ſtände ein Kleinſtes, in der longitudinalen ein Größtes ſein. Da ferner kein Blatt vor allen anderen durch irgend welche geo— metriſche oder mechaniſche Beſonderheiten ausgezeichnet iſt, jo kann jedes Individuum mit gleichem Rechte zur Grundlage der Be— trachtung genommen werden, und es kann mithin die zu entſcheidende Frage in folgen— der Form *) vorgelegt werden: „Auf ein ſeitliches Organ, das man ſich als das oberſte eines zu— ſammengehörigen Complexes den— ken mag, wirke ein longitudinaler, d. h. der Axe des Mutterorgans paralleler Druck; wie pflanzt ſich derſelbe nach unten fort und wel- ches ſind die reſultirenden Wirk— ungen?“ Der Ueberſichtlichkeit halber wird die jedenfalls nahe zutreffende Annahme ge— macht, die Baſis der Seitenfortſätze mit welcher dieſelben auf dem Stamm auffſitzen, ſei ein vollkommener Kreis. Jeder einzelne ſolche Kreis wird im Allgemeinen mehrere benachbarte Kreiſe tangiren; die durch die Mittelpunkte hindurchgehende Schraubenlinie geht dann bei der Abwickelung des Cylinder— „ Schwendener, a. a. O. S. 221. I 282 mantels, welche wir uns gleich ein für alle mal vorgenommen denken wollen, in die den Berührungspunkt enthaltende Central— linie über. Jene Druckkraft, von welcher obiges Enoncé der Aufgabe ſprach, wird ſich nach dieſen Centrallinien oder „Paraſtichen“ in Seitenkräfte zerlegen laſſen. Der von Schwendener eingeſchlagene Weg führt nun dahin, von einem Specialfall der Braun— Schimper'ſchen Zahlenreihe ausgehend, dieſe Hypotheſe als eine ſtatiſche Nothwendigkeit mittelſt jener Zerfällung der Hauptkraft in einzelne Compoſanten erſcheinen zu laſſen. Fig. 2 der beigegebenen Tafel giebt ein Bild der Spiralſtellung für den Divergenz— bruch 1¼ , durch welchen alſo ausgeſagt wird, daß nach 13 vollen Umgängen des Grund— wendels das 35. Blatt wieder lothrecht über dem Anfangsglied der Zählung ſtehen ſoll. Ein Blick auf die Zeichnung lehrt uns dann, daß blos zwei Componenten vorhanden ſind, deren eine durch die Inſertionen 3 m, die andere durch die Inſertionen (5 m-+ 2) hindurchgeht, wo wir uns für m wieder alle Terme der natürlichen Zahlenreihe von Null ab ſucceſſive eingeſetzt zu denken haben. Ohne die Wirkung beider Kräfte auf das angegriffene Organ irgendwie zu ändern, können wir bekanntlich jede Kraft in ihrer eigenen Richtung verſchieben, bis die An— griffspunkte in das gleiche horizontale Niveau fallen. Während alſo die urſprüngliche, in angreifende Zugkraft P = 40 in die beiden Seitenkräfte BC und DO zerfiel, können wir dieſes Syſtem auch durch die beiden in einer Horizontalen angreifenden Kräfte ad und bf (ad = BC, bf = DO, Fig. 3) erſetzt vorſtellen. Nunmehr zer— legen wir ad und bf jeweils in eine hori— zontale Seitenkraft am, bn, und in eine verticale Seitenkraft ag, bp. Erſtere allein kommen weiterhin in Betracht, da die letzteren ss sun Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. („Auflagendrücke“ bei Schwendener) der Kraft P ſelbſt gleichgerichtet find. Nun iſt aber am der Größe nach gleich bn“), beide Antriebe wirken ſonach derart, daß beide horizontale Angriffspunkte um gleich⸗ viel auseinander gezogen werden. Natür- lich ſenkt ſich auch der zuerſt ins Auge gefaßte Angriffspunkt C, und zwar nicht perpendiculär, ſondern in einer der größeren Componente ſich nähernden Richtung. Selbſt⸗ verſtändlich kann unter veränderten Um— ſtänden auch das Anfangsſchema nicht mehr das gleiche bleiben; vielmehr wird, wenn der Gipfelpunkt ſich ſenkt, Folgendes eintreten: Ein aus der Menge vorhan— dener Kreiſe beliebig heraus ge— griffenes Parallelogramm, deſſen oberſter Eckpunkt zugleich den Mittelpunkt des in Bewegung ge- dachten Elementes abgiebt, behält auch unter dem Einfluſſe dieſer Be— wegung dieſe ſeine Geſtalt bei, er— leidet aberſowohl in den Winkeln, als auch in den Verhältniſſen ſeiner Seiten Veränderungen. Es fragt ſich nun weiter, ob und wie dieſe Veränderungen meßbar ſind. Dies iſt in der That der Fall, wie ſich durch genauere Betrachtung einzelner ausgezeich- neter Stellungen nachweiſen läßt. Ver⸗ ſchieben wir das Parallelogramm, welches in Fig. 2 unter der Form eines Quadrates ſich darſtellt, ſo lange, bis es in einen Rhombus vom ſpitzen Winkel 600 übergeht, jo ſteht jetzt nach 14 Umgängen — aller: D dDieſe im Original blos hiſtoriſch an— gegebene Wahrheit läßt ſich folgendermaßen leicht allgemein erweiſen: Bezeichnet man | X mad. mit , jo iſt am V ad cos ꝙ D BO cos ꝙ = P cos ꝙ sin ꝙ, bn = bf sin ꝙ = D sin ꝙ = P sin ꝙ cos . Man hat ſonach für den „Horizontalſchub“ h den Ausdruck h = Y, P sin 2 ꝙ. dings blos nahezu — das mit der Ziffer 37 bezeichnete Element vertical über Null, wir haben alſo die Divergenz 4. In die weiteren Divergenzbrüche 1½¼9 und ½1 der Braun'ſchen Reihe. Eine geometriſche Ueberlegung läßt uns auf die von Schwen— Satz gründen, welcher in den Erörterungen des Autors allerdings implicite enthalten, nicht aber von ihm mit der nöthigen Be— ſtimmtheit ausgeſprochen iſt. Er lautet: Jeder beliebigen Verſchiebung des Anfangs-Parallelogrammes entſpricht näherungsweiſe ein Divergenzbruch, welcher zwiſchen zwei aufeinanderfolgenden Wer— thender Reihe des goldenen Schnit— tes“) oſcillirt. Jedesmal dann aber, wenn der die Verſchiebung ſignali— ſirende Divergenzbruch dies nicht nur mit approximativer, ſondern mit wirklich mathematiſcher Ge— nauigkeit thut, iſt derſelbe auch ein vollberechtigtes Glied dieſer Reihe. Unter der fürs Erſte nicht wohl zu umgehenden Vorausſetzung alſo, daß die in der Natur gegebenen Entſtehungsbeding— ungen mit den einfachen geometriſchen Ver— hältniſſen ſich vertrügen, auf welche wir uns durchaus zu beziehen genöthigt waren, ) In der Geſchichte der Mathematik Mathematiker des ſiebzehnten Jahrhunderts gewöhnlich den Namen der Girard'ſchen Reihe. Die unvollkommenen Divergenzcoef- ſogenannten Nebennäherungsbrüchen der Ana— lyſis, welche man ſich zwiſchen zwei conſecu— tive wirkliche Näherungswerthe eines Ketten— bruches eingeſchaltet denkt. Bee... 5 Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. dieſer Weiſe fortverſchiebend, werden wir bekommen — letzterer wieder ein Glied dener mitgetheilten Schemate einen einfachen führt dieſes Zahlgebilde nach einem belgiſchen ficienten ähneln, wie man ſieht, in Vielem den rm Tg gg — . . —— Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz im Bau des Pflanzenkörpers. 283 | unter dieſer Vorausſetzung erſcheint das Braun-Schimper'ſche Geſetz cauſal be— gründet als direkter Ausfluß eines ſtatiſchen Principes. Nun freilich find unſere An— nahmen nur ſehr cum grano salis als | wahr zu betrachten, vielmehr führt Schwen— dener vier Hauptgründe an, durch welche das reine geometriſche Bild, mit welchem wir bislang operirten, getrübt und in oft ſehr energiſcher Weiſe alterirt wird. Als weſentlichſtes Moment erſcheint uns hier— unter der Umſtand, daß ja von Anfang an nicht blos zwei, ſondern drei und mehr Seitenkräfte dem Longitudinaldruck äqui⸗ valent ſein können. Indeß giebt uns Schwendener Hoffnung, daß die fort— ſchreitende Forſchung auch dieſen verwickel— teren Fällen ſich gewachſen zeigen werde. Unſere oben angeſtellte Betrachtung führt uns, conſequent fortgeſetzt, auch zu einer neuen Anſicht des von den Gebrüdern Bra— vais aufgeſtellten Geſetzes und damit zur Herſtellung einer Concordanz zwiſchen den anſcheinend verſchiedenartigen Doktrinen der deutſchen und der franzöſiſchen Botaniker. Schwendener's Formulirung iſt dieſe ): „Wenn die ſeitlichen Organe an der Stammſpitze in ſpiraliger Reihenfolge mit beliebigen Di— vergenzen zwiſchen 180 und ca. 120°, die jedoch unter ſich nicht all— zu verſchieden ſein dürfen, angelegt werden, ſo bewirkt der longitu— dinale Druck oder, was daſſelbe iſt, ein quer gerichteter Zug mitt mathematiſcher Nothwendigkeit eine allmälige Annäherung der Divergenzen an den bekannten Winkel von 137 30“ 28”. Wir würden den Tendenzen dieſes für ein größeres Publicum geſchriebenen Auf— 7 Schwendener, a. a. O. S. 231. 37 — — — — — — —— me 284 ſaͤtzes untreu zu werden befürchten, wollten wir unſerem Gewährsmann in die Einzel— heiten ſeiner weiteren Unterſuchung folgen, welche ſich beſonders mit dem Studium jener Blattſtellung beſchäftigt, deren geome— triſcher Charakter aus den Divergenzbrüchen II 5 III nim + pi“ niyım + Pitı” D4ı ID; ( + Drı)m + pi 4 pig fi entnehmen läßt. Es ſei nur conſtatirt, daß die vorſtehend beſprochenen Erklärungs— principien auch jetzt noch den Schlüſſel zum allmäligen Erkennen des die Pflanzenwelt durchdringenden Cauſalnexus in ſich ent— halten. Wohl aber iſt es unſere Pflicht, wenigſtens mit einigen Worten noch auf die Umkehrung des anfänglich geſtellten Prob— lems hinzuweiſen, welche ebenfalls von Schwendener in einer ſpäteren Abhand— lung!) ins Werk geſetzt ward. Handelte es ſich nämlich bis jetzt darum, das Beſtre— ben des Axencylinders zu einer Umfangs— erweiterung in radialer Richtung als eine Folge der longitudinal wirkenden Drücke aufzufaſſen und zu begreifen, ſo kann man auch ebenſogut andererſeits jenes erſtere Agens als das urſprüngliche und maßge— bende betrachten. Die früheren Conſtruk— tionen bleiben im Großen und Ganzen die gleichen; nur nimmt mit weiterer Entfern— ung von der Wurzel die Größe der den Querſchnitt repräſentirenden Kreiſe nach einem beſtimmten Verhältniſſe ab. Unſere eingangs formulirte Abſicht, auf geſchichtlichem Grunde ein gedrängtes, aber abgeſchloſſenes Bild der Blattſtellungslehre und der drei Stadien, welche ſie im Laufe eines Jahrhunderts durchlaufen, vor dem ) Schwendener, Ueber die Stellungs— änderungen ſeitlicher Organe in Folge der allmäligen Abnahme der Querſchnittsgröße, a. a. O. S. 297 ff. Günther, Das mathematiſche Grundgeſetz in. ‚sau des Pflanzenkörpers. Leſer zu eutrollen, hoffen wir inſoweit realiſirt zu haben, als es der ſpröde, gleichmäßig zwei heterogenen und ſchwierigen Wiſſen— ſchaften angehörige Stoff zulaſſen zu wollen ſchien. Wir geben uns der Hoffnung hin, daß unſere Behauptung, es laſſe ſich hier an einem eclatanten Beiſpiele der endliche Sieg der mechaniſchen Naturanſicht über eine phantaſtiſche Zwecklehre darlegen, durch unſere Darſtellung gerechtfertigt erſcheinen möge. Da es aber jedem Schriftſteller im egoiſtiſchen Intereſſe wünſchenswerth fein muß, ſeine eigene Meinung richtig erkannt zu wiſſen, fo fer auch uns geftattet, noch beſonders die Erklärung hinzuzufügen, daß unſere Verwerfung der Lehre vom Endzwed lediglich der philoſophiſch unhaltbaren Form dieſer Weltanſchauung gilt, wie ſie als Fein— din der nach Urſachen und Kräften ſuchen— den Naturergründung aus dem vorigen Säculum in unſer gegenwärtiges hinein— blickt. Wohl giebt es eine berechtigte Frage nach „Zielſtrebigkeit“ im Kosmos; „es iſt dies“, ſchön ausdrückt), „keine dualiſtiſch äußer⸗ lich in den natürlichen Lauf der Dinge ein— greifende, ſondern eine durch den geſetzmäßig bedingten Mechanismus des cauſal beding— ten Geſchehens ſich verwirklichende, imma— nente Teleologie“. Mit dieſer untrennbar iſt auch jene höhere Form äſthetiſcher Be— trachtung geſetzt, welche das Auftreten der Theilung nach äußerem und mittlerem Ver— hältniß nicht mehr als das von Anfang an extramundan ſtipulirte Geſetz, ſondern nur als thatſächlich gegebenen Ausfluß des den mathematiſchen Bau des Pflanzen- körpers regelnden mechaniſchen Fundamen— taltheorems ſich deutet! PY Dietrich, Philoſophie und Natur— wiſſenſchaft, ihr neueſtes Bündniß und die moniſtiſche Weltanſchauung, Tübingen 1875. S. 85. wie ſich ein neuerer Schriftſteller. zm—— Epiealia Acontius. Ein ungleiches Ehepaar. Von Fritz Müller. Fig. 1. Fig. 1 und 2. Oberſeite der Flügel von Epicalia Acontius Linn. I. Flügel des Weibchens (Papilio Medea Fabr.). II. Flügel des Männchens (Papilio Antiochus Fabr.). Die Aderung iſt ſtärker ausgedrückt, als ſie in Wirklichkeit erſcheint. Auf dem ſammet⸗ ſchwarzen Grunde, der an denjenigen Theilen der Unterflügel, die von den Oberflügeln oder dem Hinterleibe bedeckt werden, einem ſtumpfen Schwarzgrau Platz macht, treten die Adern Fig. 2. nur als ſchwarze Rippen hervor. REIN Jen N gel zweier Schmetterlinge vor, in welchen derſelbe wohl kaum ES Mann und Weib einer Art ver- \ muthen dürfte. Wenigſtens hat nicht nur Fabricius dieſelben als zwei verſchiedene Arten beſchrieben, den Mann als Papilio Antiochus, das Weib als Papilio Medea, und als ſolche erſcheinen ſie noch 1869 in Butler's Verzeichniß der Fabri— cius'ſchen Schmetterlinge, ſondern Weſt— wood hat dieſelben in dem Prachtwerke über die Tagfaltergattungen ſogar zu zwei verſchiedenen Gattungen geſtellt, zwiſchen die er nicht weniger als fünfzehn andere einſchob, den Mann zu Epicalia, das Weib zu Myscelia. Die Leſer von Darwin's „Descent of Man“ werden ſich vielleicht 286 erinnern, daß er bei Erörterung der ge— ſchlechtlichen Ausleſe dieſes durch die unge— wöhnliche Verſchiedenheit der Geſchlechter veranlaßten Mißgriffs gedenkt, und es mag Manchem, der mit ausländiſchen Faltern wenig vertraut iſt, erwünſcht ſein, ein Bei— ſpiel dieſer Verſchiedenheit näher kennen zu lernen. Von wem und auf Grund welcher That— ſachen die Zuſammengehörigkeit der beiden angeblichen Arten zuerſt ausgeſprochen worden 3. Müller, Epicalia Acontius. Ein ungleiches Ehepaar. iſt, weiß ich nicht; doch will ich zur Bes ruhigung etwaiger Zweifler bemerken, daß dieſelbe auch nach meinen Erfahrungen kaum einem Bedenken unterliegen kann. Von einer ähnlichen Art (Epicalia Numilia, — das Weibchen hieß früher Myscelia Mica- lia) habe ich die beiden nicht minder ver— ſchiedenen Geſchlechter aus Raupen gezogen, und Antiochus würde hier ohne Weib, Medea ohne Mann ſein, falls die beiden nicht als Gatten zuſammengehörten. g. 4. Fig. Fi | Flügel der beiden Geſchlechter von Epicalia Acontius über einander gelegt. Fig. 3. Vorderflügel, Fig. 4. Hinterflügel. 0 Männchen (Antiochus), ® Weibchen (Medea). Fig. 5 Fig. Lage der Flügel beim fliegenden oder mit ausgebreiteten Flügeln ſitzenden Schmetterlinge. Fig. 5. Antiochus, Fig. 6. Medea. Die Abbildung zeigt nur Umriß und Zeichnung, nicht die Farbe der Flügel; die Grundfarbe iſt bei beiden Geſchlechtern ſchwarz, beim Männchen von ſammetartigem Ausſehen; die helleren Farben ſind blaß ſchwefelgelb bei Medea, leuchtend orange bei Antiochus. Die Vorderflügel des letzteren legen ſich ſo weit über die Hinterflügel, | daß die Flecken beider Flügel einen einzigen bilden, und, nur durch den ſchmalen Hinter⸗ leib getrennt, der an dieſer Stelle einen Anflug derſelben zeigt, erſcheinen die Flecken beider Seiten als zuſammenhängendes brei— tes Querband. Bei Medea werden die aus— gebreiteten Flügel ſo gehalten, daß die Flecken aller vier Flügel drei gerade, gleichlaufende Querbinden bilden, welche durch gleichge— färbte Flecken auf dem Leibe des Falters vervollſtändigt werden. Außer der blaß- gelben Zeichnung trägt jeder Flügel von Medea einen kleinen zimmetbraunen Fleck. In ähnlicher Weiſe unterſcheiden ſich in Zeichnung und Farbe die beiden Geſchlechter von Epicalia Numilia. Bei Epicalia Acontius tritt dazu noch eine ſehr erhebliche Verſchiedenheit des Flügelſchnittes. Zunächſt verläuft bei Medea, wie bei beiden Geſchlechtern von Epicalia Numilia, der Hinterrand der Vorderflügel in gerader Linie, während er bei Antiochus ſtark ge— krümmt iſt; ebenſo iſt auch der Vorderrand der Hinterflügel bei dieſem weit ſtärker ge— krümmt, als bei jener. In Folge davon greifen die Flügel von Antiochus bei wei— tem mehr über einander; faſt die halbe Breite der Hinterflügel iſt unter den Vor— derflügeln verſteckt; die zwiſchen beiden Flügeln verborgene Fläche iſt reichlich doppelt jo breit bei Antiochus, als bei Medea. Nun, ſolche gekrümmte Ränder, welche die zwiſchen den Flügeln eingeſchloſſene Fläche vergrößern, pflegen ein unfehlbares Zeichen einer an dieſer Stelle verſteckten Duftvor— richtung zu ſein. Wie ſehr man ſich auf dieſes Anzeichen verlaſſen kann, dafür ein Beiſpiel, welches mich ſelbſt überraſcht hat. Einer anderen Frage wegen ſah ich vor einigen Monaten Doubleday's Schilder- ung der Gattung Ageronia durch und ſtieß bei der Beſchreibung der Vorderflügel auf die früher nicht beachteten Worte: „the inner margin in the male occasionally dilated“ (Innenrand beim Männchen bis— weilen erweitert). Sofort griff ich zum Netz, ging in meine Bananenpflanzung, wo damals einige überreife Früchte nicht ſelten von Ageronien beſucht wurden, fing auch glücklich ein Männchen der prächtig blauen Ageronia Arethusa und wußte Müller, Epicalia Acontius. 287 Ein ungleiches Ehepaar. wenige Minuten nach dem Leſen jener Worte, daß dieſes Männchen einen ziemlich ſtarken Geruch beſitzt, der von großen, doch wenig von ihrer Umgebung abſtechenden, zwiſchen den Flügeln verborgenen Duftflecken aus— geht. — Auch bei Antiochus trügt dieſes Zeichen nicht; er trägt zwiſchen den Flügeln eine hochentwickelte, ſtarkriechende Duftvor— richtung, auf die ich ſpäter zurückkommen werde, und durch welche die ſtarke Krümm— ung der übereinandergreifenden Flügelränder bedingt wurde und erklärt wird. Wem darüber ein Zweifel bleiben ſollte, der be— trachte das ganz ähnliche Männchen der Epicalia Numilia, deſſen ſammetſchwarze Flügel ebenfalls mit leuchtend orangefarbe— nen Flecken prangen; ihm fehlt die Duft- vorrichtung vollſtändig und die betreffenden Flügelränder verlaufen genau wie beim Weibchen. Eine zweite Verſchiedenheit des Flügelſchnittes, die auch bei anderen Epica- lien wiederkehrt (z. B. bei Numilia), und über deren Bedeutung ich nichts zu ſagen weiß, beſteht darin, daß bei Medea der Vorderflügel länger iſt und ſeine Spitze faft ſichelartig über den ausgebuchteten Außen⸗ rand vorſpringt. Wenden wir uns nach Erledigung des Flügelſchnittes wieder zu Zeichnung und Farbe. Wenn ſonſt bei Faltern oder Nacht⸗ ſchmetterlingen Mann und Weib ſo ver— ſchiedenes Gewand tragen, daß dadurch ihre Zuſammengehörigkeit verhüllt wird, ſo pflegt das Weibchen entweder in der Unſcheinbar— keit ſeines eigenen Kleides oder, wenn es grelle Farben zeigt, in der Nachahmung einer anderen Art Schutz zu finden. Erſte— res gilt z. B. für Thecla Hemon; das Weibchen iſt düſterbraun, das Männchen (Theela Acmon) glänzend blau. Letzteres ſehen wir bei Dyschema Amphissa; das Männchen iſt weiß, das bunte Weibchen iſt 288 einer der zahlreichen Nachahmer von Acraca Thalia. — Weder das Eine, noch das Andere iſt bei Epicalia Acontius der Fall. Medea trägt kein fremdes Kleid; denn nicht nur fehlen hier ähnliche, nicht verwandte Fal— ter, die als Vorbild hätten dienen können, ſondern — was ſchwerer wiegt — eine ähn— liche Zeichnung kehrt wieder bei einer gan— zen Zahl von Arten derſelben und ver— wandter Gattungen. Das Weibchen von Myscelia Orsis z. B. zeigt genau dieſelben drei gleichlaufenden Fleckenreihen. — Noch weniger wird man Medea unſcheinbar nennen können; das helle, grelle Gelb auf ſchwar— zem Grunde macht ſie weithin ſichtbar. Gerade in letzter Zeit habe ich mehrfach Gelegenheit gehabt, ſie neben ihrem Manne, auf Bananen, ſitzen zu ſehen, und ſtets iſt mir, wenn ich von ferne herankam, das Weibchen zuerſt in die Augen gefallen. Uebrigens ſcheint Medea auch mehr noch als Antiochus das Sitzen mit ausgebreite— ten Flügeln zu lieben. Woher alſo die ſo auffallende, in Zeich— nung und Farbe gleich ſtark ausgeprägte Verſchiedenheit zwiſchen Mann und Weib? — Nach der von Darwin (Descent of Man. I., p. 388) gegebenen Auseinander— ſetzung darf es als erwieſen gelten, ſo gut eben in derlei Fragen etwas zu erweiſen iſt, daß die Stammform der Gattung in ähnlicher Weiſe gezeichnet war, wie jetzt Medea und die Weibchen mancher anderen Arten aus denſelben und aus verwandten Gattungen, und daß, wenn ſtatt deſſen heute auf den Flügeln von Antiochus im Sam— metſchwarz das „Goldorange glüht“, dies der von den Weibchen geübten geſchlechtlichen Ausleſe zu danken iſt. Wie aber ſteht es mit Medea? Iſt bei ihr die früher beiden Geſchlechtern ge— meinſame Tracht einfach durch Vererbung Müller, Epicalia Acontius. Ein ungleiches Ehepaar. erhalten worden, ohne jetzt eine weitere Be— deutung zu haben, oder hat ſie eine ſolche und welche? Iſt fie Putz- oder Trutzfärb—⸗ ung, oder beides? — denn das Eine ſchließt das Andere nicht aus. Theile ich auch nicht Profeſſor Gu ſt av Jaeger's Auſicht, daß Gelb in der Regel Trutzfarbe fei,”) jo möchte ich doch die Möglichkeit nicht in Abrede ſtellen, daß es bei Medea als ſolche diene. Wenn Epi- calia Acontius, Mann oder Weib, von einer Banane aufgeſcheucht, an der ſie ſaug— ten, ſich ganz in der Nähe mit flach aus— gebreiteten Flügeln auf ein Bananenblatt ſetzen, ſo ſieht das ganz aus, als wollten ſie ſagen: „Seht mich doch an! was wollt ihr von mir?“ — Immerhin aber würde dies nur die Erhaltung der urſprünglichen Farbe und Zeichnung oder ihre Fortbild— ung zu noch grellerer Augenfälligkeit er— klären, nicht aber die Weiſe, in der ſie ſich bei den Weibchen einiger verwandten Arten umgeſtaltet hat. Leider kenne ich von dieſen Arten nur ſehr wenige, Epicalia Numilia und Myscelia Orsis lebend, Epicalia Chro- ) Kosmos. Bd. I. S. 486 ff. — Ich komme vielleicht ſpäter ausführlich auf dieſe Frage zurück. Für jetzt nur eine thatſächliche Berichtigung. Orangen ſind keineswegs durch die gelbe Farbe und das flüchtige Oel ihrer Schale vor Vögeln geſchützt. Im Gegentheil lockt kein anderes Obſt eine ſolche Menge und Mannigfaltigkeit gefiederter Gäſte aus dem Walde herbei, wie eben die Orangen. Dazu kommt ein Heer aller möglichen Kerfe: Wes— pen, Wanzen, Käfer, Fliegen, Schmetterlinge. Schon Darwin ſah bei Rio de Janeiro Ageronia beſonders zwiſchen Orangenbäumen. — Wenn Jaeger bei Begründung ſeiner Anſicht das ſtechende Wespen- und Horniffen- volk voranſtellt, das in den Farben Oeſter— reichs trutzt, ſo läßt ſich dieſem die Korallen— ſchlange gegenüberſtellen, die die Farben des deutſchen Reiches trägt. Müller, Epicalia Acontius. mis und Myscelia Cyaniris aus Abbild— ungen. Bei Epiealia Chromis und Mys- eelia Orsis ift die Zeichnung kaum von der unſerer Medea verſchieden, bei Myscelia Cyaniris bilden die Flecken ſechs ſtatt drei Querbinden (weiß auf blauem Grunde; ich weiß nicht, welchen Geſchlechts das ab— Ein ungleiches Ehepaar. 289 Männchen geübte Wahl ſich beobachten läßt, darauf habe ich bereits in dieſen Blättern (Kosmos, Band II. S. 42) hingewieſen. Daß aber — dies wäre das Zweite — die bei— den Geſchlechter ganz verſchiedenen Geſchmack zeigen, auch dafür geben ja wir ſelbſt das Beiſpiel. gebildete Thier iſt), beim Weibchen von Numilia ſind die Flecken großentheils ge— auf den Vorderflügeln ſchief vom Vorder— rande nach der Hinterecke zu. Dieſe Um— prägung der urſprünglichen Zeichnung in neue anſprechende Muſter hat wohl kaum anders vor ſich gehen können, als unter der Leitung eines Auges, das an ihnen Gefallen fand, alſo durch geſchlechtliche Aus- wahl von Seiten der Männchen. Danach wie ſie ſchon die gemeinſamen Vorfahren Gattungen Myscelia und Epicalia beſaßen, theils vollſtändig treu geblieben, theils hätten ſie ſich nur wenig von derſelben entfernt, während die Weibchen der meiſten Arten ſeit lange einer völlig neuen Geſchmacks— richtung huldigen. „Denn das Weib iſt falſcher Art und die Arge liebt das Neue“. Dabei wäre noch zweierlei zu bemer— ken. Erſtens pflegt man, nach Darwin's Vorgange, bei der geſchlechtlichen Ausleſe meiſt nur den „Wettkampf der Männchen um den Beſitz der Weibchen“ zu berück— ſichtigen. Indeß hat ſchon Haeckel (Ge nerelle Morphologie 1866. II. S. 244) mit Recht hervorgehoben, daß, wie unſer eigenes Beiſpiel lehrt, es ebenſo einen „Wett— kampf der Weibchen um den Beſitz der Männchen“ giebt und daß dieſe „männliche Zuchtwahl“ ebenſo umgeſtaltend auf die Weibchen wirken muß, wie die „weibliche Zuchtwahl“ auf die Männchen. Daß auch bei den Schmetterlingen eine ſolche von den Vieles, was wir als geiſtigen oder leiblichen Vorzug an Frauen ſchätzen, n 8 würde dieſen und würde uns ſelbſt an ſchwunden und eine breite gelbe Binde geht Männern mißfallen und umgekehrt. Doch fehlt es auch nicht an unzweideutigen Bei— ſpielen unter den Schmetterlingen ſelbſt, wenn auch auf dem Gebiete eines anderen Sinnes. Hat ein Männchen, etwa von Callidryas Argante, lange ein Weibchen umflattert und mit dem Biſamhauch feiner Flügel umduftet, und zeigt ſie endlich ſich bereit, ihm zu willfahren, indem ſie die wären die Männchen der Geſchmacksrichtung, Flügel ausbreitet und das Hinterleib-Ende emporhebt, — ſo ſieht man nicht ſelten, daß der Bewerber noch einige Mal um ſie herum und dann auf Nimmerwiederſehen davon fliegt. Nun aber iſt das Einzige, was das Männchen erſt jetzt an dem um— worbenen Weibchen kennen lernt, der eigen— thümliche Duft, welcher von den jetzt zum erſten Male vor ihm entblößten Theilen am Ende des Hinterleibes ausgeht. Nur dieſer alſo kann noch im letzten Augenblicke entſcheidend auf ihn wirken. Bei den Weib- chen von Callidryas iſt dieſer Geruch ſehr ſtark und, worauf es hier ankommt, er iſt nicht moſchusartig, ſondern ſäuerlich, himmel— weit verſchieden von dem Flügelduft der Männchen. Wie nun aber auch die Erhaltung und bei einigen Arten die mehr oder minder erhebliche Umgeſtaltung der Medea Zeich⸗ nung geſchehen ſein mag, von jener Zeit ab, wo ſie noch beiden Geſchlechtern der Vorfahren in gleicher Weiſe zukam, Eines läßt ſich mit voller Zuverſicht ausſprechen: — 290 Entjtanden fein kann dieſe fo auffallende und eigenartige Zeichnung der Medea weder durch den alleinigen Einfluß äußerer Verhältniſſe (Wärme, Feuchtigkeit, Nahrung u. |. w.), noch durch innere „Wachsthumsgeſetze“, noch endlich allein durch natürliche Züchtung als Trutzfärbung, ſondern hauptſächlich und weſentlich nur durch geſchlechtliche Auswahl. Daß äußere Verhältniſſe Farbe und Zeich— nung der Schmetterlingsflügel beeinfluſſen können, hat Weismann überzeugend nach— gewieſen; ebenſo zeigte derſelbe, daß Zeich— nungen, die durch ſolche oder andere Ver— hältniſſe auf irgend einem Ringe einer Raupe entſtanden, nicht ſelten auf andere Ringe ſich ausbreiten. Daſſelbe wird an den Flügeln der Falter geſchehen können. Zeichnungen, die aus irgend welcher Urſache in irgend einer Flügelzelle auftraten, werden an entſprechenden Stellen der übrigen Zellen ſich wiederholen können. Soweit ſolche Zeichnungen als Widrigkeitszeichen dienen, können ſie durch natürliche Züchtung grellere Farben erhalten und ſich vergrößern. So könnte aus einem einfarbigen grauen oder braunen ein bunter Schmetterling werden, und die an entſprechenden Orten der ver— ſchiedenen Flügelzellen ſich wiederholenden Zeichnungen würden dann meiſt nicht ver— fehlen, einen angenehmen Eindruck auf uns zu machen. Es könnte ſo ein für uns ſchöner Schmetterling entſtehen, ohne daß irgend welche Ausleſe in Bezug auf Schönheit ſtattgefunden hätte. Allein dies hat ſeine leicht zu bezeichnenden Grenzen. Allen dieſen blind wirkenden Urſachen iſt es gleichgiltig, was aus ihnen hervorgeht, ob z. B. die Zeichnung der Vorder- und Hinterflügel zuſammenpaßt oder nicht, und ob dies in der einen oder anderen Stellung der Flügel geſchieht. Wo wir alſo etwa eine gerade Linie ſehen, die ununterbrochen Müller, Epicalia Acontius. Ein ungleiches Ehepaar. über die Oberſeite der Vorder- und Hinter- flügel hinweggeht, und zwar nur bei einer einzigen, ganz beſtimmten Haltung der Flügel, wie ſie der Schmetterling beim Fliegen oder beim Sitzen mit ausgebreiteten Flügeln an— nimmt, während bei jeder anderen gegen— ſeitigen Lage der Flügel die Linie entweder unterbrochen oder geknickt erſcheint ), — da dürfen wir mit an Gewißheit grenzen— der Wahrſcheinlichkeit behaupten, daß ein überwachendes Auge bei der Entſtehung dieſer Linie mitgewirkt hat. Daſſelbe gilt für alle zuſammenhängenden oder zuſammen— ſtimmenden Linien, die durch nicht entſprechende Punkte der verſchiedenen Flügelzellen hin— durchdringen. Sehen wir uns Medea hierauf an. Wie geſagt, bilden die ſchwefelgelben Flecken drei gleichlaufend über alle vier Flügel hin— wegziehende Querbinden, jedoch nur bei einer ganz beſtimmten gegenſeitigen Lage der Flügel. Die Regelmäßigkeit hört ſofort auf, ſobald man die Vorderflügel weiter nach vorn zieht oder nach hinten ſchiebt; im erſteren Falle ſtoßen nicht nur die be— treffenden Fleckenreihen der Vorder- und Hinterflügel nicht mehr aneinander, fon- dern es treten auch die Flecken am Vorder— rande der Hinterflügel zu Tage, die mit ) Schmetterlingsſpießer, die die Flügel aller Falter nach derſelben Schablone aus— einanderſpreizen, verhunzen dadurch oft voll— ſtändig die eigenthümliche Schönheit ihrer Zeichnung. So erſcheinen in den nach ſolchen verzerrten Leichen gemachten Abbildungen von Miscelia Cyaniris und Chromis in Double— day's Gen. of Diurn. Lep. Pl. XXVII. Fig. 1 u. 2 die Vorderflügel viel zu weit nach vorn gezogen. Noch mehr verunſtaltet erſcheint Epi- calia Pierretii in der Abbildung Pl. XXIX. Fig. 4, welcher gewiß Niemand anſieht, daß die großen orange Flecken der rechten und linken Seite eine einzige zuſammenhängende Querbinde bilden. — Müller, Epicalia Acontius. den übrigen nicht in gerader Linie liegen und vorher durch die Vorderflügel bedeckt wurden. In Betreff des zweiten oben be— zeichneten Merkmals iſt beſonders die hintere Fleckenreihe der Hinterflügel beachtenswerth; in jeder Flügelzelle liegt ein gelber Fleck, jedoch nicht an entſprechenden Punkten der einzelnen Zellen; denn in letzterem Falle würden ſie einen Bogen bilden und nicht eine gerade Linie. Daß nun der Schön— heitsſinn eines prüfenden Auges es war, der den urſprünglichen Bogen zur geraden Linie ſtreckte, das kann kaum ſchlagender bewieſen werden, als dadurch, daß die beiden vorderſten, dieſem Auge unzugäng⸗ lichen, weil durch die Vorderflügel bedeckten Flecken dieſer Reihe ihre urſprüngliche Lage bewahrt haben und aus der geraden Linie der übrigen heraustreten. Wahrſcheinlich waren es die Weibchen, welche, unter den Männchen wählend, zuerſt bei dieſen die eigenthümliche Medea-Zeich— nung ausbildeten. Später wurde dieſelbe auch auf die Weibchen übertragen und hat ſich bei ihnen in mehreren Arten bis zum heutigen Tage erhalten. Der Geſchmack der Weibchen änderte ſich im Laufe der Zeit, und dadurch wurden die Männchen voll— ſtändig umgeprägt, Zeichnung und ſchmückende Farbe der Flügel völlig verändert. Die kleinen zimmetfarbenen Flecken, von denen eines auf jedem Flügel von Medea ſteht (doch nicht an entſprechenden Stellen, auf den Vorderflügeln in Zelle 5, auf den Hinterflügeln in Zelle 1), ſind ſehr ver— änderlich in Größe und Schärfe des Um— riſſes und dadurch in ihrer Augenfälligkeit. Iſt es ein werdender oder ein vergehender Schmuck? Da ſie ſich nicht nur bei der ſehr ähnlichen Epicalia Chromis, ſondern auch bei dem in der Zeichnung ſchon recht abweichenden Weibchen der Epicalia Nu- Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. Ein ungleiches Ehepaar. 291 milia, ja ſogar, wenigſtens an den Hinter- flügeln, bei dem Männchen von Epiealia Pier- retii wiederfinden, ſo ſtammen ſie jedenfalls nicht aus neueſter Zeit. Vielleicht iſt in ihnen ein letzter Reſt einer dritten, noch älteren Ausſchmückung der Epicalien erhalten. Hiermit ſchließe ich die Betrachtung unſeres ungleichen Ehepaares und will nur noch hinzufügen, daß daſſelbe nur einen beſon— ders ausgezeichneten Fall in einer langen Reihe ähnlicher bildet! Wohl bei den meiſten Faltern mit deutlich ausgeprägter Geſchlechts— verſchiedenheit, bei welchen die Färbung des Weibchens dieſem nicht zum Schutze oder Trutze dient, zeigen uns Farbe und Zeichnung der Weibchen eine ältere, die der Männchen eine neuere Geſchmacksrichtung der Art. Es darf, wem reiche Sammlungen offen ſtehen, hieran die Hoffnung knüpfen, mit Ausſicht auf Erfolg die Frage in An— griff nehmen zu können, was denn über- haupt Schmetterlinge ſchön finden und wie ſich bei ihnen, je nach den verſchiedenen Familien, Gattungen, Arten, der Schönheits- ſinn entwickelt und im Laufe der Zeit fort- gebildet habe. Vergleicht man nun noch die Duftvorricht— ungen der Antirrhaea Archaea mit denen der Epicalia Acontius, welche ich oben beſchrieb, fo findet man eine faſt vollſtändige Ueber- einſtimmung. Bei beiden Arten ſind die übereinandergreifenden Ränder beider Flügel im männlichen Geſchlechte bedeutend er— weitert und gebogen; bei beiden iſt die Unter⸗ fläche der Vorderflügel ausgerüſtet mit einer Mähne langer Haare, welche längs der Innenrandsader entſpringen und einen bei Epicalia Acontius wohlentwickelten, bei Antirrhaea Archaea kaum angedeuteten Duftfleck bedecken. Gegenüber der Mähne liegt bei beiden Arten auf der Oberſeite der Hinterflügel ein Duftfleck, deſſen mittlerer 38 292 Müller, Epicalia Acontius. Theil den Winkel zwiſchen den beiden Aeſten der Subcoſtal-Ader einnimmt und von da in die drei anſtoßenden Flügelzellen übergreift. Das Alles wäre nun ſehr einfach und würde ſich ſehr leicht erklären, wenn die beiden Arten zu derſelben oder zu nahe verwandten Gattungen gehörten, wenn alſo alle jene Merkmale, in denen ihre Duft— werkzeuge übereinſtimmen, von gemeinſamen Vorfahren abgeleitet werden könnten. Doch dem iſt nicht ſo. Sie gehören zu ſehr ver— ſchiedenen Unterfamilien, Antirrhaea zu den Satyrinen, Epicalia zu den Nymphalinen, und zudem entbehren viele der nächſten Ver— wandten der einen wie der anderen Art ähnlicher Vorrichtungen; Duftwerkzeuge fehlen z. B. vollſtändig bei Epicalia Numilia. Es kann daher kein Zweifel darüber be— ſtehen, daß die Duftvorrichtungen ſich un— abhängig von einander bei den zwei Arten entwickelt haben und daß Alles, was ſie Gemeinſames haben, einzig dem Umſtande Ein ungleiches Ehepaar. zuzuſchreiben iſt, daß fie ſich derſelben Ver— richtung angepaßt haben. Die beiden Duft— werkzeuge ſind alſo nicht ſtammverwandt (homolog), ſondern einfach formverwandt (ana— log) und liefern ein Beiſpiel, und zwar eins der bemerkenswertheſten, der „Convergenz“, wie man neuerdings die Aehnlichkeit genannt hat, die nicht auf Ererbung beruht, ſondern von Anpaſſungangleiche Verhältniſſe herrührt. Ich kenne keinen anderen Fall, der ſo klar und eindringlich die Wahrheit eines Satzes bewieſe, den man bei morphologiſchen Unterſuchungen nie aus den Augen verlieren ſollte, nämlich: Wenn bei zwei Arten gewiſſe Werkzeuge, die derſelben Verrichtung dienen, an gleichem Orte ſich finden und aus den— ſelben Theilen in derſelben gegenſeitigen Lage und von ähnlicher Form beſtehen, ſo liefert alles dies für ſich allein noch keinen voll⸗ gültigen Beweis dafür, daß dieſe Werkzeuge „homolog“ ſind, — ſelbſt dann nicht, wenn beide Arten derſelben Familie angehören. N ö — c En ne . II. Föderative Verfaſſung. ie Föderationen-Bündniſſe ein⸗ zelner Communen bilden ſich Nurſprünglich für den Krieg und durch den Krieg, der vielen geſchloſſene Bündniß, das einmal veran— ſtaltete Zuſammengehen der Nachbarcom— munen bei einer allen gemeinſam bevor⸗ ſtehenden Gefahr führt allmälig zu einem dauernden Bündniß mit feſtgeſetzten Formen. Im Voraus müſſen wir bemerken, daß die Föderation, dort wo ſie geſchloſſen iſt, ſchon auf eine größere Macht der Häuptlinge bei jedem einzelnen Volke hindeutet. Die Häupt⸗ linge erſcheinen im Bunde als Vertreter der einzelnen Gemeinſchaften und müſſen alſo mit Vollmachten ausgeſtattet ſein, die ihnen die Möglichkeit geben, für die von ihnen im Bunde vertretene Gemeinſchaft einen Beſchluß zu faſſen. Eine Zuſammen⸗ berufung der ganzen Bevölkerung aller Die politiſche Verfallung auf den primitiven Culturſtufen. Von M. Ruliſcker. > Nachbarcommunen droht. Mit andern Worten: die Coalition, das einmal Bundesterritorien bei jedem einzelnen Falle würde eine Unmöglichkeit ſein. Die Mit⸗ wirkung der Volksverſammlungen en masse zu den gemeinſamen Entſcheidungen und Beſchlüſſen kann bei Völkerbündniſſen nur auf gewiſſe Fälle und gewiſſe Zeitperioden beſchränkt werden. Die einzelnen ſehr oft eintretenden Fälle, die für die Theilnehmer des Bündniſſes Intereſſe haben, müſſen daher der Entſcheidung der einzelnen Vertreter der einzelnen Gemeinſchaften anheimgegeben werden, — und dieſe Vertreter müſſen da— her das Recht und die Macht dazu haben, „mitzurathen und mitzuthaten“. Die Föde— ration kann alſo nur dort zu Stande kommen, wo die einzelnen Communen Ver— treter (Häuptlinge) auf die Dauer haben, deren Macht aber durch die Föderation wiederum befeſtigt und geſtärkt wird. Da bei den Berathungen von verſchie— denen Communalvertretern Klugheit, Er— fahrung und Mäßigung ſehr wirkſam ſein dürften, ſo ſpielen in ſolchen Bündniſſen die alten, wenn auch phyſiſch ſchwachen Leute eine große Rolle. Hier geht es nicht da— rum, kräftig dreinzuſchlagen — ſondern Mein— 294 ungsconfliften vorzubeugen, Compromiſſe zu ſchließen, und dazu können die älteren Leute am beſten verwendet werden. Die meiſten Gemeinſchaften werden daher in den Völkerbündniſſen durch ältere Leute vertreten, und dieſes dient zur Befeſtigung ihrer Stell— ung in der Mitte ihrer eigenen Communen. Obwohl fie im Kampfe und an der Pro- duktion ſich nicht betheiligen können, ſo können ſie jetzt durch ihre Erfahrung und ihre Beſonnenheit der Bevölkerung große Dienſte leiſten. Die Thatſachen, die wir gleich vorführen, werden uns noch näher über die neuen Zuſtände belehren. „Jede der ſieben Mutterſtädte bei den Cherokee wählte einen König (Häuptling), und unter dieſen Königen ſelbſt war wieder Einer der höchſte“.!) Als die Engländer zuerſt im Jahre 1730 mit ihnen in Be— rührung kamen, waren ſie mit dieſen Wahlen beſchäftigt.?) Eine ſtark ausgebildete Föde— ration finden wir bei den nordamerikaniſchen Irokeſen. Nach der Sage „hielt Hiawatha bei der Gründung des Bundes folgende Rede: „Ihr Mohawks ſollt das erſte Volk ſein, weil ihr kriegeriſch und mächtig ſeid, ihr Oneidas das zweite, weil ihr ſtets weiſen Rath gebt, ihr Onondagos das dritte, weil ihr die größte Gabe der Beredſamkeit beſitzt, ihr Senecas das vierte, weil ihr die liſtigſten Jäger ſeid, ihr Cayu— gas das fünfte, weil ihr die Feld— arbeit und den Hausbau am beften ver— ſteht. Seid einig, ihr fünf Völker, han— delt ſtets nach einem Sinn, und kein Feind wird euch unterjochen.“?) Schon aus dieſer ſagenhaften Anrede iſt zu erſehen, daß die Föderation dem Kriege entſprungen, und wirklich ſoll auch das am meiſten ) Baſtian, ae ba ind S. 146. ) Waitz, Anthropologie. III. S. 127. ) Schooleraft, III. S. 317. Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. kriegeriſche Volk an der Spitze ſtehen, wäh- rend das friedlich geſinnte die Unterlage bildet. Als Repräſentanten dieſes Bundes von fünf Völkerſchaften galten 50 Häupt⸗ linge. In der Verſammlung dieſer Häupt⸗ linge, die gewöhnlich auf einem Platze am Onondaga-See abgehalten wurde, zählte man „nicht 50, ſonden nur 5 Stimmen ... jedes Volk hatte gleich jedem andern eine Stimme und ein Veto. Der Bund ruhete auf voller Gleichberechtigung und Unab- hängigkeit der einzelnen Völker von einander in allen eigenen Angelegenheiten derſelben.“ 1) Anfänge einer Föderation finden wir bei den Chinooks. „Nur Parker ſpricht von einem gemeinſamen Oberhaupt, das die ver⸗ ſchiedenen Stämme deſſelben Volkes be— ſaßen.“ Daß die übrigen Reiſenden dieſe Inſtitution nicht bemerkten, zeugt davon, das ſie noch keine große Bedeutung hatte. Das Material zu einer großen Organiſation der Föderation fehlt, da das Anſehen der ein— zelnen Häuptlinge noch gering iſt. Alle „Häuptlinge der einzelnen Dörfer ſind von einander unabhängig“. Die Banden der Comanchen ſtehen unter einzelnen Häupt⸗ lingen. An ihrer Spitze finden wir ein Oberhaupt, das vom ganzen Volke der Comanchen gewählt wird. Die Volksver⸗ ſammlung wird alljährlich von dem fun- girenden Oberhaupte auf neun Tage zu⸗ ſammenberufen.?) Im Lande der Ibus hat „faſt jede Stadt ihren eigenen Herrn. Der König (Oberhäuptling) von Ibu iſt ein Wahlkönig und beſitzt nur beſchränkte Macht.“ ) Bei den Negern am Camerun kommt es manchmal vor, „daß einige Orte, gewöhnlich durch Verwandtſchaftsbande der Häuptlinge verknüpft, zuſammenhängen und ) Waitz, III. S. 120-121. 338. 9) Waitz, IV. ©. 215. ) Idem II. S. 151. in ein abhängiges Verhältniß von einander treten, oder daß ein Häuptling durch her— vorragendes Alter, Reichthum oder Be— deutung ſeines Fleckens einen Einfluß auf die umliegenden Ortſchaften gewinnt.“ 1) Eine Tradition der Aſchantis erzählt, daß ſie früher mit andern Nachbarvölkern zwölf Stämme oder richtiger Banden bildeten, „deren vornehmſte die des Büffels, der wilden Katze, des Panthers und des Hundes waren. Die Namen dieſer Stämme ſind noch jetzt in Gebrauch und noch jetzt zählen ſich Einzelne zu ihnen.“ Aus den Be— richten über Loango können wir ebenfalls vermuthen, daß dort eine Föderation ver— ſchiedener Völker beſteht. Es wird berichtet, daß „ein hoher Rath von ſieben Mit- gliedern“ den König wählt. Seine Ge— walt iſt ſehr gering.?) Wahrſcheinlich iſt, daß hier von der Wahl eines Oberhauptes der Föderation die Rede iſt, der durch die ſieben Vertreter der einzeln Communen gewählt wird. In dem Angeführten wird deutlich die Föderation als Staatsform erwähnt, aber auch in manchen Fällen, wo die Reiſenden von Monarchie ſprechen, können wir nichts anderes als Föderation ſehen. So erzählen die Reiſenden von Monarchien bei den Man⸗ dingos.?) Sehen wir aber die Einricht— ungen etwas näher an. Jedes Dorf hat ſein Oberhaupt. Alle dieſe Häuptlinge zu— ſammen bilden eine Raths verſammlung, mit der der König ſich berathen muß. Die Macht dieſes ſogenannten Königs beſteht darin, daß er, wie in Bambuk z. B., „im Einverſtändniß mit dem Volke“ einzelne Dorfoberhäupter ihres Amtes entſetzen kann. ) Reichenow, Zeitſchrift für Ethno- logie, S. 178. 2) Waitz, II. S. 55 —56. 152. ) Dieſe und die folgenden Anführungen nach Waitz, Anthropologie der Naturvölker. II. Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 295 Es kommt aber auch vor, daß dieſe Könige ſelbſt abgeſetzt werden, „wenn ſie ſich un— brauchbar zeigen,“ und überhaupt iſt ihre Gewalt, wie Matthews berichtet, „häu— fig nur gering“. Alle dieſe Züge ſprechen auf's Deutlichſte für Föderation, da die für die Monarchie nöthige Centraliſation noch gänzlich fehlt, und Raffenel hat darum vollkommen Recht, wenn er im Gegenſatz zu anderen Reiſenden nicht von Monarchien, ſondern „von kleinen Repu— bliken ſpricht, aus denen Bambuk beſtehe“. Bei den Hottentotten ſoll in früherer Zeit ebenfalls einer der Häuptlinge „eine Art von Oberhoheit über die anderen Häupt⸗ linge beſeſſen .. . haben“. Livingſtone erzählt von „Conföderationen, welche von vielen Stämmen in Londa und weiter öſtlich am Zambeſi geſchloſſen zu werden pflegen, um alle ihre Streitigkeiten über Ländereien von einem gemeinſamen Schieds— richter entſcheiden zu laſſen, ein Amt, welches vielleicht „einem ſogenannten Kaiſer Mono— motapa gehörte“. Bei den Kaffern „wer- den die Häuptlinge der einzelnen Dörfer ... gewählt, bedürfen aber der Beſtätigung“ durch einen König, der an ihrer Spitze ſteht, den ſogenannten „Incoſi“. Die Häupt⸗ linge bekriegen „einander vielfach, der Incoſi aber kümmert ſich nur darum, wenn er ange— rufen wird.“ In Futadjallon tritt in der Stadt Fucumba eine Verſammlung von Häuptlingen zuſammen. Dieſe Verſammlung „fungirt nur . als Beirath des Herrſchers, des Almami, der ſeinerſeits zwar die Häupt- linge ernennt, aber über ein Heer und alle Hilfsmittel zum Kriege, doch nur unter Zuſtimmung jener Verſammlung, zu ge— bieten vermag.“ Hecquard nennt dieſe Regierungsform „halb monarchiſch, halb republikaniſch“. Es würde den dortigen Zuſtänden angemeſſener ſein, dieſe Staats⸗ r.. ³ĩðij nn Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 296 form als eine ſtreng ausgebildete Födera— tion zu bezeichnen. Dieſe Annahme wird dadurch beſtätigt, daß wir dort in früherer Zeit einen Rath der „Dreizehn“, d. h. der zwölf Vertreter der verbündeten Völker, mit einem Oberhaupte an der Spitze, finden. In älterer Zeit ſoll bei den Galla das föderative Syſtem ebenfalls vorherrſchend geweſen ſein. Es ſtanden „immer je ſieben Stämme unter einem König, dem die Macht auf je ſieben Jahre verliehen wurde“. Gegenwärtig finden wir eine Föderation von ſieben Territorien „bei den Wollo— Galla zwiſchen Amhara und Schoa, und die ſüdlichen Galla bei Takaungu nördlich vom Oſi⸗Fluſſe ... find ebenfalls noch in ſieben Stämme getheilt“, unter ſieben Häuptlingen. Auf der Ratak- oder Ralikkette ſtehen über dem Volk die Häuptlinge — Irus oder Tamon, — die von dem höchſten Häupt— ling, der in Aurh reſidirt, abhängen. Die Häuptlinge der einzelnen Inſeln bilden zu— ſammen eine Rathsverſammlung, deren Aus— ſpruch ſich der erſte Irus fügt.“ !) Auf Kuſaie, einer der Karolinen-Inſeln, zerfällt die Bevölkerung in drei Stämme. Sie ſtehen unter zwölf Häuptlingen — Iros oder Uros. Einer von ihnen iſt das Ober— haupt des ganzen Bundes. Auf der Inſel Nawodo beſteht der Bund aus ſieben, acht Stämmen, deren jeder von einem Häupt⸗ ling beherrſcht wird. An der Spitze dieſer Häuptlinge ſteht ein Oberhaupt. Dieſer Hang zu Vereinigungen von ſieben oder zwölf Com— munen, der ſich bei den Völkern auf dem ganzen Erdball offenbart, iſt eine merk— würdige Erſcheinung der ſocialen Pſycho— logie. Mehr als jede andere Thatſache beweiſt dieſe Erſcheinung die Einheit der 1) Baſtian, Rechtsverh. S. 207. — | Waitz⸗Gerland, V. 2. Abtheilung S. 122 | pſychiſchen Grundlage in der ganzen Menſch— heit und die Geſetzmäßigkeit der menſch— lichen Handlungsweiſe. Wir kommen da- rauf zurück. Wie wir geſehen haben, manifeſtirt ſich die Einheit des geſchloſſenen Bundes überall in dem an der Spitze der Häuptlinge ſte— henden Oberhaupte, dem höchſten Herrſcher, dem Könige. Hier iſt der Keim geſchaffen, aus dem ſich die Monarchie — die Gewalt eines Einzelnen über viele Gemeinſchaften — bilden kann und wirklich ſich ausbildet. Die dem höchſten Herrſcher untergeordneten Häuptlinge verlieren im Laufe der Zeit ihre politiſche Selbſtſtändigkeit und bilden den Adel der ſpäteren Monarchie. Die einzelnen Communen werden ſodann theil— weiſe von dieſem Adel, der ſich in Be— amte verwandelt, d. h. in Perſönlichkeiten, die von höherer Macht angeſtellt find, ver waltet. Dies iſt ein Proceß, der ſehr lang— ſam im ſocialen Leben vor ſich geht. Es muß alſo als vollkommener Unſinn und befremdend erſcheinen, wenn bei dem Anfang des angedeuteten Proceſſes, wie wir ihn z. B. in Mikroneſien eben geſehen haben, die Reiſenden und nach ihnen Gerland einen vollkommen ausgebildeten Adelſtand außer den Häuptlingen finden wollen, d. h. wohl den Schluß des Proceſſes, deſſen Beginn wir erſt ſehen, gewahr werden.!) „Von den Tokelau-Inſeln hat jede einzelne ihren Häuptling“, die Alle unter einem höheren Häuptling ſtehen. Auf Rotuma beſteht ein Bündniß von ſechs, nach Rojas zwölf „Bezirken, deren jeder einen Häuptling hat. Alle ſechs Monate kommen dieſe zuſammen, um die Staatsangelegenheiten zu beſprechen und einen Oberhäuptling auf die folgenden ſechs Monate zu wählen, der in ihren Ver— ſammlungen das Präſidium hat. Bisweilen ) Waitz⸗Gerlan d, Bd. V. 2. Abth. behält dieſer fein Amt auch noch die näch— ſten ſechs Monate; will er es aber auch länger behalten, jo ſetzen ihn die anderen Häupt⸗ linge gewaltſam ab. Die Verſammlungen richten und ſchlichten auch die Streitigkeiten der Inſel, welche man vor ſie bringt.“ Auf Tutuila, einer der polyneſiſchen Inſeln, beſtand nach Erskine ein Bund aus ſieben Communen, deren Vertreter ſieben Häuptlinge waren, die eine Rathsverſamm⸗ lung bildeten. Auf Tahiti beſtand eben- falls eine Föderation aus 10—12 Ge meinſchaften, Wateina genannt, an deren Spitze ebenſo viele Häuptlinge, Arti, ftan- den. Dieſe Häuptlinge waren nach Cook einem König — Arii rati, d. h. großer Fürſt, — untergeordnet. Nach dem Bericht von Olmſted beſtand dieſe Föderation nur aus ſieben Diſtrikten mit einer entſprechenden Zahl von Häuptlingen; nach Ellis aber aus acht Gemeinſchaften. Nach unſerer Anſicht könnten dieſe Wiederſprüche über die Verfaſſung von Tahiti dadurch erklärt werden, daß der Bericht von O lmſted von einem älteren Zuſtand erzählt, wo die Föderation nur ſieben Glieder zählte, wäh— rend ſie ſpäter aus zwölf beſtand, worüber die ſpäteren Reiſenden auch berichten. Ueber das Verhältniß des Oberhauptes der Föderation zu den Häuptlingen berichtet Ellis, daß er keinen Krieg beginnen, keine Flotte ausrüſten, „kurz kein größeres politiſches Unternehmen“ anfangen konnte, bevor nicht ihre Zuſtimmung eingeholt war. „Keineswegs erfolgte dieſe immer.“ Wenn der König irgend einen Befehl erlaſſen wollte, „ſo entſandte er zu den Häuptlingen der verſchiedenen Diſtrikte ſeinen Boten mit einem Bündel von Kokoslaub, der jedem Fürſten ein ſolches Blatt nebſt dem Befehl überbrachte; die Annahme des Blattes war das Zeichen, daß man gehorchte.“ In Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 297 den einzelnen Diſtrikten hatten die Häupt— linge größere Macht, als der König. Auf dem Paumotu-Archipel hatte jede Inſelgruppe ein Oberhaupt, Arekirahi genannt, von dem die „Häuptlinge, die Vorſteher der einzelnen Inſeln“, abhingen. Auf Raro- tonga finden wir ebenfalls an der Spitze des Bundes einen König — Ariki, dem die Mataiapo-Diſtrikthäuptlinge untergeben ſind. Die Zahl der Diſtrikte betrug früher drei. Daß hier von einer Föderation verſchiedener Völkercommunen die Rede iſt, beweiſt der Umſtand, daß in früheren Zeiten zwiſchen den einzelnen Diſtrikten „unbebaute Streifen“ Landes lagen, auf welchen ſie die Kriege untereinander führten. Eine ähn— liche Föderation finden wir auch auf den Sandwichinſeln. Das Oberhaupt des Bun- des beſitzt hier aber eine größere Macht im Verhältniß zu den einzelnen Häupt⸗ lingen. Ueber die Entſcheidungen derſelben konnte, wie Ellis berichtet, die Bevölker— ung an den König appelliren, „denn dieſer war die oberſte juriſtiſche Behörde, ſein Wille galt in jeder Beziehung als höchſtes Geſetz“. Dennoch wird, nach Jarves! Bericht, in beſonders wichtigen Angelegen— heiten „eine Verſammlung aller Fürſten ... zur Beſprechung des Gegenſtandes zuſam— menberufen, deren Entſcheidung der König ſich fügt“. Die Tunguſen hatten vor ihrer Unter- werfung durch Rußland ebenfalls eine föderative Verfaſſung. Das Oberhaupt des Bundes war der gewählte „Taiſcha, der dem Rath der gewählten Stammes— häuptlinge, der Saiſſane, präſidirte“.“) Eine ähnliche Verfaſſung haben die Kal⸗ mücken und Mongolen. Die Benennung des Oberhauptes des Ullus iſt, wie bei den Tun⸗ guſen: Taidſcha, die Benennung der Häupt⸗ 9 Klemm, Allg. Culturg. III. S. 67. — 298 Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. linge der einzelnen Gemeinſchaften — der ſo— genannten Aimak iſt ebenfalls wie bei den Tunguſen: Saiſſane. Der Unterſchied der politiſchen Verfaſſung der Tunguſen einerſeits und der Kalmücken und Mongolen anderſeits beſteht darin, daß die Föderation bei den Letzten ſich ſchon zur Monarchie neigt. Die Würde der Taidſcha iſt bei ihnen ſchon erblich geworden. Ueber die Entſcheid— ungen der Saiſſane, die ebenfalls erblich ſind, wird an den Taidſcha appellirt. Die Saiſſane bilden den Rath des Bundes— oberhauptes. Die Anzahl der Mitglieder des Rathes iſt nach „alter Sitte auf acht beſchränkt“.!) Wir finden alſo auch hier den Bund von ſieben Gemeinſchaften und einer entſprechenden Zahl von Häupt— lingen mit dem achten als Oberhaupt. Die Beduinenſtämme der Dijabi an der ſüd— lichen Küſte Arabiens ſind „in ſieben Ab— theilungen getheilt . . . ., deren jede von einem Oberhaupte, Abu (d. h. Vater), re⸗ giert wird“. ſammeln ſich, ſo oft gemeinſame Ange— legenheiten des ganzen Stammes zu berathen ſind, und entſcheiden dann nach Stimmen— auch hier ſehen, nothwendig zu einer De ſeitigung der Volksverſammlungen bei Ent— ſcheidung der Fragen, die die Föderation werden durch die betreffenden Häuptlinge vertreten. — Ueber die Entſtehung der Folgendes: Um der ruſſiſchen Macht zu trotzen, machten einige hochſtehende und ein— flußreiche Männer unter den Tſcherkeſſen „eine Reiſe durch die Gauen des Landes. Ju jedem derſelben hielten fie eine Ver— ) Klemm, III. S. 184 u. flgde. . 2) Klemm, idem IV. S. 187. mehrheit.“?) Die Föderation führt, wie wir intereſſiren. Die Volksverſammlungen Föderation bei den Tſcherkeſſen hören wir Dieſe ſieben Oberhäupter ver unterſucht und geſchlichtet .. . Jahrmärkte, ſammlung von Abgeordneten des Volkes, die nun einen Eid ſchwuren, daß ſie getreu zuſammenhalten und ſich mit den Ruſſen in keine anderen Verhandlungen einlaſſen wollten, als welche durch gemeinſame Be— rathung beſchloſſen worden wären. Zu dieſem Zwecke vereinigten ſich zwölf im Norden des Kaukaſus gelegenen Gaue.“ “) Die Föderation verdankt alſo hier ihren Ur⸗ ſprung der Coalition gegen die Uebergriffe einer ſtarken äußeren Macht. Zu Theſeus' Zeiten beſtand Attika aus zwölf Diſtrikten, die mit einander ver- bunden waren.?) Ebenſo finden wir eine Föderation der althelleniſchen Völker um die Berge Parnaſſos und Oeta, um die Flüſſe Spercheos und Peneos, die in der altheiligen Zwölfzahl abgetheilt erſchie— nen.“ „Jährlich wurden zweimal, im Frühling und Herbſt, bald zu Delphi, bald unweit des Thermopylenpaſſes (in An- thela) Verſammlungen der Abgeordneten ab- gehalten, völkerrechtliche Klagen angehört und erledigt, Streitigkeiten der Bundesglieder Turnſpiele, Wettgeſang und mannichfaltige Volksfröhlichkeit begleiteten den Delphi'ſchen Landfriedensverein.“ Dies war der ſogen. allgemeine Amphiktyonenbund. „Aehnliche, jedoch auf engere landſchaftliche Kreiſe be— ſchränkte Amphiktyonien beſtanden im böoti⸗ ſchen Oncheſtos, auf der Inſel Kalaurea, zu Ehren Poſeidon's, in Argos und anderswo.“ Die Verſammlungen waren überall von den oben angeführten Beluſtigungen begleitet. Ebenſo bildeten die an die Weſtküſte Klein- aſien's und die benachbarten Inſeln „einge— wanderten Aeolier ſeit 1069 v. Chr. einen (ofen Städteverein von zwölf Gliedern, ) Klemm. IV. ©. 54. 2) Welcker, Staatslexicon v. Welcker und Rotteck. I. „Achäiſcher Bund“. S. 114. welche . . . der Tempel des durch fein Orakel berühmt gewordenen Grynäiſchen Apollon zu— ſammenhielt; am Vorgebirge Canes im fo- genannten Panäolium geſchah die jährliche Verſammlung der rathſchlagenden Volks— gemeinde und ihrer“ Vertreter. Von dem Fluſſe Hermos bis zu „dem Vorgebirge Poſi- dion ſiedelten etwa ſeit 1050 die aus Attika eingewanderten Jonier, deren zwölförtiger Städtebund .. . feine jährliche Verſammlung Anfangs in Panionium unweit Mykale, ſpäter zu Epheſos hielt, über etwaige Rechtsſtreitig— keiten, Krieg und Frieden rathſchlagte und entſchied. Neben den Vertretern, den Re— präſentanten, konntejeder Bürger beliebig an der Verſammlung theilnehmen und ab— ſtimmen. Feierliche Opfer, Wettkämpfe und Jahrmärkte begleiteten die Bundes⸗ handlung.“ An der kariſchen Küſte, auf den Inſeln Kos und Rhodos breitete ſich „der doriſche Sechsbund — Hexapolis — ſeit 1000 v. Chr. aus, deſſen kirchlichen Mittel- punkt der Tempel und Cultus des Triaphiſchen | Apollon an der kariſchen Küſte darſtellten. Hier fanden, mit Wettſpielen und Meſſen verknüpft, die jährlichen Bundesverſamm⸗ lungen ſtatt.“ griechiſchen Conföderationen blieb jede einzelne Gemeinſchaft unabhängig „ſelbſtherrlich und ſame Bundesſachen.“!) Die Eidgenoſſenſchaft ordnete die inneren Verhältniſſe nach eigenem Belieben und ohne Rückſicht auf die übrigen Bundesgenoſſen.“ !) Die Föderation fordert alſo und bringt, wie wir geſehen haben, eine Repräſentation der Gemeinſchaften durch Einzelne mit ſich, Die Betheiligung der ganzen Bevölkerung aller Gemeinſchaften an den Beſchlüſſen des Bundes iſt nicht ausgeſchloſſen, aber auf die Dauer wird ſie unmöglich. Die Föderation führt Lalſo folgerichtig dort, wo die Bundesgenoſſen ) Welcker, ibid. S. 115. Kortüm, Staatslex. IV. (1860) unter „Conföderation“. Kosmos, II. Jahrg. Heft 10, In den angeführten drei !.!.!W.b!0;;;;.b.;õkv0ö DDD... Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 299 nicht untergeordnet ſind, zur Ausbildung des Repräſentationsſyſtems, dem Weſen des ſpäteren conſtitutionellen Staates. In den Jahren 479 — 449 bildeten ſich auf der griechiſchen Halbinſel zwei gegen einander feindſelige Bundesgenoſſenſchaften —Symma⸗ chien. „Auf der einen Seite ſtand Sparta, der bleibende und überwiegende Vorort des doriſchen Peloponneſos, auf der anderen Athen, in demſelben ſtaatsrechtlichen Ver— hältniß gegenüber dem Jonismus ... Jedes Mitglied der ſpartaniſchen . .. Bundesgenoſſen—⸗ ſchaft beſaß vollkommene, freilich oft nur ſcheinbare Selbſtherrlichkeit — Autonomie ... gleiches Stimmrecht auf den Raths— verſammlungen ohne Rückſicht auf die Stärke der Bevölkerung .. . Ber- träge an Mannſchaft, Geld und Schiffen wurden je nach den Kräften der einzelnen ... gefordert und entrichtet. Dieſes Geſchäft beſorgte der bleibende Vorort, welcher da— neben . . . den Oberbefehl über Flotte und Landheer führte . . . Aehnliche Einrichtungen hatte Anfangs die attiſch-ioniſche Wehrge— noſſenſchaft — Symmachie. Ihre Mitglieder beſaßen urſprünglich Rechtsgleichheit — Iſo— nomie, Selbſtherrlichkeit — und rathſchlagten unter der Leitung Athen's auf den in Delos abgehaltenen Verſammlungen über gemein- der geoliſchen Böotier, die unter der Hegemonie Thebens ſtand, beſtand aus zwölf Völker— ſchaften. Der Bundesrath bildete ſich aus elf Senatoren, welche mit dem Bundes— haupt, hier gewöhnlich Archon der Böotier genannt, „zwölf Repräſentanten der zwölf Bundesſtaaten“ waren. „In außerordent— lichen Fällen trat die Landesgemeinde (Ekkleſia) aller ſtimmfähigen Bürger zujam- men.“ Sie verſammelten ſich „zu Koronea bei dem Heiligthum der alten böotiſchen 9 Kortüm, ibid. S. 4—5. 39 300 Ku liſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. kationalgottheit, der Athene Itonig.“ Außer den ſelbſtändigen Bundesgenoſſen ſchloſſen ſich auch „unterthänige oder zinspflich— tige Gemeinden“ an.!) Der „Olyntheiſche Städtebund auf der Halbinſel Chalkidike“ bildete eine Föderation, in welcher „kein Privilegium des leitenden Vororts galt und wo die Angehörigen der einzelnen Gemeinden überall im Gebiete der Conföderation ihr Bürgerrecht ausüben konnten, ferner Gegen— ſeitigkeit der Ehen — Epigamie — und des Landerwerbs.“) Die aetoliſche Bundes— genoſſenſchaft an der nördlichen Küſte des korinthiſchen Meerbuſens beruhte auf der unbedingten Rechtsgleichheit — Sympolitie — der Bundesglieder. Es war dort kein bleibender Vorort, kein Direktorium oder Hegemonie und auch keine zinspflichtigen Unterthanen. Jährlich zweimal im Herbſt und Frühling wurden alle ätoliſchen Bürger zu dem Apollotempel in Thermos entboten. Dieſe Volksverſammlung trug den Namen Panätolium (eoneilium Panaetolium) ent- ſchied über „Krieg, Frieden, Bündniſſe, Ver träge, Wahlen und gemeine Ordnungen,“ ſchlichtete Streitigkeiten und griff nöthigen— falls „ſelbſt in die Innenverhältniſſe der einzelnen, ſonſt unabhängigen Städte und Landgemeinden“ ein. Der achäiſche Bundesverein beſtand urſprünglich aus zwölf, durchaus unabhängigen — autonomen Bun- desgliedern, „wie denn früher faſt alle griechiſchen Hauptſtämme . .. (über- einſtimmend mit andern alten Völkern), wahrſcheinlich nach den zwölf Haupt— theilen des Sonnenjahres, urſprüng— lich zwölf Unterabtheilungen hatte.“ Daher beſtand auch die Bundesverwaltung, die den Namen „Senat, Bule, Buleuterion, Ge— ) Welcker, „Achäiſcher Bund“. S. 119. Kortüm, „Conföderation“. S. 5. 2) Kenophon, Hellen. V. 2. ruſia“ trug, aus zwölf jährlich gewählten Vertretern der einzelnen Gaue. Die Senatoren wurden auch „ausdrücklich . . . Vorſteher der einzelnen Staaten (demiurgi eivi- tatum) genannt“, ) oder auch „prineipes Achaeorum“ — Vorſteher der Achäer.?) Außer dieſem Senat wurden „regelmäßig in jedem Jahr zweimal“ Volksverſamm⸗ lungen aller Achäer abgehalten „bei Aegium im geweihten Haine des Zeus Homagrius oder Homorius, des Bundesgottes, ... im Frühling, nach dem Aufgang der Plejaden, ... und im Herbſt.“?) In dieſer allgemeinen Verſammlung durften die Verhandlungen, die Reden und Gegenreden „nicht länger als drei Tage dauern“. An der Spitze des Ganzen ſtand ein Mitglied des Senats — der jährlich erwählte Strategos — Feldherr.“ „Dem Bunde und nicht einzelnen Bundes— ſtaaten .. . ſtand das Recht der Geſandt— ſchaften, der Bündniſſe, des Krieges und des Friedens und ebenſo der Truppenaus⸗ hebung zu.“?) Zuletzt nahm der achäiſche Bund alle Staaten des Peloponnes und viele des griechiſchen Feſtlandes, unter ihnen auch Athen, in ſich auf und vereinigte ſie mit ſich „zur Vertheidigung griechiſcher Frei— heit zuerſt gegen makedoniſche und dann gegen die römiſche Herrſchaft.“ Dieſem ganzen Bundesverein, ja dem ganzen Peloponnes, als er an dieſem Bunde theilnahm, fehlte, nach dem Ausdruck des Polybius, nur eine gemeinſchaftliche Mauer, „um ein einziger Staat, um eine Stadt zu ſein“.“) Oder ) Livius XXXVIIL, 30. Welder, ibid. S. 119. Kortüm, ib. S. 8. 2) Polybius, II. 9. Welcker, ibid. J. e. ) Pauſanias, VII. 1, 14, 20, 24. Poly⸗ bius, II. 40, 41. IV. 37. V. 1, 7, 30. Welcker ibid. S. 117. Kortüm, S. 7. ) Welcker ibid. I. e. Kortüm ibid. J. e. 5) Polybius II. 31,37. „De Legat“, 41, 51. Pauſanias. VII., 9. Welcker, ibid. 6) Polybius, II. 37, 43, 44, 57. IV. 9. wie Juſtinus ſich ausdrückt, er war „un— geachtet ſeiner Zuſammenſetzung aus mehreren Staaten nur ein einziger Körper mit einer Regierung.“) Die Föderationen in Griechen— land tragen an ſich alle diejenigen Züge, die wir an den Föderationen anderer Völker ſchon bemerkt haben. Ueberall werden die Gemeinſchaften von den Einzelnen vertreten. Dabei aber hat die ganze Bundesbevölkerung das Recht und auch meiſtentheils die Pflicht, ſich an den Bundesbeſchlüſſen zu betheiligen. Die Entlegenheit des Verſammlungsortes aber, wie auch Beſchäftigungen und perſön— liche Motive mögen dazu beitragen, die Volksverſammlungen außer Gebrauch zu bringen, oder die Rolle der Minderheit, die wirklich erſcheint, auf die Rolle der Zuſchauer der Bundeshandlungen herabzudrücken. Wie Freeman ſagt, ſterben die Verſammlungen des geſammten Volkes manchmal durch die weiten Diſtanzen von ſelbſt ab, und es bleibt nur der Rath der Häuptlinge übrig.?) Ein anderer Zug der föderativen Verfaſſung, den wir ſchon erwähnt haben, findet in den That— ſachen aus dem griechiſchen Leben volle Beſtätig— ung. Es iſt die Rolle der älteren Leute. Der Rath der Communalvertreter in der Födera— tion wird überall „der Rath der Alten“ — Senat — genannt. Erſt in der föderativen Ver— faſſung kommt dieſe Inſtitution zum Vorſchein, erſt hier, als Rathgeber in den Bundesver— ſammlungen, kommen die alten Leute zur Ver— wendung. In Bezug auf das ſociale Leben der Griechen, Römer und Germanen: Ueberall finden wir bei ihnen eine allgemeine Volks— verſammlung, eine engere Rathsverſammlung oder Senat und einen König. Dieſe Anſicht iſt vollkommen richtig, wenn ſie ſich auf die XIII. 8. XXXV. 1. Plutarch, „Aratus“. Livius. XXV. 12, 25. XXXVI. 35. ) Juſtinus XXXIV. Welcker, ibid. 1. c. 2) Freeman, Comparat. Politics. S. 200 u. flade. Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. 301 | föderativen Bündniſſe bei dieſen Völkern bezieht, und falſch, wenn fie von der politiſchen Ver- faſſung einer einzelnen Gemeinſchaft, die in keine Bündniſſe mit anderen Gemeinſchaſten getreten iſt, behauptet wird. Insbeſondere müſſen wir im Gegenſatz zu Freeman u. A in Bezug auf den Rath der Alten betonen, daß nur in der föderativen Verfaſſung, im Völkerbund, wie ſchon mehrfach erwähnt, .. . Die älteſten Greiſe des Volkes .. Zwar vor Alter vom Krieg ausruhende, doch in dem Rathskreis Tüchtig an Wort wie es bei Homer heißt,!) eine Rolle ſpielen können, nicht aber in einer einzelnen ſelb— ſtändigen Gemeinſchaft. Erſt dort, wo Compromiſſe zu ſchließen ſind, wo Gegenſätze im Spiele ſind, gewinnt die Einſicht Gelt— ung, daß . . . Wo ein Greis beiwohnet, zugleich vorwärts und auch rückwärts Schauet er, wie ihm gedeihe die wechſel— jeitige Wohlfahrt). In dieſer Hinſicht aber, wie auch, bei— läufig gejagt, in allen anderen, unter- ſcheidet ſich die ſogenannte indo-europäiſche Race keineswegs von allen andern Racen, wie wir zu ſehen Gelegenheit hatten. Die indo⸗europäiſche Race hat dieſelben föderativen Inſtitutionen, wie alle andern Völker ohne Ausnahme. Es liegt daher kein Grund vor, die Analogie der föderativen Verfaſſung bei Griechen, Römern und Germanen da— durch erklären zu wollen, daß ſie dieſelbe, wie Freeman meint, als ein Erbtheil aus derjenigen Zeit bekommen haben, wo dieſe Völker noch ein Volk bildeten.“) In Mittelitalien, — Centralhetrurien, Tos- kana, — bildeten zwölf Stadtgemeinden der Tusken eine Föderation. Die allgemeine Volks— 1) Ilias III. 149151. 2) Idem III. 108—110, 3) Freeman, ib. S. 200. 302 verſammlung wählte für die Dauer eines Feld— zuges einen Oberkönig, ſpäter Lars, Herr, genannt, dem zwölf Lictoren, Repräſentan— ten der Städte, zur Seite ſtanden.“) Der Bund der Latiner beſtand ebenfalls aus ſelbſt— herrlichen Gemeinſchaften, die zu einem Bünd— niſſe zuſammentraten. „Die Vorortſchaft des Bundestages und feldherrliche Leitung ſtanden Menſchenalter lang bei der mächtigen Ge— meinde Alba-Longa; nach dem Verfall und Untergang derſelben .. wechſelnden Prätoren.“ Als Organe der Föderation dienten bei den Latinern, wie bei den früher angeführten Völkern, ein Senat und eine Volksverſammlung — concilium. Die Verſammlung kam früher am Albanerberge, ſpäter an der ferentiniſchen Quelle zuſammen „zur gemeinſchaftlichen Rathſchlagung und Beſchlußnahme über Krieg und Frieden, Bündniſſe und Verträge“. Die Mitglieder des Bundes genoſſen Gegenſeitig— keit der Ehen (jus connubii) und der Er— werbsbefugniß (jus commercii).2) Wie un— klar auch die Berichte über das Verhältniß der Patricier und der Plebs in Rom ſein mögen, ſo laſſen doch beinahe alle uns bekannten Thatſachen ſchließen, daß hier von keinem Ständekampf, ſondern von einem zwiſchen zwei Völkerſchaften zu ſchließenden Bünd— niß die Rede war, von einer durch ver— ſchiedene Mittel endlich zu Stande ge— kommenen Föderation. Wir haben dieſe Frage ſchon oben berührt und in dem eben angedeuteten Sinne zu löſen geſucht. Wir werden hier noch einiges hervorheben. So droht die Plebs, wenn ſie ihren Willen nicht durchführen kann, mit Abſonderung — Seceſſion. „Die unter den Waffen verſammelten Plebejer trennten ſich von den ) Kortüm ibid. S. 8. 2) Kortüm ibid. S. 9. Mommſen, Römiſche Geſchichte. Berlin 1874. S. 38, 39. Siehe auch (6. Aufl.) Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. Patres und beſetzten einen Berg am Anio (den ſpäter ſogenannten Mons sacer) mit der Abſicht, hier oder anderswo eine neue Stadt zu gründen.“ Nach dem Siege der Plebejer werden Tribunen aufgeſtellt, denen Aedilen als Verwaltungsbeamte der Gemeinden zur Seite ſtehen. Die Tri— bunen werden hauptſächlich mit „Jurisdiktion in Marktſachen“ betraut. Die Aedilen ſpielten alſo bei den Römern dieſelbe Rolle, bei zwei jährlich die ſie bei den Tuskern geſpielt haben, d. h. als Vorſteher der einzelnen Gemeinſchaften. Die Funktion des Tribuns in den Marktſachen beweiſt ebenfalls, daß die Tribunen Vorſteher der föderativen Völkergenoſſen geweſen waren, da die Märkte immer die Volksverſamm⸗ lungen in der Föderation zu begleiten pflegten. Und wirklich erfahren wir, daß, nachdem Tribunen aufgeſtellt waren, „die ſonſt nur vereinzelt und ungeordnet, namentlich an Markttagen, zuſammengetretenen Zuſammen⸗ künfte der Gemeinden jetzt zweckmäßig orga— niſirt wurden“. Von nun an traten die Gemeinſchaften in Verſammlungen zuſammen unter dem Vorſitz der Tribunen. Sie werden Tributcomitien genannt. Außer⸗ dem wurde dieſer zwiſchen den vermeintlichen Ständen (die in Wirklichkeit früher beſondere Völkercommunen waren) geſchloſſene Bund mit „foedus“ bezeichnet. Daß die Tribut- comitien allgemeine Volksverſammlungen waren, iſt aus einem Geſetze zu erſehen, welches beſtimmt: „daß, was die Plebs in Tributcomitien beſchließe, für das geſammte Volk bindend fein ſolle.“!) Auf eine füde- rative Verfaſſung paſſen auch die drei poli— tiſchen Inſtitutionen, die wir bei den Römern ſinden: die allgemeine Volksverſammlung, der „Rath der Alten“ — der senatus — als Vorſteher der einzelnen Gemeinſchaften, ) HerzbergimsStaatslexikon v.Welcker und Rotteck. Bd. XII. S. 161. 610. 146. 6 cc und der König als Oberhaupt der Föde— ration, der durch die Vertreter der Gemein— ſchaften, die Mitglieder des Senats, gewählt wurde.!) In dieſer Hinſicht können wir uns auch auf die Autorität von Freeman ſtützen, der ebenfalls die Anſicht hegt, daß die römiſche Verfaſſung Elemente einer Föde— ration in ſich birgt — something of a federal element.?) Wenn dies der Fall iſt, kann aber dieſe Verfaſſung nicht die älteſte „Ordnung der römiſchen Gemeinde“ geweſen fein, wie es Mommſen meint.) Dieſer Ordnung muß eine frühere vorher— gegangen ſein, bei welcher die Communen noch ſelbſtändig geweſen waren und den ſpäteren römiſchen Völkerbund nicht kannten. Die ſächſiſche Bundesrepublik (Föde— ration) „zerfiel in drei Kreiſe oder Gaue“. Weſtfalen, Oſtfalen und Engern. Sie er— ſtreckte ſich von der Ems bis an die Elbe. „Jeglicher Gau hatte ſeine ſelbſtherrliche Gemeinde, welche den Grafen oder Vor— ſteher des Schöffengerichts nebſt dem Bauernmeiſter (burmeiſter, villicus) . . . für den Frieden, den Herzog für den Krieg erwählte. Alljährlich erſchienen je zwölf Boten der Weſt⸗ und Oſtfalen und Engern, im Ganzen alſo 36, zu Marklo an der Weſer, bewaffnet und unter freiem Himmel, rathſchlagten und entſchieden nach beendigtem Opfer über Krieg und Frieden, Bündniſſe und Verträge, innere Streitigkeiten, Anttäge ausländiſcher Boten, — handelten mit einem Worte als Bevoll— mächtigte der Geſammtheit. Drohte ein allgemeiner Krieg, ſo ernannten die drei für denſelben gewählten Gauherzoge durch das Loos aus ihrer Mitte den Oberfeld— herrn.“ ) Wie wir in dieſem Falle aus ) Mommſen, I. c. I. S. 79, 74. 2) Freeman, J. c. S. 228. 3) Mommſen, 1. c. I. S. 81. ) Pertz, Monum. Germaniae, II. p. 362. 303 den dreimal zwölf Vertretern ſchließen kön— nen, hat ſich aus drei Föderationen eine ge— bildet, derart, daß die einzelnen der drei Fö— derationen zu einer Gemeinſchaft zuſammen⸗ wuchſen. Die Föderation der Frieſen zwiſchen der Weſer und Südſee beſtand aus ſieben Seelanden. „Unter der hohen Eiche bei Aurich, beim Upſtalboom — Gerichtsbaum — wurde „über Krieg und Frieden, ſchwierige Rechtsfälle, innere Streitigkeiten“ entſchie— den.!) Das Land der Dithmarſchen bildete bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts einen Bund, der aus vier kleineren, früher von einander unabhängigen und ſelbſtſtändigen Föderationen beſtand. Jede von dieſen vier Föderationen wurde durch zwölf Räthe — consules — vertreten,“ durch deren Zuſammentritt nun das Collegium der 48 Rathgeber (vier mal zwölf), der ſogenann- ten Acht und Vierziger entſtanden iſt.“ Die Bundesbevölkerung konnte ebenfalls in den Rathsverſammlungen erſcheinen. Wer ſich dort „einfand, ſah und hörte zu, gab Zeichen des Beifalls und Tadels, nahm auch wohl durch einzelne Stimmführer Theil an der Verhandlung.“ 0 Island bildete ſeit dem Jahre 928 eben— | falls eine Föderation. Die ganze Inſel ſoll | früher in vier Gaue und jeder Gau in drei Bezirke zerfallen geweſen ſein, im Ganzen zwölf Bezirke, die zum Bunde gehörten. Nun wiſſen wir aber, daß die Rathsverſammlung — die Lögretta — 144 Mitglieder zählte, das heißt zwölf mal zwölf. Der ſpätere grö— ßere Bund muß alſo aus zwölf kleineren Föderationen ſich herausgebildet haben. An der Spitze der Bundes, als Oberhaupt deſ— ſelben, ſtand der Anfangs auf drei Jahre, 1) Kortüm, a. a. O. S. 13 — 14. 2) Maurer, Einleitung ꝛc., S. 290. — Kortüm, S. 13 304 dann auf längere Zeit ernannte Lagmann oder Geſetzmann. „Jährlich einmal im Frühling verſammelte ſich am See Thingvalla“ die all- gemeine Volksverſammlung — Althing. „Sie entſchied unter der Leitung der Lögretta und des Lagmannes über Krieg und Frieden, gemeinheitliche Ordnungen, Bündniſſe, Ver— träge u. ſ. w. Jeder Freimann durfte das Wort nehmen und abſtimmen.“) Die durch Kaiſer Karl V. im J. 1535 ge— bildete Föderation der ſiebzehn belgiſch-bata— viſchen Landſchaften beſtand eigentlich aus zwölf alten: 1. Brabant, 2. Limburg, 3. Luxemburg, 4. Flandern, 5. Artois, 6. Hennegau, 7. Holland, 8. Seeland, 9. Na— mur, 10. Zütphen, 11. Antwerpen, 12. Me- cheln, und fünf neuen, die zu ihnen hinzu— geſellt wurden: 1. Gröningen, 2. Friesland, 3. Utrecht, 4. Geldern, 5. Oberyſſel.“ Dieſe aus 17 Landſchaften zuſammengeſetzte Föderation konnte auf die Dauer nicht zu— ſammengehalten werden, und im J. 1579 ſonderten ſich merkwürdigerweiſe ſieben Landſchaften (die fünf neuen und von den älteren Holland und Seeland) von den an— dern ab und bildeten die niederländiſche Eid— genoſſenſchaft. Die Utrechter Union war das erſte Grundgeſetz dieſer ſieben vereinigten Niederlande.?) Zahlen 3, 4, 7 und 12 eine überaus wich— tige Rolle in den Verfaſſungen und geſell— ſchaftlichen Inſtitutionen der Völker. Die Analogie iſt zu frappant, als daß wir ſie hier unbeachtet laſſen ſollten. Sie hat auch einen entſchiedenen Werth für die Beſtätigung des Satzes: „daß bei verſchiedenen Menſchen— racen ein ähnlicher, aber unabhängiger Pro— ) Kortüm, S. 13 — 14. ) Kortüm, 1. c. S. 17. Kuliſcher, Die politiſche Verfaſſung auf den primitiven Culturſtufen. für die Zahlen über 2, 3 und 4 heraus- Wie wir geſehen haben, ſpielen die ceß der Geiſtesentwickelung wiederkehrt.“ Bei den Wilden der ſüd amerikanischen Wälder und der auſtraliſchen Wüſten iſt es den Reiſenden nicht gelungen, Namen zubringen.!) Spix und Martius ſagen von den niedrigen Stämmen Braſilien's: „Sie zählen gewöhnlich an den Fingergliedern und zwar bis drei. Jede höhere Zahl drücken fie mit dem Worte „viele“ aus.“?) Nach dem Bericht von Oldfield haben die Watſchandies ebenfalls Numeralien nur bis vier. „Pater Gilji, der die Arithmetik der Tamanaken am Orinoco ſchildert, giebt ihre Numeralien bis zu vier an.“ Wenn bei den Völkern auch bis vier gezählt wird, ſo haben ſie dennoch für die Zahlen 3 und 4 keine beſonderen Namen. Eigentlich giebt es nur beſondere Namen für die Zahlen 1 und 2. Die Zahlen 3 und 4 werden ſchon durch dieſe Namen ausgedrückt: 3 durch „zwei — eins“, 4 durch „zwei — zwei“. Dies iſt der Fall bei den Neuholländern. In Guachi wird ebenfalls 4 durch „zwei — zwei“ ausgedrückt.“) Obwohl wir hier nicht mehr Thatſachen zuſammengeſtellt haben, können wir doch au— nehmen, daß urſprünglich 3 und 4 die größten Zahlen waren. Als das Addiren und Multipliciren gelernt wurde, bildeten dieſe zwei Ziffern die Baſis, worauf weiter ge— baut werden mußte. Nun beſteht 7 aus 3 addirt mit 4, und 12 aus 3 multiplicirt mit 4. Da dieſe Zahlen die höchſten Re— ſultate der primitiven Arithmetik waren, ſo erſcheinen fie auch bei den wichtigſten In ſtitutionen des ſocialen Lebens. ) Tylor I S. 240. ) Spix und Martius, Reiſe in Bra⸗ ſilien. S. 387. Tylor, ibid. 1. c. ) Tylor, I. S. 241 u. flgde. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Wärme der Sonne. ie Ermittelung des wirklichen Tem— peraturgrades der Sonne iſt in den letzten Jahren der Gegenſtand viel— facher ſorgfältiger Arbeiten geweſen und wird es in der Folge noch mehr wer— den, da die Beobachtung der letzten Sonnen— finſterniß (29. Juli 1878) gewiſſe Anhalts— punkte dafür gegeben hat, daß die Tempe— ratur der Sonne ſich in einem Stadium bedeutenden Rückganges befindet. Die Co— rona, die ſonſt roth und ausgedehnt war, erſchien von weißer Farbe und beſchränkter Ausdehnung; ihr Spektrum war continuir⸗ lich und es fehlten in demſelben die hellen Linien, welche ſonſt den Beweis ihres Selbſtleuchtens gaben. Somit ſcheint es, daß die Corona nicht mehr ſo heiß iſt, um wie früher ſelbſtleuchtende Linien zu liefern, ſondern nur noch das Sonnenlicht reflektirt, und Prof. Haſtings glaubt ſogar aus der ſicher beobachteten tangentialen Polari— ſation des Corona-Lichtes ſchließen zu müſſen, daß dieſe die Sonne umgebende Atmoſphäre in ihren äußerſten Theilen bereits Eis— kryſtällchen enthalte, wie ſie ſich in unſerer Atmoſphäre häufig durch ihre optiſchen Wirkungen verrathen. Die Frage nach dem Stande der Sonnenwärme wird dadurch eine brennende, wenn man auch nicht gleich mit einigen engliſchen und amerikaniſchen Naturforſchern zu fürchten braucht, daß die indiſche und chineſiſche Hungersnoth direkte Folgen der Sonnenerkaltung wären, und darin ſchon der Anfang vom Ende zu erblicken ſei. Mit der Beſtimmung der Sonnenwärme haben ſich unter Andern in den letzten Jahren Ericſon, Secchi, Soret, Vicaire und Violle beſchäftigt und ihre Schlüſſe direkt auf die Wirkung begründet, welche die ſtrahlende Wärme auf die Thermoſäule und andere empfindliche Meßinſtrumente ausübt, wie ſie beſonders Deſains und Crova conſtruirt haben, und deren Em— pfindlichkeit durch Ediſon's Taſimeter noch erhöht werden mag. Um die ſtark Wärme verſchluckende Wirkung des atmoſphäriſchen Waſſerdampfes auszuſchließen, hat Violle eine Anzahl ſeiner Unterſuchungen in Algier, wo die Luft ſehr trocken iſt, und auf den Gletſchern in der Nähe des Montblanc, wo die gleichen günſtigen Verhältniſſe vor⸗ handen ſino, vorgenommen, und dort in der That eine lehrreiche Erhöhung der Wirkung erzielt; feine Methode und Reſul⸗ tate hat er vor Kurzem ausführlich be ſchrieben.“) Sehr auffallend hierbei iſt nun die große Verſchiedenheit der Reſultate, wie N dd ‚Violle, La chaleur solaire. Revue scientif. VII. Ann. No. 40 (1878). 306 ſie die Herren Vicaire und Violle einerſeits, Ericſon und Secchi anderer— ſeits berechnet haben. Während die erſteren gefunden hatten, daß die Sonne nur etwa dreimal ſo viel Wärme ausſtrahle, wie ge— ſchmolzeuer Stahl, der aus einem Martin- Siemens'ſchen Ofen fließt, woraus höchſtens auf eine mittlere Temperatur von 2—3000° an der Sonnenoberfläche geſchloſſen werden dürfte, glaubten die letzteren auf eine Hitze von ein bis zwei Millionen Graden ſchließen zu müſſen. Dieſer außerordentliche Unter— ſchied beruht indeſſen natürlich nicht auf Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. einer erheblichen Differenz der Ergebniſſe ihrer direkten Meſſungen, ſondern auf der Verſchiedenheit der von dieſen Forſchern angewendeten Formeln, um aus der Strahl— ungswärme diejenige des ſtrahlenden Körpers zu berechnen. Eine ſichere, verläßliche Ableitung dieſer Formel war daher die vornehmſte Aufgabe, der ſich Fr. Roſetti von Neuem unter— zogen hat.“) Aus feinen Beobachtungs- reihen, wie auch auf theoretiſchem Wege, leitete er folgende, von der Dulong— Petit'ſchen und Newton'ſchen verſchie— dene Formel ab: Y=aT?(T— 9) — b (T — 0), in welcher Y die von der Strahlung er— zeugte Wärme, J die abſolute Temperatur des ſtrahlenden Körpers, O die Tempera- tur der Umgebung des Meßinftrumentes, und a und b Conſtanten des angewendeten Apparates bezeichnen. Nachdem Roſetti ſich überzeugt hatte, daß dieſe Formel für die Strahlung ſehr heißer Körper, die in der Hydro-Oxygenflamme bis auf 2400“ erhitzt wurden, richtige Reſultate gab, ſtellte er mit den nöthigen Correkturen direkte Verſuche an, und berechnete aus ihren Er— gebniſſen eine Temperatur von 9965,40, ) II nuovo Cimento J. III. 1878. p. 238. alſo in runder Summe 10000 C. Dieſe Zahl bezeichnet indeſſen die Wärme der Sonne nach ihrer Ausſtrahlung ganz im Allgemeinen berechnet, und es iſt dabei nicht berückſichtigt, daß die Sonnen-Atmo— ſphäre ſehr beträchtliche Antheile der von dem Kerne ausgeſtrahlten Hitzemengen ver— ſchlucken wird. Nach den Unterſuchungen des Pater Secchi ſoll dieſe Wärme— Verſchluckung der Sonnen-Atmoſphäre 88 Procent betragen, ſo daß nur 12 Procent der Kernwärme in den Weltraum direkt ausſtrahlten. Nimmt man dieſe Beſtimm— ung als richtig an, jo würde ſich die Tem- peratur des Kernes etwa doppelt ſo hoch, alſo ca. 20000 C. berechnen. Dabei find aber verſchiedene Umſtände nicht in Betracht gezogen, namentlich der, daß die verſchiede— nen Schichten der Sonnen-Atmoſphäre ſich durch die Wärme-Abſorption erhitzen und durch eigene Ausſtrahlung die des Kernes vermehren müſſen. Nach Berückſichtigung dieſer und einiger anderer Correkturen ſchließt Roſetti, daß die effektive Temperatur der Sonne nicht viel unter 12000» betragen kann, wenn die Wärme- Verſchluckung der Erd-Atmoſphäre allein berückſichtigt wird, und nicht viel über 20000, wenn man die der Sonnen-Atmoſphäre ebenfalls mit in Rechnung zieht. Ueber den Urſprung und die Ver- theilung der Wälder auf der nördlichen Halbkugel hat Prof. Aſa Gray am Harvard-Col⸗— lege eine intereſſante Darſtellung gegeben, aus deren Publikation“) wir in kurzem Auszuge das Folgende entnehmen. Wenn ) American Journal of Science, August and September 1878, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. man die Vereinigten Staaten Nordamerika's von Oſten nach Weſten durchwandert, ſo durchſchneidet man von Canada bis Florida in der Nähe des atlantiſchen Oceans das reichſte und ausgedehnteſte Waldgebiet der gemäßigten Zonen auf der ganzen Welt, gelangt dann weſtlich vom Miſſiſſippi in das ungeheure Gebiet der waldloſen Prai— rien und offenen Ebenen und trifft, abge— ſehen von den ſpärlichen Waldſtrichen der Felſengebirge, ausgedehnte Waldungen erſt wieder an den beiden Abhängen der Sierra Nevada und in den pacifiſchen Küftengebir- gen an. Man kann ſomit in Nordamerika hauptſächlich zwei große Waldgebiete unter— ſcheiden, ein öſtliches und ein weſtliches, deren vollſtändige Trennung durch ungeheure Ein— öden ſich auf die große Empfindlichkeit der Bäume gegen das Klima, namentlich gegen Trockenheit und Kälte, zurückführen läßt. Beide Waldgebiete find in ihrer Zuſammen⸗ ſetzung auffällig von einander verſchieden. Die meiſten Bäume, welche die atlantiſchen Wälder zuſammenſetzen, als Magnolien, Tulpenbäume, Storaxbäume, Eſchen, Ca⸗ talpa, Saſſafras, Ulmen, Maulbeerbäume, Birken, Buchen und viele andere werden im pacifiſchen Walde nicht angetroffen. Nahezu der vierte Theil (515 Arten) der Geſammtflora überſchreitet nach Gray's Ermittelungen die Felſengebirge nicht, und die Küſten des ſtillen Meeres werden von vier Fünfteln derſelben (1675 Arten) nicht erreicht. Da⸗ gegen werden von den Nadelhölzern der öſt— lichen Zone alle Arten mit Ausnahme einer einzigen auch in der weſtlichen Zone ange— troffen. Da nun die fehlenden Laubhölzer nicht durch andere Gattungen und Arten erſetzt werden, ſo iſt der pacifiſche Wald natürlich viel formenärmer; er enthält nur 78 Arten (in 31 Gattungen) gegen 155 Arten (in 66 Gattungen) des atlantiſchen 307 Waldes, und unter dieſen haben die immer⸗ grünen Nadelhölzer vollſtändig die Oberhand gewonnen. Zu den 24 Arten (in 11 Gat⸗ tungen) des atlantiſchen Waldes ſind im Weſten der Sierra Nevada zwanzig weitere Arten hinzugekommen, darunter die größten und ſtolzeſten des ganzen Geſchlechtes, die beiden Rieſencedern (Sequoia), die nur hier vorkommen. Vergleicht man die Zuſammenſetzung der atlantiſchen und pacifiſchen Wälder der neuen Welt mit den ihnen gegenüberliegenden der alten Welt, ſo iſt wieder der weſtliche Wald (Europa) der artenärmere, ſofern er nur 85 Arten (in 33 Gattungen) enthält, während der öſtliche Nord-Oſt-Aſien) 168 Species (in 66 Gattungen) zählt. Darunter befinden ſich 45 Coniferen-Arten in 19 Gattungen (d. h. mehr Gattungen als Europa Arten befitst), jo daß die beiden Küſten des ſtillen Oceans heute als die eigentliche Heimath der Coniferen gelten könnten. Dieſes eigen- thümliche Verhältniß erklärt ſich nach Aſa Gray dadurch, daß das Verhalten der bei— den artenreichen Antipoden-Länder das eigent- lich normale und urſprüngliche iſt, und daß die Artenarmuth der beiden zwiſchen ihnen liegenden Zonen die Folge einer klimatiſchen Ausleſe ſein muß. Vergleicht man die Baum⸗ gattungen des öſtlichen Nordamerika mit denen Japans und China's, ſo findet man in beiden ſehr ähnliche, aber nicht identiſche Formen, und dieſe Uebereinſtimmung tritt noch deutlicher in's Licht, wenn man die Sträucher und Kräuter zur Vergleichung herbeizieht. Dagegen finden ſich nur wenige der nordamerikaniſchen und nordoſtaſiatiſchen Baumformen in Europa, obwohl ſie doch, wie die Parkaupflanzungen zeigen, meiſtens und in vielen Theilen Europa's, ſehr gut ausdauern. Beſonders auffallend wird dieſe Thatſache, da wir wiſſen, daß die meiſten Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. Pa | 308 Kleiuere Mittheilungen und Journalſchau. Baumarten Nordoſt-Amerika's während der ſpäteren Tertiärzeit in Europa vorhanden waren, ſo daß der damalige Wald kaum artenärmer geweſen fein kann, als der oſt— amerikaniſche oder oſtaſiatiſche. Als wahr— ſcheinlichſte Erklärung müſſen wir uns vor- ſtellen, daß die Eiszeit die meiſten jener Bvaäume auf Nimmerwiederſehen bei uns aus⸗ gerottet hat. Noch dringender aber als die Frage, wodurch wir jene Baumformen, die jetzt Amerika eigenthümlich ſind, verloren haben, erſcheint die andere: woher wir ſie bekommen hatten, wie wir beiſpielsweiſe dazu kamen, Mitbeſitzer jener Rieſencedern zu ſein, die heute Kalifornien eigenthümlich ſind, da man doch annimmt, daß jede Species (und jede Gattung) nur einen Geburtsort haben kann? Von den Pflanzenarten ausgehend, die ſich ringsum auf der nördlichen Halb— kugel finden, ſucht Aſa Gray die Urſache aller jener Erſcheinungen in der arktiſchen Zone. In dieſer ſind in der Regel die Arten rings um die Erde dieſelben, nur wenige ſind auf einen einzelnen Theil des Kreiſes beſchränkt. Arten und Gattungen, welche den drei nördlichen Welttheilen gemeinſam ſind, können wohl nur aus den Nordpolländern ihren Urſprung genommen haben. Die neue— ren Unterſuchungen der foſſilen Floren der höheren nordiſchen Breiten haben in der That gezeigt, daß bis kurz vor dem Eintritt der Eiszeit von Spitzbergen und Island bis Grönland und Kamſchatka ein dem unſerigen ähnliches Klima geherrſcht und Wälder er— zeugt hat, deren Arten denen Nordamerika's ähnlich waren.“) Als die Eiszeit zunächſt die Polarländer vergletſcherte, ſind ſie langſam nach Süden gedrängt worden, wo ſie das ihnen zuſagende gemäßigte Klima noch fan— den. Dieſe Verdrängung — wenn wir dieſes Bild weiter gebrauchen dürfen — wird nun ) Vergl. Kosmos, Bd. II., S. 264. nach allen Richtungen der Windroſe erfolgt ſein, und daher iſt es zu erklären, daß die— ſelben Arten kurz vor dem Vordringen der Eiszeit bis in unſere Breiten in den ver— ſchiedenen Welttheilen angetroffen wurden. Beim Zurückkehren der Wärme blieb ein Theil der kälteliebenden arktiſchen Pflanzen auf den Gebirgen zurück, woher ſich die Aehnlichkeiten der Gebirgsfloren der nörd— lichen Halbkugel ſowohl unter einander als mit derjenigen der arktiſchen Zone erklärt. Eine entſprechende Gleichartigkeit werden auch die Wälder jener Uebergangszeit beſeſ— fen haben, allein die darauf folgende Ver— gletſcherung des größten Theiles von Europa mag viele Arten bei uns vernichtet haben, die in dem ſüdlichen Theile Nordamerika's eine Zuflucht fanden, bis zu welcher die Gletſcher und das Eismeer nicht drangen. Bis zum Mittelmeer oder gegen die ver— gletſcherten Gebirge Südeuropa's gedrängt, mögen damals die Wallnußbäume, Rieſen⸗ cedern und Sumpfcypreſſen, Tulpen- und Storaxbäume, welche in Nordamerika am Leben blieben, bei uns vernichtet worden ſein. Ein Entweichen nach Oſten war durch die Verbindung des Caspiſchen Meeres mit dem Mittelmeere verhindert, ein Zurückweichen und ein Wiederkehren, wie in Nordamerika, war weder im Süden, noch im Oſten Europa's möglich. Aehnlich günſtig wie in Nord— amerika ſcheint das Schickſal der von der Kälte ſüdlicher gedrängten Arten in Japan und China geweſen zu ſein. Das inſulare Klima und die lange Erſtreckung des erſteren von Norden nach Süden, eine die Küſte beſpülende warme Südſtrömung und die weite Erſtreckung des Kontinentes haben dort eben— falls eine größere Anzahl der nordiſchen Flüchtlinge am Leben erhalten. Eine weitere Ausleſe mußte natürlich mit der zunehmen— den Verunähnlichung der Klimate auf der Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. nordiſchen Hemiſphäre eintreten. Pflanzen, welche ſtrenge Winter und heiße Sommer ertragen konnten, gediehen an den Oſtküſten Amerika's und Aſiens, diejenigen, welche einen milderen Winter für ihr Gedeihen voraus— ſetzen, an den Weſtküſten, und die mehr Trockenheit vertragenden Pflanzen nahmen von dem Innern des Kontinentes Beſitz. um räthſelhafteſten bleibt der große Artenverluſt, welchen die Weſtküſte Nordamerika's erlitten hat, während doch gerade einige der charak— teriſtiſchen nordiſchen Nadelhölzer der Mivcän- zeit hier ihre letzte Zuflucht gefunden haben. Sir John Lubbock's Beobachtungen an Ameiſen. Der früher hier beſprochenen Publika⸗ tion Sir John Lubbod’s*) iſt kürz⸗ lich eine weitere über daſſelbe Thema ge— folgt“), welche wieder über manche bio— logiſche Eigenthümlichkeiten der Ameiſen neues Licht verbreitet. Zunächſt wird die Fähigkeit der Ameiſen, Neſtgenoſſen nach Monate langer Trennung wieder zu er— kennen, durch neue Verſuche beſtätigt. Ein Neſt der Formica fusca hatte Lubbock in zwei Theile getheilt. So oft er nun eine fremde Ameiſe, wenn auch derſelben Art, in das Neſt brachte, verrieth ſie ſofort nach dem Hineinſetzen Furcht und ſuchte zu ent⸗ fliehen; ſobald ſie bemerkt wurde, wurde ſie auch angefallen und, wenn es ihr nicht gelang zu entwiſchen, getödtet. So oft er dagegen frühere Neſtgenoſſen unter ihre alten Kameraden zurückverſetzte, wurden fie freund- lich aufgenommen und benahmen ſich ganz ) Kosmos, Band II., ©. 59. **) Journal of the Linnean Society, Zoo- logy, vol. XIV., pag. 265 — 290. 309 wie zu Haufe. In einem Falle hatten ſich die ſich erkennenden Ameiſen ſeit mehr als einem Jahre nicht geſehen. Die Fähigkeit, durch überlegtes Handeln ſich aus ſolchen Verlegen— heiten zu helfen, die ihnen unter natürlichen Verhältniſſen noch nichtbegegnet waren, kann bei manchen Ameiſen nur äußerſt gering ſein. Das gehtwohl unzweifelhaft aus folgenden Verſuchen her- vor. Lubbock hing über einem Neſte von Lasius flavus in einer Höhe von etwa ½ Zoll etwas Honig auf, der nur durch eine Papierbrücke von über 10 Fuß Länge zugänglich war, und machte ihn durch ein wenig darunter aufgehäufte Erde auch un⸗ mittelbar zugänglich. Sobald nun zahl— reiche Ameiſen am Honige mit Lecken be— ſchäftigt waren, wurde zwiſchen den Erd— häufchen ein Zwiſchenraum von nur etwa ½ Zoll hergeſtellt. Keine einzige Ameiſe wagte dieſe geringe Höhe hinabzuſpringen, alle zogen den Umweg über die lange Brücke vor.“) Von dem Erdhaufen aus verſuchten Daß andere Ameiſen im Falle der Noth ſich ſelbſt aus bedeutender Höhe fallen laſſen, beweiſt die früher hier mitgetheilte Beobachtung Leuckart's. (Kosmos Band II S. 60). Formica rufa thut dies vielleicht ſelbſt ohne dringende Noth, wie ich aus folgen- der Beobachtung, die ich leider nicht aufge— zeichnet habe, ſondern meinem Gedächtniß ent— nehmen muß, vermuthe. Vor einigen Jahren faßte ich in einem Walde nahe bei Lippſtadt wiederholt einen jungen Eichbaum (von etwa 6 — 10 Meter Höhe) andauernd ins Auge, an deſſen Stamm ein mehrere Fuß breiter Streifen der gewöhnlichen Waldameiſe (F. rufa) in lebhaftem Auf- und Abwandern begriffen ſichtbar war. Vom Fuße des Stammes aus ließ ſich der lebendige; Strom leicht bis zu dem wenige Schritte entfernten Neſte ver- folgen. Vom Gipfel des Stammes vertheilte er ſich auf die Zweige und Blätter welche letztere mit Honigthau bedeckt waren. Von 310 fie oft vergeblich das Honiggefäß direkt zu erreichen. Obgleich es nur ſo hoch war, daß ſie es mit den Fühlern noch berühren konnten, ſo verfielen ſie durchaus nicht darauf, ſich ſelbſt einen direkten Zugang zu bereiten, wozu fie bloß ein halbes Dutzend Erd— krümchen hätten in Bewegung zu ſetzen brauchen. Endlich gaben ſie alle Verſuche, das Gefäß direkt zu erreichen, auf und machten mehrere Wochen lang den Umweg über die lange Papierbrücke. Nicht weniger unbe holfen zeigten ſich Ameiſen derſelben Art, welche Lubbock durch einen etwa ½ Zoll breiten und ½ Zoll tiefen Glyeerinring iſolirt hatte. Obwohl ihnen ein Häufchen Erde bequem zurecht gelegt war, und obwohl ſie ſich beim Bau ihrer Neſter der Erde ſehr geſchickt bedienen, fiel es ihnen doch nicht ein, ſich eine Brücke oder einen Damm über das Glycerin herzuſtellen.“) Ueber den Urſprung neuer Ge— ſellſchaften waren bisher verſchiedene An— gaben gemacht worden. Nach dem Einen ſollte die junge Königin nach dem Hochzeits— fluge in ihr eigenes oder irgend ein anderes altes Neſt gelangen, nach Anderen ſich mit einer gewiſſen Anzahl von Arbeitern zu- ſammenthun und mit deren Hülfe ein neues Neſt gründen, nach wieder Anderen für ſich allein ein neues Neſt gründen; entſcheidende Beobachtungen lagen aber noch nicht vor, dieſen Blättern war es nun, wenn mein Gedächtniß mich nicht ſehr täuſcht, daß ſich viele mit Süßigkeit geſättigten Ameiſen direkt auf die Erde fallen ließen. ) Von anderen Ameiſen iſt nach Graber (die Inſekten II., S. 140) beobachtet worden, daß fie ſich den Zugang zu einem von Blatt- läuſen bewohnten, aber durch einen um den Stamm gelegten Theerring abgeſperrten Baume dadurch eröffneten, daß ſie aus herbeigeſchlepp— ten Erdkrumen eine Brücke oder richtiger einen Damm über den Theerring ſchlugen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. nur war der Verſuch, eine befruchtete Königin allein Nachkommen aufziehen zu laſſen, ſtets mißlungen. Lubbock hat nun ſoviel feſt geſtellt, daß wenigſtens bei Lasius flavus die befruchtete Königin nie in einem anderen Neſte Aufnahme findet, ſelbſt wenn daſſelbe ohne Königin iſt, ſondern vielmehr getödtet wird. Dagegen gelang es ihm, befruchtete Königin⸗ nen von Myrmica ruginodis für ſich allein Larven großziehen und eine neue Ge— ſellſchaft gründen zu laſſen. Daß alsbald viele Ameiſen ſich einfinden, wo eine einen Futter⸗ vorrath entdeckt hat, ſcheint, wie ſchon aus früheren Beobachtungen Lu b⸗ bock's hervorging, immer bloß auf die Weiſe zu Stande zu kommen, daß Freunde von der glücklichen Ameiſe veranlaßt werden, fie zu ihrem Schutze zu begleiten. Durch⸗ ſchnittlich geht es dabei etwa zu wie bei folgendem Verſuch: Lasius niger aus einem Neſte, welches drei Tage ohne Futter ge— laſſen war, wurde an etwas Honig geſetzt. Nachdem er gefreſſen hatte, begab er ſich auf den Rückweg zum Neſte, begegnete aber unterwegs einigen Freunden. Dieſen vertheilte er nun ſeinen Honigvorrath und kehrte dann allein zum Honige zurück. Als er zum zweiten Male Honig einge⸗ nommen hatte, fütterte er wieder ebenſo auf ſeinem Wege nach dem Neſte zu einige Freunde; diesmal aber kehrten fünf ſo ge— fütterte mit ihm zum Honig zurück. Im regelmäßigen Verlauf würden dieſe fünf dann ohne Zweifel wieder andere mitgebracht haben und ſo fort. Verſchiedene Ameiſenarten verhalten ſich aber in Bezug auf das Mitbringen von Freunden zu einer entdeckten Futterquelle ſehr verſchieden. Exemplare von Formica fusca z. B. brachten nie Freunde mit, wenn ſie auch den ganzen Tag hindurch „ en er 2 abwechſelnd zum Neſte gingen und zu ihrer Futterquelle zurückkehrten. Ein Herbeirufen von Freunden durch Schallerzeugung ſcheint den Ameiſen (wenigſtens Lasius flavus) unmöglich zu ſein. Lubbock befeſtigte auf das Brett, auf welchem er das eine ſeiner Neſter von Lasius flavus zu füttern pflegte, 6 Holzſtäbchen von etwa 1½ Zoll Höhe und brachte auf das eine derſelben etwas Honig. Alsdann brachte er von den Ameiſen, die nach Futter ſuchend auf dem Brette umherliefen, drei an den Honig. Sobald ſich eine ſatt gefreſſen hatte und zum Neſte zurückkehren wollte, nahm er ſie weg, ſperrte ſie ein und erſetzte ſie durch eine neue, ſo daß immer drei Ameiſen am Honig beſchäftigt blieben. Das Neſt befand ſich gerade über dem Brett und etwa 12 Zoll von demſelben entfernt. Hätten die am Honig befindlichen Ameiſen ihre Kameraden durch Töne herbeirufen können, ſo hätten dieſelben ſich alsbald zahlreicher einfinden müſſen. Das geſchah aber nicht, ſondern es gelangten im Verlaufe mehrerer Stunden immer nur einzelne Ameiſen zum Honig, nicht mehr als auf die honigloſen Holzſtäbchen. Sobald dagegen den am Honig befindlichen Ameiſen geſtattet wurde, ins Neſt zurückzukehren, kamen ſehr zahlreiche. Ameiſen empfinden weniger Mitleid mit leidenden Kameraden als Haß gegen Fremdlinge. Lub bock ſperrte ſechs Ameiſen aus einem Neſte von Formica fusca in eine kleine Flaſche, überband die Oeffnung mit Muſſelin und legte ſie dicht an den Eingang des Neſtes. Die Maſchen des Muſſelins waren ſo weit, daß die Ameiſen durch dieſelben ſich ſehen und mit den Fühlern betaſten, aber nicht ent— wiſchen konnten. Lu bbock wartete ab, ob die Gefangenen von ihren Freunden gepflegt | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 311 | oder gefüttert werden würden; dieſe nahmen aber nicht die allergeringſte Notiz von ihnen, ſo oft der Verſuch auch wiederholt wurde. So oft dagegen Ameiſen aus einem anderen Neſte derſelben Art ebenſo eingeſperrt und an das Neſt gelegt wurden, waren beſtändig Ameiſen eifrig an dem Muſſelin beſchäftigt, und ſobald es ihnen gelungen, denſelben ſo weit zu zerbeißen, daß ſie einen Eingang gewinnen konnten, drangen ſie ein, griffen die Fremdlinge an und tödteten ſie. Wenn einer derſelben vorher ein Bein hervorragen ließ, ſo wurde daſſelbe gepackt und der Fremd⸗ ling herauszuziehen verſucht. Sklaverei ſcheint auch bei Amei— ſen den kriegeriſchen Sinn zu brechen. Der zuletzt beſchriebene Verſuch wurde mit einem Neſte von Polyergus rufescens wiederholt, welches zahlreiche Sclaven (For- mica fusca) enthielt. In ein Fläſchchen wurden zwei Sclaven derſelben, in ein anderes zwei eines anderen Neſtes in der beſchriebenen Weiſe eingeſperrt und dicht neben die Stelle gelegt, wohin die Ameiſen zum Freſſen kamen. Sie nahmen aber weder von den gefangenen Freunden noch Feinden irgend welche Notiz. Zu ihrem Futter werden Amei- ſen weit mehr durch den Geruch— ſinn als durch das Geſicht geleitet. Lub bock legte Futter ſo an den Rand eines Bretchens, daß die aus dem Neſte kommenden Ameiſen (Lasius niger), um zu dem Honige zu gelangen, quer über das Brett hinüber in gerader Linie zwiſchen zwei Parallelreihen von Holzklötzchen hindurch zu wandern hatten. Wurde dann, nachdem ſich die Ameiſen an dieſen Weg gewöhnt hatten, das Brett ſo gedreht, daß der Weg, zum Honig mit den in unveränderter Lage zum Neſt liegen bleibenden Klötzchen einen Winkel bildete, ſo gingen die Ameiſen, ohne ſich durch die Klötzchen irre leiten zu 312 laſſen, auf derſelben ihnen jedenfalls durch den Geruch kenntlichen Linie des Brettes wie zuvor geraden Wegs zum Honig. Wurde dagegen das Brett in der urſprüng— lichen Lage gelaſſen und die beiden Parallel— reihen der Klötzchen nebſt dem Honiggefäß an ihrem Ende unter einen Winkel zu der durch den Geruch kenntlichen Linie geſtellt, ſo folgten ſie trotzdem dieſer letzteren, die ſie nicht zum Honig führte, bis zum Ende und ſuchten dann erſt umher, bis ſie den Honig fanden. Ameiſen ſind im Stande, Far— ben zu unterſcheiden; beſonders empfindlich ſind ſie gegen Violet. Daß die Bienen Farben unterſcheiden können, hat Lubbock bekanntlich ſchon vor Jahren nachgewieſen, indem er durch den Ver— ſuch zeigte, daß ſie ſich beim Wiederaufſuchen einer von ihnen kennen gelernten Honigquelle durch die Farbe derſelben leiten laſſen. Bei den Ameiſen iſt, nach den Ergebniſſen der zuletzt erwähnten Verſuche, dieſe Probe natürlich nicht anwendbar. Sie ziehen ſich aber in ihren Neſtern möglichſt ins Dunkle zurück; ihre Unterſcheidungsfähigkeit für Farben wird ſich daher erproben laſſen, wenn man ihr mit einer Glasplatte be— decktes Neſt mit parallelen Streifen ver— ſchieden gefärbten Glaſes oder verſchieden gefärbter Löſungen belegt und ihr Verhalten gegen die verſchiedenen Farben beobachtet. Lu bbock hat bereits ſehr zahlreiche Verſuche in dieſer Richtung angeſtellt und in der vor— liegenden Abhandlung aufs genaueſte mit— getheilt. Seine Beobachtungen ſind indeß noch bei Weitem nicht abgeſchloſſen und geſtatten bis jetzt mit Sicherheit nur die Aufſtellung der beiden obigen Sätze. Die Lebensdauer der Ameiſen iſt größer als man bisher vermuthet hat. Zwei Königinnen der Formica fusca, die . | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Lubbock ſeit 1874 beſitzt, waren im Auguſt 1878 noch am Leben; ebenſo Arbeiter von Formica fusca, Formica sanguinea und Formica einerea, die er ſeit 1875 beſitzt. H. M. Die Entwickelung des Knochenhechts und der Schollen. Der in manchen Süßwäſſern Nordamerikas häufig vorkommende Kaimanfiſch oder Kno— chenhecht (Lepidosteus osseus) beſitzt eine beſondere Anziehungskraft für den Natur⸗ forſcher dadurch, daß er durch ſeine rauten— förmigen Schmelz-Schuppen und andere Merkmale ſich den in der Vorwelt ſehr zahlreichen, jetzt bis auf wenige Reſte aus— geſtorbenen Schmelzſchuppern oder Ganoiden anreiht.“) Alexander Agaſſiz bekam vor Kurzem entwickelungsfähige Eier und konnte ſo die Entwickelungsgeſchichte dieſes von ſei— nem Vater zuerſt näher beſchriebenen und benannten Fiſches genauer ſtudiren. Seine Arbeit wird demnächſt mit vielen Abbildungen erläutert in den Proceedings of the Ame- rican Academy of Arts and Sciences erſcheinen; die folgenden Angaben entnehmen wir einer vorläufigen Mittheilung von Prof. Perceval Wright in der engliſchen Zeit— ſchrift Nature (Nr. 475, Dezember 1878). Die Eier ſtammten aus dem „ſchwarzen See“ bei Ogdensburgh (New-Pork), woſelbſt die Fiſche am 18. Mai zu laichen begonnen hatten. Kleine, von den Ufern losgebröckelte eckige Granitblöcke bedecken den Boden des Waſſers, welches an den Laichſtellen 2—14 Zoll hoch über ihnen ſteht. Man ſah an dieſen ſeichten Stellen den weiblichen Fiſch gewöhnlich von zwei Männchen begleitet. Im tiefen Waſſer ſehr furchtſam, ſchien er hier ſehr muthig bis zur Sorgloſigkeit zu ſein. ) Vergl. Kosmos Bd. II. S. 327. Zu dreien kamen ſie auch an die Oberfläche, ſtießen die Schnauze über das Waſſer, öffneten fie weit, um Luft zu holen und ſchloſſen fie mit einem lauten Schnappen. In einigen wenigen Fällen fanden ſich auch drei bis vier Männchen bei einem Weibchen ein, aber meiſtens waren es zwei, auf jeder Seite des Weibchens einer von ihnen. Zu Zeiten durchpeitſchten ſie das Waſſer mit heftigen Bewegungen nach allen Richtungen. Die friſchen Eier waren ausnehmend klebrig, ſo daß ſie überall anhafteten und nur ſchwer ohne Beſchädigung loszumachen waren. Eine Quantität dieſer Eier war in Eimern nach Cambridge getragen worden. In ſeiner Aengſt— lichkeit, um ſich nicht dieſer werthvollen Ob— jecte zu berauben, wagte Prof. Agaſſiz nicht, die friſchen Eier näher zu unterſuchen, ſo daß die Art ihrer Segmentation und ihre erſte Entwickelung noch feſtzuſtellen bleibt. Die Eihülle iſt ſehr undurchſichtig und gelb- lichgrün wie die von Kröteneiern. Vierzig Stück ſchlüpften Ende Mai aus, achtund⸗ zwanzig waren noch Mitte Juli am Leben. Der jung ausgeſchlüpfte Fiſch beſitzt einen rieſigen Eidotter-Sack und der hintere Theil des Körpers bietet keinen beſonderen Unterſchied von demjenigen irgend welches andern Knochenfiſches dar. Aber der vor— dere Theil erſcheint ſehr ungewöhnlich, er ſah aus wie eine mächtige Mundhöhle, die ſich bis nahe zu den Kiemenöffnungen er— weiterte, und war gekrönt von einer Bildung wie der Umriß eines Pferdehufes, deſſen Rand mit einer Reihe von Hervorragungen beſetzt war, die als Sauger wirkten. Mit Hilfe derſelben hing ſich der Fiſch gleich nach dem Ausſchlüpfen an die Wand des Ge— fäßes und blieb dort unbeweglich hängen. Das Auge war nicht ſehr vorgeſchritten, der Körper durchſichtig, die Kiemendeckel gegen die Seiten des Körpers gedrückt; der Schwanz Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 313 | leicht gerundet, die Embryofloſſe ſchmal und ohne Spuren embryoniſcher Floſſenſtrahlen, die Riechlappen groß entwickelt und ver— längert, wie bei Haifiſchen und Glattrochen, die Chorda gerade. Am dritten Tage be— deckte ſich der Körper mit kleinen ſchwarzen Pigmentzellen und die erſten Spuren der Bruſtfloſſen zeigten ſich; die Schnauze war verlängert und der Dotterbeutel ſtark ver— kleinert. Gegen den fünften Tag wurden Anfänge der Schwanz, Rücken- und After- floſſe wahrgenommen. Schrittweiſe wurde die Schnauze immer länger, und die un— proportionirliche Größe der Saugſcheibe er— ſchien reducirt, ſo daß das drei Wochen alte Thier nun ſchon fiſchähnlicher wurde. Die Saugſcheibe war nun zu einer Anſchwellung auf der Spitze des Oberkiefers zuſammen— geſchwunden, der Eidotter aufgezehrt, Kiemen— deckel und Schwanz in beſtändiger ſtarker Be— wegung. Der junge Fiſch beginnt nun um- her zu ſchwimmen und iſt nicht mehr ſo abhängig von ſeiner Saugſcheibe, zuletzt erſcheint dieſe nur noch als eine kuglige Fleiſcherhebung auf der Schnauze. Auf dieſer Stufe zeigen die jungen Fiſche bereits die eigenthümliche Gewohnheit der Erwach— ſenen, an die Oberfläche zu kommen, um Luft zu ſchnappen. Nachher unter Waſſer zurückgegangen, öffnen ſie ihre Kiefer weit, breiten ihre Kiemendeckel aus, und machen heftige, ſtoßende Schluckbewegungen, bis eine kleine Luftblaſe erſcheint, worauf ſie ruhiger werden. Ihr Wachsthum iſt ſchnell; inner— halb eines Monats erſchienen die Zähne und einige der Floſſenſtrahlen in den Bruſtfloſſen wurden ſichtbar. Prof. Agaſſiz zieht aus ſeinen vorläufigen Beobachtungen den Schluß, daß ungeachtet der Aehnlichkeit gewiſſer Ent- wickelungsſtufen mit denen des Störs und ungeachtet der Uebereinſtimmung mit den Haien in der Bildung ſeiner Bruſtfloſſen — — und einer ſeitlichen Falte, wie auch hinſicht— lich der Entſtehung der Kiemen-Oeffnungen und Kiemen-Bögen, der Knochenhecht im Allgemeinen den Knochenfiſchen nicht ſo fern ſteht, als man bisher glaubte. Eine andere Unterſuchung, welche Prof. A. A gaſſiz in neuerer Zeit angeſtellt hat, betraf die Schollen, welche für die Evo— lutionstheorie nicht weniger lehrreich find. Bekanntlich unterſcheiden ſich dieſe Fiſche von allen andern Wirbelthieren und den meiſten Thieren der anderen Klaſſen dadurch, daß ſie vollkommen unſymmetriſch ge— baut ſind. Sie haben bekanntlich beide Augen auf einer Seite ſtehen, und dazwiſchen einen oft bedenklich ſchief gezogenen Mund, der mit— unter nur auf der einen Seite Zähne auf- zuweiſen hat. Schon die Volksdichtung hat ſich allerwärts mit dieſen abſonderlichen Thie— ren beſchäftigt, und Grimm's Märchen er— zählen uns, daß dem Flunder das Maul zur Strafe ſchief ſtehe, weil er bei der Kö— nigswahl der Fiſche über den Hering ge— ſpottet habe. Klunziger in ſeinen Bil— dern aus Oberägypten und der Wüſte “) erzählt uns, wie die frommen Moslims ſich die Thatſache erklären, daß die Schollen auf der einen Seite weiß und auf der anderen braun ſind. Sie erzählen nämlich, Moſes habe ſich einſt einen Fiſch backen wollen, aber als derſelbe auf der einen Seite braun gebacken war, ging das Feuer aus und der fromme Mann warf ärgerlich den Fiſch wieder ins Meer, wo er nun halb gebraten fortlebt. In Conſtantinopel wird daſſelbe Wunder von einer dort vorkommenden Scholle und dem Sultan Mohamed II., dem Er— oberer Stambuls, erzählt. Die Darwin’- ſche Theorie erklärt dieſe Verſchiedenfarbigkeit ohne Wunder. Diejenige Seite nämlich, welche dieſe Fiſche bei'm Schwimmen nach Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. unten kehren, iſt weiß oder farblos, weil ſie dadurch von unten her am wenigſten auf— fällig erſcheinen. Die nach oben gekehrte Seite färbt ſich dagegen dunkel oder erd— farbig, und vermag der Umgebung ent— ſprechend heller zu werden oder nachzudunkeln, damit ſie auch von oben, und namentlich wenn ſie auf dem Boden liegen, möglichſt wenig auffallend erſcheinen. Dieſe beiden ver— ſchiedenfarbigen Seiten ſind nun aber nicht, wie man im erſten Augenblicke glauben könnte, Bauch und Rücken, ſondern es ſind die bei— den Flanken dieſer Ruderer, die ſich gewöhnt haben, immer auf der einen Seite zu liegen und zu ſchwimmen, und zwar kehrt die ge— meine Scholle bei'm Schwimmen ſtets die rechte, Turbot und Steinbutt meiſt die linke Seite nach oben. Da dieſe Seitenſchwimmer (Pleuronectiden) nun auch auf der einen Seite liegen, wenn auf dem Meeresgrunde ſie halb im Sande vergraben auf Beute lauern, ſo war es offenbar ſehr zweckmäßig, wenn beide Augen nebeneinander auf die— ſelbe obere Seite zuſammenrückten, und es hat hier offenbar eine Verdrehung des Ge— ſichtstheils ſtattgefunden. Da man nun an- nehmen durfte, daß dieſe kleine Gruppe aus gewöhnlichen, ſymmetriſchen Fiſchen hervor— gegangen ſein möchte, ſo war eine Beob— achtung Steenſtrup's, wonach die Jungen dieſer Fiſche ihre Augen ſo tragen, wie alle ordentlichen Fiſche, ſehr lehrreich. Während man aber früher geglaubt hatte, daß es ſich um eine Verdrehung des ganzen Kopfes handele (weil das Maul oft ſehr ſchief fteht,) ſo glaubte Steenſtrup aus ſeinen Spiri— tus⸗Exemplaren ſchließen zu dürfen, das eine Auge bohre ſich durch den ganzen Kopf und durch den Knochen hindurch, um dann neben und oberhalb des andern zu erſcheinen. Dieſe Angabe wurde von Klein, Malm Rund andern ſpätern Beobachtern beſtritten, | ) 2. Aufl. Stuttgart 1878. S. 394. 22 won — aber die neue Unterſuchung von A. Agaſſiz') hat nun ergeben, daß Steenſtrup's Auf— faſſung doch in mancher Beziehung berech— tigt war, und daß nur einige Einſchränkungen ſeiner Angaben erforderlich ſind. An einer dem gewöhnlichen Flunder naheſtehenden Art (Pleuronectes americanus) ſah Agaſſiz, wie ſich das linke Auge allmälig nach vorn und oben verſchob, aus ſeiner Augenhöhle heraus und über die obere Fläche des Stirn— beins zu dem rechten Auge hinwanderte. Dies geht um ſo leichter von Statten, als dieſe Augen, wie man in den Aquarien alle Tage ſehen kann, ſchon an ſich eine ſehr große Freiheit der Bewegung und Drehbar— keit beſitzen, während die Knochen in dieſem frühen Stadium ſehr weich ſind und der neuen Ordnung der Dinge ſich leicht fügen. Erſt wenn das Auge in ſeiner Wanderung über den Kopf die Mittellinie paſſirt hat, wächſt die Rückenfloſſe von hinten her längſt dieſer Mittellinie aus, und ſcheidet nun in Gemeinſchaft der Afterfloſſe ſcharf die augen— loſe Linke von der doppeläugigen Rechten. Bei den Butten, die, wie erwähnt, auf der andern Seite ſchwimmen, geht die Sache in derſelben Weiſe, nur umgekehrt vor ſich, in— dem hier beide Augen links ſtehen. Bei der Gattung Plagusia dagegen, die Steen— ſtrup beobachtete, wächſt die Rückenfloſſe bereits herüber, bevor das rechte Auge nach links wanderte, und verſperrt ihm alſo den Weg. Hier geht nun das Auge zwar nicht direkt durch den knöchernen Schädel, aber doch um denſelben herum unter der Floſſe hindurch, ſo daß es zur Zeit ſeiner Culmi— nation nach beiden Seiten ſich wenden kann, während es durch die Floſſe hindurchgeht. Wenn es nun auch, wie erwähnt, wahrſchein— lich iſt, daß das Liegen auf der einen Seite ) Proceed. of the Amer. Acad. of Arts and Sciences, July 1878. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. e 315 dieſe Auswanderung angeregt hat, ſo iſt der Vorgang doch jetzt erblich und wartet nicht, bis der Fiſch ſich auf die Seite gelegt hat; er beginnt vielmehr ſchon, während der Fiſch noch wie alle übrigen regelrecht, den Rücken nach oben, ſchwimmt. Auch begiebt ſich in der großen Mehrzahl der Fälle das richtige Auge auf die Wanderſchaft, aber nicht ſelten kommt hier doch eine kleine Verwechſelung von Rechts und Links vor, und es fängt wohl bei einer rechtsäugigen Art das rechte Auge an zu wandern, und dann wird der Fiſch links, oder umgekehrt. Während ſich urſprünglich die Augen nach der Schwimm⸗Gewohnheit gerichtet haben werden, geſchieht hier das Umgekehrte, die Gewohnheit muß ſich dem Irrthum der Augen — wenn ein ſolcher vorliegt — fügen. Es wäre jedenfalls lehr— reich, feſtzuſtellen, ob die Nachkommen eines rechtsaugigen Individuums, z. B. unter den Steinbutten, die in der Regel linksäugig ſind, auch wiederum alle rechtsäugig ſein mögen. Ueber einige Modificationen des individuellen Selbſtbewußtſeins veröffentlicht Prof. Alex. Herzen im ſiebenten Bande des Archivio per PAnthropologia einen Artikel, dem wir das Nachfolgende wörtlich entnehmen: „Wir ſind uns der Identität und Continuität mit jenem kleinen Weſen, welches unſere Mutter mit ſo vielem phyſiſchen Schmerze und ſo hoher moraliſcher Freude gebar, nicht bewußt. Dies rührt daher, daß wir uns des erſten Zeitraumes unſeres Lebes nicht erinnern können. Das Ge— fühl, daß wir die Fortſetzung deſſelben Individuums ſind, kommt uns erſt viel ſpäter, zu ganz verſchiedenen Zeitpunkten, mit der erſten genauen und dauernden Erinner— Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. 41 316 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ung eines klar empfundenen Zuſtandes des Bewußtſeins. Der Neugeborene kann ſeine Empfindungen nicht localiſiren, da zu dem Ende die Zuſammenwirkung mehrerer Sinne des Gedächtniſſes erforderlich iſt; in ſeinem Gehirnchen arbeitet ſich erſt nach und nach die Topographie des eigenen Körpers ſowie die Fähigkeit heraus, deſſen verſchiedene Theile von einander und von den äußeren Gegenſtänden zu unterſcheiden. Da nun die verſchiedenen Theile unſeres Körpers in gegenſeitige Beziehung durch die Nerven-Centren geſetzt werden, welche das Bild einiger oder aller Theile ſubjektiv re— produciren können, ſo oft ein einzelner Theil erregt wird (ähnlich wie der durch die Vibra— tion einer einzigen Saite erzeugte Ton die harmoniſchen Töne des ganzen Accordes erweckt), und da ferner die nothwendiger— weiſe am meiſten erweckte Form dieſer Art Reflex-Thätigkeit, — die das Gedächtniß bildet, — gerade die iſt, welche die ver— ſchiedenen Theile des Körpers reproducirt, ſo folgt daraus, daß das Ich ſich als ein Individuum zu betrachten und ſich als ſolches dem Nicht-Ich d. h. der äußeren Welt gegenüber zu ſtellen pflegt. So entſteht das Bewußtſein des Ich, — es entwickelt ſich allmälig und nimmt auch den Anſchein der Continuität und der Ein— heit, Dank der gleichzeitigen Entwickelung des Gedächtniſſes, an. Ich ſage „den An— ſchein der Continuität und der Einheit,“ denn die Exiſtenz des individuellen Bewußt— ſeins bedingt keineswegs deſſen Identität; die Phyſiologie beſitzt ſogar Daten genug, um erklären zu können, daß das Bewußt— ſein des Ich nie ſich ſelbſt identiſch iſt. Ohne hier zu wiederholen, was von Schiff in einem Artikel über die „Cene— stesi“ im Dizionario delle scienze me- diche von Mantegazza, Corradi und Bizzozero, ſowie von mir ſelbſt in einem Artikel über die Identität des Ich's in der Revue philosophique von Ribot geſagt wurde, will ich hier nur bemerken, daß meine, natürlich an der Schiff'ſchen Quelle inſpirirte Arbeit jedoch von jener in jo fern abweicht, als er (Schiff) einer- ſeits dem Ausdruck Selbſtbewußtſein und dem Worte Ceneſteſis (d. h. Ge ſammtheit der peripheriſchen und Central— Empfindungen, die in einem gegebenen Mo— ment aufgenommen werden) einen identiſchen Sinn beimißt, und andererſeits die Dis— continuität des Selbſtbewußtſeins übertreibt. Mir Scheint es dagegen, daß die Ceneſteſis mit Bewußtſein im Allgemeinen gleich— bedeutend iſt, ſo daß das individuelle oder Selbſtbewußtſein eine Specialform des Be— wußtſeins im Allgemeinen wird, eine ver— änderliche und inconſtante Form, in deren conſtitutiven Vorſtellungen ſtets als einer der hauptſächlichſten Faktoren das mehr oder weniger klare, aber immer ganze Bild von uns ſelbſt auftritt; daher definire ich das Bewußtſein des Ich mit den Worten: es iſt die perſönliche Form der Ceneſteſis. Da nun die Ceneſteſis das Produkt aller gegenwärtigen und vergangenen, in einem gegebenen Augenblicke erkannten Empfind— ungen (Sensazioni) tft, jo iſt es klar, daß ſie nie ſich ſelbſt identiſch ſein kann; folglich kann dies auch mit dem Bewußtſein des Ich's nicht der Fall ſein. Das Selbſt— bewußtſein erhält ſich jedoch auf mehr oder weniger lange Zeitdauer faſt als dasſelbe, weil während dieſes Zeitraumes auch die Ceneſteſis faſt dieſelbe geblieben iſt; mit der Aenderung dieſer variirt auch jenes. Dies geſchieht allmälig nur langſam in phyſio— logiſchen Zuſtänden, wenn das Indivi— duum von der Kindheit zur Pubertät, von der Adolescenz zum reiferen Alter, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. von dieſem zum Greiſenalter übergeht; das— ſelbe geſchieht aber ſchnell und zuweilen plötzlich und ohne jene Abſtufungen (die die Metamorphoſe des Ich's leicht ver— decken), in gewiſſen pathologiſchen und toxiko— logiſchen Zuſtänden, in Folge veränderter Ernährung der Nerven-Centren oder durch Gegenwart von Subſtanzen im Blute, die den Normalgang ihrer Funktionen ſtören. Die phyſiologiſchen Transformationen des Ich's ſind den Beobachtern der Be— wußtſeins⸗Erſcheinungen wohl bekannt. Die deutlichſte, weil ſchnellſte, iſt die im Moment der Pubertät vorkommende; die anderen ſind gewöhnlich langſamer; oft bemerken wir ſie erſt in langen Zwiſchenräumen, wie wir erſt in langen Zwiſchenräumen die materiellen Veränderungen unſeres Körpers, der doch fortwährend in der Transforma— tion begriffen iſt, beobachten. Die pathologiſchen Transformationen pflegen, wie geſagt, ſehr ſchnell ſtattzuhaben; hiervon zwei Beiſpiele: Im Jahre 1873 publicirte Dr. Kris— haber in Paris eine Monographie über die Krankheit, die er Neoropathie cere- brocardiaque nennt; deren Urſache ſcheint eine plötzliche Ernährungsveränderung jener Gehirn-Eentren zu fein, wo ſich die rohen Empfindungen bilden, wahrſcheinlich in Folge einer toniſch localen Zuſammenzieh— ung der enkephaliſchen Blutgefäße, während die höheren Centren, die die Engländer Ideations-Centren nennen, d. h. wo die Empfindungen in Ideen ausgearbeitet werden, im Normalzuſtande verbleiben. Dadurch entſteht eine Perverſion der Empfindungen — alſo der Elemente der Intelligenz — welche, trotz Fortſetzung ihrer regelrechten Funktionirung, zu falſchen Reſultaten gelangt, weil ſie auf Grund falſcher Daten arbeitet. ungen, oder die Ceneſteſis, verändert iſt, ſo ändert ſich an erſter Stelle das Bewußt— ſein der eigenen Individualität; der Kranke erkennt den Unterſchied zwiſchen ſeinem gegen— wärtigen und dem vorhergehenden Weſen; er ſucht zuerſt den fremdartigen neuen Ein— drücken, die ihn bedrücken, zu widerſtehen, er kämpft gegen die Folgerungen, die ſie ihm aufzwingen, aber endlich wird er beſiegt und er überzeugt ſich, daß er nicht mehr das Individuum von früher, ſondern in der That ein anderes geworden iſt. In der Revue philosophique vom März 1876 macht Herr H. Taine einen langen Aus— zug aus der Kris haber 'ſchen Mono- graphie und ſchließt daraus folgerichtig, daß das Ich — die moraliſche Perſon, — ein Produkt iſt, deſſen erſte Faktoren die Empfindungen ſind, weshalb, wenn plötzlich die Faktoren ſich ändern, auch nothwendiger— weiſe das Produkt variirt; das Individuum erſcheint ſich ſelbſt als ein Anderes, und wird nicht wieder das von früher, bis auch die Em— pfindungen wieder die von früher werden, d. h. mit der Heilung der Nerven-Centren, mit der Nachlaſſung der gefäßlichen Zuſammenzieh— ung, welche deren Ernährung änderte, mit der Wiederherſtellung der Normalfunktionen. Prof. Berti in Venedig faßt in ſeinen Lezioni eliniche über dieſe Krankheit (1876) die Ideen Krishaber's wie folgt zu— ſammen: „Aus der ſorgfältigen Analyſis der bei den Kranken beobachteten Erſchein— ungen ergiebt ſich, daß die von den Sinnen geſammelten und normal übermittelten Ein— drücke ſtets beim Ausgangspunkt der zur allgemeinen oder ſpecifiſchen Empfindlichkeit beſtimmten Nerven pervertirt (gefälſcht) werden. Daher jene tiefen Störungen, in Folge deren der Kranke verwirrte und irrige Empfindungen von der Außenwelt Wenn die Geſammtheit der Empfind- hat. Daß in der That das Organ der SEM 318 bewußten Empfindungen nicht geſtört iſt, beweiſt die fortwährende Thätigkeit der In— telligenz des Kranken, die den Irrthum der Sinne zu beachten und zu rektificiren bedacht iſt, weshalb man ſagen kann, daß die rohen Empfindungen falſch, die Percep— tionen (Auffaſſungen) normal find. Frei— lich giebt es einige ſchlimme Fälle, in denen die Empfindungen ſo ſtark gefälſcht (pervertirt), ſo gründlich verſchieden von der geſunden Anſchauung ſind, daß der Kranke faſt an der Wirklichkeit der Dinge und ſogar an der Identität der eignen Perſon zweifelt.“ Im zweiten Beiſpiel, das ich anführen wollte, handelt es ſich um die Transfor— mation des Ich's in Folge veränderter conſecutiver oder ausgearbeiteter Empfindungen durch geſtörte Ernährung der höheren Centren; hier ſind die rohen Em— pfindungen intakt und die Ideen modificirt. Der Sitz der Krankheit muß in den Gehirn— hemiſphären liegen. In der Revue Seientifique vom Mai 1876 veröffentlichte Dr. Azam aus Bor- deaux folgenden intereſſanten, wenn auch unvollſtändigen Fall von doppeltem Selbſtbewußtſein. Es handelt ſich um eine Frau, Felida X., die abwechſelnd zwei ganz verſchiedenen Zuſtänden unterliegt; im erſten iſt ſie traurig und ſchweigſam, im zweiten fröhlich und geſprächig; im erſten leidet ſie an einer Reihe hyſteriſcher Symptome, die im zweiten verſchwinden, im erſten erinnert ſie ſich ihrer luſtigen Perioden nicht, und leidet alſo an einer Art Amnäſie, im zweiten dagegen iſt ſie ſich der beiden Zuſtände bewußt, da das Gedächtniß in dieſem Zu— ſtande normal ſcheint. Dr. Azam aber nennt die Krankheit der Felida Amnäſie, betrachtet ihren fröhlichen Zuſtand als den pathologiſchen und führt deſſen Urſache auf Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. eine gefäßliche Zuſammenziehung in den mnetiſchen Centren des Gehirns zurück, alſo auf eine unzureichende Ernährung der— ſelben. — Dies ſcheint mir gänzlich gefehlt; wenn Amnäſie da iſt, ſo exiſtirt ſolche im erſten Zuſtande der Felida, in welchem ſie ſich nicht des zweiten erinnert; — be— trachtet man alſo den erſten Zuſtand als normal, dann iſt die Krankheit der Felida eine Hypermnäſie und kann durch eine Erweiterung der Gefäße in den mne— tiſchen Centren, durch einen Ueberſchuß von nutritiver Bewegung in ihnen entſtan— den ſein, aber niemals durch einen Mangel an Ernährung. Wir haben jedoch gar keinen Grund, dieſen zweiten Zuſtand Felida's als pathologiſch zu betrachten, um ſo weniger als alle anderen hyſteriſchen Sym— ptome — unter denen auch die Amnäſie — dem erſten Zuſtande angehören; nach dem Ver— lauf des Falles zu urtheilen, iſt es wahrſchein— lich, daß der ſchweigſame, hyſteriſche Zuſtand ſich langſam zur Zeit der Pubertät ent— wickelt hat, lange ſo geblieben iſt, nur hin und wieder unterbrochen, (wie Herr Aza m ſelbſt erzählt) von kurzen Perioden des luſtigen und nicht hyſteriſchen Zuſtandes — den ich für den normalen halte; — eine ſolche wiederholte Rückkehr zum Normal- zuſtande wurde von da an immer häufiger und anhaltender; dieſer Verlauf der Sym— ptome zeigt an, daß Felida auf dem Wege vollſtändiger Heilung iſt, die, wie auch Dr. Azam vorausſieht, beſtimmt eintreten wird, ſobald eine wichtige phyſiologiſche Funktion auf— hört, mit der auch die ſogenannten hyſteriſchen Erſcheinungen ihr Ende zu nehmen pflegen. Wie dem auch ſei, was uns hier intereſſirt, iſt die Thatſache, daß der Unterſchied zwiſchen dem Ich der Felida in ihrem erſten Zu— ſtande und dem ihres zweiten offenbar daher rührt, daß die beiden Zuſtände durch Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. zwei verſchiedene Ceneſteſen charakteriſirt werden, deren jeder ein verſchiedenes Bewußt— ſein des Ich's entſpricht. Sie hat alſo wirk— lich zwei Bewußtſein, die abwechſelnd auf einander folgen, je nach dem gegenwärtigen Zuſtande ihrer Gehirnhemiſphären. Es iſt kein perfekter Fall doppelten Be— wuß ſeins, da alsdann in irgend einem der beiden Zuſtände die Patientin ſtets den anderen vollſtändig ignoriren müßte. Trotzdem, oder gerade deswegen iſt es aber ein ſehr maß— gebender Fall, um neuerdings die weſentliche Wichtigkeit des Gedächtniſſes für die Continuität und Identität des Selbſtbewußt— ſeins zu beſtätigen. Felida weiß in ihrem zweiten Zuſtande, daß ſie immer dieſelbe iſt, nur weil ſie ſich erinnert, daß ſie zu— weilen eine andere war, und wenn ſie ſich nicht erinnerte, daß ſie zeitweilig eine andere wäre, fo wüßte fie eben nicht, daß fie die— ſelbe iſt. In der That iſt ſie ſich im erſten Zuſtande gar nicht bewußt, das ſie jene Felida iſt, die fröhliche Perioden erlebt, weil ſie ſich deſſen nicht erinnert. Das Gedächtniß iſt alſo der wahre Eckſtein, ich möchte ſagen die Eſſenz des Selbſtbewußtſeins, — ſogar die ſpiritua— liſtiſchen Pſychologen geben dies Faktum impliciter zu. Herr P. Janet, der der Linken ſeiner Schule angehört, hat gelegentlich des Falles der Felida einen Artikel über den Begriff der Perſönlichkeit veröffentlicht, worin er das Beiſpiel einer verrückten Fiſchverkäuferin anführt, die ſich für Marie Louiſe hielt, ſich aber auch erinnerte, daß ſie Fiſchverkäuferin ſei. Janet ſagt: „In dieſem Falle erkennt man deutlich die Beſtändigkeit des fundamentalen Ich's trotz der Ver— änderung des acceſſoriſchen (nebenſäch— lichen) Ich's, denn es iſt klar, daß daſſelbe Ich glaubt Marie Louiſe zu ſein und ſich 319 erinnert, daß es Fiſchverkäuferin iſt.“ Er ſtellt alſo, vielleicht ohne es zu wollen, das Gedächt— niß als unumgängliche Bedingung der Con— tinuität und der Identität des Ich's hin. Dabei bemerkt er aber nicht, was geſchehen würde, wenn eines Tages Marie Louiſe vergäße, daß ſie Fiſchverkäuferin iſt; er ſagt nicht, ob in dieſem Falle, wo das fundamentale Ich ipso facto abgeſchafft iſt, das nebenſächliche Ich ſeinerſeits zum fundamentalen würde, um das andre zu erſetzen. Eine neue Methode zur Schädelmeſſung. In der anthropologiſchen Abtheilung der letzten britiſchen Naturforſcher-Verſamm— lung las Profeſſor W. J. Flower eine Abhandlung über die Methoden und Reſul— tate der Schädelausmeſſungen. Von allen Meſſungen, die man an den Schädeln der verſchiedenen Raſſen anſtellen könnte, ſeien die der Gehirnhöhle am wichtigſten. Da— zu find verſchiedene Wege eingeſchlagen wor— den. Einige legen beſonderen Werth auf die Wägung des Gehirnes, aber er finde, daß das ſpecifiſche Gewicht der Gehirnmaſſe mit der Altersſtufe, Lebensbedingungen und Krank— heiten allzuſehr wechſelt, um dadurch ſichere Reſultate für Vergleichungen zu erhalten. Der Umfang der Höhlung dagegen bleibt derſelbe, der er in den Tagen der Geſund— heit war. Auch könnten in der Gewichts— vergleichung die Schädel der Sammlungen nicht berückſichtigt werden, und ausgeſtorbene Raſſen ſeien von einer Vergleichung auf dieſem Wege ausgeſchloſſen. Man hat nun die Schädelhöhlen-Ausmeſſung mit Flüſſig⸗ keiten verſucht, aber dazu mußten nicht nur die größeren Oeffnungen ſorgſam mit Wachs ausgefüllt werden, fondern ältere Schädel mußten auch vorher in geſchmolzenes Paraffin getaucht werden, um ihre Poroſität aufzu— heben, und ſie waſſerdicht zu machen. Da— her empfiehlt ſich die Ausmeſſung mit einem trockenen Material, wozu Busk und Broca Anleitung gegeben haben. Der Erſtere füllt die Schädelhöhle mit Senfſamen, ſchüttelt ihn feſt, drückt mit dem Daumen nach, und gießt denſelben dann in eine lange Holz— büchſe aus, deſſen eine Wandung einen gläſernen Maßſtab frei läßt, um daran die Menge des verbrauchten Seufſamens genau abzuleſen. Dieſe Methode iſt ſo vollkommen, daß man eine beſſere kaum erwarten kann. Bei Schädeln, deren Urſprung man nicht kennt, ſtellt ſich aber eine große Schwierig— keit in dem Umſtande ein, daß der Um— fang der Schädelhöhle bei Männern und Frauen ſtärker wechſelt, als oft bei zwei verſchiedenen Raſſen. Dieſer Schaden kann nur ausgeglichen werden, wenn man in Schädelſammlungen unbekannten Geſchlech— tes einen Durchſchnitt aus vielen Meſſungen zieht. Aus einer Vergleichung von 63 Mannsſchädeln verſchiedener Raſſen, mit denen von 24 Frauen, ergab ſich das Verhältniß Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. von 1000: 824. Die inhaltsreichſte Schädel- höhle, die der Vortragende jemals gemeſſen, enthielt 2075 Cubikcentimeter. Er konnte nicht ſagen, ob ſie einem Philoſophen zuge— hört hatte. Aber es iſt bekanntlich nicht die Gewohnheit der Philoſophen, ihre Schädel den anthropologiſchen Muſeen zu vermachen. Das kleinſte von ihm gemeſſene Haupt ent— hielt 960 Cubikcentimeter und gehörte einer jener beinahe ausgeſtorbenen niederen Raſſen im Innern Ceylons. Die größte mittlere Capacität fand er bei einem flachköpfigen Volke der Weſtküſte Afrikas. Die Lapp⸗ länder und Eskimos haben trotz ihrer kleinen Figur ſehr weite Schädelhöhlen, deren mitt— lerer Inhalt 1,546 betrug. Darauf folgte der engliſche Schädel (niederer Claſſe) mit 1,542; die Bewohner der kanariſchen In— ſeln mit 1,498, die Japaneſen mit 1,486 (die Chineſen mit 1,424), der heutige Ita— liener mit 1,475, der alte Aegypter mit 1,464, der wahre Polyneſier mit 1,454, Neger verſchiedener Arten mit 1,377; die Kaffern mit 1,348, die Hindus mit 1,306. Den Beſchluß machen die Auſtraliſchen Eingeborenen mit 1,283 und die Andama— nen mit 1,220. (Nature, August 1878). Spinoza über das Princip der Erhaltung der Kraft in ſeiner Ethik. In einem Aufſatze des Herrn Dr. H. Berthold „Notizen zur Geſchichte des Princips der Erhaltung der Kraft“ *) finden wir die Anſicht aus— geſprochen, daß Spinoza's Ethik keine Andeutungen über das Princip der Erhalt— ung der Kraft enthalte. Wir wollen nun in der Folge verſuchen nachzuweiſen, daß gerade kein Denker mehr als Spinoza dieſes Princip in der umfaſſendſten Weiſe in ſeiner Ethik klar gelegt hat. Zu dem Zwecke dürfte es erforderlich ſein, einige Definitionen ꝛc. des Spinoza ſeiner Ethik“) zu entnehmen und zu erläutern. Spinoza: 1. Unter Urſache ſeiner verſtehe ich das, deſſen Weſen die Exiſtenz ein— ſchließt, oder das, deſſen Natur nur als exiſtirend vorgeſtellt werden kann. 2. Unter Subſtanz verſtehe ich das, was in ſich iſt und durch ſich vorgeſtellt wird. 3. Unter Zuſtand verſtehe ich die Er— regungen der Subſtanz. *) Poggendorff's Annal. Bd. CLVII. St. 2. *) Vergl. v. Kirchmann's Ueberſetzung. Berlin, L. Heimann, 1869. Literatur und Britik. Erläuterungen des Verfaſſers: J. Die Anſchauungsweiſe des Spinoza zielt alſo darauf hin, die Subſtanz als das weſentlich Urſächliche, den Zuſtand als das weſentlich Erregte, Bewirkte aufzufaſſen. Dieſe Auffaſſung der Cauſalität iſt die einzig richtige, diejenige von Julius Ro— bert Mayer, nach welcher die Urſache ſich erhält in der Wirkung, und in der letzteren auch eine Urſache ihrer Art bleibt, und die in neuerer Zeit vielfachen Beifall gefunden hat, iſt durchaus zu verwerfen. Wenn in der Natur aus einfachen Bewegungsphäno— menen ſich complicirtere entwickeln, daher der eine Zuſtand dem anderen folgt, ſo iſt doch daran zu erinnern, daß ein weſentlich Erregtes nicht als ein weſentlich Urſächliches vorgeſtellt werden kann. Wenn die Wirk— ung einer Urſache ſich mit Wirkungen anderer Urſachen vereinigt, und ein neuer Zuſtand aus der Vereinigung reſultirt, ſo iſt das weſentlich Urſächliche dieſes neuen Zuſtandes nicht in den vorigen Zuſtänden, ſondern in den Urſachen derſelben zu ſuchen, dieſe ſind conſtant und unveränderlich, ſind das Subſtantielle, an welchem die Erreg— ungen vor ſich gehen. In dem Kraftbegriff iſt nun überall das weſentlich Urſächliche fixirt, die Erhaltung der Kraft iſt daher nicht ſo zu verſtehen, daß die Kraft ſich erhalte in der Wirkung, ſo daß dem ent— 322 Literatur und Kritik. ſprechend die Wirkung wiederum eine Kraft ſei; ſondern das weſentlich Urſächliche kann als Subſtantielles, im engeren Bereiche der Naturwiſſenſchaft als Materie und Kraft vorgeſtellt, lediglich nur als abſolut Con— ſtantes, Unveränderliches erkannt werden. In der Spi noza'ſchen Definition der Urſache, reſp. der Subſtanz iſt daher in logiſchſter Klarheit das Princip der Erhaltung der Kraft ausgeſprochen, denn der Begriff der abſoluten Exiſtenz ſchließt den der Conſtanz und folglich auch denje— nigen der Erhaltung ein. Das Geſetz der Erhaltung der Kraft und das der Erhaltung der Materie, welche in neuerer Zeit in der Naturwiſſen— ſchaft hervortreten, enthalten logiſche Unklar— heiten, denn ſie ſollen lediglich ausdrücken die Erhaltung des weſentlich Urſächlichen; dieſe aber beſonders hervorzuheben, iſt un— nöthig, wie ſolches hervorgeht aus der reinen Definition des Begriffes. Kraft und Materie ſind nur bequemere Vorſtellungs— arten der an ſich unveränderlichen Subſtanz.“) Spinoza: 4. Die Subſtanz iſt — der Natur nach — vor ihren Zuſtänden. 5. Eine Subſtanz kann nicht von einer anderen hervorgebracht werden. 6. Jede Subſtanz iſt nothwendig un— endlich. 7. In der Natur giebt es nur eine Subſtanz und dieſe iſt unbedingt unendlich. Erläuterungen des Verfaſſers: II. Aus dieſen Sätzen des Spinoza, die in ſeiner Ethik eine weitere Begründ— ung erfahren, geht noch mehr das Princip der Erhaltung der Kraft, in dem unter J. ) Vergl. hierüber „Die mechaniſch-mo— niſtiſche Weltanſchauung“ von H. W. Fabian. Leipzig, 1877. K. Scholtze. klargelegten Sinne, unleugbar hervor, ins— beſondere aus Satz 6. Es ergiebt ſich ferner, daß Spinoza ausging von der abſoluten Cauſalität und Einheit aller Welt— proceſſe, analog dem Axiom von der ewigen Wahrheit, die den abſoluten Widerſinn zum Ausſchluß bringt. Schon aus dieſer Grund— anſchauung muß ſich mit Nothwendigkeit das Princip der Erhaltung der Kraft er— geben, denn die Nichterhaltung wäre als eine Verneinung der Exiſtenz und folglich als ein realer Widerſinn aufzufaſſen. Die Conſtatirung eines ſolchen wäre die Pro— klamirung des Irrſinns aller Naturvorgänge und Gehirnoperationen; denſelben zum Aus— gangspunkt alles Forſchens machen hieße das „Geſetz“ zur „Phraſe“, „Willkür“ zum „Geſetz“ ſtempeln. Spinoza: 8. Zur Natur der Subſtanz gehört das Exiſtiren. Da das Endlich-Sein in Wahrheit eine theilweiſe Vernein— ung iſt, und das Unendliche die un— beſchränkte Bejahung der Exiſtenz irgend einer Natur iſt, ſo folgt, daß jede Subſtanz unendlich ſein muß. Erläuterungen des Verfaſſers: III. Hieraus geht am klarſten das Prin- cip der Erhaltung hervor, das Unendlich— Sein ſchließt die Nichterhaltung aus. Wir haben es uns für heute nicht zur Aufgabe ge— ſtellt, weiter über das Princip der Unend— lichkeit zu ſchreiben, wir bemerken nur, daß Zöllner!) ſich hinſichtlich ſeiner Hypotheſe von der Endlichkeit des Raumes bei Spi— noza Aufklärung holen könnte; auch die neuere Atomiſtik, nach welcher letzte Real— Exiſtenzen in der Natur angenommen wer— den, findet zum großen Theil bei Spinoza ihre Widerlegung; dieſes klar zu legen, be— *) Vergl. Zöllner, „Natur der Ko⸗ meten“. Literatur und Kritik. halten wir uns für eine weitere Arbeit vor. Für heute begnügen wir uns damit, nach— zuweiſen, daß bereits die erſten Definitionen der Spinoza'ſchen Ethik das Princip der Erhaltung in umfaſſendſter Weiſe ein- ſchließen, denn mit der Conſtanz des we— ſentlich Urſächlichen iſt a priori auch die Erhaltung der Kraftwirkungen ausgedrückt. Wir haben bereits in einem früheren Aufjage*) uns über das Weltgeſetz 2 — BAT 3m — 2 ausgelaſſen, welches ausdrückt: „Die Summe von wirklicher Arbeit und möglicher Arbeit im Univerſum iſt eine conſtante.“ Daſſelbe angewendet auf in ſich als abgeſchloſſen betrach- tete Welt ſyſteme drückt das Geſetz der Er— haltung in umfaſſendſter Weiſe aus, es enthält die Conſtanz der Kraft und die Conſtanz der Kraftwirkungen, denn der Arbeitsbegriff umfaßt: Kraft und Bewegen reſp. Subſtanz und Zuſtand. In dem mathematiſchen Ausdrucke der auf mes zurückgeführt werden V2 Ser - kann, repräſentirt mf die Kraft und s die Kraftwirkung. Die Kraft kann weiter nicht als Abſolutum, ſondern lediglich als Eigen- ſchaft der Subſtanz, d. i. als das weſent⸗ lich Urſächliche vorgeſtellt werden. Für die Kraftwirkung iſt es gleichgültig, ob ſie in ihrer elementarſten Geſtaltung als einfache Ortsveränderung oder als Wärmen, Leuch— ten, Schallen, elektriſch⸗-magnetiſches Erregt— ſein oder organiſche Lebensthät igkeit wahr⸗ genommen wird. Daß in dem engeren Bereiche der Naturwiſſenſchaft Materie und Kraft ſehr oft als Abſolutum vorgeſtellt werden, hat ſeinen Grund in der Beſchränk— ung ſenſualer Erkenntniß, logiſch ſind dieſe Vorſtellungen unhaltbar, ſie drücken nur aus ) Poggendorff's Annal. Bd. CL VI. Stck. 10. 323 eine vorläufige Fixirung des weſentlich Ur— ſächlichen reſp. Subſtanziellen. Der Satz von der Erhaltung der Arbeit entſpricht einzig und allein der Wirklichkeit, da die Arbeit begrifflich enthält Subſtanz und Zu⸗ ſtand, jede Wirklichkeit aber ſchlechthin be— ſteht aus Subſtanz und Zuſtand. Faktiſch iſt es unmöglich, die Subſtanz, reſp. das Kant 'ſche Ding an ſich, ſowie den Zuſtand reſp. die Kant'ſche Erſchein⸗ ung für ſich iſolirt als ſelbſtſtändige Exi⸗ ſtenzen hinzuſtellen, nur vereint enthält ſie die Wirklichkeit. Sowie aber innerhalb des die Wirklichkeit beherrſchenden einheitlichen Geſetzes der Cauſalität die Trennung zweier Faktoren, „Urſache“ und „Wirkung“, erforderlich iſt, ſo muß auch jede Wirklich— keit getrennt werden in die Faktoren „Sub- ſtanz“ und „Zuſtand“, die Subſtanz iſt | das weſentlich Urſächliche, der Zuſtand hin— gegen das weſentlich Bewirkte. In Wirk⸗ lichkeit iſt daher erſt innerhalb einer Einheit die Trennung zweier Faktoren erforderlich— Monismus und Dualismus finden in die⸗ ſer Auffaſſung einen endgültigen Abſchluß.“) 2 Was nun das Geſetz Em 0 be⸗ trifft, ſo muß bemerkt werden, daß es noch einen logiſchen Fehler enthält, nämlich die Vorgänge, das Univerſum als unendlich vorgeſtellt, können keiner Summation unter⸗ worfen werden. Der Begriff des Unend— lichen ſchließt logiſch den der Summe aus, mit Rückſicht auf die Beſchränktheit unſerer Sinnesorgane muß aber dieſe bequemere Vorſtellungsart vorerſt, d. h. in der enge— ren Naturwiſſenſchaft, geſtattet werden. Aehn⸗ lich, wie es ſich mit dem Begriffe der Summe verhält, ſo verhält es ſich logiſch auch mit dem Begriffe der Theilbarkeit. 9 Vergl. H. W. Fabian, „Die mecha⸗ niſch-moniſtiſche Weltanſchauung.“ Leipz. 1877. Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. 42 324 Die Begriffe des „Univerſums“ und „Atoms“ enthalten logiſche Fehler, über die hier, wie bereits vorerſt bemerkt worden iſt, nicht weiter discutirt werden ſoll. Zum Schluß ſei nur noch bemerkt, daß Spinoza ſich dieſer Fehler vollſtändig bewußt war und daß er demgemäß in ſeiner Ethik ſich nicht in landläufiger Weiſe über das Princip der Erhaltung ausgeſprochen hat. Die Spinoza'ſche Auffaſſung der Conſtanz, indem er die Subſtanz als an ſich unendlich und untheilbar ꝛc. betrachtet, ſteht philoſophiſch reſp. logiſch unendlich viel höher, als die naturwiſſenſchaftliche Auf— faſſung des Erhaltungsprincipes. Spinoza hat dieſelbe nicht näher ventilirt, da es ihm lediglich um eine theoretiſch fehlerloſe De— finition und Betrachtungsweiſe zu thun war. Frankfurt a. M. H. W. Fabian. Die „naturwiſſenſchaſtlichen Streit- fragen“ Moritz Wagner's. So lange die ſchon eine ganze Reihe von Aufſätzen umfaſſenden „naturwiſſen— ſchaftlichen Streitfragen“ ſich ihrer vorherrſchenden Aufgabe, die Migrations- theorie auf Koſten der Darwin'ſchen Theo— rie zu verherrlichen, durch Beibringung von Thatſachen und Zeugniſſen entledigte, konnte man es ſich gefallen laſſen, daß von letzteren nur die günſtigen vorgeführt, die vernichten— den aber mit Stillſchweigen über— gangen wurden. In dem letzten, ſoeben erſchienenen, Aufſatze aber ) iſt dieſes, einem Autor für die Vertheidigung ſeines Lieblings— kindes allenfalls zu gönnende Maß ſubjektiver Wahlfreude überſchritten und zwingt mich zu einer Zurechtſtellung. Beil. der Allg. Ztg. Nr. 325 u. 326. Literatur und Kritik. Auf S. 4816 heißt es dort: Häckel wolle die Migrationstheorie ganz einfach in die Darwin'ſche Selectionstheorie einſchachteln und die Wirkung der Iſolirung nur für einen beſonderen Fall der Selection halten. Eine nähere Erläuterung dieſer vagen Be— merkung habe er unterlaſſen. Mit kurzen abſprechenden Sentenzen ohne jede eingehende Motivirung ſei aber nur wenig geſagt. Häckel hätte beſſer gethan, die in Wagner's Schriften erwähnten Thatſachen und Theſen, ſowie alle noch unwiderlegten Einwände gegen die Darwin'ſche Selectionstheorie einer ſtren— gen kritiſchen Prüfung zu unterziehen und den ernſten Verſuch zu machen, dieſelben zu widerlegen, wenn er es vermöge. Dies ſei aber bis heute nicht geſchehen. Ob obige Auffaſſung Häckel's auch von anderen Dar- winianern getheilt werde, ſei ihm (Wagner) nicht bekannt. Darwin ſelbſt ſei weſentlich anderer Meinung. Auch Nägeli, Weis- mann, Seidlitz hätten richtig erkannt, daß, wenn neue Arten wirklich nur getrennt von den Stammarten entſtehen, dann von einer Zuchtwahl im Sinne Dar- win's überhaupt nicht mehr die Rede ſein könne. Ein ſolcher Proceß der Artbildung könne unmöglich den Namen Selectionstheorie führen, denn eine Selection habe dabei gar nichts zu thun. Wenn ich es mir bisher gefallen laſſen durfte, meine ausführliche Widerlegung der Migrationstheorie von dem geehrten Ver— faſſer der „naturwiſſenſchaftlichen Streitfragen“ conſequent mit vollſtän— digem Stillſchweigen übergangen zu ſehen, ſo geht es doch über die Gemüthlichkeit, jetzt gar als Zeuge für Wagner's Anſicht gegen die Darwin'ſche Theorie vorge— führt zu werden. In derſelben Lage befindet ſich Profeſſor Weismann und, wenn ich nicht irre, auch Profeſſor Nägeli. Weis- Literatur und Kritik. mann hat jedenfalls ſehr ausführlich gegen Wagner's Migrationstheorie geſchrieben. Häckel konnte ſich alſo ſehr wohl einer ein— gehenderen Motivirung enthalten, da dieſelbe ſchon von Weismann und von mir ge— bracht war. Ebenſo brauchte er nicht die „noch unwiderlegten Einwände“ gegen die Darwin'ſche Selectionstheorie zu ſammeln und zu widerlegen, da dieſes ebenfalls viel— fach beſorgt war. Sollte das Wagner wirklich unbekannt geblieben ſein? Das wenigſtens mußte ihm aber bekannt ſein, daß Weismann und ich ſtets entſchieden für die Richtigkeit der Darwin'ſchen Se— lectionstheorie, bis in's feinſte Detail, ein— getreten ſind und die Anſprüche der Migra— tionstheorie zurückgewieſen haben. Warum wird jetzt als einzige Oppoſition Häckel's kurz abſprechende Sentenz erwähnt, während Weismann und ich gar zu Anhängern gemacht ſind? Als Prof. M. Wagner zuerſt in der Münchner Akademie der Wiſſenſchaften *) die hierher gehörenden Verhältniſſe eingehend erörterte, that er ſehr wohl daran, ſie durch einen beſondern Namen als „Migrations- geſetz“ nachdrücklicher zu betonen, als es früher von Darwin geſchehen war. Die Thatſache ſelbſt war aber nicht neu, ſondern von Darwin bereits in der erſten Ausgabe des „Origin of species“ als integrirender Be— ſtandtheil der Selectionstheorie erwähnt. Wagner ſelbſt erklärte noch in ſeiner bald darauf erſcheinenden Broſchüre „Die Darwin'ſche Theorie und das Migrationsgeſetz,“ Leipzig 1868, ſein Migrationsgeſetz für eine bloße Er— ) „Ueber die Darwin'ſche Theorie in Bezug auf die geographiſche Verbreitung der Organismen.“ Sitzungsber. d. bayr. Akad. d. Wiſſ. I. Heft, III., S. 359. 325 gänzung der Selectionstheorie, für eine „nothwendige Bedingung“ und „Beſtätigung“ der natürlichen Zuchtwahl, und gab zu, daß Darwin die Migration nur für vortheilhaft zur Art— bildung halte, fie alſo ſchon berückſichtige. Weitere Differenzen gab es damals noch nicht zwiſchen ſeiner und Darwins An— ſicht. In demſelben Jahre erkannte Weis- mann!) die Wichtigkeit der Iſolirung und der Wanderung an, zeigte aber, daß hierbei Darwin's Auffaſſung die richtige, und Migration keine nothwendige Be— dingung zur Art- Umbildung ſei. Bald darauf erlaubte ich mir, Wagner's Ber- dienſte vollkommen anerkennend, folgendes Urtheil über den ſtreitigen Punkt: „Dieſe nothwendige Bedingung (nämlich die Sonderung) für die Spaltung und ſomit für die Vermehrung der Arten hat Moritz Wagner in feiner Schrift vortreff— lich auseinander geſetzt. Doch müſſen wir daran feſthalten, „daß die locale Son— derung eben nur für die dichoto⸗ miſche Theilung der Arten eine conditio sine qua non iſt, daß aber die Umwandlung einer Art ohne gleichzeitige Spaltung ſehr wohl ohne jede Abſon— derung erfolgen kann, ſobald eine Verän— derung der Verhältniſſe für ſämmtliche In— dividuen der Art eintritt. Darwin hat daher ganz Recht, die räumliche Son— derung (noch mehr aber die Migration) für die Umwandlung einer Art als nicht nothwendig zu betrachten, und M. Wagner hat ganz Recht, wenn er für die Entſtehung der Arten, d. h. alſo für ihre Vermehrung durch dichoto— miſche Spaltung, die Nothwendigkeit ) Dr. A. Weisman, Ueber die Berech— tigung der Darwin'ſchen Theorie.“ Leipzig, 1868, S. 32—39. 326 localer Abſonderung betont. Letztere findet aber oft unter Umſtänden ſtatt, die durch— aus nicht an eine Migration erinnern. Paſſender wäre daher vielleicht dieſe Be— dingung mit dem Namen „Sektionsge— ſetz“ zu bezeichnen, der nur auf die Ber- hinderung eines fortgeſetzten Vermiſchens hindeutete, die auch auf ſehr beſchränktem Raume ſtattfinden kann; denn die Migration iſt nur eine der Arten, auf welche eine Iſolirung zu Stande kommt.““) Ausführ- licher behandelte ich den letzteren Punkt, die verſchiedenen Arten der Iſolirung betreffend, ſpäter,“*) am ausführlichſten aber erörterte ihn Weismann,“ *) und führte auch für den Kern der ganzen Streitfrage, näm— lich für die Verhinderung einer Miſchung, die treffliche Bezeichnung „Amixie“ ein. Bis hierher befand ſich Wagner immer noch in keiner Oppoſition zur Dar— win'ſchen Selektionstheorie, und ſein Ver— dienſt, ausführlich gezeigt zu haben, unter welchen Umſtänden die eintretende progreſſive Naturzüchtung zur Artſpaltung führe, wurde von allen Darwinianern bereitwilligſt an— erkannt. In jene Zeit fällt auch Baer's zuſtimmender Brief, den Wagner jetzt mittheilt ), und kann daher nicht als Zu— ſtimmung zu Wagner's ſpäterer Oppoſition citirt werden. Ob Wagner durch Weismann's und meine Einwände gegen die Wichtigkeit der Migration und durch unſere Betonung ) Die Bildungsgeſetze der Vogeleier a. d. Transmutationsgeſetz der Organismen. Leip— zig 1869. S. 55. *) Die Darw. Theorie. Dorpat 1871. S. 148150. ) A. Weismann, Ueber den Einfluß der Iſolirung auf die Artbildung. Leipzig. 1872. +) Allg. Ztg. Nr. 325. S. 4797. Die Jah⸗ reszahl 1860 beruht auf einem Druckfehler und muß 1869 oder 1868 heißen. Literatur und Kritik. der Iſolirung oder durch eigenes Er— meſſen dazu veranlaßt wurde, den Namen „Migrationsgeſetz“ in der Folge in „Se— parationstheorie“ umzuändern, iſt nicht bekannt geworden. Jedenfalls that er es in Anbetracht deſſen, daß nicht die Wan— derung, ſondern die locale Son- derung das Weſentliche ſeiner Theorie ausmache.“) legenheit jedoch wurde dieſelbe nicht mehr als „Ergänzung“ und „Beſtätigung“ der Selektionstheorie, ſondern als eine neuer mit der Darwin'ſchen im Wider- ſpruch ſtehende Theorie vorgeführt. Die Abſonderung der Coloniſten ſollte jetzt nicht mehr nothwendige Bedingung für jede durch Naturzüchtung hervorgerufene Art— Umbildung ſein, ſondern ſchon für ſich allein, ganz ohne Hinzutritt der Natur- züchtung, artumbildend wirken und be rufen ſein, den complicirten Mechanismus der letzteren vollſtändig zu erſetzen. An der früher von ihm als richtig anerkannten und durch ein „neues Geſetz“ vervollſtändigten und „beſtätigten“ Selektionstheorie wur- den von jetzt an jo vielfache Mängel ent- deckt, daß das Ausbeſſern derſelben gar nicht mehr lohnte: ſie ward einfach über Bord geworfen und gegen die Darwinianer, die hiergegen Proteſt erhoben und der Sepa— ration nach wie vor nicht mehr als die ihr gebührende Rolle neben der Naturzüchtung zuſchreiben wollten, der Verdacht geſchleudert, ſeine Wagners) „Entdeckung“ igno⸗ riren zu wollen und die „Autorität (Dar- win's) über die Wahrheit zu ſtellen.“ Wäh— rend in dem Sitzungsberichte der Münchner Academie von 1870 nur gegen die „Natur- züchtung“ und gegen den „Kampf ums Daſein“ polemiſirt wurde, ſteigerte ſich ) Sitzungsber. d. bayr. Akad. der Wiſſ. zu München. 1870 II, 2. S. 154 — 174. Bei dieſer Ge⸗ Br Literatur und Kritik. die Oppoſition gegen die ganze Darwin’- ſche Theorie in den ſpäteren Schriften, nament— lich in dem Artikel „Der Irrthum des Darwinismus“) dermaßen, daß in blindem Eifer ſogar Einwände gemacht wur— den, die ſchon die ganze Descendenztheorie (alſo auch die Wagner'ſche Separations— theorie) trafen. Es iſt dieſe Behauptung keine „vage Bemerkung“ oder „kurz ab— ſprechende Sentenz“, ſondern ſehr eingehend von mir im „Ausland“ bereits 1874 mo⸗ tivirt k“), wo ich mir die Mühe gab, Wag— ner's ſämmtliche Einwände gegen den Darwinismus (im Ganzen acht, von denen einer in 8 Unterabtheilungen zerfällt) genau zu zergliedern und zu widerlegen. Meine Arbeit iſt 22 Spalten lang, kann alſo von Wagner nicht wohl überſehen worden ſein, — dennoch hat er ihrer bisher nie mit einer Silbe er— wähnt; er behauptet jetzt, „nicht zu wiſſen, ob andere Darwinianer Haeckel's Urtheil über die Migrationstheorie theilen, und ſpricht von „unwiderlegten Ein— wänden, die gegen die Darwin'ſche Zucht— wahllehre vorliegen!“ Uebrigens bringt der ganze Artikel nicht eine Thatſache und nicht ein Zeugniß vor, das wirklich das bewieſe, was es ſoll, näm— lich die Richtigkeit der Wagner'ſchen Se— parationstheorie und die Falſchheit der Dar— win'ſchen Selektionstheorie. Jede einzelne der angeführten Thatſachen iſt ein Beweis für die Artbildung durch Naturzüchtung unter der günſtigen Bedingung der Sepa— ration oder in Folge von Einwander— 317-320. Beilage. *+ „Darwin's Selektions- u. Wagner's Migrations⸗Theorie“. Ausland 1874. Nr. 14 327 thut ſo, als ob alle dieſe Verhältniſſe in ſtriktem Gegenſatz zur Darwin'ſchen The— orie ſtehen, iſt aber dabei im Irrthum; denn Darwin verwerthet dieſelben bereits in der erſten Ausgabe feiner Origin of species. In der erſten deutſchen Ueberſetzung von Bronn heißt es Seite 109, nachdem die freie Kreuzung als Hinderniß der neuen Artbildung gewürdigt: „Abſchließung iſt eine wichtige Bedingung im Proceſſe der natürlichen Zuchtwahl.“ Seite 110: „Iſo— lirung wirkt aber vielleicht noch kräftiger, inſofern ſie die Einwanderung (und ſomit die Kreuzung mit der Stammart) hindert.“ Seite 111: „Obwohl ich nicht zweifle, daß Iſo— lirung bei Erzeugung neuer Arten ein ſehr wichtiger Umſtand iſt, ſo möchte ich doch im Ganzen genommen glauben, daß große Aus- dehnung des Gebietes noch wichtiger iſt.“ Als Grund für dieſe Vermuthung wird die leichtere Migration in neue Gebiete angeführt. In der durch zwei Kapitel rei chenden Erörterung über die geographiſche Verbreitung der Organismen, (Seite 353 415), — deren hohe Bedeutung für die Erkenntniß der Entſtehung der Arten Darwin ſomit auch trotz Wagner ſchon lange erkannt und verwerthet hatte, — iſt vielfach ſowohl von Iſolirung als von Migration die Rede; z. B. Seite 357: Der Grad von Unähnlichkeit (zwiſchen geo— graphiſch getrennten Arten) hängt davon ab, ob die Wanderung der herrſchenden Lebe— form aus der einen Gegend in die andere raſcher oder langſamer, in ſpäterer oder in früherer Zeit vor ſich gegangen.“ Dem vor und nach der Eiszeit erfolgten Wandern der Organismen mit den dadurch bedingten Art⸗Umbildungen iſt eine ausführliche Erör— terung von 16 Seiten (Seite 371 —387) gewidmet, und im Speciellen das Abändern der Arten durch Colonie-Bildung in 328 Folge von Migration S. 401—410 eingehend behandelt. Hier leſen wir z. B. S. 407: „Das Princip, welches den allge— meinen Charakter der Fauna und Flora der oceaniſchen Inſeln beſtimmt, daß nämlich deren Bewohner offenbar mit den Bewoh— nern derjenigen Gegenden am nächſten ver— wandt ſind, von welchen aus die Colo— niſirung am leichteſten ſtattfinden konnte, und daß die Coloniſten nachher abgeändert und für ihre neue Heimath geſchickter ge— macht worden ſind, dieſes Princip iſt von der weiteſten Anwendbarkeit in der ganzen Natur. Wir ſehen dieſes an jedem Berge, in jedem See, in jedem Marſchlande. Denn die alpinen Arten ſind mit denen der um— gebenden Tiefländer verwandt u. ſ. w.“ „Es liegt nahe, daß ein Gebirge während ſeiner allmäligen Emporhebung aus den benach— barten Tiefländern auf natürliche Weiſe coloniſirt worden ſei.“ Gegenüber dieſen Citaten aus Darwin's epochemachendem Werke, die leicht noch be— deutend vermehrt werden könnten, muß man ſich erſtaunt fragen: Wie kann Wagner dieſelbe Migration und Coloniſirung, die er Anfangs als „nothwendige Beding— ung“ und als „Stütze“ der Selektions— theorie betrachtete, jetzt als Beweis gegen letztere verwerthen? Wie kann er jetzt be— haupten, ſeine Theorie nehme eine ganz an— dere zwingende Urſache der Artbildung an, beruhe alſo auf einem anderen Princip als die Darwin 'ſche, die er zuerſt nur „er— gänzen“ wollte? Die einzige Antwort auf die naheliegenden Fragen iſt die, daß ſich bei Wagner eine Verwechſelung von ſecun— därer Bedingung und primärer Urſache voll— zogen hat, ſo daß er jetzt die ſecundäre Bedingung (Migration) für eine aus— reichende Urſache der Art-Umbildung hält und | die wahre, von Darwin dargethane com Literatur und Kritik. plicirte Wirkung der Naturzüchtung ganz entbehren zu können glaubt. Wenn wir ein triviales Gleichniß gebrauchen dürfen, ſo iſt das etwa ebenſo, als wenn Jemand, um den Fall eines nicht unterſtützten Kör— pers zur Erde zu erklären, Anfangs ganz richtig die Anziehung der Erde als wir— kende Urſache und die mangelnde Unter— ſtützung als nothwendige Bedingung des Fallens auffaßt, ſpäter aber die Schwerkraft entbehren zu können meint und die mangelnde Unterſtützung allein für die zwingende Ur- ſache des Falles erklärt, weil durch viele Thatſachen, Experimente und Zeugniſſe be— wieſen werden könne, daß nicht unterſtützte Körper zur Erde fallen, und weil keine, dieſe Theorie widerlegende Thatſache beige— bracht werden könne. M. Wagner be findet ſich aber in viel mißlicherer Lage; denn es können viele Thatſachen beigebracht werden, die er durch bloße Migration nicht erklären kann. Da iſt das ganze Heer ſchützender Aehnlichkeiten, ja eigentlich jede Aus— rüſtung, ) jede Vervollkommnung der Organi— ſation, die dieſer einſeitigen Erklärung ſpottet. Welche ungemeine Tragweite das Prin— cip der Selektion, wenn richtig erkannt und angewandt, hat, — wie es zur Löſung der ſchwierigſten Fragen benutzt werden kann und über die Entſtehung von Inſtinkten, Vernunft, Charakter, Wille, Vorſtellung ꝛc. Aufſchluß giebt, — davon haben zahlreiche Schriften“) des letztverfloſſenen Jahrzehntes ) In welchem Sinne und warum ich die Bezeichnung „Ausrüſtung“ im Gegenſatz zu „Anpaſſung“ gebrauche, iſt auseinander ge— ſetzt in meinen „Beiträgen zur Descendenz- theorie“ Leipzig 1876. ) Des Näheren kann auf das Capitel „Erfolge des Darwinismus“ in der II. Aufl. meiner „Darw. Theorie“ Leipzig 1874, ſowie auf meine Literaturberichte im „Kosmos“ verwieſen werden. Literatur und Kritik. hervorragende Beweiſe gegeben, die die Leiſt— ungsfähigkeit der Selektionstheorie in natur- hiſtoriſcher und philoſophiſcher Hinſicht un— umſtößlich dargethan haben. Ein ähnlicher Beweis für die Leiſtungsfähigkeit einer das Princip der Selektion ausſchließenden Migrationstheorie, — mag dieſelbe auch von Leopold von Buch herſtammen, — iſt bisher nicht geliefert worden und kann auch nicht geliefert werden. Eine eingehendere Prüfung der Darwin'ſchen Theorie, in deren feinere Details M. Wagner noch nicht ganz eingedrungen iſt (wovon z. B. der mißverſtändliche Gebrauch des vieldeutigen Schlagwortes „Kampf ums Daſein“ zeugt), dürfte dieſen ſcharfſinnigen Forſcher zur Anerkennung der Naturzücht⸗ ung zurückführen, ohne daß er ſich vor dem Vorwurf zu fürchten brauchte, „die Auto- rität über die Wahrheit zu ſtellen“. Königsberg. Dr. Georg Seidlitz. Ein Atomiſtik und Kriticismus. Beitrag zur erkenntnißtheoretiſchen Grund— legung der Phyſik. Von Dr. phil. Kurd Laßwitz. Braunſchweig, Druck und Verlag von E. Vieweg & Sohn. 1878. VIII und 111 S. Eine Schrift wie die vorſtehende hat uns bislang gefehlt, und insbeſondere eine Zeitſchrift von ausgeſprochen ratio— naliſtiſcher Tendenz hat von einer ſolchen in erſter Linie Notiz zu nehmen. Nicht leicht ſind irgendwo anders die Ver— treter des metaphyſiſchen Dogmatismus und des kritiſchen Gedankens ſo hart an einander gerathen, als auf dem Gebiete der Atomiſtik, und wohl verlohnte es ſich einmal, dieſe Streitfragen einer geordneten Prüfung zu unterwerfen und die wohl vielſeitig gefühlte und angedeutete Stellung der großen, wenn auch gerade hier von ihm ſelbſt verleugneten Idee Kant's zum Atomismus ſelbſtſtändig zu unterſuchen. Wir wollen gleich im Eingang unſeres Referates nicht unterlaſſen zu be— tonen, daß Herrn Laß witz, deſſen ganzes wiſſenſchaftliches Vorleben ihm ohnehin ſchon einen guten Empfehlungsbrief ausſtellt, ſein Unternehmen ſehr gut gelungen iſt, daß ſein mit anerkennenswertheſtem Scharfſinn und vollſter Sachkunde geſchriebenes Buch die in Rede ſtehende Hauptfrage weſentlich fördern und der endgültigen Löſung näher bringen mag. Gegenüber anderen in das philo— ſophiſche Fach einſchlägigen Schriften dieſer Art ſehen wir uns auch noch einen weiteren Vorzug der unſrigen hervorzuheben ge— drungen, den nämlich, daß der Verf. ſich nicht allein damit zufrieden gab, dem Leſer ſeine eigenen Anſichten vorzuführen, ſondern auch ſtets auf verwandte literariſche Er- ſcheinungen Bezug nahm und, ſoweit ſich dies ohne eigentlich polemiſche Erörterungen thun ließ, eine Skizze von den pro und contra angeführten Argumenten zu entwerfen ſich beſtrebte. Gerade deshalb jedoch, weil das literargeſchichtliche Element programm— gemäß nicht ausgeſchloſſen werden ſollte, gerade aus dieſem Grunde bedauern wir, daß zwei neuere Arbeiten, die gerade in einer ſolchen Schrift Berückſichtigung ver— dient hätten, dieſelbe nicht gefunden haben. Wir meinen erſtlich den ausführlichen Artikel von Harms im erſten Bande der „Ency— klopädie der Phyſik“, welcher eine derjenigen von Laßwitz diametral entgegenſtehende Weltanſchauung begründen will, und zweitens Caspari's „Grundprobleme der Erfennt- nißthätigkeit“, ein Buch, welches nach An- lage und Zweck mit der erſten größeren Hälfte unſerer Monographie vollſtändig übereinſtimmt, theilweiſe jo, daß kleine Par- 330 tien aus dem einen Buche in das andere wörtlich übergehen könnten, welches gleich— wohl aber nur einmal vorübergehend citirt wurde. Der im ſtrengen Wortſinne kriti— ciſtiſchen naturwiſſenſchaftlichen Leiſtungen giebt es nicht ſo ſehr viele, daß ſie nicht ſämmtlich beigezogen werden könnten. Die Einleitung beginnt mit einer Be- ſprechung der Kämpfe, welche Naturwiſſen— ſchaft und Philoſophie von den älteſten Zeiten an mit einander geführt haben, und ſtellt hierauf die Bedingungen zu einem all⸗ ſeitig befriedigenden Waffenſtillſtand feſt, wie ein ſolcher aus der Mitte beider geg— neriſchen Diſciplinen heraus ſeit geraumer Zeit ſchon anzubahnen verſucht wird. Einen neuen Beitrag zur Friedensſtiftung ſoll eine „kritiſche Behandlung der atomiſtiſchen Grund— lagen der Phyſik“ liefern; dieſelbe ſoll die angeblichen Widerſprüche, von welchen nach philoſophiſcher Behauptung der Atombegriff des Phyſikers und Chemikers umgeben ſein ſoll, klären und auflöſen. Es fragt ſich nur, wie man zu dieſem Ziele gelangen ſoll. Man kann den hiſtoriſch-kritiſchen Weg betreten und aus den zahlloſen Deft- nitionen des Atoms, welche die letzten zwei Jahrhunderte uns gebracht haben, die ſtichhaltigen und verwendbaren Momente ausſondern, um ſich ihrer zu einer wirklich genügenden Neu-Formulirung zu bedienen. Solch' Beginnen iſt ſchwer und mühſam, blendende Geiſteserfolge ſind auf dieſem Wege nicht zu erwarten, allein er iſt betret— bar, und wir ſehen mit Spannung der uns verheißenen größeren Arbeit geſchicht— lichen Charakters entgegen, in welcher der— ſelbe eingeſchlagen werden ſoll. Diesmal gedenkt der Verf. ſynthetiſch vorzugehen und den Atombegriff den Bedingungen unſerer menſchlichen Erkennißfähigkeit gemäß neu zu en Er behandelt in Conſequenz dieſes | Literatur und Kritik. ſeines Planes zuerſt „die Aufgabe der Naturwiſſenſchaft“. Als einzige und urſprüng— liche Thatſache, an die allein weitere Unter— ſuchung anknüpfen kann und muß, wird die zugelaſſen, daß wir Empfindungen be— ſitzen; der Wechſel dieſer Empfindungen liefert uns den Zeitbegriff. Ein weiteres Begreifen der Dinge um uns her vollzieht ſich durch die Kategorie der Cauſalität, allein im Begreifen ſelbſt giebt es verſchie— dene Stufen von deren keiner an und für ſich behauptet werden darf, ſie ſei die letzte überhaupt erreichbare. Für den momentan von der Wiſſenſchaft erreichten und aller Wahrſcheinlichkeit nach noch auf lange hinaus maßgebenden Standpunkt erſcheint „als Auf- gabe der Naturwiſſenſchaft die Zurückführ— ung der durch die verſchiedenen Sphären unſerer Sinnlichkeit gegebenen Empfindungen auf einfache und bekannte, d. h. anſchau⸗ liche Vorſtellungen, und ihre Verknüpfung durch allgemeine Geſetze zu einem cauſalen Zuſammenhange“. Als auf ein treffliches concretes Muſterbeiſpiel für dieſen hier nur in allgemeinen Zügen angedeuteten Vorgang hätte der Verf. ſich auf die eingehende Analyſe berufen können, welcher C. Neu— mann in ſeinem bekannten Univerſitäts⸗ programm von 1870 das Wurfgeſetz Galilei's unterzogen hat. Inſofern dieſe Definition bewußt darauf verzichtet, Dem, was hinter jenen „anſchaulichen Vorſtellungen“ als qualitas oceulta etwa noch ſtecken mag, näher auf den Grund zu gehen, in ſofern iſt dem Metaphyſiker ſcheinbar Gelegenheit zu der Behauptung geboten, man werde auf dieſem Wege höchſtens zu einer „Beſchreibung“, nicht aber zu einer „Erklärung“ der Natur- ereigniſſe gelangen, und es war ſomit ſehr am Platze, die angebliche Gegenſätzlichkeit dieſer beiden Schlagwörter zu beſprechen, reſp. als nicht exiſtirend darzuthun. Nun⸗ — —— — — ———— — 1 * 9 Literatur und Kritik. 331 mehr folgt die „Entſtehung des Atom— begriffes“. Wenn wir uns der Natur unſeres pſychologiſchen Erkennens accommo— diren, ſo müſſen wir bemerken, daß durch das Zuſammenarbeiten der verſchiedenen Aeußerungsweiſen unſerer Sinnlichkeit ein beſtimmter Complex von Vorſtellungen ſich allmälig herausbildet; ſehr richtig wird da- bei bemerkt, daß der Subſtanzbegriff ledig— lich als ein untergeordneter Hülfsbegriff auftrete, welchem keine eigene Kategorie zu entſprechen brauche. Wir weiſen betreffs weiterer Ausführung dieſes Manchem un— gewohnten Gedankens auf die in dieſen Blättern bereits erwähnte ſcharfſinnige Ab— handlung von Paulſen in der „Viertel— jahrsſchrift für wiſſenſchaftliche Philoſophie“ hin. Nachdem jener erſte Akt vollzogen, helfen Geſichts- und Taſtſinn zuſammen, um den Begriff des Körpers von dem— jenigen des Raumes loszulöſen. Jener erſtere ſetzt ſich zuſammen aus den beiden empiriſch feſtzuſtellenden Zuſtänden der Starrheit und Undurchdringlichkeit; ſie ſind die beiden einzigen, welche die noch nicht reflektirende Erfahrung an jedem, wie immer ſonſt beſchaffenen Körper zu conſtatiren ſich gewöhnt hat. Da nun dem Verſtande daran gelegen iſt, alles, was ihm ſonſt als neu und erklärungsbedürftig vorkommt, auf jene urſprünglichſten Qualitäten zurückzu⸗ führen, ſo bleibt ihm allerdings zur Be— friedigung ſeines Cauſalitätsbedürfniſſes nur übrig, alle Körper aus kleinen, abſolut harten, homogenen Körperchen ſich beſtehend zu denken, über deren Form und thatſäch— liche Größenverhältniſſe irgend etwas aus— zuſagen er noch gar keine Berechtigung hat. Die richtige Vorſtellung vom phänomenalen Atom iſt aber damit geſchaffen. Es ſpringt hier ſofort der Unterſchied dieſes kriticiſtiſchen vor dem abſoluten Atom der üblichen Kosmos, II. Jahrg. Heft 10. Naturphiloſophie in die Augen. Während letztere ihr Atom nach Denkgeſetzen zu bilden ſich bemüht, iſt die phänomenale Naturauffaſſung gleich von Anfang an ſo ehrlich, zuzugeſtehen, daß ſie von dem wirk— lichen Atom, einem Ding an ſich, weder etwas wiſſe, noch etwas wiſſen wolle, daß vielmehr der menſchliche Geiſt kraft der ihm anerſchaffenen Beſonderheit lediglich mit der ſoeben dargelegten atomiſtiſchen Grundvorſtellung etwas anzufangen ver möge und deshalb auch einzig und allein bei ihr beharren werde. Nicht die fort— geſchrittene Naturerforſchung zwingt uns dieſe Annahme auf, ſondern der individuelle Wunſch nach der Möglichkeit einer ſolchen Naturerforſchung. Und wer ſich damit be— ſcheidet, daß wir eben in einer Welt der Phänomene ſo lange leben müſſen, als wir mit jener Welt ausſchließlich durch Sinnes— wahrnehmungen correſpondiren, der wird auch wohl oder übel damit zufrieden ſein müſſen, dieſe Erſcheinungswelt durch die Grundſätze einer phänomenalen Atomiſtik beſtmöglich nach Zahl und Maß geordnet zu ſehen. Der vierte Abſchnitt geht hier— auf des Näheren ein. Er verbreitet ſich zunächſt über die mögliche Gefahr einer Verwerfung dieſer Grundlage von Seiten ſolcher Naturforſcher, welche durch ſelbe den empiriſchen Charakter ihrer Disciplinen ge— ſchädigt wähnen. Dies iſt ein Irrthum, denn es wird ja ausdrücklich zugegeben, daß jene Anſchauungen, welche unter dem Einfluß der Kant'ſchen Denkweiſe die Stipulirung des Atombegriffes zur ge— bieteriſchen Nothwendigkeit machten, eben nur erfahrungsmäßig zu gewinnen waren; inſofern ift jede Wiſſenſchaft empiriſch, Ma— thematik ſowohl als Naturlehre, nur iſt dort, ſobald einmal der Sinnesthätigkeit gewiſſe wenige Abſtraktionen abgerungen 43 332 Literatur und Kritik. ſind, gleichzeitig auch die „Tafel der De— finition“ gegeben, hier aber nicht. Weiter— hin verwahrt ſich der Verfaſſer mit aller freilich auch ſehr nöthigen Entſchiedenheit gegen die beliebte Unterſtellung, das kriti— ciſtiſche Atom ſolle etwas Unendlichkleines ſein. So etwas kennt eben die Erfahrung als ſolche nicht; der Begriff des Infinite— ſimalen iſt und bleibt eine Domäne der reinen Mathematik, und die Erfahrungs- wiſſenſchaften dürfen ſich deſſelben blos in Form eines Hülfsbegriffes zur Bezeichnung der unterſten von der jeweiligen Forſchung erreichten Genauigkeitsgrenze bedienen. Wir halten es beiläufig für ein Gebot der Pflicht, zu betonen, daß die Unendlichkeitsbetracht— ungen in dem Buche ſelbſt eine ungleich vollkommenere oder wenigſtens unſerem Ge— ſchmacke weit mehr zuſagende Geſtalt an— genommen haben, als in dem früher von Herrn Laß witz veröffentlichten Zeitſchrift— Artikel, und nunmehr uns durchaus keinen Anlaß mehr zu irgend welcher polemiſchen Gegenäußerung darbieten. Von da wendet ſich die Darlegung gegen die dynamiſche Theorie und zwar vorwiegend gegen jenen angeblichen Beweis, mittelſt deſſen kein Ge— ringerer als Kant dieſer letzteren den Vor— zug vor der Atomiſtik ſichern zu können vermeinte. Es wird nachgewieſen, daß we— ſentlich der unrichtige Gebrauch des Wortes „Kraft“ dieſem Beweiſe zu einer in Wirk— lichkeit nicht vorhandenen Stichhaltigkeit ver— half, und daß in Folge dieſer doch eigent— lich rein nominaliſtiſchen Verirrung der große Denker den Fehler beging, gegen ſein eigenſtes Werk zu ſündigen und den vom Kriticis— mus verpönten Begriff einer leeren, d. h. durch eine Hinterthüre wieder hereinzulaſſen. Ein Bewegungshinderniß als Kraft aufzu— faſſen, iſt das Vorrecht des rechnenden Mechanikers; der ſachgemäßen Definition des ſchwierigen Kunſtwortes dürfte aber eine derartige Verquickung verſchiedener Dinge die ernſteſten Hinderniſſe bereiten. Es folgt Abſchnitt V: „Der Zufam- menhang der Atome und die Mittheilung der Bewegung als Andrangsempfindung.“ Ehe wir in eine zuſammenhängende Darſtell— ung des Inhaltes dieſes vielleicht inhalts— reichſten und wichtigſten Kapitels eintreten, müſſen wir uns noch mit dem Autor be— treffs einer unſeres Erachtens inconſequenten oder doch zum mindeſten überflüſſigen Hülfs— vorſtellung benehmen. Derſelbe betont näm— lich bei verſchiedenen Anläſſen, am entſchie— denſten aber in dieſem Abſchnitte (S. 61) ſeinen feſten Glauben an eine Welt der Noumena, der Dinge an ſich. Nicht als ob wir denſelben principiell für unzuläſſig hielten, allein wir müſſen gegen deren Her- einziehung in die exakte Deduktion uns mit des Verfaſſers eigenen Worten (S. 59) verwahren, daß dergleichen in das ethiſche Gebiet gehöre. Phänomenal iſt Alles, was uns umgiebt; von einer transſcendentalen Welt will keinesfalls unſer Verſtand, fon- dern einzig das in ſolchen Fragen zum Schweigen verdammte Gefühl etwas wiſſen und erfahren. Sagt doch im Schlußwort der Verfaſſer ſelbſt, er würde die Ergeb— niſſe ſeiner Forſchung durch die etwaige Eliminirung des abſoluten Grenzbegriffes in keiner Weiſe beeinträchtigt erachten; ganz gewiß hat er damit Recht, und eben des— halb hätte er ſich und ſeinen Leſern die auch nur gelegentliche Erwähnung jenes immer fremdartig anmuthenden Elementes | beſſer erſpart. vom Begriffe der Materie losgelöſten Kraft Was nun den Grundgedanken frag— lichen Kapitels angeht, ſo iſt es kurz aus— gedrückt dieſer: Alle Speculation über Maſſenbewegung hat nur dann einen Sinn, — ae Literatur und Kritik. wenn man von der individuellen Grund— lage, der Wahrnehmung einer mit unſerem eigenen Körper vor ſich gehenden Orts— veränderung reſp. „Andrangsempfindung“ ausgeht und die an ſich ſelbſt gemachten Erfahrungen gewiſſermaßen auf die Welt der Atome projicirt. So entſtand hiſtoriſch der erſte exakt⸗dogmatiſche Begriff, derjenige der „Bewegungsgröße“, den Galilei aus den Bedingungen der Muskelbewegung ab— ſtrahirte. Als Fundamentalthatſachen gelten die Grundſätze, daß Bewegung nur durch unmittelbare Berührung übermittelt werden kann, und daß jeder Wirkung eine ihr gleiche Gegenwirkung entſpricht. Die Mög— lichkeit einer fernwirkenden Kraft iſt da— mit nicht ausgeſchloſſen, bleibt aber natür— lich weiterer Erklärung vorbehalten. An— zuerkennen iſt, daß Laß witz, fo ſehr er ſich ſonſt in Widerſpruch zu Zöllner ſetzt, den in einem früheren Referate von uns gerügten Einwurf gegen jenen, ein Körper ſei da, wo er wirkt, in ſeiner ganzen Haltloſigkeit aufdeckt. Der ſechste Abſchnitt iſt nur ein Corollar des vorhergehenden; er führt aus, wie Menſchenverſtand auch ohne eigentliches Experiment und nur durch ſeine Elementar-Erfahrungen geleitet, auf die uns bekannten Principien der Mechanik kommen muß und auf feine anderen kom— men kann. Als beſonders gelungen heben wir die in dieſen Blättern kaum ausführ- licher abzuhandelnde Ableitung des Begriffes Maſſe, ſowie der Hauptgleichung 4 1! al We hervor. Auf den erſten Ausdruck kommt man, wenn man nach der Fähigkeit fragt, welche eine beſtimmte Zeit hindurch einen beſtimmten Widerſtand überwindet, auf den zweiten führt eine weitere Frageſtellung, welche an Stelle der Zeit den Weg ſetzt. Naturforſcher von ſtrengſter empiriſcher Ob— ſervanz werden nun freilich an dieſer ganzen Entwickelung das zu tadeln haben, daß ſie eine rein logiſche ſei, und wir vermöchten auch manchen Mathematiker von bekanntem Namen zu nennen, denen jeder ſolche Verſuch Gelegenheit zu billigem Spotte bietet — vielleicht wirkt auf ſolche Gegner der ſiebente Abſchnitt belehrend und be— kehrend ein, welcher „das Apriori in der Phyſik“ zum Thema hat. Derſelbe ſchil— dert in treffender Weiſe die Ungereimtheit jenes nackten Empirismus: „Wir können ohne Empirie die Geſetze nicht finden, aber wir können ſie ohne das Apriori nicht endgültig beweiſen.“ Die ſämmtlichen Erörterungen der frü— heren Kapitel werden nun im achten dazu benützt, die rationellen Grundlagen der kinetiſchen Atomenlehre herzuſtellen. Ins— beſondere muß es darauf ankommen, den ſelbſt von hervorragenden Gelehrten geſtütz— ten Irrthum zu widerlegen, jede für die Erklärung ſinnlich wahrnehmbarer Phäno— mene den Körpern beigelegte Eigenſchaft müſſe den Atomen ſelber zuertheilt werden, und damit habe man den ſinnloſen Regreß in's Endloſe. Es wird im Anſchluſſe an die theoretiſchen Arbeiten von O. E. Meyer und Lübeck die übrigens ſchon von dem geiftvollen Verfaſſer der „Geſchichte des Materialismus“ geahnte Wahrheit erwie— ſen, daß die Eigenſchaften elaſtiſcher Körper mit der Hypotheſe ſtarrer und undurch— dringlicher Elementarpartikeln von geringer, aber doch endlicher Größe ſehr wohl ſich vertragen, und noch weiter wird hieraus das Reſultat gezogen, daß zwiſchen elaſti— ſchem und unelaſtiſchem Stoße nicht, wie man gewöhnlich angegeben findet, ein innerlicher, ſondern lediglich ein gradueller Unterſchied beſteht. Die weiteren Bemerkungen über 334 den hodegetiſchen Werth nicht ſtreng⸗kine— tiſcher Theorien, wie z. B. der von uns früher behandelten Weber-Zöllner'ſchen elektrodynamiſchen Atomiſtik, ſind gewiß richtig und bekunden den klaren Blick des Verfaſſers, welcher ſich auch mit aller Be— ſtimmtheit gegen den engliſchen Import— artikel der neucarteſiſchen Wirbelatome er— klärt. Ein kurzer „Schluß“ faßt nochmals die weſentlichen Momente der ganzen Unter— ſuchung zuſammen und bezeichnet als höch— ſtes Ideal der unſerer Naturkenntniß ge— ſtellten Aufgabe dieſe: „Die erforſchten Bewegungen der Atome zu deuten in der Sprache der unmittelbaren Empfindung.“ Wir haben unſer Geſammturtheil be— reits oben formulirt und demſelben nichts von Bedeutung hinzuzuſetzen. Nur ſei noch — bon einigen vielleicht abſichtlich in die gewöhnliche Form philoſophiſcher Kunſt— ſprache umgeſetzten und deshalb ſchwerer verſtändlichen Partien abgeſehen — der durchweg klaren ſtyliſtiſchen Faſſung der ganzen Abhandlung rühmend Erwähnung gethan. Ansbach. Prof. S. Günther. Natur und Menſch. Von Dr. Kurd Laßwitz. Breslau 1878. Verlag von Wilhelm Koebner. Auch unter dem Titel: Deutſche Volksſchriften, 3. Bd. 123 S. Die Tendenz dieſes für ein größeres Publikum berechneten Werkchens des uns bereits bekannten Verfaſſers iſt weſentlich die, den rohen Materialismus, welcher nur allzulange in ſogenannten populären Dar— ſtellungen dem Volke als einzig geſunde Speiſe Literatur und Kritik. geboten zu werden pflegte, durch eine die wahre Stellung des Menſchen in der Natur erläuternde beſſere Philoſophie zu erſetzen. Der Verf. zeigt zu dem Ende an der Hand der Geſchichte, wie ſchwer und allmälig erſt dem denkenden Menſchen die Losringung aus kosmologiſchen und aſtronomiſchen Phi— loſophemen gelang; die betreffenden Ent— wickelungsſtadien erhalten durch ihre ſtete Verknüpfung mit den Namen berühmter Männer kräftiges Relief. Neben Gior— dano Bruno, dem Märtyrer der Lehre von der Vielheit der Welten, wäre auch Nicolaus Cuſanus zu nennen, der als der Erſte jene Doktrin vorzutragen wagte, und zwar unbeanſtandet von ſeiner Kirche. Der eingehenden Schilderung der Kant— Lap lace'ſchen Hypotheſe und ihrer Con— ſequenzen folgt eine Auseinanderſetzung des Geſetzes von der Erhaltung der Kraft und der Subſtanz, und nun iſt der Boden ge— nügend geebnet, um das Weſen der mecha— niſchen Naturerklärung Jedermann deutlich zu machen. Der Verf. gelangt zu dem auch vom Referenten vollinhaltlich acceptir— ten Ergebniß, daß alle Naturforſchung, als lediglich der Welt der Phänomene zuge— wandt, kriticiſtiſch-moniſtiſch fein müſſe, daß jedoch das Gebiet des inneren, des ſeeliſchen Lebens hierdurch in keiner Weiſe berührt werde, vielmehr jedem Einzelnen — ganz unbeſchadet feiner ſonſtigen wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung — freier Spielraum bleibe, die bezüglichen Fragen nicht lediglich nach ſcientifiſchen, ſondern weſentlich auch nach ethiſchen Motiven zu erledigen. Ansbach. Prof. S. Günther. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 7 Faults Schatten an Charles Darwin. 12. Februar 1879. + eheimnißvoll am lichten Tag EL Läßt ſich Natur des Schleiers nicht berauben, Und was ſie Deinem Geiſt nicht offenbaren mag, Das zwingſt Du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.“ Wen hat durchbebt wie mich das Wort, Das hoffnungsloſe, da den Hort Der Weisheit und der Wiffenfchaft zu heben, Ich hingeopfert Glück und Ruh und Leben! Vor meiner Seele glomm ein Dämmerſchein Geahnter Wahrheit, blaß wie Vebelſtreifen; Doch frommte nicht Kryftall, noch Todtenbein, Noch Bücherwuſt, das Traumbild zu ergreifen. In Herzensqualen, tief um Mitternacht, Bannt' ich herauf den Geiſt der Erde, Den Geiſt des ew'gen Stirb und Werde; Doch in den Staub ſank ich vor ſeiner Macht. Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. 44 Geblendet von der unermeßnen Fülle Der Creaturen ſtürzt' ich hin; Je mehr ich ſucht', je dichter ward die Hülle, Je mehr ich gab, je karger der Gewinn. So ift dem Wandrer, dem der Wüſtenſand Betrüglich ſpiegelt das erſehnte Land: Die Kuppel ſtrahlt, die Sinne ſilberhell, Die Palme ſchwankt, in's Becken ſpringt der Quell; Er ſchaut und ſchaut, bis ſich fen Blick umnachtet, Bis einſam durſtend er im Sand verſchmachtet. Da hab' ich mir, da hab' ich Gott geflucht, Und hab' den Bund der Finſterniß geſucht; Im frevelhaften Taumel des Genuſſes Hab' ich mein brennend Herz berauſcht Und ſchwelgend an dem Horn des Veberfluſſes Für Geiſtesqual mir Sinnenluſt ertauſcht. O frage Ueiner, welches Leid ich litt, Wohin ich floh, trug ich die Sehnſucht mit! Umſonſt Gelag und Jagd und Spiel und Wein, Treu wie mein Schatten folgte mir die Pein; Umſonſt der Schwanerzeugten Liebesarm, Treu wie mein Schatten folgte mir der Harm. Geendet hab' ich längſt. Die Seele floß Hinab zur Wieſe voll Asphodelos, Wo unbeſeligt, aber ſchmerzenleer Ich branden ſeh' des Erdenlebens Meer. Dort ſah ich ihn, der Ruh' der Sonn', und Flucht Der Erde gab, und ihn, der im Getriebe Der Welten wie im Fall der reifen Frucht Die allanziehende erkannt, die Ciebe, Und ihn, den Jud' und Chriſt verſtieß, den Denker Der Gott-Natur, und ihn, den Geiſteslenker, Pr Ben Den Führer, der das Banner der Vernunft Fum Sieg getragen ob der dunklen Sunft. Ich ſah den Dichter, der mit Feuerzungen Und Engelsſtimmen mein Geſchick beſungen, Der, wie einſt ich gerungen, glühend rang Und rein'ren Geiſt's den Höllengeiſt bezwang; Propheten all' des ewig Einen Lichts, Siehn ſie dahin verklärten Angeſichts. Nun ſchau ich Dich! Von Allen, die ich ſah, Erhabner Greis, o, fühl' ich Dir mich nah! Was ich geahnt, Dir ward es klar; Was ich geträumt, Dir ward es wahr; Du haſt gleich mir des Erdgeiſts Licht geſehn; Ich brach zuſammen, aber Du bliebſt ſtehn, Und feſt im Sturm der wechſelnden Erſcheinung Sahſt das Geſetz Du, ſahſt Du die Dereinung. O wärſt Du, da des Lebens warmer Zug Die Bruſt mir hob, da heiß der Puls noch ſchlug, O wärſt Du damals tröſtend mir genaht, Nicht in Verzweiflung führte mich mein Pfad Dem Abgrund zu, nicht in das Garn des Böſen. „Wie wirr ſich auch der Knoten fchlingt, Der Räthſelknoten iſt zu löſen, Der Riegel fällt, die Pforte ſpringt. Und wenn der Geiſt in engen Erdenſchranken Des eignen Ichs Geheimniß nimmer faßt, Wälz' ab unmuthgen Grübelns Laſt, Hinaus in's Leben richte die Gedanken! Da ringt die Creatur auf taufend Wegen Vollkommnerem, Vollkommenſtem entgegen, © © * Da ringe mit! Ob dunklem Siele zu, Ob ſonder Siel — ob ew'ge That, ob Ruh Das Loos iſt des Lebendigen — genug! Die Welt hat Raum auch für den höchſten Flug!“ Hell aus des Orcus ödem Schattenthal Schwingt ſich mein Gruß hinauf zum Sonnenſtrahl: Heil Dir, erhabner Greis, auf neuer Bahn Zu neuen Höhn führſt Du die Menſchheit an; Du darfſt zum Augenblicke ſagen: Verweile doch, du biſt ſo ſchön; Es kann die Spur von Deinen Erdentagen Nicht in Aeonen untergehn. A. Jitger. Be Charles Darwin. Eine biographiſche Skizze ſo nachhaltige Wirkung ausgeübt, 8 und eine ſo gründliche Umwälz— ung er Anſchauungen bei Fach— leuten wie bei Laien hervorgerufen, wie Darwins Buch über die Geneſis der Pro 8 / N 1 5 SI . [> gewaltiges Aufſehen erregt, eine | organiſirten Formen. Ein Mann, welcher es verſtanden hat, in wenigen Jahren eine über den ganzen | Erdfreis in immer mächtiger anſchwellenden Wogen ſich verbreitende wiſſenſchaftliche Re— volution heraufzubeſchwören, fordert auch nach anderer Richtung das größte Intereſſe. Sein Leben zumal und ſeine übrigen Werke verdienen bekannter zu ſein, als ſie es that— ſächlich ſind. Ich verdanke der Güte des Herrn Darwin ſelbſt den Hauptinhalt der nach— folgenden biographiſchen Notizen. Sie liefern, wenn auch vor der Hand ſpärliches, doch gutes Material zu einer künftigen Lebens— beſchreibung, denn ſie ſind ſämmtlich zuver— von W. Dreyer. läſſig, was von anderen in die Oeffentlich— keit gelangten biographiſchen Angaben nicht durchweg gilt. Darwin entſtammt einer hochbegabten Gelehrten-Familie. Sein rühmlichſt bekaun— ter Großvater Erasmus Darwin (geb. 1731, geſt. 1802 in Derby) war viel— ſeitiger Schriftſteller und Arzt. Ju ſeinem Hauptwerk, der „Zoonomie“ (London 1794), ſprach er Anſichten aus über die natürliche Entftehung der Organismen, welche mit den von Goethe und Lamarck faſt gleichzeitig aufgeſtellten große Aehnlichkeit haben, obwohl ſie gänzlich unabhängig von jenen entſtanden waren. Erasmus Darwin verfaßte außer— dem mehrere naturphiloſophiſche Schriften, ſo eine „Phytonomie“ (London 1800) und das Gedicht „Der botaniſche Garten“ (Lon— don 1788), in deſſen zweitem Theile „die Liebe der Pflanzen“ beſungen wird. Auch ſein didaktiſches Posm „Der Tempel der Natur oder der Urſprung der Geſellſchaft“ (London 1803) iſt voll eigenthümlicher Ge— Preyer, Charles Darwin. „ danken und zeugt von einer ſeltenen Ein— | Darwin abſolvirte 1831 in Cambridge bildungskraft. ſein erſtes Examen, und wurde B. A. Sein Sohn Dr. Robert Waring | (Bachelor of Arts), ſpäter auch M. A. Darwins) folgte nicht der naturphiloſophi— | (Master of Arts), eine Würde, die unge- ſchen Richtung. Er widmete ſich ganz feinem fähr gleichbedeutend iſt mit dem deutſchen Berufe und erfreute ſich als praktiſcher Arzt Doktor der Philoſophie. Ueber die Univer— in Shrewsbury einer großen Beliebtheit. ſitätsſtudien iſt wenig zu berichten. Von Es war ihm, da er 1848 ſtarb, nicht ver- früher Jugend an gewährte Darwin das gönnt, den Ruhm feines Sohnes, des Ur- Sammeln von allerlei Naturalien und das hebers der Selektions-Theorie, zu erleben. Beobachten der Gewohnheiten wildlebender Außer dieſem, der Charles getauft ward, Thiere den größten Genuß. Er war der hinterließ er noch einen Sohn und vier Töchter. Jagd ſo ſehr ergeben, daß ihm während Charles Darwin iſt am Sonntag der Studentenzeit wiſſenſchaftliche Beſchäf— den 12. Februar 1809 in Shrewsbury tigungen wenig zuſagten. Die Collegien geboren. Die erſte Erziehung wurde ihm fand er unendlich trübſelig, ſie verdarben in ſeiner Vaterſtadt zu Theil, wo er ſieben ihm drei Jahre lang alle und jede Neigung Jahre lang (bis 1825) die Schule beſuchte. zur Geologie. Zudem erfreute er ſich da— Im Alter von 16 Jahren bezog er die mals noch einer vorzüglichen Geſundheit und Univerſität Edinburg, zwei Jahre ſpäter nicht gewöhnlicher Körperſtärke. Beſonders begab er ſich nach Cambridge. Hier ſchloß vernachläſſigte er, obwohl in Edinburg gute er ſich eng an Hens low, den Profeſſor Gelegenheit dazu geboten war, die Anatomie. der Botanik, an, welcher ſeine Neigung zu Er beſuchte nur zwei- oder dreimal die naturhiſtoriſchen Studien begünſtigte und Vorleſungen; die Unterſuchung der Leichen deſſen botaniſche Vorleſungen ihn ſehr an- ekelte ihn an. Er hat dieſes Verſäumniß ſprachen. Das aufkeimende Genie wurde von ſein ganzes Leben hindurch bereut und be— dieſem trefflichen Manne auf die Bahn gelenkt, zeichnet den Verluſt als unwiederbringlich. welche zu den außerordentlichen Erfolgen Aber durch ſpätere verdoppelte Arbeit brachte führen ſollte. er es dahin, daß man in ſeinen Werken Niemand hat annähernd einen ſo großen von einer Lücke nichts merkt. Einfluß auf Darwin ausgeübt wie Hens— Dagegen widmete ſich Darwin bereits low, und mit rührender Dankbarkeit er- in Schottland der Unterſuchung niederer See— innert ſich jener ſeines Lehrers, der ihm thiere, welche Dr. Grant, damals Privat— auch im ſpäteren Leben in treuer Freund- gelehrter und mit zoologiſchen Unterſuchun— ſchaft verbunden blieb. gen beſchäftigt, ſpäter Profeſſor an der 5 BES Londoner Univerfität, ihn beobachten und ſammeln lehrte. Darwin machte hier ſeine win über ſubjektive Lichtempfindungen ab- erſte Entdeckung. Er ſah zum erſten Male gedruckt, auf welche Goethe aufmerkſam macht. ein Bryozoon in feinem früheſten beweglichen (Werte 1840. Bd. 39 S. 404 — 406.) Wie Herr Zuſtande. Grant theilte die Beobachtung e 1 8 e e. in einer Sitzung der Wernerian Natural Waring bei Ausführung dieſer Arbeit wahr— Piet Se N d di d ſcheinlich weſentlich unterſtützt von Erasmus | story Society mit, und dies war dem ) In der „Zoonomie“ iſt auch eine Abhandlung von Robert Waring Dar— Darwin, ſeinem Vater. jungen Forſcher eine bedeutſame Ermuthigung. | 5 = 8 — ru Preyer, Charles Darwin. In Cambridge waren es Inſekten, vor- ſich verſammelt, um die Canariſchen Inſeln zugsweiſe Käfer, die ihn lange faſt aus— ſchließlich in Anſpruch nahmen. Dort be— freundete er ſich zugleich, von Henslow veranlaßt, mit der Geologie. Aber auch dieſe Studien wurden nicht mit wiſſenſchaft— licher Gründlichkeit, ſondern mehr zur Unter- haltung betrieben. Wenn Jemand ihm den Namen eines Käfers nannte, glaubte er Alles zu wiſſen, was man nur verlangen könnte, betrachtete nicht ein einziges Mal die Freßwerkzeuge irgend eines Inſekts, und doch arbeitete er wie ein Sklave beim Sam— meln von Mineralien, Muſcheln, Pflanzen, Vogelbälgen, Käfern. Alle haben ihre Zeit gehabt, und dieſes Sammeln von ſo vielen verſchiedenen Objekten im großen Maßſtabe beeinträchtigte wohl, wie Darwin meint, ſein Beobachtungsvermögen. Beſonders feſſelte zu beſuchen. Es traf ſich aber, daß die britiſche Regierung zu jener Zeit eine Brigg von 10 Kanonen, den „Beagle“, zu einer Expediton beſtimmte, welche die Küſten von Feuerland, Patagonien, Chile, Peru ihn außerdem das Leben der Vögel, und White's Natural History of Selborne hatte daher viel Einfluß auf ihn; aber von gelang es dem 22 jährigen jungen Manne, allen Büchern intereſſirten ihn bei weitem am meiſten Humboldt's Reiſebeſchreibungen. Er las große Abſchnitte der engliſchen Aus— gabe wieder und wieder. — Der jetzt ſiebzig- jährige unermüdliche, unglaublich beſcheidene deckungsreiſe an, nur als Sammler ließ er Forſcher hat in einem Briefe an mich das merkwürdige Geſtändniß abgelegt, daß er damals nur Naturfreund und Jäger geweſen | und einigen Inſeln des ſtillen Oceans auf- nehmen, außerdem eine Reihe von Längen— beſtimmungen rings um die Erde ausführen ſollte. Der Capitän Fitz Roy hegte den Wunſch einen wiſſenſchaftlichen Begleiter mit— zunehmen, und erklärte ſich bereit, einem tüchtigen Naturforſcher, der ſich ihm anzu— ſchließen geneigt wäre, neben freier Ver— pflegung einen Theil ſeiner Cabine zur Ver— fügung zu ſtellen. Als Darwin von dieſen nicht allzu günſtigen Vorſchlägen Kenntniß erhielt, meldete er ſich freiwillig, verzichtete auf Gehalt und ſtellte nur die eine Bedingung, daß ihm feine Samm- lungen vollſtändig überlaſſen blieben. Durch die Verwendung des Capitäns Beaufort von der Admiralität das Verlangte zu erwirken. Niemals, ſo meint Darwin, trat ein Naturforſcher ſchlechter vorbereitet eine Ent— ſich gelten. Er behauptet, damals nichts von Anatomie gewußt und nie ein ſyſte— jet, und bis zu ſeinem 22. Jahre über- haupt nicht, dann aber von ganzem Herzen gearbeitet habe. Erſt das Jahr 1831 bezeichnet den Wendepunkt in ſeinem Leben. Mit dem— ſelben beginnt erſt, wie er ſich ſelbſt aus— drückt, ſeine eigentliche Ausbildung, und, wie deren Früchte beweiſen, beiſpielloſe wiſſen— ſchaftliche Thätigkeit. Von dem Wunſche erfüllt, eine wiſſen— ſchaftliche Forſchungsreiſe zu unternehmen, hatte er faſt ſchon eine Reiſegeſellſchaft um matiſches zoologiſches Werk geleſen zu haben. Er hatte nie zuvor ein zuſammengeſetztes Mikroſkop berührt und ſich mit der Geologie erſt vor etwa ſechs Monaten bekannt zu machen angefangen. Aber er nahm viele Bücher mit, arbeitete mit voller Kraft und zeichnete viele Seethiere aller Arten ab. Er empfand tief den Mangel an Uebung und Kennt— niſſen, und weiß in der That vor der Reiſe keiner methodiſchen Studien im ſtrengen Wortſinne ſich zu erinnern, ausgenommen allenfalls einiger experimenteller chemiſcher — nennen nn — 342 Arbeiten, die er als Schulknabe mit ſeinem Bruder ausführte. Wenn dieſes Geſtändniß auch noch ſo wenig übertrieben iſt, es wurde die geringe Schulung durch eine Beobachtungsgabe ohne Gleichen, durch ein Combinationsvermögen, welches vor keiner Conſequenz zurückſchreckt, und durch eine ſeltene Arbeitskraft nicht blos übercompenſirt, ſondern es iſt wahrſchein— lich die Urſprünglichkeit Darwin's, welche Tradition und Autoritätsglauben ſchrocken umwirft, dem Umſtande zuzuſchrei— ben, daß ſein Geiſt von Jugend auf nicht gefeffelt ward. Durch zu viel Unterricht und zu viel Erziehung iſt ſchon manchem talentvollen Jüngling die ſelbſtſtändige Ent— wickelung weſentlich erſchwert worden. So verließ denn Darwin als Natur— forſcher der Expedition am 27. Dec. 1831 mit dem Beagle den Hafen von Devonport, um faſt fünf Jahre lang unter großen Ent— behrungen wiſſenſchaftlichen Arbeiten zu leben, welche freilich durch reichen Naturgenuß ver— ſchönt wurden. Einige der wichtigeren Punkte, die wäh— rend der Reiſe um die Erde von Darwin beſucht wurden, ſeien hier chronologiſch auf- gezählt, da dieſe Erdumſegelung auf den Karten der meiſten Atlanten nicht ange— iſt. uner⸗ geben 1832, 16. 6. Jan., Teneriffa. Jan., Porto Praya (Inſeln des grünen Vorgebirges). Febr., St Paul. Febr., Fernando Noronha. Febr., Bahia. . März, Abfahrt von Bahia nach Rio de Janeiro. bis 22. April, Landreiſe in Braſilien. April bis 4. Juli, Rio (Botafogo) und Excurſionen. „Juli, Abfahrt von Rio de Janeiro. Juli, Ankunft in Montevideo. 17 1834, 31. Preyer, Charles Darwin. Dec., Ank in Good-Succeß-Bay (Feuer— land). 2. Dec., Cap Hoorn. 15. Jan., Ank. in Goeree-Sound. März, Ank. in Berkeley-Sound (Falk— lands-Inſeln). Juli, Abf. von Maldonado. Aug., Rio-negro-Mündung. Aug. bis 20. Sept., Landreiſe nach Buenos-Ayres. . Sept. bis 20. Okt., Reife nach Sta. Fe und zurück. . Nov. bis 28. Nov., Reife von Monte— video ins Innere. Dec., Ank. in Port Deſire (Patagonien). 9. Jan., Ank. in Port St. Julian (Pa⸗ tagonien). . März, Falklands-Inſeln. . April, Porta Sta. Cruz (Patagonien). 9. April bis 8. Mai, Fahrt den Sta. Eruz- Fluß aufwärts und zurück. Mai, Magelhaens-Straße. 1.—8. Juni, Port Famine. 23. 14. 27. 20. 19. 21. 90. 1836, 5. 6. Juli, Ank. in Valparaiſo. Aug. bis 26. Sept., Landreiſe. Sept. bis 31. Okt., Valparaiſo. „Nov., Abf. von Valparaiſo. . Nov, Caſtro (Chiloe-Inſeln). 5. Dec., Tres Montes. 7. bis 14. Jan., Chonos-Inſeln. Jan. bis 4. Februar, S. Carlos (Chiloe— Gruppe). Febr., Valdivia (Erdbeben). bis 7. März, Concepcion. März, Valparaiſo. . März bis 4. Juli, Landreiſen. Juli, Ank in Iquique. Juli, Ant in Callao. . Sept., Chatham Inſel. . Okt., James-Inſel. Okt., Galapagos-Archipel verlaſſen. „Nov., Tahiti in Sicht. Nov., Ank. in Matavai. Dec., Neu-Seeland in Sicht. Dec., Inſelbucht. Dec., Neu-Seeland verlaſſen. 12. Jan., Ank. in Sidney. Febr., Sturm-Bai (Tasmanien). bis 14. März, King-Georgetown. 3 —— — E . April, Keeling-Inſeln. 29. April, Mauritius. 9. Mai, Abfahrt von Port-Louis. 8. Juli, Cap der guten Hoffnung. 19. Juli, Aſcenſion. 12. Aug., Pernambuco. 19. Aug., Braſilien verlaſſen. 31. Aug., Porto Praya. 2. Okt., England. Die Reiſe verlief von Anfang bis zu Ende ohne erhebliche Unfälle. Der Capitän und das ganze Perſonal lösten ihre Auf— gabe in muſterhafter Weiſe und die kleine Expedition leiſtete weit mehr, als man von ihr erwartet hatte. In Falmouth betrat Darwin wieder den heimiſchen Boden und hat ihn ſeitdem nicht verlaſſen. Er lebte die erſten drei Jahre nach ſeiner Rückkunft in London, Preyer, Charles Darwin. wo er ſeine reichen Naturalienſammlungen ordnete, die Tagebücher von der Reiſe redigirte und zugleich thätiges Mitglied der geologiſchen Geſellſchaft war, zu deren Ehren-Schriftführer er gewählt wurde. Dann begab er ſich nach Maer Hall in Staffordſhire zu ſeinem Oheim, einem Bruder ſeiner Mutter, dem Sohne des durch die Wedgwood-ware allgemein be— kannten Joſiah Wedgwood. mählte ſich Darwin 1839 mit ſeiner Couſine, Fräulein E. Wedgwood. Aus dieſer Ehe ſtammen fünf Söhne und zwei Töchter. Während Darwin's Geſundheit in ſeiner Jugend nichts zu wünſchen übrig ließ, bezeichnet er ſie ſeit 1840 als ſchlecht. Schon während der langen Reiſe hatte er mit hartnäckiger Seekrankheit zu kämpfen, und in Valparaiſo blieb er fünf Wochen an das Krankenlager gefeſſelt. Seine, wie es ſcheint, durch die magere Schiffskoſt und wohl auch Ueberanſtrengung bei den Wan— derungen zu Lande, nachhaltig erſchütterte niſchen Entwickelung zu begründen. Geſundheit und das Bedürfniß in Ruhe ſeinen Studien obzuliegen, veranlaßte ihn bald nach ſeiner Verheirathung lange Zeit beinahe ganz der Geſellſchaft zu entſagen, und jo zog er ſich 1842 nach Down zurück, einem Dorfe von etwa 500 Einwohnern, in der Nähe der ſüdöſtlich von London ge— legenen Städtchen Beckenham und Bromley in Kent. Hier lebt er mit ſeiner Familie faſt ohne Unterbrechung ſeit 38 Jahren, theils der Ausarbeitung von Reiſebeobachtungen, theils und hauptſächlich der ſchon ſeit 1833 durch die Erforſchung der Thierwelt Pata— goniens entſtandenen und im Stillen genähr— ten Idee von der Entwickelung aller Thier— und Pflanzen-Formen aus wenigen Urtypen, einer Idee, an welcher die kommenden Jahr— hunderte zu zehren haben werden. Die lange Reihe von Jahren ſeit 1842 hat Darwin in Down mit Ziüchtungsver— ſuchen an Thieren und Pflanzen, mit Beob— achtungen und Experimenten über Fortpflanz— ung, Veränderlichkeit und Lebensweiſe der ver— ſchiedenartigſten Organismen zugebracht, um ſeine Selektionstheorie, namentlich die Be— deutung der natürlichen Züchtung in der Concurrenz aller Organismen, welche das Hier ver⸗ Ueberleben der Begünſtigten zur Folge hat, als eines Grundprincips der orga— Er arbeitete mit einer ſtaunenswerthen Energie und Gewiſſenhaftigkeit, immer das eine große Ziel im Auge behaltend. Wie wenig der Vorwurf der Uebereilung den ebenſo vorſichtigen wie kühnen Forſcher trifft, geht daraus hervor, daß er 20 Jahre lang ſeine Theorie fertig in ſich trug, ohne davon auch nur eine Zeile zu veröffentlichen. Er wünſchte ſie immer noch feſter zu funda— mentiren. Und als endlich am 1. Juli 1858 eine vorläufige Mittheilung erſchien, geſchah es nicht einmal auf ſeinen Wunſch. Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. 344 Er mußte von den Freunden Lyell und Hooker dazu bewogen werden. So verlief das einfache Leben dieſes großen Mannes bisher und ſo führt er es fort: im wahren Sinne ein Forſcherleben. Denn Darwin iſt in der glücklichen Lage, ſeit ſeiner Jugend Tag für Tag ſeinen eigenſten Studien zu widmen. Er war nie Staatsbeamter; weder kirchliche noch Lehrer— pflichten, keine Sorge um ſeine Familie haben ſeine raſtloſe wiſſenſchaftliche Thätig— keit beeinträchtigt, noch viel weniger die Zerſtreuungen der großen Welt. Darum iſt er aber nichts weniger als Miſanthrop, er huldigt gern, wenn ſeine Geſundheit es erlaubt, einer ungezwungenen Geſelligkeit und iſt ebenſo liebenswürdig im Umgang wie achtunggebietend in der Wiſſenſchaft. Seine Phyſiognomie hat etwas imponi— rendes. Der lange weiße Vollbart, die un— gewöhnliche Wölbung des Hauptes, die weit vortretende, vom Pfluge des Gedankens durchfurchte Stirn, buſchige weiße Brauen, welche die außerordentlich tief liegenden Augen beſchatten, verleihen ihr einen eigen— thümlichen, anziehenden Ernſt. Man weiß nicht, was an dieſem Kopf am meiſten hervortritt, ob die Beſonnenheit, oder die Intelligenz, oder der Forſcherblick, oder die Vertrauen erweckende Offenheit. Von den vielen wiſſenſchaftlichen Aus— zeichnungen, welche Darwin zu Theil ge— worden ſind, ſeien hier einige erwähnt. Die Royal Society in London verlieh ihm 1853 die Royal Medal, 1864 die Copley— Medaille, die geologiſche Societät daſelbſt die Wollaſton-Medaille; 1867 wurde er mérite; 1868 verlieh ihm bei Gelegenheit ihrer 50 jährigen Stiftungsfeier die Univer— ſität Bonn den Ehrendoktor der Medicin. Ritter des preußiſchen Ordens pour le Die Facultät nennt ihn, wie das Diplom Preyer, Charles Darwin. verkündet, „theoria de origine specierum et animalium et plantarum proposita novae in scientia zoologica et botanica aetatis conditorem.“ Darwin iſt ferner Ehrendoktor von Cambridge und von Oxford, Mitglied der Royal Society in London (F. R. S.), der Royal Society in Edin— burg (F. R. S. E.), der Linné'ſchen Ge— ſellſchaft in London (F. L. S.), der geolo— gischen Geſellſchaft daſelbſt (F. G. 8.), der Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin, Stockholm, St. Petersburg, Paris, Wien, der Academia Caesarea Naturae Curiosorum, der Geſellſchaft der Wiſſenſchaften zu Upſala und New-York, Ehrenmitglied der natur- wiſſenſchaftlichen Akademie in Philadelphia und anderer gelehrter Corporationen. Viel mehr Intereſſe und Abwechslung, als ſein äußeres Leben, bietet Darwin's ausgedehnte literariſche Thätigkeit. Außer ſeinen allgemein bekannten größeren Werken hat er zahlreiche geologiſche, zoologiſche und botaniſche Unterſuchungen veröffentlicht. Sehr wenige Forſcher haben mit ähnlichem Er— folge ſelbſtändig arbeitend ein ſo weites Gebiet betreten. Darwin iſt nicht Spe— cialiſt, weder in der Geologie, noch Zoolo— gie, noch Botanik, ſondern er beherrſcht gleichmäßig die drei Disciplinen. Er trägt in ſich einen wahren Theſaurus naturhiſto— riſchen Wiſſens. Seine größten Entdeck— ungen aber verdankt er dem eifrigen Stu— dium der Thierproduktionslehre und Hor- ticultur. Hierin liegt eine ernſte Mahnung an alle Zoologen und Botaniker. Bisher arbeiteten die Züchter und Gärtner, ohne ſich viel um rein theoretiſche Forſchungen zu kümmern, desgleichen blieben den wiſſen— ſchaftlichen Sammlern, den Zoologen und Botanikern der Pinne’fhen und Cuvier'ſchen | Schule die erſtaunlichen Leiſtungen der Hausthier- und Hauspflanzen-Kenner größ— „ Preyer, Charles Darwin. 345 tentheils fremd. Es iſt ein beſonderes Verdienſt Darwin's, dieſes neue Feld der Wiſſenſchaft erobert zu haben. Er fördert dadurch zugleich die Praxis ebenſo, wie er durch definitive Verbannung der früheren einſeitigen Teleologie aus dem Gebiete der Naturgeſchichte und ihren Erſatz, die natür- liche Züchtung, der reinen Theorie den ihr gebührenden Rang verliehen hat. Der Leſer wird am beſten die ſchrift— ſtelleriſche Thätigkeit Darwin's, welche zugleich ein treues Abbild ſeines Studien— gangs liefert, würdigen können, wenn er das chronologiſche Verzeichniß ſeiner ſämmt— lichen Werke durchſieht. Daſſelbe zeigt, wie zuerſt von den Specialunterſuchungen fait | nur geologiſche Arbeiten, dann auch zoolo— giſche, und endlich faſt nur botaniſche zur Veröffentlichung kamen. Jetzt ſind es haupt— ſächlich pflanzenphyſiologiſche Experimente, die den mit jugendlicher Kraft thätigen Forſcher in Anſpruch nehmen. Am 1. December 1835 wurden Auszüge aus zehn Briefen Darwin's gedruckt zur Vertheilung unter die Mitglieder der natur— wiſſenſchaftlichen Geſellſchaft in Cambridge. Die Briefe ſind an Henslow gerichtet und wurden an verſchiedenen Küſtenſtädten Süd— amerika's, einer auf der öſtlichen Falklands— Inſel geſchrieben, der erſte am 18. Mai 1832 in Rio, der letzte am 18. April 1835 in Val- paraiſo. Sie enthalten neben paläontologiſchen und zoologiſchen Reiſenotizen hauptſächlich geologiſche Mittheilungen, welche in der ge— nannten Geſellſchaft, etwa ein Jahr vor der Rückkehr von der Erdumſegelung, vorgetragen worden waren. Dieſe nahe zwei Bogen um— faſſende Druckſchrift Darwin's iſt im Buch— handel nicht erſchienen. Am 14. November 1837 brachten die Ver— handlungen der geologiſchen Geſellſchaft in London (5. Bd. S. 505 — 509 mit 1 Holz— ſchnitt auch Geol. Soc. Proc. II, 574 — 576 und Froriep's Notizen VI, 1838, 180 — 183) eine Mittheilung über die Bildung der Acker— krume, welche, wie in überzeugender Weiſe dargethan wird, durch die Thätigkeit der Regenwürmer entſteht. Jedes Partikelchen des Lagers, aus welchem der Torf alten Weide— landes hervorgeht, muß durch den Verdau— ungscanal der Würmer hindurchgegangen ſein. 1837. Bemerkungen über den ameri— kaniſchen Strauß (Proc. Zool. Soc. Lond. V., p. 35 — 36). 1838. Nachweis neuer Erhebungen an der Küſte Chile's (Geol. Soc. Proc. II, p. 446 — 49) und Beſchreibung der vorweltliche Säugethiere enthaltenden Ablagerungen in der Umgebung des Plata-Stroms (ibid. p. 542 — 544 und Ann. des Se. nat. VII. [Zool.] 1837, p. 319 — 320). Geologiſche Notizen (Geol. Soc. Proceed., II, p. 210 - 212), ge⸗ ſchrieben während einer Aufnahme der Oſt— und Weſtküſten Südamerika's in den Jahren 1832, 1833, 1834, 1835; nebſt einem Bericht über einen Profilſchnitt der Cordilleras de los Andes zwiſchen Valparaiſo und Mendoza. Sodann: Ueber den Zuſammenhang ge— wiſſer vulcaniſcher Erſcheinungen in Süd— amerika, über die Bildung von Bergketten und die Wirkungen continentaler Erhebungen (Geol. Soc. Proceed. 1838, p. 654 — 660 und Geol. Soc. Trans. V., 1840, p. 601 — 632, ſowie Poggendorff's Annalen der Phyſik und Chemie LII., 1841, S. 484 — 496). 1838 kam ferner ein Aufſatz über die Entſtehung der ſalzhaltigen Ablagerungen Pa— tagoniens (Journ. of the Geol. Soc. II., pt. 2. p. 127 — 128) zur Veröffentlichung. 1838. Ueber gewiſſe Erhebungen und Senkungen des Bodens im Stillen und im Indiſchen Ocean, nachgewieſen an den Korallen— bildungen. (Geol. Soc. Proc. II. 552 - 554; und Froriep's Notizen IV, Okt. 1837, 100 — 103.) 1839 erſchien der Bericht über die Erd— umſegelung: Narrative of the surveying voyages of the Adventure and Beagle. Der dritte von Darwin allein verfaßte Band dieſes Werkes, ſeine Reiſetagebücher und vieler— lei Beobachtungen enthaltend, wurde verbeſſert und condenſirt 1846 bei Murray in London beſonders herausgegeben u. d. T.: Journal of researches into the natural history and 346 Preyer, Charles Darwin. geology of the countries visited during the voyage of H. M. S. Beagle round the world, under the command of Capt. Fitz Roy. Eine deutſche Ueberſetzung beſorgte Ernſt Dieffen— bach (Braunſchweig 1844), dann Carus. Eine franzöſiſche und eine amerikaniſche Aus— gabe wurden bereits vor Jahren veranſtaltet. Die Reiſebeſchreibung, obzwar ſehr reich an wiſſenſchaftlichem Beobachtungsmaterial, iſt doch ſo allgemein verſtändlich geſchrieben, das Thier- und Pflanzenleben wird jo an- ziehend und friſch geſchildert, und die Reiſe— erlebniſſe werden ſo angenehm erzählt, daß ſie auch bei dem großen nicht wiſſenſchaft— lichen Publikum Englands weite Verbreitung gefunden hat. Der erſte neue Abdruck wurde 1860 ausgegeben (Titelauflage, 519 S., 14 Holzſchn.) und Lyell gewidmet. 1839 erſchienen außerdem Bemerkungen über einen auf ſchwimmendem Eiſe in 160 ſüdlicher Breite geſehenen Felsblock (Journ. of the geographie. Soc. London. IX, p. 528 — 529), und über die parallelen Erdwälle des Glen Roy und anderer Theile von Lochaber in Schottland, nebſt einem Verſuch, ihren marinen Urſprung nachzuweiſen. (Philos. Trans. p. 39 — 82 und Edinburgh New Philo- sophical Journal XXVII, 1839, p. 395-403.) 1840 begann die Herausgabe des großen Werkes über die zoologiſchen Ergebniſſe der Reiſe um die Erde, 1843 war ſie beendigt. Der Titel lautet: The zoology of the voy- age of H. M. S. Beagle, under the command of Capt. Fitz Roy, during the years 1832 to 1836. Published with the approval of the Lords Commissioners of. H. M. Treasury. Edited and superintended by C. Darwin, naturalist to the expedition. Das Werk zerfällt in fünf Theile: I. Foſſile Säugethiere, von R. Owen mit einer geologiſchen Einleitung von Darwin. II. Säugethiere, von G. R. Water- houſe mit einer geographiſchen Einleitung von Darwin. III. Vögel, von J. Gould, mit Anmerk— ungen über ihre Lebensweiſe und Verbreitung von Darwin. IV. Fiſche, von L. Jenyns, mit Anmerk— ungen von Darwin. | potheſen angegriffen. V. Reptilien, von Th. Bell, mit An- merkungen von Darwin. Jeder einzelnen in dieſem Sammelwerk beſchriebenen Thierart hat Darwin einen Bericht über ihre Lebensweiſe und Verbreit— ung hinzugefügt. Die Regierung bewilligte 1000 Pfd. St., um einen Theil der Herſtell— ungskoſten zu decken. Die von Darwin mitgebrachten wirbelloſen Thiere, namentlich Inſekten, wurden in beſonderen Abhandlungen von Newman, Walker, Waterhouſe und White beſchrieben. Die von ihm in Süd— amerika und auf den Galäpagos-Inſeln ge— ſammelten Pflanzen beſchrieb J. D. Hooker, die von den Keeling-Inſeln beſtimmte Hens— low, die Kryptogamen Berkeley. Nichts von den Schätzen ging verloren, und was davon noch nicht bekannt geworden, iſt in den beſten Händen. Im Oktober 1841 erſchien die Beſchreib— ung einer merkwürdigen Sandſteinbarre bei Pernambuco an der Küſte von Braſilien (Lon- don Philosoph. Magaz. XIX. p. 257 — 260). 1842 eine Abhandlung über die Verbreit— ung erratiſcher Blöcke in Südamerika (in den Transact., of the Lond. Geol. Soc. VI, p. 415 — 432 und Geologie. Soc. Proceed. III, 1842, p. 425 — 430). 1842. Bemerkungen über die von den ehemaligen Gletſchern in Caernarvonſhire her— vorgebrachten Wirkungen und über die vom Treibeis transportirten Felsblöcke (Edinb. New Phil. Journ. XXXIII, p. 352 — 353). 1842 erſchien auch in London Dar- win's berühmtes Werk über den Bau und die Verbreitung der Korallenriffe, als erſter Theil der Geologie der Reiſe des Beagle (214 S., 3 Karten und Holzſchn. 89. Auch Geographic. Soc. Journ. XII, 1842, p. 115 — 119; Poggend. Annal. LXIV, 1845, S. 563-613). Die in dieſem Buche aufgeſtellte Theorie iſt jetzt allgemein adoptirt. Sie wurde anfangs von einigen Anhängern früherer Hy— Eine Widerlegung der Einwürfe findet ſich 1843 in den Bemerkungen zu Hrn. Mac- larens Abhandlung „über Korallen-Inſeln und Riffe, wie ſie Hr. Darwin beſchreibt“ (Edinb. New Philos. Journ. Vol. 34, p. 47-50). * Preyer, Charles Darwin. 1844 wurden treffliche geologiſche Beob— achtungen über die während der Reiſe des Beagle beſuchten vulkaniſchen Inſeln veröffent- licht (London, 175 S.): außerdem zwei zoo— logiſche Arbeiten: Beobachtungen über den Bau und die Fortpflanzung von Sagitta (Ann. Nat. Hist. XIII, p. 1—6 mit 1 Tafel und Ann. des Se. nat. I. [Zool.], 1844. p. 360 — 365; auch Froriep's Notizen XXX, 1844, Splt. 1—6) und kurze Beſchreibungen einiger Landplanarien, ſowie mehrerer im Meere lebender eigenthümlicher Arten, mit einem Bericht über ihre Lebensweiſe (Ann. of Nat. Hist. Vol. XIV, p. 241— 251 mit 1 Taf.). 1846. Ein Bericht über den feinen Staub, welcher oft auf Schiffe im atlantiſchen Ocean fällt (Geol. Soc. Journ. II. Lond. p. 26—30). 1846. Beobachtungen über die Geologie Südamerikas (London, 279 S.). Dieſes her— vorragende Werk, eine fernere Frucht der großen Reiſe, iſt mit dem 1842 über Korallen— riffe und dem 1844 über vulkaniſche Inſeln erſchienenen zuſammengebunden unter dem Titel: Geological observations by C. Dar- win (London, Smith, Elder and Comp. 1846) im Buchhandel. 1846 ferner: Ueber die Geologie der Falklands-Inſeln (Journ. of the Geol. Soc. Lond. II. p. 267274). 1848. Ueber die Wanderungen erratiſcher Blöcke von einem niederen auf ein höheres Niveau (ib. IV. p. 315-323). 1849 gab die Admiralität heraus: A Manual of scientific enquiry prepared for the use of officers in H. M. navy and travellers in general. Edited by S W. Herschel. 2. Aufl. 1851, 3. Aufl. 1859. Der geologiſche Theil dieſes Buches iſt von Darwin verfaßt. 1851. Analogie einiger vulkaniſcher Ge— ſteine mit Gletſchern rückſichtlich der Struktur . (Edinb. Royal Soc. Proceed. II., p. 1718). 1851. Eine Monographie der foſſilen Lepadiden oder geſtielten Cirripedien Groß— britanniens, gedruckt für die paläontograph. Geſ. (London, VI. u. 86 Seiten, 5 Tafeln, 40. Vergl. Geol. Soc. Jonrn. VI. 1850, p. 439 — 440). In dieſem Jahre begann zugleich die Herausgabe von Darwin's claſſiſchem Werke! über die lebenden Cirripedien oder Rankenfüßer, deren räthſelhafte Natur vor ihm von allen Syſtematikern, ſelbſt von Cuvier, durchaus verkannt worden war. Der Titel lautet: A monograph of the sub-elass Cirri- pedia with figures of all the species, 2 vols. printed for the Ray-Society, London. Der erſte Band enthält die Beſchreibung der Lepa— diden oder geſtielten Cirripedien (XII. u. 400 Seiten, 10 Taf.), der zweite 1854 erſchienene, die der Balaniden oder ungeſtielten Ranken— füßer, der Verruciden ꝛc. (VII. u. 684 Seiten, 30 Tafeln). 1854 erſchien noch die Darwin's Werke über dieſe merkwürdige Thierklaſſe vervoll— ſtändigende Monographie über die foſſilen Balaniden und Verrueiden Großbritanniens. Gedruckt De die paläontograph. Gef. in Lon— don (44 S., 3 Tafeln, 49). 1855. ehe das Vermögen der Eis- berge, in unterſeeiſche wellenförmige Flächen geradlinige, gleichgerichtete Furchen zu ritzen (Lond. Phil Magaz. X. p. 96-98 Aug.). 1857. Ueber die Wirkung des Meer— waſſers auf das Keimen von Pflanzenſamen (Journ. of Linnean soc. Lond. Vol. I. Bot.]. p. 130140). 1857. Ueber Schminkbohnen (Gardener's Chronicle 1857, Oct. 25). 1858. Ueber die Rolle, welche die Bienen bei der Befruchtung der Papilionaceen ſpielen, und über die Kreuzung der Schminkbohnen (Ann. nat. hist. Vol. II, p. 459-465). 1858. Der erſte Juli 1858 ift der Ge— burtstag der jetzt allgemein unter dem Namen des Darwinismus bekannten Theorie. An dieſem Tage wurden von Lyell und Hooker der Linné'ſchen Geſellſchaft in London vorgelegt: 1. Auszüge aus einem nicht zur Ver— öffentlichung beſtimmten Manuſeripte über die „Art“ von Darwin, welches 1839 ſkizzirt, 1844 abgeſchrieben und von Hooker geleſen, deſſen Inhalt darauf auch Lyell mitgetheilt wurde. Der erſte Theil behandelt die Ver— änderlichkeit der Organismen im cultivirten und wilden Zuſtande im Allgemeinen, und das zweite Capitel des Theiles, dem die vor— gelegten Auszüge entnommen ſind, die Ver— änderlichkeit der organiſirten Weſen im freien Zuſtande, die natürliche Züchtung, eine Ver— 3 348 gleichung der gezähmten Raſſen und wahren Arten. 2. Die Inhaltsangabe eines Briefes, welchen Darwin im Oktober 1857 an Aſa Gray in Boſton ſandte, und in welchem ſeine Anſichten wiederholt werden, zum Be— weiſe, daß ſie von 1839 bis 1857 unverän— dert blieben. 3. Eine Abhandlung von dem rühmlichſt bekannten Naturforſcher Wallace: Ueber die Tendenz der Varietäten, unbegrenzt vom urſprünglichen Typus abzuweichen. Sie wurde geſchrieben im Februar 1858 in Ternate (Molukken), und Darwin, dem Freunde und Correſpondenten des Verfaſſers, von dieſem zugeſchickt, damit er fie, wenn er fie hinreichend neu und intereſſant fände, Lyell zuſtelle. Nun zeigte es ſich, daß in dieſer genialen Arbeit ganz dieſelbe Theorie. entwickelt wird, welche Darwin ſchon vor 19 Jahren nieder— geſchrieben hatte. So hoch erachtete Darwin den Werth des Aufſatzes, daß er brieflich Lyellerſuchte, die Zuſtimmung von Wallace zur möglichſt ſchnellen Publication einzu- Lyell und Hooker erklärten ſich holen. hierzu bereit unter der Bedingung, daß Dar— win nicht, wozu er ſtark geneigt war, zu | Gunſten von Wallace ſein, ſowohl Lyell als Hooker ſeit vielen Jahren bekanntes Manuſeript von 1844 über denſelben Gegen— ſtand dem Publicum noch länger vorenthalte. Darauf hin überließ Darwin ſeine Papiere Hooker und Lyell zu beliebiger Benutzung, und ſo erſchienen im Auguſtheft (1858) des Journal of the proceedings of the Linnean Society in London folgende Schriftſtücke: 1. On the variation of organic beings in a state of nature; on the natural means of selection; on the comparison of domestic races and true species, by C. Darwin. p. 46 —50. Die wenigen Seiten enthalten in nuce | die ganze Darwin'ſche Theorie. 2. Abstract of a letter from C. Darwin Es. to prof. Asa Gray, Boston, U. S. dated Down, Sept. 5, 1857. p. 50—53. In ſechs Punkten werden hier einige der wichtigſten Sätze des Darwinismus wiederholt. 7 Preyer, Charles Darwin. part indefinitely from the original type, by Alfred Russel Wallace, p. 53—62, Es iſt erſtaunlich zu ſehen, wie hier ge— nau dieſelben Ideen, namentlich das Princip des Kampfes um das Daſein und der natür— lichen Züchtung, in durchweg ähnlicher Weiſe wie von Darwin entwickelt werden. Und doch arbeiteten beide Denker vollkommen un— abhängig von einander. 1859 wird allgemein als das Geburts— jahr des Darwinismus angeſehen, weil die vorläufige Mittheilung des Vorjahres nicht Vielen bekannt wurde. Das die neue Aera in der Naturgeſchichte begründende Werk führt den Titel: On the origin of species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life. Lon- don, John Murray, 8 “. Die erſte Auflage erſchien- am 24. Nov. 1859, die zweite, un— veränderte am 7. Jan. 1860 (IX u. 502 S.), die dritte, vermehrte, verbeſſerte und mit einer hiſtoriſchen Einleitung verſehene, im März 1861 (XX u. 538 S.), die vierte im Jahre 1866, eine fünfte verbeſſerte Auflage (XXIII u. 596 S.) wurde im Mai 1869, eine ſechſte (17. Tauſend) 1872 ausgegeben. Mehrere deutſche Auflagen ſind erſchienen, die erſten beiden von dem am 5. Juli 1862 verſtorbenen Bronn; die viel beſſeren folgenden wurden von Viktor Carus beſorgt. Charakteriſtiſch iſt es z. B., daß Bronn die wichtige Aeußer— ung Darwin's im 14. Kapitel: „Light will be thrown on the origin of man and his history“ in der Ueberſetzung fortließ, wäh— rend Carus mit großer Treue dieſes und die anderen Hauptwerke Darwin's überſetzt hat, Zwei franzöſiſche, zwei ruſſiſche, eine hol— ländiſche, eine italieniſche und mehrere amerika— niſche Ausgaben waren ſchon vor 1870 publieirt. Darwin betrachtet auch dieſes Werk nur als einen Vorläufer umfangreicherer Schriften, deren Veröffentlichung denn auch 1868 begon— nen hat (ſ. u.). 1862 gab Darwin ſeine merkwürdigen Unterſuchungen heraus über die verſchiedenen Einrichtungen, durch welche britiſche und aus— ländiſche Orchideen vermittelſt der Inſekten befruchtet werden, und über den Nutzen der N 3. On the tendeney of varieties to de- Kreuzung (London, Murray, 365 Seiten Preyer, Charles Darwin. mit vielen Holzſch.). Eine erſte deutſche Ueberſetz- ung veranſtaltete erſt Bronn, dann Carus. Dimorphie der Primula-Arten und deren merk— würdige ſexuelle Beziehungen (Journ. proc. Linn. Soc. Lond. Vol. VI. [Bot.], p. 77—96) und: Ueber die drei eigenthümlichen geſchlecht— lichen Formen von Catasetum tridentatum, | einer Orchidee im Beſitze der Lin no'ſchen Ge— ſellſchaft (ib. 151157). 1863. Ueber die Dicke der Pampas-For⸗ mation bei Buenos Ayres (Journ. Geol. Soc. ) 1863. Beobachtungen über den Hetero- morphismus der Blumen und deſſen Conſe— quenzen für die Befruchtung (Ann. des Sc. nat. XIX, 1863, [Bot.], p. 204—255. Dieſe franzöſiſche Abhandlung ſtammt jedoch nicht von Darwin ſelbſt). 1863. Ueber den ſogenannten Hörſack der Cirripedien (Nat. hist. review p. 115—116). Ferner im Journal of the proceedings of the Linnean society zu London (im: botani- ſchen Theil): 1863. Ueber die Exiſtenz von zwei ver— ſchiedenen Formen mehrerer Arten des Genus Linum und deren gegenſeitige ſexuelle Bezieh— ung (Bd. VII. S. 69— 83). 1864. Ueber die Geſchlechtsverhältniſſe der drei Formen des rothen Weiderichs (Bd. VIII. S. 169 - 196). 1865. Ueber die Bewegungen und Eigen— thümlichkeiten der Kletterpflanzen (Bd. IX, S. 1— 118). Dieſe Abhandlung erſchien auch für ſich im Buchhandel und zwar 1875 in zweiter Auflage. 1866. Notiz über den Ginſter (Cytisus scoparius) (Bd. IX. S. 358). 1867. Ueber die Beſchaffenheit und baſtard— artige Natur der illegitimen Nachkommen di— morpher und trimorpher Pflanzen (Bd. X, S. 393— 437), und über den ſpecifiſchen Unter— ſchied zwiſchen Primula veris, vulgaris und elatior und die Baſtard-Natur der gemeinen Schlüſſelblume (Bd. X, S. 437 — 454). 1868 erſchienen die erſten zwei Bände der alles Beobachtungsmaterial enthaltenden aus— führlichen Werke über die Selektionstheorie unter dem Titel: The variation of animals 349 and plants under domestication (London, John Murray, 2 Bde. — I. Bd. VIII u. 411 S. 1862 ferner: Ueber die zwei Formen oder mit 43 Holzſchn.; II. Bd. VIII u. 486 S.) Zweite Auflage 1875. In dieſem großartigen Werke ſind die Principien der Vererbung, des Rückſchlags, der Kreuzung, der Inzucht und der Züchtung überhaupt dargelegt, und es wird die Hypo— theſe der Pangeneſis wahrſcheinlich gemacht. In einem zweiten Werk ſoll die Verän— derlichkeit der Organismen im Naturzuſtand ausführlich begründet werden. Die indivi— duellen Verſchiedenheiten der Pflanzen und Thiere und jene etwas größeren, gewöhnlich erblichen Unterſchiede, ſollen unterſucht wer— den, welche man den Varietäten und geogra— phiſchen Raſſen zuzuſchreiben pflegt. Auch wird bei dieſer Gelegenheit gezeigt werden, daß die häufigſten und verbreitetſten Arten am ſtärkſten variiren, und die größten Genera die meiſten veränderlichen Species enthalten. Das Problem der Umwandlung von Abarten in Arten, d. i. die Steigerung der gering— fügigen Eigenthümlichkeiten, welche die Varie— täten kennzeichnen, zu erheblichen, die Species und Genera charakteriſirenden Merkmalen, na— mentlich auch die bewunderungswürdigen An— paſſungen jedes Weſens an ſeine verwickelten organiſchen und anorganiſchen Lebensbeding— ungen werden den Hauptinhalt des zweiten Werkes bilden. Der Kampf um das Daſein und die natürliche Züchtung werden ausführ— lich begründet. Zum Schluß ſollen die der Theorie entgegenſtehenden Bedenken gewürdigt werden, welche in drei Kategorien zu bringen ſind: erſtens die ſcheinbare Unmöglichkeit, daß in einigen Fällen ein ſehr einfaches Organ allmälig ſich zu einem höchſt vollkommenen Or— gan umgeſtaltet; dann die Inſtinkte; endlich das Fehlen der unzähligen, alle verwandten Arten mit einander verbindenden Uebergänge. In einem dritten Werke beabſichtigt Dar— win ſein Princip der natürlichen Züchtung zu prüfen, indem er mit Hülfe deſſelben vor ihm unvermittelt daſtehende Thatſachen (3. B. die Aehnlichkeit ſämmtlicher Wirbelthierembry— onen) erklärt, und eine natürliche genealogiſche Klaſſification der Thiere und Pflanzen aufſtellt. 1868. Ueber den baſtardartigen Charakter 350 der Nachkommen illegitimer Verbindungen zwiſchen dimorphen und trimorphen Pflanzen (Journ. Proceed. Linn. Soe. Vol. X. p. 393). 1869. Ueber die Befruchtung der Orchideen. (Ann. Magaz. Nat. Hist. IV. p. 141159.) 1870. Ueber die Lebensweiſe des Pam— pas⸗Spechtes. (Zool. Soc. Proceed. p. 705.) 1871 im Februar erſchien Darwin's Aufſehen erregendes Werk: Ueber die natür— liche Abſtammung des Menſchen und über die geſchlechtliche Zuchtwahl. Mit Unrecht hatte man bis dahin behauptet, er ſcheue ſich die wichtigſte Conſequenz aus ſeiner Theorie zu ziehen, es auszuſprechen, daß das Menjchen- | geſchlecht thieriſchen Urſprungs ſei; denn er hatte an zwei Stellen ſeines bereits 1868 er— ſchienenen Werkes (II. Bd. S. 57) es ſchon geſagt; hier wird der Gegenſtand von Grund aus beleuchtet und mit aller Entſchiedenheit die Folgerung vertreten. Die 2. Auflage (das 10. Tauſend) erſchien 1875. 1872 gab Darwin ſein Werk: Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei Men— ſchen und Thieren heraus (London, Murray, 374 S. mit vielen Abbildungen; 1875 erſchien davon das neunte Tauſend). i 1873. Ueber den Urſprung gewiſſer In— ſtinkte. (Nature VII. p. 417.) 1873 ferner: Ueber die Männchen und complementären Männchen gewiſſer Cirripe— dien und über rudimentäre Strukturen. Ebenda S. 431. Außerdem: Ueber Wahrnehmung bei niederen Thieren (Zoologist VIII S. 3488). 1875 brachte wieder ein höchſt bedeuten— des Werk phytophyſiologiſchen Inhalts: „Die inſektenfreſſenden Pflanzen“ (London, Murray, 462 S. mit Abbildungen). Hier zeigt ſich der Verfaſſer als Experimentator erſten Ranges auf einem neuen Gebiet. 1876 erſchien das Werk über die Kreuz— und Selbſtbefruchtung der Pflanzen, in welchem auf Grund höchſt ausgedehnter Verſuchs-Reihen natürliche Weiſe entſtanden ſind und im der Nachweis geliefert wurde, daß für die meiſten Pflanzen Kreuzung vortheilhafter als Selbſtbefruchtung iſt. 1877 erſchien das anregende Eſſay: „Bio— Preyer, Charles Darwin. 1877 faßte Darwin ſeine in den Jahren 1862 — 1868 erſchienenen Arbeiten über den Di- und Trimorphismus der Pflanzen unter Aufnahme zahlreicher neuer Beobachtungen zu ſeinem Profeſſor Aſa Gray gewidmeten Werke über die verſchiedenen Blüthenformen an Pflanzen der nämlichen Art zuſammen. Ich ſchließe hiermit das Verzeichniß der Schriften Darwin's im Bewußtſein, daß es zwar nicht ganz vollſtändig iſt — er ſelbſt beſitzt kein vollſtändiges Verzeichniß, — aber gewiß, daß durch daſſelbe die Forſcherthätigkeit des Verfaſſers beſſer als durch Lobpreiſungen einzelner Werke kund— gethan wird. i Das Hauptwerk bleibt immer die „Origin of species,“ welchem die meiſten der ſpäter erſchienenen ſich erläuternd anreihen. Nirgends — auch in England nicht — hat die Darwin'ſche Theorie mehr Aufſehen erregt, mehr Widerſpruch und mehr Beifall gefunden, als in Deutſchland. Eine wahre Fluth von Schriften iſt durch ſie hervorgerufen worden. An mehreren deutſchen Univerſitäten wurde bereits der Darwinismus als beſon— deres Colleg Studirenden aller Facultäten bei überfüllten Auditorien vorgetragen. In der That, die Zoologie und Botanik die Anatomie und Embryologie werden nicht allein von ihr betroffen, die Ethnologie und Anthropologie, die Philoſophie, namentlich die Pſychologie können ihrem umwälzenden Einfluß ſich nicht entziehen. Das große Problem, wie die jetzt herr— ſchenden Religionen und Sittengeſetze auf Laufe von Aeonen ſich auf natürliche Weiſe allmälig geſtaltet haben, dieſes von den graphie eines kleinen Kindes“ (Mind. Nr. 7. S. 285— 294, deutſch in „Kosmos“, Bd. J. S. 367 — 376). vergangenen Jahrtauſenden unſerer Zeit überlieferte Räthſel kann nicht entſiegelt werden ohne den — Darwinismus. Das verföhnende Element in der Darwinikifhen Weltanſchauung. Ein Wort zum Frieden von der Redlaktion. ; fu dem Tage, an welchem der Begründer der neuen Weltan— € 1052 ſchauung ſein ſiebenzigſtes Lebens— jahr vollendet, dürfte es nicht unangemeſſen ſein, einen Blick auf die bisherigen Erfolge ſeines Refor— mationswerkes zu werfen, ſelbſt auf die Gefahr hin, daß dieſes Unterfangen einem Triumphzuge gleichen könnte, denn auf eine Jubelfeier iſt es dabei ohnehin abgeſehen. Noch nicht zwanzig Jahre find dahin ge- gangen, ſeit im November 1859 das grund— legende Werk Darwin's erſchien, und ſchon können wir unſeren denkenden Zeit- genoſſen zum Ruhme nachſagen, daß die darin ausgeſprochenen Gedanken einen faſt vollſtändigen Sieg errungen haben, wenn nicht über die Maſſen, ſo doch, was ſchwerer wiegt, über die urtheilsfähigſten Geiſter der Zeit. Wenn die Sonne des Morgens empor ſteigt, ſo wird der goldene Strom ihres Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. Lichtes zuerſt nur von den Bergwipfeln, den Thurmſpitzen und hervorragenden Gebäuden einer Stadt aufgefangen; ſie erſtrahlen in herrlichſter Farbengluth, während die Häuſer und das Thal noch im verhüllenden Nebel— ſchatten liegen. Allmälig dringt dann das Licht immer tiefer, und endlich durchleuchtet es alle Gaſſen. So wurde die Tragweite der Darwin'ſchen Geſetze zuerſt nur von wenigen hervorragenden Geiſtern erfaßt, die hoch genug ſtanden, um keine Vorurtheile, keine Mißgunſt zu nähren, während die Menge unten noch im tiefen Schlafe lag oder vornehm die neuen Auffſtellungen belächelte. Man braucht unter jenen älteſten Anhän— gern nur die Namen Lyell, Hooker, Huxley, Gegenbaur, Carus, Häckel, Fritz Müller, Cotta, Preyer, O. Schmidt, Helmholtz und Du Bois -Reymond zu nennen, und man hat nicht nöthig, dieſer Liſte, die ſich noch um viele Namen erſten Ranges 46 N 2 352 vermehren ließe, etwas Weiteres hinzuzu— fügen. Schwierigere Kämpfe als in den höhe— ren Aetherregionen des Geiſtes hatte das neue Licht in den mittleren Schichten zu beſtehen, und hier iſt ihm der über kurz oder lang zweifelloſe Sieg nichts weniger als leicht gemacht worden. die wahrſcheinliche Urſache dieſer eigenthüm— lichen Erſcheinung etwas näher. Eine aus dem angewachſenen Strome der neueren Forſchungsreſultate auftauchende neue Welt- Widerſtandes, zu denen ſich der aktive ſeitens anſchauung hat natürlich zunächſt die Mein— ung aller Derer gegen ſich, die ihre allge— meine und wiſſenſchaftliche Bildung in einer mehr oder weniger zurückliegenden Epoche empfangen haben, deren Schlüſſe auf an— dere Grundlagen gebauet ſind, und die mit einer fertigen, abgeſchloſſenen Weltanſchauung das Fremde abwehren, ohne Begierde, es zu prüfen und genauer kennen zu lernen. Ihre Gedanken bewegen ſich in feſten, längſt geſchloſſenen Cirkeln, und vermöge der Centrifugalkraft ihrer Kreisſchwingungen wird jeder neue, von Außen kommende Gedanke wieder hinaus— geworfen, wie die Schiffstrümmer aus dem Maälſtrom. Will ſich Jemand Mühe geben, ſie zu überzeugen, ſo antworten ſie mit dem berüchtigten Worte des Abbe de Vertot, als man demſelben neue Materialien für ſeine Geſchichte der Belagerung von Valette anbot: „Mon siege est fait.“ Auf Deutſch nennt man es wiſſenſchaftliche Arbeitsſcheu und Denkbequemlichkeit. Forſcher bleibt ſtets unfertig und zieht mit Leſſing das unaufhörliche Ringen dem Beſitze einer geträumten Wahrheit vor. Aber mit jener apathiſchen Armee der „Fer— tigen“ iſt der Kampf niemals ein leichter geweſen, denn ſie darf ſich auf eins der wirkſamſten phyſikaliſchen Geſetze ſtützen, auf Betrachten wir winismus, und beſonders ſeine auffallende Benachtheiligung ſeitens der von Redakteuren Nur der wahre Das verſöhnende Element in der Darwiniſtiſchen Weltanſchauung. das Geſetz der Trägheit. Und ihre Wider— ſtandsfähigkeit iſt nicht zu unterſchätzen, da ſich die Anführer, Bannerträger und Flügel— männer dieſer alten Garde meiſt in einfluß— reichen geſellſchaftlichen Stellungen ſowohl der Regierung als der Preſſe und des Lehr— faches befinden. Daher erklärt ſich die große Langſamkeit der erſten Fortſchritte des Dar— der älteren Schule geleiteten Preſſe. Dieſe großen Hinderniſſe des paſſiven einer übel berathenen Theologie geſellte, machen den nicht mehr zweifelhaften Sieg der neuen Weltanſchauung nur um ſo glor— reicher. Zwar wird ſie jene oben charak— teriſirte „alte Garde“ niemals beſiegen, denn dieſe bringt das Wort, mit welchem die franzöſiſche Garde bei Waterloo die Waffen ſtreckte: „La Garde meurt et ne se rend pas!“ wieder zu Ehren, aber Alles das zeigt, wie falſch es iſt, den Darwinis— mus einer Mode zu vergleichen, die heute von Paris kommt und morgen auf allen Straßen paradirt, um ebenſo ſchnell zu ver— ſchwinden. Dieſer hämiſche Vorwurf, den man ihm oft genug gemacht hat, paßt nur auf Aeußerlichkeiten, eine neue Weltanſchau— ung aber beruht auf einer tief innerlichen Umwälzung, und die braucht viel Zeit, um dauerhaft zu werden. So hat die aſtro— nomiſche wie die religiöſe Reformation viele Jahrzehnte gebraucht, um Fleiſch und Blut zu werden, und der Darwinismus hat ihnen gegenüber nicht die mindeſte Urſache, ſich zu beklagen. Nach einem Naturgeſetze ge— hört den Minoritäten, die eine Wahrheit vertreten, die Zukunft, und wenn jene Garde ſich auch nicht ergiebt, ſo ſtirbt ſie doch einmal aus, und ein neues Geſchlecht, das, von keinen alten Geſpenſtern beunruhigt, Das verſöhnende Element in der Darwiniſtiſchen Weltanſchauung. 353 unbefangen annimmt, was ihm vernünftig und aufnehmenswerth erſcheint, blüht in— zwiſchen heran. Seine Nachkommen erben dermaleinſt die Dispoſition, nach neuen Nor— men zu denken, bereits körperlich von ihren Vätern. Bei einer beſondern Erſcheinung dürfen wir nicht vorübergehen, ohne eine Erklär— ung zu verſuchen: Wie es nämlich kommen mag, daß auch einige Größen der Wiſſen— ſchaft, von denen man doch nicht annehmen kann, daß ſie ebenfalls in Cirkeln denken, dem Darwinismus feindlich gegenüberſtehen? Es ſind das meiſt ſolche Forſcher, die bis dahin in ihrem Kreiſe einer abſoluten Auto— rität genoſſen, wie der verſtorbene Agaſſiz, Virchow, de Quatrefages und An— dere. A gaſſiz wurde nicht müde zu be— haupten, Darwin habe ihm ſeine Ent— deckungen gleichſam escamotirt, aber ſie da— bei mißverſtanden, und de Quatrefages würde den Darwinismus als die größte Entdeckung unſeres Jahrhunderts preiſen, wenn er — ſie ſelbſt gemacht hätte. Ver— ſteinert und ſtarr rückwärts blickend, wie einſt Loth's Weib auf die verlorene Heimath, ragen dieſe Salzſäulen der Wiſſenſchaft nun— mehr einſam und fremd in unſerer ſchnell— wandelnden Zeit empor, Denkmäler der Vorzeit, welche die beinahe ſchon Mühe hat zu begreifen. Am leichteſten wird es uns, diejenigen Gegner zu entſchuldigen, mit denen der härteſte Zuſammenſtoß zu befürchten war, die Theologen und Buchſtabengläubigen. Niemals ſchien — der Schein trügt fo oft! ein jäherer Bruch mit den alten Traditionen eingetreten zu ſein, als dieſer, niemals glaubte man vor einem Riſſe zu ſtehen, der tiefer klaffte und deſſen Ueber— ſchreitung ſo viel perſönlichen Muth und geiſtige Klarheit verlangte. Vor eine ſolche heutige Generation Kluft gelangt, verlacht man nicht ſeinen mit Schwindel behafteten Reiſegefährten, der einen kühnen Sprung zu wagen nicht im Stande iſt: man bietet ihm die Hand, um ihm herüber zu helfen, und dies ſoll hier dadurch verſucht werden, daß im Darwinis— mus ein verſöhnendes Element nachgewieſen wird, worauf ſich alle Parteien die Hand reichen können. Doch ehe wir darauf näher eingehen können, haben wir noch einen kleinen Streit mit unſeren eigenen Parteigenoſſen und beſten Freunden beizulegen. Von der Ueberzeugung durchdrungen, daß Beſcheidenheit, Vorſicht und Zurückhalt— ung vor Allem des Forſchers unzertrenn— liche Begleiter ſein müſſen, hören wir von den wärmſten Anhängern Darwin's häufig ſagen, daß ſeine Lehre doch eben immer nur eine von dem vollſtändigen Be— weiſe noch weit entfernte „Theorie“ ſei.“) Auf die Gefahr hin, zu den Heißſpornen geworfen zu werden, müſſen wir bekennen, daß uns das als eine ſehr übertriebene Beſchei— denheit erſcheint. Zunächſt muß hier wohl gefragt werden, ob der unzufriedene Selbſt— kritiker nicht am Ende nur bei ſeinen Wor— ten eine jener Ergänzungen der Dar— win'ſchen Theorie im Auge hatte, die, wie z. B. die geſchlechtliche Zuchtwahl, in ihrer Tragweite vielfach angefochten werden, aber auch bei ihrer etwaigen Widerlegung den eigentlichen Schwerpunkt der Lehre gar nicht in Mitleidenſchaft ziehen würden. Dieſen bildet das Princip der natürlichen Ausleſe oder das Ueberleben des Paſſendſten, und darin liegt abſolut nichts Hypothetiſches, ſondern nur ein einfacher logiſcher Schluß, eine mathematiſche Nothwendigkeit. Die Erfahrungsthatſache, daß auf unſerem Pla- neten eine Ueberproduktion ſtattfindet, ohne welche das thieriſche Leben, ſo wie es ) Vergl. Kosmos, Bd. III. S. 468. 354 uns gegenüber tritt, nicht möglich wäre, und der logiſche Schluß, daß im Allgemei— nen nicht die Unpaſſendſten, ſondern die Paſſendſten überleben müſſen, bilden das ſolideſte Fundament, welches jemals einer neuen Lehre gelegt worden iſt. Die eigentlichen Darwin'ſchen Geſetze ſchließen ſomit weder Hypotheſe noch Theorie ein, dieſe kommen erſt bei ihrer Anwendung auf die Descendenz-Theorie und deren Vorausſetzung, die Veränderlichkeit der Arten, hinzu. Die Veränderlichkeit der Pflanzen und Thiere wird heute von den erklärteſten Gegnern des Darwinismus nicht mehr be— ſtritten; es hieße auch Augen und Ohren verſchließen und den Kopf wie der ver— läumdete Strauß in den Sand ſtecken, wenn man eine ſolche auf Schritt und Tritt wahr— nehmbare, durch Tauſende eclatanter Fälle erwieſene Thatſache leugnen wollte. Man leugnet daher kluger Weiſe nur, daß dieſe kleinen Abweichungen ſich jemals zu Ab— ſtänden ſummiren könnten, wie der zwiſchen Schaf und Ziege, Pferd und Eſel, aber man vergißt, daß es ſich hierbei nur um das Problem der Sorites handelt, um die Frage, beim wievielten zugelegten Körnchen ein Häufchen zum Haufen, eine Varietät zur Art wird. Logiſch gedacht hat der Gegner das Spiel bereits in dem Augen— blicke verloren, in welchem er die geringſte Abänderungsfähigkeit der Organismen zu— geſtand. a 1 Alſo nicht die Darwin'ſchen Geſetze ſind unbewieſen, ſondern die Descendenz— Theorie, welche ſie erklären wollen. Aber Denen, die ſich nur bewieſenen Thatſachen beugen wollen, müſſen wir im Voraus ſagen, daß die Descendenz-Theorie niemals vollſtändig bewieſen werden wird, noch ihrem Weſen nach bewieſen werden kann, und daß demjenigen, welchem die ungehenere An— Das verſöhnende Element in der Darwiniſtiſchen Weltanjchauung. zahl der heute vorliegenden Gründe noch nicht ausreicht, auch keine genügen werden, welche die Forſchung jemals beibringen kann. Wir haben, um ein ganz analoges Beiſpiel zu wählen, geſehen, daß man noch in un— ſeren Tagen, mit einem gewiſſen Anſchein von Berechtigung, die Bewegung der Erde um die Sonne bezweifeln konnte, denn ganz richtig ſagte der vor einigen Monaten heim— gegangene Paſtor Knaak: „Unſere Sinne ſind „Lügenſchmiede“, die aſtronomiſchen Thatſachen laſſen ſich auch mit anderen Vorausſetzungen erklären, und Niemand hat von einem Standpunkte außerhalb unſeres Syſtems die Bewegung der Erde um die Sonne geſehen, etwa wie wir die Umkreiſung des Jupiter von ſeinen Monden beobachten können.“ Wenn nun die aſtronomiſchen Be— obachtungen auch alle Tage die Theorie des Copernikus beſtätigen, wenn 999999... Gründe vorliegen, ſie für wahr zu halten, der letzte und ſicherſte, die Selbſtbeobachtung, welche die Zahl abrunden und vollſtändig machen würde, fehlt und wird allezeit fehlen. Gerade ſo iſt die Zahl der für die Um— wandlungstheorie ſprechenden Gründe eine unendlich, ja überwältigend große, denn jedes ausgeſtorbene, jedes lebende Weſen ſteuert dazu bei, ſeitdem das Studium der ver— gleichenden Anatomie zu ſeinem Rechte ge— kommen iſt, und namentlich ſeitdem Häckel die Wichtigkeit eines vergleichenden Studiums der Entwickelungsgeſchichte betont hat. Aber der Wahrſcheinlichkeits-Bruch, wenn man die Wahrheit gleich 1 ſetzt, bleibt auch hier 0, 999999. . ., denn der vollendende Beweis, durch Selbſtbeobachtung einer Artumwand— lung, kann niemals, wenigſtens nicht als Vorleſungsverſuch geliefert werden. Und wenn man ihn liefern könnte, würde man von jenen Gegnern, die ſich der erdrücken den Wucht der bisherigen Funde und Ent— — Das verſöhnende Element in der Darwiniſtiſchen Weltanſchauung. 355 deckungen nicht beugen mochten, wahrſchein- lebenden ſehr ähnlich, aber nicht gleich ſind, lich jenes Wort zu hören bekommen, welches einſt Volta bei einer paſſenderen Gelegen— heit brauchte: „Ich hab' es geſehen, aber ich glaube es nicht!“ Wie es Häckel ſo geiſtvoll in ſeiner Münchener Rede ausgeführt hat, kann man für hiſtoriſche Thatſachen, die in einer fernen Vorzeit geſchehen ſein ſollen, fogen. exakte Beweiſe überhaupt nicht beibringen. So bezweifeln z. B. viele Geſchichtsforſcher der Gegenwart, daß Rom jemals Könige der Namen Romulus, Numa u. ſ. w. beſeſſen habe, und Einer von uns hat früher einmal den Verſuch unternommen, zu zeigen, daß ſich in den Mythen von dieſen Kö— nigen wahrſcheinlich Erinnerungen an la— tiniſche und ſabiniſche Prieſterhäuptlinge er— halten haben. Selbſt der Numa der Ge— ſchichte iſt nur ein Schamane, und es iſt wahrſcheinlich gemacht worden, daß von Romulus, Remus, Allatius, Tullus Hoſti— lius ganz daſſelbe gilt. Auch wenn wir ſo— gar Berichte von Zeitgenoſſen über hiſto— riſche Perſonen haben, ſo ſind das keine Zeugniſſe, wie ſie die Wiſſenſchaft verlangt, was müßten wir ſonſt Alles für wahr hin— nehmen! Gewißheit kann uns alſo nur die eigene Prüfung der Thatſachen geben, und da ſind wir mit der eigentlichen Weltgeſchichte vielfach beſſer daran, als mit der Menſchen— geſchichte, die jenen Namen zu Unrecht uſur— pirt hat. Denn in jener ſpielen nur die— jenigen Numa's und Conſorten eine Rolle, deren Ueberreſte als klaſſiſche Selbſt-Zeugen vorhanden ſind, und hier ergiebt ſich nun, kurz recapitulirt, Folgendes: In den oberſten Schichten, wenn wir von der Gegenwart, als dem einzig ſicheren Ausgangspunkte, in die Grüfte der Vergangenheit hinabſteigen, finden wir die Reſte einer großen Anzahl von Pflanzen und Thieren, die den heute fo daß man fie unwillkürlich für die Ver— treter, für die Vorgänger und Ahnen der heutigen, zu ihrer Zeit noch fehlenden Lebe— welt anzuſehen geneigt iſt. So hat man die Vorgänger unſerer meiſten Waldbäume in dieſen jüngſten Schichten gefunden, oft nur ſehr wenig, aber doch immer erkennbar ver— ſchieden, und ebenſo den jetzigen Thieren nah verwandte Vertreter aus allen Klaſſen. Steigen wir etwas tiefer hinunter in den Schichten, deren langſame Bildung in un— endlichen Zeiträumen von Niemanden be— zweifelt wird, ſo wird die Mehrzahl der Bürger beider Reiche immer fremdartiger, die in der lebenden Welt durch Formver— wandte vertretenen Geſtalten ſeltener, die Säugethiere ſind endlich faſt nur noch durch die tieferſtehenden Beutelthiere, die Vögel durch gezähnte, den Reptilien äußerſt nahe ſtehende Zwiſchenformen vertreten. Noch tiefer hinab verſchwinden auch dieſe beiden Thierklaſſen, endlich alle Wirbelthiere bis auf die Fiſche, in deren Bildung der ver— gleichende Anatom nur mit Mühe den all— gemeinen Bau der höheren Wirbelthiere wiederfindet. Bei den Pflanzen werden gleichfalls die Organiſationen immer ein— facher, je weiter man in die Vorzeit hinab— ſteigt, und endlich befinden wir uns bei dieſer Tieffahrt unter lauter blumen- und ſamenloſen Gewächſen. Bei dieſer Quellenforſchung in den Ur- kunden der Vorzeit drängt ſich ſomit un— abweisbar die Idee einer das geſammte Reich der Lebeweſen beherrſchenden Entwickelung vom Niederen zum Höheren auf, und da— mit für den logiſchen Denker gar kein Zweifel bleibe, hat man von Thieren, die in den meiſten Epochen der Vorzeit reichlich ver— breitet waren, ganze Formenreihen ausge— graben, welche, wie bei den Hufthieren, voll— 356 TE Das verſöhnende Element in der Darwiniſtiſchen Weltanſchauung. ſtändige Stammbäume, wie ſie nur je aus Athanaſius Kircher künſtliche Alter— den Endgliedern und einigen Mittelformen auf dem Papier conſtruirt werden konnten, in natura aufweiſen. Solchen Natur— forſchern und Philoſophen, welche die Be— weiskraft der paläontologiſchen Funde für die Wahrheit der Descendenz-Theorie noch immer nicht anerkennen wollen, kann man bei dem jetzigen Zuſtande der Forſchung in der That nur rathen, ſich ihr Lehrgeld wiedergeben zu laſſen, und wenn auf dieſe Thatſachen hier mit einigen weiteren Worten eingegangen wird, ſo geſchieht es nur des Laien wegen, der, in religiöſen Vorurtheilen befangen, nicht wagt, dieſe Dinge mit un— befangenem Auge zu betrachten. Man hat ihn gelehrt, Gott habe die Welt mit Allem was darauf lebt, in ſieben Tagen geſchaffen; nun ſieht er, daß die Schöpfung durch unendliche Zeiträume fort— gedauert hat, wenn er nicht den Salto mor— tale machen will, zu glauben, ſie ſei vor ungefähr ſechstauſend Jahren mit allen ihren Schichten und Verſteinerungen darin auf einmal fertig erſchaffen worden. Folgen wir einen Augenblick dieſem letzteren abſur— den Schluß und fragen uns, welchen Zweck denn wohl die Erſchaffung dieſer Foſſilien, deren Aufeinanderfolge ſo deutlich die Ent— wickelung zum Vollkommneren zeigt, gehabt haben könnte? Dem Bibelgläubigen, der das Gewicht dieſer Thatſachen begriffen hat, würden ſich nur zwei Erklärungen bieten, von denen die eine noch unwürdiger wäre, Er müßte nämlich ent⸗ als die andere. weder annehmen, die Foſſilien ſeien Ver— ſuchsmodelle, um immer vollkommnere Or— ganismen hervorzubringen, oder gar, ſie ſeien mit Abſicht in der beſtimmten Stufen- | folge dem Erdſchooße einverleibt worden, um dadurch dermaleinſt die Ungläubigen irre zu führen. Wie einſt der Jeſuit thümer vergrub, um einem eifrigen Archäo— logen dadurch einen Fallſtrick zu legen, ſo ſei der gewaltige Erdbau nichts als ein großartig angelegter Jeſuiten-Betrug, um die Kinder der Weisheit zu Narren zu machen. In der That, auf ſolche Irrwege würde das gequälte Menſchenhirn gedrängt werden, wenn es an der einfachen, natürlichſten Er— klärung vorüber gehen wollte und doch die Thatſachen anerkennen müßte. Aber glück— licher Weiſe kann es dieſe Thatſachen an— erkennen, ohne die geringſte ſeiner religiöſen Empfindungen Preis zu geben, und dies iſt der Punkt, wo Darwin als Verſöhner und Vermittler der verſchiedenſten Welt— anſchauungen geprieſen zu werden verdient, weil er die bedrückten Seelen erlöſt und ihnen den Weg zeigt, auf welchem ſie, ohne unwahr gegen ſich ſelbſt zu werden, Ruhe und Frieden finden können. Es iſt richtig, die ſtarken Geiſter preiſen als ſein größtes Verdienſt, die Möglichkeit einer mechaniſchen Entſtehung der an Zweckmäßigkeiten und Schönheiten reichen Welt gezeigt zu haben, aber nicht Jedem iſt es gegeben, ein ſtarker Geiſt zu ſein, und auch den übrigen iſt er als Prophet erſchienen. Ueberhaupt würde man auf beiden Seiten gewinnen, wenn man die Frage nach den letzten Urſachen dem individuellen Gefühle überlaſſen wollte. Diejenigen, welche in der Unendlichkeit der Welt einen Stützpunkt, ihren andern Pol in einem höchſten Weſen ſuchen, müſſen es Darwin nicht weniger aufrichtig Dank willen, daß er fie von der unwürdigen Bor- ſtellung befreit hat, daſſelbe als einen Töpfer oder Automaten-Drechsler zu betrachten, indem er ihnen einen Weg zeigte, auf wel— chem die Vollendung der Schöpfung nach denſelben Geſetzen gedacht werden kann, nach denen ſie heute noch beſteht. Vor hundert er —— Das verſöhnende Element in der Jahren bereits nannte Erasmus Dar— win, der in ſo vielen Richtungen der Vor— kämpfer ſeines Enkels war, die ſchon ihm geläufige Idee, daß alle Dinge der Natur in einem Fortſchritte zu immer größerer Vollkommenheit begriffen ſeien, „eine der Würde des Schöpfers aller Dinge ange- meſſene,“ und in derſelben Auffaſſung fin— den zahlreiche und namhafte darwiniſtiſche friedigung. Aber im Weſentlichen ähnliche Ideen | find ſchon von dem Kirchenvater Auguftin ausgeſprochen worden, und es iſt ganz in der Ordnung, daß verſtändige Geiſtliche der Neuzeit auf dieſem Gebiete ein Compromiß zwiſchen Glauben und Wiſſen verſucht haben. Hervorragende Mitglieder des Proteſtanten— Vereins, wie der Stadtvicar Haſenklever in Karlsruhe und der neuerdings viel ge— nannte Prediger Schramm in Bremen, ſowie andere Geiſtliche, die vor der Wiſſen— ſchaft Reſpekt haben und nicht vergeſſen, was ihren Gemeinden vor Allem noth thut, haben in dieſem Sinne mit dem Darwinis— mus bereits Fühlung geſucht und in Schrift und Wort gezeigt, daß er einer echten Re— ligioſität durchaus mit keinen feindlichen oder zerſtörenden Tendenzen droht. Uns ſcheint, daß dieſe Männer ihre Pflicht, die Religion mit der Wiſſenſchaft auszuſöhnen, wohl be— griffen haben, denn nichts kann, wie wir ſogleich ausführen werden, gefährlicher ſein, als die Religion von dem Fortſchritte aller anderen Disciplinen auszuſchließen, ſie zu einer Todtenſtarre und ewigen Ruhe zu verurtheilen, und die Kluft zwiſchen Buch— ſtabenglauben und Vernunft noch zu erweitern. Hier nun dürfen wir uns eine kleine Erholungspauſe geſtatten, um uns zu freuen, daß nach einer ſo kurzen Zeit bereits die Kirche, wenn auch noch ſo vereinzelt, An Darwiniſtiſchen Weltanſchauung. 357 ſtalten macht, der neuen Weltanſchauung ihre Pforten zu öffnen. Wie unendlich viel länger hat es gedauert, bevor ſie die Be— wegung der Erde anerkannte, die von un— ſerer Orthodoxie noch heute zuweilen geleug— net wird. Wie der erſte Schritt immer der ſchwerſte bleibt, wird ſie viel weniger Zeit bedürfen, um die Dar win'ſche Theorie zu aſſimiliren, als fie für die „Revolution“ Forſcher der Jetztzeit Erhebung und Bes | des Frauenburger Domherrn gebraucht hat, und genau beſehen, war jene Lehre auch wirklich bedenklicher für gewiſſe kirchliche An— ſchauungen, als die Darwin'ſche. Denn wie ſchon angedeutet, hat der Gedanke einer mittelbaren Schöpfung der lebendigen Welt nicht nur nichts das religiöſe Gefühl Ver— letzendes, ſondern vielmehr alle Ausſicht, binnen Kurzem allgemein als die würdigſte und erhabenſte Auffaſſung des Schöpfungs— werkes geprieſen zu werden. Wenn dieſer Zeitpunkt eingetreten ſein wird, ſo daß das Licht auch in die Gaſſen leuchtet, dann wird man ſich verwundern, gegen eine ſo natür— liche, folgerichtige und unſchuldige Lehre ſo lange geeifert zu haben. Hier nun drängt ſich unabweisbar die Frage auf, welche Häckel in München zur Sprache gebracht und dabei ſo viel Miß— verſtändniſſe eingeerntet hat: Soll die Ent— wickelungslehre in der Schule vorgetragen werden? Natürlich hat man mit der wohl— feilſten Spötterei ſofort die Affenfrage in den Vordergrund geſchoben und mit Em— phaſe gerufen: Nein, die Entwickelungslehre gehört nicht in die Schule. Man hat einige hochverdiente Schulmänner ſogar wegen einzelner darwiniſtiſcher Aeußerungen oder Schriften in Anklagezuſtand verſetzt“) und der Miniſter Falk hat in den Kammern geſagt: man werde doch nicht von ihm den— ken, daß er jemals notoriſche Darwiniſten ) Vergl. Kosmos, Bd. IV. S. 234. in naturwiſſenſchaftlichen Fächern der mitt- leren Unterrichtsanſtalten anſtellen werde! Dieſe Schwierigkeit dürfte ſich von ſelbſt auflöſen, da es bald keine anderen Natur— forſcher mehr geben wird, wie es ſchon heute in Deutſchland keinen namhaften Zoo— logen mehr giebt, der nicht Darwinianer wäre. In einer der letzten Verſammlungen der Berliner Gymnaſial- und Realſchul— Lehrer brachte Profeſſor Schwalbe die Nothwendigkeit zum Ausdruck, der Geologie einige Unterrichtsſtunden einzuräumen, da ſie offenbar ein wichtiger Faktor der allge meinen Bildung geworden ſei, und mehrere überall geſchätzte Disciplinen, wie die Geo— graphie, Mineralogie, Botanik und Zoologie derſelben als Grundlage kaum zu entbehren vermöchten. Wenn dieſer wohlbegründete Mahnruf geneigte Ohren findet, ſo wird ſich von der Geologie und Paläontologie aus die Entwickelungslehre von ſelbſt in den Schulen einbürgern, und wir wünſchen von Herzen, unſere Regierung möge ſich hierin die öſterreichiſche zum Vorbild nehmen, die einen vortrefflichen, durchaus auf der neuen Weltanſchauung beruhenden „Leitfaden der allgemeinen Erdkunde“ von Hann, Hochſtetter und Pokorny unbeanſtan— det an ihren Lehranſtalten als Schulbuch benutzen läßt. Natürlich muß, wie überall, auch hier dem Takte der Pädagogen anheim— geſtellt werden, aus dieſen Disciplinen das für die Altersſtufe der Zöglinge geeignete Material herauszugreifen, und eine ſorg— fältige Auswahl iſt ja ſelbſt für den Re— ligions- und Geſchichtsunterricht nothwendige Vorbedingung. Auch hat die Entwickelungs— lehre nichts ſo Bedenkliches, was nicht auch der reiferen Jugend vorgelegt werden könnte, und der fürchterlichſte Punkt, die Verwandt ſchaft des Menſchen mit den Thieren, iſt von einem der frömmſten und reinſten Geiſter Das verſöhnende Element in der Darwiniſtiſchen Weltanſchauung. aller Zeiten, von Pascal, geradezu als höchſt werthvolles pädagogiſches Thema em- pfohlen worden. „Es iſt gefährlich,“ ſagte er, „den Menſchen zu deutlich merken zu laſſen, wie ſehr er den Thieren gleicht, ohne ihm gleichzeitig ſeine Größe zu zeigen. Es iſt ebenſo bedenklich, ihm ſeine Größe ohne ſeine Niedrigkeit allzuſehr einzuprägen. Es iſt noch bedenklicher, ihn über Beides in Unwiſſenheit zu laſſen. Aber es iſt ſehr vortheilhaft, ihm Beides neben einander zu zeigen.“ Zu allen Zeiten wird der Lehrer der Naturgeſchichte das religiöſe Gefühl zu ſchonen haben, denn es iſt keineswegs zu verkennen, daß gewiſſe Glaubensſätze, die weder bewieſen noch widerlegt werden können, zu einem glücklichen Leben viel beizutragen vermögen, und ebenſo unberechtigt wie das gewaltsame Bekehren, dürfte das frivole Be— rauben von Ueberzeugungen ſein, für die man keinen Erſatz geben kann und die der Wiſſenſchaft ebenſo wenig im Wege ſtehen, als dieſe ihnen. Aber damit das angedeutete erſprießliche Zuſammenwirken möglich werde, müßte vor Allem der Religionsunterricht auf einer dem naturwiſſenſchaftlichen Unterrichte ent— gegen kommenden Grundlage neu aufgebaut werden. Auch die Religionsſyſteme gehören der Entwickelungsgeſchichte an, und wir kön— nen unſchwer verfolgen, wie aus dem Poly- theismus der Semiten der Monotheismus der Hebräer hervorgegangen iſt, wie ſich deren ſtrenge, ſelbſtgerechte Religion zum Chriſtenthum abklärte, und wie ſich dieſes im Proteſtantismus von eingeſchlichenem Dogmenkram gereinigt hat. Aber natür— licher Weiſe darf dieſer nicht auf dem lu— theriſchen Bekenntniß ſtehen bleiben, er muß ſeinem Charakter gemäß der fortſchreitenden Erkenntniß folgen und eine Form finden, in welcher auch der mit der Bildung unſerer ET eee eee eee e Zeit genährte Menſch Erbauung und Troſt finden kann. Es iſt eine ernſte Frage, die wir hier berühren, denn wenn dieſe Verſöhnung des Glaubens mit der Wiſſenſchaft nicht ange— ſtrebt wird, jo wird bald von wahrer Re- ligioſität in unſerer Geſellſchaft nicht mehr viel die Rede ſein können. Am meiſten unbegreiflich müſſen bei dieſer Sachlage jene Eiferer erſcheinen, die noch jetzt in einer Betonung des ſtarrſten Buchſtabenglaubens die letzte Rettung der Geſellſchaft ſehen. Dieſe blinden Zeloten nehmen die ſchwerſte Verantwortung auf ſich, denn ihnen wird man den Löwenantheil der Schuld an der Verwirrung der Geiſter zuſchreiben müſſen. Wir möchten den Theologen zu überlegen geben, ob es weiſe iſt, in einer Zeit, wo jeder neue Tag neue Beſtätigungen von der Alleinwirkſamkeit und Unwandelbarkeit der Naturgeſetze bringt, den Glauben an Wunder, die eine Aufhebung derſelben vorausſetzen, ſo in den Vordergrund zu ſtellen, wie es in der Regel geſchieht, und Vorgänge als wirklich und unantaſtbar zu lehren, die jede Unterrichtsſtunde in der Phyſik, Aſtronomie oder Geologie lächerlich macht und als Un— möglichkeiten und Irrthümer der Zeit hin— ſtellt. Sie mögen ſich die Frage vorlegen, ob der Vortheil, den ihnen der Wunderglaube dem Urtheilsloſen gegenüber unſtreitig giebt, die Gefahr aufwiegt, die Beſſeren und Urtheilsloſeren der Religion zu entfremden. Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. Das verſöhnende Element in der Darwiniſtiſchen Weltanſchauung. N en 359 In dieſem Punkte bleibt dem Keligions- lehrer, der Geiſtlichkeit, Alles zu thun übrig, denn die Wiſſenſchaft kann und wird nicht umkehren, zumal da ſie ſich keiner Schuld bewußt iſt. Wenn ihre Träger hier und da mit Spott den Wunder- und Dogmen— kram verfolgen, ſo können ſie dafür tief ſitt— liche Gründe anführen, denn in der Art, wie der Wunderglauben gehandhabt wird, liegt der Stein des Anſtoßes und die Wurzel alles Uebels. Nach anderer Richtung aber bleibt auch ihnen eine ernſte Pflicht zu erfüllen, nämlich das religiöſe Gefühl in ſeiner Einfach— heit und Reinheit zu ſchonen, denn die Maſſe des Volkes blickt auf ſie und merkt von ihrer Rede nicht das Poſitive, ſondern am meiſten die oft ſehr bedingten Verneinungen und Ableugnungen. Wenn Büchner einmal einen Moſt hätte ſprechen hören, würde ihm vor ſeinem Zerrbilde grauen. Auch in dieſen Dingen dürfen wir uns Alle den Jubilar zum Muſter nehmen, der wohl niemals in ſeinen Schriften dem religiöſen Gefühle irgendwo zu nahe getreten iſt, und auf den nur die ſchelten, die ihn nicht kennen. In ſeinem Namen, das erwarten wir zuverſichtlich, werden ſich einſtmals heute einander ſehr ſchroff gegenüber ſtehende Parteien, die doch Beide, wenn auch auf verſchiedenen Wegen, nur das Ewige im Wandel ſuchten, die Hand reichen und ſein Andenken ſegnen. 47 — — —— — —ä—w— —— —⅛ —2ę᷑: — — — —— Einſtümmiger und vielſtämmiger Urlprung. Von Ernſt Haeckel. nnn e Se ee. = Nr enn Herr Charles Darwin heute am Schluſſe feines ſiebenzigſten Lebensjahres auf die mächtigen, weltbewegenden Giſtes kämpfe zurückblickt, zu denen vor zwanzig Jahren ſein epochemachendes Werk „über den Urſprung der Arten“ die erſte Veranlaſſung gab, dann darf er wohl mit Fauſt ſagen: „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Aeonen untergehn.“ Denn jo lange ferner noch mencchlicher Wiſſensdurſt die Geheimniſſe der Natur erforſcht, ſo lange menſchliche Vernunft den „ruhenden Pol“ des Naturgeſetzes „in der Erſcheinungen Flucht ſucht“, ſo lange wird es unvergeſſen bleiben, daß um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts Charles Darwin es war, der als biologiſcher Colum bus die neue Welt der „wahren Urſachen in der organiſchen Natur“ ent— deckte. Iſt ja doch die „Frage aller Fragen“, die Frage vom Urſprung des Menſchen und ſeiner wahren „Stellung in der Natur“, durch Darwin zuerſt auf denjenigen Weg geführt worden, auf dem ihre Löſung einzig und allein möglich war. Im Anſchluß daran giebt es heute kein Gebiet menſch— lichen Wiſſens mehr, welches ſich dem leitenden Einfluſſe von Darwin's Ent- wickelungs-Theorie zu entziehen vermöchte. Wenn nun aber in erſter Linie wir Biologen, wir Naturforſcher, die wir die Räthſel des organiſchen Lebens zu löſen ſuchen, heute dankbar und verehrungsvoll den Eintritt des ehrwürdigen Altmeiſters in das achte Decennium ſeines ruhmgekrönten Lebens feiern, ſo ſind wir vorzugsweiſe dazu berechtigt durch die erfreuliche That— ſache, daß bereits auf allen Gebieten unſe— rer Wiſſenſchaft Darwin's Lehre der unentbehrliche Leitſtern der Forſchung gewor— den iſt. Nicht darüber ſtreiten wir mehr, ob ſich die organiſche Welt entwickelt hat oder nicht. Vielmehr gehen unſere verſchiedenen Anſichten nur noch darüber auseinander, wie dieſe Entwickelung im Einzelnen zu denken iſt, wie der wahre genetiſche Zuſammen— hang der ſtammverwandten organiſchen Ge— ſtalten in den einzelnen Klaſſen ſich verhält. In demjenigen Gebiete biologiſcher Forſch— Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. ung, in dem ſich meine eigene Arbeiten be— wegen, in dem weiten Reiche der orga— niſchen Formenlehre oder Morphologie, tritt hier vor Allem eine Hauptfrage mehr und mehr in den Vordergrund „Darwi— niſtiſcher Forſchung“, nämlich die phylo— genetiſche Frage vom „einftäm migen oder vielſtämmigen Urſprung“ der Organismen und ihrer Organe. Es iſt höchſt erfreulich und bezeichnet nach meiner Meinung mehr als alles Andere den durchſchlagenden Erfolg von Darwin's Theorie, daß ſchon heute jene wichtige phylo— genetiſche Frage in zahlreichen und weit— auseinanderliegenden Gebieten morpholo— giſcher Forſchung thatſächlich geſtellt und eifrig discutirt wird. Freilich ſind wir noch ſehr weit von einer allgemein be— friedigenden und anerkannten Löſung der— ſelben entfernt. Aber ſchon der Umſtand, daß eine Anzahl verſchiedener Forſcher un— abhängig von einander ſich mit ihr zu be— ſchäftigen begannen und auf verſchiedenen Special⸗Gebieten ſie zu löſen bemüht ſind, bürgt uns dafür, daß wir uns wiederum eine gute Strecke dem Ziele wiſſenſchaftlicher Wahr— heit nähern. Allerdings dürfen wir gerade hier Göthe's goldnes Wort nicht vergeſſen: „Irrthum verläßt uns nie, doch zieht ein höher Bedürfniß leiſe den ſtrebenden Geiſt näher zur Wahrheit hinan!“ Ich ſelbſt habe mich mit der Frage nach dem einſtämmigen oder vielſtämmigen Ur— ſprung der Organismen unabläſſig ſeit jener Zeit beſchäftigt, als ich es verſuchte, zum erſten Male die Descendenz-Theorie im Geſammtgebiete der biologiſchen Syſte— matik anzuwenden, und als ich in Folge deſſen jene Stammbäume entwarf, die zuerſt in der „Generellen Morphologie“ (1866), ſpäter (theilweiſe) in der „Natür— ö lichen Schöpfungsgeſchichte“ (1868) zum 361 Abdruck kamen. Daß ich dieſen Stamm— bäumen lediglich einen heu riſtiſchen Werth beimeſſe, daß ich damit keine beliebi— gen Dogmen über die Stammverwandtſchaft und den Urſprung der Arten-Gruppen auf- ſtellen, ſondern vielmehr beſtimmte phylo— genetiſche Fragen formuliren will, das habe ich ſchon bei ſo vielen Gelegenheiten hervorgehoben, daß ich hier nicht nochmals darauf zurückzukommen brauche. Hier beabſichtige ich nun keineswegs jene Stammbäume im Einzelnen zu erörtern. Vielmehr wünſchte ich den Leſern des „Kosmos“ eine allgemeine Vorſtellung davon zu geben, wie ſich jenes phylogenetiſche Problem zur Zeit im Ganzen darſtellt, und welche An— nahme bei dem gegenwärtigen Stande unſerer Kenntniß als die wahrſcheinlichſte unter den verſchiedenen darauf bezüglichen Hypo— theſen angeſehen werden kann. Soweit mir die weitſchichtige und nicht mehr zu über⸗ ſehende Literatur des Darwinismus und Transformismus bekannt geworden iſt, ent— hält dieſelbe noch keine ſolche allgemeine Ueberſicht, insbeſondere keine allgemeine Erörterung über den Grad der Wahrſchein— lichkeit, welcher in jedem beſonderen Falle für den einſtämmigen (monophyletiſchen) oder vielſtämmigen (polyphyletiſchen)? Urſprung der verglichenen Organiſations-Formen be— ſteht. Auch beziehen ſich die meiſten der— artigen Erörterungen auf die beſonderen Verwandtſchaftsverhältniſſe kleinerer Formen— Gruppen, auf welche ich hier nicht eingehen kann. Was die empiriſchen Grundlagen ſolcher phylogenetiſchen Erörterungen, ihre Bedeutung und Verwerthung betrifft, ſo habe ich meine Anſicht darüber ſchon früher den Leſern des „Kosmos“ mitgetheilt, im erſten Bande dieſer Zeitſchrift, in dem Aufſatz über die „Urkunden der Stammesgeſchichte“ (S. 25 — 35). Ich werde nun zunächſt 362 zu zeigen ſuchen, daß für viele, und nament— lich die meiſten niederſten und miederen, Formen-Gruppen ein vielſtämmiger oder polyphyletiſcher Urſprung wahrſcheinlich iſt, ſo namentlich für die Moneren und die einzelligen Organismen, die die Hauptmaſſe des Protiſtenreichs bilden. Dagegen dürfen wir für die meiſten — und namentlich für die höheren und höchſten Klaſſen des Pflan— zenreichs und Thierreichs — mit mehr Grund einen einſtämmigen oder monophy— letiſchen Urſprung annehmen. Die einzelnen Organe und Organ-Syſteme des Pflanzen— und Thierkörpers ſind theils vielſtämmigen, theils einſtämmigen Urſprungs. J. Dielſtämmiger Urſprung der Moneren. Die dunkelſte von allen biologiſchen Urſprungs-Fragen iſt gegenwärtig immer Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. einzig und allein aus einem Stückchen formloſen Plaſſon, ſtrukturloſer, eiweiß— artiger Bildungsmaſſe beſteht, können die älteſten Stammformen aller anderen Organis— men geweſen ſein. Vergegenwärtigen wir uns nun — jo weit das überhaupt hypothetiſch möglich iſt — die eigenthümlichen Bedingungen, unter denen vor vielen Millionen Jahren ſolche Moneren zum erſten Male durch Autogonie entſtanden, ſo ſprechen keinerlei Gründe für die Annahme, daß dieſer bedeutungsvolle Urſprungs⸗Proceß nur einmal ſtattfand, daß nur an einem Orte und zu einem Stammvater beſtimmten Zeitpunkte einmal ein Moner autogon entſtand, welches der gemeinſame aller telluriſchen Organis- men wurde. Vielmehr iſt es höchſt wahr— ſcheinlich, ja wir dürfen ſagen: faſt ſicher, daß ſolche Urzeugungs-Akte von Moneren noch diejenige nach dem erſten Urſprunge des Lebens auf unſerem Planeten überhaupt. Eine wirklich vernunftgemäße d. h. unſer Cauſalitäts-Bedürfniß befriedigende Löſung bietet nur die Hypotheſe der Autogonie, in dem Sinne, wie ich ſie im IV. Capitel der „Generellen Morphologie“ und im XIII. Capitel der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (VI. Aufl. S. 302) erörtert habe. Wir müſſen danach annehmen, daß die älteſten Organismen unſeres Erdballes, mit denen das Leben auf demſelben begann, Moneren waren, jene ſtrukturloſen „Organismen ohne Organe“, deren Naturgeſchichte und allge— meine Bedeutung ich den Leſern des „Kos— mos“ bereits in zwei früheren Aufſätzen vorgeführt habe.) Nur ſolche homogene Moneren, deren ganzer lebendiger Körper ) „Bathybius und die Moneren“, Bd. I., S. 293; „das Protiſtenreich“, Bd. III., S. 10 flgde. auf den heutigen Tag fort. nahme ſprechen, ſich vielmals wiederholten, daß viele verſchiedene Moneren-Arten — nur in der abſoluten Einfachheit ihres organloſen Or— ganismus übereinſtimmend, in Bezug auf die ſpecielle chemiſche Zuſammenſetzung ihres ſtrukturloſen Plaſſon-Leibes mannigfach ver- ſchieden — an vielen Orten und zu vielen Zeiten wiederholt durch Autogonie entſtanden. Ja, wahrſcheinlich haben ſich dieſe Autogonie-Akte ſogar unendlich oft wiederholt und möglicherweiſe dauern ſie ununterbrochen von den älteſten Zeiten bis Das iſt die Anſicht vieler biologiſcher Autoritäten, die ſich mit dieſer ſchwierigen und dunkeln Frage beſchäftigt haben. Daß die negativen Re— ſultate der oft wiederholten Experimente über „Urzeugung“ nicht gegen dieſe An— glaube ich ſchon ander— weitig, bei gelegentlicher Beſprechung dieſer Verſuche dargethan zu haben. Eine poſitive Widerlegung jener Annahme iſt durch letztere überhaupt nicht möglich.“) Wir müſſen alſo bezüglich des erſten Urſprungs der organiſchen Welt bei der Hypotheſe ſtehen bleiben, daß das telluriſche Leben mit der Autogonie von Moneren be ſcheinlichkeit dürfen wir jetzt dahin erweitern, daß dieſelbe nicht einmal, ſondern vielmal wiederholt ſtatt— fand, daß mithin der Urſprung der Moneren polvyphyletiſch iſt. Zahl— reiche, vielleicht unzählige Moneren ſind un— abhängig von einander durch Autogonie aus unorganiſchen Verbindungen entſtanden; und einzelne oder viele von ihnen ſind die älteſten Stammformen aller übrigen Organismen geworden. 2. Vielſtämmiger Urſprung der Zellen. Die organiſche Zelle, welche wir ſeit 40 Jahren, ſeit Schleiden und Schwann ihre bahnbrechende Zellen-Theorie aufſtellten, als das wichtigſte Form-Element der organiſchen Welt betrachten, können anfäng— lich nur aus Moneren entſtanden ſein. Denn jede organiſche Zelle, gleichviel ob ſie als „Elementar-Organismus“ im Zellen— ſtaate des Thierkörpers oder Pflanzenkörpers lebt, oder ob ſie als Einſiedler-Zelle eine beſtimmte „Art“ des Protiſtenreichs dar— ſtellt, beſteht mindeſtens aus zwei weſent— lichen Beſtandtheilen, aus dem äußeren Zellſtoff (Protoplasma), und dem inneren Zellkern (Nucleus).“ ) Die Zelle 55 Vergl. Gener. Morphol. Bd. I. S. 177, Natürl. Schöpfungsgeſch. VI. Aufl. S. 393; insbeſondere aber den Abſchnitt über „die Moneren und die Urzeugung“ in meinen „Studien über Moneren und andere Pro— tiſten“ Biolog. Studien, Heft I. S. 177. 5 Vergl. Kosmos, Bd. III, S. 20. Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. gann; und mit ganz überwiegender Wahr- dieſe Hypotheſe 20 | ſtellt mithin ſchon eine zweite und höhere Stufe der Plaſtide (der „Bildnerin“ oder des „Elementar-Organismus“ im weiteren Sinne) dar; die erſte und niedere Stufe wird durch die gleichartigen, ganz einfachen Cytoden gebildet, und ſolche „kernloſe“ Plaſſon-Körper ſind eben auch die Moneren. Erſt dadurch, daß ſich das homogene Plaſſon, die ſtrukturloſe, weiche, eiweißartige Leibesmaſſe der Cytoden, in zwei verſchiedene Subſtanzen ſonderte, erſt dadurch, daß dieſes Plaſſon ſich in den innern „Nucleus“ und das äußere „Protoplas— ma“ differencirte, konnte aus der Cytode die wahre organiſche Zelle entſtehen. Es iſt daher nicht richtig, wie noch heute viel— fach geſchieht, für den Anfang des organi— ſchen Lebens eine „Urzeugung von Zellen“ anzunehmen. Vielmehr können alle echten d. h. kernhaltigen Zellen, welche nicht ſelbſt von Zellen abſtammen, urſprünglich nur aus Cytoden, d. h. aus kernloſen Plaſtiden entſtanden ſein. Auch dieſer wichtige Vorgang, — der zweite Akt in dem großen organiſchen „Schöpfungs-Drama“, — wird aller Wahr- ſcheinlichkeit nach ſich unendlich oft wieder— holt haben, ebenſo wie der erſte Akt, die Autogonie der Moneren. Unendlich oft werden aus Moneren — an verſchiedenen Orten und zu verſchiedenen Zeiten — echte Zellen entſtanden ſein, indem der homogene Plaſſon⸗Leib der Moneren ſich in Nucleus und Protoplasma differencirte.“) Bei unbe- fangener Erwägung aller hierbei in Betracht kommenden Umſtände und Bedingungen dür— fen wir daher die Hypotheſe aufſtellen, daß die organiſche Zelle polyphyletiſchen, nicht monophyletiſchen Urſprungs iſt. 95 Vergl. hierüber die „Plaſtiden-Theorie“ in meinen „Biologiſchen Studien“, Heft J. 364 Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. 3. Vielſtämmiger Urſprung des Proliſtenreiches. Aus gewichtigen Gründen, welche ich bereits früher?) auseinandergeſetzt habe, iſt die althergebrachte Eintheilung der organiſchen Welt in zwei große Reiche, Pflanzenreich und Thierreich, nicht länger haltbar. Vielmehr ſind wir durch ge— netiſche, wie vergleichende, morphologiſche Er— wägungen genöthigt, zwiſchen dieſe beiden großen Reiche das neutrale Reich der ein— fachen Zellinge oder Protiſten einzuſchieben. Während ſich der Leib des echten Thieres ſtets aus zwei vielzelligen Keimblättern aufbaut (Exoderm und Entoderm), während der Leib der echten Pflanze ſtets mit der Bildung eines vielzelligen Thallus, oder „Prothalliums“, oder einer vielzelligen, letzterem gleichbedeutenden Bildung beginnt, bleiben die neutralen Protiſten meiſtens zeitlebens einzellig; in den weniger zahl— reichen Fällen aber, wo auch der Protiſten— leib vielzellig wird, bringt er es nicht zur Bildung von morphologiſchen Urorganen, welche den Keimblättern der Thiere oder der Thallus-Formation der Pflanze gleichwerthig ſind. Auch pflanzen ſich die meiſten Protiſten blos ungeſchlechtlich fort, während bei den echten Thieren und Pflanzen die geſchlechtliche Fortpflanzung die Regel iſt. Echte Thiere und Pflanzen, als zuſammen— geſetztere Organismen, können aber urſprüng— lich auch nur aus Protiſten hervorgegangen ſein. Dieſe und ähnliche, bereits früher (a. a. O.) erörterten Erwägungen nöthigen uns, das Protiſtenreich als eine Gruppe von niederen Organismen zu betrachten, welche aus drei ) Im VII. Capitel der Gener. Morphol., im 16. Vortrage der Natürl. Schöpfungsgeſch. und im Aufſatze über das Protiſtenreich, Kosmos, Bd. III, S. 14. verſchiedenen Haupt-Abtheilungen beſteht, nämlich 1) Phytogone Protiſten, welche die älteſten Stammformen des Pflanzenreichs umfaſſen; 2) Zoogone Pro— tiſten, welche die älteſten Stammformen des Thierreichs darſtellen; und 3) Neutrale Protiſten, vollkommen ſelbſtſtändige Zel— linge, welche weder mit dem Thierreich noch mit dem Pflanzenreich irgend eine Stamm— verwandtſchaft beſitzen, vielmehr ganz unab— hängig von beiden ſich hiſtoriſch entwickelt haben. Zu dieſen letzteren gehört nach meiner perſönlichen Auffaſſung die große Mehrzahl aller Protiſten, die formenreichen Klaſſen der Rhizopoden (Thalamophoren, Heliozoen, Radiolarien), der Infuſorien (Flagellaten, Ciliaten, Acineten), der Myxo— myceten, Pilze u. ſ. w. Was dieſe einzelnen Klaſſen der Protiſten ſelbſt betrifft, ſo dürften ſie ebenfalls größtentheils polyphyletiſch ſein. Denn die ſogenannten „Verwandtſchafts— Beziehungen“, welche zwiſchen den ver— ſchiedenen, oft ſehr zahlreichen Arten einer Protiſten-Klaſſe beſtehen, ſind keineswegs mit Nothwendigkeit im monophyletiſchen Sinne als Folgen wahrer Stammverwandt— ſchaft zu deuten, wie es bei den höheren Klaſſen des Thierreichs und Pflanzenreichs der Fall iſt. Vielmehr iſt es ſehr leicht möglich, und in vielen Fällen ſehr wahr— ſcheinlich, daß zwei ſehr ähnliche Protiſten einer Klaſſe unabhängig von einander ent— ſtanden ſind, daß zwei Zellen verſchiedenen Urſprungs durch Anpaſſung an ähnliche Exiſtenz- Bedingungen ähnliche Formen an— genommen haben. Nur bei ſolchen höher entwickelten Protiſten-Klaſſen, bei denen ſich gewiſſe charakteriſtiſche oder „typiſche“ Organi— ſations-Verhältniſſe entwickelt haben — wie namentlich bei der Klaſſe der Radiolarien, der Ciliaten, der Acineten — läßt ſich der, e ee * Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. verwandtſchaftliche Zuſammenhang der ähn— lichen Formen mehr einheitlich, monophy— letiſch deuten. 4. Einſtämmiger Urſprung der meiſten Pflanzenklaſſen. Im Pflanzenreich wie im Thierreich läßt ſich die Urſprungsfrage zunächſt am leichteſten und ergiebigſten behandeln, wenn wir nicht von den älteſten und niederſten Formen- Gruppen ausgehen, ſondern vorerſt die Ver— wandtſchafts⸗Verhältniſſe der jüngeren, höhe— ren und vollkommneren Klaſſen betrachten. Denn ebenſo bei den Pflanzenklaſſen wie bei den Thierklaſſen treten die wahren Be— ziehungen der Blutsverwandtſchaft um fo deutlicher und klarer uns vor Augen, je höher die betreffenden Organismen differen— cirt ſind, je mehr ihr Leib aus zahlreichen und verſchiedenartigen Organen in charakteri— ſtiſcher oder „typiſcher“ Weiſe zuſammen— geſetzt iſt. Sowohl die Schöpfungs-Ur— kunden der Keimesgeſchichte (Ontogenie), als diejenigen der Verſteinerungslehre (Palae— ontologie), ganz beſonders aber diejenigen der vergleichende Anatomie (Morphologie) haben bei den höheren und zuſammen— geſetzteren Formengruppen ungleich mehr Anſpruch auf phylogenetiſche Bedeutung, als es bei den niederen und einfacheren Klaſſen im Allgemeinen der Fall iſt. Was nun zunächſt das Pflanzen- reich betrifft, ſo kann man in demſelben nach dem heutigem Zuſtande unſerer Kenntniß ungefähr 15— 20 verſchiedene Gruppen vom Werthe ſogenannter Klaſſen unterſcheiden“). Dieſe werden in drei große Hauptgruppen *) Vergl. die ſyſtematiſche Ueberſicht und den monophyletiſchen Stammbaum des Pflan- zenreichs im 17. Vortrage meiner „Natürlichen Schöpfungsgeſch.“ S. 404, 405. Zeitalters, Angioſpermen (Monocotylen und Dicotylen). oder „Unterreiche“ zuſammengefaßt, von denen die Thalluspflanzen (Thallophyta) die niederſte, die Prothallus-Pflanzen oder „Gefäßkryptogamen“ (Prothallota) eine mittlere, und endlich die Blumen- pflanzen (Phanerogamae) die höchſte Stufe der Ausbildung und Vollkommenheit einnehmen. Im Gegenſatze zu den letzteren werden die beiden erſteren auch als Blumen— loſe oder Kryptogamen zuſammengefaßt. Das phylogenetiſche Verhältniß dieſer drei Unterreiche iſt nun ohne allen Zweifel ſo aufzufaſſen, daß die Blüthenpflanzen lerſt in der Steinkohlenzeit auftretend) von den Prothalloten abſtammen, wie dieſe (zuerſt in der Devonzeit erſcheinend) von den Thalluspflanzen. Das ergiebt ſich aus den Zeugniſſen der vergleichenden Anatomie, Ontogonie und Paläontologie mit voller Sicherheit. Während des ungeheuer langen primordialen oder archozoiſchen Zeitalters, während die laurentiſchen, cambriſchen und ſiluriſchen Schichten abgelagert wurden, exiſtirten weder Blüthenpflanzen noch Pro— thalloten (Farne und Mooſe); vielmehr war das Pflanzenreich ausſchließlich durch Thallus— pflanzen, und zwar durch waſſerbewohnende Algen, repräſentirt. Erſt in der Devon— Periode, in Beginne des paläozoiſchen Zeit— alters, entwickelten ſich Mooſe und Farne, Gefäßkryptogamen; und erſt in den Stein— kohlenflötzen, in den Ablagerungen der darauf folgenden carboniſchen Zeit, finden wir die erſten verſteinerten Reſte von Blüthen— pflanzen oder Phanerogamen. Auch dieſe ſind lange Zeit nur durch die niederen Gymnoſpermen (Palmfarne, Nadelhölzer und Meningos) vertreten; erſt ſpäter, in der Triasperiode, im Beginn des meſcszoiſchen erſcheint die höchſtorganiſirte Pflanzenklaſſe, die formenreiche Gruppe der ER 366 Fragen wir nun aber nach dem Urſprung der einzelnen Klaſſen und beginnen wir da- bei aus dem oben angeführten Grunde mit den vollkommenſten Blüthenpflanzen, den Angioſpermen (Deckſamigen oder Meta— ſpermen), ſo ergiebt ſich zunächſt für die großer Wahrſcheinlichkeit ein einſtämmiger oder monophyletiſcher Urſprung. Es beſteht die Hauptklaſſe der Angiofper- | Blüthen-Pflanzen. Sind alle Phanerogamen men aus zwei verſchiedenen Gruppen, denen man auch den taxonomiſchen Werth von „Klaſſen“ zuerkennen kann: Zweikeimblätt— | noſpermen zwei ſelbſtſtändige, von einander unabhängige Hauptklaſſen, die aus zwei rige oder Ditotylen, und Einkeimblättrige oder Monocotylen. Die Klaſſe der Dicoty- len (oder „ Dicotyledonen“), zu welcher die große Mehrzahl aller Blüthenpflanzen gehört, zeigt, trotz der außerordentlichen Man— nigfaltigkeit der hierher gehörigen großen und zahlreichen Pflanzen-Familien, dennoch jo viel Uebereinſtimmung im wefentlichen | Bau der Blüthe und Frucht, namentlich aber in der Keimesgeſchichte, daß wir ſie ohne Widerſpruch von einer einzigen ge— meinſamen Stammform ableiten, ihr alſo einen monophyletiſchen Urſprung zu— ſchreiben dürfen. Daſſelbe gilt von der anderen Angioſpermen-Klaſſe, den Mon o- cotylen (oder „Monocotyledonen“). Aber auch Monocotylen und Dicotylen, unter ſich verglichen, erſcheinen ſo nahe verwandt, daß wir für Beide ohne Bedenken einen gemein— ſamen Urſprung annehmen und ſie mono— phyletiſch von einer einzigen gemeinſamen Stammform ableiten können. Ebenſo wie für die geſammten Angioſper— | men (oder Metaſpermen), läßt ſich auch für ſämmtliche Gymnoſpermen oder Me— taſpermen ein gemeinſamer Urſprung mit größter Wahrſcheinlichkeit annehmen. Denn die drei Klaſſen, welche man gegenwärtig in der Hauptklaſſe der Gymnoſpermen unter— Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. ſcheidet: Meningos (Gnetaceae), Nadel- hölzer (Coniferae) und Farnpalmen (Cycadeae), find unter ſich ganz nahe ver— wandt, und wie für jede einzelne derſelben, ſo läßt ſich auch für alle drei zuſammen eine gemeinſame Stammform (eine „Ur— höchſte und formenreichſte Haupt-Klaſſe mit pflanze“ in Goethe's Sinn) hypothe— tiſch ziemlich leicht conſtruiren. Schwieriger zu beantworten iſt die Frage nach dem einſtämmigen Urſprung ſämmtlicher aus einer einzigen Farn-Gruppe hervorge— gangen, oder find Angioſpermen und Gym— verſchiedenen Farn-Gruppen ihren Urſprung genommen haben? Gewichtige Gründe, theils der vergleichenden Anatomie, theils der vergleichenden Ontogenie entnommen, laſſen ſich für jede von dieſen beiden An— ſichten anführen. Nach der erſten Anſicht muß man annehmen, daß die älteſten Pha— nerogamen Gymnoſpermen waren, aus einer einzigen Farn-Gruppe hervorgegangen, und daß erſt ſpäter aus einer Gruppe der Gymnoſpermen die Angioſpermen ent— ſtanden ſind. Es ſcheint aber neuerdings die Zahl und das Gewicht der Gründe zu wachſen, die für die entgegengeſetzte An— nahme ſprechen. Nach dieſer zweiten, polyphy- letiſchen Anſicht muß man ſich vorſtellen, daß der Stammbaum der Blumenpflanzen zwei- ſtämmig oder diphyletiſch iſt, und daß die Angioſpermen, unabhängig von den Gymno— ſpermen, von einer anderen Farn-Gruppe abſtammen. Für das Unterreich der Prothalloten, der „Gefäßkryptogamen“ oder Prothallus— Pflanzen, ſcheint zur Zeit die monophyle— tiſche Stamm-Hypotheſe am meiſten Aus- ſicht auf Wahrheit zu beſitzen. Die beiden Hauptklaſſen der Prothalloten, die Mooſe n Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Arſprung. 367 (Museinae) und die Farne (Filieinae), Die Laubmooſe, unter fi) betrachtet, erſchei— hängen inſofern unzweifelhaft zuſammen, als die Farne nicht direkt aus den Thallo— phyten (Algen) hervorgegangen ſein können, ſondern jedenfalls eine Muſeinen-Stufe in ihrer hiſtoriſchen Entwickelung durchlaufen haben müſſen; das beweiſt deutlich ihr mosähnlicher Vorkeim (Prothallium). Unter den Farnen werden jetzt gewöhnlich fünf Klaſſen unterſchieden: Laubfarne (Pteri- deae), Schaftfarne (Calamariae), Waſ⸗ ſerfarne (Rhizocarpeae), Zungenfarne (Ophioglosseae) und Schuppenfarne (Selagineae). Die Angehörigen jeder dieſer fünf Klaſſen ſind unter ſich trotz ihrer großen Formen- Mannigfaltigkeit ſo nahe verwandt, daß ihr einſtämmiger Ur⸗ ſprung keinem Bedenken unterliegt. Aber auch die fünf Klaſſen unter ſich hängen wieder ſo innig zuſammen, daß ſich für die geſammte Hauptklaſſe der Farne eine ge— meinſame Abſtammung von einer niederen Moos⸗Stammform annehmen läßt. Auf der anderen Seite ſprechen freilich auch Gründe für die polyphyletiſche Hypo— theſe, daß die Farnform mehrmals aus der Moosform hervorgegangen iſt, daß z. B. die Calamarien, die Pterideen und die Se⸗ lagineen ſich aus drei verſchiedenen Muſci— nen⸗Gruppen entwickelt haben. unterſchieden werden, Laubmooſe (Fron- dosae) und Leber mooſe (Hepaticae), ver- halten ſich zu einander ſo, daß die erſteren die jüngere, höhere und vollkommnere, die letzteren die ältere, niedere und unvoll— kommnere Formengruppe darſtellen. Höchſt 1 | | | pflanzen, abzuleiten find. Die beiden Klaſſen, welche in der Haupt- klaſſe der Mooſe (Museinae) allgemein nen ſehr nahe verwandt; doch iſt es immer— hin möglich, daß die verſchiedenen Haupt- gruppen der Laubmooſe unabhängig von einander aus mehreren verſchiedenen Stamm— formen von Lebermooſen entſtanden ſind. Ebenſo iſt es ſehr möglich, wenn nicht wahrſcheinlich, daß die Klaſſe der Leber— mooſe vielſtämmigen Urſprungs iſt, d. h. daß die Lebermoſe mehrmals und aus ver— ſchiedenen Stammformen von Algen ent— ſtanden ſind. Während ſo — abgeſehen von den zu— letzt genannten niederſten Klaſſen — die meiſten Klaſſen der Prothalloten wie der Phanerogamen hüöchſtwahrſcheinlich monophyletiſchen Urſprungs find, müſſen wir dagegen für die meiſten Pflanzen— Klaſſen des dritten Unterreichs, der Thal— luspflanzen (Thallophyta) mit höherer Wahrſcheinlichkeit eine polyphyletiſche Descendenz annehmen. Man unterſcheidet in dieſem Unterreiche meiſtens zwei Haupt— klaſſen, die Fadenpflanzen (Inophyta) und die Tange (Algae). Die bei weitem wichtigere von Beiden iſt die Hauptklaſſe der Algen, aus welcher nicht nur die Fadenpflanzen, ſondern auch ſämmtliche Pro— thalloten, indirekt mithin auch die Blüthen— Die waſſerbe— wohnenden Algen ſind daher die Stamm— gruppe des Pflanzenreichs, welche daſſelbe lange Zeiträume hindurch allein vertreten hat. Die Hauptklaſſe der Fadenpflanzen (Inophyta), welche aus den beiden Klaſſen der Flechten und Pilze beſteht, iſt phylo— genetiſch vom höchſten Intereſſe und liefert ſchlagende Beweiſe für die Wahrheit des wahrſcheinlich bildet ein Theil der Leber- Transformismus, Beweiſe die in ihrer Art mooſe die Stammgruppe aller Mooſe, aus denen ſich ſpäter einerſeits die Laubmooſe, Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. ganz einzig ſind. Die Flechten (Li- chenes) ſind nichts weiter als eine Algen— andererſeits die Farne entwickelt haben. Klaſſe, welche durch paraſitiſche Pilze in = 368 eigenthümlicher Weiſe umgebildet worden iſt. Der ſchmarotzende Pilz und ſeine Wohn— pflanze, die Alge, ſind ſo innig mit einander verwachſen und haben ſich gegenſeitig ſo mächtig beeinflußt, daß daraus ein neues Doppelweſen, die charakteriſtiſche Vegetations- form der Flechte entſtanden iſt. Und was das Merkwürdigſte iſt, dieſe Schmarotzer— Pilze ſind, gleich allen anderen Pilzen, eigentlich gar keine echten Pflanzen. Denn allen Pilzen (Fungi) fehlt der wichtigſte Beſtandtheil der organiſchen Zelle, der in keiner echten Pflanzenzelle und Thierzelle — in erſter Jugend wenigſtens — fehlt: der Zellenkern; die eigenthümlichen faden— förmigen Schläuche, aus denen ſich der Körper aller Pilze aufbaut, die ſogenannten „Hyphen“, ſind kernloſe Cytoden, keine echten, kernhaltigen Zellen. Wir müſſen daher die Pilze eigentlich als eine beſon— dere Klaſſe von neutralen Protiſten, nicht von echten Pflanzen betrachten, um ſo mehr als die ganze Ernährung und der Stoff— wechſel der Pilze ſie eher in das Thier- als in das Pflanzenreich verweiſen.“) Gleich vielen anderen Protiſten-Klaſſen ſind die Pilze wahr- ſcheinlich polyphyletiſchen Urſprungs. Ebenſo vielſtämmigen Urſprung haben wahrſcheinlich auch die meiſten Algen— Klaſſen. Die Zahl der Klaſſen oder größe— ren Formengruppen, die man in der Haupt- klaſſe der Algen unterſcheidet, wird von den verſchiedenen Botanikern ſehr verſchieden auf— gefaßt, eben ſo wie ihr Verwandtſchafts-Ver— hältniß. Solche charakteriſtiſche und typiſche Klaſſen, wie die Characeen, Fucoideen, Florideen find vielleicht monophyletiſch, wäh— rend die anderen, namentlich die niederſten Algen-Klaſſen mit mehr Grund als poly— phyletiſch zu betrchten ſind. Wahrſcheinlich Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. abhängig von einander, aus vielen verſchie— denen phytogonen Moneren-Gruppen ent— ſtanden, und aus verſchiedenen einzelligen Stammformen ſind im Laufe langer Zeit— räume theils parallele, theils convergente, theils divergente Algen-Gruppen hervor— gegangen. Man kann daher für das Pflan— zenreich als Ganzes einen poly— phyletiſchen Urſprung annehmen, während für die meiſten einzelnen Pflanzen— Klaſſen, und namentlich alle höheren, eine monophyletiſche Abſtammung das Wahrſcheinlichſte iſt. 5. Einſtämmiger Urſprung der meiſten Thierklaſſen. Verglichen mit den entſprechenden Ver- hältniſſen im Pflanzenreiche erſcheinen die Beziehungen der Stammverwandtſchaft zwi- ſchen naheſtehenden Klaſſen im Thierreiche ungleich verwickelter und mannigfaltiger. Das iſt unmittelbar durch die viel größere Mannigfaltigkeit und Vollkommenheit der Organbildung bedingt, welche den höheren Thier-Organismus im Gegenſatz zum höhe— ren Pflanzen-Organismus auszeichnet. Den 15— 20 Klaſſen des Pflanzenreichs ſtehen 40 —50 Klaſſen des Thierreichs gegenüber: und dieſe letzteren zeigen unter ſich größere Verſchiedenheiten als jene erſteren. Aber gerade dieſe höhere Differenzirung und Ver— vollkommnung des Thier-Körpers geſtattet auch auf der anderen Seite eine um ſo eingehendere Vergleichung und Gruppirung der formverwandten Thiergruppen, und er— laubt um ſo ſicherer Schlüſſe auf ihren ſtammverwandtſchaftlichen Zuſammenhang. Vom Standpunkte der vergleichenden Morphologie, als einheitliches Ganzes be— trachtet, zerfällt das Thierreich ähnlich dem Pflanzenreich in drei große Hauptgruppen, Urſprung d vielſtämmiger r un ämmige inſt Ei geckel, 9 U3a9uoyt C = a baß een | E | Spb | („ag biens“ uuvuadal) | (useuvjlcß Abıyatına“ yuuvusbol) spraaustuogk 800 uaylızorsk auoßoog | uno auoBoyagk 800 Ana | Ka Eee | | F | Anaor a 1chan BInIISeH | snjjeys | unpdan FFC | E 5 us4gdaok usb 0 — — ͤ — — — — — — | eyAydooz C sung r | | duden daeicguseuvjlgz vag | sn4yuGIG ; EN | uatuojldsnyvgg mah I h“ | | uaßuuoglst Aphdhzw) a % hg oeydejeoy | aeıduodg | seuagorT or | FYLdaD) aa eee | auumapg epo dung | sayyurwpaH Aeuangz 200 aaıdpuangg 4010 T eee) eee Iuroſ ooo aun NHvumo aanangac; | | | ee lee i Jeurdsum l upon guess | | 21011044 uauvBorzdgag- Ina] udoeuvjlch ue) ene dump aplıdaz dumusoaguvgiꝗ | uatuopldusumg | | | EEE er | vozodkL vosnfloN TuLIopouryoH | wyÄydoyuy aut _ aaa | arg | Bude 10 Hy oguvllgz nan aas epodoagyuy | a | (h aeg! ger‘ | | | bungen ned u¹hν,j | I See 0e ee 5 (praanatnoyit pen maplumdbao aa ee Bumadlapg eee von denen die Pflanzenthiere (Zoo- | phyta) die niederſte, die Wurmthiere (Helminthes) eine mittlere, und endlich die Typenthiere (Typozoa) die höchſte Stufe der Ausbildung und Vollkommenheit er— reichen. Und gleichwie die drei pflanzlichen Unterreiche auch phylogenetiſch drei verſchie— denen Stufen des Staumbaums entſprechen, ſo gilt daſſelbe von den drei thieriſchen Unterreichen. Geſchichtlich wie morphologiſch ſind die Typenthiere aus den Wurmthieren, und dieſe letzteren aus den Pflanzenthieren abzuleiten. Während aber die ſämmtlichen Phanerogamen nur eine einzige einheitliche oder typiſche Hauptform charakteriſtiſcher Organiſation repräſentiren, oder höchſtens in die beiden Typen der Angioſpermen und Gymnoſpermen zu trennen ſind, müſſen wir unter den Typozoen mindeſtens vier grund— verschiedene Typen oder Charakterformen der Organiſation unterſcheiden: Die Wir— belthiere (Vertebrata), die Gliederthiere (Arthropoda), die Sternthiere (Echino— derma) und die Weichthiere (Mollusca). Jede von dieſen vier typiſchen Thiergruppen oder „Thier-Typen“ repräſentirt eine ge— ſchloſſene Einheit, die unabhängig von den drei anderen iſt und ſelbſtſtändig ihren Ur— ſprung aus einer verſchiedenen Gruppe von Wurmthieren genommen hat. Jeder der vier Thier-Typen umfaßt eine Anzahl von verſchiedenen Klaſſen höherer und niederer Formengruppen. Da nun von dieſen faſt jede einzelne Klaſſe eine Anzahl von Thierformen umſchließt, die trotz großer äußerer Formen-Mannigfaltig— keit doch im inneren Bau und der Ent— faſt für jede einzelne derſelben ein mono phyletiſcher Urſprung, eine Ableitung von einer einzigen gemeinſamen Stammform Ausnahme, Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. ſind aber auch die einzelnen Klaſſen jedes Typus unter ſich wieder ſo nahe verwandt, daß eine nahe Stammverwandtſchaft der— ſelben unter einander, ein einſtämmiger Ur— ſprung für jeden Typus entweder ganz ſicher oder doch höchſt wahrſcheinlich iſt. Jeder „Typus“ erſcheint daher, phylo— genetiſch betrachtet, als ein Stamm (Phy— lum). Immerhin geſtalten ſich die Ver— hältniſſe des Zuſammenhanges in den ein- zelnen Typen ziemlich verſchieden, ſo daß wir einen flüchtigen Blick auf jeden einzel- nen werfen müſſen.“) Der wichtigſte und intereſſanteſte unter allen Thierſtämmen iſt unſtreitig derjenige der Wirbelthiere (Vertebrata), ſchon aus dem einfachen Grunde, weil der Menſch ſelbſt dieſem Stamm entſproſſen iſt. Ge rade hier aber tritt uns die monophy— letiſche Descendenz mit überzeugender Klarheit und Deutlichkeit entgegen. Die völlige Uebereinſtimmung aller Wirbelthiere in den weſentlichſten Lagerungs- und Bild— ungsverhältniſſen der inneren Theile, trotz der größten Mannigfaltigkeit und Verſchie— denheit der äußeren Form, geſtattet nicht an einen polyphyletiſchen Urſprung der Verte— braten zu denken. Vielmehr müſſen wir annehmen, daß ſämmtliche Wirbelthiere ohne vom Amphioxus bis zum Menſchen hinauf, von einer einzigen ge— meinſamen Stammgruppe entſprungen ſind, hervorgegangen aus derſelben ausgeſtorbenen Würmer -Gruppe, von welcher auch die Mantelhiere (Tunicata) abſtammen. Außer⸗ dem liegen auch gerade die Beziehungen der | Blutsverwandtſchaft innerhalb aller mono— wickelung weſentlich übereinſtimmen, ſo iſt beinahe mit Sicherheit anzunehmen. Ebenſo = | ae phyletiſchen Klaſſen der Wirbelthiere äußerſt klar vor Augen. Sämmtliche Säugethiere (mit Inbegriff des Menſchen) einerſeits, ee) Vergl. den 19. und 20. Vortrag der „Natürlichen Schöpfungsgeſchichte“. 0 1 8 7 — N — Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. ſämmtliche Reptilien und deren Abkömm⸗ linge, die Vögel, andererſeits, ſind aus der Klaſſe der Amphibien hervorgegangen, welche Fiſchen zuſammenhängen. Die Fiſchklaſſe aber iſt aus einer ausgeſtorbenen Verte— braten-Klaſſe entſprungen, von deren ein— Vorſtellung geben; und dieſe wiederum müſſen aus Schädelloſen oder Acraniern entſprungen fein, von denen als letztes Ueber- bleiſel heute nur noch das höchſt wichtige Lanzetthierchen (Amphioxus) exiſtirt. Die nahe Verwandtſchaft aber, welche zwiſchen | dem Amphioxus und einem Zweige der Mantelthiere, den Ascidien, befteht, weit auf den einſtämmigen Urſprung Beider aus einer und derſelben Würmergruppe hin. Weniger unzweifelhaft als für alle Wirbelthiere, iſt ein monophyletiſcher Ur- ſprung für alle Gliederthiere (Arthro— poda) nachzuweiſen. Es beſteht dieſer Thier typus aus zwei Hauptgruppen, die zwar in erwachſenem Zuſtande nächſtverwandt, durch ihre Keimesgeſchichte aber ſehr verſchieden erſcheinen. Dieſe beiden Hauptgruppen ſind 1) die Luftröhrenthiere (Tracheata): Inſekten, Spinnen und Tauſendfüßer; und 2) die Krebsthiere (Crustacea). Alle Tracheaten, alle Inſekten, Spin— nen und Myriapoden ſind unzweifelhaft Abkömmlinge einer einzigen Stammform; ebenfo auf der anderen Seite alle Cru ſtaceen. Aber je mehr wir neuerdings mit der Entwickelungsgeſchichte Beider be— kannt geworden ſind, deſto mehr häufen ſich Gründe für die Annahme, daß die Stammgruppe der Tracheaten einem ande ren (wenn auch nahe verwandten) Zweige des Würmer Stammbaums angehört, als Beide die Stammgruppe der Cruſtaceen. 371 verhalten ſich ähnlich wie Angioſpermen und Gymnoſpermen. Entweder ſind die | erſteren aus den letzteren entſtanden, oder, durch die Dipneuſten unmittelbar mit den — was immer wahrſcheinlicher wird, — beide ſind getrennten Stammes, und das Phy— lum der Gliederthiere iſt ſeinem Urſprung nach zweiſtämmig, diphyletiſch. ſtiger Organiſation uns die heutigen Rund— mäuler oder Cycloſtomen eine ungefähre Ganz ſicher erſcheint wiederum ein ein— heitlicher Urſprung für alle Sternthiere (Echinoderma). Denn die ganz eigenthüm— liche und merkwürdige Einrichtung ihres Körperbaues kann in dieſer beſtimmten Zu— ſammenſetzung nur einmal entſtanden ſein. Wie bei den Wirbelthieren, ſo können auch bei den Sternthieren nur einmal im Laufe der Erdgeſchichte alle die Bedingungen zuſammengetroffen ſein, welche die charakte— riſtiſche Zuſammenſetzung des „Typus“ durch Anpaſſung ermöglichten. Nach der von mir aufgeſtellten Hypotheſe ſind die urſprünglichen Stammformen dieſes Typus die Seeſterne. Aus dieſen haben ſich nach der einen Richtung hin die Seelilien, nach der anderen Richtung hin die Seeigel ent— wickelt, und aus letzteren ſind ſpäter die Seegurken hervorgegangen. Die Seeſterne aber, die Stammformen aller Echinodermen find urſprünglich als Würmerſtöcke aufzu— faſſen, zuſammengeſetzt aus fünf (oder mehr) gegliederten Würmern. Dafür ſpricht auf das Deutlichſte ihre Keimesgeſchichte. Für die Weichthiere (Mollusea) ift neuerdings die Hypotheſe eines zweiſtäm— migen Urſprungs aufgeſtellt worden; die eine Hälfte der Schnecken und die Muſcheln ſollen aus einer anderen Gruppe von Wür— mern abzuleiten ſein, als die andere Hälfte der Schnecken und die Tintenfiſche. Indeſſen erſcheint dieſe, auf die vergleichende Ana— tomie des Nervenſyſtems baſirte Hypotheſe bei genauerer Prüfung nicht ſtichhaltig. Vielmehr erſcheint es, — ganz beſonders 9 372 Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. bei kritiſcher Vergleichung der Keimesge— ſchichte — als das Wahrſcheinlichſte, daß auch die Klaſſe der Schnecken einſtämmigen Urſprungs iſt, aus einer Gruppe der Würmer entſprungen. Die Muſcheln ſchei— nen aus einer Gruppe der Schnecken durch Rückbildung, die Tintenfiſche aus einer an— deren Gruppe der Schnecken durch Fort— bildung entſtanden zu ſein. Während wir ſo nicht allein für alle (oder doch faſt alle) Klaſſen der höheren typiſchen Thierſtämme, ſondern auch für jeden einzelnen dieſer Stämme ſelbſt einen einſtämmigen — höchſtens für die Glieder— thiere und Weichthiere einen zweiſtämmigen — Urſprung annehmen dürfen, geſtaltet ſich die Urſprungsfrage für die mannigfal- tigen und zahlreichen Klaſſen der Würmer viel ſchwieriger und dunkler. Die Würmer oder Wurmthiere (Helminthes) gleichen darin den Prothalloten oder Gefäßkrypto— gamen, daß ſie eine verbindende oder con— nektente Stellung zwiſchen den höchſten und niederſten Formengruppen einnehmen. Als geſichert dürfen wir hier vorläufig nur zwei wichtige Annahmen betrachten, nämlich 1) die Hypotheſe, daß die 4—6 Stammfor- men der vier höheren, typiſchen Thierſtämme aus verſchiedenen Gruppen des Würmer— ſtammes entſtanden find; und 2) die Hypo— theſe, daß der Würmerſtamm ſelbſt, — ſei es einſtämmig, ſei es vielſtämuig — aus einer Gruppe von Pflanzenthieren oder Zoo— phyten entſprungen iſt, aus den Urdarmthieren oder Gaſtraeaden. Ob aber dieſer letztere Urſprung einmal oder mehrmals, an einer oder an mehreren verſchiedenen Stellen ſtattgefun— den hat, läßt ſich zur Zeit nicht ſicher ent— ſcheiden. Es ſcheint faſt, daß hier ein polyphyletiſcher Urſprung (aus meh— reren verſchiedenen Wurzeln) wahrſcheinlicher iſt, als ein monophyletiſcher Urſprung (aus en; letzterer einer einzigen Wurzel). Ebenſo ſcheint auch ein Theil der Klaſſen, die wir heute in dem Würmerſtamme unterſcheiden, eine viel— ſtämmige Descendenz zu beſitzen, während der andere (und größere) Theil wohl ein- ſtämmig entſprungen iſt. Nicht weniger ſchwierig als die Des— cendenz der Würmerklaſſen iſt zur Zeit auch die Abſtammung der Pflanzen- thiere (Zoophyta oder Coelenterata) zu beurtheilen. Es beſteht dieſes Unterreich aus zwei Hauptgruppen, den Neſſelthieren und Schwammthieren. Die Neſſel— thiere (Acalephae) können inſofern als aus einer Wurzel hervorgegangen gedacht werden, als für die meiſten Klaſſen der— ſelben eine ähnliche Keimform beſteht, die dem heutigen Süßwaſſer-Polypen (Hydra) verwandt iſt. Aber die einzelnen Klaſſen der Acalephen brauchen deshalb nicht mono— phyletiſch zu ſein. Vielmehr iſt es ſehr wahrſcheinlich, daß die Meduſen poly- phyletiſch aus zwei (oder mehreren) Gruppen von Hydra-Polypen entſtanden ſind. Ebenſo ſcheinen die Siphonophoren polyphyletiſch aus mehreren verſchiedenen Gruppen von Meduſen hervorgegangen zu ſein. Dagegen dürften die beiden Klaſſen der Ctenophoren und Korallen eher mono— phyletiſchen Urſprungs ſein. Die Schwämme (Spongiae) laſſen ſich morphologiſch ebenfalls auf eine einzige gemeinſame Urform zurückführen, auf den Olynthus; einen einfachen ſchlauchförmigen Körper, der (gleich der Hydra) der Stamm- form aller Thiere, der Gaſträa, ſehr nahe ſteht; er unterſcheidet ſich weſentlich von nur durch den Beſitz der den Schwämmen eigenthümlichen Hautporen. Vorläufig hindert uns Nichts, aus dieſer morphologiſchen Einheit auch auf einen mo— nophyletiſchen Urſprung zu ſchließen, wo— N durch jedoch der entgegengeſetzte polyphyle— tiſche keineswegs beſtimmt ausgeſchloſſen iſt. Denn bei dieſen niederſten Formen der Pflanzenthiere, ebenſo wie bei den niederſten Formen der Würmer ſtehen wir vor ſo einfachen und indifferenten Bildungen, daß für dieſelben ein vielſtämmiger Urſprung im Allgemeinen ebenſo möglich erſcheint, als ein einſtämmiger. Die bedeutungsvolle Urform des Thier- reichs, auf welche wir hier ſtoßen, und aus welcher wir alle echten Thiere phylogenetiſch ableiten können, iſt die Gaſtrula oder der zweiblätterige Becherkeim, jene höchſt intereſſante und wichtige Keimform, deren Bedeutung als Grenzmarke zwiſchen Thier— reich und Protiſtenreich wir ſchon früher hervorgehoben haben.?) Nothwendig muß dieſe typiſche Stammform des Thierreiches aus dem Protiſtenreiche hervorgegangen ſein, und die Art und Weiſe, in welcher ſich bei den Thieren noch heutzutage der zweiblätt— rige Keim aus der einfachen Eizelle ent- wickelt, zeigt uns nach dem biogenetiſchen Grundgeſetz unzweifelhaft den Weg an, auf welchem dereinſt, vor vielen Millionen Jahren, die erſten wahren Thiere, die Gaſträaden (mit Magen, Mund und zweiſchchtiger Leibes— wand), aus darmloſen Protiſten hervor— gingen. Erwägt man aber die Umſtände und Bedingungen, unter denen dieſe Ga— ſträaden⸗Bildung erfolgte, jo wird es ſehr wahrſcheinlich, daß dieſelbe nicht nur einmal und an einem Orte, ſondern wiederholt und an verſchiedenen Orten vor ſich ging. Die Klaſſe der Gaſträaden, als gemeinſame Stammgruppe des Thierreiches, iſt wahrſchein— lich vielſtämmigen Urſprungs, wie auch die zunächſt aus ihnen hervorgegangenen Klaſſen der niederen Pflanzenthiere und niederen Würmer — zum Theil wenigſtens — po- ) Vergl. Kosmos, Bd. III. S. 224, Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. 35 id lyphyletiſch ſind. Man kann daher, wie für das Pflanzenreich, ſo auch für das Thierreich als Ganzes einen poly— phyletiſchen Urſprung annehmen, wäh— rend die meiſten einzelnen Thier- klaſſen, und namentlich alle höheren, mit viel mehr Wahrſcheinlichkeit monophy— letiſch ſind. 6. Vielſtämmiger Urſprung aſemiſcher Organe. Wie über den einſtämmigen oder viel— ſtämmigen Urſprung ganzer Formengruppen, die wir als ſogenannte „Klaſſen“ im Thier— reiche, Pflanzenreiche und Protiſtenreiche unterſcheiden, ſo können wir auch über den monophyletiſchen oder polyphyletiſchen Ur— ſprung der Organe oder „Lebenswerk— zeuge“ im einzelnen Organismus uns ſchon jetzt mehr oder minder ſichere phylogene— tiſche Hypotheſen bilden. Zum Theil hän- gen ja beide Probleme innig zuſammen. Zum Theil aber läßt ſich auch der „Urſprung der Organe“ noch ſicherer als derjenige der einzelnen Klaſſen hiſtoriſch verfolgen. Wie wir geſehen haben, daß in allen drei Reichen der organiſchen Welt für die niederen, indifferenten Formengruppen die polyphyletiſche, hingegen für die höheren, typiſchen Formengruppen die monophyletiſche Descendenzhypotheſe mehr innere Wahrſcheinlichkeit beſitzt, ſo gilt daſſelbe auch für die Organe der Orga— nismen. Ich unterſcheide daher als zwei Hauptgruppen von Organen im Allgemeinen aſemiſche und ſemantiſche Organe. Seman— tiſche oder typiſche (d. h. charakteriſtiſche oder bezeichnende) Organe nenne ich ſolche, die einem einzelnen Phylum oder einer ein— zelnen monophyletiſchen Klaſſe eines Phylum eigenthümlich find, und außerdem nicht vor— 374 kommen, die alſo nur einmal entſtanden ſind und innerhalb dieſes einen Stammes durch Vererbung von der Stammform auf die Abkömmlinge übertragen worden find. Aſe miſche oder atypiſche Organe hingegen nenne ich ſolche, bei denen dies nicht der Fall iſt, die zweimal oder meh— reremal durch analoge Anpaſſung entſtanden ſind und daher auch in zwei oder mehreren Stämmen oder in meh— reren Gruppen einer polyphyletiſchen Klaſſe vorkommen können. Solche aſemiſche Organe oder atypiſche Einrichtungen ſind z. B. die beiderlei Geſchlechts-Organe. Un— zweifelhaft hat ſich der Gegenſatz der beiden Geſchlechter, die Differenzirung männlicher und weiblicher Theile, nicht einmal, ſondern vielmal im Laufe der organiſchen Erdge— ſchichte ausgebildet. Ei und Sperma, weib— liche Fortpflanzungszelle und männlicher Samen ſind mehrmal entſtanden, und in mehreren verſchiedenen Klaſſen hat ſich zu ver ſchiedenen Zeiten die Form der geſchlechtlichen Fortpflanzung ſelbſtſtändig aus der urſprüng— lichen ungeſchlechtlichen entwickelt. Ebenſo iſt | auch nicht daran zu zweifeln, daß ſogar die Vertheilung der beiderlei Geſchlechtsorgane auf ein oder zwei Individuen aſemiſch iſt. So- wohl die Geſchlechtstrennung (Gono— Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urjprung. chorismus), als die Zwitterbildung (Hermaphroditismus) ſind polyphyle— tiſch. Bald ſcheint die erſtere, bald die gegengeſetzte hat ſich — mehrmals und in wohl Geſichts- als Gehörwerkzeuge unab— hängig von einander entſtanden. Ja ſelbſt innerhalb einer monophyletiſchen Klaſſe, z. B. der Inſekten, der Krebſe, haben ſich Gehörbläschen mehrmals bei verſchiedenen Ordnungen der Klaſſe unabhängig von einander entwickelt, wie ſchon allein aus ihrer Lagerung an ganz verſchiedenen Körper— ſtellen ſich ergiebt. Ebenſo ſind aber auch Nerven und Muskeln polyphyletiſch; denn wir können nachweiſen, daß ſie in verſchiedenen Hauptgruppen, z. B. bei den Meduſen einerſeits, den Würmern andrer— ſeits, ſich unabhängig von einander aus der urſprünglichen Oberhaut des Körpers entwickelt haben. a Ein aſemiſches Organ des Thier— körpers iſt ferner das Herz, der hohle Muskelſchlauch, der das Blut im Kreislauf umherbewegt. Das Herz der Wirbelthiere iſt aus einem Bauchgefäß, das Herz der Gliederthiere und Weichthiere aus einem Rückengefäß entſtanden; ein drittes, von Beiden unabhängiges Gebilde iſt das Herz der Sternthiere oder Echinodermen u. ſ. w. Unzweifelhaft polyphyletiſch und mithin aſemiſch ſind auch die Flügel der fliegen— den Thiere. Die Flügel der Fledermäuſe, der Vögel, der Pteroſaurier und der In— ſekten ſind in dieſen vier Thierklaſſen von ganz verſchiedenem Bau, unabhängig von einander auf verſchiedene Weiſe entjtanden, tetraphyletiſch oder vierſtämmigen Urſprungs. letztere der primäre Zuſtand, und der ent- verſchiedenen Gruppen unabhängig von einan— der — ſecundär daraus entwickelt. Unzweifelhafte aſemiſche Or— gane ſind ferner die Sinnes-Werk— zeuge der Thiere, namentlich Augen und Ohren. Bei verſchiedenen Gruppen der Meduſen und der Würmer z. B. ſind ſo— Ebenſo polyphyletiſche und aſemiſche Organe ſind ferner die Zähne, die Kiemen, die Lungen u. ſ. w.; in den verſchiedenen monophyletiſchen Gruppen, z. B. bei den Wirbelthieren, Gliederthieren und Weich— thieren, ſind ſie unabhängig von einander entſtanden, alſo vielſtämmigen Ur- ſprungs. en 9 mn Haeckel, Einſtämmiger und 7. Einſtämmiger Urſprung ſemantiſcher Organe. Wie für die angeführten aſemiſchen oder atypiſchen Organe ſich bald mit abſoluter Sicherheit, bald mit hoher Wahrſcheinlichkeit ein vielſtämmiger Urſprung darthun läßt, ſo darf man für die ſemantiſchen oder typi ſchen Organe im Gegentheil meiſtens einen einſtämmigen Urſprung behaupten. Je eigen— BEN) vielſtämmiger Urſprung. 375 und aſemiſch ſind, können innerhalb eines Stammes typiſch und monophyletiſch ſein. So iſt z. B. die Lunge im Allge— meinen vielſtämmigen Urſprungs. Die Lungen der Wirbelthiere, Lungenſchnecken, Spinnen und Skorpione ſind ganz unabhängig von einander, und auf ganz verſchiedene Weiſe ſtanden. 0 8 5 f 5 8 | thümlicher ein beſtimmtes Organ in einer Klaſſe oder einem Stamm ausgebildet iſt, je ausſchließlicher daſſelbe für dieſe Gruppe charakteriſtiſch iſt, deſto ſicherer dürfen wir annehmen, daß daſſelbe nur einmal ent— ſtanden und von einer Stammform auf die ſtammverwandten Abkömmlinge derſel— ben vererbt iſt. Ein ſolches „typiſches“ und monophyle— tiſches Organ iſt im Stamm der Wirbel— thiere vor Allem die Chorda oder der Axenſtrang, und die aus der Chordaſcheide entſtandene Wirbelſäule. Die Säuge— thiere beſitzen ein ſolches typiſches Organ in ihrer Milchdrüſe, die Vögel in ihrem Flügel (der gänzlich verſchieden von dem Flügel aller anderen fliegenden Thiere iſt), die Fiſche in ihrer Schwimmblaſe ꝛc. Im Stamme der Tracheaten (der Inſekten, Spinnen und Tauſendfüße) müſſen wir als typiſche und monophyletiſche Einrichtung das Tracheen-Syſtem betrachten: Die zur Athmung dienenden Luftröhren, die ſich im Körper dieſer Thiere ausbreiten; ebenſo im Stamme der Sternthiere oder Echino— dermen die charakteriſtiſche Waſſergefäß— leitung oder das Ambulacral-Syſtem, das dieſen Stamm vor allen anderen Thieren auszeichnet. Aber auch ſolche Organe, die vom all— gemeinen vergleichenden Geſichts-Punkte aus (durch Anpaſſung an Luftathmung) ent- Aber die Lunge der Wirbelthiere, die ſich aus der Schwimmblaſe der Fiſche entwickelt, iſt ein ganz typiſches Organ dieſes Stammes, und nur einmal entſtanden. Dagegen ſind die Lungen der verſchiedenen Lungenſchnecken theils aus der Kiemenhöhle, theils aus der Niere, die Lungen der Lungen— ſpinnen und Skorpione aus verſchiedenen betrachtet unzweifelhaft polyphyletiſch erweiterten Stellen des Luftröhren-Syſtems unabhängig von einander hervorgegangen. Ebenſo iſt das Gehörorgan der Thiere im Allgemeinen aſemiſch und polyphyletiſch, im Stamme der Wirbelthiere dagegen ſeman— tiſch und monophyletiſch. 8. Vielſtämmiger Urſprung der drei organiſchen Reiche. Die kurze Ueberſicht, die wir hier über den hypothetiſchen Urſprung der verſchie— denen Formen-Gruppen der organiſchen Welt gegeben haben, ergiebt als wahrſchein— lichſtes Reſultat, — nach dem heutigen Zuſtande unſerer phylogenetiſchen Erkennt— niſſe! — daß die niederen Organis- men-Öruppen (oder „Klaſſen“) viel- ſtämmigen, die höheren hingegen einſtämmigen Urſprung beſitzen. Wir gelangen alſo zu ganz demſelben Re— ſultat, zu dem auch die heutige vergleichende Sprachforſchung gelangt iſt. Denn die competenteſten Autoritäten der letzteren nehmen heute au, daß die menſchliche Sprache als ſolche polyphyletiſch iſt, während jede Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. 49 größere Gruppe (oder Klaſſe) von höheren Sprachformen monophyletiſch iſt. So ſind alſo z. B. alle ariſchen oder indoger— und romaniſchen, flaviſchen und keltiſchen, griechiſchen und indiſchen Sprachen eines gemeinſamen Urſprungs, aus einer indo— germaniſchen oder ariſchen Urſprache ents ſtanden. Ebenſo ſind wahrſcheinlich auch alle ſemitiſchen, ebenſo alle mongoliſchen Sprachen monophyletiſchen Urſprungs, einmal aus einer Wurzelſprache hervor— gegangen. Dagegen ſind ſolche niedere und unvollkommnere Sprachklaſſen, wie diejenigen der Neger-Völker, der amerikaniſchen Ur- einwohner und anderer niederer Menſchen— raſſen, höchſt wahrſcheinlich polyphyle— tiſch, mehrmals und zu verſchiedenen Zeiten, unabhängig von einander entſtanden. Der vielverzweigte Stammbaum der menſchlichen Sprache ſelbſt iſt vielſtämmig, jeder ſeiner höher entwickelten Hauptzweige iſt ein— ſtämmig. Es iſt nicht denkbar, daß ſo nahe Haeckel, Einſtämmiger und vielſtämmiger Urſprung. | maniſchen Sprachen — alle germaniſchen entwickelt haben. Dagegen iſt es nicht nur verwandte und hochentwickelte Sprachen, wie die verſchiedenen ariſchen Sprachen, unabhängig von einander entſtanden ſeien, und aus verſchiedenen Wurzelſprachen ſich denkbar, ſondern ſogar höchſt wahrſcheinlich, daß die menſchliche Sprache als ſolche mehr— mals entſtanden iſt und ihre niederſten Formen-Gruppen ſich unabhängig von ein— ander entwickelt haben. Bei dieſen wie bei anderen phylogene— tiſchen Unterſuchungen kommt es jetzt zunächſt nicht darauf an, gleich vollſtändig die ſchwierigen Räthſel der Schöpfung — d. h. der Entwickelung! — zu löſen. Vielmehr wird unſer menſchlicher Erkenntniß-Trieb, das Cauſalitäts-Bedürfniß unſerer Vernunft, ſchon dadurch befriedigt ſein, daß wir ihm zunächſt den richtigen Weg der Forſchung, die wahren Probleme der Erkenntniß zeigen. Und dieſen wahren Weg der Erkenntniß entdeckt zu haben, bleibt das unſterbliche Ver— dienſt von Charles Darwin. Zur Pangeneſis. Von Prof. Dr. G. Jäger. nachdem ich in einem früheren 5 J Aufſatz?) die Thätigkeit der r Seelenſtoffe auf verſchiedenen 5 blos zu reſtituiren, ſondern auch auf exak— Gebieten abgehandelt habe, fällt mir heute die Auf— gabe zu, auch zu verſuchen ihre Rolle bei der Vererbung aufzuhellen. Schon in früheren Arbeiten habe ich fie mit voller Beftimmt- heit als Träger der vires formativae (der Formungs und Vererbungskräfte) bezeich— net und hierfür dringende Verdachtsgründe beigebracht. Nachdem ich nun anderwärts ihr Walten beobachtet habe, bin ich in der Lage, auch auf jenes geheimnißvolle Gebiet einige neue Streiflichter fallen zu laſſen. Ich thue dies mit um ſo größerer Freude, als ich damit im Stande bin, unſerem allverehrten Lehrer und Vorbilde, Charles Darwin, zu ſeinem 70. Ge— burtstage eine eclatante Genugthuung zu bereiten und zugleich ein Unrecht gut zu machen, welches ich dadurch beging, daß ich mit manchen Anderen ſeine Theorie von der Pangeneſis mit Kopfſchütteln entgegen— nahm und in mehreren meiner Publicationen bekämpfte. Die Genugthuung beſteht darin, daß ich ſeine divinatoriſche Theorie nicht ten, chemiſch-phyſikaliſchen Boden zu ſtellen, weiter auszuführen und dadurch feſter zu begründen im Stande zu ſein glaube. Darwin's Lehre entſprang dem Be— | * [X * * * dürfniß, zu erklären, wie die Generations— ſtoffe, Ei und Samen, die Fähigkeit er⸗ langen, dem aus ihnen ſich entwickelnden Weſen genau dieſelbe Form, denſelben Bau und dieſelben Eigenſchaften zu verleihen, welche die Elternweſen beſaßen. Kurz, ſie entſprang dem Bedürfniß nach Fixirung der vis formativa in den Zeugungsſtoffen. Ich glaube bei den Leſern dieſer Zeitſchrift die Bekanntſchaft mit Darwin's Lehre voraus- ſetzen zu dürfen und faſſe mich deshalb kurz. Darwin nahm an, jedes Organ und jeder differente Gewebstheil entſende kleinſte „Keimchen“ nach den Geſchlechtsorganen, die dort in die reifenden Eier und den reifenden Samen eindringen, ſo daß derſelbe darnach gleichſam eine Quinteſſenz aller Theile des S. Kosmos Band IV. S. 171 u. flade. Erwachſenen nach quale und quantum ſei. ze 378 Bei der Embryonal-Entwickelung hätte man es dann nur damit zu thun, daß dieſe Keimchen in der richtigen Reihenfolge zur ſelbſtſtändigen Thätigkeit gelangen und jedes den betreffenden Körpertheil, dem es ent— ſtammt, erzeuge. Darwin hat ſich über die Natur der Keimchen nicht phyſikaliſch exakt ausgeſprochen und ich mußte, wie viele Andere, damals ſofort an kleinſte feſte Körperchen (Mikrozellen oder dergleichen) denken, und unbewußt hat vielleicht auch Darwin an ſolche gedacht. Unter dieſer Vorausſetzung konnte einem Phyſiologen die da er die Wege nicht Sache nicht einleuchten, erkennen konnte, auf welchen dieſe Keimchen ſtoffen gelangen ſollten. Deshalb verhielt ich mich ablehnend gegen die Pangeneſis. Nachdem ich aber jetzt die Ueberzeugung gewonnen habe, ſtoffe und Würzeſtoffe die Träger der vis formativa in Geſtalt des Rotationsmodus ihrer Moleküle — ihrer latenten Wärme — ſind, liegt die Sache anders. Die Düfte ſind gasförmig, und die Würzeſtoffe zum Theil ebenfalls oder jedenfalls in den Säften des Körpers löslich, und damit fällt die Transportſchwierigkeit ſofort hinweg. Wenn die formungskräftigen Keimchen Darwin's keine im feſten Aggregatzuſtand befindlichen Mikrozellen, ſondern Gasmoletüle oder flüſ— ſige Moleküle ſind, dann giebt es keinen Ort im Körper, wo ſie nicht hingelangen könnten. Ich bin natürlich weit davon entfernt, die Anmaßung zu hegen, als könnte jetzt das ganze Räthſel der Vererbung und des Formungstriebes nur ſo aus dem Steg— reife gelöſt werden — ebenſo wenig als Darwin glaubte, mit ſeiner Theorie ſo— fort alles Weitere überflüſſig gemacht zu haben; was ich aber glaube, iſt: 1) daß wir alle Urſache haben, an Jäger, Zur daß die ſpecifiſchen Duft- | | erwachſenes Thier: Pangeneſis. Darwin's Pangeneſis, wenn auch etwas modificirter Form, feſtzuhalten. 2) daß ſich derſelben eine den Geſetzen der Chemie und Phyſik beſſer entſprechende Formulirung und Begründung geben läßt, als Darwin es gethan hat, — und was ich im Folgenden verſuche: Jedes differente Organ und jede diff rente Gewebsart eines Thieres (und einer Pflanze) enthält im Molekül ihres Eiweißes mindeſtens einen ſpecifiſchen Duft- und Würzeſtoff, wovon wir uns mittelſt un— ſerer chemiſchen Sinne ja ſehr leicht über— zeugen können, denn der Speiſeduft und Ge— ſchmack eines jeden Organs deſſelben Thieres zu den jo ſorgfältig abgekapſelten Geſchlechts- B. ein So oft es Hunger hat, tritt in allen Organen und Gewebstheilen Eiweißzerſetzung ein, wobei ihre verſchieden— artigen Duft- und Würzeſtoffe (Seelenſtoffe) frei werden und den ganzen Körper durch— dringen. Befindet ſich nun irgendwo im Körper eine Protoplasma-Art, welche dieſe Stoffe feſtzuhalten vermag, ſo iſt ſie damit auch in den Beſitz ihrer vires forma- tivae gelangt. Ich habe in meinen „Zoologiſchen Briefen“) ſowie in meinem „Lehrbuch der Zoologie“ **) mit Nachdruck auf die embryo- logiſche Thatſache hingewieſen, daß die Bildung der Zeugungsſtoffe bei einem Thiere Schon in die erſten Stadien ſeines Embryonallebens fällt und habe dies als Reſervirung des Keimprotoplas— mas bezeichnet. Sobald nun im Embryo die von mir geſchilderte itio in partes, d. h. die Sonderung der Embryonalzellen in die ontogenetiſchen und phylogenetiſchen Zellen (Keimzellen), ſtattgefunden hat, ſo wird Folgendes eintreten: ) Wien, Braumüller, Abſchn. III. 1876. gLeipzig, Ernſt Günther's Verlag. Bd. II. iſt eigenartig. Denken wir uns z. ( ( } Fägey- Zur Pangeneſis. Das ontogenetiſche Zellmaterial, welches das Thier aufbaut, liefert fortwährend, ſo oft eine Eiweißzerſetzung eintritt — im Hunger und bei jedem Affekte — freie Seelenſtoffe. Dieſe dringen, den Geſetzen der Gasdifuſ— ſion folgend, nicht blos als Ausdünſtungs— ſtoff nach außen, ſondern auch in das Keim— Protoplasma. Letzteres möchte ich nun der „Seelenfängerei“ beſchuldigen und zwar in dieſem Sinne: Der chemiſche Stoff, aus welchem der weſentlichſte Theil der Eier und der Samen— fäden beſteht, wird neuerdings Nuclein genannt, weil man gefunden hat, daß er die größte Uebereinſtimmung mit der weſent— lichſten Subſtanz der Zellkerne zeigt. Man nennt jetzt den Dotterſtoff nicht mehr Vitellin, ſondern Einuclein, und den Samenſtoff nicht mehr Spermatin, ſondern Samennuclein. Weiter iſt feſtgeſtellt, daß das Nuclein eine Syntheſe von Eiweiß und dem phosphorhaltigen Lecithin iſt. | Unſere Frage verwandelt ſich jetzt ein— fach in diejenige nach dem Hergang der Nuclein— bildung in Ei und Sperma und das wird ſich folgendermaßen verhalten: Die Generations— organe erhalten von ihrem Mutterkörper (dem ontogenetiſchen Material) nicht, wie man ge— wöhnlich ſagt, Circulationseiweiß. Nach dem Traub e'ſchen Geſetz kann ein Membran— bildner nicht durch ſeine Membran gehen, weil ſein Molekül größer iſt, als die Poren der von ihm gebildeten Membran. Die Keimzelle iſt als Eiweißmembran aufzufaſſen und läßt demnach kein Eiweißmolekül durch. Sie erhält nur den Eiweißkern, der nach Abſpaltung der Seelenſtoffe übrig bleibt, alſo einen peptonartigen Körper, der, weil er ſeine Seelenſtoffe verloren hat, ein kleineres Molekül beſitzt. Dieſer iſt nun natürlich auch entſpecificirt, „entſeelt“, und der Vor- gang der Aſſimilation, der ſich jetzt in den 379 Keimzellen abwickelt, kann als „Wieder- beſeelung“ bezeichnet werden. Die hierzu nöthigen „Seelenſtoffe“ liefert die Eiweißzerſetzung in dem on— togenetiſchen Zellmaterial. Dieſe Aſſimilation bildet nun zunächſt ſpecifiſches Eiweiß und dieſes verbindet ſich darauf mit dem Lecithin zu Ei- reſp. Samen- nuclein, welches letztere ſich vor dem Eiweiß durch ſeine große Reſiſtenz gegen zerſetzende Einflüſſe auszeichnet. Dieſe Auffaſſung der Pangeneſis liefert uns jetzt auf einmal eine Erklärung für die bis jetzt völlig räthſelhafte, allen Thier— züchtern wohlbekannte Thatſache, daß bei einem Thiere (wie bei dem Menſchen) die Fruchtbarkeit durch Anſatz von Körperfett ſofort gemindert, ja ſchließlich ganz aufgehoben wird, und umgekehrt geſtaltet ſich dieſe Thatſache zu einem ſehr kräftigen Beweis für die oben vorgetragene Lehre von der Bildung der Zeugungsnucleine. Dieſe wird natür— lich nur dann begünſtigt, wenn eine ausgiebige Menge von Seelenſtoffen frei wird. Dies hängt aber nach meiner Seelenlehre von der Intenſität der Eiweißzerſetzung ab, und dieſe fällt um ſö ſpärlicher aus, je mehr das Eiweiß durch Fette und Kohlenhydrate vor der zerſtörenden Einwirkung des Sauer— ſtoffes beſchützt wird. Das iſt bei fetten Thieren der Fall. In dieſe Form gefaßt, erklärt jetzt die Pangeneſis faſt alle Vererbungserſcheinungen und läßt uns in ihnen Proeeſſe erkennen, | die den Geſetzen der Chemie und Phyſik gehorchen. Um das zu zeigen, will ich die— | ſelben Punkt für Punkt vornehmen. | Das erſte ift die qualitative Ver⸗ erbung. Wenn wir, was den Lehren der chemiſchen Syntheſe durchaus nicht wider— ſpricht, annehmen, daß das Molekül der — 380 Zeugungsnucleine die differenten Seelen- ſtoffe ſämmtlicher differenten Gewebsarten und Organe in ſich gebunden enthält, ſo werden bei ſeiner Zerſetzung ſämmtliche von ihnen repräſentirten Organ- und Gewebs— Formungskräfte frei und erzeugen bei der Ontogeneſe dieſe Gewebe und Organe wieder. Der zweite Punkt iſt die quanti— tative Vererbung, d. h. die Thatſache, daß bei der Entwickelung des Thieres nicht blos alle Organe und Gewebstheile des Erzeugers wieder erſcheinen, ſondern auch in einem annähernd gleichen Mengeverhält— niß, wie in letzteren; denn wenn z. B. ein Thier eine relativ ſtark entwickelte Musku— latur hat, ſo wird relativ viel Muskel— ſeelenſtoff in demſelben entbunden und ſomit auch in Ei und Samen relativ mehr Muskelformungsſtoff zur Fixirung ge— langen, was zur Entwickelung eines eben— falls muskulöſen Jungen führt. Der dritte Punkt iſt die Vererbung erworbener Charaktere. Wenn ein Thier durch Mehrgebrauch ein Organ zu beſonderer Maſſe-Entfaltung gebracht hat, ſo wird jetzt auch deſſen Seelenſtoff im Hunger— zuſtand reichlicher auftreten; die Zeugungs— ſtoffe werden mehr davon enthalten, und wenn nun dieſe zur Entwickelung kommen, ſo werden ſie auch über die Formungs— kräfte verfügen, um das betreffende Organ zu beſonderer quantitativer Entwickelung zu bringen. Der vierte Punkt, der klar wird, iſt, daß die Vererbung der Charaktere bei der Entwickelung eine Reihenfolge einhält auf das entſprechende Lebens alter). Da die Nucleinbildung in den Zeugungsſtoffen nicht mit einem Male ge— ſchieht, ſondern eine ſehr geraume Zeit fort— dauert, wahrſcheinlich ebenſo lange als die beſtimmte zeitliche (Vererbung Ei⸗ und Raupenſtadiums wird nun in dem Jäger, Zur Pangeneſis. Ontogeneſe des Elternthieres, ſo ſind die Nucleinmoleküle eines Eies (und einer Samenbildungszelle) einander nicht gleich, ſondern jedes trägt die Seelenſtoffe in der Beſchaffenheit und in dem Mengeverhältniß in ſich, in welchem ſie zur Zeit der Bild— ung des betreffenden Nucleinmoleküls prä— ſent waren. So ſind jetzt alle ontogene— tiſchen Entwickelungsepochen des Thieres gewiſſermaßen aktenmäßig in den differenten Nucleinmolekülen deponirt. Jetzt gehört zur Erklärung der Vererbung auf das gleiche Lebensalter nur noch die Annahme, daß diejenigen Nucleinmolefüle, welche ſich zu— erſt, alſo in den früheſten Stadien der Ontogeneſe der Elternthiere, gebildet haben, auch bei der Ontogeneſe des befruchteten Eies ſich zuerſt zerſetzen und ihre formungs— kräftigen Seelenſtoffe frei werden laſſen, und daß die Nucleinmoleküle, welche zuletzt gebildet wurden, ſich auch zuletzt zerſetzen. Daß dieſe Annahme keine willkürliche iſt, darüber belehren uns die Thiere, deren Eier einen Gegenſatz von Nahrungsdotter und Bildungsdotter haben. Bei ihnen beſteht darüber kein Zweifel, daß der Bildungs— dotter der primäre, zuerſt gebildete, der Nahrungsdotter der ſecundäre, erſt ſpäter hinzugetretene iſt. Weiter beſteht darüber kein Zweifel, daß der Bildungsdotter bei der Ontogeneſe zuerſt an die Reihe kommt und der Nahrungsdotter zuletzt. Ich will die Sache an einem Beiſpiel erläutern, das ſich leicht handhaben läßt. Bei einer Raupe ſind die Generations— organe bekanntlich ſchon angelegt, ehe ſie ſelbſt das Ei verlaſſen hat. Während des reſervirten Keimzellenmaterial nur Raupen— nuclein gebildet. Im Puppenſtadium tritt hierzu Puppennuclein, und endlich, wäh— rend der Schmetterling ſich in der Puppe — Jäger, Zur entfaltet, tritt Falternuelein auf. Das reife Ei und der reife Samen beſteht alſo aus dreierlei Nucleinſorten, Raupennuclein, Puppennuclein und Falternuclein. Im Beginn der Entwickelung zerſetzt ſich nur die erſtere und formt eine Raupe, die zwei anderen Sorten bleiben unzerſetzt und ſind in dem ja ebenfalls aus Nuclein beſtehen— den Zellkern aller Gewebszellen, welche direkte Abkömmlinge des Eikerns ſind, enthalten. Am Schluß der Raupenzeit zerſetzt ſich das Puppen— nuclein und formt die Puppe, und zuletzt tritt das Falternuclein in Thätigkeit. Freilich bleibt dies noch exakt zu beweiſen, was aber meiner Anſicht nach nicht außer dem Bereich der Möglichkeit liegt, und zwar zunächſt ſo, daß wir con— ſtatiren, ob die Ausdünſtungsdüfte im Be— ginn der Puppenruhe anders ſind, als während der Raupenperiode, und ob ſie noch einmal ſich ändern, wenn in der Puppe die Falterbildung beginnt. Als Leiter der Seidenrauperei an der Anſtalt Hohenheim werde ich in der kommenden Saiſon dar— auf achten. Ferner möchte ich Forſcher, die ſich mit der Embryologie des Hühnchens befaſſen, auffordern, zu unterſuchen, ob während der wichtigeren Entwickelungsphaſen des Eies ein Wechſel im Ausdünſtungs— geruch und Geſchmack des Eies auftritt. Der fünfte Punkt mehr aber dem Volksglauben, und zwi— ſchen den Phyſiologen beſteht eine Mein— ungsverſchiedenheit. Die erſteren halten mit Zähigkeit daran feſt, daß Gemüths- | affekte ſchwangerer Thiere und Menſchen einen ganz beſtimmten Einfluß auf die Leibesfrucht haben, während die Phyſio— logen dies in Abrede ſtellen, weil kein Nervenzuſam menhang zwiſchen iſt folgender: Zwiſchen den praktiſchen Thierzüchtern, noch 381 Pangeneſis. Mutter und Kind beſtehe. Meine Seelenlehre entſcheidet zu Gunſten der Volksmeinung. Da die Gemüthsaffekte Folge des Freiwerdens der gaſigen und löslichen Seelenſtoffe ſind, die alle Säfte und Gewebe des Köpers, alſo auch die Leibesfrucht, durchdringen können, ſo bedarf es gar keiner Nervenverbindung: Die Leibes— frucht nimmt an den Affekten der Mutter Theil, ſobald die Affektſtoffe in großer Quantität auftreten. Ja, es iſt aus dem, was der Volksmund behauptet, zu erſehen, daß ganz vorzüglich die Unluſtaffekte (Angſt, Schrecken ꝛc.) einer Einwirkung auf die Leibesfrucht beſchuldigt werden. Dies ſtimmt vollſtändig mit der leicht zu demonſtriren— den größeren Flüchtigkeit und Diffuſibilität des Angſtſtoffes überein. Daß letzterer, wenn er in die Säftemaſſe der Leibesfrucht gelangt, dort die gleichen paralytiſchen Er— ſcheinungen hervorrufen muß, wie in der Mutter, iſt ſelbſtverſtändlich, und ſo halte ich es nicht nur für möglich, daß ein großer Schreck die Leibesfrucht tödten, und an— haltende ſeeliſche Depreſſion der Mutter, wegen fortdauernder Entwickelung von Angſt— ſtoff, eine Verkümmerung der Leibesfrucht zur Folge haben kann, ſondern auch, daß Bild— ungshemmungen, alſo Mißgeburten, erzeugt werden können. Damit bin ich noch weit entfernt, an das zu glauben, was der Volksmund das „Verſehen“ nennt, denn namentlich die ſogenannten Muttermale, die zumeiſt damit erklärt werden ſollen, können wegen ihrer ſcharfen Localiſirung unmöglich auf die Wirkung eines gaſigen Stoffes zu- rückgeführt werden. Die häufigſten mißgeburtlichen Bildungs— hemmungen ſind Haſenſcharte und Wolfsrachen. Es iſt nicht zu bezweifeln, daß der Angſtſtoff der Mutter auf die chemiſchen Sinne der Leibesfrucht, die, wie ———?—: !!... — — — —. . —. — DR wir am Neugeborenen früher ſahen, auch beim Menſchen einer außerordentlichen Fein— heit ſich erfreuen, einen heftigen und zwar ekelhaften Eindruck machen. Wird ein Kind in dem Moment davon betroffen, wo die Gaumenplatten mit der Naſenſcheidewand, die Oberkiefer mit den Zwiſchenkiefern und die Zwiſchenlippen mit den Seitenlippen ver— wachſen ſollen, ſo können dort Bewegungen ausgelöſt werden, welche die Verwachſung verhindern. Es darf z. B. nur durch krampfhaften Verſchluß der Kiefer die Zunge in den Gaumenſpalt hineingepreßt oder die Gaumenplatte nach aufwärts gedrängt und dort ſo lange feſtgehalten werden, bis die Periode der Verwachſungstendenz vorüber iſt, ſo iſt die Bildungshemmung fertig. Ferner müſſen wir uns Folgendes klar machen: Das Material, das die Leibesfrucht von der Mutter zum Aufbau ihres Körpers erhält, kann kein ſpecificirtes, beſeeltes Ei— weiß ſein, deſſen Diffuſibilität, wie ſchon früher beſprochen, wegen der bedeutenden Molekulargröße viel zu gering iſt. Es wer- den alſo, gerade wie wir es bei der Bild— ung der Zeugungsnucleme ſahen, von dem kindlichen Blute nur entſeeltes Eiweiß und andererſeits freier Seelenſtoff dem Mutter— körper entnommen und dann deren Syn— theſe bewerkſtelligt werden. Damit haben wir ohne weiteres eine pſychiſche Beein— fluſſung und, da die Seelenſtoffe auch die Träger der Formungskraft ſind, auch eine morphogenetiſche, und zwar eine doppelte: Einmal eine momentane, während die Seelen— ſtoffe in die Leibesfrucht eindringen, und dann eine Nachwirkung (Vererbungswirkung), wenn dieſelben, nachdem ſie eine Zeit lang im Nucleinmolekül gebunden lagen, ſpäter wieder frei werden. Jäger, Zur Pangeneſis. re die Hundezüchter behaupten trotz aller Ein— ſprachen von phyſiologiſcher Seite ſteif und feſt: Wenn eine Hündin von einem Rüden fremder Raſſe auch nur einmal belegt wor— den ſei, ſo züchte ſie nie mehr rein. Ich habe lange nicht daran geglaubt, weil ich die chemiſch-phyſikaliſche Möglichkeit nicht einſah, jetzt halte ich dagegen die Sache für vollkommen möglich. Wie ich in meinem erſten Artikel“) dar- legte, werden auch in der Leibesfrucht Seelen— ſtoffe frei, welche in den ſchwangeren Müttern die Alterationen des Geſchmack- und Geruch— ſinnes erzeugen. Wenn nun eine Hündin eine Baſtardfrucht im Leibe hat, jo entbindet Die Thierzüchter und zwar ganz beſonders letztere „Baſtardſeelenſtoffe“, und da während— deſſen die Nucleinbildung in den im Eier- ſtock ſchlummernden Eiern fortdauert, ſo werden dort Nucleinmoleküle gebildet, welche mit Baſtardformungsſtoffen geladen ſind. Ich muß hier noch etwas nachtragen. Meine Vererbungslehre nimmt an, daß die reifen Zeugungsftoffe mit verſchieden— artigen Nucleinforten, entſprechend den verſchiedenen Entwickelungsphaſen des Eltern— thieres, geladen ſind. Sollte das nicht zum ſichtbaren Ausdruck kommen? In einem Punkte iſt das ſchon beſtätigt, indem ſich Haupt- und Nebendotter oder Bild— ungs- und Nahrungsdotter unterſcheiden läßt. Sollte nun nicht auch das bunte Bild des Dotters, das ſchon durch die außerordent— lichen Größenunterſchiede der Dotterkörner, aber auch durch kaum beſtreitbare Form— unterſchiede entſteht, ein Ausdruck hier— für ſein? Der ſiebente Punkt, den ich berühren will, iſt die Latenz und Evidenz bei der Vererbung und die Frage: Wie iſt es chemiſch und phyſikaliſch möglich, daß Eigen— Ein ſechster Punkt iſt folgender: ſchaften der Eltern in den Kindern latent Kosmos, Bd. IV S. 171 au. flgde. Jäger, Zur Pangeneſis. bleiben und erſt in einer ſpäteren Genera- tion zur Evidenz gelangen? Das ganze Geheimniß bei der Vererb— ung liegt in den Vorgängen der Nuclein— bildung und Nucleinzerſetzung. Hierbei haben wir es nun aber nicht blos mit dem Samen— und Einuclein zu thun, ſondern auch noch — worauf ich ſchon oben hinwies — mit dem Nuclein der Gewebszellkerne. In dem Nuclein, das der Zerſetzung viel größern Widerſtand leiſtet als das Eiweiß, befinden ſich die von den Seelenſtoffen re— präſentirten vires formativae latent; 383 Ein Inzuchtprodukt wird alſo von einem Blutauffriſchungsprodukt ſich ganz beſonders dadurch unterſcheiden, daß es weniger im Stande iſt, ſeine Zellnucleine zu zerſetzen, und da ſpeciell in dieſen die vererbten vires formativae ſtecken, ſo wird es nicht im Stande ſein, alle dort vorhandenen auch zur Entbindung, alſo zur Evidenz zu bringen. Damit ſtimmt die bekannte Thatſache, daß diejenigen Charaktere am leichteſten latent evident werden fie, wenn ſich das Nuclein | zerſetzt. mir eine Erklärung möglich und zwar fo: Thatſache iſt, daß Inzucht das Latent— Blutauffriſchung dagegen die Evident— werdung latent vererbter Charaktere, alſo das Auftreten des ſogen. Rückſchlages, begünſtigt. Thatſache iſt ferner, daß Thiere, welche im Inzuchtverhältniß erzeugt wurden, zahmer, temperamentloſer ſind, d. h. ſeltener und von ſchwächeren Affekten bewegt werden als Thiere, die mittelſt Blutauffriſchung erzeugt wurden und deren lebhaftes, tem— peramentöſes Weſen jedem Züchter be— kannt iſt. Da die Affekte, wie ich eben nachgewieſen, die Wirkung der frei werden— den Seelenſtoffe ſind, ſo kommen wir zu dem zwingenden Schluſſe: Von dieſem Satze aus ſcheint bleiben, welche in der Ontogeneſe am ſpäteſten auftreten. Wir haben oben geſehen, daß wir Gründe haben, anzuneh— men, diejenigen Nucleimmoleküle, welche zu— letzt gebildet werden, gelangten auch in der Ontogeneſe zuletzt zur Zerſetzung, d. h. zur Entbindung ihrer formungskräf— bleiben von vererbten Charakteren begünftigt, | tigen Seelenſtoffe. Latenz wird alſo ein— treten, wenn ein Thier nicht über genügende (elektrolytiſche) Seelenentbindungskräfte ver— fügt, um auch noch die „poſtumſten“ (sit venia verbo) Nucleinmoleküle zu zerſetzen. Nun tritt noch Folgendes dazu: Im Beginn der Embryonalentwickelung ſcheidet ſich das Zellmaterial, wie früher geſagt, in zwei weſentlich verſchiedene Theile, das on— togenetiſche, welches zum Aufbau des Thierleibes verwendet wird, und das phy lo— genetiſche, das zur Bildung der Ge— ſchlechtsorgane und ſpäter als Zeugungs— Blutauffriſchungsprodukte ver⸗ fügen über ſtärkere Seelenentbind⸗ ungskräfte als Inzuchtprodukte. Die Seelenſtoffe liegen nun nicht blos im Molekül des Eiweißſtoffes, ſondern auch in dem des Nucleins, alſo in allen Zell— ſtoff dient. Beide Zell-Arten enthalten in dem Nuclein ihrer Kerne ſämmtliche vires formativae im Zuſtande der Latenz. Die phylogenetiſchen Zellen überliefern alle ihre Formungskräfte unfehlbar der nächſten Generation, da ihr Nuclein nie zerſetzt wird; die ontogenetiſchen können aber zweier— lei thun: Entweder entbinden ſie durch Zer— ſetzung auch der poſtumſten Nucleinmolefüle kernen, aber mit dem Unterſchied, daß ſie | alle Formungskräfte, alſo auch die der aus dem Eiweiß leichter zu entbinden ſind, ſpäteſten ontogenetiſchen Stadien; oder ſie als aus dem ſchwer zerſtörbaren Nuelein. laſſen, da ihre nucleolytiſchen Kräfte nicht Kosmos, II. Jahrg, Heft 11. 384 ausreichend ſind, einen Theil und zwar den poſtumſten zerſetzt. enthaltenen Formungskräfte latent, und zwar in dem Nuclein der ontogenetiſchen Gewebszellen. f ſchlagserſcheinungen bei der Vererbung ſcheint mir der Wahrheit jedenfalls ſehr nahe zu kommen. Ich erwähnte ſchon früher der That— ſache, daß Fettſucht die Fruchtbarkeit, d. h. Theil der Nucleinmoleküle un- So bleiben die in den letzteren Jäger, Zur Pangeneſis. möglich, daß ein Mann die Tuberkuloſe auf ein von ihm erzeugtes Kind überträgt, noch ehe bei ihm die Tuberkuloſe zum Ausbruch gekommen iſt?“ Die Frage iſt einfach zu beantworten: Wenn ſeine Tuberkuloſe eine ererbte iſt, ſo ſteckt ſie bei ihm an zwei Dieſe Erklärung der Latenz- und Rück- Orten: in ſeinem eigenen Samennuclein, mit welchem er ſie auch unfehlbar dem von ihm befruchteten Ei überliefert, und in dem die Bildung der Samen- und Eiernucleine beeinträchtige, weil in Folge der ſchwachen. Eiweißzerſetzung zu wenig Seelenſtoffe frei und den Generationsorganen zugeführt wer— den. Das Seitenſtück hierzu iſt, daß Thiere, welche während ihrer ontogenetiſchen Ent— Nuclein ſeiner Gewebszellen. Ob und in welchem Zeitpunkt ſie hier aus dem Zuſtand der Latenz in den der Evidenz tritt, hängt ganz davon ab, ob und wann ſein Ge— websnuclein jo zur Zerſetzung ge— langt, daß dieſe latente Eigenſchaft zum | Vorſchein kommt. Oder ſagen wir vielleicht wickelung zu maſtig gefüttert werden, ganz beſonders leicht Latenzerſcheinungen aufweiſen. ſtoffes in dem Nuclein bedingte Krankheit, Das iſt alſo auf dieſelbe Urſache zurückzu— führen, wie die Abnahme der Fruchtbarkeit: Das Fett beſchützt nicht nur das Eiweiß, ſondern auch das mit Formungskräften ge— ladene Nuclein vor der Zerſetzung durch den Sauerſtoff, und ſo bleiben poſtume Charaktere leicht latent. Darin liegt ein praktiſcher Wink für die Thierzüchter, wes— halb ich ihnen ans Herz legen will, darauf zu achten. Auch für die menſchliche Päda— gogik iſt dieſer Punkt beachtenswerth. Und ſchließlich kann ich es nicht unterlaſſen, hier auch noch ein paar Worte über die verbreitetſte vererbungsfähige Menſchenkrankheit, die Tu— berkuloſe, zu ſagen, bei der es ja faſt Regel iſt, daß ſie durch eine Generation hindurch latent vererbt wird und erſt in der übernächſten wieder zur Evidenz gelangt, und daß ſie auch dann in der Regel bis zur Pubescenzzeit, ja öfter noch länger, latent bleibt. Ein Arzt, dem ich meine Vererbungs— lehre vortrug, fragte mich: „Wie iſt es * noch beſſer: Die Tuberkuloſe iſt vielleicht gar keine ſpecifiſche, d. h. von dem Vor— handenſein eines beſtimmten Tuberkuloſe— ſondern einfach darauf begründet, daß das Nuclein dieſer Perſonen eine große Neig— ung zum Zerfall hat. Sollte nicht die anerkannt günſtige Wirkung des Fettgenuſſes eben darauf beruhen, daß das Fett die Nucleine vor Zerſetzung durch den Sauer— ſtoff ſchützt? Ich fordere hiermit die pa— thologiſchen Anatomen auf, ihr Augenmerk einmal auf die Zellkerne der Tuberkuloſen zu richten, und zwar nicht blos mikroſko— piſch, ſondern auch ſo, daß man die Kerne des tuberkulöſen Eiters, die man ja iſoliren kann“), auf den Grad ihrer Zerſetz— ungsfähigkeit prüft, indem man ſie mit Nuclein von Wundeiter vergleicht. Jede vererbbare Krankheit iſt eine Nu— cleinkrankheit, und die Tuberkuloſe am Ende nichts anderes als Nucleolyſe. Da das Nuclein der Zerſetzung viel größe— ren Widerſtand leiſtet als Eiweiß, ſo be— ) Hofmann, Lehrbuch der Zoochemie, S. 5. Jäger, Zur greift es ſich, daß Nucleinkrankheiten, wie die Tuberkuloſe, jedem Heilverſuch ſpotten. Daß Schwindſüchtige in hochgelegenen Orten ſich beſſer conſerviren, rührt meiner Anſicht nach einfach davon her, daß in verdünnter Luft weniger Sauerſtoff ſich befindet, und deshalb das Nuclein leichter vor ihm zu ſchützen iſt. Denſelben Zweck erreicht man natürlich durch warmes Klima — Luft— verdünnung durch Wärme. Der letzte Punkt bei der Vererbung iſt der räumliche: Wie kommt es, daß die einzelnen Organe nicht blos überhaupt und in der richtigen zeitlichen Auf— einanderfolge, ſondern auch in dem richtigen räumlichen Nebeneinander auftre— ten? Dieſe Frage iſt der Hauptſache nach eine phyſikaliſche, weshalb dieſelbe durch meine ausſchließlich chemiſche Seelenlehre nicht zu löſen iſt. Ich habe mich über die onto— genetiſche Gewebsdifferenzirung in meinen „Zoologiſchen Briefen“ und in meinem „Lehrbuch der allgemeinen Zoologie“ ſo aus— führlich vom phyſikaliſchen und architektoniſchen Standpunkt aus geäußert, daß ich mich auf die folgenden Bemerkungen beſchränken darf. Es wäre eine grobe Vorſtellung von der Nucleinbildung, wenn wir annehmen woll— ten, in dem Nucleinmolekül ſeien die dif— ferenten Seelenſtoffe ſo gelagert, daß, wenn das Molekül geſpalten werde, dieſe jetzt alle zumal frei auftreten; das müßte nothwendig eine Confuſion geben. Man hat ſich vielmehr die Atomgruppen ſo unter einander und mit dem unbeſeelten Eiweißkern verkettet zu denken, daß je nach den äußeren Umſtänden, unter welche eine Gewebszelle gelangt iſt, je nach dem Grad ihrer wäſſrigen Durchfeuchtung, ihren Be— ziehungen zu den Aufenthaltsmedien und den cirkulirenden u. ſ. f. entweder der eine oder der andere Ernährungsflüſſigkeiten Pangeneſis. 385 ſpecifiſche Gewebsſeelenſtoff auftritt und ſeine gewebsbildende Kraft entfaltet. Daß die Sache ſich ſo verhalte, widerſpricht dem, was wir von den hochatomigen organiſchen Verbindungen bis jetzt wiſſen, durchaus nicht. Daß die Lehre von der Pangeneſis in der Form, welche ich ihr in dieſen Zeilen gegeben, alles leiſtet, was man billiger Weiſe angeſichts der chemiſchen Unkenntniß von den Seelenſtoffen verlangen darf, wird kaum beſtritten werden können, namentlich enthält ſie — und das iſt ja bei einer Theorie immer die Hauptſache — den ſtärk— ſten Anſtoß zur Detailforſchung. Die Specialforſcher und Analytiker möchte ich mit Bezug auf mein ſynthetiſches Lehr— gebäude von den Seelenſtoffen dabei noch auf Folgendes hinweiſen: Die organiſche Chemie nahm einen un— geahnten Aufſchwung und gewann in der Kettentheorie eine wundervolle Klarheit, als man anfing, die aromatiſchen Sub— ſtanzen zu ſtudiren. Schon damals hätte man vermuthen können, daß die Geheim— niſſe, an deren Löſung die Phyſiologie, Zoologie, Morphogeneſe, Biologie und Pa— thologie vergeblich ſich abmühen, in den aromatiſchen Stoffen zu ſuchen ſeien, mit denen ſich bis vor Kurzem nur die Gaſtronomen abgegeben haben. Ein Blick auf die unglaubliche Dürftigkeit der Capitel „Geſchmackſinn“ und „Geruchſinn“ in un— ſeren phyſiologiſchen Lehrbüchern und Hand- büchern mußte gleichfalls in jedem denken— den Phyſiologen die Vermuthung wachrufen, daß hier, wie man zu ſagen pflegt, „der Hund begraben liege“. Ich glaube nun durch die Entdeckung der Seelenſtoffe dem— ſelben zur Auferſtehung verholfen zu haben und lade die Detailforſchung ein, ihn voll— ends herauszugraben. Vhryaaniden-Atudien. Von Fritz und Hermann Müller. J. Einleitung. I Lippitadt, Januar 1879. tur Feier des Tages, an welchem N unſer verehrter Meiſter Charles | 28 Darwin ſein ſiebenzigſtes Le— 127 N bensjahr vollendet, überreiche ich der dem Ausbau ſeiner Ent— wickelungslehre gewidmeten Zeitſchrift einige Theorie und durch die Stammbaum-Ent— Aufſätze meines Bruders Fritz Müller über eine Inſektenfamilie, welche gerade jetzt im Lichte dieſer Lehre einem eingehenden Verſtändniſſe ſich zu eröffnen verſpricht. iſt die Familie der Haarflügler (Tricho— ptera) oder Frühlingsfliegen (Phryganiden). ſätze zu handeln, wenn ich den weſentlichſten Inhalt der im erſten derſelben erwähnten Speyer'ſchen Abhandlung hier wiedergebe. Mein Freund Dr. A. Speyer, der ſchon im Jahre 1839 in Oken's „Iſis“ Es (S. 94) eine wahre Verwandtſchaft zwiſchen Lepidopteren und Phryganiden behauptet hatte, war auch der Erſte, der ſich faſt 30 Jahre ſpäter durch die D ar win'ſche würfe Haeckel's, in denen über die Abſtammung der Schmetterlinge eine be— ſtimmte Anſicht nicht gewagt worden war, veranlaßt fand, eine genauere anatomiſche und phyſiologiſche Vergleichung der Eigen— thümlichkeiten beider Gruppen zur weiteren Begründung ſeiner Anſicht ins Auge zu faſſen. Wenn er auch leider mitten in ſeinen Unterſuchungen, durch ein dauerndes Augen— leiden genöthigt, abbrechen mußte, ſo genügen doch die von ihm angeſtellten und in dem hier citirten Aufſatze mitgetheilten Vergleich— ungen wenigſtens, um es im höchſten Grade wahrſcheinlich zu machen, daß die Ordnung der Schmetterlinge entweder von den Früh— lingsfliegen oder von ihnen nahe ſtehenden, Ich hoffe im Intereſſe der Leſer dieſer Auf- wenig verſchiedenen Stammeltern derſelben abſtammt. Denn faſt ſämmtliche Eigenthüm— lichkeiten des Körperbaues und der Lebensweiſe der Frühlingsfliegen kommen auch theils den Schmetterlingen überhaupt, theils gewiſſen, den Phryganiden am nächſten ſtehenden Schmetterlingen zu. Den Schmetterlingen im Allgemeinen ſind mit den Frühlingsfliegen gemein: Geſtalt und Größenverhältniſſe des Kopfes und der drei 8 Bruſtringe, die ſchmale Vorderbruſt, die am meiſten ausgebildete Mittelbruſt, die Form | und Zahl der Ringe des Hinterleibes, der beim Männchen ähnlich gebildete Organe zum Feſthalten bei der Begattung trägt, Beine mit dicht zuſammenſtoßenden Hüften und fünf Fußgliedern, Umriß und Bau der Flügel, bielgliedrige, in der Regel lange, borſtenförmige Fühler, dreigliedrige Lippen— taſter, ungetheilte Unterlippe, zu kaum ſicht— baren Rudimenten verkümmerte Oberkiefer, im Weſentlichen gleiche, vollkommene Um— wandlung, vegetabiliſche Nahrung, wurm— förmige, dreizehnringlige Larven mit abge— ſondertem, hornigem Kopfe, und drei Paar vier- bis ſechsgliedrigen, hornigen Bruſtfüßen, als Mundtheile der Larven eine quere, ein— gekerbte oder zweilappige Oberlippe, ſtarke, feſte, meiſt gezähnelte Oberkiefer, kegelförmige, gegliederte, taſtertragende Unterkiefer, welche die Unterlippe zwiſchen ſich faſſen und mit ihr die Mundhöhle von unten ſchließen, an der Unterlippe zwei Lippentaſter und zwiſchen ihnen die Spindel, in denen die Spinn— gefäße münden. Als beſonders auffallende Eigenthüm— lichkeiten der Frühlingsfliegen, die auch bei gewiſſen, ihnen am nächſten ſtehenden Faltern ſich finden, ſeien hier noch ferner hervorge— hoben: Das Leben der durch Kiemen athmen— den Larven im Waſſer, das Sich-Bergen der— ſelben in ſelbſtverfertigten röhrigen Hülſen, aus denen die Bruſtfüße zum Kriechen vor— geſtreckt werden, während ſich das Ende des Körpers durch Nachſchieber oder Häk— chen an die Röhre anklammert, das Ver— puppen in dieſen Wohnungen, die bisweilen ſchueckenhausförmige Geſtalt derſelben (bei Psyche helix unter den Faltern, bei Helicopsyche unter den Frühlingsfliegen), Müller, Phryganiden-Studien. die Flügelfaltung in der Ruhe, die Art des Fliegens und am Boden Hinrutſchens, 387 die oft rudimentäre Beſchaffenheit der Mund— theile, die Bekleidung der Flügel mit Här— chen, die ſehr locker in die Flügelmembranen eingepflanzt ſind, fünf- oder ſechsgliedrige Kiefertaſter, Puppen mit frei abſtehenden Scheiden der äußeren Organe. Durchgreifend verſchieden ſind die Phry— ganiden von den Lepidopteren nur durch die Gebrauchsfähigkeit der Beine gegen Ende des Puppenzuſtandes und durch die Um— bildung ihrer während des Jugendzuſtandes (wie bei den Schmetterlingen) beißenden Mundtheile zu Schöpf- und Leckorganen. Während ſich nämlich bei den Schmetter— lingen die Unterkiefer zu hornigen Halb— rinnen geſtalten, die ſich zu einem aufroll— baren Saugrohr zuſammenlegen, bilden ſich bei den Frühlingsfliegen die Mundtheile durch Verſchmelzung von Unterkiefer und Unterlippe zu einer rinnenförmigen Schnauze, die Flüſſigkeiten nur ſchöpfen oder lecken kann. Dagegen finden ſich die beiden, den Lepidopteren eigenthümlichen, die Wurzel der Vorderflügel bedeckenden Anhänge (Schul— terdecken, tegulae) in unvollkommener Ent- wickelung auch ſchon bei den Phryganiden, und das Flügelgeäder der letzteren, welches man bei oberflächlicher Betrachtung auch als einen durchgreifenden Unterſchied derſelben von den Lepidopteren hätte geltend machen können, beweiſt ja, wie aus den vorliegen— den Beobachtungen meines Bruders hervor— geht, die Abſtammung der Schmetterlinge von den Frühlingsfliegen oder nahen Ver— wandten derſelben gerade in der unzweideu— tigſten Weiſe. Als den Frühlingsfliegen noch am nächſten ſtehende Schmetterlinge ſind nach Speyer Pſychiden, Tineinen, Hepialiden und beſonders Mikropteryginen, als am weiteſten von ihnen entfernte die Tagfalter zu be— trachten. Hermann Müller. 388 Müller, Phryganiden-Studien. 2. Die Flügeladern der Phryganiden und der Schmetterlinge. Itajahy, September 1878. Auf die nahe Verwandtſchaft der Haar— flügler (Trichoptera) oder Frühlings- fliegen (Phryganiden) und der Schmetter— linge iſt ſchon — ſelbſt in vordarwiniſcher Zeit, ehe noch dabei an wirkliche Ver— wandtſchaft gedacht wurde — vielfach hin— gewieſen worden. In neuerer Zeit hat mein Bruder Hermann Müller die Abſtammung der Schmetterlinge von den Haarflüglern zu begründen verſucht, beſonders aber iſt die nahe Verwandtſchaft dieſer beiden Grup— pen aufs Entſchiedenſte betont worden einer— ſeits von einem bewährten Meiſter der Schmetterlingskunde, Dr. A. Speyer, deſſen Abhandlung „Zur Genealogie der Schmetterlinge“ (in der Stettiner ento— mologiſchen? Zeitung von 1869) das Beſte iſt, was bis jetzt über dieſen Gegenſtand geſchrieben wurde, andererſeits von dem eifrigſten Forſcher auf dem Gebiete der Haarflügler, Mr. R. Mac Lachlan. «) Mac Lachlan bemerkt, daß die An— ordnung des Flügelgeäders durchaus nicht unverträglich ſei mit einer ſolchen nahen Verwandtſchaft, und Dr. Speyer hebt ) In England pflegt man die Haarflügler als beſondere Ordnung zu betrachten, in Deutſchland reiht man ſie als Familie der Phryganiden den Netzflüglern ein und ſtellt dieſe Ordnung und die Schmetterlinge meiſt der Inſektenklaſſe. In Bezug auf dieſe An— ordnung unterſchreibe ich, was Mae Lach— lan ſagt: „Ich erhebe nachdrücklichen Proteſt gegen eine ſo weite Trennung der beiden Geſchlechter, in Anbetracht, daß, welches auch das Verhältniß der Haarflügler zu den andern Linneé'ſchen Gruppen der Netzflügler ſein mag, ihre Verwandtſchaft zu den Schmetterlingen eine nahe iſt, und daß ein Verſuch, ſie ſo weit von einander zu entfernen, eine Beleidigung für Beide iſt (Linnean Soc. Journ. Zool. Vol. XI. p. 100). abgebildeten Oberflügel jo ziemlich an die entgegengeſetzten Enden | hervor, daß zwiſchen dem Flügelgeäder ge— wiſſer Hepialiden und Coſſiden unter den Schmetterlingen und dem von Ptilocolepus und Rhyacophila unter den Haarflügeln „nicht nur Uebereinſtimmung in den weſent— lichſten Punkten, ſondern eine bis ins Detail gehende Aehnlichkeit ſtattfindet.“ Beide aber unterlaſſen es, dieſe Uebereinſtimmung des Flügelgeäders im Einzelnen nachzuweiſen. Ich will verſuchen, dies nachzuholen und dadurch für die Zuſammengehörigkeit der beiden Gruppen einen neuen Beweis liefern. Im erſten Bande des „Kosmos“ (S. 390) findet ſich das Flügelgeäder von zwei jungen Schmetterlingspuppen abgebildet. Von dem der fertigen Schmetterlinge unterſcheidet es ſich dadurch, daß 1) alle Queradern noch vollſtändig fehlen, dagegen 2) verſchiedene Längsadern, die ſpäter mehr oder weniger vollſtändig ſchwinden, noch in ganzer Länge vorhanden ſind. Nach Häckel's „bioge— netiſchem Grundgeſetze“ darf man in dieſem Puppengeäder einen urſprünglichen Zuſtand erblicken. Dies giebt einen einfachen Weg an die Hand zur Vergleichung des Flügel— geäders der Schmetterlinge und Haarflügler. Man wähle einen Schmetterling mit möglichſt unverſtümmelten Längsadern und zeichne das Geäder mit Hinweglaſſung aller Queradern. Von Haarflüglern habe ich zu dieſem Behufe gleich den erſten in Kolenati's Monographie zur Erläuterung des Geäders genommen (von Glyphidotaulius umbraculum Kol.), von den Schmetterlingen den im „Kosmos“ (Bd. J, S. 389) dargeſtellten Oberflügel der Außer den Queradern ſind auch die Innenrandsadern weggelaſſen. Man erkennt ſofort die vollſtändige Uebereinſtimmung in Zahl und Veräſtelung der Adern. Dem Vorderrande zunächſt eine einfache Ader (sc) (Subcosta der Haar— Castnia Ardalus. — 1. Vorderflügel von Glyphidotaulius umbraculum Kol. (Nach Kolenati, Gener. et spec. Trichopt. pars I. 1848. Tab. I. Fig. 1 A.) 2. Vorderflügel von Castnia Ardalus Dalm. (Nach „Kosmos“, Bd. I. 1877. S. 389.) In beiden Flügeln ſind die Innenrandsadern und Queradern weggelaſſen. flügler, Costalis der Schmetterlinge). Dann ein Stamm (Subeostalis der Schmetter— linge), der ſich in zwei Aeſte ſpaltet, einen vorderen einfachen ( sc) (ramus radii sub- costalis der Haarflügler, erſter Aſt der Subeostalis bei den Schmetterlingen ge⸗ nannt), und einen hinteren, zweimal gabe— lig geſpaltenen (rd) (ramus radii discoi- dalis der Haarflügler, 2. bis 5. Aſt der Subeostalis bei den Schmetterlingen). Dann folgt eine dritte Hauptader (th), die ſich in einen vorderen gegabelten und hinteren einfachen Aſt ſpaltet (ramus thyrifer der Haarflügler, bei den Schmetterlingen heißen die beiden Aeſte der Gabel Discoidalrippen, der einfache hintere Aſt wird als dritter Aſt der Mediana bezeichnet; doch hatte mich ſchon das Puppengeäder von Siderone Ide ge- lehrt, daß er zur Discoidalis gehört). Endlich ein vierter Hauptaſt (rel) mit zwei Endzweigen (ramus elavalis der Haarflügler, Mediana oder Subdorsalis der Schmetterlinge). Daß nicht jeder beliebige Schmetterling, mit jedem beliebigen Haarflügler verglichen, eine ſo vollſtändige, ſo auf den erſten Blick erkennbare Uebereinſtimmung zeigt, bedarf wohl kaum beſonderer Erwähnung. Doch ſind in der Regel etwaige Abweichungen unſchwer auf die hier dargeſtellte Grund— form zurückzuführen. Umgekehrt aber ſteht auch Castnia keineswegs unter allen Schmet— terlingen in ihrem Flügelbaue den Haar— flüglern am nächſten. Weit enger ſchließt ſich dieſen Hepialus an in der Geſtalt der Flügel, in dem Vorhandenſein einer Quer— ader, welche nahe der Flügelwurzel bei den Haarflüglern Costa und Subeosta verbin— det, ſowie eines häutigen Anhanges am Innenrande der Flügelwurzel, beſonders aber dadurch, daß die Hinterflügel denſel— ben Aderlauf wie die Vorderflügel zeigen, während bei Castnia und den meiſten an— deren Schmetterlingen, ſtatt der elf in den vorſtehenden Figuren gezeichneten Adern der Vorderflügel, die Hinterflügel“) nur ſieben beſitzen. F. M. 3. Waſſerthiere in den Wipfeln des Waldes. Itajahy, Septbr. 1878 An einem heißen Sommertage ſtand ich — vor mehr als 25 Jahren — mit einem Freunde unter einem Urwaldsbaume, gegen deſſen eiſenharten Stamm wir unſere Aexte wohl ſchon eine Stunde lang ſchwan— gen. Dieſer Arbeit noch wenig gewohnt, begannen meine Arme zu erlahmen, und einen Augenblick ausruhend, ließen wir die Aexte ſinken. Da, horch, fallen rings um uns ſchwere Tropfen nieder aus der hohen Krone des Baumes. an zu weinen,“ kommt!“ wuchtige Hiebe geführt, unter lautem Aechzen, rief mein Freund, „er da begann auch, der ſtolze Stamm *) Die Herren Inſektenbeſchreiber, die bereits hunderte von Bänden mit unnützem Ballaſt gefüllt haben, haben nicht nur in jeder Inſektengruppe eine eigene Namengebung für die Adern und Zellen der Flügel eingeführt, ſie haben bisweilen ſogar bei Vorder- und Hinterflügel derſelben Thiere entſprechende Adern mit verſchiedenen, verſchiedene mit gleichen Namen belegt. So bei den Haar— flüglern. Der ramus thyrifer der Vorder⸗ flügel heißt bei Kolenati ramus subdiscoi- dalis im Hinterflügel, der ramus clavalis der Vorderflügel heißt im Hinterflügel eubitus; dieſen ſelben Namen eubitus führen im Vorder— flügel die Innenrandsadern, welche im Hinter— flügel costulae genannt werden! Müller, Phryganiden-Studien. ſich langſam doch ſichtlich zu neigen und in beſchleunigtem Falle ſchmetterte er krachend zur Erde. — Wie manches Mal habe ich ſeit jenem Tage die Thränen aufathmend begrüßt, mit denen ein e ſeinen nahen Fall beweinte! Die Aeſte faſt aller größeren Bäume ſind hier reichlich bewachſen mit ananas— ähnlichen Pflanzen (Bromeliaceen), zwiſchen deren ſtachlichen, am Grunde oft bauchigen Blättern das Regenwaſſer ſich ſammelt. Sind dieſe nie völlig trockenen Waſſer— behälter bis zum Rande gefüllt, ſo giebt ihr Ueberfließen die erſte Kunde von dem ſonſt noch unmerklichen Weichen des Baumes aus ſeiner Gleichgewichtslage. Außer dem Waſſer ſammeln ſich zwi— ſchen den Blättern der Bromelien dürres „Der Baum fängt Und kaum hatte er noch einige Poneriden), Laub, Holzſtückchen, Blüthen, Früchte, Sa— men, die hineinfallen oder von Wind oder Vögeln hineingetragen werden. Vermodernd mögen ſie zur Ernährung der Bromelien beitragen. Es ſammelt ſich ferner, theils zwiſchen den ſtachligen Blättern Schutz, theils zwiſchen jenen pflanzlichen Abfällen Nahrung ſuchend, eine ziemlich mannigfal— tige Geſellſchaft von Thieren. — Außer— halb des Waſſers Aſſeln, Tauſendfüße, Spinnen, Ameiſen (namentlich verſchiedene Landplanarien u. ſ. w. — Im Waſſer Käfer, Blutegel leine der deutſchen Clepsine bioculata ähnliche Art), kleine Fröſche und deren Kaulquappen, ſowie ver— ſchiedene Larven von Fliegen, von Waſſer— ſjungfern und anderen Kerfen.“) Aquarien im „Kosmos“ Zu dieſen ſeit Jahren mir bekannten Bewohnern der Bromelien habe ich heute einen recht merkwürdigen neuen gefunden, der mich beſonders deshalb erfreute, weil 5) Anm. d. Red. Daß dieſe Natur- ſich zuweilen auch mit Blumen ſchmücken, die ihnen eigenthümlich ſind, wurde (Bd. I. S. 80) erwähnt. können? ich ausdrücklich ausgezogen war, ihn zu ſuchen. Es begegnet einem nicht oft, daß man ſich vorſetzt, ein beſtimmtes unbekann— tes Thier zu entdecken und es wirklich auch entdeckt. Seit Monaten hatte ich unfere | fließenden und ſtehenden Gewäſſer eifrigſt nach Larven von Frühlingsfliegen (Phry— ganiden) durchſucht und etwa ein halbes Schock verſchiedener Arten zuſammengebracht. Da fiel mir ein: ſollten nicht ebenſo gut, wie Waſſerjungfern, auch Phryganiden als Larven in dem Waſſer der Bromelien leben Mit dem Waldmeſſer bewaffnet ging ich ſofort in meinen Wald und hatte wohl kaum ein Dutzend Bromelien abge— hauen und unterſucht, als ich auf das erſte ganz eigenartige Phryganidengehäuſe ſtieß. Ich habe deren jetzt elf vor mir. — Man hätte ſich eigentlich, was ich freilich nicht gethan, im Voraus fagen können, wie fie etwa ausſehen würden. Sand und Steine, woraus unſere meiſten Arten bauen, giebt es in den Wipfeln des Urwaldes nicht; nur | | Müller, Phryganiden-Studien. dürres Laub ſteht da reichlich zur Verfüg— ung. Ferner wäre die gewöhnliche dreh— runde Form der Phryganidengehäuſe höchſt unbequem geweſen in den engen Räumen, zwiſchen breiten, ziemlich dicht aneinander liegenden Blättern, ganz ebenſo wie unter Baumrinde, wo daher vorwiegend flach ges | drückte Thiere hauſen. So ſind denn die | bis 15 mm langen, 4 nm breiten Gehäuſe nicht drehrund, ſondern kaum halb ſo hoch als breit, mit ſcharfen Seitenkanten, ſo daß der Querſchnitt, wie der einer Linſe, von zwei ziemlich gleich gewölbten Bogen gebil— | det wird. Die Bauchſeite des Gehäuſes beſteht meiſt aus fünf, die über die vor— dere Oeffnung vorſpringende Rückenſeite aus ſechs Blattſtückchen, von denen jedes mit einem Hinterrande den Vorderrand des vorhergehenden deckt. Am hinteren Ende liegen Rücken- einander. Was ich für mehrere andere Bewohner der Bromelien nur vermuthe, glaube ich für dieſe Phryganidenlarve mit ziemlicher Sicherheit ausſprechen zu können, daß ſie nämlich in dieſem Waſſer über der Erde, in den Wipfeln der Bäume, ihren aus— ſchließlichen Wohnſitz habe, und ich glaubte und Bauchwand dicht an— aus dieſem Grunde auf ſie als ein der Beachtung werthes Thier aufmerkſam machen zu dürfen. Denn nicht nur iſt ſie mir bis jetzt in unſeren fließenden und ſtehenden Gewäſſern nirgends begegnet, ſondern es iſt auch die Geſtalt ihres Gehäuſes dem eigenthümlichen Aufenthaltsorte trefflich an— gepaßt. Sie hat in unſeren Bächen und ſtehenden Gewäſſern einen nahen, ziemlich ſeltenen Verwandten, deſſen in ähnlicher Weiſe aus Blättern gebautes Haus bedeu— tend größer und minder regelmäßig aus weniger zahlreichen Blattſtücken zuſammen— gefügt iſt. Ich beſitze ein ſolches Gehäuſe von 4 em Länge bei 6 em Breite im Lichten, aus zwei oberen und zwei unteren Blatt— ſtücken beſtehend, von denen eines 2 em breit iſt, alſo ſeitlich weit über den inneren Raum des Gehäuſes hinausragt. Wenn einmal eine Phryganide mit ſolchen aus Blättern bauenden Larven zufällig ihre Eier in das Waſſer der Bro— melien abſetzte, ſo konnte wohl hier ihre Brut weit leichter als die anderer Arten mit anderen Gewohnheiten ſich erhalten und mit der Zeit den neuen Verhältniſſen noch enger ſich anpaſſen; für die meiſten von unſeren Arten, deren Larven nur in reinem, raſch fließendem Waſſer gedeihen, wäre eine ſolche Ueberſiedelung unmöglich. Wenn für die Puppen der Haarflügler die Stunde der Erlöſung gekommen iſt, durchnagen fie mit ſcharfen Kinnbacken den Kosmos, Jahrg. II. Heft 11. 392 Verſchluß ihres engen Gefängniſſes und ſchwimmen an die Oberfläche des Waſſers, um hier oder auch außerhalb des Waſſers ihre Puppenhaut abzuſtreifen. Als Schwimm— beine dienen ihnen dabei hauptſächlich die Mittelbeine, deren Füße mit einer Doppel— reihe langer Wimpern beſetzt ſind; ähnlich ſind bisweilen auch die Vorderbeine ausge— rüſtet, während die wimperloſen Hinterbeine beim Schwimmen unthätig dem Hinterleibe anliegen. Die Bewimperung der Beine iſt bei verſchiedenen Arten verſchieden lang und dicht, über eine verſchiedene Zahl von Fuß— gliedern ausgedehnt, fehlt aber, ſoviel mir bekannt keiner der in Bächen und Teichen lebenden Arten. Dagegen iſt dieſe Aus— rüſtung zum Schwimmen den Bewohnern der Bromelien vollſtändig verloren gegangen; ihre Beine ſind ganz wimperlos. Sie be— dürfen des Schwimmens nicht, um an die Luft zu gelangen und hätten zwiſchen den einander umſchließenden Blättern der Bro— melien nicht einmal Raum dazu. Das Fortbeſtehen der Bewimperung ihrer Mittelbeine dürfte den Puppen der Bromelien-Bewohner kaum einen merklichen Nachtheil gebracht haben; ebenſowenig ſcheint es wahrſcheinlich, daß das Auftreten unbe wimperter Beine durch die veränderten Lebensbedingungen hervorgerufen oder be günſtigt worden ſei. Auch bei anderen Haarflüglern dürften bisweilen, als Rück— ſchlag in eine längſt vergangene Zeit, unbe— wimperte Beine auftreten; allein bei ihnen müſſen ſolche des Schwimmens unfähige Puppen zu Grunde gehen, ohne Nach— kommen zu hinterlaſſen. In den Brome— lien dagegen wirkt ſolchem Rückſchlage keine Ausleſe entgegen und die unbewimperte Ur⸗ form der Beine konnte auf dieſe Weiſe all. mälig wieder zur Alleinherrſchaft gelangen. Daß ſie es gethan, iſt ein Beweis dafür, Müller, Phryganiden-Studien. daß die Puppen ſchon ſeit lange an Orten heimiſch ſind, wo der Mangel der Schwimm— fähigkeit ihnen keinen Nachtheil brachte. Noch ein zweiter Bewohner unſerer Bromelien ſcheint beſonderer Beachtung wür— dig, ein kleiner Laubfroſch, mit Füßen ohne Schwimmhaut. Er trägt nämlich, wie die berühmte Wabenkröte, ſeine verhältnißmäßig ſehr großen Eier auf dem Rücken; bei einem ſolchen Fröſchchen, welches ich lebend vor mir habe, füllen neun Eier die ganze Länge der Breite des Rückens von den Schultern bis zum Hinterende. F. M. 4. Die Grumicha. Itajahy, Oktober 1878. Unter dem Namen Grumicha hat Aug. Saint-Hilaire Larvengehäuſe einer Frühlingsfliege aus Flüſſen Braſiliens be— ſchrieben: Röhren aus hartem, hornähnlichem Stoffe, glatt, glänzend, ſchwarz wie Eben— holz, leicht gekrümmt und allmälig ver— jüngt, wie ein Horn. Solche Gehäuſe kommen auch in den Zuflüſſen des Itajahy vor, wo dieſe in ſteinigem Bette raſch da— hinfließen, und zwar zwei Arten, eine kleinere, nur 8 bis 10 mm lang, wurde erſt in einem einzigen kleinen Bergbache getroffen (Affenwinkel in Blumenau); eine größere, zwei- bis dreimal ſo lang, lebt ſtellenweiſe häufig in größeren Bächen (Garcia, Warnow, Neiße). Die Röhren dieſer größeren und häufigeren Art erreichen beim Männchen (Fig. 1 A) meiſt 17—20, beim Weibchen (Fig. 1 B) Länge. Zur Verpuppung heftet die Larve ihre Röhre an einen Stein oder an andere ſchon feſtſitzende Röhren und zwar mittelſt einer kurzgeſtielten Scheibe. Die Larven lieben ſich geſellig feſtzuſetzen und man findet nicht ſelten mehr als hun— dert Röhren an einander gekittet. Dicht 25 - 30 mm hinter dem Eingange wird die Röhre durch Müller, Phryganiden- Studien. einen Deckel geſchloſſen. Deckel, Haftſcheibe und deren Stiel beſtehen aus demſelben Stoffe, wie das Gehäuſe; ganz ähnliche Haftſcheiben, Stiele und Deckel werden auch von anderen verwandten Larven gefertigt, die ihre Röhren aus Steinen aufbauen; bei 393 Letzteren hat wohl noch Niemand in Zweifel gezogen, daß der Stoff dazu von den Spinn— drüſen der Larve geliefert wird; daſſelbe wird alſo auch für dieſe Gebilde bei der Gru— micha gelten, und ebenſo für deren ganze Röhre, die ja aus demſelben Stoffe beſteht. 1. Zur Verpuppung angeheftete Grumicharöhren, nat. Größe. A eines Männchens, B eines Weibchens. — 2. Deckel der Röhre eines Männchens. — 3. Deckel der Röhre eines Weibchens. 4. Querwand am Hinterende der Röhre eines Weibchens. Fig. 2 — 4 achtmal vergrößert. Etwas unter ſeiner Mitte, alſo der Bauchſeite der Röhre näher, hat der Deckel (Fig. 2, 3) eine ſchmale, quere, gerade oder häufiger etwas gebogene Oeffnung. Eine zweite kreisförmige Oeffnung findet ſich in der Mitte der Querwand (Fig. 4), die ſchon vor dem Feſtſetzen das hintere Ende der Röhre ſchließt. Dieſe beiden Oeffnun— gen ermöglichen den für die Athmung der Puppe nöthigen Waſſerwechſel. Nach Ab— lauf der Puppenzeit ſchneidet die Puppe mit ihren ſcharfen Kinnbacken den Deckel ringsum los, verläßt gegen Abend ihre Röhre und ſtreift außerhalb des Waſſers ihre Puppenhaut ab, um als graue un— ſcheinbare Motte der Liebe nachzugehen. An den von der Puppe ſelbſt abgelöſten Deckeln läßt ſich nun ſehr bequem deren ſpaltförmige Oeffnung meſſen und es ergiebt ſich dabei, daß die Größe dieſer Oeffnung ſo genau, als man es eben meſſen kann, übereinſtimmt mit derjenigen der hinteren kreisförmigen Oeffnung der Röhre. Letztere hat bei den größeren weiblichen Puppen durchſchnittlich / mm Durchmeſſer, ihre Größe iſt alſo 113 — 0,087 qmm. — Für die vordere Oeffnung wird man ohne erheblichen Fehler die Größe dem Produkt aus Länge und Breite gleichſetzen dürfen; als Mittelwerth von 17 ohne Wahl ge— ſammelten Deckeln weiblicher Puppen ergab ſich auf dieſem Wege 0,085 qmm. Das wäre nun wieder, wie beim Waben— bau der Bienen, eine Gelegenheit, das un— bewußte Hellſehen des Inſtinktes oder das mathematiſche Genie des kleinen Baumeiſters zu bewundern, der trotz ſo abweichender Geſtalt beiden Oeffnungen gleiche Größe zu geben weiß. Im Grunde mag aber die Sache ziemlich einfach ſein; es wird ja der Larve nur zugemuthet, daß ſie zu unter— ſcheiden wiſſe, wann ſie von einem gleich— mäßigen Waſſerſtrome gebadet wird. Iſt eine der Oeffnungen kleiner, ſo fließt durch ſie das Waſſer ſchneller und nach ihr zu iſt der Waſſerſtrom im Innern der Röhre beſchleunigt oder von ihr weg verlangſamt, je nachdem ſie Aus- oder Eingangsöffnung iſt. Unter Tauſenden feſtſitzender Grumicha— Gehäuſe, die ich geſehen — man hebt bis— weilen Hunderte an einem einzigen Steine aus dem Waſſer — habe ich einige wenige getroffen, die nicht durch einen hornigen =“ 394 Deckel, ſondern durch ein quervorliegendes Steinchen geſchloſſen waren. Dieſer Tage hatte ich zwei dieſer Röhren mit heimge— nommen. Nach Entfernung des Steinchens zog ich aus ihnen Puppen hervor, die nicht nur der Art, ſondern ſogar der Gattung nach von denen der Grumicha verſchieden waren. Bei Grumichapuppen überragen z. B. die Fühler, ſelbſt der Männchen, nur wenig den Hinterleib; jede Schiene trägt am Ende zwei, in Länge wenig verſchiedene Spornen. Die Puppen der beiden Röhren mit Steinverſchluß hatten Fühler von mehrfacher Körperlänge; Vorder- und Mittelſchienen hat— ten je zwei Spornen, aber von ſehr ungleicher Länge; die Hinterſchienen hatten außer den beiden Endſpornen auch noch Mittelſpornen, — anderer Unterſchiede nicht zu gedenken. Der im erſten Augenblicke befremdliche Fund erinnerte mich an die Bienen (Tri- gona limao) und Termiten (Eutermes in- quilinus), die, ſtatt ſelbſt zu bauen, die Bauten ihrer Verwandten ſich zu Nutze machen. Warum ſollten nicht auch die prächtigen Grumicharöhren, die ja nach dem Ausſchlüpfen der urſprünglichen Bewohner Müller, Phryganiden-Studien. ganiden, Frühlingsfliegen, Schmetterlings— fliegen) mit den Schmetterlingen pflegt in erſter Reihe der ähnlichen Entwickelungs— weiſe und des Umſtandes gedacht zu werden, daß faſt alle Larven der einen und einige wenige der anderen Gruppe ſich tragbare Gehäuſe bauen. „Die Larven der Phry— ganiden,“ ſagt z. B. Dr. A. Speyer (Zur Genealogie der Schmetterlinge), „woh— nen größtentheils, die der Schmetterlinge wenigſtens theilweiſe in tragbaren, mit an— organiſchen, vegetabiliſchen oder animaliſchen Stoffen und allerlei Abfällen bekleideten, ſelbſt verfertigten, röhrigen Hülſen, aus denen nur die Bruſtfüße zum Kriechen vorgeſtreckt werden, während ſich das Ende des Kör— pers durch Nachſchieber oder Häkchen an die Röhre anklammert. Sie verpuppen ſich ! > ‚ in dieſen Wohnungen, welche bei manchen | Arten beider Gruppen eine ungemeine Aehn- lichkeit zeigen, bei beiden nach den Arten charakteriſtiſch verſchieden gebaut find. Die bei den Inſekten ſo auffällige Form des hier und da in Menge zu haben ſind, ihre Liebhaber finden? Es ſcheint übrigens der | fremde Gaſt feine beſondere, ausſchließlich die Grumicharöhren bewohnende Art, ſon- dern nicht verſchieden zu ſein von einer hier ziemlich häufigen Larve, die für gewöhnlich ein paſſendes Stück eines hohlen oder weich— markigen, leicht auszuhöhlenden Aeſtchens als Wohnung benutzt. — Auch bei den Gehäuſen der Haarflügler alſo darf man nicht immer ohne Weiteres den Inhaber als Erbauer anſehen. F. M. 5. Helicopsyche. Itajahy, December 1878. gewundenen Schneckenhauſes wiederholt ſich bei Schmetterlingen, wie bei Phryganiden. (Psyche helix, Helicopsyche).“ Ob wirklich das Bauen tragbarer Ge— häuſe eine von den gemeinſamen Vorfahren der ohne Frage nahe verwandten Haarflügler und Schmetterlinge ererbte Gewohnheit ſei, ſcheint mir noch nicht über allen Zweifel erhaben zu ſein, — außer Zweifel aber, daß die überraſchende Aehnlichkeit einzelner Gehäuſe aus beiden Gruppen nicht eine er— erbte, ſondern eine ſpäter erworbene iſt, daß z. B. die auffallende Form des gewundenen ſchaftliche Beziehungen Bei Erörterungen über die Verwandt⸗ ſchaft der Haarflügler (Triehoptera, Phry- | | 0 Schneckeuhauſes nicht auf engere verwandt— zwiſchen Psyche helix und Helicopsyche hinweiſt. Die Aehnlichkeit dieſer Larvengehäuſe mit wirklichen Schneckenhäuſern iſt in manchen Fällen ſo täuſchend, daß man ſie mehrfach Müller, Phryganiden-Studien. als ſolche beſchrieben (z. B. Valvata areni- fera Lea und V. lustriea Say), und daß Swainſon für ſie eine eigene Schneckengatt— ung, Thelidomus, gebildet hat, — fo täuſchend, daß man ſie als Nachahmung von Schneckenhäuſern, als einen Fall von Mimicry zu betrachten verſucht iſt. Ob dies etwa für Psyche helix zutrifft, deren Vorkommen und Lebensweiſe ich nicht kenne, ob dieſe in ihrer Schneckenähnlichkeit Schutz gegen Feinde findet, weiß ich nicht. Für 395 Helicopsyche iſt eine ſolche Erklärung ihrer Schneckenform beſtimmt abzuweiſen; hier, wo dieſe Thiere in mehreren Arten unge— mein häufig ſind, leben ſie nie in Geſell— ſchaft von Schnecken; überhaupt find mir hier keine Schnecken bekannt, die den Helico— pſychen in Größe und Geſtalt ähnlich wären. Welches mag alſo wohl der Ur— ſprung der Schneckenform der Helicopſychen— gehäuſe, ja der Schneckenform über- haupt ſein? 1—3. Gehäuſe verſchiedener Haarflügler, nat. Größe, von der Bauchſeite. — 4. Helicopſyche— gehäuſe mit vier Schneckenwindungen und ſchornſteinartig emporſtehendem, ungewundenem Afterende; 3 mal vergrößert. — 5, 6 Holzröhren von Puppen (von Macronema?) bewohnt, der Länge nach durchgeſchnitten, nat. Größe. — St, st! Steinchen, zum Verſchluß der Röhren. — p Puppenhülle, aus Seide geſponnen. — s Siebförmige hintere Querwand der Puppenhülle. — Loch durch die Wand der Röhre, unentbehrlich, wenn dieſelbe (Fig. 5 m) hinten durch das Mark des Zweiges geſchloſſen, überflüſſig, wenn dieſelbe (Fig. 6) hinten offen iſt. Die Gehäuſe verſchiedener Haarflügler— larven zeigen Vorrichtungen, durch welche, wenn das Thier Nahrung ſuchend umher— kriecht, das vorgeſtreckte Kopfende von oben gedeckt, möglichſt den Blicken und Angriffen etwaiger Feinde entzogen wird. Hagen's Abhandlung“) „über Phryganiden-Gehäuſe“ bietet mehrfache Beiſpiele; mehrere andere habe ich hier kennen gelernt. Die Larven einer durch Fühler von drei- bis vierfacher Körperlänge ausgezeichneten Art (Macrone— ma?) richten ſich hohle oder von ihnen aus— gehöhlte Stücke dünner Zweige (Fig. 1) dadurch zur Wohnung her, daß ſie von 9 Stettin. Ent. Zeit. 1864. XXV. S. 113 und 221. der als Bauchſeite benutzten Wand des Ein— ganges ein halbkreisförmiges Stück heraus— nagen und unter der nun dachartig vor— ſpringenden Rückenwand ein Steinchen be— weglich anſpinnen, welches als Deckel den Eingang ſchließt, wenn ſie ſich zurückziehen, und auch, wenn ſie hervorkommen, den Kopf von vorn und oben ſchützen hilft. — Einige Arten aus der Familie der Leptoce— riden (= Myſtaciden), darunter auch die Bewohner der Bromelien, bauen ihr Haus aus Blattſtücken (Fig. 2), von denen eine nach den Arten wechſelnde Zahl die Bauch— ſeite, eben ſo viel oder eins mehr die Rücken— ſeite bilden. Das vorderſte Blattſtück des Rückens ſpringt dachartig weit über den 396 Eingang des Hauſes vor. — Eine andere Leptoceridenlarve bekleidet ihr kegelför— miges Gehäuſe (Fig. 3) mit ſchmalen Holz— ſtückchen, die auf dem Rücken der Länge nach, an den Seiten ſchief von vorn und oben nach hinten und unten gelagert ſind; auch bei ihr ſpringt die Rückenwand des Einganges weit über die Bauchwand vor, und außerdem wird noch der Vorderrand des Rückens von etwa einem halben Dutzend ſchützend ſich über den Eingang vorſtreckender Hölzchen überragt. — Beſſer noch als eine gerade vorſpringende, würde eine gleichzeitig leicht abwärts gebogene Rückenwand den Ein— gang ſchützen; eine ſolche aber, falls ſie nicht bei jedem Weiterbau abgebrochen und neu— gebaut werden ſollte, müßte zu mehr oder we— niger gebogenen Röhren führen, wie ſie unter den Leptoceriden häufig vorkommen und end— lich zu ſchneckenartig gewundenen Gehäuſen. Wie die ſchneckenförmigen Gehäuſe der Helicopſychen unter den Haarflüglern, ſo ſtehen die regellos gebogenen Röhren der Wurmſchnecken (Vermetiden) vereinzelt da unter den regelmäßigen Schneckenhäuſern ihrer Verwandten, und es iſt eine hübſche Beſtätigung von Haeckel's biogeneti— | ſchem Grundgeſetz, daß, wie manche von dieſen (z. B. Magilus antiquus) bekannt— lich ihr Haus regelmäßig beginnen und dadurch ihre Abſtammung von regelrech— ten Schnecken bekunden, ſo jene biswei— len noch einen älteſten ungewundenen Theil des Gehäuſes erhalten zeigen (Fig. 4), der wie ein kleiner Schornſtein emporragt und die Abſtammung von Vorfahren be— weiſt, die noch ungewundene Röhren bauten. 6. Gedankenloſe Gewohnheit. Itajahy, December 1878. Wem wäre es nicht ſchon begegnet, daß er eine Handlung, die er bei beſtimmtem Anlaſſe auszuführen ſich gewöhnt hat, gedankenlos ů— „ „%n%!u.:,. „( — 0000 | Siebe der Puppenhülle. Müller, Phryganiden-Studien. auch in Fällen ausgeführt, wo dieſelbe völlig zwecklos, oder ſelbſt zweckwidrig war? Daß es mit den ererbten Gewohnheiten der Thiere, dem nach Hartmann unfehlbaren Inſtinkte, nicht anders iſt, dafür giebt die eben erwähnte, in Holzröhren (Fig. 5) lebende Larve (von Macronema ?) ein recht ſchlagendes Beiſpiel. In Zweigen, die ſie ſich ſelbſt aushöhlt (Fig. 5) — es iſt das der häufigere Fall — richtet ſie ſich für die Verpuppung in folgender Weiſe ein: Durch die Wand der hinten durch das Mark (m) des Zweiges geſchloſſenen Höhle nagt ſie von innen her ein kleines Loch (); den Eingang verſchließt fie durch einen Stein (st); dann ſpinnt ſie eine dünne, die Innenwand der Röhre überkleidende feidene Puppenhülle (p); die vordere Querwand dieſer Puppenhülle über- | zieht und hält den Stein des Eingangs; zwiſchen Stein und Röhrenwand iſt die Puppenhülle ſiebartig durchlöchert, und ebenſo bildet die hintere Querwand ein Sieb (8). Die ſo eingeſchloſſene Larve oder ſpätere Puppe unterhält nun behufs der Athmung einen beſtändigen Waſſerſtrom durch ihr Haus; derſelbe tritt durch das vordere Sieb ein, durch das hintere Sieb aus der Puppen— hülle in den hinteren Raum der Höhle und aus dieſem durch das ſeitliche Loch nach außen. Dieſes Loch iſt alſo von höchſter Wichtigkeit für den Inhaber der Röhre. — Ergreift die Larve von einem hohlen Zweige Beſitz (Fig. 6), ſo ſichert ſie ſich auch hinten gegen feindliche Angriffe durch einen Stein (st!); dieſen bringt fie entweder am Ende des Zweiges an, oder (wie es ſcheint, häufiger) im Innern des Zweiges, dicht am hintern Nun, auch in dieſem Falle unterläßt ſie nicht, durch die Wand der hinten offenen Röhre gewohn— heitsgemäß das völlig nutzloſe, übliche Loch (Fig. 6, ]) zu nagen. F. M. ee Erasmus Darwin, der Großvater und Vorkämpfer Charles Darwin's. Ein Beitrag zur Geſchichte der Descendenz-Theorie von Ernſt Kraufe. „Entſtehung der Arten“ findet % Wman die kurze Bemerkung: „Es iſt merkwürdig, wie weit— gehend mein Großvater Dr. Erasmus Darwin die Anſichten Lamarck's und deren irrige Begründung in ſeiner 1794 erſchienenen Zoonomia anticipirte.“ Hin— länglich vertraut mit der Zurückhaltung und Beſcheidenheit der Ausdrucksweiſe des Ver— faſſers, beſonders wenn er pro domo ſpricht, las ich alsbald zwiſchen den Zeilen, daß dieſer Ahnherr ſicher bedeutende Verdienſte um die „Urgeſchichte der Darwin'ſche Theo— rie“ haben müßte, und da ich in deutſchen Werken hierüber keine Aufklärung antraf, verſchaffte ich mir die Schriften deſſelben, und fand in ihrem Studium einen ſeltenen Genuß. Alexander von Humboldt erzählte gerne, wie mächtig Forſter's Schilder— ungen der Südſee-Inſeln und Saint— Pierre's Naturſchilderungen ſeine Sehn— ſucht nach fernen Ländern geſteigert, ſeine Forſcherlaufbahn beeinflußt hätten; wie viel eindringlicher mußten die Werke Eras— mus Darwin's mit ihren auf Schritt uud Tritt wiederkehrenden Ahnungen einer neuen, höheren Naturanſchauung auf den Enkel wirken, der ſie in ſeiner Jugend ge— wiß mit der Andacht aufſchlug, die man den Werken eines gefeierten Dichters ent— gegenbringt. Erasmus Darwin's Verdienſte um die Wiſſenſchaft ſcheinen auf dem Continente nicht ſo bekannt zu ſein, wie ſie es ver— dienten, denn in ihm lebte bereits derſelbe raſtloſe Forſchertrieb und faſt die gleiche biologiſche Richtung wie in dem Enkel, und nicht ohne vielfache Berechtigung würde man ſagen dürfen, daß dieſer Letztere eine geiſtige Erbſchaft angetreten, ein Programm aus— geführt hat, welches ſein Großvater ent warf und hinterließ. Faſt jedem einzelnen Werke des jüngern Darwin läßt ſich wenigſtens ein Kapitel in den Werken des älteren gegenüberſtellen, die Räthſel der Vererbung, der Anpaſſung, der Schutzmittel von Pflanzen und Thieren, der geſchlecht- lichen Zuchtwahl, der inſektenfreſſenden Pflan zen, die Analyſe der Gemüthsbewegungen und ſociologiſchen Triebe, ja ſelbſt die Studien an Säuglingen finden wir bereits in den Werken des älteren Darwin beſprochen: Aber ein erheblicher Unterſchied in der Deut— ung der Natur wird ſich uns dabei dar— ſtellen: Der ältere Darwin war Lamarcki— aner, oder richtiger geſagt, Jean Lamarck war ein Darwinianer der älteren Schule, denn er hat nur, wenn auch mit großem Scharfſinn, die Ideen des Erasmus Darwin weiter ausgeführt und dieſem gebührt alſo das Verdienſt, zuerſt ein voll- ſtändiges Syſtem der Entwickelungstheorie aufgeſtellt zu haben. werde ich nachher beibringen, nachdem ich ausgeſchickt haben werde. Erasmus Darwin December 1731 zu Elton bei Newark in der Grafſchaft Nottingham als ſiebentes Kind Robert Darwin's geboren, em— pfing in Cheſterfield ſeine erſte Schulbild— ung und kam dann mit zweien ſeiner älteren Brüder auf das St. Johns College in Cambridge. Dorl bereits that er ſich durch Gelegenheitsgedichte, die ihm ſehr leicht von der Feder floſſen und bald eine reife Form zeigten, hervor, und ſein lebhaftes Naturell 8 ſeine angenehmen Umgangsformen er Die Beweiſe dafür Krauſe, Erasmus Darwin. warben ihm, ähnlich wie dem geiſtesver— wandten jungen Göthe, alle Herzen. So gelang es ihm einſt, zwei ältere grämliche Brüder, denen er von ſeinem Vater em— pfohlen war, und die ihn ſehr kühl em— pfangen hatten, bald dermaßen für ſich einzunehmen, daß der eine leiſe zu dem andern ſagte: „Wie ſchade, daß nicht wenig— ſtens Einer von uns geheirathet hat!“ Dieſer Junggeſellen- Seufzer machte einen ſo ſtarken Eindruck auf den jungen Dar— win, daß er ſich vornahm, dieſen Fehler ſicher nicht zu begehen, und in der Folge das eheloſe Leben ſtets entſchieden mißbil— ligte. Mit Ausnahme eines einzigen Se— meſters, in welchem er nach London ge— gangen war, um die anatomiſchen Vorleſungen des berühmten Dr. Hunter zu hören, ver— brachte er zwölf Semeſter hintereinander in Cambridge und erwarb dort das Baccalau— reat und in Edinburgh der Doktortitel. Nach einem kurzen Vorverſuch in Not— tingham, ließ er ſich als praktiſcher Arzt in Lichfield nieder und erwarb gleich durch ſeine erſten mit Kühnheit und Glück ge— leiteten Kuren Ruf und eine anſehnliche Praxis. einige Worte über den Lebensgang dieſes ausgezeichneten Denkers und Dichters vor— | Seinen Principien getreu, ver— mählte er ſich alsbald (1757) daſelbſt mit Miß Mary Howard, die er nach drei zehnjähriger Ehe, und nachdem ſie ihn mit iſt am 12. fünf Kinder beſchenkt hatte, wieder verlor. Von dieſen Kindern erſter Ehe zeichneten ſich früh zwei (Charles und Robert) durch wiſſenſchaftliche Arbeiten auf dem Ge— biete der Phyſiologie und Pathologie aus, aber nur der letztere, der Vater unſeres Charles Darwin, welcher Arzt in Shrewsbury war, überlebte ihn. Bald nach dem Tode ſeiner Frau begann Dar— win ſich mit der Ausarbeitung ſeiner me— diziniſchen und phyſiologiſch-pſychologiſchen Beobachtungen zu beſchäftigen, die aber erſt Krauſe, Erasmus Darwin. viel ſpäter unter dem Titel Zoonomia er— ſchienen und ſeinen Ruf als Arzt und Na— turforſcher weit über die Grenzen Englands verbreiteten. Vorher aber war es ihm be— ſchieden, ſeine Zeitgenoſſen durch dichteriſche Produktionen zu entzücken. Im Jahre 1778 hatte er durch Pacht eine maleriſch gelegene Beſitzung ungefähr zwei Meilen von Lichfield erworben, wo— ſelbſt ſich eine Anſtalt für kalte Bäder be— fand, die ihm zu vielfachen Studien, auch über den Nutzen der kalten Bäder in fieber— haften Krankheiten, Gelegenheiten gab. Auf dieſem ſeinem Lieblingsaufenthalte legte er ſich einen botaniſchen Garten an, der ihm die Idee zu ſeiner berühmteſten poetiſchen Schöpfung: „The botanie Garden“ gab. Die einzelnen Theile dieſes Gedichts erſchienen in längeren Zwiſchenräumen, nachdem, wie er in der Vorrede ſagt, die Horaziſche Regel des neunjährigen Reifenlaſſens vollkommen an ihnen durchgeführt war. Es ſcheint aus dieſem langen Zögern hervorzugehen, daß er anfangs gefürchtet hat, durch die Ver— öffentlichung dichteriſcher Produktionen ſeinen Ruf als Arzt zu beeinträchtigen, aber der lebhafte Beifall, den die erſte Publication (1781) fand, veranlaßte ihn bald zur Fort— ſetzung und in der Folge zu weiteren poe— tiſchen Schöpfungen. Inzwiſchen hatte er ſich 1781 zum zwei— ten Male mit der Wittwe des Oberſt Pole aus Radbourne in der Grafſchaft Derby verheirathet. Dieſe Dame hatte während ſeines Witthums einſt ihre Kinder zur Cur in ſein Haus gebracht und auf ihn ſchon damals tiefen Eindruck gemacht. Als er ſpäter zu Hilfe gerufen wurde, um ſie in einem gefährlichen Fieber zu behandeln, und trotz der Entfernung ſeines Wohnortes nicht aufgefordert worden war, die Nacht im Krankenhauſe zuzub ringen, durchwachte er Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. 399 die Nacht den Fenſtern deſſelben gegenüber unter einem Baume, und dichtete, angſtvoll die Bewegungen des Lichtes im Kranken— zimmer verfolgend, Petrarka's berühmtes Sonnet über den Traum von Laura's Tod, welches ſeiner augenblicklichen Ge— müthsſtimmung entſprach, in's Engliſche um. Nach dem Ableben ihres betagten Gatten reichte ihm Mrs. Pole ihre Hand und er zog, ihren Neigungen willfahrend, nach einem kürzeren Aufenthalte in Radbourne nach Derby, in deſſen Nähe er wiederum einen ſehr angenehmen Ruheſitz in der fünf (engl.) Meilen entfernten Priorei erwarb. Als Philoſoph, Arzt und Dichter hoch— geachtet, verbrachte er hier im Kreiſe der weiteren Familie, mit welcher ihn ſeine zweite Frau beſchenkt hatte, dreier Söhne und dreier Töchter, feine ſpäteren Lebensjahre, voll- endete und verfaßte ſeinen ferneren Schrif— ten und erlag am 18. April 1802, „ohne Schmerz und ohne jegliche Gemüthsbeweg— ung“, einem Anfalle der Bruſtbräune (An- gina pectoris). Weitere Einzelnheiten über ſein Leben findet man in einer ausführlichen Lebensbeſchreibung von Miß Anna Se— ward), aus der wir nur noch anführen, daß er ſeine humanitäre Geſinnung durch ſeine Beſtrebungen gegen Thierquälerei und gegen den überhandnehmenden Genuß geiſti— ger Getränke bethätigte. Der Abſcheu gegen Thierquälerei jeglicher Art, war ihm durch die Schilderung der Qualen menſchlicher Opfer der Inquiſition ſchon in zarter Ju— gend eingeflößt worden, aber derſelbe nahm durchaus keine ſentimentalen Formen an, und die jetzt zu erfreulicher Wirkſamkeit gediehenen Beſtrebungen gegen Thierquälerei können auf Erasmus Darwin als einen ihrer früheſten und würdigſten Vorkämpfer blicken. Er tadelte andererſeits die über— * *) Memoirs of Dr. Darwin, London 1804. 3 52 400 triebene Thierſchonung der Hindus, welche ſich geduldig von Inſekten beläſtigen laſſen, und zur Zeit einer Mißernte lieber ver— hungern, als Fleiſch eſſen, und ſagt in ſeiner „Anleitung zur Erziehung des weiblichen erſten Erziehung angehalten werden, für alle heilbaren Leiden anderer Weſen Mit— gefühl zu haben; aber es ſollte ihnen gleich— zeitig hinreichende Feſtigkeit des Gemüthes nes Glück zerſtören, indem ſie mit einer vorhanden ſind.“ a Ebenſo haben die Müßigkeits-Vereine in Erasmus Darwin einen ihrer äl— teſten Vorkämpfer zu verehren. Er ſah in dem übermäßigen Wein-, Bier- und Branntwein-Genuß die Quelle nicht nur zahlreicher ſozialer, ſondern auch ebenſo— vieler körperlicher Leiden und ſagt in ſeiner poetiſchen Art darüber (Zoonomia XXX. 3.): „Ich will dieſen Abſchnitt über die Krank— heiten der Leber, welche aus dem Miß— brauche geiſtiger Getränke entſtehen, mit der bekannten Geſchichte des Prometheus beſchlie— ßen. Sie ſcheint wirklich in den alten Zeiten, wo alles in Hieroglyphen und Fabeln eingekleidet wurde, von Aerzten er— funden zu ſein. Prometheus wurde abge— bildet, wie er das Feuer vom Himmel ſtahl, welches den durch Gährung erzeugten entzündbaren Geiſt bedeuten könnte, der den „Mann aus Erde“ wohl beleben kann. Daher die Eroberungen des Bacchus und die überſchwänglichen Freuden und das Jauch— zen ſeiner Anbeter. Die nachfolgende Strafe 5 Plan for female education. London, Johnson 1797. (Sect. XVI); deutſch von Hufeland, Berlin 1822. Geſchlechts“ *): „Kinder ſollten in ihrer anerzogen werden, damit fie nicht ihr eige- zu großen Empfänglichkeit mit den zahl reichen unheilbaren Uebeln ſympathiſiren, welche in dem gegenwärtigen Welt-Syſtem Krauſe, Erasmus Darwin. derjenigen, welche dieſes verfluchte Feuer entwandten, iſt ein Geier, der an ihren Lebern nagt; eine gute Allegorie der un— glücklichen Säufer, die Jahre lang an einem ſchmerzhaften Leberleiden dahinſiechen. Als vor einigen Jahren von dem Hauſe der Gemeinen die Frage entſchieden wurde, ob man auf die Branntweinbrennereien noch eine anderweite Taxe legen ſollte, wurde 4 von ihnen ſehr wahr gefagt: „Sie nehmen dem Volke das Brod und verwandeln es 1 in Gift.“ Und doch geftattet man, daß N dieſe „Krankheitsmanufaktur“ noch fort— { dauert! . . . So ift unter dem Namen Rum, Branntwein, Wachholder, Whisky, 4 Usquebough, Wein, Cyder, Bier und Por— 3 ter, der Alkohol das Gift für die Chriften- 7 heit geworden, wie es das Opium für die m Mahomedaner iſt.“ | Von den humanitären Beſtrebungen Darwins wenden wir uns zu ſeinen dichteriſchen und wiſſenſchaftlichen Leiſtungen. Es iſt bezeichnend für den merkwürdigen Mann, daß ſich dieſe beiden anſcheinend 4 divergirenden Richtungen bei ihm nicht von 5 einander trennen laſſen. Wie der ihm an dichteriſcher Kraft weit überlegene, aber in ſeiner Weltauffaſſung überaus ähnliche deut— ſche Dichterfürſt ſeine Ahnungen derſelben zuerſt in einem faſt gleichzeitig veröffent— lichten Gedichte: „die Metamorphoſe der Pflanzen“ ausſprach, ſo legte Darwin die Grundzüge derſelben in einem umfang— reichen Lehrgedicht dem „botaniſchen Gar— ten“ nieder. Dieſer Umſtand iſt im Uebrigen leicht erklärlich. Die Thätigkeit des Dich— ters iſt eine ſchöpferiſche, combinirende, ſyn— thetiſche, und daher gelingt ihr, was der rein analytiſchen Richtung des Forſchers oft verſagt bleibt. Groß im Zuſammenfaſſen und Vereinigen des Getrennten haßte Göthe förmlich die auflöſende und zerſetzende Thä— r Krauſe, Erasmus Darwin. tigkeit des exakten Forſchers, obwohl er ſie doch brauchte, um die Bauſteine feiner neuen Weltanſchauung zu erlangen; bei dem älteren Darwin war dieſe Abneig— ung gegen die zergliedernde Thätigkeit des Forſchers nicht vorhanden und daher kam er weiter im Aufbau als alle feine Vor— gänger und Zeitgenoſſen. Das Gedicht „der botaniſche Garten“, von welchem Miß Anna Seward ſagt, daß es größtentheils beim Beſuchen der auswärtigen Kranken, im Wagen gedichtet ſei, zerfällt in zwei ziemlich loſe mit ein— ander verbundene Theile, weshalb ich den zweiten, für ſich erſchienenen: „die Liebe der Pflanzen“ in der Folge unter dieſem Specialtitel citiren werde. Der erſte Theil entſpricht dann allerdings dem Haupttitel wie dem Specialtitel „die Oeko— nomie der Pflanzen“ nur in ſeinem vierten und letzten Geſange, während die erſten drei das Wirken der Naturkräfte im Allgemeinen und die Bildung der Welt im Beſondern ſchildern. Die Idee iſt offen— bar dem Lehrgedicht des Lucretius Ca— rus: „Von der Natur der Dinge“, dem auch das Tittelmotto entnommen iſt, nach— gebildet. In der Einleitung und Schutz— rede des botanie garden jagt der Ver— faſſer: „Die allgemeine Abſicht der folgen— den Bogen geht dahin, die Einbildungskraft unter das Banner der Wiſſenſchaft einzu— berufen und ihre Verehrer von den ange— nehmen Analogieen, welche die Bilderſprache der Poeſie ſchmücken, zu den wahreren zu führen, die den Vernunftſchluß der Philo— ſophie ausmachen . Es mag hier am Orte ſein, manche der folgenden Vermuth— ungen über einige Gegenſtände der Natur- philoſophie im Voraus in Schutz zu neh— men, weil ſie nicht durch genaue Unterſuch— ung oder beweiſende Experimente unterſtützt „»2ßtß2„»„ eg — —ö werden. Indeſſen find in denjenigen Thei— len der Philoſophie, wo unſre Kenntniß noch unvollkommen iſt, ausſchweifende Theorien nicht ohne ihren Nutzen, inſofern ſie zur Ausführung ſchwieriger Experimente oder zur Verfolgung geiſtreicher Schlüſſe Muth machen, ſei es nun, um ſie zu befeſtigen, oder um ſie zurückzuweiſen.“ Von der Grundidee ausgehend, daß die klaſſiſche Mythologie in ihren Göttergeſtalten die Kräfte und das Walten der Natur ver— herrlicht habe, wendet ſich der Dichter, in einer bilderreichen, durchweg mit mytholo— giſchen Anſpielungen durchſetzten Sprache, in ſeinen vier Geſängen an die vier Gatt— ungen von Elementar-Geiſtern, um ihren Antheil am Weltproceſſe zu verherrlichen. So iſt der erſte Geſang an die Feuergeiſter (Nymphes of primeval fire), der zweite an die Gnomen oder Erdgeiſter, die dritte an die Waſſernymphen und der vierte an die Sylphen der Luft, welche den Pflanzenleib aufbauen, gerichtet. Der erſte Geſang ſchildert demgemäß die Entſtehung der Welt aus dem Urfeuer, indem er zugleich viele von den allgemeinen Erſcheinungsformen des Feuers, der Wärme und des Lichtes zu— 5 ſammenfaßt. Was in den Verſen nur leicht angedeutet werden kann, wird dabei theils in kürzeren Fußnoten, theils in ausführlichen Abhandlungen (Additional Notes), die an's Ende des Bandes verwieſen ſind, weiter ausgeführt. Auf dieſe Noten haben wir hauptſächlich unſer Augenmerk zu richten.“) ) Die folgenden Citate beziehen ſich auf die zweiten Auflagen ſowohl des erſten Theils: „The economy of plants“, London, Johnson 1791, als des zweiten: „The loves of plants“ (Ibid. 1790), da dieſelben früh ge— nug erſchienen ſind, um jeden Gedanken einer Entlehnung von Kant, Göthe oder La— marck auszuſchließen. Kant's hier beſonders in Betracht kommende Kritik der teleologiſchen | — 402 Es intereſſirt uns nun zunächſt eine Note zum 101. Verſe des erſten Geſanges, in welchem der Verfaſſer die Idee und das Programm der Entwickelungstheorie ent- rollt. „Philoſophen aller Zeiten, ſagt er, ſcheinen, nachdem ſie die ſchrittweiſe Ent⸗ wickelung des jungen Thieres und der Pflanze aus dem Ei oder dem Samen und ihre allmäligen Fortſchritte zum voll— kommneren Zuſtande oder der Reife beob— achtet hatten, ſich vorgeſtellt zu haben, daß die große Welt ſelbſt ihre Kindheit und ihre ſtufenweiſen Fortſchritte zur Reife durch— gemacht habe. Dies ſcheint der alten und ſublimen Allegorie vom Eros oder der göttlichen Liebe, welche die Welt aus dem im Chaos ſchwimmenden Ei der Nacht her— vorbrachte, den Urſprung gegeben zu ha— ben.“ *) Auf den zweiten, beſonders wich— tigen Theil dieſer Anmerkung kommen wir ſpäter zurück. Nächſt der Entſtehung der Welt im Feuer werden in demſelben Ge— ſange noch das Erdfeuer und die Feuer— meteore, das elektriſche Feuer und Nord— licht, die chemiſche Erzeugung des Feuers, die Wirkungen der Wärme, Lichterſchein— ungen der Geſtirne, der Pflanzen und hinein. Für die auf darwiniſtiſcher Grundlage rückwärts blickenden Culturgeſchichtsforſcher der Neuzeit dürfte eine in dieſem Geſange ausgeſponnene Phantaſie über die Auffind- ung und Zähmung des wilden Feuers, welche Darwin „die erſte Kunſt“ nennt, von beſonderem Intereſſe ſein, weshalb wir ſie zugleich als Probe der Verſe hier ein— ſchalten wollen: Schriften viel ſpäter. *) The economy of plants, p. 8. Note. Krauſe, Erasmus Darwin. Nymphs! Your soft smiles uncultur'd man subdued, And charm'd the Savage from his native wood; You, while amazed his hurrying Hords retire From the fell havoc of devouring Fire, Taught, the first Art! with piny rods to raise By quick attrition the domestic blaze, Fan with soft breath with kindling leaves provide, And list the dread Destroyer on his side. So, with bright wreath of serpent-tresses erown’d Severe in beauty, young Medusa's frown’d; Erewhilesubdued, round Wisdom’s degisroll’d Hiss’d the dread snakes, and flam’d in bur- nish’d gold; Flash’d on her brandish'd arm the im- mortal shield, And Terror lighten’d o’er the dazzled field.*) Dieſe Verſe wirken um ſo eindringlicher, da in einer Anmerkung zu denſelben die Stellung der Affen und Otahaiter zu der neuen Kunſt geſchildert wird, welche letzte— ren zu Cooks Zeiten noch keinen Begriff davon hatten, daß Waſſer im Feuer ſo heiß wie glühendes Metall werden könne, und daher den kochenden Thee mit der Hand ſchöpfen wollten. Indem er in der Anmerk— ung ferner das im Texte erwähnte Feuer— Thiere und vieles andere beſprochen, und | Symbol, das ſchlangenumzüngelnde Meduſen— überall ſpielen dabei mythologiſche Bezüge haupt, zugleich auf die feuergeborne Wiſſen- ſchaft deutet, ſpricht er jenen Gedanken aus, den Caspari zum Mittelpunkt feiner Ur⸗ geſchichte der Menſchheit erhoben hat, und der in dem Gedichte noch mehr Relief er— hält, da in der Folge ausführlich die Er— findung der Dampfmaſchine, des Werkzeuges einer neuen Cultur, geſchildert wird. Von dem Inhalte des zweiten Ge— ſanges, der an die Erdgeiſter gerichtet iſt und die Entwickelung der Erde ſchildert, 52 wird ein aus dem Texte und den Anmerk— Urtheilskraft erſchien 1791, Lamarck's erſte *) The economy of plants C. I. V. 209 ff. und Anmerkungen dazu. — Krauſe, Erasmus Darwin. ungen zugleich zuſammengeſtelltes Regiſter die beſte Idee von der beſtändig aus der Wiſſenſchaft zur Kunſt, von dem Thatſäch— lichen zum Geträumten überſpringenden Dar— ſtellung geben. Die Erde wird wie die anderen Planeten aus einem Vulkane der Sonne herausgeſchleudert. (Prof. Alexander Wilſon hatte nämlich die Sonnenflecken und Fackeln für Krater von viertauſend erklärt). Durch eine ſtärkere Reibung oder Adhäſion an der einen Kraterwand erhält ſie ihre Axendrehung und ſphäroidale Ge— ſtalt; durch Abkühlung bildet ſich ein Kern, auf dem ſich die Waſſer als ein ſalzfreies Urmeer niederſchlagen, während die leichteren Gaſe eine Atmoſphäre bilden. Granit wird als der unterſte, im Feuer entſtandene Kern der Erde betrachtet, Porphyr, Baſalt und Geſteinsmaſſen ähnlicher Bildung ſeien vul— kaniſche Produkte, die zum Theil in einem Zuſtande wäſſriger Schmelzung (aqueous | solution) (wie man Waſſer im Papin'ſchen Topfe ſogar glühend machen könne) aus dem Erdinnern empordringen, ein Gedanke, der ſehr modern klingt, und doch alſo ſchon gegen hundert Jahre alt iſt. Aufſteigung der erſten Inſeln im Urmeer; die Schön— heit ihrer mit Pflanzen und Blumen ge— ſchmückten Erſcheinung wird von den Alten in der Mythe von der meergebornen Aphro- dite verherrlicht. Erſte große Erdbeben, Continente und Gebirge ſteigen aus dem Meere, der Mond wird aus einem gewal— tigen Erdkrater ausgeworfen, erſtarrt voll— kommen und verliert ſeine Atmoſphäre; er verzögert durch ſeine Anziehungskraft die Bewegung der Erde. Schon vorher hatte die Bildung der geſchichteten Geſteine be— gonnen, die den größern Theil der Erd— rinde ausmachen und meiſtens aus Kalk beſtehen, weshalb durch die erwähnten Cen— durch das Feſtland in 403 tralerdbeben mitunter auch Kalkgebirge und Inſeln hoch empor gehoben wurden. „Es iſt wahrſcheinlich,“ ſetzt der Verfaſſer in einer Anmerkung hinzu, „daß alle Kalkerde der Welt, ſei es Kalkſtein, Gyps, Marmor, Alabaſter, Kalkmergel mitſammt den da— rin enthaltenen Feuerſteinen, urſprünglich durch thieriſche und pflanzliche Körper aus dem Waſſer ausgeſchieden wurden, ſo daß Meilen Tiefe und noch größerem Umfange ſie in langen und ſehr entfernten Zeiträu— men Schichten übereinander bildeten, wo— ein beſtändiges Wachsthum, das Meer in beſtändigen Rück— zug gerieth. Die Umwandlung des ur— ſprünglich körnigen Kalkes in Marmor und andere Kalkgeſteine wird ſodann nach der Theorie von Hutton geſchildert und hieran ein Exkurs geknüpft über die marmornen Meiſterwerke des Alterthums und der (da— mals) neueſten engliſchen Kunſtepoche. Durch Ausſaugung der Geſteine werden die Meere ſalzig und geben nachher zur Bildung von Salzlagern Anlaß. Schilderung der Salz— bergwerke bei Krakau. Salpeterbildung und Allegorie vom Mars und Venus, welche Vulkan einfing. In Moräſten und Süßwaſſerbecken bilden ſich Thonlager, Mergel, Sandſtein, Kohle und durch die Fäulniß von Thieren und Pflanzen auch andere Produkte, wie Mooreiſen, Pyrit, Bernſtein, Naphta, Jet u. ſ. w., die alle geſchichtet liegen. Das Eiſen und ſeine An— wendung. Bei der Erhebung der Berge mußten nothwendig zahlreiche und tiefe Riſſe entſtehen, in deren Spalten ſich Metalle und Erze theils aus niederſinkenden Flüſſigkei— ten, theils aus emporſteigenden glühenden Dämpfen des Centralfeuers abſchieden. Wie ſich vorher an die Schilderung der Thon— lager ein Exkurs über die Glas- und Porzellan— Manufaktur in China, Italien und England, mit beſonderer Bezugnahme auf die Portlands- 404 Vaſe geknüpft, ſo leiten die edlen Steine und Metalle zu einem Blick auf die Gold— länder, Zerſtörung Mexikos, Sklaverei ꝛc. über. Zuletzt wird die Bildung der Pflan— zenwelt angedeutet, wozu hier aus dem zweiten Theile (S. 36 und 44) hinzuge— fügt werden mag, daß Darwin Flechten für die älteſten Feſtlandpflanzen anſah und die Pilze einem Reiche zuordnete, welches wie „ein ſchmaler Iſthmus“ Pflanzen und Thiere verbinde. Im dritten an die Waſſernymphen gerichteten Geſange wird der Kreislauf und die Wirkung des Waſſers auf der Erde ge— ſchildert. Die Wolkenbildung, die See und ihr Leben, Quellen, Flüſſe, Geyſer, Gletſcher, Korallenbauten u. ſ. w. Hierbei kommen nun auch die verſteinerten See— thiere zur Sprache, und nachdem der ſonder— bare Umſtand erwähnt iſt, daß die meiſten foſſilen Seethiere, wie z. B. die Ammons— hörner, nicht mehr lebend, die lebenden Thiere dagegen nicht foſſil gefunden werden, wirft der Verfaſſer die Frage auf: „Wurden alle Ammoniten zerſtört, als die Continente ſich erhoben? Oder gingen einige Thiergattungen durch die anwachſende Macht ihrer Feinde unter? Oder leben ſie noch heute in un— zugänglichen Tiefen der See? Oder wechſeln einige Thiere ſchrittweiſe ihre Geſtalten und werden neue Arten?“ („Or do some animals change their formes gradually and become new genera?“)*) Das Thema von der Umwandlung der Arten und der Entwickelung zu höheren Formen war ein Lieblingsgedanke des älteren Darwin, dem er in allen ſeinen Werken wenigſtens an einer Stelle und meiſt mit ähnlich lautenden Worten Ausdruck gegeben hat. Schon auf der achten Seite des hier beſprochenen Gedichtes tritt er mit dem— ) The economy of plants p. 120. Krauſe, Erasmus Darwin. U ſelben hervor und ſagt, nachdem er in der Anmerkung, deren Anfang früher wieder— gegeben wurde, von der ſchichtenweiſe Bild— ung der Erde geſprochen hat: „Es giebt da gleicherweiſe einige anſcheinend nutzloſe oder unvollkommene Anhänge (appendages) bei Thieren und Pflanzen, welche anzu— deuten ſcheinen, daß jene von ihrem Ur— zuſtande einem ſchrittweiſen Wechſel unter- legen ſeien, ſo z. B. die Staubgefäße ohne Antheren und Griffel ohne Narben einzel— ner Pflanzen, wie dies ſpäter in einer An— merkung bei Kurkuma zu erwähnen ſein wird. Daſſelbe zeigen auch die Haltern oder Flügelrudimente der Zweiflügler, und die Bruſtwarzen der männlichen Thiere; ſo haben die Schweine vier Zehen, aber zwei derſelben ſind unvollkommen und zum Ge— brauche nicht lang genug . . .“ Wir brechen hier ab, um die erwähnte Anmerkung zur Kurkuma⸗-Pflanze, welche die Theorie der rudimentären Organe noch ausführlicher giebt, hier gleich anzuſchließen: „die an— therenloſen Staubgefäße der Pflanzen“, ſagt er dort“), bieten eine eigenthümliche Ana— logie zu einer Bildung der Zweiflügler unter den Inſekten, nämlich zweier kleiner geſtielter Knöpfchen, meiſt unter einer bogigen Schuppe, welche Rudimente der Hinterflügel zu fein ſcheinen, und von Linn s halteres oder Schwingkölbchen (poisers) genannt wurden. Andere Thiere haben andere Merk— male eines in einem langen Zeitraume vor— gegangenen Wechſels an einigen Theilen ihrer Körper, wodurch bewirkt worden ſein mag, ſie neuen Wegen des Nahrungserwerbs anzupaſſen (to accomodate them to new ways of procuring their food). Das Vorhandenſein von Zitzen an den Brüſten der männlichen Thiere, die bei ihrer Ge— * *) The loves of plants. London 1790. burt gewöhnlich mit einer Art dünnen Milch erfüllt ſind, iſt ein wundervolles Beiſpiel dieſer Gattung. Vielleicht ſind alle Er— zeugniſſe der Natur in einem Fortſchritte zu größerer Vollkommenheit begriffen? — eine Idee, begünſtigt durch die neuen Entdeck— ungen und Schlüſſe, hinſichtlich der fort— ſchreitenden Bildung der feſten Theile, unſerer waſſerbedeckten Erdkugel (terrs— queous globe) und entſprechend der Würde des Schöpfers aller Dinge.“ Wie mußte dieſe frühe und ſcharfſinnige Erklärung der rudimentären Organe auf den Enkel wirken, wenn er die Gedichte ſeines Ahnen las! Aber freilich einen noch größeren Eindruck mußten auf ihn die an beſtimmte Naturobjekte geknüpften biologiſchen Bemerkungen dieſes genauen Beobachters machen, der die jetzt zu einem ſo großen Anſehen gelangten Fragen: Warum ſieht irgend ein Weſen ſo und nicht anders aus? Warum hat dieſe Pflanze giftige Säfte? Warum hat jene Dornen? Warum haben die Vögel und Fiſche helle Brüſte und dunkle Rücken? u. ſ. w. an jedes Weſen, was ihm vorkam, richtete. Der letzte Ge— ſang des erſten Theiles vom „botaniſchen Garten“ und der zweite Theil ſind beſon— ders reich an ſolchen wohl aufzuwerfenden echt Darwiniſtiſchen Fragen. In dem vierten, an die Sylphen der Luft gerichteten Geſange hat er nach einigen Schilderungen der Winde und Klimate ſich zu den Töchtern der Luft, den Pflanzen gewendet, und ihre „Oekonomie“ geſchildert, wobei eine große Anzahl höchſt „moderner“ Bemerkungen vorweg gemacht werden. In einer Anmerkung zu Vers 411 (S. 194) wird die Verdauung der Reſerveſtoffe in den Samenlappen bei der Keimung als ein der thieriſchen Verdauung vollkommen analoger Vorgang geſchildert, und ſeit einigen Krauſe, Erasmus Darwin. =, Jahren wiſſen wir, daß dieſer Vergleich bis in Einzelheiten berechtigt iſt, aber vor Allem wird in dem zweiten Theile, welcher die Pflanzen nach dem Sexualſyſtem ordnet und insbeſondere ihre Geſchlechtsverhältniſſe in Einzelgemälden ſchildert, jenes Thema beſprochen, welches Kerner in Innsbruck vor drei Jahren zum Gegenſtande eines neuen und intereſſanten Buches gemacht hat: „die Schutzmittel der Pflan— zen“. Hier erfahren wir zunächſt, daß die Wachs- und Harzabſonderungen der grünen Theile ihnen zum Schutze gegen Kälte und Näſſe dienen, und daß ätheriſche Oele, ſtarke Gerüche und Gifte den Pflanzen nützen, um ſie vor räuberiſchen Inſekten und an— deren Thieren zu ſchützen. Die Wurzel der Herbſtzeitloſe, welche ihren Samen erſt im nächſten Frühjahr reift, würde Gefahr laufen, von in der Erde lebenden Thieren im Winter gefreſſen zu werden, wenn ſie nicht ein ſo ſcharfes Gift enthielte.“) Dieſes Beiſpiel einer giftigen Zwiebel iſt beſonders lehrreich, weil hier in Folge der erſt in der nächſten Vegetations-Periode reifenden Samen die Exiſtenz der Pflanze im Winter ernſtlich aufs Spiel geſtellt ſein würde, wenn die Zwiebel eßbar wäre. Zu beſonders nachdenklichen Betracht— ungen in dieſer Richtung regte die Stech— palme (Ilex aquifolium) an, über welche er Folgendes ſagt* ): „Manche Pflanzen ſind, wie manche Thiere, mit Schutzwaffen verſehen, nämlich mit Dornen, wie die Roſe und Berberitze, welche aus der äußeren Rinde gebildet ſind, oder mit Stacheln, wie der Hagedorn, welche Verlängerungen des Holzes und daher ſchwieriger zu be— ſeitigen ſind, oder mit Borſten und Brenn— haaren, die mit giftigen Flüſſigkeiten gefüllt 5. "The loves of plants p. 23. pid 9.218 406 find, wie die Neffen, gegen Beſchädigung durch nackte Thiere. Die Sträucher und Bäume, welche Stacheln und Dornen tragen, geben manchem Thiere ein angenehmes Futter, wie z. B. Stachelbeere und Stech— ginſter, und würden ſchleunigſt verzehrt werden, wenn ſie nicht ſo bewaffnet wären. Die Stacheln ſcheinen ſowohl gegen Inſekten als gegen den nackten Mund der Vierfüßler da zu ſein. Manche Pflanzen verlieren ihre Dornen bei der Cultivirung, wie manche Thiere ihre Wildheit und einige ihre Hör ner ablegen. Ein ſonderbarer Umſtand be— gleitet die großen Stechpalmen in Need— wood-Foreft; ſie ſind bis ungefähr zur Höhe von acht Fuß mit dornigen Blättern be— waffnet und haben dann oben kahle Blätter, als wüßten ſie, daß Pferde und Rindvieh ihre höheren Zweige nicht erreichen können.“ Daß andrerſeits grade die ſo bewehrten Pflanzen den Thieren ein köſtliches Futter geben, beweiſt die Liebhaberei der Eſel für die Diſteln und der Pferde für den Stech— ginſter, wovon der Verfaſſer in einem nach— her zu beſprechenden Werke?) ein lehrreiches Beiſpiel giebt. ländern von Staffordſhire haben die Pferde gelernt, mit einem Vorderfuße den Ginſter— buſch wiederholt zu ſtampfen, und wenn dann die Stacheln gebrochen find, jo freſſen ſie das Kraut ohne Nachtheil. Dies iſt eine Kunſt, welche die Pferde in den frucht— baren Gegenden der Grafſchaft nicht kennen, und daher ihre Mäuler blutig ſtacheln, wenn fie durch Hunger oder Eigenſinn ver- leitet werden, Ginſter zu freſſen.“ Insbeſondere intereſſirten dieſen Natur— beobachter die Mittel, welche die Pflanzen beſitzen, um das Heraufkriechen flügelloſer Inſekten zur Blüthe zu verhindern. So erklärte er denn auch die kleinen Waſſer— *) Zoonomia XIV. 11. „In den weiten Moor- Krauſe, Erasmus Darwin. | ſeiner becken, welche die Blätter am Stengel der Weberkarde bilden, und die jüngſt einem Urenkel Anlaß zu merkwürdigen Unterſuchungen gegeben haben,“) ebenſo wie die größeren Waſſerbecken, welche die Blüthen— ſtiele der Bromeliaceen umgeben, als Einricht— ungen, theils zur Erquickung der Pflanze, theils für den Schutz ihrer Blüthen und Samen). Am lehrreichſten tritt eine ähnliche Schutz-Einrichtung an dem Leim— ringe der Pechnelke auf, deren Schilderung als Probe aus „the loves of plants“ mit der Vorbemerkung hier folgen möge, daß die Zahlen-Angabe auf die in jeder dieſer Einzelſchilderungen gezählten Staub— gefäße und Griffel zu beziehen ſind. The fell Silene and her sisters fair, Szkill'd in destruction, spread the viscous snare. The harlot-band ten lofty bravoes screen, And fiowning guard the magie nets unseen. Haste glittering nations, tenants of the air, Oh steer from hence your viewless course afar! If with soft words, sweed blushes, nods and smiles, Thethree dread Syrens lure you to their toiles, Limed by their art in vain you point your stings, In vain the efforts of your whirring wings: Go, seek your gilded mates and infant hives, Nor taste the honeg purchas’d with your lives! In einer Anmerkung zu dieſem Paſſus ſeines Gedichtes bemerkte Darwin: „Die klebrige Maſſe, welche den Stengel dieſer Pflanze und des Cucubalus Otites unter— halb der Blume umkleidet, iſt eine ſonder— bare Vorrichtung, um verſchiedene Inſekten abzuhalten, den Honig zu rauben und den Samen zu verzehren. Bei der Dionaea muscipula giebt es eine noch wundervollere Vorrichtung, um die Plünderungen der In— ſekten zu verhüten: die Blätter ſind mit *) Kosmos, I. S. 354. **) The loves of plants. p. 37. ſekten bewaffnet, liegen rings um den Stengel auf dem Boden ausgebreitet und ſind ſo reizbar, daß, wenn ein Inſekt da— rüberhin kriecht, ſie ſich ſchließen und es zu Tode quetſchen oder ſpießen.““) Dieſelbe Krauſe, Erasmus Darwin. Erklärung genügt ihm für den Inſektenfang der Sonnenthaublätter zur ſelben Zeit als beide Pflanzen bereits verdächtigt worden waren, die gefangenen Juſekten zu ver— ſpeiſen. Diderot ſcheint, nebenbei be— merkt, der Erſte geweſen ſein, welcher den Ausdruck, fleiſchfreſſende Pflanzen“ gebrauchte, indem er von der Venusfliegenfalle ſagte: „Voila une plante presque carnivore.“ * ) Wir mußten bei den Studien des älteren Darwin über die Schutzmittel der Pflan— zen länger verweilen, weil uns dieſelben einen merkwürdigen Irrthum erklären, in welchen dieſer ſcharfſinnige Naturforſcher in Hinſicht der Honigabſonderung der Blumen verfiel. Er glaubte, namentlich aus den letzteren Beiſpielen, ſchließen zu ſollen, daß die Pflanzen möglichſt allgemein gerüſtet ſeien, Inſekten und andere Liebhaber des Honigs von ſich abzuwehren, und darin beſtärkte ihn der Umſtand, daß die Honig— quelle in den meiſten Blüthen ſehr verſteckt, und unter mannigfachen Schutzvorrichtungen verborgen liegt. Auch glaubte er ſich die Inſektenähnlichkeit vieler Orchideen-Blüthen am beſten durch eine Art Mimiery er- klären zu können; er ſagt nämlich in einem 407 langen Zähnen, wie die Fühler der In als beſetzt erſchienen, und ein ſüdamerikani— ſches Cypripedium gleiche gar der Vogel— ſpinne, um die honiglüſternen Kolibris ab— zuſchreckenk). Wenn auch an einem falſchen Beiſpiele, iſt darin doch das Princip der Mimiery ganz richtig und vielleicht zum erſten Male auseinandergeſetzt. Die Werke von Koelreuter (1761) und Sprengel (1793), welche den Mecha— nismus der Inſekten-Anlockung ausein— anderſetzten, ſcheinen ihm unbekannt geblieben oder nicht überzeugend geweſen zu ſein, denn noch in ſeinem letzten hinterlaſſenen Gedichte, „der Tempel der Natur“, ſpricht er ſich über die Honigabſonderung der Pflanzen ganz ebenſo aus, wie in ſeinem erſten. In einem beſonderen längeren Aufſatze ) ſucht er den geheimen Grund der allgemeinen und maſſenhaften Honigabſonderung der meiſten Blumen zu ergründen und kam zu der Vermuthung, derſelbe ſei als Nahrungs— und Reizmittel für die Geſchlechtsorgaue ſehr geiſtreichen Trugſchluſſe, ſie hätten das morphoſe der honigliebenden Staubfäden und Anſehen bereits mit Inſekten beſetzter Blumen angenommen, um vor dem Be⸗ ſuche der Honigfreunde geſchützt zu ſein. So glichen die Blüthen der Fliegen-Ophrys einer kleinen Mauerbiene (Apis ichneu- monea) ſo, daß ſie aus einiger Entfernung ) The loves of plants p. 16. ) Oeuvres, ed.d’Assezat. Vol. XI. p.257. der Pflanzen beſtimmt, weshalb dieſe Quelle nur bis zur ſtattgefundenen Befruchtung fließe. In dieſem ſonderbaren Irrthume beſtärkte ihn der Umſtand, daß die Inſekten meiſt in keinem andern Stadium ihrer Meta— morphoſe dem Honig nachgehen, außer zur Zeit ihrer Geſchlechtsreife, nämlich als voll— kommene Inſekten. Ein Philoſoph, der ihn auf dieſen Irrwegen begleitet zu haben ſcheint, unterbreitete ſeinem Urtheil ſogar die abenteuerliche Vermuthung, daß am Ende die erſten Infekten aus einer Meta— Narben der Blumen, indem ſie ſich von der Mutterpflanze getrennt hätten, wie die männ— lichen Blüthen der Vallisneria, hervorge— gangen ſeien, und „daß im langſamen Pro— ceſſe der Zeit manche andere Inſekten ſchritt— 75 *) The economy of plants, p. 201. #*) Ibid. Additional Notes p. 107—112. Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. N os | 408 weiſe aus jenen erſten entſtanden ſeien, indem die einen Flügel, die andern Floſſen und Klauen erlangten, vermöge ihrer un— aufhörlichen Anſtrengungen ſich Nahrung zu verſchaffen oder ſich vor Angriffen zu ſichern. Er (der philoſophiſche Freund) behauptet, daß keine dieſer Umwandlungen unbegrefflicher ſei, als die Umbildung der Kaulquappe in den Froſch oder der Raupe in den Schmet— terling.“ Dieſer Irrweg iſt darum ſo mittheilens— werth und lehrreich, weil er uns die Schwierig— keit zeigt, eine verwickelte Natureinrichtung aufzulöſen, ſobald man von falſchen Prä— miſſen ausgeht. Hätte ihm, der ſpäter über den Schaden der Inzucht ſo eindringlich ge— ſchrieben, Jemand das Zauberwort „Nutzen der Kreuzbefruchtung“ zugerufen, ſo wäre es ihm ſicher wie Schuppen von den Augen gefallen, allein er glaubte feſt, die Blüthen ſeien möglichſt auf Selbſtbefruchtung an— gewieſen, und er ſchalt eine bei der Collin— ſonia gelegentlich beobachtete Fremdbefrucht— ung: Ehebruch (adulter y)). Dabei blieb ihm keineswegs die genaue Anpaſſung der honig- raubenden Inſekten an ihren Erwerb ver— borgen, denn nachdem er an einer Stelle die große Sorgfalt geſchildert, mit welcher die Natur den Honig der Caprifolium-Blüthe am Grunde einer langen Röhre verborgen habe, — in einem ihm unbegreiflichen Gegen— ſatze zu Blüthen, wo er ganz offen daliegt, — ſetzt er hinzu, daß der Rüſſel der Bienen und Schmetterlinge ganz ſpeciell dazu eingerichtet zu ſein ſcheine, um den— ſelben dennoch zu erreichen. Er geht dabei näher auf Bau und Funktion des wunder— vollen Rüſſels vom Windigſchwärmer (Sphinx Con volvuli) ein, deſſen ſchöne Farbe und Zeich— nung zu ſeiner Sicherheit beitrage, indem | *) The economy of plants p. 197. Note. Krauſe, Erasmus Darwin. er, auf den Pflanzen ſitzend, ſpät fliegenden Vögeln ſelber wie eine Blume erſcheine. Dieſe Bemerkung leitet uns zu dem Thema von der biologiſchen Bedeutung der Farben und Zeichnungen der Pflanzen und Thiere über, in deſſen Behandlung Dar— win wieder ſo völlig — Darwin iſt, daß die jüngeren Mitglieder der Familie das auf dem Gebiete des Geiſtes und Scharfſinnes ſo ſelten Anwendung findende Raiſonnement des Atavismus getroſt auf ſich anwenden dürfen. „Die färbenden Beſtandtheile der Pflanzen, ſowie auch diejenigen, deren wir uns zum Gerben, zu Firniſſen und zu ver— ſchiedenen mediciniſchen Zwecken bedienen, ſcheinen“, ſo ſagt er in einer Anmerkung zur Färberröthe, “) „dem Leben der Pflanzen nicht weſentlich zu ſein, aber ſie ſcheinen ihnen als Vertheidigungsmittel gegen die Angriffe von Inſekten und anderen Thieren zu dienen, denen dieſe Stoffe ekelhaft oder widerwärtig ſind. Bei Inſekten und vielen kleineren Thieren tragen ihre Farben dazu bei, ſie vor den größeren, denen ſie zur Beute dienen, zu verſtecken. Raupen, die auf Blättern weiden, ſind allgemein grün, Erdwürmer erdfarben, Schmetterlinge, welche Blumen beſuchen, ſind wie dieſe gefärbt, Vögel, welche ſich im Buſchwerk aufhalten, haben grünliche Rücken gleich dem Laube, und die Bruſt hell gefärbt wie der Himmel, wodurch ſie für den Habicht weniger ſicht— bar werden, mag er nun über oder unter ihnen daherfliegen. Jene Vögel, welche ſich viel unter Blumen aufhalten, wie der Diſtel— fink, ſind mit lebhaften Farben geſchmückt. Die Lerche und das Rebhuhn haben die Farbe der trockenen Vegetation oder der Erde, auf welcher ſie ſich aufhalten. Fröſche wechſeln ihre Farbe mit dem Schlamme der Gewäſſer, welche ſie beſuchen, und die— ) The loves of plants p. 33 —39. jenigen welche auf Bäumen leben, find grün. Fiſche, welche im Waſſer ſchweben, und Schwalben, die in der Luft ſchwimmen, tragen auf dem Rücken die Farbe des fernen Grundes und auf der Bruſt die des Him— mels. In den kälteren Zonen werden viele derſelben im Winter, ſo lange der Schnee liegt, weiß. Daraus erhellt klar, daß in den Farben der Thiere Abſicht liegt, wäh— rend diejenigen der Pflanzen den andern Eigenſchaften der Stoffe, welche ſie enthalten, zu entſprechen ſcheinen.“ In ſeinem wiſſenſchaftlichen Hauptwerke der Zoonomie,*) zu welchem wir uns nunmehr wenden, hat Darwin auch die bei dieſen Färbungen wirkende Urſache zu ergründen geſucht, worauf wir nachher zurückkommen. Das genannte Werk ſtellt | im Weſentlichen eine Phyſiologie und Pſycho— logie des Menſchen als Grundlage zu einer Krankheitswiſſenſchaft dar, doch ſind überall gleichzeitig Blicke auf die geſammte Thier- | welt geworfen. Welchen Rang dieſes Werk in der Geſchichte der Phyſiologie, Psychologie und Medicin einnimmt, kann ich aus Man— gel an Specialkenntniſſen auf dieſen Ge— bieten nicht beurtheilen; auf die Zeitgenoſſen machte es einen ſehr bedeutenden Eindruck, wurde alsbald von einem namhaften Arzte ins Deutſche überſetzt,“) und der Ueberſetzer hebt die wunderbare Uebereinſtimmung ſeiner Anſichten mit denen eines gleichzeitig er— ſchienenen Werkes des berühmten deutſchen Pathologen Reil hervor, wie denn auch Hufeland durch Darwin lebhaft ange— regt wurde. Der Grundgedanke iſt, wie mir ſcheint, daß in Pflanzen und Thieren eine lebendige Kraft wirke, die in Beiden ) Zoonomia, or the laws of organic life. London 1794 — 1798. **) Von Hofrath J. D. Brandis. 5 Bde. bedingungen Hannover 1795 — 1799. Krauſe, Erasmus Darwin. 409 mit Gefühl begabt, ſie den Verhältniſſen der Außenwelt ſelbſtſtändig anzupaſſen im Stande ſei, ſo daß die Annahme an— geborener Ideen, göttlich eingepflanzter Triebe und Inſtinkte dadurch überflüſſig gemacht wird und ſelbſt der Denkproceß als geſetz— mäßige Thätigkeit einer mechaniſchen Zer— gliederung und Zuſammenſetzung zugänglich erſcheint. Alle menſchlichen Kenntniſſe ent— ſtammen den Sinnen, deren Thätigkeit als Haupterkenntnißquelle angeſehen und dem— gemäß zunächſt unterſucht wird. Was die ſcheinbar angeborenen Fähigkeiten betrifft, welche junge Thiere mit auf die Welt bringen, ſo erklärt ſie der Verfaſſer durch wiederholte Anſtrengungen der Muskeln unter der Leitung der Empfindungen und der Triebe. So könne es nicht wunderbar ſein, daß Thiere mit der Fähigkeit zu ſchwimmen oder auf vier Füßen zu gehen und zu ſchlucken zur Welt kämen, denn im Ei oder im Mutterleibe lernten ſie ſchwimmen, dagegen auf zwei Füßen zu gehen, ſei für Vierfüßler eine nicht in der Natur liegende Kunſt; Flüſſigkeiten zu ſchlucken lerne jeder Fötus, denn jeder ſchlucke Fruchtwaſſer, nur das Freſſen feſter Stoffe müſſe erſt erlernt werden. Bei der Erlernung neuer Dinge falle meiſt dem Nachahmungstriebe die größte Aufgabe zu, und daß der Menſch, wie Ariſtoteles geſagt, vor Allem ein nachahmendes Thier ſei, befähige ihn am meiſten zur Erlernung ſchwieriger Leiſtungen, wie z. B. der Sprache. Dieſe Nachahmungsſucht ſchreibt der Verfaſſer ſelbſt den kleinſten aufbauenden Theilen des Körpers zu, — wir wir jagen würden, den Zellen, —und erklärt ſich dadurch das Zuſammen-Erkranken ganzer Complexe derſelben. Auch der Aus— druck der Gemüthsbewegungen erlernt ſich durch Nachahmung, wenn auch die Grund— deſſelben organiſch gegeben | 410 Krauſe, Erasmus Darwin. ſind. Der Verfaſſer hat dieſen von ſeinem Enkel mit ſo vielem Glück bearbeiteten Gegen— ſtand ebenfalls ſehr aufmerkſam ſtudirt und leitet ſeine Formen namentlich gern aus den erſten Eindrücken neugeborner Weſen her. Das Zittern der Furcht laſſe ſich vielleicht auf das Froſtzittern der Neu— gebornen zurückführen, und das Weinen auf die erſte Reizung der Thränendrüſen durch kalte Luft, ſowie durch angenehme und un— angenehme Gerüche. Daß Zorn und Wuth allgemein durch Angriffsſtellung der Thiere ausgedrückt wird, iſt unmittelbar begreiflich. Was das Lächeln und den Ausdruck der angenehmen Empfindungen betrifft, ſo führt fie der Verfaſſer, ebenſo wie das Gefühl für die Schönheit der Wellenlinien und Rundung, auf das Vergnügen der erſten Ernährung durch die weiche, ſanftgerundete Mutterbruſt zurück. „Beim Saugen,“ ſagt er, „ſind die Lippen des Kindes um die Warzen der Mutter feſt angeſchloſſen, bis der Magen gefüllt iſt, dann folgt die Freude, welche durch den Reiz dieſer an— genehmen Nahrung hervorgebracht wird; der durch die anhaltende Thätigkeit des Saugens ermüdete Schließmuskel des Mun— des erſchlafft, und die antagoniſtiſchen Muskeln des Geſichtes wirken ſanft und bringen Lächeln und Luſtausdruck hervor, welches von Jedem, der mit Kindern umgeht, bemerkt werden kann. Daher iſt das Lächeln durch unſer ganzes Leben mit ſanfter Freude aſſociirt; es iſt an jungen Katzen und jungen Hunden ſicht— lich, wenn man mit ihnen ſpielt und ſie kitzelt, aber deutlicher iſt der Ausdruck im menſchlichen Geſicht. Denn bei Kindern ſehr vermehrt durch die Nachahmung ihrer Eltern und Freunde, welche ſie gewöhnlich mit einer lächelnden Miene anreden.“ “) ) Zoonomia Vol. I. XVI. 7. N Daß die Kunſttriebe Aehnlich wird das Schwanzwedeln der Thiere und das „Spinnen“ der Katzen auf gewiſſe Bewegungen zurückgeführt, die ſie in den glücklichen Momenten ihres Säug— lings-Daſeins erlernen. „Lämmer ſchütteln oder wedeln mit dem Schwanze, wenn ſie zu ſaugen anfangen, um ſich von den harten Excrementen frei zu machen, welche ſich lange in ihren Eingeweiden aufgehalten haben. Daher wird es nachher ein Ausdruck des Vergnügens bei ihnen und auch bei andern geſchwänzten Thieren. Katzen hingegen ſtrecken ihre Tatzen ſanft aus und ziehen ſie wieder zuſammen, wobei ſie ſchnurren, indem ſie dabei den Athem einziehen: beides iſt ihrer Art zu ſaugen ähnlich, und ſo wird dieſes ihre Sprache des Vergnügens; denn dieſe Thiere haben Schlüſſelbeine und ge— brauchen ihre Tatzen wie Hände, wenn ſie ſaugen, welches bei Hunden und Schafen nicht der Fall iſt.“ Dieſe Beiſpiele mögen ſtatt anderer hinſichtlich der ſorgfältigen Be— handlung dieſes ſchwierigen Themas dienen. Die Kunſtfertigkeiten, Wander- und Geſelligkeits-Inſtinkte der Thiere werden auf eigene Ueberlegung und allmälige Er— lernung der Vortheile zurückgeführt. Auch hier ſpiele der Nachahmungstrieb eine Hauptrolle, und wenn ein Pferd, z. B. an einer beſtimmten Stelle, die es mit der Schnauze nicht erreichen kann, gekratzt werden wolle, ſo beiße es ſeinen Nachbar ebenda, der den Wink ſofort verſtehe und ausführe. der Thiere erlernt werden, beweiſe das oben angeführte Bei— ſpiel der den ſtachligen Ginſter zerſtampfen— den Pferde, welches die Pferde der ginſter— wird dieſer Ausdruck des Vergnügens noch loſen Gegenden nicht verſtehen, ebenſo werden denn auch viele Beiſpiele von örtlichen Ab— weichungen und Neuerungen im Neſter— und Erdhöhlen-Bau von ihm angeführt. Hier finden wir denn auch bereits jene Nachrichten über Bienen, die in fernen Län— dern (hier die Inſel Barbados) keinen Honig mehr eintragen ſollen. Die Kunſtfertigkeiten der Bienen und Ameiſen hält der Verfaſſer für ſehr alt, weil ſie ſich ſo vollkommen entwickelt haben. Hierbei darf man nun nicht glauben, daß der Verfaſſer dieſe Inſtinkte nur durch Nachahmung für mitgetheilt hält, ſondern er nimmt ohne Weiteres die Erblichkeit er— worbener Körpereigenthümlichkeiten und Geiſtesfähigkeiten an. Hierüber findet ſich in dem für uns wichtigſten Abſchnitt (XXXI Y, der von der Erzeugung handelt, eine ein— leitende Bemerkung, welche die Erklärung des biologiſchen Grundgeſetzes in nuce ent- hält, und jenen Gedanken ausſpricht, den ein geiſtreicher Engländer, Samuel Butler, im vergangenen Jahre zum Gegenſtande eines lehrreichen Buches gemacht hat. „Der ſcharfſinnige D. Hartley, in ſeinem Werke über den Menſchen, und verſchiedene andere Philoſophen“, jagt Darwin, „find der Meinung geweſen, daß unſer unſterblicher Theil im Leben gewiſſe Gewohnheiten im Empfinden und Thun annehme, welche ewig von ihm unzertrennlich werden, und in einem zukünftigen Zuſtande der Exiſtenz nach dem Tode noch fortdauern; er fügt hinzu, daß dieſe Gewohnheiten, wenn ſie bösartig ſind, den Beſitzer ſelbſt in jenem dieſe ſcharfſinnige Idee auf die Erzeugung oder Hervorbringung des Embryo oder des neuen Thieres anwenden, welches ſoviel von der Geſtalt und den Neigungen ſeines Vaters zur Mitgift erhält.“ Der Verfaſſer ſpricht hier nur von dem Vater; dies kommt daher, weil er annahm, daß der Embryo aus dem Samenthierchen des Vaters beſtehe, der bei der Mutter nicht viel mehr als eine ihm zuſagende Er— Krauſe, Erasmus Darwin. ungsvermögens des Embryo. 411 nährungsflüſſigkeit und ein Neſt finde, um ſich dort zu einem vollkommenen Thiere auszubilden. Die Aehnlichkeit des neu er— zeugten Weſens mit der Mutter könne durch den Einfluß des von ihr dargebotenen Nährſtoffes erklärt werden. Abgeſehen von dieſem leicht entſchuldbaren und an fi unweſentlichen Irrthume, den ich nur er— wähnen mußte, um zu erklären, warum der Verfaſſer ſtatt von dem Ei immer von einem Fädchen (Filament) als dem Keim der lebenden Weſen redet, vertheidigt nun der Verfaſſer auf das ſcharfſinnigſte die Theorie der Epigeneſe gegen die Evolutions— Theorie (im älteren Sinne), indem er zeigt, daß jedes Weſen eine vollſtändige Neu— bildung iſt, die mit jeder Stufe, auf der ſie anlangt, andere Bildungstriebe entfaltet, und ſo auch die letzten Erwerbungen der Eltern ſeinem Weſen hinzufügen kann, ver— möge des eben charakteriſirten Erinner— Die alte Einſchachtelungs-Theorie konnte derartige Neuerungen im Reiche des Lebens nicht er— klären. In dem achten Paragraphen des vierten Theiles jenes (XXXIX.) Abſchnittes giebt nun der Verfaſſer einen kurzen Ab— riß der inzwiſchen in ſeinem Geiſte klarer ausgebildeten Entwickelungslehre, den ich mit einigen Kürzungen hier wiedergeben werde, weil in ihm, fünfzehn Jahre vor Leben unglücklich machen müſſen. Ich möchte dem Erſcheinen der zoologiſchen Philoſophie Lamarck's deren Principien vollſtändig ent— wickelt werden: „Wenn wir erſtlich die großen Ver— änderungen bedenken, die wir bei Thieren nach ihrer Geburt vorgehen ſehen, z. B. bei der Entſtehung des farbenreichen Schmetter— lings aus einer kriechenden Raupe, des lungenathmenden Froſches aus der im Waſſer lebenden Kaulquappe, des bärtigen Mannes aus dem weibiſchen Knaben . . . Zweitens, u) 412 die großen Veränderungen uns vorſtellen, welche bei manchen Thieren durch zufällige oder künſtliche Cultur hervorgebracht werden, z. B. bei Pferden, deren Stärke und Schnellig— keit wir zu verſchiedenen Zwecken geübt haben, um Laſten zu tragen oder als Renner zu dienen; oder bei Hunden, welche zu Stärke und Muth geübt ſind, wie der Bullenbeißer, oder zur Schärfung des Ge— ruchſinns, wie die Spür- und Hühnerhunde, oder zur Schnelligkeit wie der Jagdhund, oder zum Schwimmen, oder zum Ziehen der Schlitten im Schnee, wie die rauh— haarigen Hunde im Norden . .. Wenn wir außerdem die großen Veränderungen in Geſtalt und Farbe bedenken, welche wir täglich bei kleineren Thieren durch die Domeſtikation derſelben entſtehen ſehen, z. B. | der Kaninchen oder der Tauben, oder durch das verſchiedene Klima und ſelbſt durch die verſchiedene Jahreszeit, daß z. B. die Schafe in den wärmeren Klimaten Haare ſtatt der Wolle tragen, daß die Haſen in den mit langdauerndem Schnee bedeckten Zonen in den Wintermonaten weiß werden; wenn wir dieſem noch die mancherlei Veränderungen in der Geſtalt der Menſchen durch ihre Lebens— gewohnheiten und Krankheiten hinzufügen, was alles durch mehrere Generationen hin— durch erblich wird, z. B. daß die, welche vor dem Amboß, in den Schmelzhütten und am Webſtuhle arbeiten, die Portechaiſen— Träger und die Seiltänzer, durch die Bild— ung ihrer Glieder zu erkennen find... Drittens, wenn wir die großen Veränder— ungen aufzählen, welche mit den Thierarten vor ihrer Geburt vor ſich gehen, wodurch ſie ihren durch Cultur oder zufällige Um— ſtände veränderten Eltern ähnlich werden, ſo daß dieſe Veränderungen auf die Nach— kommenſchaft fortgepflanzt werden . . . Oder wenn durch Baſtardirung oder durch über— Krauſe, Erasmus Darwin. flüſſige Nahrung Mißgeburten mit über— zähligen Gliedern erzeugt werden, von denen manche fortgepflanzt werden und wenn nicht als beſondere Thierart, ſo doch als Varie— täten fortdauern . . . (Ich habe eine Zucht von Katzen geſehen, deren jede eine überzählige Klaue beſaß, auch Hühner mit einer über— zähligen Zehe und mit Flügeln an den Füßen, andere ohne Schwanz: Büffon erwähnt einer Züchtung von Hunden ohne Schwanz, die in Rom und Neapel ſehr gemein ſein ſollen, und die, wie er ver— muthet, daher entſtanden iſt, daß man ſeit langer Zeit gewöhnt war, dieſer Art von Hunden den Schwanz dicht am Leibe ab— zuhacken. Es giebt mehrere Arten von Tauben, die ihrer Sonderbarkeit wegen be— wundert werden, und welche auf ähnliche Art erzeugte und fortgepflanzte Mißgeburten find...) Wenn wir alle dieſe Veränder— ungen der thieriſchen Form betrachten und dazu unzählige andere, welche man aus naturgeſchichtlichen Werken ſammeln kann, ſo können wir nicht anders, als uns über— zeugen, daß der Fötus oder Embryo durch Hinzufügung neuer Theile gebildet wird, und nicht durch Ausdehnung eines urſprüng— lichen Neſtes von Keimen, die wie die Becher eines Taſchenſpielers iu einander ge— ſchachtelt ſein ſollen.“ „Viertens, wenn wir die große Aehnlich— keit des Baues bedenken, welcher bei allen warmblütigen Thieren ſtatt hat, ſowohl bei Säugethieren, Vögeln und Amphibien, als beim Menſchen, von der Maus und Fleder— maus an bis zum Elephanten und Wal— fiſch, ſo kann man ſich des Schluſſes nicht enthalten, daß ſie alle auf ähnliche Art aus einem einzigen lebenden Filament ent— ſtanden ſeien. Bei einigen hat dieſes Fila— ment bei fernerer Ausbildung feinfühlige Hände und Finger, bei anderen Klauen und Krauſe, Erasmus Darwin. Krallen, bei anderen Zehen mit Schwimm häuten, geſpaltene und ganze Hufe aus gebildet, während es bei den Vögeln ſtatt der Vorderfüße Flügel und Federn ſtatt der Haare hervorgetrieben hat. Bei manchen hat es Hörner auf der Stirne, ſtatt der oberen Vorderzähne, bei anderen Hauer ſtatt der Hörner und bei andern Schnäbel | ſtatt beider gebildet. Und alles dies völlig ſowie wir es täglich bei der Bildung der Froſchlarve ſehen, welche Lungen und Beine ausbildet, wenn ſie deren bedarf, und den Schwanz abwirft, wenn ſie nicht länger Gebrauch davon machen kann.“ „Fünftens, von dem erſten Rudimente oder Uranfange bis zum Ende des Lebens erfahren alle Thiere eine beſtändige Um— bildung, welche zum Theil durch ihre eigenen Thätigkeiten in Folge ihres Verlangens und ihrer Abneigungen, ihrer Vergnügen und Schmerzen, oder ihrer Reizungen, oder ihrer Aſſociationen hervorgebracht werden; und manche dieſer erlangten Neubildungen oder Neigungen dazu werden auf die Nachkommen fortgepflanzt. Da Luft und Waſſer den Thieren in hinlänglicher Menge gegeben ſind, ſo haben wir als die drei großen Gegenſtände des Verlangens, welche die Formen mancher Thiere, durch die Aeußer- ungen derſelben, dieſem Verlangen Genüge zu leiſten, verändert haben, die der Liebe, des Hungers und der Sicherheit.“ „Das eine große Bedürfniß eines Theils der thieriſchen Welt beſtand in dem Ver— langen nach dem ausſchließlichen Beſitze eines Weibchens. Dadurch erlangten einige Thiere Waffen, um zu dieſem Zwecke ſich gegenſeitig bekämpfen zu können; z. B. die dicke, ſchildartige, hornige Haut des Ebers, welche blos eine Gegenwehr gegen Thiere derſelben Art darſtellt, die gewohnt ſind, ſchräg nach aufwärts zu ſchlagen. Auch die Hauer find zu keinem andern Gebrauche, als um ſich ſelbſt zu vertheidigen, da der Eber für ſich kein fleiſchfreſſendes Thier iſt. So ſind die Geweihe des Hirſches am äußerſten Ende ſcharf, um ſeinen Gegner damit zu verwunden, dagegen verzweigt, um die Stöße ſeines mit gleichen Waffen verſehenen Gegners zu pariren, find alſo blos zur Bekämpfung andrer Hirſche um den ausſchließlichen Beſitz des Weibchens beſtimmt, welches dann, wie die Damen der Ritterzeit dem Panier des Siegers folgt. Die Vögel, welche ihren Jungen keine Nahr— ung zutragen und nicht in Monogamie leben, find mit Sporen zum Kampf um den aus- ſchließlichen Beſitz des Weibchens verſehen, z. B. Hähne und Wachteln. Es iſt gewiß, daß dieſe Waffen ihnen nicht zur Schutz wehr gegen andere Feinde gegeben ſind, weil die Weibchen derſelben Art ohne dieſe Bewaffnung ſind. Die Endurſache dieſes Streites unter den Männ— chen ſcheint zu ſein, damit das ſtärkſte und lebhafteſte Thier die Art fortpflanze, welche dadurch ver beſſert werden ſollte.“ „Ein anderes großes Bedürfniß beſteht in den Mitteln ſich Nahrung zu verſchaffen, wodurch die Formen aller Thierarten ſich verändert haben. So iſt die Naſe des Schweines hart geworden, um den Boden beim Aufſuchen der Inſekten und Wurzeln umzuwühlen. Der Rüſſel des Elephanten iſt eine Verlängerung der Naſe, um die Zweige zu ſeiner Nahrung niederzubeugen und um Waſſer einzunehmen, ohne ſeine Knie zu biegen. Raubthiere haben ſtarke Rachen oder Krallen erhalten. Hornvieh hat eine rauhe Zunge und einen rauhen Gaumen erhalten, um das Gras abzuſtreifen. Manche Vögel, wie der Papagay, haben ſtärkere Schnäbel erhalten, um Nüſſe auf— 414 zubeißen, Andere Schnäbel für Ausſchälung weiche Samen- und Baumknospen, wie die bel erhalten, um die ſumpfige Erde zu durchbohren, und dort Inſekten oder Wurzeln aufzuſuchen, wie die Schnepfe, und Andere zubehalten. Alle dieſe Dinge ſcheinen mehrere Generationen hindurch nach und nach durch das beſtändige ungsbedürfniſſe zu genügen, ge— bildet zu ſein, und ſich ſo auf die Nachkommenſchaftmit beſtändiger Verbeſſerung derſelben zu ihrer zweckmäßigeren Anwendung fort— gepflanzt zu haben.“ „Das dritte große Bedürfniß unter den Thieren iſt das der Sicherheit, welches die Form ihres Körpers und ihrer Farbe ſehr verſchieden gemacht zu haben ſcheint, um dadurch anderen mächtigeren Thieren zu ent— wiſchen.“) Daher haben manche Thiere ) Die hier nur angeregte Frage führt der Verfaſſer an einer andern Stelle der Zoonomia (XXXIX. 5. 1.) mit folgenden Worten aus: „die wirkende Urſache der ver— ſchiedenen Farbe der Eier der Vögel und der Haare und Federn der Thiere iſt ein ſo merk— würdiger Gegenſtand, daß ich hier um einen Platz für denſelben bitten muß. Die Farbe mancher Thiere ſcheint ihrer Abſicht ſich zu Finken. Andere Vögel haben lange Schnä- | breite Schnäbel, um das Waſſer der Seeen durchzuſeihen und Waſſer-Inſekten zurück- Beſtreben der Creatur dem Nahr Krauſe, Erasmus Darwin. Flügel ſtatt der Vorderbeine erhalten und harter Samen wie die Sperlinge, oder für andere große, lange Floſſen oder Membra— nen, wie der fliegende Fiſch und die Fleder— verbergen. maus. Andere eine große Schnelligkeit der Füße, wie der Haſe. Andere haben harte oder bewaffnete Schalen erhalten, wie die Schildkröte und der Seeigel.“ „Die Mittel zur Erhaltung der Sicher— heit erſtrecken ſich bis auf die Pflanzen, wie man aus den wunderbaren und mannig- faltigen Weiſen ſieht, ihren Honig gegen den Raub der Inſekten und ihren Samen gegen die Vögel zu vertheidigen oder zu Auf der anderen Seite haben Falken und Schwalben Schnelligkeit der verbergen, entweder um Gefahren zu ver- meiden, oder aus dem Hinterhalt auf ihre Beute zu ſpringen, angemeſſen zu ſein. So iſt die Schlange, die wilde Katze, der Leopard u. ſ. w. ſo gefärbt, daß ſie dunklen Blättern mit helleren Zwiſchenräumen gleichen, Vögel gleichen dem braunen Boden oder der grünen Hecke, wo ſie ſich aufhalten, Motten und Schmetterlinge den Blumen, aus denen ſie Honig rauben. Dieſe Farben beſitzen inzwiſchen . manchen Fällen einen andern Nutzen, z. B. Flügel erlangt, um ihre Beute zu verfol— gen; die Biene, der Schwärmer und der Kolibri haben einen Rüſſel von merkwür— diger Bauart erlangt, um die Honigbe— hälter der Blumen zu berauben. Alles dieſes ſcheint durch das urſprüngliche lebende Filament gebildet zu ſein, welches durch die Bedürfniſſe der Kreaturen, welche dieſe Ver— richtungen haben, und wovon ihre Thätig— keit abhängt, in Thätigkeit geſetzt iſt.“ der ſchwarze divergirende Fleck vor den Augen des Schwans, welcher, da die Augen dieſes Thieres weniger hervorragen als bei andern Thieren (damit er ſeinen Kopf bequemer unter Waſſer ſtecken kann), verhindert, daß die Licht: ſtrahlen nicht in ſein Auge reflektirt werden können und ſo das Geſicht blenden, welches ſicher, ſowohl in der Luft als im Waſſer ge— ſchehen würde, wenn dieſe Fläche weiß wie der übrige Körper wäre. In Hinblick auf die Farben, welche zum Verbergen des Thieres geeignet ſind, giebt es noch einen merkwür— digeren Umſtand, daß nämlich auch die Eier der Vögel ſo gefärbt ſind, daß ſie den Farben der benachbarten Gegenſtände und ihrer Zwiſchenräume gleichen. Die Eier der Hecken— vögel ſind grünlich mit dunklen Flecken, die— jenigen der Raben und Elſtern, die von unten durch geflochtene Neſter geſehen werden könn— ten, ſind weiß mit dunklen Flecken; die der | „Denkt man nun ferner über die große Aehnlichkeit im Bau der warmblütigen Thiere nach, bedenkt man die großen Veränderungen, welche ſie vor und nach der Geburt erleiden, erinnert man ſich, in welch' einem geringen Zeittheilchen manche der oben beſchriebenen Veränderungen vor ſich gehen; ſollte es dann wohl zu kühn ſein, ſich vorzuſtellen, | daß in dem großen Zeitraume, ſeitdem die Erde exiſtirt hat, vielleicht Millionen Zeit- | alter vor dem Anfange der Geſchichte des Menſchen, ſollte es wohl zu kühn ſein, ſich | da vorzuſtellen, daß alle warmblütigen Thiere aus einem einzigen lebenden Fila— mente hervorgegangen ſeien, welches die | erſte große Urſache mit Animalität begabte, mit der Kraft neue Theile zu er— langen, begleitet mit neuen Neigungen, ge— leitet durch Reizungen, Empfindungen, Wil— len und Aſſociationen, und welches ſo die Macht beſaß, durch ſeine ihm eingepflanzte Thätigkeit ſich zu vervollkommnen, dieſe Vervollkommnungen durch Zeugung der Lerchen und Rebhühner ſind rußfarbig oder braun, wie ihre Neſter oder der Grund, wo— rauf ſie liegen. Noch bewunderungswürdiger iſt, daß manche Thiere in Ländern, die mit Schnee bedeckt ſind, im Winter weiß werden und im Sommer ihre Farbe wieder erhal— ten . .. Der Endzweck dieſer Farben iſt leicht einzuſehen, ſie dienen dem Thiere zu irgend einem Nutzen, aber die wirkende Urſache ſcheint faſt außer den Grenzen aller Conjekturen zu | liegen.“ Der Verfaſſer ſuchte eine Erklärung dadurch anzubahnen, daß er ſagt, der Ein— druck des immerwährenden weißen Lichtes des Schnees, oder des Gelbs der Wüſte oder des Grüns der Wälder könnten reflektoriſch pillen und ihre Bedeckungen übertragen wer— den. „Und ſo könnten, wie in der Fabel vom Chamäleon, alle Thiere eine Neigung beſitzen, ſo gefärbt zu werden, wie die Gegen- ſtände, welche ſie am meiſten anſehen, und endlich könnte durch die Einbildsungkraft der Krauſe, Erasmus Darwin. en re 415 Nachwelt zu überliefern! Eine Welt ohne Ende!“ Man könne zweifeln, fährt der Ver— faſſer fort, ob die Fiſche, welche ſtatt der Füße oder Flügel Floſſen haben, deſſelbigen Blutes wie die warmblütigen Thiere ſeien; allein Wale, Robben und vor Allem der Froſch, der ſich aus einem fiſchartigen Waſſer— thiere mit Kiemen in einen Luftvierfüßler mit Lungen-Athmung verwandelt, zeige, daß hier keine Scheidewand ſei: Dagegen ſeien die Inſekten offenbar aus einem anderen lebenden Filamente hervorgegangen, und ebenſo die Linne'ſche Klaſſe der Würmer, zu denen Schwämme, Korallen, Weichthiere u. ſ. w. gerechnet wurden. Daſſelbe müſſe von den Pflanzen angenommen werden, die der Verfaſſer, ebenſo wie Göthe, als zu— ſammengeſetzte Individuen, den Korallen— ſtöcken vergleichbar, betrachtete. „Linné,“ fährt Darwin fort, „nimmt in der Einleitung zu ſeinen natürlichen Ordnungen an, daß zu Anfang nur wenige Mutter den Eiſchalen eine ähnliche Färbung mitgetheilt werden.“ Dieſe Vermuthung iſt für gewiſſe Fiſche, Amphibien, Reptile und Weichthiere, welche die Farbe jederzeit ihrer helleren und dunkleren Umgebung anpaſſen, durch die neueren Forſchungen als völlig rich— tig erwieſen worden (Vergl. Seidlitz, die chromatiſche Funktion als natürliches Schutz— mittel, in ſeinen Beiträgen zur Descendenz- Theorie, Leipzig 1876); für die conſtanten Färbungen reicht ſie trotz der ähnlichen Ver— muthungen von Wallace und Anderen (Vgl. Kosmos IV. S. 120) nicht aus, und auch dem älteren Darwin genügte ſie keineswegs, wie ſeine weiteren Bemerkungen zeigen, daß die von der Netzhaut auf die äußeren Hautpa= | Einförmigkeit der Wirkung auf eine andere noch zu ergründende allgemeine Urſache hinweiſe. Dieſe Urſache liegt in der natürlichen Ausleſe, und die Reſignation des Großvaters dieſen Verhältniſſen gegenüber zeigt am beſten, wie bedeutend trotz aller Wegebnung die Ent— deckung des Enkels bleibt. Kosmos, II. Jahrg. Heft 11. — 416 Pflanzen erſchaffen worden wären, daß ſich ihre Zahl durch Baſtardirung vermehrt Und daß die erzeugenden, urſprünglichen, lebenden Filamente jeder dieſer verſchiedenen habe und fügt hinzu: suadent hace Crea- toris leges a simplieibus ad composita. Manche andere Veränderungen ſcheinen bei ihnen durch ihr beſtändiges Beſtreben nach Luft und Licht über der Erde und nach Nahrung und Feuchtigkeit unter der Erde, durch das Klima und andere Urſachen ent— ſtanden zu ſein. Ferner könnte man ver— leitet werden, ſich vorzuſtellen, daß jede Pflanze anfangs aus einem einzigen Stocke, oder einer Blume aus jeder Wurzel beſtand, wie die Gentianellen oder Maaßliebchen (2 daisy) und daß in dem Beſtreben nach Luft und Licht neue Knospen an dem alten Blumenſtamme erſchienen, welche ihre ver— längerten Wurzeln wieder nach dem Boden hintrieben, wodurch im Verlaufe der Zeiten ſchlanke Bäume gebildet wurden, und aus einem einzigen Stocke ein ganzer Schwarm von Pflanzenarten entſtand. Andere Pflan— zen, welche bei dieſem Beſtreben nach Luft und Licht zu ſchwach waren, um durch eigene Stärke ſich emporzuheben, lernten nach und nach ſich an ihre Nachbarn anzuhängen, entweder indem ſie Luftwurzeln trieben, wie der Epheu, oder durch Schlingen, wie der Weinſtock, oder durch Windungen, wie das Geisblatt, oder indem ſie ſelbſt auf andere Pflanzen wachſen und Nahrung aus ihrer Rinde ziehen, wie die Miſtel, oder blos an ihnen kleben und Nahrung aus der Luft entnehmen, wie die Tillandſia.“)“ „Sollen wir nun behaupten, daß das urſprüngliche lebende Filament der Pflanzen In ſeinen mannigfachen Studien über die Verbreitungsmittel der Pflanzenſamen, durch Wind, Flügel- und Schleudervorricht— ungen, Haken, Pelzthiere und Vögel, erwähnt er mit der größten Verwunderung der Samen von Tillandſien, die niemals auf der Erde kei— Krauſe, Erasmus Darwin. von dem oben beſchriebenen aller der ver— ſchiedenen Thiergattungen verſchieden war? Gattungen urſprünglich von einander ver— ſchieden waren? Oder ſollen wir, da wahr— ſcheinlich die Erde und der Ocean lange vor der Exiſtenz der Thiere ſchon mit vegetabiliſchen Produkten bevölkert war, und manche Thier— familien gewiß viel früher exiſtirten, als andere, vermuthen, daß ein und dieſelbe Art von lebendem Filament der Urſprung des geſammten organiſchen Lebens geweſen ſei und noch iſt?“ . . . (Der Verfaſſer knüpft hier die Vermuthung an, daß vielleicht Amerika der jüngſte Welttheil ſei, da die Bewohner deſſelben noch nicht ſo weit in der Intelligenz vorgeſchritten, und die Thiere [z. B. Alligatoren und Tiger) kleiner und ſchwächer ſeien, als in der alten Welt. Auch ſeien die Berge daſelbſt noch höher und nicht ſo abgewittert wie unſere. Daß die großen Seen Nordamerikas noch nicht ver— ſalzen ſeien, könne man ſich durch ihre Ab— flüſſe erklären.) „Dieſe Idee von der ſtufenweiſen Bild— ung und Veredlung der thieriſchen Welt,“ ſo ſchließt Darwin dieſe reiche Ueberſicht, „ſcheint den alten Philoſophen nicht unbe— faunt geweſen zu ſein. Plato, der wahr- ſcheinlich die wechſelſeitige Befruchtung der niederen Thierarten, z. B. der Schnecken und Würmer, beobachtet hatte, war der Meinung: Der Menſch und alle übrigen Thiere wären urſprünglich in der Kindheit der Welt Hermaphroditen geweſen, und erſt im Verlaufe der Zeit wären ſie in männ— men. Sie ſind an ihrer Krone mit zahlreichen langen Fäden verſehen, mittelſt deren ſie im Winde wie Spinnen fliegen, bis die Fäden an einem Baumaſt ſich fangen und den Keim daſelbſt anbinden (The loves of plants p. 60). a En liche und weibliche Thiere getrennt worden. Die Brüſte und Zitzen aller männlichen Säugethiere, von denen man jetzt keinen Gebrauch mehr ſieht, geben dieſer Meinung vielleicht einen Schatten von Wahrſcheinlich— keit. Linné nimmt von den männlichen Säugethieren, welche Zitzen haben, das Pferd aus, was vielleicht ſeine frühe Exiſtenz be— weiſen könnte; J. Hunter verſichert aber, Krauſe, Erasmus Darwin. | | | | er habe Spuren derſelben bemerkt, und hat forderlich ſein, die Urſachen der Wirkungen ferner die Naturgeſchichte mit einer ſehr merkwürdigen Thatſache in Bezug auf die männlichen Tauben bereichert: Zur Brut— zeit erfahren die männlichen wie die weib— lichen Tauben eine merkwürdige VBeränder- ung in ihren Kröpfen, welche ſich verdicken und runzlich werden und eine Art von milchiger Feuchtigkeit abſondern, die gerinnt, und mit der ſie in den erſten Tagen ihre Jungen allein füttern, nachher ihnen aber dieſe geronnene Flüſſigkeit mit anderer Nahr— ung vermiſcht geben. den Brüſten der weiblichen Säugethiere nach der Geburt ihrer Jungen ähnlich! Und wie außerordentlich, Thier zu dieſer Zeit ebenſo gut Milch giebt, als das weibliche!“ „Der verſtorbene David Hume ſetzte in ſeinen nach ſeinem Tode erſchienen Werken die Zeugungskräfte weit über die ſo ſehr geprieſenen Kräfte der Vernunft, und fügt hinzu: Vernunft kant blos eine Maſchine machen, die Zeugungskraft macht hingegen Wie ſehr iſt dieſes 417 durch eine, durch das allmächtige: „Es werde!“ hervorgebrachte, ſchnelle Entwickel— ung entſtanden. — Welch' eine erha— bene Idee von der unendlichen Macht des großen Architekten! Der Urſache aller Urſachen! Des Vaters aller Väter! Des Ens Entium! Denn wenn wir das Unend— liche vergleichen wollen, ſo möchte wohl ein größeres Unendliches der Kraft dazu er— zu verurſachen, als nur die Wirkungen ſelbſt. Dieſe Idee hat Analogie mit der immer— währenden Vervollkommnung, die wir durch die geſammte Schöpfung beobachten, z. B. die progreſſive Vermehrung der feſten und bewohnbaren Theile der Erde aus dem Waſſer, der progreſſiven Vermehrung des Wiſſens und des Glückes ihrer Einwohner, und ſtimmt mit der Idee überein, daß unſere gegenwärtige Lage ein Zuſtand der Prüf— ung ſei, welchen wir durch unſere Thätig— keit verbeſſern können, und daß wir folglich für unſere Handlungen verantwortlich find.“ daß das männliche den Macher der Maſchine, und er ſchließt (da ein ſo großer Theil ſelbſt der Erdſchichten aus Ueberreſten des Lebens gebildet jet), daß vielleicht die Welt ſelbſt eher gezeugt, als erſchaffen ſei; das heißt, ſie ſei wahrſchein— lich nach und nach aus einem kleinen An— fange entſtanden, habe ſich durch die Thätig— keit der ihr einverleibten Grundkräfte ver— größert, und ſei ſo eher gewachſen, als * Man wird nicht umhin können zuzu— geben, daß in dieſen 1794 veröffentlichten Betrachtungen bereits eine klare Darlegung von den Folgen der Gebrauchswirkung, in ihrer Anwendung auf die Descendenz-Theorie, alſo des mit Unrecht ſo genannten Lamarckis— mus gegeben iſt. Lamarck kommt das große Verdienſt einer weiteren Ausführung dieſer Ideen zu, aber ihr eigentlicher Ur— heber und früheſter Verkünder ſcheint der ältere Darwin geweſen zu ſein. Mit vollſter Sicherheit erhalten wir gleichzeitig die Principien einer Theorie der geſchlecht— lichen Zuchtwahl bis zu der Conſequenz, daß das ſtärkſte Männchen vorzugsweiſe ſich fortpflanzen wird, vorgelegt, d. h. in jenem Umfange, in welchem Mantegazza und Wallace die geſchlechtliche Zuchtwahl ur) 418 allein anerfennen wollen. Die Theorie der Schutzfarben wird bis auf die Vogeleier ausgedehnt, eine Entdeckung, die man neuer— dings vielfach Wallace zugeſchrieben hat. Außerdem verdient noch darauf hingewieſen zu werden, daß Darwin in den nicht mitgetheilten Schlußbemerkungen die ge— ſchlechtliche Fortpflanzung für eine Haupt- bedingung der Fortbildung der Weſen erklärt, wie dies mehrere moderne Forſcher gleichfalls thun; er glaubte nämlich mit den Aerzten des vorigen Jahrhunderts, daß die auf beſtimmte Ideale gerichtete Phantaſie der Eltern das Junge fördernd beeinfluſſen könne, was bei der ungeſchlechtlichen Zeug— ung nicht möglich ſein würde. In ähn— lichem Sinne haben die Anhänger der Geof— froy'ſchen Schule ſpäter geglaubt, daß die Veränderungen der Welt und des Mittels das ſchon ausgewachſene Weſen wirken müßten. Wenige Jahre nach der Zoonomia ver- öffentlichte Darwin die Phytologia oder die Philoſophie des Feld- und Gartenbaues,“) in welcher wir eben— falls zahlreiche Anklänge an die Forſchun— liche Züchtung angeht, finden, doch brauchen wir hier nicht näher darauf einzugehen, da der Beſprechung des „Botaniſchen Gartens“ und der „Zoonomie“ in den Hauptzügen dar— gelegt iſt, während noch Einiges daraus bei der Beſprechung ſeines letzten Werkes nach— zuholen ſein wird. Der Tempel der Natur oder der Urſprung der Ge— ſellſchaft, “) vom 1. Januar 1802 und ) Phytologia, or the philosophy of agriculture and gardening. London 1800. Deutſch von Hebenſtreit. Leipzig 1801. 2 Bände. ) The temple of nature or the origin of society. A Poem. London 1803. Deutſch Krauſe, Erasmus Darwin. bildet hätten. der Priorei bei Derby datirt, erſchien im Jahre nach dem Tode des Dichters in einer wie der „Botaniſche Garten“ mit ſchönen Stichen gezierten Quart-Ausgabe. Es ift - wiederum ein Lehrgedicht, eine Darſtellung ſeiner im Laufe der Jahrzehnte völlig aus— gereiften Weltanſchauung in blühenden Verſen. Wir können bei unſerer flüchtigen Analyſe hier natürlich nur die neueren Aufſtellungen des Gedichtes berückſichtigen. In dem erſten Geſange, welcher der Entwickelung des Lebens ꝛc. gewidmet iſt, finden wir nun eine entſchiedene Betonung der Hypotheſe einer Generatio aequivoca, deren Nothwendigkeit er in einer zehn Quart— ſeiten langen Anmerkung vertheidigt. In der Phytologia hatte Darwin die Hy- potheſe aufgeſtellt, daß die älteſten Pflanzen | und Thiere geſchlechtslos geweſen ſeien und ſtärker auf den bildſamen Embryo, als auf die erſten Geſchlechtsorgane erſt ſpäter ge— Die geſchlechtsloſen Erzeug— ungen vieler Pflanzen und Thiere, wie z. B. der Blattläuſe, welche periodiſch mit geſchlechtlicher Fortpflanzung wechſeln, ſeien Erinnerungen an jenen geſchlechtsloſen Ur— zuſtand, und wenn man nun weiter zurück- gen des Enkels, namentlich was die fünft- gehe, komme man nothwendig zur Selbſt— entſtehungs-Hypotheſe: Hence without parent by spontaneous birth ſeine Auffaſſung der Pflanzenwelt ſchon bei Rise the first specks of animated carth. Die Beiſpiele, die er als wahrſcheinliche Vorkommniſſe einer Urzeugung in der Jetzt— welt anführt, — Prieſtley'ſche grüne Ma— terie, Schimmel- und andere Pilze u. ſ. w. — ſind zwar nicht beſonders verführeriſch für Ungläubige, allein die Annahme dieſer Hypotheſe dürfte auch heute noch weniger Schwierigkeiten verurſachen, als diejenige der von Kraus. Braunſchweig 1808. 8. Die deutſche Ausgabe war mir leider nicht zu— gänglich, ſo daß ich die poetiſchen Belegſtellen engliſch geben mußte. — — — Concurrenz-Hypotheſe vom ewigen kosmi— ſchen Leben. Natürlich dürfe man nur, ſo bemerkt der Verfaſſer, für die allereinfach— ſten Weſen eine Urzeugung annehmen, alle höheren müßten aus dieſen allmälig ent— ſtanden ſein. Dieſes erſte Leben entſtand im „küſtenloſen“ Meere: Organic life beneath the shoreless waves Was born and nurs'd in Ocean's pearly caves; First forms minute, unseen by spheric glass, Move on the mud, or pierce the watery mass; These, as successive generations bloom, New powers acquire, and larger limbs assume; Whence countless groups of vegetations spring, And breathing realms of fin, and feet, and wing. In der Fortſetzung dieſer Verſe (J. 295 — 302) erinnert der Verfaſſer daran, daß auch die höheren Thiere, ſelbſt das Eben— bild Gottes, als mikroſkopiſche Weſen und Punkte ihre Laufbahn beginnen. Als dann zuerſt Berge, durch das Centralfeuer ge— hoben, oder Korallenriffe ſich über die Fläche des endloſen Waſſers erhoben hatten, landeten einzelne Lebeweſen und gingen durch einen amphibiſchen Zuſtand in Luftweſen über. Wie die Waſſernuß (Trapa natans) und viele andere Waſſerpflanzen den Kiemen der Thiere vergleichbare, fein zertheilte Waſſer— blätter, und den Lungen vergleichbare, wenig getheilte Luftblätter beſitzen, ſo verliere der Froſch die Kiemen und werde aus einem fiſchartigen Waſſerthier ein luftathmender Vierfüßler. Aber ſelbſt das höhere Thier deute in ſeiner embryoniſchen Entwickelung im Ei oder Mutterleib jenen Urſprung aus dem Feuchten an. Still Nature's birth's enclosed in egg or seed From the tall forest to the lowly weed, Her beaux and beauties, butterflies and worms, Rise from aquatic to aerial forms. Thus in the womb the nascent infant laves Its natant form in the circumfluent waves; With perforated heart unbeathing swims, Awakes and str etches all its recent limbs; Krauſe, Erasmus Darwin.“ 419 With gills placental seeks the arterial flood And drinks pur ether from its Mother's blood. (I. 385 — 394.) Während im erſten Geſange die Ur— erzeugung des Lebens beſungen wurde, hat der zweite die Wiedererzeugung des— ſelben zum Gegenſtande. Hier werden nun die uns bereits bekannten Anſichten Dar— win's über die Entwickelung und Anpaſſ— ung der Weſen an verſchiedene Klimate in blühender Sprache beſchrieben, wovon die Verſe 33 — 36 Probe geben mögen: Each new Descendant with superior powers Of sense and motion speeds the transient hours; Braves every season, tenants every clime, And Nature rises on the wings of Time. In einer Anmerkung zu dieſem Geſange kommt zum erſten Male in den Werken des älteren Darwin eine Frage zur Be— ſprechung, die ſein berühmter Enkel zuerſt experimentell erwieſen und einer ſeiner Ur— enkel (George Darwin) zum Ge— genſtande eingehender Studien gemacht hat, der Nutzen der Kreuzbefruchtung und die Bedenken der Inzucht. „Es dürfte wahr— ſcheinlich nützlich ſein,“ ſagt er, „Pflanzen— ſamen von verſchiedenen Oertlichkeiten unter einander zu miſchen, da der Antheren-Staub geneigt iſt, in der Nachbarſchaft von einer Pflanze zur andern überzugehen, und durch dieſes Mittel mögen die neuen Samen der Pflanzen verbeſſert werden, wie die Thier— zuchten aus verſchiedenen Familien., Da die geſchlechtliche Nachkommenſchaft der Gewächſe überhaupt weniger geneigt zu erblichen Krank— heiten iſt, als die ungeſchlechtliche, ſo iſt es vernunftgemäß zu ſchließen, daß die geſchlecht— liche Nachkommenſchaft von Thieren zu erb— lichen Krankheiten weniger geneigt ſein wird, wenn Heirathen unter verſchiedenen Familien ſtattfinden, als in derſelben Familie; dieſe Wahrheit iſt längſt von denjenigen, welche 20 Krauſe, Erasmus Darwin. Thiere zum Verkauf züchten, vermuthet wor— den. Wenn Männchen und Weibchen von verſchiedenem Temperament ſind, ſo können, die im thieriſchen Körper vorhandenen Extreme ſich gegenſeitig unterdrücken, und es iſt ge— wiß, daß wenn beide Eltern aus Familien ſtammen, in denen daſſelbe Erbübel herrſcht, dieſes viel leichter auf ihre Nachkommenſchaft übergehen wird. . . . Schließlich wird die Kunſt, die geſchlechtliche Nachkommenſchaft von etwelchen Pflanzen und Thieren zu ver— beſſern, darin beſtehen, daß man die voll— kommenſten Exemplare aus beiden Geſchlech— tern auswählt d. h. die ſchönſten in Hin— ſicht des Körpers und die genialſten in Hinſicht des Verſtandes; und wo eine Per— ſon männlichen oder weiblichen Geſchlechts gegeben iſt, darin, daß man ihr einen Ge— mahl von entgegengeſetztem Temperament auswählt. Da ſo viele Familien ſchritt— weiſe durch erbliche Krankheiten, als Skro— pheln, Schwindſucht, Epilepſie, Wahnſinn u. ſ. w. ausſterben, ſo iſt es oftmals ge— wagt, eine Erbin zu heirathen, da ſie nicht ſelten der letzte Nachkomme einer kranken Familie iſt.“) Der Urenkel George Darwin hat dieſe allerdings vielfach ausgeſprochenen Ver— mufhungen durch Zahlen nachzuweiſen ver— ſuch“, aber gefunden, daß ſtatiſtiſch ein großer Schaden von Familienheirathen beim Men— ſchen nicht nachzuweiſen war, wohl eine Folge der ſehr verſchiedenen Verhältniſſe, unter denen Geſchwiſterkinder oftmals aufwachſen. Wir überſpringen hundert Verſe und ſehen zu, was der Verfaſſer in einer An— merkung über die Abſtammung des Menſchen ſagt: „Es iſt von Einigen angenommen worden, daß der Menſch früher ſowohl Vierfüßler als Hermaphrodit war, 2) The temple of Nature. Additional Notes p. 44. und daß einige Körpertheile noch nicht ſo paſſend für eine aufrechte als für eine ho- rizontale Körperſtellung wären. So befindet ſich der Boden der Harnblaſe bei einer auf— rechten Stellung nicht genau über der Ein— mündung der Urethra, weshalb ſie ſelten vollſtändig entleert wird, und auf dieſe Weiſe wird der Menſch mehr der Stein— krankheit unterworfen, als wenn er ſeine horizontale Stellung beibehalten hätte. Dieſe Philoſophen ſcheinen ſich mit Buffon und Helvetius vorzuſtellen, daß der Menſch von einer Familie der Affen an den Küſten des Mittelmeeres entſprungen ſei, welche zufällig gelernt hat, den adductor pollicis, jenen ſtarken Muskel, welcher den Ballen des Daumens bildet, zu gebrauchen, und die Spitze deſſelben mit denen der anderen Finger zuſammenzubringen, was Affen ge— wöhnlich nicht thun, und daß dieſer Muskel ſchrittweiſe in aufeinander folgenden Ge— nerationen an Stärke, Größe und Thätig— keit zunahm, ſo daß die Affen durch die damit erhöhte Thätigkeit des Taſtſinns klare Ideen erhielten und allmälig Menſchen wurden.“ *) Dieſe große Rolle der Hand und ihres verfeinerten Taſtſinnes wird ausführlich ge— ſchildert in dem dritten Geſange, welcher der Ausbildung und den Fortſchritten des menſchlichen Geiſtes gewidmet iſt. Die Thiere übertreffen den Menſchen durch ihre Aus— rüſtung mit mancherlei Waffen und höheren Sinnesfähigkeiten, allein die Fähigkeit der Hand, den Geiſt zu bilden, gleicht alles mehr als aus: Proud Man alone in wailing weakness born, No horns protect him, and no plumes adorn; No finer powers of nostril, ear or eye, Teach the young Reasoner to pursue or fly. — ) The temple of Nature. Text- Note P. 54. Nerved wit fine touch above the bestialthrongs, The hand, first gift of Heaven! to man belongs; Untipt with claws the eireling fingers close, With rival points the bending thumbs oppose, Trace the nice lines of Form with sense refined, And clear ideas charm the thinking mind. Whence the fine organs of the touch impart Ideal figure, source of every art; Time, motion, number, sunshine or the storm, But mark varieties in Nature's form. (III. 117 130.) hinzu, ſeien die Lippen die Hauptorgane, um ihnen von den Formen der wahrgenomme— nen Dinge eine Vorſtellung zu ſchaffen, und auch bei jungen Menſchenkindern ſpielten die Lippen nach derſelben Richtung eine große Rolle. Hiernach ſchildert er ſehr aus— führlich die Leiſtungen des Nachahmungs— triebes“) bei dem Menſchen, dem alle mora- liſchen Handlungen, Sprachen und Künſte ihren erſten Urſprung verdanken ſollen: Those clear ideas of the touch and sight, Rouse the quick sense to anguish or delight; Whence the fine power of /mitation springs, And apes the outlines of external things, Withe ceaseless action to the world imparts All moral virtues, languages, and arts. First the charm’d Mind mechanic powers collects, Means for some end, and causes of effects; ) Man wird hierbei unwillkürlich an jene Schilderung erinnert, welche Charles Darwin in ſeiner „Reiſe um die Welt“ von den Feuerländern gegeben hat: „Sie ahmen ausgezeichnet nach; ſo oft wir huſteten oder gähnten, oder irgend eine eigenthümliche Be— wegung machten, ahmten ſie uns augenblick— lich nach. Einer von unſerer Geſellſchaft fing an zu ſchielen und von der Seite zu ſehen; aber einer der jungen Feuerländer (deſſen ganzes Ge— ſicht ſchwarz gemalt war, mit Ausnahme eines weißen Striches quer über die Augen) über— traf ihn doch noch und machte noch wider— wärtigere Grimaſſen. Sie konnten mit voll— ſtändiger Correktheit jedes Wort in irgend einem Satze, den wir an ſie richteten, wieder— Krauſe, Erasmus Darwin. Bei jungen Hunden, jet der Verfaſſer ſchrift, jungen H „ſetz faſſ Gegenſtand des Sprachurſprungs hat ſich 421 Then learns from other Minds their joys and fears, Contagious smiles and sympathetic tears. (III. 283 — 292.) Die „Muse of Mimiery“, wie Dar— win die Nachahmungsſucht des Menſchen im Folgenden wiederholt nennt, hat nun ſeiner Anſicht nach im Beſonderen die erſte Sprache und die erſte Schrift, eine Bilder— geſchaffen. Ueber den wichtigen der Verfaſſer im Text und in den Anmerk— ungen mit ſeinem gewöhnlichen Scharfſinn ſehr ausführlich geäußert, wir müſſen uns des Raumes wegen damit begnügen, eine der bezeichnendſten Stellen des Gedichtes hervorzuheben: When strong desires or soft sensations move The astonish'd Intellect to rage or love; Associate tribes of fibrous motions rise, Flush the red cheek, or light the laughing eyes. Whence ever-active Imitation finds The ideal trains, that pass in kindred minds; Her mimic arts associate thoughts exeite And the first Zanguage enters at the sight. (III. 335 — 342.) Nachdem er weiter gezeigt, wie aus der Gemüths- und Geberdenſprache, aus den erſten Ausrufen die wirkliche Sprache ent— holen, und ſie erinnerten ſich auch ſolcher Worte eine Zeit lang. Und doch wiſſen wir Europäer alle, wie ſchwer es iſt, die Laute in einer fremden Sprache von einander zu unterſcheiden. Wer von uns könnte z. B. einem Indianer von Amerika einen Satz von mehr als drei Worten nachſprechen? Alle Wilden ſcheinen in einem ganz ungeheuren Grade dieſe Fähigkeit des Nachahmens zu beſitzen. Man hat mir beinahe mit denſelben Worten die nämliche lächerliche Gewohnheit von den Kaffern erzählt. Die Auſtralier ſind gleichfalls ſchon lange dafür bekannt, daß ſie im Stande ſind, den Gang eines jeden Men— ſchen ſo nachzuahmen und zu beſchreiben, daß er erkannt werden kann. . . .“ 422 ſtanden iſt (Associations mystie power combines Internal passions with external signs), verfolgt er nun die Ac— centuation und Articulation der Laute, die Bildung von Grundwörtern und abſtrakten Begriffen, das damit verknüpfte Wachsthum des Intellekts und die Entſtehung der auf den geſelligen Verkehr begründeten Geſell— ſchaftstugenden oder allgemeinen Moral. Das Grundprincip der letzteren iſt am beſten in dem chriſtlichen Worte: „Liebe den Nächſten wie dich ſelbſt,“ ausgedrückt: High on yon seroll, inseribed o’er Nature's shrine, Live in bright characters the words divine. „In Life's disastrous scenes to others do, „What you would wish by others done to you.“ — Winds! wide o'er earth the sacred law convey, Ye Nations, hear it! and ye Kings, obey! (III. 484 — 490.) Der vierte Geſang, „Vom Guten und ſang, Through the thick ranks of vegetable war; Böſen“ überſchrieben, ſchildert die geiſtige Welt als Entwickelungsſtufe der materiellen, die Summe des Glückes und des Uebels in derſelben. Ungefähr die erſten hundert Verſe ſind einer Schilderung des unbarm— herzigen Kampfes ums Daſein gewidmet, der in der Luft, Krauſe, Erasmus Darwin. hatte in einer Schilderung die Wohlthaten hervorgehoben, mit welchen der große Ur— heber aller Dinge die Welt beglückt habe. Das Junge nehme die Mutterbruſt mit Luſt und die Mutter biete ſie mit Luſt. Die an Nährſtoffen reichen Pflanzenſamen dienten, ohne Schmerzen zu empfinden, den Thieren zur Nahrung. Gegen dieſe allzu ſchönfärberiſche Weltauffaſſung hatte der Verfaſſer ſchon damals Proteſt eingelegt: Der Löwe verzehre die Lämmer und dieſe die lebenden Pflanzen, der Menſch Beide; von Frieden ſei in der Natur keine Rede. In ſeinem letzten Werke erſcheint dieſe Auf— vertilgen faſſung weit vertieft; nicht nur die Thiere einander ſammt den Pflanzen, ſondern auch die Pflanzen ſelbſt kämpfen unter einander um Boden, Feuchtigkeit, Luft und Licht: auf der Erde und im Waſſer wüthet, und die Welt mit ihren ſich ſchonungslos bekriegenden Bewohnern einem großen Schlachthauſe gleich macht: Air, earth and ocean, to astonish’d day One scene of blood, one mighty tomb display! Ves! smiling Flora drives her armed car Herb, shrub, and tree with strong emotions rise For light and air, and battle in the skies; Whose roots diverging with opposing toil Contend below for moisture and for soil; Round the tall Elm the flattering Ivies bend, And strangle, as they clasp, their struggling friend; Envenom’d dews from Mancinella flow, And scald with caustie touch the seribes below; Dense shadowy leaves on stems aspiring borne With blight and mildew thinthe realms of corn; From Hunger's arm the shafts of Death are | hurl’d And one great Slaughter-house the warring world! (IV. 63 — 66.) Dieſe Schilderung iſt kein gelegentlicher Streifblick, denn Schon in ſeinem erſten, wenigſtens zwanzig Jahre früher verfaßten Lehrgedichte „The botanie garden“ taucht dieſes Thema (S. 28) auf. Dr. Balguy | I And insect hordes with restless tooth devour The unfolded bud, and pierce the ravell’d flower. (IV. 41-54.) Glücklicher Weiſe bekämpfen die Weſen einander oft zum Vortheile Dritter, jo wenn die ſtets gefräßigen Larven von Inſekten, die nach ihrer Verwandlung oft nur von Honig leben — auch dieſe Bemerkung rührt von dem Verfaſſer her! — die Unzahl der Blattläuſe vertilgen, die ſonſt in ihrer un— geheuren Fruchtbarkeit die geſammte Vege— ne tation vertilgen würden. Ein Uebermaß von Schmetterlingsraupen wird von Wespen— larven verzehrt, und im Uebrigen wiſſen auch die Pflanzen ſich vor gänzlicher Zer— ſtörung zu ſchützen. „So bedecken einige Pflanzen ihre jungen Schößlinge mit ſteifen Haaren, wie die Moosroſe, an e um ſich vor Plünderung durch die Blatt— läuſe zu ſchützen, die ihnen durch Beraub— ung ihres Lebensſaftes jo ſchädlich ſind.““) Aller gegen Alle die Natur bald veröden, bar wäre, ſolchen Kampf binnen Kurzem die ganze Welt überfluthen würde: All these, increasing by successive birth, Would each o’erpoeple ocean, air, and earth. Damit iſt die große Frage geſtellt: Was bedeutet dieſer raſtloſe Kampf in der Natur für die Natur? Einen Augenblick glauben wir vielleicht auch die Löſung dieſes Natur— Krauſe, Erasmus Darwin. Woaſſers zunehme, hervorgeht, verſteht der Verfaſſer in— deſſen zunächſt nur, daß aus dem ſtumpfen Alter friſches Leben erblüht, und daß, in— dem ſowohl die Zahl als die Größe der lebenden Thiere mit der Verminderung des auch die Summe von Lebensglück gewinnen müſſe, bis die Erde einſt wieder in ihre Elemente aufgelöſt werde, um durch das Chaos einen neuen Kreis— lauf zu beginnen.“) In feiner Phytologia Dennoch würde dieſer nie ruhende Kampf (XIX. 7) hat der Verfaſſer die Glückſelig— keitsfrage ausführlicher behandelt und in wenn die Natur nicht jo ungeheuer frucht daß beinahe jedes Weſen ohne der letzteitirten Anmerkung angedeutet, daß die Fähigkeit eines höheren Genuſſes mit der Höhe der Organiſation der Weſen zunähme. Die Frage ſelbſt hat er nicht gelöſt, aber ſeine Bemühungen um dieſelbe haben die Augen vieler ſeiner Leſer auf den Daſeinskampf ge— räthſels bei dem Dichter zu finden, der ihr ſo nahe gekommen war, ein Ahnen der Wahrheit, nicht die Wahr- heit ſelbſt. Er ſagt nämlich, daß der raſt— loſe Kampf dazu diene, die Summe des Glücks der Ueberlebenden zu erhöhen: Thus the tall mountains, that emboss the lands, Huge isles of rock, and continents of sands, Whose dim extent eludes the inquiring sight, Are migthy Monuments of past Delight: Shoutroundtheglobe, howReproduction strives | With vanquish’d Death, — and Happiness survives; How Life increasing peoples every clime, And young renascent Nature conquers Time; — And high in golden characters record The immense munificence of Nature's Lord! (IV. 447 — 456.) aus dem Tode der im Kampfe Unterlegenen | *) The temple of Nature p. 166 Note. Kosmos, Jahrg. II. Heft 11. allein es iſt nur Zauchtwahl aufgeſtellt haben. Macht des Dichters, auch die fremde Phan— taſie anzuregen, und ein günſtiges Geſchick lenkt, und hier dürfte die Erklärung der auf— fallenden 2 Thatſache liegen, daß ſo viele eng— liſche Naturforſcher (Wells, Matthew, Wallace, Charles Darwin u. A.) nach einander das Princip der natürlichen Das zeigt die hat es gefügt, daß dem rechten Erben das Vermächtniß zum größten Segen gereicht hat. Der „Tempel der Natur“ trug noch ganz bedeutend dazu bei, den Dichterruhm Darwin's zu erhöhen, denn die Darſtellung iſt gerundeter und nicht ſo ſehr von alle— goriſchen Vergleichen überwuchert, wie in ſeinen erſten Lehrgedichten. In den nächſten Jahren nach dem erſten Druck erſchien all- jährlich eine neue Auflage, und das gute Glück in der Geſtalt eines literariſch wohl— bewanderten Freundes hat mir den Inhalt einer Kritik der vierten Auflage dieſes Ge— Unter der wachſenden Glückſeligkeit, die | burgh Review von 1806 ien iſt. Da⸗ dichtes zugänglich gemacht, die in der Edin- 424 rin findet ſich (S. 501) die in zweifacher Beziehung intereſſante Bemerkung: „Wenn fein (Darwin's) Ruhm irgendwie beſtimmt iſt, den auf- und abwogenden Geſchmack des Tages zu überleben, ſo wird dies kraft ſeiner Leiſtungen als Dichter geſchehen; ſeine Träumereien auf wiſſenſchaftli— chem Gebiet haben wahrſcheinlich feine andere Ausſicht vom Ver übertroffen; feine Beſchreibungen haben die geſſen gerettet zu werden, als in— dem ſie durch die unſterblichen Verſe getragen werden, mit denen fie unauflöslich verbunden wur— den („married to immortal verses“).“ Mit dieſer vollen Anerkennung des Krauſe, Erasmus Darwin. Arbeit, als eine höhere Art von Stecknadel— Schleiferei (pin- making) betrachtet haben. Nachdem der Kritiker ſo ſeine „Spitzen“ verſchoſſen hat, muß er indeſſen anerkennen, daß trotz alledem ein wahres poetiſches Feuer in jenen Lehrgedichten lebt und oftmals durchbricht. „Kein Schriftlſteller,“ jagt er ſchließlich, „hat ihn in der lichtvollen Schil— derung ſichtbarer Gegenſtände in Verſen Beſtimmtheit von Pinſelzeichnungen, mit dem Vorzuge, durch ihre harmoniſchen Ausdrücke auch ſolche Dinge, die kein Pinſel malen kann, zu ſchildern.“ poetiſchen Verdienſtes contraſtirt ſonderbar die ſpitzige Beurtheilung eines ſpäteren Kri- tikers, «) der ſich, wie ich fürchte, darin am beſten ſelbſt kritiſirt hat. ſagt er von den Verſen, „Nichts,“ „iſt daran mit Leidenſchaft und Kraft vollbracht, fon= | dern alles mit Feilen, Schaben, Schleifen und ähnlicher raſtloſer Nacharbeit. Jede Linie iſt ſo ſorgfältig polirt und geſchliffen, wie eine Lanzette, und die wirkſamſten Stel— len haben das Anſehen einer Anzahl jener und mit ihren Klingen hervorſchauenden, ſchimmernden (chirurgiſchen) Inſtrumente. Ihr fühlt, daß eine jo dichte Schlachtord- Bilsborrow dies empfunden, als er nung von Spitzen und Schneiden ſorgſamen Umgang erfordert, und daß Eure Finger in ihrer Nähe kaum ſicher ſind.“ Man ſieht, der Kritiker kann dem Dichter nicht vergeben, daß er Arzt war und das Den— ken als einen mechaniſchen Proceß erklärt hat, auch die Poeſie ſoll er als mechaniſche ) Im zweiten Bande von H. Craik's Manual of English Literature and Language. | Tauchnitz Edition Vol. 1449. p. 204 fl. Wir wollen gerechter ſein und ſagen, daß ſeit Lucrez kaum ein Verſuch, die widerſtrebenden Gebiete der Wiſſenſchaft und Poeſie in einem Lehrgedichte zu vereinen und ganze Syſteme darin vorzutragen, beſſer gelungen iſt, als in Darwin's Werken, aber die Gattung ſelbſt freilich iſt ſpröde und wird ſtets weniger Liebhaber finden, als die anderen poetiſchen Gattungen. Doch wenn der Körper dieſer Gedichte auch ſterb— lich ſein ſollte, ein unſterblicher Geiſt lebt in ihnen, und dieſer iſt es — um dem kleinen, zum Verkauf reihenweiſe geordneten Edinburger Kritiker das Wort im Munde umzudrehen — der dieſelben für alle Zeit über Waſſer halten wird. Beſſer als die ſpäteren Kritiker hat Dewhurſt den Dichter in Verſen feierte, deren End— gruß heute dem großen Enkel und Geiſtes— erben gelten kann: | Go on, o Friend! explore with eagle-eye, Where wrapp'd in night retiring Causes lie: Trace their flight bands, their secrets haunts betray, And give new wonders to the beam of day. — EI P Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. ae ENG“ * Philoſophiſche Aykik contra Darwinismus. Otio uf. n der Zeitſchrift „Nord und EL. Süd) erhebt Herr Ludwig Noiré gegen den Darwinis— will: „Die größte Einſeitigkeit des heutigen Darwinismus liegt darin, daß er Alles aus äußeren Urſachen herzuleiten bemüht iſt und auf die inneren Eigenſchaften, wie es ſcheint, wenig oder gar nicht achtet.“ — Er führt zur Beſtätigung ſeiner Anſichten den Ausſpruch des berühmten Sprachge— lehrten Max Müller an, den er — horribile dietu — den einzigen gewachſenen, ja überlegenen Gegner Darwins nennt: „Im Menſchen liegt ein Etwas, eine qualitas oceulta, wenn man fo will, das ihn von allen Thieren ſondert. Dieſes Etwas nennen wir Vernunft, wenn wir es als innere Wirkſamkeit denken, wir nennen es Sprache, ſobald wir es als Aeußeres, als Erſcheinung, gewahren und auffaſſen.“ — Schließlich nennt er die Sprache ein Kind des Wiſſens, wie er denn auch an anderen Stellen ſich als Schüler Schopenhauer's documentirt. 9 Oktoberheft 1878. 8 mus den folgenden Vor- oder N Einwurf, wie man es nennen Ueber die Stellung des Letzteren zur älteren Entwickelungslehre kann kein Streit ſein; er hat ſich ſelbſt wiederholt und deut— lich genug ausgeſprochen. Ihm birgt „jeder die zahlloſen Sonnen umkreiſende Planet ſchon in ſeinem Innern die geheimnißvollen Kräfte, aus denen einſt die Pflanzen- und Thierwelt in der unerſchöpflichen Mannig— faltigkeit hervorgehen werden“. Ihm führen „Batrachier ein Fiſchleben, ehe ſie ihre eigene vollkommene Geſtalt annehmen, und ebenſo durchgeht jeder Fötus ſucceſſive die Formen der unter ſeiner Species ſtehenden Klaſſen, bis er zur eigenen gelangt. Warum — fragt er — ſollte nun nicht jede höhere Art dadurch entſtanden ſein, daß dieſe Steiger— ung der Fötusform einmal noch über die Form der ihn tragenden Mutter um eine Stufe hinausgegangen iſt?“ Er meint, daß wir uns „die erſten Menſchen zu denken hätten als in Aſien vom Orang, und in Afrika vom Chimpanſe geboren, wiewohl nicht als Affen, ſondern ſogleich als Menſchen.“ Wie ſich Schopenhauer zur modernen Entwickelungslehre geſtellt haben würde, iſt eine ſchwer zu beantwortende Frage. Die Naturforſcher mittleren und jüngeren Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. 56 ur Busch, Philoſophiſche Myſtik contra Darwinismus. 426 Alters ſind Anhänger der Theorie, die ältern Herren können ſich in derſelben nicht zurecht finden. Nach dieſer Analogie würde Schopenhauer, wenn er ſie erlebt hätte, ein Gegner derſelben geworden ſein. Oder er hätte zu den ſeltenen Ausnahmen gehört, die auch in vorgerückten Jahren für neue Ideen noch zugänglich ſind, weil ſie die— ſelben vorempfunden haben. Jedenfalls hätte Schopenhauer, der den ganzen Schwer— punkt der Artenbildung in den Willen ver— legt, in dieſem Falle ſeine Phyſiologie in weſentlichen Punkten umgeſtalten müſſen. Einen ſolchen Punkt berührt Herr Noiré, wenn er von den inneren Eigenſchaften der Dinge, der qualitas oe ulta des Herrn Max Müller ſpricht. Er betont den Schopenhauer'ſchen Satz, daß es unmöglich ſei, die Natur von außen zu enträthſeln. Vielmehr liege der Schlüſſel zur Löſung des Räthſels in unſerm eigenen Innern, wo wir als letzte Urſache unſerer Handlungen den Willen erkannten. Es iſt wohl nur ein lapsus linguae, wenn Herr Noiré die Empfindung und das Bewußtſein mit dieſem Willen identificirt. („Daß das unmittelbar Gewiſſe vielmehr das Bewußtſein, die Empfindung, der Wille iſt.“) Auch iſt es wohl ein Fehlgriff im Ringen nach allgemein verſtändlichen Worten, wenn er den Willen eine ſeeliſche Eigen— ſchaft nennt. („Da eben die Empfindung, der Trieb, der Wille, dieſe ſeeliſche Eigen- ſchaften für uns das Bekannteſte auf der Welt ſind.“) Iſt doch der Schopenhauer'- ſche Wille die ganze ſogenannte Seele in allen ihren Qualitäten. Als ſolcher iſt er | aber bei Schopenhauer das Kant'!ſche Ding an ſich, ein ens metaphysicum, das was Herr Noiré die innere Eigenſchaft, Herr Müller die qualitas oceulta nennt. | Bei Kant iſt das Ding an ſich uner- . kennbar, denn „an ſich“ heißt eben, wie die Dinge unabhängig von unſerem menſchlich organiſirten Hirn, etwa in den Köpfen von Engeln erſcheinen mögen. Wir können, ſagt Kant, über die Dinge nur reden, wie ſie ſich in unſerem Kopfe als Vor— ſtellungen abſpiegeln. Was ſie unabhängig von dieſer Vorſtellung eigentlich und an ſich ſein mögen, davon wiſſen wir nichts. Schopenhauer dagegen behauptet, unſer eigenes Innere ſei uns auf eine von den Sinnesdaten unabhängige Weiſe, ganz un— mittelbar bekannt. Hier ſähen wir, wie das Ding, nämlich unſere Perſon, in Be— wegung geſetzt würde durch die Trieb- und Springfedern des Willens, welcher demnach das hinter den Couliſſen belauſchte und er— erkannte Ding an ſich ſei. Der Gedanke, bei Löſung der letzten Fragen vom eigenen Ich auszugehen, hat ſeine volle Berechtigung. Descartes, Kant und ſeine Schule haben auf dieſem Wege ſehr wichtige Aufſchlüſſe in der Er— kenntnißtheorie gefunden, ja, eine ſyſtematiſch vernünftige Naturbetrachtung datirt erſt von dieſen Unterſuchungen her. Alles Wiſſen iſt Erfahrungswiſſen, klingt jetzt faſt wie ein philoſophiſcher Gaſſenhauer, und doch haben die angeborenen Ideen in den Köpfen der Menſchen bis zu jenen Speculationen ihren ſchreckhaften Spukgetrieben. Es iſt Schopen— hauer's Verdienſt, dieſe Methode der cauſalen Innenforſchung auf die Handlungen aus— gedehnt und hier als letzte Urſache, als bindende Formel der verſchiedenen Leibes— aktionen den Willen hingeſtellt zu haben. Seine Exiſtenz läßt ſich nicht demonſtriren, wie ſich nicht beweiſen läßt, daß wir denken und exiſtiren. Den Willen fühlt jeder in fi, d. h. er iſt uns gerade fo gut im Selbſtbewußtſein gegeben, wie unſer Denken und Daſein. Ein Sprung ins Blaue iſt es dagegen, wenn Schopenhauer dieſe Erkenntniß im Selbſtbewußtſein zu einer ganz beſonderen, von den Sinnesdaten un- abhängigen ſtempelt und auf dieſe Weiſe den Willen als Ding an ſich erſchleicht. Auch dieſer iſt uns vielmehr nur als Vor— ſtellung bekannt, wir lernen ihn erſt in den einzelnen Aktionen unſeres Körpers kennen, wie das Bewußtſein aus Vorſtellungen zu— ſammengeſetzt iſt, die ſich auf materielle Nervendaten zurückführen laſſen. Aus jenen einzelnen materiellen Willensaktionen bil— den wir dann den Allgemeinbegriff Wille ſchlechthin. Von einem Dinge an ſich, von inneren Eigenſchaften kann demnach nicht die Rede ſein. Bewegte Materie, — das iſt Alles, wenn wir objektiv, von außen an die Dinge herangehen; von Willen beſeelte, wenn wir ſie ſubjektiv betrachten. Auch die qualitas occulta, welche als innere Wirkſamkeit die Vernunft, als äußere Erſcheinung die Sprache hervorrufen ſoll, iſt objektiv angeſehen bewegte Hirn— materie. Weder der Wille noch die Kräfte ſtehen zur Materie in einem cauſalen Ver— hältniß. Die Kraft oder der Wille iſt nicht die Urſache der Bewegung; hier giebt es kein prius. Wo Kraft und Wille, da iſt Materie und umgekehrt. Beide ſind zugleich, — nicht nacheinander, coordinirt, — nicht ſubordinirt. Eine hervorſtechende Ausbildung der Hirnmaterie bei dem Menſchen iſt dagegen von dem Darwinismus nicht beſtritten; nur läßt er Vernunft und Sprache nicht als Wunder gelten, welches ohne Analogon in der Thierheit daſtehe. Auch das Thier überlegt und drückt ſeine Gefühle und Ge— danken in Lauten aus. Es ſind ſchwache, dämmrige Anklänge, aber es ſind doch Ana— loga, welche eine genetiſche Entwickelung Buſch, Philoſophiſche Myſtik contra Darwinismus. 427 erkennen laſſen von der Thier- und Menfchen- vernunft, von der Thier- und Menſchen— ſprache. Das Wunder wird faßbar, und fügt ſich in den Rahmen der Entwickelungs⸗ geſchichte. Wenn der Orang einen Hammer holt und den Nagel in den Fußboden ſeines Käfigs klopft, nachdem er ihn mit der Hand vergebens hineinzudrücken ſuchte, wenn er über das Bild im Spiegel ſichtbar Re— flexionen anſtellt,“) jo beweiſt dies, daß er ein Vernunftvermögen beſitzt. Wer jemals einem dieſer Antropomorphen in das über— legſame Auge ſah, der wird nicht mehr von einem Rubicon zwiſchen Menſchheit und und Thierheit ſprechen. Der Unterſchied zwiſchen einem Auſtralneger und einem Euro— päer iſt größer oder gerade ſo groß, wie der zwiſchen einem Auſtralneger und einem geſunden und intelligenten Orang. Solche Fragen können nicht mit logiſchen Erörterungen hinter dem Schreibtiſche ausgemacht werden. Wer das Thun und Treiben eines Menſchen— affen aufmerkſam beobachtet hat, der wird nicht mehr nach einem Bindeglied zwiſchen Menſch und Thier ſuchen. Ein ſolcher Orang hat Vernunft, wenn der Menſch überhaupt, alſo auch die Wilden und ungebildeten Dummköpfe unter den civiliſirten Nationen, Vernunft haben. „Der Unterſchied zwiſchen einem Kulturmenſchen und einem Orang iſt ſo groß, daß ein Vergleich komiſch wirkt:“ So urtheilt das große Publikum. Von einem Manne der Wiſſenſchaft darf aber wohl verlangt werden, daß er den Natur- zuſtand der erſten Menſchen, wie er uns annähernd bei den Wilden entgegentritt, bei ſolchen Vergleichen ins Auge faſſe. Thut er das nicht, ſo mag er ein witziger Kopf ſein, aber wir werden das Recht haben, ihn nicht mehr ernſthaft zu nehmen. Die Vernunft iſt alſo keine qualitas 0 „Zool. Garten“ September 1878. — oeeulta des Menſchenhirns, ſondern fie ift ein natürlich aus der Thierheit entwickeltes Vermögen, gebunden an die Hirnmaterie. Wird dieſe an gewiſſen Stellen krank oder verletzt, ſo geht das Begriffs- und Sprach— vermögen verloren. Wollen wir dies Ver— mögen ein inneres nennen, ſo müſſen wir auch Hunger und Durſt, Weinen und Lachen, Liebe und Haß als qualitates ocenltae bezeichnen. Der Empiriker ſucht dieſelben durch äußere Urſachen zu er— klären, er verfolgt die Seelenorgane in ihrer embryologiſchen und genetiſchen Ent— wickelung, und findet überall ein Werden und Wachſen, ein Anpaſſen an veränderte Umſtände und Lebensbedingungen. Alle Ver— mögen, körperliche wie ſogenannte pſychiſche, ſind allmälig erworbene, durch veränderte Lebensumſtände geweckte, nicht aus ſich ent— wickelte. Aeußere Umſtände haben die Varie— tät Menſch veranlaßt, ſich das Sprachver— mögen anzugewöhnen, nicht war daſſelbe gewollt, ohne Urſache und äußere Veran— laſſung, von innen heraus. Wollen wir verſtehen lernen, wie die Menſchenſprache entſtanden iſt, ſo müſſen wir die Sprach— organe in ihrer Entwickelung verfolgen und den Analogien in der Thierſprache nach— gehen. Die innere Eigenſchaft, die quali- tas occulta der Vernunftſprache, iſt an die Hirnmaterie gebunden. Männer der Wiſſen— ſchaft ſollten Bedenken tragen, von einem be— ſonderen „Sprachvermögen“ des Menſchen, von einer unüberſteiglichen Schranke zwiſchen Menſchheit und Thierheit zu ſprechen, ſo lange nicht in der Materie des Menſchenhirns beſondere Gebilde nachgewieſen ſind, welche die qualitas oceulta gebunden. Hund, Fuchs und in höherem Gerade die An— thropomorphen haben unfraglich, wie ihr Benehmen lehrt, gewiſſe Allgemeinbegriffe, wie Menſch, Thier, Katze, Hund, und der— E an Busch, Philoſophiſche Myſtik contra Darwinismus. Vernunft-, kein Sprachvermögen. gleichen mehr. Sie benennen dieſelben nicht, weil das nicht in ihrem Charakter liegt, weil ſie kein Sprachtalent beſitzen. Das thut der Menſch, aber er lernt es erſt ſehr allmälig. Wie arm iſt die Sprache der tief ſtehenden Wilden! Ein ſehr kleiner Kreis von benannten, anſchaulichen Vorſtell— ungen, ein verſchwindend kleiner von be— nannten Allgemeinvorſtellungen. Roth, blau, weiß unterſcheidet und benennt ein Wilder). Den Begriff Farbe kennt er nicht, er hat kein Wort dafür. Dieſe Wilden ſind aber ſchon Culturmenſchen im Verhältniß zu den erſten Exemplaren der Varietät Menſch. Bei einer ehrlichen und nicht von Vorurtheilen beeinflußten Erwägung der Thatſachen und Wahrſcheinlichkeiten iſt der Menſch das klügſte, weil gehirnlich am höchſten entwickelte Thier. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ohne äußere Einflüſſe keine neue Or— ganiſation, keine Varietät oder Species, kein Aber ge⸗ ſchieht dieſe Organiſation nicht von innen heraus durch eine qualitas oceulta? Ganz gewiß nicht, denn dieſe Organiſation, dieſe innere Eigenſchaft, dies Sprachvermögen iſt ja erworben, geworden durch äußere Ein— flüſſe. Was wir von inneren Vorgängen reden können, beſchränkt ſich auf das Ver— mögen, auf äußere Urſachen zu reagiren. Ein Anpaſſen wäre unmöglich ohne die innere Befähigung, ſich veränderten Lebens— * Anm. d. Red. Nicht alle Natur- menſchen haben ſich bereits zum Gebrauche be— ſonderer Farbe-Bezeichnungen aufgeſchwungen. Middendorf fand z. B. bei den Samojeden und Schwein furth bei afrikaniſcheu Völkern große Lücken. Herr Grant Allen hat durch Nachfrage bei zahlreichen Miſſionären feſtge— ſtellt, daß die Naturvölker meiſt nur Namen für diejenigen Farben haben, die ſie färben können. Ich hatte dieſen Befund (Kosmos Bd. I. S. 272 u. 429) vorausgeſagt. K. 1 umſtänden anzubequemen. Ja, wir könnten einen Schritt weitergehen und ſagen: der Wille zu dieſer Anpaſſung liegt in der Materie. Aber, und das müſſen wir im Gegenſatz zu den Evolutionären betonen, dieſer Wille iſt indifferent. Beſtimmt wird er erſt durch die äußeren Urſachen. Auf dieſe Weiſe findet auch das Räthſel der Schopenhauer'ſchen Philoſophie, wie ſich der eine und aller Wille in der Materie zu Individuen, Varietäten, Arten habe diffe— renciren können, eine Löſung. Denn der Kunſtgriff Schopenhauer's, die Ver— ſchiedenheit der Individuen als Trugbild unſeres an Raum und Zeit gebundenen Intellekts hinzuſtellen, iſt doch zu plump, um etwas anderes dahinter zu ſehen, als eine Umgehung der Schwierigkeit. Beſtehen bleibt dieſelbe nur, wenn wir fragen, wo— her denn die Lebensumſtände, die äußeren Urſachen kommen, welche jene Veränder— ungen, jene Verſchiedenheiten, Indivividuen, Varietäten, Arten hervorriefen. Dieſe Frage iſt aber, wie ſchon oben bemerkt, falſch ge— ſtellt. Die Materie und Kräfte, oder die Materie und der ſie beſeelende Wille ſind das Gegebene, eine Einheit, eine Beweg— ungserſcheinung, in der weder die Kraft noch der Wille die Urſache abgiebt. Die Frage, woher kamen jene veränderten Lebens— bedingungen, heißt alſo nichts anderes, als woher kam ich, du, der Menſch, das Thier, die Materie überhaupt. Jedes Lebeweſen wie jedes Stäubchen in der unorganiſirten Materie wirkt irgendwie, wenn auch noch ſo entfernt, auf das Ganze, wie es von dem Ganzen beeinflußt wird. Hier kann nicht von Hammer und Amboß, von Han— deln und Leiden, von Willen und todter Materie, oder urſprünglichen Kräften und Materie die Rede ſein. Wie ſich das Be— wußtſein nicht weiter erklären läßt, ſo läßt 429 Buſch, Philoſophiſche Myſtik contra Darwinismus. ſich auch nicht weiter demonſtriren, was Materie und Kraft, oder vom Willen be— ſeelte Materie ſei. Der menſchliche Intel— lekt iſt das Maß der Dinge, ſein Objekt die Materie. Die Geſetze der Bewegung in und an derſelben empiriſch und hypo— thetiſch nachzuweiſen, iſt Aufgabe der Natur- betrachtung im weiteſten Sinne des Wortes. Sobald wir jenen Ausgangspunkt, die menſch— liche Vernunft, verlaſſen, gerathen wir in die Fallſtricke des Glaubens oder philoſo— phiſcher Myſtik. Sobald wir fragen, woher kommt die Materie, oder woher kommt es, daß ſie bewegt iſt, ſtellen wir metaphyſiſche Fragen und verlaſſen den Boden der Erfahrung. Es ſoll nicht ge— leugnet werden, daß die verſchiedenen Kräfte und verſchiedenen Elemente unſerer heutigen Naturforſchung einer hypothetiſchen Vermit— telung dringend bedürfen. Die Theorie von der molecularen Bewegung der Materie und verwandte Hypotheſen ſind taſtende Ver— ſuche, das gemeinſame Band zu finden; und wir dürfen hoffen, daß der in der Luft liegende Gedanke in irgend einem begnadeten Kopfe ſchließlich Fleiſch werden wird. Zum Schluß antwortet Herr Noire auf die Müller 'ſche Frage, wie der Menſch dazu komme, die Zwei zu faſſen, d. h. wie er von der ſinnlichen Wahrnehmung zum Gedanken gelange: Die Sprache iſt ein Kind des Willens. Das iſt im Sinne Schopenhauer's ganz richtig, denn durch den Willen iſt ja alles, was iſt, alſo auch die Sprache. Aber ebenſo richtig hätte er ſagen können: Die Sprache iſt ein Kind der Noth. Ja, ein Dritter würde vielleicht den Streit ſchlichten, indem er ſagte: die Sprache iſt eine Nothſchöpfung des menſch⸗ lichen Willens. Und wie es ſcheinen will, hätte dieſer Dritte nicht ganz Unrecht. | Das ſalzfreie Armeer und feine Conſeguenzen für den Darwinismus. Von R. Hörnes, Profeſſor der Geologie an der Univerſität Graz. MER, Dftober-Heft diefer Zeitſchri DER ein Aufſatz von Herrn Dr. EL 5 W Otto Kuntze, in welchem 2 der Beweis verſucht wird, daß das „Urmeer“ bis nach der Steinkohlen— periode ſalzfrei geweſen ſei und daß die zum Theil rieſigen Pflanzen der Carbon— formation auf demſelben einen ſchwimmen— den Raſen gebildet hätten. Wenn nun auch die Hypotheſen Kuntze's theilweiſe bereits durch die redaktionellen Bemerkungen wider— legt erſcheinen, halte ich es doch für geboten, alle jene Argumente und Bedenken, welche gegen die Annahme eines ſalzfreien Urmeeres ins Feld geführt werden können, in Kürze zuſammenzuſtellen, um die Unzuläſſigkeit der Vorausſetzung, es ſei der Salzgehalt des Meeres erſt nach der Kohlenformation durch Auslaugung der Maſſengeſteine entſtandeu, darzulegen. Es wird hierbei nicht noth— wendig ſein, auf die heute noch kaum mit Sicherheit zu löſende Frage nach den Evo— lutionsverhältniſſen der großen Gruppen des Pflanzenreiches einzugehen; ich vermöchte dies auch kaum, da meine bisherigen Stu— dien dieſer Richtung fern liegen. Nur meine beſcheidenen Zweifel möchte ich äußern, ob wirklich vollgültige Beweiſe für dieſe Des— cendenz in der von Kuntze behaupteten Art und Weiſe erbracht werden können. Ehe dies aber der Fall iſt, erſcheinen ſo gewagte, mit den bisherigen Erfahrungen der geologiſchen und paläontologiſchen Forſch— ungen in geradem Widerſpruche ſtehende Annahmen, wie die des ſalzfreien Urmeeres, zum Mindeſten als überflüſſig. Doch es ſei geſtattet, poſitive Einwend— ungen gegen Kuntze's Ausführungen zu machen, indem wir denſelben Schritt für Schritt folgen. Zunächſt haben wir die Natur größerer Kohlenablagerungen zu er— örtern. Kuntze behauptet, der Typus der Kohlenpflanzen ſei ſchwimmend, die Reſte der Sigillarien und Lepidodendren entbehrten der Wurzel und die bis nun als ſolche betrachteten Stigmarien ſeien Schwimm— organe, weil ſie Blätter trugen. Ganz richtig bemerkt hiergegen die Redaktion, daß dicht beblätterte Rhizome in lockerer Wald— Hörnes, Das jalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. erde vorkommen und wohl auch für die Sumpfvegetation der Kohlenperiode ange— nommen werden können. Es läßt ſich noch die Frage beifügen, wie es denn mit der Annahme ſchwimmender Rhizome überein— ſtimme, daß man die Stigmarien in den Kohlenlagern zumeiſt in den tauben, ſan— digen und mergeligen Zwiſchenmitteln findet; — eine Thatſache, auf welche wir ſpäter noch ausführlicher zurückkommen müſſen. Kuntze führt ferner die große Aus— dehnung der Kohlenfelder als Argument gegen deren terreſtren Charakter an. Ich möchte hierzu bemerken, daß erſtlich der Ausdruck „Kohlenfeld“ nicht in dem Sinne zu ver— ſtehen iſt, als ob continuirliche Kohlenſchichten durch die ganze Region fortliefen; im Gegen— theil find weder die Schichten der Kohlen— formation, noch in dieſen die einzelnen Kohlen— flüge continuirlich über jene Tauſende von Quadratmeilen ausgebreitet, von denen man ſo oft ſpricht, wenn von dem Kohlenreich— thum Nordamerikas und Chinas die Rede iſt; zweitens giebt es ſehr große Landſtrecken, in welchen die Kohlenformation nur durch den Bergkalk vertreten iſt, deſſen gleichzeitige Bildung als marines Aequivalent der pro— duktiven und terreſtren Kohlenformation nun— mehr über allen Zweifel erhaben iſt. Neben der großen Ausdehnung der Kohlenfelder betont Kuntze das häufige Wechſellagern der Kohlenflötze und Sedi— mentſchichten, welche marine Thierreſte führen. Dieſes oft ſehr häufige Wechſellagern (76 mal in den Kohlenlagern von Nova Scotia), ſowie die weite Ausdehnung wäre nur dann erklärlich, wenn die Kohlenflora auf dem Meere wald- und wieſenartig ſchwamm. Man hätte zwei Hypotheſen aufgeſtellt, die beide verwerflich wären. Die erſte dieſer Hypotheſen, welche das Zuſammenflößen von Waldbäumen als Urſache der Kohlenbild— 431 ung hinſtellt, erörtert Kuntze nicht näher, und mit Recht, da ſie kaum zur Erklärung weit ausgedehnter, oft mit tauben Zwiſchen— ſchichten wechſellagernder Kohlenflötze dienen kann. Doch ſind manche Kohlenvorkommen, wie jene von Böhmen, von einer Beſchaffen— heit, die das Zuſammenſchwemmen von Pflanzen in größerer Maſſe vorausſetzt. Es entſtehen dann mächtige Flötze, die nicht in großer Zahl auftreten und auch nicht ſehr weit zu verfolgen ſind. Gegen die zweite Hypotheſe, welche eine Sumpfflora in Aeſtua— rien annimmt und die Wechſellagerung der Sedimente mit Meeresthier-Reſten und der Kohlenflötze durch Oscillationen der Erd— oberfläche erklärt, äußert Kuntze, daß ſich hierbei die Erde öfter (nicht weniger als 76 mal zur Bildung der Kohlenfelder von Nova Scotia) gehoben und geſenkt haben müſſe, wie ein Blaſebalg, und dies ohne auffallende Schichtenſtörung und unter Bild— ung paralleler Kohlenlager. Dieſe Hypo— theſe ſei eine Multiplication von Unwahr— ſcheinlichkeiten. — Wäre es nothwendig, zur Bildung je einer alternirenden Kohlenſchicht und marinen Zwiſchenlage eine Senkung und Hebung des Bodens anzunehmen, fo müßte man Kuntze Recht geben, allein dies iſt keineswegs der Fall, wenn auch ſo manche Lehrbücher (wie z. B. noch die neueſte Auflage von Credner's Elemen— ten der Geologie) die Sache nicht anders darzuſtellen wiſſen. Es iſt nur eine con— tinuirliche oder langſame Senkung des Bo— dens nöthig, wie ſie in den verſchiedenſten Perioden der Erdgeſchichte und an den ver— ſchiedenſten Punkten der Erde ſicher nach— gewieſen werden konnte. Darwin 's Theorie der Atollbildung und der Wallriffe beweiſt für die Südſee eine lange, außerordentlich langſame Bodenſenkung, welche den Korallen das Aufwärts-Fortbauen geſtattete, während 452 die Unterſuchungen von Richthofen und Mojſiſovies die gleiche Erſcheinung zur Erklärung der gewaltigen, ſtellenweiſe über 1000 Meter mächtigen Kalk- und Dolomit- riffe der Triasperiode in Südtyrol in An— ſpruch nehmen müſſen. Zur Erklärung der Bildung paraliſcher) Kohlenfelder benöthi— gen wir nur die Annahme einer ſolchen langſamen Senkung, durch welche flache, mit reichem Pflanzenwuchs bedeckte Küſten— ſtriche unter den Spiegel des Meeres ge— langen. Der Pflanzenwuchs wird dann ab— ſterben und über dem während der Vege— tationsperiode abgelagerten Haufwerk abge- ſtorbener Pflanzentheile, welche ſich durch allmälige chemiſche Veränderung in Kohle umſetzen, kömmt eine Schicht von Schlamm und Sand zum Abſatz, theils durch die Flüſſe vom Feſtland, theils durch Ström— ung, Fluth und conſtante Windrichtung von Seite des Meeres herbeigeführt. So ent- ſtehen die tauben Zwiſchenſchichten der Flötze, welche ſowohl Thierreſte des Meeres als des Feſtlandes enthalten. Durch dieſe An— ſchüttung aber kann, zumal wenn wir uns die Senkung ſehr langſam, die Sediment— bildung durch ausſtrömende Flüſſe aber ſtark vorſtellen, der Boden ſo weit erhöht wer— ) Als „paraliſch“ bezeichnet Naumann jene Ablagerungen der produktiven Kohlen— formation, welche eine größere Zahl einzelner Flötze von geringerer Mächtigkeit beſitzen. Es ſcheint in dieſen Fällen, wie oben erwähnt, das Meer durch wiederholte Ueberfluthungen die Vegetation oftmals unterbrochen zu haben, während bei den Ablagerungen im Innern der Binnenländer dieſer Proceß weniger ge— ſtört war, und daher weniger zahlreiche, aber mächtigere Flötze gebildet wurden. Die Ge— ſammtmaſſe der Kohle in dieſen letzteren, von Naumann als „lymniſch“ bezeichneten Ab— lagerungen iſt jedoch im Allgemeinen ſtets ge— ringer als jene der paraliſch entwickelten Kohlenfelder.. Hörnes, Das jalzfreie Urmeer und jeine Conſequenzen für den Darwinismus. den, daß er einer neuen Vegetationsdecke Platz zu gewähren vermag. Während die— ſelbe ſich ausbreitet, lagert der Fluß ſein Sediment vor dem gebildeten Delta im tieferen Waſſer ab, die Senkung aber dauert fort, und es wiederholt ſich der oben ge— ſchilderte Vorgang. Dies Wechſelſpiel von Verſandung und Uebergreifen des Meeres allein kann zur Erklärung der überaus zahl— reichen Wechſellagerungen von Kohle und taubem, aus Sandſtein und Mergelſchiefer beſtehendem Geſtein angewendet werden. Die Wechſellagerung aber findet in man— chen Kohlenfeldern noch häufiger ſtatt als in jenen von Nova Scotia. Ich erinnere in dieſer Hinſicht an das Saarbrücker Revier, in welchem nach Dechen im Weſt— feld die Geſammtmächtigkeit der Schichten der produktiven Steinkohlenformation 4800 Meter und im Oſtfeld 5200 Meter beträgt, wobei in der oberen, kohlenärmeren Abtheil— ung dieſer Schichten, die bis 2000 Meter mächtig iſt, auch ſchon einige bauwürdige Flötze vorkommen, während in der unteren im Weſtfelde 200 Flötze, zuſammen mit einer Kohlenmächtigkeit von 108 Metern, und im Oſtfelde 233 Flötze mit 127 Meter Kohle eingelagert ſind. In dem theils in Mähren, theils in Oeſterreichiſch Schleſien gelegenen Oſtrauer Revier ſind nach Ritt— ler nicht weniger als 370 einzelne Flötze vorhanden, von welchen 117 mit einer Kohlen— mächtigkeit von zuſammen 109 Meter bau— würdig ſind. Andere Beiſpiele anzuführen mag überflüſſig erſcheinen; ſolche wiederholte, äußerſt regelmäßige Wechſellager aber können unmöglich durch partielles Unterſinken ſchwim— mender Raſen entſtehen, wie ſie Kuntze annimmt. Die aufrechte Stellung, die fo häufig bei den Stämmen der Kohlenpflanzen in paraliſchen Bildungen beobachtet wird, läßt ſich zwar zur Noth auch dann erklären, Hörnes, Das jalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen für den Darwinismus. wenn man mit Kuntze ein ſenkrechtes Un— terſinken derſelben annimmt; allein die merk— würdige Regelmäßigkeit, mit welcher die Stigmarien in den tauben Mergelſchiefern ſtecken, während die zugehörigen Stämme in die darüber lagernde Kohlenſchicht hinein und theilweiſe noch darüber hinausragen, widerſpricht den Kuntze'ſchen Anſchauungen vollſtändig. Die Rhizome ſtecken thatſäch— lich in dem einſtigen Schlammboden oder breiten ſich an ſeiner Oberfläche aus. Auch die Eiſenſteinvorkommen, welche die einzel— nen Kohlenflötze ebenſo regelmäßig begleiten, als die flötzleeren Sandſteine und die Mergel— ſchiefer, ſtimmen zwar vortrefflich mit der ſonſtigen Analogie der Kohlenbildung und der Sumpf- und Moorvegetation, indem ſie deren Raſeneiſenſtein-Bildung im Großen wiederholen; ganz unerklärlich aber werden dieſe Eiſenerze (das ſogenannte Black-band der engliſchen Bergleute) bei der Annahme der Kuntze'ſchen Kohlenbildungshypotheſe. Wir ſehen alſo, daß die Art und Weiſe der Kohlenflötzbildung keineswegs mit den Kuntze'ſchen Ausführungen übereinſtimmt, aber auch noch zahlreiche andere Thatſachen laſſen ſich gegen dieſelben vorbringen. Es wird behauptet, daß die Kohlen der Carbonformation deshalb nicht durch Land— vegetation hervorgebracht worden ſein könn— ten, weil die Kohlenbildung nicht ununter— brochen und gleichmäßig fortgedauert hat, daß von der Dyas bis Mitte Tertiär eine ungeheure zeitliche Unterbrechung der Kohlen— bildung ſtattgefunden hat. — Hiergegen muß bemerkt werden, daß gerade der terreſtre Charakter der kohlenbildenden Vegetation geeignet iſt, die localen Unterbrechungen zu erklären, daß jedoch im Allgemeinen die Kohlenbildung nicht unterbrochen wurde. In Enropa finden wir allerdings nur einige wenige Etagen der meſozoiſchen Formationen Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. 433 in terreſtrer Entwickelung, doch treten in dieſen ziemlich häufige und nicht gerade un— bedeutende Kohlenvorkommen auf. Ich er— innere an die Landpflanzen und Kohlenflötze des deutſchen Keupers, an die Liaskohlen von Greſten und Fünfkirchen, an die Kohlen der Goſanformation, und verweiſe auf die Verhältniſſe der vorderindiſchen Halbinſel, welche alle meſozoiſchen Formationen in terreſtrer Entwickelung aufweift. Als weitere Stütze für ſeine Hypotheſe führt Kuntze den Untergang der ſehr gut geſchützten Steinkohlenpflanzen an, von denen er annimmt, daß ſie ausgeſtorben ſeien, weil ſie nur im Meere wuchſen, weil das Meer ſalzig wurde und weil ſie wurzellos und zu groß waren, um auf das Land überſiedeln zu können. — Allein nicht aus dieſen Gründen ſind die rieſigen Pflanzen der Kohlenformation erloſchen, ſondern aus Urſache der allmäligen klimatiſchen Aender— ung, die ſie zum größten Theile nicht er— tragen konnten. Bemerkenswerth iſt auch das allmälige Erlöſchen der Kohlenpflanzen. Die Vegetation der Dyasperiode unter— ſcheidet fi) von der Carbonflora hauptſäch⸗ lich durch den Mangel der Lepidodendren und der Sigillarien, ſowie durch das Her- vortreten mehrerer Coniferen, allein der Geſammtcharakter der Flora bleibt derſelbe, und es iſt ſogar allenthalben ſchwierig, zwiſchen Kohlenformation und Dyas eine ſcharfe Grenze zu ziehen. Auch die Trias beherbergt noch ſehr zahlreiche Gruppen von Steinkohlenpflanzen, wenn auch andere jün- gere Typen bereits das Uebergewicht erlangt haben. Das allmälige Erlöſchen einzelner Pflanzengruppen und die entſprechende Ent- faltung anderer aber bildet wieder einen gewaltigen Stein des Anſtoßes für die Kuntze'ſche Hypotheſe, welche wohl auch jenen Zeitpunkt anzugeben hätte, der das ) 57 434 Hörnes, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. Salzigwerden des Meeres und damit das ſind, darf wohl auch für die mit vorkom— Ausſterben der Kohlenflora markirt. Es wird ferner den ſchwimmenden Kohlen— wäldern zu Liebe behauptet, daß ohne ſie den ſehr zahlreichen Meeresthieren der älte- ſten Formationen die Nahrung gemangelt hätte. Runge verſteigt ſich hierbei zu der gewagten Behauptung, daß die heutige Pe— riode viel weniger Meeres-Conchylien (der abſoluten Quantität nach) beſäße, als die früheren Epochen. Die gegenwärtigen Meere enthielten zu wenig Vegetation, daher be— herbergten ſie zwar zahlreiche Conchylien— formen, aber dieſe fänden ſich ſehr ſelten, während in den Meeren der früheren Epochen wegen der ausgedehnten Vegetation zwar wenig mannigfaltige aber ungemein zahlreiche Conchylien leben konnten. Es iſt dies eine ſo paradoxe Behauptung, wie jene von der Nichtexiſtenz des Sargaſſo-Meeres, welches nach Kuntze zufällige Zufammen- ſchwemmung abgeſtorbener Küſtentange ſein ſoll. Die abſolute Maſſe der Conchylien, welche in den jetzigen Meeren leben, läßt ſich kaum abſchätzen, noch weniger aber läßt ſich aus den in den Schichten der Erdrinde einge— betteten Schalen ein Schluß ziehen auf die Menge der Thiere, die zu irgend einer Zeit das Meer belebt haben. Was übrigens die Behauptung anlangt, es hätten die Meeres— thiere der älteſten Formationen keine vege— tabiliſche Nahrung gehabt, wenn man von den ſchwimmenden Wäldern der Kohlen— pflanzen abſieht, ſo ſei auf die ſchon in den älteſten Formationen zahlreich vorkommen— den Fucoidenreſte hingewieſen. Kuntze betont ferner den ausgeprägten Süßwaſſercha rakter aller älteren Fiſche, wo— bei er offenbar das häufige Vorkommen der Floſſenſtachel und Zähne von Haien und Rochen überſieht. Da dieſe aber Salz— waſſerbewohner im wahren Sinne des Wortes menden Ganoiden (die ſich übrigens in ſo manchen Details ihrer Organiſation von den ſpärlichen recenten Vertretern unterſchei— den) angenommen werden, daß ſie im ſal— zigen Waſſer leben konnten, wie dies ohne Zweifel für die Ganoiden der meſozoiſchen Formationen vorausgeſetzt werden muß, da aus anderen Gründen (Salzlagerſtätten) zur Evidenz erhellt, daß das Meer, welches ſie beherbergte, ſalzig war. Aehnlich verhält es ſich mit dem von Kuntze behaupteten räthſelhaften Fehlen einer carboniſchen Land— fauna, welche doch mit der bisher vermu— theten carboniſchen Landflora zuſammen vor— kommen müſſe. Eine ſolche carboniſche Land— fauna aus Reptilien und Amphibien iſt jedoch in neuerer Zeit nachgewieſen worden, und ich erinnere in dieſer Hinſicht nur an Baphetes, Dendrerpeton, Eoſaurus, Amphi⸗ bamus, Hylonomus. In den permiſchen Kohlenflötzen, welche nur ſchwierig von den echt-carboniſchen un— terſchieden werden können, finden ſich die allbekannten Reſte des Archäoſaurus, der doch ſchwerlich in ſchwimmenden Wäldern gehauſt haben mag, ſo wenig als ſeine rieſigen Verwandten, die Labyrinthodonten der unteren Trias, deren Fußſpuren im Chirotherienſandſtein uns deutlich genug ſagen, daß ſie Landthiere waren. Als ein weiteres Argument für das ſalzfreie Urmeer führt Kuntze den Unter— gang oder das Seltenwerden zahlloſer ma— riner Thiergattungen, beziehungsweiſe ihre gegen ehemals veränderte Lebensweiſe, von niederſten Thieren z. B. Korallen, an. Kuntze meint, alle marinen Organismen der älteſten Formationen hätten in ſalzfreiem Waſſer gelebt, und ein Theil wäre dann bei der allmäligen Einführung des Salzes zu Grunde gegangen, ein anderer hätte ſich den geänderten Lebensbedingungen anbequemt. — Wunderbar im höchſten Grade wäre dieſer Vorgang, denn die meiſten Gruppen der marinen Thierwelt ſind heute ausſchließlich auf das ſalzige Seewaſſer beſchränkt. Warum, frage ich mit der Redaktion, iſt keine einzige Koralle, keine einzige kalkſchalige Foramini— fere, kein einziger Cephalopode, kein einziger Brachiopode, kein einziges Echinoderm bei dem Salzigwerden des Meerwaſſers in die Flußmündungen hinauf geſtiegen? Bei den übrigen Thieren maͤg das ihrer geringen Beweglichkeit zugeſchrieben werden, bei ſo vortrefflichen Schwimmern, wie den Cepha— lopoden, erſcheint es höchſt wunderbar, daß fie ſich nicht auf dieſe Weiſe vor dem Ein- geſalzenwerden gerettet haben. Von allen oben angeführten Gruppen wiſſen wir, daß ſie nicht im Stande ſind, eine auch nur ſchwache Ausſüßung des Waſſers zu ertragen, ſie fehlen allen Ablagerungen, die brakiſchen Charakter beſitzen, vollſtändig; um fo wunder- barer wäre es, wenn fie von Süßdwaſſer— thieren abſtammen ſollten. Kuntze erklärt das Urmeer für ſalz— frei, während das Salz des heutigen Meeres Hörnes, Das ſalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen für den Darwinismus. 435 nehmen dürfen für die geſammten übrigen Formationen oder Epochen bis zur Gegen- wart. Den beſten Maßſtab für die geo- logiſche Zeit liefern uns noch immer die Veränderungen und Entwickelungen der or— ganiſchen Welt. Ueberblicken wir die Ent— wickelung derſelben zur Silurzeit, ſo müſſen wir zugeben, daß ganz ungeheure, unſeren Begriffen unmeßbar erſcheinende Zeiträume hierzu nöthig waren. Es kann alſo das Salz des Meeres nicht erſt in der kürze— ren Epoche ſeit der Carbonformation durch Verwitterung der alten Maſſengeſteine ge- bildet worden ſein, da die gleichen Vorgänge ſchon lange vorher begonnen haben werden. Ueberdies erſcheint es unzuläſſig, anzuneh- nehmen, daß das zuerſt gebildete tropfbar flüſſige Waſſer chemiſch rein geweſen ſei, allmälig durch die Verwitterung der Ur⸗ geſteine gebildet und durch die Flüſſe ins Meer geführt worden ſei. Wollte man nun ſchon die unzuläſſige Vorausſetzung acceptiren, daß das Salz des Meeres lediglich aus der Zerſetzung der Natronſilicate der alten Maſſen⸗ geſteine herrühre, ſo müßte man doch be— haupten, daß der Salzgehalt des Meeres zur Carbonzeit ſich nicht mehr weſentlich von jenem des gegenwärtigen Meeres habe unterſcheiden können, denn es iſt unſtreitig zwiſchen dem Moment, da zuerſt tropfbar flüſſiges Waſſer auf der Oberfläche unſeres Planeten aufgetreten war, und dem Beginn der Kohlenformation, eine unverhältnißmäßig längere Zeit verfloſſen, als wir ſie an- — im Gegentheil müſſen wir vorausſetzen, daß daſſelbe im Anfange mit Salzen über— laden war. Zur Unterſtützung ſeiner Annahme eines ſalzfreien Urmeeres wird ferner von Kuntze noch das Fehlen der Salzlager in präcar- boniſchen Geſteinen, namentlich in den Ab- lagerungen der laurentiſchen, huroniſchen und ſiluriſchen Periode betont. Kuntze iſt der Anſicht, daß manche ſcheinbar älteren Salzlager durch Infiltration von Salzwaſſer entſtanden ſeien und die devoniſchen und car⸗ boniſchen Salzlagerſtätten in dieſer Richt— ung noch zu prüfen wären, übrigens ſeien ſie ſelten. Hiergegen muß bemerkt werden, daß Salzlager in älteren Formationen des⸗ halb ſelten find, weil keine Bildung jo ſehr der Zerſtörung zugänglich iſt als dieſe. Ein Blick auf die ausgelaugten Salzgebirge der alpinen Salzlagerſtätten der Triasforma⸗ tion zeigt dies deutlich genug. Wie viele Salzlager giebt es überhaupt, die nicht mehr oder minder der Zerſtörung anheimgefallen find und nicht wenigſtens die leichter lös⸗ 436 Hörnes, Das ſalzfreie Urmeer und feine Conſequenzen für den Darwinismus. lichen ſogenannten Abraumſalze eingebüßt haben! In den Ablagerungen der älte— ren Formationen, welche durch unendlich längere Zeit dem zerſtörenden Einfluß des Circulations-Waſſers ausgeſetzt waren, ſind eben die meiſten Salzlagerſtätten längſt weggeführt worden, ſie waren ebenſo vor— handen wie jene, welche wir heute noch in den Schichtreihen der jüngeren Formationen antreffen. Daß dies der Fall war, lehren die wenigen Ueberreſte, welche wir keines— wegs als ſpätere Infiltrationsgebilde auf— faſſen dürfen, ſondern als Spuren einſtiger ausgebreiteter Salzlagerſtätten zu betrachten haben. Es hätte übrigens Kuntze gerade die Salzlagerſtätten nicht als Beleg ſeiner eigenthümlichen Anſichten heranziehen ſollen, denn es iſt ſicher, daß ſchon für das Trias— Meer ein großer Salzreichthum angenom— men werden muß, der ſich deutlich in den zahlreichen und großartigen Salzlagerſtätten Nord- und Süddeutſchlands, der Alpen ꝛc. ausſpricht. Wenn nun nach Kuntze das Salz der heutigen Meere durch Auslaug— ung der alten Maſſengeſteine entſtanden ſein ſoll, ſo erſcheint es doch als ungereimt, anzunehmen, daß in der langen Zeit vor der Kohlenperiode keine derartige Auslaug— ung ſtattgefunden hätte, während die kurze Zeit zwiſchen Carbon und Trias hinreichend geweſen wäre, dem Meere ganz enorme Quantitäten von neugebildetem Chlornatrium zuzuführen! Bei der Menge des Salzes im Meer und bei der Quantität, welche in den Schichtreihen aller Formationen be— graben liegt, läßt ſich übrigens auch be— haupten, daß die Natron-Silicate der Maſſengeſteine, welche zerſtört wurden, nicht hinreichen, um den ganzen Beſtand an Chlornatrium herzuſtellen, den wir auf und in der Erdrinde wahrnehmen. Es wurde übrigens ſchon oben bemerkt, daß es un— möglich erſcheint anzunehmen, daß das bei der allmäligen Abkühlung der Erde zur Bildung gelangte tropfbar flüſſige Waſſer im Moment ſeines Entſtehens chemiſch rein geweſen ſei. 8 Es ſei, nachdem ich es verſucht habe, die Haupt-Argumente Kuntze's (mit Aus- nahme der erſt von ſeiner Seite zu be— weiſenden Descendenzverhältniſſe des Pflan— zenreiches) zu widerlegen, noch geſtattet, auf die ziemlich umfaſſenden Kenntniſſe hinzu⸗ weiſen, welche die Geologie heute von den Verhältniſſen beſitzt, welche zur Carbonzeit herrſchten. In den Ablagerungen aller Formationen können wir die Einflüſſe cho— rologiſcher Verhältniſſe mehr oder minder deutlich nachweiſen. Als erſte Kategorie der chorologiſchen Bildungen haben wir jene nach dem Bildungsmedium zu bezeichnen, und ſchon in ſehr alten Formationen ſind wir in der Lage, gleichzeitige heteromeſiſche Bildungen in ihrer Weſenheit zu erkennen. Die amerikaniſchen Geologen haben z. B. gezeigt, daß die Devonformation, welche in Europa uns hauptſächlich in mariner Ent— wickelung entgegentritt, in einem Theile von Nordamerika (Canada) durch terreſtre Bild- ungen vertreten iſt, welche eine der carbo— niſchen in ihren Hauptzügen ähnliche Flora; enthalten. Als hinlänglich bekannt darf ich vorausſetzen, daß man in den Ablagerungen der Triasformation die chorologiſchen Be— ziehungen außerordentlich ſcharf zu erkennen vermag und außer den Unterſcheidungen zwiſchen terreſtren und marinen Bildungen auch noch ſolche nach alten zoogeographiſchen Provinzen und endlich nach den localen phyſikaliſchen Verhältniſſen (Facies im engern Sinne) vorzunehmen im Stande iſt. Iſt die Geologie im Stande, für die Trias— formation zoogeographiſche Provinzen auf— — — zuftellen, Seichtwaſſer- und Tiefſeebildungen, Ablagerungen aus freiem, offenem Meer und aus Binnengewäſſern zu unterſcheiden, ſo kann ſie doch unmöglich hinſichtlich der Kohlenformation ſich ganz im Unklaren befinden. In der That weiß man auch hier ähnliche Unterſchiede zu machen. Man kennt gewiſſe Diſtrikte, in welchen die Ablagerungen der Kohlenformation als reine Feſtlandsbildungen entwickelt ſind. Ein ausgezeichnetes Beiſpiel hierfür bieten die Kohlenablagerungen Böhmens dar. In an— deren Gegenden beobachtet man ein wechſel— ſeitiges Ineinandergreifen der Kohlenabſätze des Feſtlandes und der marinen Sedimente. Die Kohlenlager Englands, jene der Rhein— lande, jene von Mähren und Schleſien und jene von Nova Scotia geben hierfür Bei— ſpiele. Schichtweiſe wechſeln Land- und Meeresablagerungen, nie kömmt ein wirres Durcheinander von Pflanzenreſten und ma— rinen Conchylien vor, wie es doch der Fall ſein müßte, wenn die erſteren von ſchwim— menden Pflanzen herrühren würden, die nach dem Abſterben auf den Grund des Meeres ſanken. Endlich aber kennt man rein marine Sedimente in verſchiedenen Fa— cies: Korallenkalk, Brachiopodenkalk und Crinoidenkalk — zumeiſt mit dem Sammel⸗ namen Bergkalk belegt, und Schiefer mit den charakteriſtiſchen, echt marinen Thier— arten. Die Frage, wie es denn komme, daß große Landſtrecken (Rußland z. B.) zwar Maſſen von Bergkalk und carboniſchen Schie— fern, aber keine produktive Steinkohlenfor— mation beſitzen, findet leicht ihre Beantwort- ung, wenn man beide als die heteromeſiſche Vertretung der Carbonformation betrachtet. Schwieriger möchte ihre Löſung bei der An— nahme des ſalzfreien Urmeeres und der ſchwimmenden Kohlenvegetation werden, es Hörnes, Das ſalzfreie Urmeer und ſeine Conſequenzen für den Darwinismus. 437 — me > + —ẽũ — ließe ſich wenigſtens nicht leicht ein Grund dafür angeben, warum große Theile des Carbonmeeres für die Ausbreitung des ſchwimmenden Waldes unzugänglich waren. Auf das Deutlichſte ſieht man in den Alpen die gegenſeitige Vertretung der pro— duktiven Steinkohle und des mit den car— boniſchen Schiefern (Gailthaler Schiefern) vergeſellſchafteten Bergkalkes. In kleinen Flötzchen findet ſich die produktive Stein— kohle auf den alten Geſteinen der ſogenann— ten kryſtalliniſchen Axe der Alpen, welche ſich damals ebenſo gut wie das böhmiſche Maſſiv über den Meeresſpiegel erhoben. Doch gewährte die ſchmale, wahrſcheinlich in mehrere Inſeln aufgelöſte Centralzone dem Pflanzenwuchs viel weniger Oberfläche, als das ausgebreitete böhmiſche Feſtland. Dem entſpricht auch die Ausdehnung und Mächtigkeit der Kohlenflötze, die in den Alpen nicht abbauwürdig find. Viel aus⸗ gedehnter tritt uns in den Alpen die ma— rine Entwickelung entgegen, was vollſtändig dem in allen übrigen alpinen Formationen auftretenden Vorherrſchen der Meeresbild— ungen entſpricht. Die zeitliche Identität des Bergkalkes und der Kohlenpflanzen läßt ſich in den Südalpen gerade ſo erweiſen, wie in den mähriſch-ſchleſiſchen Kohlenfeldern. Der Gailthaler Schiefer wechſellagert einer— ſeits mit dem Bergkalk und führt auch deſſen Verſteinerungen, andererſeits enthält er (ob⸗ gleich ſelten) Einlagerungen mit den charak— teriſtiſchen Pflanzen der Carbonformation. Die heute zur unumſtößlichen Gewiß— heit gewordene zeitliche Identität des Berg— kalkes und der produktiven Kohlenformation zeigt für fi allein ſchon die Unzuläſſigkeit der Kuntze'ſchen Annahme eines ſalzfreien Urmeeres und einer darauf ſchwimmenden Kohlenvegetation. Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. Von Dr. Adolf Rederer, k. k. öfter. Fregattenarzt. n einen vom äußeren Licht ab- f geſchloſſenen Raume laſſe man Y 5 A durch ein mit der brechenden N 93 Kante ſenkrecht ſtehendes Flint— \ glasprisma das Spektrum einer Kerzenflamme ins Auge werfen und beſehe ſich das Spektrum aufmerkſam, indem man | es durch leichte Augenbewegungen auf ver— ſchiedene Stellen der Netzhaut fallen läßt. Nun nehme man ein etwa mit einem Nadel— ſtich durchbohrtes Kartenblatt und bedecke damit das eine Auge, während man das andere Auge ſchließt. Betrachtet man jetzt durch die kleine Oeffnung des Kartenblattes unſer Spektrum ſo, daß man ruhig darauf— hin viſirt, ſo bemerkt man folgende Veränder— ungen daran: Das Roth des Spektrums hat an Helligkeit und an Breite etwas ab— genommen, dafür iſt ſeine Farbenſättigung merklich größer geworden; die Gegend des Gelb, welche früher als ein hellerer Kern des ganzen Bildes ſich bemerkbar machte, iſt unſcheinbar geworden, und man ſtößt, faſt angrenzend an das Roth, auf grünliche Farbentöne, dann ſieht man das Spektrum mit einem bläulich-grünen Streifen abſchließen. Der ganze Streifen Blau und der früher durch ſeine Breite und Farbenſchönheit noch auffälligere violette Streifen iſt verſchwun— den, ſo lange wir unverrückt auf die be— treffende Stelle hin viſiren und unſere Viſirlinie mit der Sehaxe zuſammenfällt. Man kann dieſe ſcheinbar verſchwundenen Spektraltheile — beſonders deutlich das Violett — wieder zu Geſicht bekommen, wenn man (langſam das Auge drehend) neben das Spektrum hin viſirt, wenn alſo ſeitlichere Netzhauttheile vom Bilde getroffen werden. Sehr deutlich wird der Unter— ſchied, wenn man das Prisma verſchiebt, bis ſeine brechende Kante ungefähr mit dem blaugrünen Spektrumſtreifen zuſammenfällt, wodurch eben nur der kürzerwellige Spektral— theil entworfen wird. Wenn man jetzt durch die kleine Kartenblattöffnung die Stelle direkt anſieht, wo das Blau und Voolett ſein ſollte, ſieht man nichts davon; ſowie man aber das Auge langſam dreht, jet es nach außen oder innen, nach oben oder unten, ſieht man deutlich einen ſchön violetten Farbenſtreifen aufleuchten, der ſo lange ftehen bleibt, als man ſeitlich viſirt; ſobald man ihn aber in die Linie des direkten Sehens bringt, wird er unſcheinbar und verſchwindet. Wenn man eine Scheibe violett gefärb— ten Glaſes zur Hand nimmt, von ſolcher Dicke und Farbenſättigung, daß dadurch in ſternheller Nacht das Licht von einem Stern erſter Größe bis hart über die Schwelle der Wahrnehmbarkeit abgeſchwächt wird, kann man Folgendes beobachten: So lange | man den Stern im direkten Sehen durch das Glas fixirt (mit einem Auge, während das andere Auge geſchloſſen iſt), ſieht man ihn als einen blaßgelblichen, undeutlich ver— ſchwimmenden, glanzloſen Punkt durch das farbige Glas ſcheinen; wendet man nun das Auge um wenige Grade von ihm ab, ſei es nach innen oder außen, nach oben oder unten, ſo bemerkt man, daß der Stern auffallend heller, glänzender und mit merk— lich violetter Färbung unſer Auge trifft. Bringt man den Stern durch Drehung des Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. 439 durchſcheinen — bis zum Verſchwinden eines jeden Eindrucks. Daß bei dieſen einfachen Sternverſuchen ſchwache Lichtquellen der Wahrnehmung des Unterſchiedes günſtiger ſind, beruht auf dem pſychophyſiſchen Geſetz, wonach bei ſchwachen Reizen gleich große Unterſchiede uns viel deutlicher bewußt werden, als bei ſtärkeren Reizen. Wenn man hiervon abſehend, die Thatſachen ins Auge faßt, welche die be— ſchriebenen Verſuche uns vorführen, muß man ſagen, daß ſie nur eine Deutung zu— laſſen: Unſere Netzhaut iſt in der Gegend des gelben Fleckes für langwellige Strahlen empfindlicher und für kurzwellige Strahlen unempfindlicher, — an den Seitentheilen hingegen verhält ſich ihre Empfindlichkeit für Farben umgekehrt. Daß unſere Netzhaut in ihren mittleren Partien für Roth empfindlicher iſt, als an den Stellen, die mehr gegen die ora ser- rata hin liegen, iſt ſchon durch viele Ver— Auges wieder in die Linie des direkten Sehens, ſo erſcheint er uns wieder gelblich, glanzlos und lichtarm wie zuvor, viſirt man wieder neben den Stern hin, iſt er aber— mals heller, glänzender und deutlich violett. Nimmt man ein gelblichgrünes Glas zur Hand, fo kann man Aehnliches wahr nehmen: Wenn das Sternlicht ſeitliche Netzhauttheile trifft, macht es einen ſtärkeren und zugleich etwas mehr ſpecifiſch mono- chromatiſchen, in der Gegend des gelben Fleckes einen ſchwächeren Eindruck von ge— miſchtem längerwelligen Licht. Mit rothen oder gelben Glasſorten macht man die Wahrnehmung in um— gekehrtem Sinne. Bei dieſen Glasfarben ſehen wir den Stern beim direkten Sehen heller, glänzender, mehr röthlich, beim ſeitlichen Viſiren matt mit gemiſchtem Licht holtz “*) ſuche von Purkinje, von Schelske, von Helmholtz, von Aubert und An— deren feſtgeſtellt und hervorgehoben; weni— ger deutlich hervorgehoben findet ſich im Allgemeinen der Umſtand, daß wir für kurzwellige Strahlen in der Netzhautmitte weniger empfindlich ſind, doch finden ſich auch hierüber Wahrnehmungen von genü— gend anerkannten Autoritäten, welche eine gleiche Deutung fordern. Hierher gehört unter anderen eine Wahrnehmung Eſſel— bach's ) über ſichtbar gemachte ultraviolette Strahlen, dann eine Aeußerung von Helm— über die ſcheinbar verſchiedene Färbung gemiſchten Lichtes an verſchiedenen Stellen des Geſichtsfeldes, insbeſondere den differenten Eindruck auf verſchiedene Netz— ) Fechner, Elemente der Pſychophyſik, II. S. 269. ) Ebendaſelbſt S. 277. ER F hautſtellen. Stäbchen-Zapfen-Schicht an der Stelle des blinden Flecks in unſerer Netzhaut hat man zuerſt geſchloſſen, daß Ferner muß ich noch eines Umſtandes erwähnen: Aus dem Fehlen der eben dieſe Schicht den Angriffspunkt gebe für die Erregung von objektivem Licht. Später hat Heinrich Müller durch Rechnung (der Bewegung von Gefäßſchattenbildern) beſtä— tigt, daß nur in der Ebene der Stäbchen— Zapfen⸗Schicht unſerer Netzhaut Lichtempfind⸗ ung ſtattfindet. Nun wird in allen mir bisher zu Geſicht gekommenen einſchlägigen Schriften conſtant wiederholt, daß es wahrſcheinlich nur die Netzhautzapfen ſeien, welche wir als lichtempfindend zu betrachten haben. wird ebenſo conſtant die empiriſch erwieſene Stelle des deutlichſten Sehens nur Zapfen haben.“) Mit dem gelben Fleck ſehen wir aller dings am deutlichſten; da wir aber hier nur für gewiſſe Farben empfindlicher, für andere Farben unempfindlicher ſind, müſſen wir vor Allem die Frage uns vorlegen, ob nicht die Beſchaffenheit der gebräuchlichſten objektiven Lichtſorten daran ſchuld iſt, daß wir am gelben Fleck empfindlicher dafür ſind; wir müſſen uns ferner ſagen, daß die dioptriſchen Verhältniſſe in zweifacher Hinſicht für den gelben Fleck und im All— gemeinen für die centralen Netzhauttheile günſtiger ſind, und wenn wir dieſe Argu— ) Heinrich Müller und Kölliker haben urſprünglich auch die Stäbchen der homogenen Farben des Spektrums als ob— Netzhaut für lichtempfindend gehalten, E. H. Weber iſt dieſer Annahme entgegen getreten, geſtützt auf die Thatſache, daß wir an den mittleren Theilen der Netzhaut beſſer ſehen; dieſe Anſicht Weber's iſt von Helmholtz (Handbuch der phyſiologiſchen Optik S. 214) | Als Grund für dieſe Annahme wie in geringem Grade Magneſiumlicht, Thatſache geltend gemacht, daß wir an der — . — Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. mente berückſichtigt haben werden, dürfte kaum ein Grund übrig bleiben, die einzelnen Netzhautelemente, Zapfen und Stäbchen, qualitativ ſo ganz verſchieden zu ſchätzen. Was die Lichtſorten anlangt, welche wir ſehen, ſo hat mein verehrter Lehrer Brücke nachgewieſen, daß im vermeintlich neutral— weißen Tageslicht Roth überwiegend iſt. Außerdem iſt unter Brücke's Auſpicien von Dr. Memorsky nachgewieſen, daß Licht von Kienſpahn, Talg, Oel, Gas, Petroleum und Stearinkerzen vorzugsweiſe langwellige Farben (Gelborange) hat.“) Denken wir uns nun, es wären unſere gebräuchlichſten Lichtquellen — anſtatt über— wiegend langwellig — überwiegend kurz— wellig, ſpeciell z. B. vorzugsweiſe Violett, und denken wir uns dabei die ſtellenweiſe Empfindlichkeit für einzelne Farben in un- ſerer Netzhaut unverändert, ſo würde in unſeren phyſiologiſchen Lehrbüchern der em— piriſch ebenſo gegründete Satz lauten: An den Seitentheilen iſt unſere Netzhaut für das vorhandene Licht empfindlicher, und weil hier die Stäbchen überwiegen, müſſen wir annehmen, daß die Stäbchen die alleini— gen Organe der Lichtempfindung ſind. Beide Formulirungen ſchließen, wie man leicht ſieht, einen fundamentalen Fehler ein, indem ſie platterdings Empfindlichkeit für Licht mit Empfindlichkeit für Farbe identi— ficiren, alſo zwei Dinge zuſammen werfen, die ſtreng zu ſondern ſind. Nach dem heutigen Stande unſeres Wiſſens müſſen wir die monochromatiſchen jektive Einheiten betrachten, deren Wirkung ) Brücke, Vorleſungen über Phyſio— logie, Bd. II, S. 136, und Sitzungsber der kaiſ. Akad. d. W. mathem.⸗-nat. Cl., Bd. LI, adoptirt worden und wird jetzt allgemein gelehrt. b Abth. II, S. 461. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. auf unſere Netzhautelemente wir gefondert zu betrachten haben; nicht nur hat die Phyſik die quantitativen Verſchiedenheiten in den objektiven Vorgängen bei Hervor— bringung einer Farbe nachgewieſen und uns ſo gezwungen, das gefärbte Licht vom an— ders gefärbten wiſſenſchaftlich ſtreng zu un— terſcheiden, ſondern auch die Vorgänge in unſeren lichtempfindenden Organen werden nach Helmholtz (mit der bekannten Houng— Helmholtz'ſchen Hypotheſe) ſo angeſehen, daß wir verſchiedene Organe für verſchieden— farbiges Licht haben müſſen. Bekanntlich wird nach dieſer Hypotheſe angenommen, wir müß— ten diſtinkte Organe haben für die Empfind- ung von Roth, von Grün und von Violett. Nun ſagt uns unmittelbar die Erfahr⸗ ung, daß wir in der Netzhautmitte am empfindlichſten ſind für Roth, und weil hier theils ausſchließlich, theils überwiegend Zapfen vorherrſchen, müſſen wir annehmen, daß den Zapfen die Empfindung von Roth zukömmt. Weiter ſagt uns die Erfahrung, daß wir für Violett empfindlicher ſind an den Seitentheilen der Netzhaut, wo über— wiegend und ſtellenweiſe ausſchließlich Stäb- | chen die betreffende Schicht ausfüllen, wor- | aus wir folgerichtig ſchließen können, daß die Netzhautſtäbchen die Empfindung von Violett vermitteln. Endlich ſagt uns die Erfahrung, daß gelblich Grün bezüglich der topographiſchen Empfindlichkeit unſerer Netz— haut wie Violett ſich verhält, während Blaugrün dem Roth näher kommt. Erfahrung den Stäbchen Gelbgrün und Violett zuſprechen, und können theils auf unmittelbares Erfahren geſtützt, theils per analogiam die Annahme für die Zapfen dahin erweitern, daß ſie neben dem Roth auch noch Blaugrün in uns zur Empfind— ung bringen. Wir können daher unmittelbar an der Hand der 441 9 Wenn wir demgemäß zu der Annahme kommen, daß eigentlich vier verſchiedene Grundempfindungen in uns erregt werden: Roth und Blaugrün durch die Zapfen, Gelbgrün und Violett durch die Stäbchen, ſo involvirt dieſe Annahme ſcheinbar eine Abweichung von der Poung-Helmholtz'- ſchen Farbentheorie, und bei dem hohen An— ſehen, welches dieſe Theorie wegen ihrer vielſeitigen empiriſchen Erprobung und ihrer theoretiſchen ungezwungenen Anwendbarkeit genießt, wird es mir erlaubt fein, die Ab- weichung in dem beſcheiden geringen Maße darzuſtellen, welches ihr — principiell — thatſächlich zukömmt. Das ſpektrale Grün, welches nach der Houng-Helmholtz'ſchen Farbentheorie mit einer unſerer drei Grundempfindungen dem Farbentone nach zuſammenfällt, liegt ſo nahe zwiſchen den von uns ſupponirten zwei Grundempfindungen unſerer Zapfen und Stäbchen, Gelbgrün und Blaugrün eingeſchloſſen, daß die Vorſtellung nahe ge— legt iſt, es werde das ſpektrale Grün jeder— zeit conſtant beide Faſerarten in jo aus⸗ giebiger und der phyſiologiſchen Intenſität nach gegenſeitig beſtimmt proportionaler Weiſe erregen, daß dadurch eine Miſch— empfindung entſteht, welche der Qualität nach durch ihre Conſtanz, der Größe nach durch ihre Intenſitätsſumme gegen Farben— töne überwiegt, welche mit einer der beiden Grundempfindungen ganz oder doch nahe zuſammenfallen. Wir können uns vorſtellen, daß ein gelblichgrüner Farbenton unſere Stäbchen z. B. etwas ſtärker relativ er- regen kann, als das ſpektrale Grün, dafür aber unſere Zapfen ſo ſchwach, daß dieſe Empfindung neben der ſtärkeren der Stäbchen entweder unter Umſtänden für unſer Be— wußtſein ganz verloren geht und dadurch den Nutzeffekt einer geringeren Empfindungsſum⸗ | mn Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. me bietet, oder aber nach Dispoſition und relativer Stärke dazu beiträgt, den Farbenton für unſere Empfindung leicht zu ändern. Dieſelbe Vorſtellung können wir uns machen für Farbentöne, die dem Blaugrün — der ſupponirten Grundempfindung der Zapfen — entſprechend oder naheliegend ſind. Ja, aus der reichen Fülle von feinen und ſorgfältigen Beobachtungen, mit welchen Helmholtz unſere Wiſſenſchaft beſchenkt hat, kann ich eine anziehen, welche dieſer Vorſtellung zu Hülfe kommt. Indem er einerſeits von der relativen Raſchheit und Mannigfaltigkeit der Uebergänge von Farben— tönen im Spektrum ſpricht, ſagt Helm— holtz*) von den Uebergängen zwiſchen Gelb und Grün und zwiſchen Blau und Grün: „Man erſtaunt über den außer- ordentlichen Reichthum prachtvoller Farben- töne, welchen diverſe Gegenden des Spek- trums entfalten, wenn man durch eine der beiden Spalten des von mir conſtruirten Schirmes einfaches Licht dieſer Theile gehen läßt und den Spalt dann langſam ver— ſchiebt.“ Daß alſo die Abweichung bezüg— lich der Grundfarben in unſerer Annahme von der Voung-Helmholtz'ſchen Far— bentheorie principiell von geringer Bedeut- ung iſt, wird wohl Jedermann gern zugeben; etwas anders verhält es ſich mit einer zwei— ten Abweichung, die in Folgendem beſprochen werden ſoll: ö Nach der Houng-Helmholtz'ſchen Farbentheorie werden dreierlei Faſern in Anſpruch genommen, welche in uns die dreierlei Grundempfindungen hervorbringen. Iſt uns auch ſtreng genommen die Hiſto— logie bisher den Nachweis dieſer dreierlei Faſergattungen ſchuldig geblieben, ſo haben doch die umfaſſenden hiſtologiſchen Forſch— ungen von M. Schultze, Müller TE Poggend. Ann. XCIV, S 17. ſchiedenen einen Faſer ſich zu einer Miſchempfind— können. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. und Anderen den Ausgangspunkt für Ver— muthungen in dieſer Richtung angegeben. Allerdings könnte man nun ſagen, daß anſtatt dreierlei Faſergattungen innerhalb der Zapfen, oder mit dieſen verbunden, je zweierlei Faſergattungen, verbunden mit den Zapfen einerſeits, und zweierlei Faſergatt— ungen, verbunden mit den Stäbchen andere— ſeits, in Verbindung gedacht werden können. Die Annahme, daß unſere Stäbchen auch lichtempfindend, nur anders farbenempfindend ſind, involvirt alſo durchaus keine Nöthig— ung von der Vorſtellung abzugehen, daß je einer verſchiedenen Grundempfindung eine verſchiedene Nervenfaſer dienen muß. Nichts deſto weniger will ich geſtehen — ſelbſt auf die Gefahr hin, von einem oder dem andern ſtrenggläubigen Gelehrten verketzert zu werden —, daß mir bei der diſtinkten Wirkſamkeit unſerer Netzhaut Stäbchen und Zapfen wenigſtens in Be— zug auf die Erſcheinungen von Complemen— tär- und Contraſtfarben die Vorſtellung einladender ſcheint, daß in den Zapfen die Empfindung von Roth und Blaugrün durch eine einzige Faſer vermittelt wird und nur quantitativ verſchiedene Erregungszuſtände in dieſer Faſer darſtellt, wie wir ſpäter näher auszuführen Gelegenheit haben wer— den, und daß dieſe zwei quantitativ ver— Erregungszuſtände auf dieſer ung von Weiß ſuperponiren und ſummiren Es liegt weder eine empiriſche Nöthigung, noch eine theoretiſche Rückſicht vor, welche uns verleiten ſollte, die Sache uns ſo vorzuſtellen, daß die Zapfen von Roth bis Blaugrün, und die Stäbchen von Gelbgrün bis Violett empfinden, ſondern wir halten uns an der Hand der herrſchenden Lehre berechtigt, anzunehmen, daß die Miſch— ung der farbigen Grundempfindungen ſo— wohl zu Weiß als auch zu zwiſchenliegen— den monochromatiſchen Farben hinter der Netzhaut in unſerem durch An— gewöhnung herangebildeten Bewußtſtein ſtatt- findet. Mit dieſen Vorgängen hinter der Netz— haut können wir uns vorläufig nicht be⸗ ſchäftigen, weil wir erſt über die unmittel— bare Wechſelwirkung zwiſchen objektivem far bigen Licht und unſerer Netzhaut uns ein beſtimmtes Urtheil bilden wollen; hier haben wir es alſo nur zu thun einerſeits mit Be— wegungen von verſchiedener Wellenlänge, ver— mittelt durch ſupponirten Aether, und an- dererſeits mit Zapfen und Stäbchen unſerer Netzhaut. Halten wir uns vor Augen, daß ob— jektives farbiges Licht als von einem leuch— tenden Körper ausgehende und mittelſt des Aethers ſich fortpflanzende, oscillatoriſche, transverſal ſchwingende Bewegung von be ſtimmter Wellenlänge aufgefaßt wird, und daß die transverſal ſchwingenden Aether— theilchen auf die zarten, lichtempfindenden | Fäſerchen der Netzhaut treffen, jo iſt von vorn herein kein irgendwie gearteter Grund | einzufehen, warum die Bewegung von Aether nicht ſollte in gleichem Sinne und unver— änderter Richtung auf die Fäſerchen der Netzhaut übertragen werden können — wo— nach alſo dieſe Fäſerchen unmittelbar in transverſale Schwingungen verſetzt würden. Finden wir ja häufig, daß elaſtiſche Stäbe und Saiten von transverſal ſie treffenden Bewegungsimpulſen leicht zu transverſalen Schwingungen erregt werden, und zwar am leichteſten dann, wenn zwiſchen den bewe— genden Impulſen und ihrer eigenen Art zu ſchwingen gleiche oder beſtimmt proportio— nale Verhältniſſe bezüglich der oscillatoriſchen Zeitintervalle zuſammentreffen. Dieſe Annahme von Schwingungen der gleichſam Lederer, Zür Mechanik der Farbenwahrnehmung. 443 Netzhaut oder ihrer hiſtologiſchen Elemente iſt ſchon bekanntlich von Newton gemacht worden, dann von W. Herſchel, von Melloni, von Seebeck, bedingungs— weiſe von Fechner und Anderen. Nach den Vorſtellungen der genannten Forſcher wären die Schwingungen als mo— lekulare Schwingungen zu faſſen, deren Be— wegungsrichtung mit der Längsaxe unſerer fraglichen Netzhautgebilde zuſammenfielen. Wenn es nun allenfalls denkbar wäre, daß die Bewegungen in dieſer Richtung fort— ſchritten, daß alſo gleichſam nicht alle Mo— leküle einer Faſer gleichzeitig in gleichen Schwingungsphaſen wären, ſo iſt doch eine Schwingungsrichtung ſenkrecht auf die Längs— richtung der einzelnen Faſern wahrſchein— licher und direkt aus der Bewegungsrichtung der impulsgebenden Bewegungen abzuleiten, ſowie ſich dabei ungezwungener alle Er— ſcheinungen der Mitſchwingung nachbarlicher Faſern erklären, welche Erſcheinungen unter Anderem von der poſitiven räumlichen Ir— radiation eben ſo plauſibel gemacht werden, als fie von der nahen nachbarlichen An- einanderlagerung dieſer Gebilde bei einiger— maßen ausgiebigen transverſalen Schwing— ungen, und vielleicht auch von der phyſi⸗ kaliſchen Beſchaffenheit der zwiſchenliegenden (Flüſſigkeits?-) Schichten vermöge mehr oder weniger ſtärkerer Adhärenz unterſtützt würden. Ich würde mich ohne ſpecielle Veranlaſſung keineswegs berufen oder be— fähigt halten, dieſe Lehre von den Schwing— ungen der Netzhautelemente neuerlich ver— theidigen zu wollen. Weil aber gerade dieſe Annahme geeignet iſt, die Vorgänge in der Netzhaut beim Sehen auf die ein— fachſten, an und für ſich genau bekannten Geſetze der Mechanik zurückzuführen, ſo iſt es eben nur an der Hand dieſer Annahme möglich, einige Argumente aus der Mechanik „ vorzuführen, welche geeignet find, die An— nahme zu ſtützen, daß den Stäbchen der Netzhaut im Allgemeinen für kurzwelligere Lichtſtrahlen eine gleiche weſentliche Rolle zukommt, wie den Zapfen für die länger— welligen. Da nun meines Wiſſens dieſe letztere Annahme bisher nicht gemacht wurde, andererſeits aber gerade dieſe Annahme, wie ich glaube, den Einblick in die fraglichen Vorgänge erleichtert und die Mechanik dieſer Vorgänge höchſt einfach erſcheinen läßt, muß ich mir erlauben, gleichzeitig einige Bemerk— ungen vorzuführen, welche die Schwingun— gen der lichtempfindenden Netzhautfäſerchen ſelbſt als allem einſchlägigen, empiriſch nach— weisbarem Geſchehen zu Grunde liegend erſcheinen laſſen. Wenn wir das Wort Lichtempfindung oder Lichtperception — als ein Wort, wel— ches abſolut keinen rein phyſikaliſchen Be— griff deckt — zurückdrängen wollen in die centralen Vorgänge des pſychiſchen Gebietes, ſo können wir eigentlich nicht anders, als an Bewegungserſcheinungen in der Netzhaut denken. Nun können wir uns Bewegungs— erſcheinungen nach den jetzigen phyſikaliſchen Vorſtellungen denken als wahrnehmbare Locomotion der ganzen oder kleinſten con— ſtituirenden Theile, oder unter der Form caloriſcher Erſcheinungen, ferner als chemiſche Vorgänge (Atom-Bewegung) und ſchließlich als elektriſche Vorgänge. Seitdem man nach Boll ſo viel den durch Licht veränderlichen Augenpurpur beobachtete, iſt man zu der früher ſchon u. A. von Mundt ver— muthungsweiſe ausgeſprochenen Vorſtellung geneigt, daß weſentlich chemiſche Vorgänge als unmittelbarer Reiz auf die Netzhaut wirken, während dieſe chemiſchen Vorgänge direkt vom Licht angeregt würden. Daß chemiſche Veränderungen mit der Netzhautthätigkeit verbunden ſind, iſt ſicher, ebenſo zweifellos, Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. wie ſie mit den Thätigkeiten der Nerven und Muskeln verbunden ſind; eine andere Frage iſt aber die, ob die chemiſchen Vorgänge an ſich der weſentlich bedingende Reiz für die eigenthümliche, ſpecifiſche Er— regung der Netzhaut und des nervus opticus ſind, oder ob ſie nebenher bei der Netzhautthätigkeit mitgehen, als Kräfte um— ſetzend, wie z. B. bei der Muskelthätigkeit. Wollen wir uns nun denken, daß unſere Netzhaut — beiläufig wie ein photographi— ſches Papier — die Lichtſtrahlen chemiſch verändernd auf ſich wirken läßt, und die chemiſchen Umſetzungsprodukte als Reize auf die Nerven wirken, ſo müſſen wir uns erinnern, daß die räumlich ſcharfe Abgrenzung der Bilder, in raſcher, zeitlicher Folge wechſelnd, nicht ſo ſchnell erreichbar wäre, weil die Forſiſchaffung der Umſetzungsprodukte und die Erneuerung der chemiſch wirkſamen Stoffe weniger raſch von der Circulation bewerkſtelligt werden kann, als es eben zur Erhaltung ſcharfer, raſch wechſelnder Bilder nothwendig wäre. Ferner erinnern wir uns, daß Lichtſtrahlen, welche als chemiſch wirk— ſamſte bekannt ſind, auf die Netzhaut theils ſchwach, theils gar nicht wirken, ſchließlich, daß Licht auf den Stumpf des nervus opticus gar nicht wirkt, während dieſer chemiſch erregbar iſt. Nicht weniger gegründet ſind die Ein— wände, die ſich uns unwillkürlich aufdrän— gen gegen die (u. A. von Draper ge hegte) Vorſtellung von weſentlich chemiſchen Vorgängen in der Netzhaut, oder von we— ſentlich elektriſchen Vorgängen daſelbſt. Phy— ſiologiſcherſeits zeigt ſich, daß die Opticus— Faſern an ſich auf Licht nicht reagiren, während ſie doch thermiſch und elektriſch erregbar ſind, und phyſikaliſcherſeits läßt ſich vorbringen, daß caloriſche und elektriſche Vorgänge ſonſt durchaus nirgends an be— ſtimmte rhythmiſche Bewegungsdauer — engbegrenzte Schwingungszeiten und Wel— lenlängen — der anregenden Bewegungen gebunden ſind. Mit einem Wort, es zeigt ſich bei einiger Ueberlegung, daß ſehr wenig Einladendes vorliegt, an weſentlich chemiſche Vorgänge (Atombewegung) oder an weſentlich caloriſche Vorgänge (Molekularbewegung), oder auch an weſentlich elektriſche Bewegungserſchein— ungen zu denken, und wir ſehen uns da— her auch von dieſer Seite gedrängt, an die Bewegungen der Fäſerchen in ihrer Tota— lität, an Schwingungen zu denken, auf welche uns Form und Anbringungsweiſe dieſer hiſtologiſchen Gebilde, ſowie ihre Stellung gegen die bewegenden Impulſe gleichmäßig verweiſen. Nach dieſer Auffaſſung würde die Stäbchen-Zapfen-Schicht unſerer Netz— haut ein aus zweierlei zarten Saiten zu— ſammengefügtes Inſtrument darſtellen, von deſſen Saiten die dickeren und kürzeren den langſameren und längerwelligen Schwing— ungen (Roth) am leichteſten und intenfivften durch Mitſchwingung Folge geben, während die dünneren und längeren Stäbchen von den kurzwelligeren, raſcheren Schwingungen (Gelbgrün) vorzugsweiſe leicht bewegt würden. In der That, verſuchen wir aus den vorliegenden, leider ziemlich ſchwankenden mikrometriſchen Maßangaben über die Stäb— chen und die Zapfen nach dem Schwingungs— modul für Saiten: / . 1 (wobei die phy- ſikaliſch-gualitative Beſchaffenheit [N] und die Spannungsgröße [S, reſp. VS] als bei- läufig gleich angenommen außer Rechnung gelaſſen wird) annäherungsweiſe uns eine Vorſtellung zu bilden von der Proportion, in welcher der ziffermäßige Ausdruck für die Zahl ihrer rhythmiſchen Eigenſchwingun— gen ſich darſtellt, ſo werden wir überraſcht ſein zu finden, daß dieſe Proportion ſo Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. wenig verſchieden iſt von der Proportion, welche zwiſchen den rhythmiſchen Schwingungs— zahlen von Roth und Gelbgrün ſtattfindet. Dieſe nahe Uebereinſtimmung, welche wir durch Rechnung finden, muß uns nicht wenig ermuntern, die fraglichen zarten Gebilde als geſpannte Saiten zu faſſen, während nach dem Schwingungsmodul für elaſtiſche, frei— ſchwingende Stäbe und Platten (% die Zahl der Eigenſchwingungen in der Zeiteinheit) für die Zapfen kürzerwellige und für die Stäbchen längerwellige Strahlen adäquater wären, was allem empiriſch Bekannten ent— gegenſtünde. Weiter müſſen wir auch her— vorheben, daß die hiſtologiſchen Verhältniſſe nicht minder unſerer Vorſtellung zu Hülfe kommen. Halten wir zunächſt alſo feſt, daß wir uns die Stäbchen und Zapfen durch rhyth— miſch adäquate Aetherſchwingungen in trans— verſale Schwingungen verſetzt denken müſſen, und daß durch dieſe Schwingungen mittelſt Zug und Druck ein mechaniſcher Reiz auf die angrenzenden Moleküle der leitenden Opticus⸗Faſern ausgeübt wird. Dieſer me- chaniſche Reiz, im Opticus fortgeleitet, bringt in unſerem Bewußtſein die Empfindung des Leuchtenden hervor, wie jeder andere mecha— niſche Reiz auf dieſen Nerven es thun würde. Darauf fußend und weiter folgernd, müſſen wir es nach reichlichen Erfahrungen aus dem Verhalten verſchiedener Körper ſelbſtverſtänd— lich finden, wenn die Stäbchen und die Zapfen nur von Schwingungen concreter Rhythmen vorwiegend leicht oder ausſchließ— lich ſich in ſchwingende Bewegung ſetzen laſſen, von Schwingungen anderer Rhythmen gar nicht, und von wieder anderen unver— hältnißmäßig ſchwer. Nun könnte es vielleicht gewagt erſcheinen, bekannte Geſetze der Mechanik — oder zum Theil der Akuſtik, welche im Grunde nach ET EEE een a: 446 ihrer heutigen Darſtellung auf mechanischen Geſetzen beruht — weil ſie alle nur als Kraft- oder Bewegungsübertragungen zwi— ſchen ponderablen Stoffen erkannt — pur et simple auf Bewegungsübertragungen von Aether auf ponderable Stoffe anzuwenden. Doch könnte nur dann gegen eine ſolche Anwendung Proteſt erhoben werden, wenn ſie irgendwie die Tendenz einſchlöſſe, con— crete Maßbeſtimmungen gemeinſchaftlich an— zuwenden für die Wechſelwirkung der ſo verſchiedenen Stoffe, was ſie aber durchaus nicht thun will. Daß überhaupt ſolche Kraftübertragung vom Aether auf wägbare Materie und zwar in beſtimmten (wenn auch muthmaßlich wenig bekannten) direkt proportionalen Verhältniſſen ſtattfindet, müſſen wir als gewiß annehmen, wenn wir uns erinnern, daß caloriſche Bewegung durch den ganzen Himmelsraum von der Sonne her im angenommen imponderablen Aether ſich fortpflanzt und innerhalb unſerer Atmo— ſphäre ponderable Stoffe in Bewegung ſetzt, | ſich alſo irgendwo von Imponderabilien auf wägbare Materie überträgt; außerdem (che— miſche) Atomenbewegung von Lichtſchwing— ungen erzeugt wird u. ſ. w. Es wäre nur a priori durch nichts ſagen wollten, der Netzhaut-Zapfen müſſe 452 Billionen Schwingungen in der Se— cunde machen, wie der ihn bewegende rothe Lichtſtrahl, oder das Stäbchen müſſe 580 Billionen Schwingungen in der gleichen Zeiteinheit machen, wie der gelbgrüne ho— mogene Strahl. Hingegen können wir allen Erfahrungen gemäß annehmen, daß die Schwingungen dieſer beiden Netzhautfaſern als Funktionen einer unbekannten Unvariablen und proportionalen Variablen in gleicher Proportion zu einander ſtehen müſſen, wie Dies zugegeben, dieſe bekannten Zahlen. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. wollen wir ſehen, wie wir empiriſch wohl conſtatirte Thatſachen aus dem Verhalten unſeres Geſichtsſinnes aus einfachen Grund— lehren der Mechanik ableiten und auf die ungezwungenſte Weiſe uns klar machen können. Sache der alltäglichen Erfahrung und überdies durch ſorgfältige wiſſenſchaftliche Beobachtungen ſicher geſtellt iſt, daß Roth und Gelb bei intenſiver Beleuchtung heller erſcheinen, als kurzwellige Farben — Blau, Violett — während dieſelben Farben bei ſchwacher Beleuchtung umgekehrte Helligkeits— effekte hervorbringen. Fechner drückt dies ſo aus, daß er ſagt: Für die langwelligen Strahlen liegt die untere Reizſchwelle (oder Unterſchieds— ſchwelle, inſofern er für den Geſichtsſinn nur eine ſolche als gleichwerthig ſtatuirt) höher, als für kurzwellige Strahlen. Genau daſſelbe Reſultat hat aber Fechner für Gehörsempfindungen gefunden, daß nämlich für langwellige (tiefere) Töne die untere Reizſchwelle höher liegt, als für kurzwelli— gere (höhere) Töne.“) Nehmen wir nun an, daß für langwellige Strahlen maſſigere Saiten in Schwingun— gen verſetzt werden müſſen — da Id der Zapfen größer iſt — daß ferner die länger— gerechtfertigt, wenn wir etwa z. B. aus welligen Excurſionen der Zapfen eine größere mechaniſche Reizſumme repräſentiren, ſo iſt damit ſowohl die größere Helligkeit der langwelligen Strahlen bei intenſiver Be— leuchtung mechaniſch leicht erklärlich, wie auch die höhere Lage der unteren Reiz— ſchwelle klar wird, — genau ſo klar, wie etwa die Erſcheinung, daß es mehr leben— diger Kraft bedarf, einen Cubikfuß Eiſen einen Fuß hoch zu heben, als einen halben Cubikfuß deſſelben Metalls. Wir können uns leicht eine mäßige Stärke (Amplitude) der Atherſchwingungen denken, bei welcher 9 Pfychophyſik II. S. 168 flgde. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. 447 die Stäbchen ſchon ausgiebig ſchwingen, während bei den Zapfen kaum noch das Trägheitsmoment überwunden iſt — ge— ſchweige denn, daß ausgiebige Schwingungen zu Stande kämen. Ebenſo einfach erklärt ſich das zeitliche Ueberdauern der gewöhnlich unmittelbar nach dem Reiz eintretenden poſitiven gleichgefärb— ten Nachbilder (im Brücke'ſchen Sinn). Aus allen einſchlägigen Angaben über Ver— ſuche von Purkinje, Brücke, Fechner geht hervor, — Fechner ſagt dies ausdrück— lich und Wundt ſtellt das Ueberdauern der homogenen Farben in den Nachbildern in einer Curve graphiſch dar,?) — daß Roth am längſten nachdauert. Daſſelbe findet auch ſtatt für Nachſchwingungen von Tönen auf Saiten, d. h. daß tiefe Töne länger nachſchwingen. Wenn nun die Empfindung von ver— ſchiedenen Farben auf Schwingungen ver— ſchieden maſſiver Fäſerchen beruht, ſo be— ruht das erſte, unmittelbare, conſtante, po— ſitive Nachempfinden auf Nachſchwingen der- ſelben Fäſerchen; daß dies aber bei den maſſigeren Zapfen länger nachdauern muß, als bei den gracileren Stäbchen, iſt aus den Grundlehren der Mechanik leicht ableitbar. Fechner (und nach ihm viele andere Phyſiologen) ließ ſich zu der Annahme ver— leiten, daß auch die weiteren Erſchöpfungs-⸗ Nachbilder, und ſogar die Empfindung des ſchwarzen Geſichtsfeldes bei Abweſenheit von objektivem Licht auf Schwingungen beruhen müſſe, ſobald man überhaupt von Schwing- ungen der Netzhautelemente ſpreche. Fech— ner hat dies ſogar unter den Argumenten aufgeführt, welche geeignet wären, die An- nahme von Netzhautſchwingungen unplauſibel dernd, und wir können überdies nur die— zu machen.“) Wir werden ſpäter ſehen, ) Lehrbuch der Phyſiologie, S. 546. ) Pſychophyſik II. S. 271. daß die berührte Fechner'ſche Annahme ebenſo unnöthig iſt, als ſie in keinem phy— ſikaliſchen Geſchehen eine Analogie findet. Um uns über das wichtige quantitative Verhältniß der Lichtempfindung in den Netz— hautſtäbchen ein Urtheil zu bilden, müſſen wir uns in der Erfahrung an diejenigen Stellen der Netzhaut halten, wo die Stäb— chen vorherrſchend ſind, alſo an die peri— pheriſchen Netzhauttheile. Hier werden die Zapfen immer ſeltener, je mehr wir uns der ora serrata nähern, und die Stäbchen werden der Zahl nach immer überwiegen— der. Nun ſehen wir mit den ſeitlichen Netzhautſtellen gleichſam in anderen Farben, was ſich viel leichter mit der Annahme erklären läßt, daß eben die Stäbchen für andere Farben vorwiegend leicht ſchwingen und andere Grundempfindungen in uns erregen — als wenn wir blos die Zapfen Licht empfinden laſſen und glauben müßten, daß die ſeitlichen Zapfen hiſtologiſch oder phyſikaliſch verſchieden von den mittleren Zapfen wären. Ferner ſehen wir aber auch undeutlicher mit den Seitentheilen der Netz— haut, und dieſer Umſtand hat zumeiſt den Zapfen zu ihrem excluſiv hohen Anſehen verholfen. Vielleicht gelingt es uns genü— gend darzuthun, daß nicht die vermeintliche Unthätigkeit der Stäbchen daran Schuld trägt. Hierzu müſſen wir uns erinnern, daß außer dem Vorherrſchen von langwelligen Strahlen bei den üblichen Lichtquellen noch die diop— triſchen Verhältniſſe im Auge den vorzugs— weiſe Zapfen tragenden mittleren Theil un— ſerer Netzhaut in zweifacher Weiſe ſtark begünſtigen. Für das deutliche Sehen iſt das allenfalls durch die Sclera u. |. w. ins Auge dringende Licht eher ſtörend als för— jenigen Lichtſtrahlen in Anſpruch nehmen, welche von jedem Punkte des Geſichtsfeldes nn — * 448 durch die Pupille eindringen und vom Kreuzungspunkte der Richtungslinie aus, im ſogenannten innern Lichtkegel, unſere Netz— haut treffen. Ob wir uns nun unſere Netzhaut vor— ſtellen als ein Kugelſchalenſtück oder als Schalenſtück von einem Ellipſoid, das durch Umdrehung einer wenig excentriſchen Ellipſe um ihre kurze Axe entſtanden iſt, immer müſſen wir uns ſagen, daß die Spitze des inneren Lichtkegels bei allen Accommodations— Zuſtänden und allen möglichen Ausbreit— ungen und Lagen des Geſichtsfeldes weit vor den Krümmungsmittelpunkt reſpektive vor den Axenmittelpunkt des Rotations- körpers fällt, an deſſen Oberfläche wir uns die Netzhaut ausgebreitet denken müſſen. Da wir nun ohne merklichen Fehler den Kreuzungspunkt aller möglichen Richt— ungslinien in jedem einzelnen Fall wirklich für punktförmig anſehen können, ſo hängt damit nothwendig zuſammen, daß die ein— zelnen Strahlen im inneren Lichtkegel ver— ſchieden lange Wege zurücklegen müſſen, um die Netzhautebene zu erreichen, und daß ſie weiter auf der lichtempfindlichen Netzhaut— ebene in verſchieden großen Winkeln auf— fallen. Inſofern nun der vereinigte Knoten— punkt, als optiſcher Mittelpunkt der brechen— den Medien, in jedem einzelnen Fall von den verſchiedenen Punkten der Netzhautebene verſchieden weit entfernt iſt, wird die Deut— lichkeit der Netzhautbilder verſchieden ſein; je mehr die Bedingungen erfüllt werden, daß in den mittleren Netzhautpartien ſorg— fältig und ſcharf contourirte Netzhautbilder zu Stande kommen, um ſo mehr werden die ſeitlichen (peripheriſchen) Netzhauttheile von Zerſtreuungskreiſen leiden müſſen. Nicht weniger ſtiefmütterlich, wie mit den optiſchen Netzhautbildern, ſind noch die äußeren Netzhautpartien mit der Lichtmenge Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. bedacht, welche ihnen bei den meiſten üblichen oder ſelbſt möglichen Richtungen der Viſir— linie zu gute kommt, ſchon wegen des ſchie— feren Auffallens der Strahlen. Man denke nur an die Erleuchtung des Augengrundes beim Ophthalmoſkopiren mit lichtſchwachen Augenſpiegeln (unbelegten Gläſern), wo die peripheriſchen Netzhauttheile, zum größten Theil aus dioptriſchen Gründen, minder hell erſcheinen als die mittleren Partien. Die peripheriſchen Netzhauttheile haben demnach Bilder mit Zerſtreuungskreiſen und weniger Licht; wenn auch Zerſtreuungskreiſe bis zu einem gewiſſen Grade eliminirt werden kön— nen, ſo iſt doch dieſe Elimination an be— ſtimmte Bedingungen geknüpft“) und dieſe Bedingungen ſind eben (wie ſich ſehr leicht nachweiſen läßt) bei der geringeren Beleucht— ung der peripheriſchen Netzhauttheile weit ungünſtiger. Wir ſehen alſo, daß das undeutliche Sehen an den Seitentheilen der Netzhaut keineswegs die Annahme bedingt, als wären blos die Zapfen lichtempfindend und die Stäbchen nur zu nebenſächlichen, auxiliaren Funktionen geeignet. Ja, wenn wir uns näher mit der Beleuchtungsabnahme an den ſeitlichen Netzhauttheilen beſchäftigen wollen, werden wir auf eine Erſcheinung ſtoßen, welche nahezu unvereinbar iſt mit der An— nahme, daß nur die Zapfen Licht empfin— den. Es läßt ſich leicht berechnen, daß von der Netzhautmitte ausgehend, die Beleucht— ungsintenſität radiär fortſchreitend abnehmen muß, proportional mit dem Quadrate des Sinus vom auffallenden Winkel — wegen ſchiefer Stellung der Netzhautfläche und wegen ſchiefer Stellung der Fäſerchen zu den bewegenden Impulſen. Sind die Stäbchen auch lichtempfindend, * Helmholtz, Handbuch der phyſiolo— giſchen Optik, $ 14 und § 24. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. ſo werden ſie an den Seitentheilen der Netz— haut, weil ſie als gracilere Gebilde für kleinere Lichtintenſitäten beweglich ſind, wie die Zapfen, den Unterſchied der Beleucht- ungsquantität vermindern, was nament- lich für geringe Beleuchtungsgrade ſtark in die Wagſchale fallen wird, weil hier der Unterſchied relativ mehr über der Schwelle der Wahrnehmbarkeit wäre. Sind aber die Zapfen allein lichtempfin— dend, jo wird nicht nur der Beleuchtungs- unterſchied ungeſchwächt fortbeſtehen, ſon— dern weil die Zapfen an den Seitentheilen auch noch ſeltener werden, auf eine gleich große Fläche des Geſichtsfeldes eine ent- ſprechend gleich große Netzhautfläche gerech— net, auch weniger empfindende Elemente getroffen, alſo der topographiſche Reiz— unterſchied noch vergrößert. Bei einiger— maßen geringer Beleuchtung müßten alſo die peripheriſchen Theile unſeres Geſichtsfeldes (nur relativ ſchwerbeweglichere Zapfen tref— fend) geradezu lichtlos erſcheinen, was aller Erfahrung widerſpricht. Daß die Beleucht— ungsintenſität an den von der Bifirlinte ſeitlich gelegenen Punkten nach allen Radien bei ſorgfältigen, vergleichend meſſenden Ver⸗ ſuchen geringer befunden wird, läßt ſich aus dem vermuthen, was Fechner dar— über ſagt. Leider giebt er nicht die gefun— denen Maße an, und die Beſchreibung der Verſuche, auf die er hinweiſt, iſt mir nicht zugänglich. So viel aber glaube ich nochmals be— tonen zu dürfen, daß wir der den Hellig— keitsunterſchied corrigirenden Wirkung der Stäbchen an den peripheriſchen Netzhaut— theilen kaum entrathen können, wollen wir die Erfahrung mit den dioptriſchen Ver— hältniſſen einigermaßen in Einklang bringen. Erwägt man dabei, daß die Stäbchen dort Pſychophyſik I. S. 294. 449 am reichlichſten find, wo dieſe Correktur der mangelhaften Beleuchtung am nöthigſten | ift, könnte man ſich beinahe verſucht fühlen der Spielerei einer teleologiſchen Beweisführ— ung nachzugehen. Halten wir nun auch ein ſolches gelegenheitliches teleologiſches Hoſianna zum mindeſten für überflüſſig in dem Rahmen ernſthafter Naturbetrachtung, ſo können wir uns doch nicht verſagen, einen Augenblick dem entgegengeſetzten Ideengang zu wid— men, der ſich bisher wenigſtens noch befruch— tender für jeden wiſſenſchaftlichen Fortſchritt erwieſen hat; wir meinen die Lehre von der Anpaſſung. Wenn wir dieſer Lehre einigen Einfluß auf die Bildung unſerer Vorſtell— ungen gönnen, könnten wir ſagen, die Stäbchen und die Zapfen ſeien der Idee nach (im platoniſchen Sinne) qualitativ gleichwerthige Organe; nur hätten ſich die Gebilde in der Netzhautmitte, da ſie immer von ſtärkeren Reizen getroffen werden, ſtärker entwickelt, und wären den herrſchen— den Lichtſorten „angepaßter“ geworden. Da wir zunächſt, „Mechanik“ treiben wollen, können wir uns nicht einlaſſen auf das, was geweſen oder geworden iſt, fon- dern müſſen uns an das halten, was iſt. Sehen wir uns alſo nach Analogien um, wie ſie uns die dankenswerthen verglei— chend hiſtologiſchen Studien von Müller und von M. Schultze reichlich, bieten, ſo finden wir Thiere, welche in ihrer Netzhaut ausſchließlich oder, weit jüber- wiegend Stäbchen haben, undzſolche, welche ausſchließlich oder überwiegend Zapfen ha— ben. Nur Stäbchen haben! im Ganzen Thiere, welche mehr lichtſcheu ſind (Fleder— mäuſe, Maulwürfe), ebenſo haben nur wenige und ſchlecht entwickelte Zapfen die Katzen. Von den Vögeln haben die Eulen ebenfalls keine Zapfen. Nur Zapfen ohne Stäbchen haben Schlangen und Eidechſen. Von den Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. 450 Fiſchen haben die Knochenfiſche „Zwillings— zapfen“ und documentiren ſich ſo als licht— freundliche Fortſchrittler, während Rochen und Haie mit Stäbchen (Schultze) ungeſcheut ſich als zurückge— bliebene Obſcuranten darſtellen. Nun können wir uns leicht vorſtellen, daß Thiere mit Zapfen vorwiegend andere ſofern Dimenſionsunterſchiede ihnen anders— wellige Lichtſtrahlen adäquater machen. Wir können uns alſo denken, daß eine Schlange oder ein Adler die Welt in einem Lichte ſieht, wie wir, aber in einem anderen wie eine Eule oder eine Fledermaus. Da— gegen könnten wir uns doch viel ſchwerer vorſtellen, daß die Eulen und Fledermäuſe z. B. Netzhautſtäbchen hätten, um damit — nicht zu ſehen. Haben wir bisher gefunden, daß alle berührten Erſcheinungen ſich ungezwungener und rein mechaniſch erklären laſſen bei der Annahme von Schwingungen der Netzhaut— elemente, und bei der Annahme, daß die Stäbchen und die Zapfen ſich unmittelbar an der Lichtempfindung betheiligen, ſo müſſen wir jetzt ſehen, wie wir bei dieſer Annahme die Empfindung der einzelnen homogenen Farben uns vorzuſtellen haben. Zunächſt haben wir alſo homogene Farben, welche wir als Grundempfindung auffaſſen müſſen, dann homogene Farben, welche wir folge— richtig ſchon als Miſchempfindung auffaſſen müſſen, und endlich die Miſchempfindungen der gemiſchten Farben, alſo vorzüglich das Weiß. Nach den unſerer Annahme kommt ohne Zapfen Zapfen ein ſolcher Rhythmus der Eigen- damit Weiß als Miſchempfindung entſtehe; ſchwingungen zu, daß ihnen der Schwing— ungsrhythmus der homogenen rothen Strah— len am adäquateſten iſt. Wenn daher der Zapfen zu ſeiner Eigenſchwingung erregt Oberrhythmus Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. wird, ſo übt er einen mechaniſchen Reiz auf unſern nervus opticus von ſolcher Stärke und ſolchem Rhythmus, daß in uns die Grundempfindung des Roth entſteht. Wie unn eine Saite neben ihren Grundſchwing— ungen leicht für conſonirende raſchere Schwingungen empfindlich iſt, ſo können wir uns vorſtellen, daß auch unſeren Zapfen Farben ſehen, wie Thiere mit Stäbchen, neben ihrem Grundrhythmus, in welchem ſie leicht und ſtark ſchwingen, noch ein Ober— Rhythmus zukommt, für welchen ſie, ver— möge ihrer phyſikaliſchen Eigenſchaften und ihrer Dimenſionen, leicht ſchwingen, und dieſer Schwingungsrhythmus wäre adäquat dem homogenen Lichtſtrahl von dem Rhyth— mus Blaugrün. (In der akuſtiſchen Rede— weiſe wäre alſo die Diſtanz von der Grund— ſchwingung zum Ober-Rhythmus beiläufig eine Quart.) Nun kann der Zapfen ſowohl in dieſem zweiten Rhythmus allein ſchwingen, oder es können ſich die beiden Schwingungs— rhythmen auf den Zapfen ſuperponiren, wodann unſern nervus opticus mechaniſche Reize träfen in ſolchen Zeitintervallen und von ſolcher Stärke, daß in uns die Em— pfindung von Weiß erregt würde.“) Ebenſo haben wir in unſern Stäbchen Schwingungen im Grundrhythmus, denen die Empfindung von Gelbgrün entſpricht, d. h. alſo Schwingungen, welche erfahrungs— gemäß am ſtärkſten von homogen gelbgrünen Strahlen ausgelöſt werden, dann einen von Violett lakuſtiſches Spatium beiläufig große Terz), und ) Fact ſelbſtverſtändlich iſt, daß hierbei jedem einzelnen Schwingungsrhythmus eine beſtimmte relative Stärke zukommen muß, iſt der eine oder der andere Rhythmus rela— tiv ſtärker, ſo wird die eine oder die andere Grundfarbe vorherrſchen — möglicherweiſe in ihrem Farbenton leicht geändert. bei Supraponirung dieſer beiden Schwing— ungsrhythmen die Empfindung von Weiß. Trifft nun eine andere homogene Farbe unſer Auge, z. B. Gelb, ſo würde dies die Zapfen nahezu ſo ſchwingen machen wie Roth und die Stäbchen wie Gelbgrün, die beiden Grund-Empfindungen miſchten ſich zu Gelb. Blau erregt die Zapfen zu Schwingungen annähernd wie Blaugrün und die Stäbchen wie Violett u. f. w. So würde alſo jede homogene Spektralfarbe, ſowie auch die Miſchfarbe Purpur, inſofern ſie nicht einer unſerer Grundempfindungen entſpricht, immer beide Faſergattungen zu den näherliegenden Grundempfindungen er— regen und ſich im Bewußtſein eben ſo wie ſich Complementärfarben auf je einer oder auch auf beiden Faſergatt— ungen zu Weiß miſchen. Wir dürfen dabei aber nicht vergeſſen, miſchen, Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. 451 regen. Dieſer Fall tritt, wie leicht einzuſehen, vor allem bei Roth und Violett ein, weil ſie für die Empfänglichkeit der anders empfindenden Gebilde am weiteſten ent— fernt ſind; daher ſehen wir mit Neb- hautſtellen, die nur Zapfen haben, das reine Violett nicht, und mit Stellen, denen die Zapfen abgehen, ſehen wir kein Roth. „An den äußerſten Grenzen des Sehfeldes er— ſcheint daher rothes Licht grau, gelbes grün, grünes bläulich und blos die brechbarſten daß auch bei unſern ſchwingenden Netzhaut faſern die Bedingungen in zweifacher Richt— ung weſentlich abweichen von den Beding- ungen, unter welchen die akuſtiſchen Conſonanz⸗ oder Mitſchwingungsgeſetze an Saiten ab— geleitet ſind. hautfäſerchen in einem dichten Medium; an- ſtatt von Luft find fie von miekroſkopiſch dünnen, umhüllenden Flüſſigkeitsſäulchen um- geben, denen reſiſtente Stoffe von der eige— nen Conſiſtenz als Widerhalt unterliegen. Zweitens iſt es mehr als wahrſcheinlich, daß nicht jeder einzelnen Aetherſchwingung eine Schwingung der Netzhautſaſer zeitlich äquivalent iſt, ſondern daß ein gewiſſer Cyclus von Aetherſchwingungen zeitlich mit einer einzigen Faſerſchwingung zuſammen fällt, wie er ſie als adäquat auslöſt. Trifft homogenes einfarbiges Licht unfer | Auge, welches nur einer Faſergattung aus— ſchließlich adäquat iſt, ſo wird es in einem Fall eben nur die eine Faſergattung er— Erſtens ſchwingen die Netz- blauen und violetten Strahlen werden ziem- lich in der richtigen Farbe gejehen“.*) Noch einen zweiten Fall können wir uns denken, nämlich, daß in Netzhautſtellen, wo beide Netzhautfarben reichlich untermiſcht ſind, entweder von mittleren, günſtig liegen— den Aetherſchwingungen beide Faſerarten bewegt werden, oder auch, daß die eine Faſerart von der andern zur Mitſchwing—⸗ ung gebracht wird. Man ſollte nun meinen, daß unter derlei Umſtänden der Fall ein— treten könnte, wo wir gleichſam bunte Ge— ſichtsfelder ſehen, weil in den räumlich ge— ſonderten und neben einander liegenden Netz— hautelementen verſchiedene Farben empfunden werden. Abgeſehen davon, daß wir nach ge— phyſiologiſchen Lehren auf Grund der Noun g'ſchen Dreifaſertheorie uns leicht ableiten können, warum wir dieſe Buntheit nicht wahrnehmen, erlaube ich mir doch darüber Folgendes vorzubringen, weil immer— hin nach unſerer Annahme die Veränder— ung der einzelnen Faſergattungen räumlich auffallender iſt. Helmholtz hat durch das Zackig— werden ſehr feiner, fadenförmiger Netzhaut— bilder die auch ſonſt mit Recht vermuthete moſaikartige Anordnung der lichtempfinden— den Netzhautelemente erſchloſſen, und er zeich— net die Netzhaut ſchematiſch als aus zuſammen— * #) Wundt, Lehrb. der Phyſiologie S. 549. ü 452 hängenden ſechseckigen Feldern beſtehend.“) An jenen Netzhautſtellen, wo die Stäbchen ſchon in erklecklicher Menge zwiſchen die Zapfen gemiſcht ſind, müſſen wir demge— mäß jechsedige” Felder haben, welche den Zapfen entſprechen, und dazwiſchen Felder, welche den Stäbchen entſprechen. Denken wir uns für einen Augenblick, wir wären im Stande, uns die moſaikartige Anord— nung unſerer Netzhaut beim gewöhnlichen Sehen ins Bewußtſein zu bringen, ſo hätten wir beim Beſehen einer gleichfarbigen großen Fläche entweder ein lückenhaftes Geſichtsfeld, wenn die Stäbchen kein Licht empfinden, — oder wir hätten ein buntfarbiges Geſichts— feld, wenn die Stäbchen uns andere Farben zur Empfindung bringen. Nun tritt er— fahrungsgemäß weder das eine, noch das andere ein; wir müſſen alſo ſagen: Entweder empfinden die Stäbchen kein Licht, dann verliert das Geſichtsfeld (durch Vertheilung) an Helligkeit, oder die Stäbchen empfinden ein anderes Licht, dann verliert das Bild der Zapfen an ſpecifiſchem Licht, alſo an Sättigung. Daß aber das letztere eintritt, dafür ſpricht eben die Erfahrung: Das Stäbchenlicht miſcht ſich in der That unter das Zapfenlicht, und wo die Stäbchen in der Ueberzahl ſind, ſchlagen die Zapfenfar— ben in Stäbchenfarben um. Bevor wir noch einige Argumente für die Schwingungen der Netzhautelemente über— haupt und für die Thätigkeit der Stäbchen insbeſondere vorführen, müſſen wir uns er— lauben, zwei Punkte zu erörtern, welche Fechner unter manchen anderen als ſolche anführt, die mit der Annahme von Schwing— ungen der Netzhautelemente wenig verein— bar ſcheinen. Von dem erſten Punkte haben wir ſchon geſprochen: es iſt die Empfindung ) Handbuch der phyſiol. Optik. S. 217. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung— des ſchwarzen Geſichtsfeldes ohne objektiven Reiz, welche Fechner?) „eine Lichtem— pfindung ohne Licht“ nennt. Fechner ſagt: „daß das Auge durch eine innere Erregung ſtets über der Schwelle iſt;“ wollte man dies wörtlich nehmen, ſo wäre es mit der Annahme einer mechaniſchen Erregung unſerer Netzhaut allerdings ſchwer vereinbar, denn wir könnten uns nicht den— ken, was unſere Netzhaut bei Abweſenheit von Licht erregen ſollte. Ganz anders verhält ſich die Sache, wenn wir Fechner's Aus— ſpruch ſo auslegen, daß nicht unſer Auge, ſondern unſer Bewußtſein für Geſichts— empfindungen immer über der Schwelle iſt; da daſſelbe Geſichtsempfindungen immer nur (objektiv) durch das Auge empfängt, fo ver- legt es eben die Empfindung nach dem Geſetze der excentriſchen Projektion in das Auge reſp. das empfundene Objekt vor das Auge, und ſo haben wir bei geſchloſſenen Augen das Bewußtſein vom Fehlen eines gewohnten Reizes: das ſchwarze Geſichts— feld. Während wir uns für den Urſprung dieſer Empfindung in der Netzhaut ſelbſt keinen genügenden Grund denken können, können wir für ihren Urſprung hinter der Netzhaut zwei ſchwerwiegende Gründe vor— führen: Der erſte iſt in einem auf ana— tomiſche Baſis gegründeten Hauptſatze der praktiſchen Pſychologie zu ſuchen. Wir könnten dieſen pſychologiſchen Grundſatz nicht beſſer formuliren, als es Grieſinger thut **) und laſſen daher dieſen ſcharf beob— achtenden Pſychologen reden: „Das deut— lichſte und klarſte Vorſtellen iſt dasjenige, welches mit Beihülfe des Geſichtsſinnes geſchieht, in welches Geſichtsbilder weſentlich mit eingehen, von dem auch die Vermuth— ) Pſychophyſik II. S. 271. 7. Punkt. ) Bathol. und Therap. der pſpychiſchen Krankheit. 3. Aufl. S. 27. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. ung am nächſten liegt, daß es dem Gang— lion des nervus opticus, dem großen Ge— hirn angehöre (beim Vorſtellen der Thiere, wo ſich der Geruchsnerv in ſehr ſtarken Ausbreitungen auf der Ventrikelwandung verbreitet, mögen wohl Geruchsbilder eine ſehr große Rolle ſpielen.)“ pſychologiſch feine Bemerkung des gefeierten verblichenen Gelehrten bezieht ſich auf die anatomiſche Thatſache, daß unverhältniß— mäßig reichliche Faſerausſtrahlungen von dem nervus opticus beim Menſchen (und den höheren Affen) in alle Theile der Groß— hirnhemisphäre ſein mit den Geſichtsempfindungen inniger Dieſe letzte | eingehen, Faſerausſtrahl-⸗ ungen, die man in alle die Windungen verfolgen kann, „deren hohe Entwickelung das menſchliche Gehirn charakteriſirt“. Den— | fen wir uns demgemäß, daß unſer Bewußt— | In unſeren leitenden Nervenfaſern ſchwillt der Reiz lavinenartig an (Pflüger); in jedem Moleküle des leitenden Nerven geſellt zuſammenhängt und ſich damit überwiegend lebhafter beſchäftigt, als mit quantitativ ähnlichen Geſchehniſſen in anderen Sinnes- gebieten, ſo kann es gar nicht wundern, wenn unſere Pſyche ſich das Abhandenſein 1 | von objektiven Reizen im Auge beftimmter | vorſtellt, als in anderen Sinnesgebieten. | Dieſes Bewußtwerden vom Abhandenſein gewohnter objektiver Reize iſt das „Augen- ſchwarz“, das unbeleuchtete ſchwarze Geſichts- feld; es iſt gewiſſermaßen ein contraſtäres Erinnerungsbild, das bald deutlicher, bald weniger deutlich — bis zum traumhaften Verſchwinden — von unſerem Bewußtſein conſtruirt wird. Es kann dieſer Annahme nicht den geringſten Eintrag thun, daß dem lebhaft empfinden, und nichts dergleichen Augenſchwarz eine gewiſſe Helligkeit zu— kommt, welche Helligkeit Volkmann photo— metriſch beſtimmt hat, denn wir wiſſen, daß in der Netzhaut nicht die einzige Quelle lebendiger Kraft zu ſuchen iſt, welche auch beim objektiven Lichtreiz auf unſer Bewußt— ſein wirkt. ſich eine neue Summe lebendiger Kraft zu der früher ausgelöſten, eine Kraft, die ſich offenbar aus den Spannkräften entwickelt, welche im Nerven vermöge ſeines chemiſchen Beſtandes aufgeſpeichert ſind. (Helmholtz, J. R. Mayer.) Nun ſind die Spannkräfte im nervus opticus normalerweiſe immer vorhanden, auch lebendige Kräfte ſind in den Beweg— ungen des kreiſenden Blutes gegeben, da— her wir uns vorſtellen müſſen, daß das an und für ſich abſolut ſchwarze contraſtäre Erinnerungsbild in unſerem Bewußtſein von leichten phyſiologiſchen Erregungsvor— gängen im Verlaufe des nervus opticus bis zu einem gewiſſen Grade poſitiv erhellt wird. Dem entſprechend finden wir auch die Verſchiedenheiten des ſchwarzen Geſichts— feldes, mit ſubjektiven Zuſtänden wechſelnd, ſich bemerkbar machen. Daß wir alſo ge— ringfügige phyſiologiſche Vorgänge im ner— vus opticus lebhaft empfinden, während in anderen Sinnesgebieten ähnliche Vor— gänge erſt Senſation erregen, wenn ſie ſich abnorm ſteigern (Schmerzempfindung in amputirten Gliedern, Ohrenſauſen u. ſ. w.) hat ſeine Urſache darin, daß, wie wir ge— ſehen haben, unſere Pſyche mit Geſichts— empfindungen anatomiſch nachweisbar in enge— rer Beziehung ſteht, als mit Geſcheh— niſſen in anderen Sinnesgebieten. Daß wir außerdem das ſchwarze Geſichtsfeld in anderen Sinnesgebieten, iſt theils in dem- ſelben Umſtande begründet, theils kommt es daher, daß wir verhältnißmäßig größere Zeiträume hindurch von objektivem Licht getroffen werden. Vom "erften Moment, wo wir „das Licht der Welt erblicken“, bis a 454 Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. zum letzten Athemzuge, wo wir lebensmüde | Strahlenbündel einen Netzhautpunkt im „das Auge ſchließen“, iſt mit verſchwindend kleinen Unterbrechungen bei wachem Be— wußtſein unſere Netzhaut immer von be— wegenden Lichtwellen umſpült. Unſere Acuſticusfaſern, das Labyrinth— waſſer und der Hammer an unſerem Trom— melfell werden nur bewegt bei objektiv ſie treffenden, genügend ſtarken Geräuſchen, re— lativ alſo viel ſeltener. Erinnern wir uns nun, welchen rieſigen Einfluß die „Gewohn— heit“ bei unſeren Sinnesvorſtellungen hat (Helmholtz), ſo werden uns alle dieſe Erſcheinungen, als hinter unſerer Netzhaut zu Stande kommend, nicht den geringſten Anlaß geben, ſie mit der gedachten Mecha— nik der Lichtempfindung in der Netzhaut für unvereinbar zu halten. Der zweite Punkt, welchen wir hier erörtern müſſen, als einen ſolchen, welchen Fechner ſchwer vereinbar hält mit Schwingungen in der Netzhaut, wenigſtens inſofern als er darin eine weſent— liche Verſchiedenheit gegen die auf Schwing— ungen beruhenden Vorgänge im Gehörorgan findet, iſt die Erſcheinung der Complement— farben, und reſpektive der Contraſtfarben. Ob wir uns vorſtellen, daß die Em— pfindungen von Roth und Blaugrün uns durch eine Faſer, durch zwei Faſern oder gar durch drei Faſern im Centralorgan erregt werden, — ſo viel iſt gewiß: wenn ein Strahlenbündel homogen rother Strah— len, und ein Strahlenbündel homogen blau— grüner Strahlen auf einer von unſeren empfindlichen Netzhautfaſern zuſammentreffen, ſind wir nicht mehr im Stande, dieſe zwei Farben mit der Poung'ſchen Theorie ſich Farbenqualitäten geſondert zu empfinden, ſondern unausweichlich entſteht in uns die Miſchempfindung Weiß (die entſprechende phyſiologiſche Intenſität beider Farben vor— ausgeſetzt). Dieſe Miſchempfindung entſteht bekanntlich auch dann, wenn das rothe rechten Auge, und das blaugrüne Bündel den correſpondirenden Punkt im linken Auge trifft. Wenn wir bei der Dreifaſertheorie ſtehen bleiben, ſo müſſen wir uns ſagen, daß unter Umſtänden (beim Einwirken von Miſchfarben) von einer rothen Faſer in uns eine Empfindung ausgelöſt wird, welche als qualitativ roth zu beurtheilen jedes phyſio— logiſche Hilfsmittel in unſerem Organismus fehlt, daß wir dieſe Empfindung ein Mal als weiß, das andere Mal als gelb u. ſ. w. beurtheilen. Es iſt alſo nicht zu verkennen, daß hier ſchon das Ausgelöſtwerden einer qualitativ unveränderlichen Grundempfind— ung mindeſtens im Reſultate eine Ausnahme erleidet. Was nun die eigentlichen, als Erſchein— ungen der Contraſtfarben aufgefaßten Em— pfindungsphänomene anlangt, ſo können wir bei unſerer Vorſtellung von dem ob— jektiven Geſchehen in der Netzhaut nach— weiſen, daß alle ſcheinbar ſo ausſchließlich dem Auge oder dem Geſichtsſinne zukommen— den, qualitativ verſchiedenen Empfindungen ſich auf rein quantitative Verhältniſſe zurück— führen laſſen, auf Abſchätzung von relati— ven Eindruckſtärken, — welche Abſchätzung unter Umſtänden falſch ausfällt, dann be— ſonders, wenn gleichzeitig oder unmittelbar vorhergehend, ſich unſerem Bewußtſein ein unrichtiger Maßſtab zum Vergleich auf— drängt, oder wenn wir für einen beſtimm— ten Eindruck, wie es am häufigſten ge— ſchieht, unterempfindlich gemacht ſind. Wenn immer auch das Empfinden contraftärer in Einklang bringen läßt, ſo iſt dies bei unſerer Vorſtellung von der Empfind— ung verſchiedener Farben nicht nur in gleichem Grade der Fall, ſondern es ſcheint ver— lockender, daran zu denken, daß die Em— pfindung einer Farbe und ihres Comple— ments relativ an eine hiſtologiſche Einheit geknüpft iſt, und daß dieſe hiſtologiſche Einheit uns die ſogenannte Contraſtfarbe als Empfindung auslöſt, wenn ſie aus dem Farbengemiſch die complementäre Farbe nur in einem ſo geringen Grade verwerthen kann, daß ſie für unſere Empfindung an die nöthige phyſiologiſche Intenſität bei weitem nicht hinanreicht. Nur aus dieſer Rückſicht möge es mir geftattet ſein, an der Hand einzelner geläufiger Beiſpiele ge— nauer anzugeben, wie ich mir bei der von mir vertheidigten Annahme vorſtelle, daß das Empfinden von Contraſtfarben zu Stande kommt. Nehmen wir den in dieſer Richtung lehrreichen Spiegelverſuch, wie er von Ragona Scina beſchrieben wurde: Man ſtellt zwei Papierblätter, deren jedes einen ſchwarzen Ring trägt, rechtwinkelig gegen einander auf, und poſtirt nun eine grüne Glastafel diagonal zwiſchen dieſe bei— den Papiere, ſo daß man das eine Papier dioptriſch (durch das Glas) und das andere katoptriſch ſieht. Inſofern, als wir unter dem Lichtgemiſch weißes Licht haben, ſind in beiden Netzhautfaſern beide Schwingungs— rhythmen ſuperponirt; inſofern aber grünes Licht vorherrſcht, find die Schwingungs- arten für Blaugrün in den Zapfen und für Gelbgrün in den Stäbchen ſtärker, als ſie ſein ſollten, wenn ihre phyſiologiſche Intenſität blos die Miſchempfindung Weiß geben ſollte. Im katoptriſch geſehenen Ringe fällt nun das Weiß aus, d. h. es wird von den verſchiedenen Schwingungsrhythmen eine für die phyſiologiſche Intenſität gleichwerthige Stärke weggenommen; wenn man aber von zwei verſchiedenen Größen je eine gleiche Größe ſubtrahirt, wird zwar ihre arith— metiſche Proportion nicht geändert, hingegen wird ihre geometriſche Proportion geändert, welche hier als potentiell allein ins Gewicht fällt. Daher werden im katoptriſch geſehe— nen Ringe die grünen Schwingungen vor— herrſchender für unſere Empfindung, und wir ſehen dieſen Ring in einem geſättigteren Grün. Im dioptriſch geſehenen Ringe fällt faſt ausſchließlich das Grün weg; ſo— mit werden die Schwingungsrhythmen für Grün in beiden Netzhautfaſerarten allein abgeſchwächt; außerdem ſind wir für Grün noch unterempfindlich gemacht und wir em— pfinden nur Auslöſungen von den relativ ſtärkeren Schwingungsrhythmen: Roth von den Zapfen und Violett von den Stäbchen. Der dioptriſch geſehene Ring erſcheint uns daher roth, mit einer Beimiſchung von Vio— lett, das Roth, welches wir hier ſehen, hat alſo einen Stich ins Purpurne. Wenn in einem Zimmer durch gefärbte Gläſer oder Vorhänge die herrſchende Be— leuchtung roth iſt, ſo ſehen wir ſchattige Stellen auf weißen Flächen grünlich. Im Ganzen ſchwingen wieder beide Faſerarten in beiden (combinirten) Rhythmen, die Grund— ſchwingungen der Zapfen herrſchen dyna— miſch vor; an den ſchattigen Stellen werden die Schwingungen für Roth vorzugsweiſe abgeſchwächt, außerdem ſind wir unterem— pfindlich dafür; es bleiben daher die blau— grünen Schwingungen der Zapfen maßgebend, vermiſcht mit den ſchwachen gemiſchten Schwing— ungen der Stäbchen, wir ſehen alſo Grün. Sieht man durch ein blaues Glas einen grauen Felsblock an, der in ſeinen durch Verwitterung ausgehöhlten tieferen und engeren Löchern ſchwarz erſcheint, ſo er— ſcheinen dieſe lichtarmen Stellen durch das blaue Glas violett. Hier werden wir offenbar im Ganzen durch Miſcheindrücke beherrſcht, ausgehend von den blaugrünen Rhythmen der Zapfen und den violetten der Stäbchen, während die rothen Schwing— 0 Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. 456 ungen der Zapfen und die grünen der Stäbchen nur die Sättigung der Tinten vermindern, indem ſie relativ ſchwächer ſind. In den Gruben und Spalten des Ge— ſteins, von welchen wenig Licht reflektirt wird, werden die Oberſchwingungen der Zapfen mehr abgeſchwächt, weil die Zapfen für ſchwächere Lichtintenſitäten weniger em— pfänglich ſind; ſomit bleiben die Ober— ſchwingungen der Stäbchen allein unſere Empfindung beherrſchend und wir haben den Eindruck Violett. Aehnlich der letzteren Ableitung laſſen ſich alle jene Erſcheinungen erklären, wo kurzwellige Farben bei Sättig— ungsabnahmen ſcheinbar den Farbenton än— dern und zu merklich anderen Farbentönen complementär werden. Betrachten wir ferner das farbige Ab— klingen von Nachbildern monochromatiſcher Lichteindrücke, ſo können wir nicht nur alle Erſcheinungen in ähnlicher Weiſe da— zu erklären, ſondern wir werden noch mehr gedrängt, uns die ſubjektiven Vorgänge jo vorzuſtellen, daß die Empfindung einer Farbe und die Empfindung ihrer comple— mentären Farbe in einer Faſer zeitlich auf— einander folgend ausgelöſt wird. Hat rothes Licht z. B. unſere Netzhautzapfen ſtark gereizt, und hört der objektive Reiz auf zu wirken, ſo empfinden wir zunächſt das poſitive, gleichgefärbte Nachbild wegen Nachdauern der Schwingung. Wenn das Schwingen der Netzhaut aufhört, dauern noch die lebhafteren chemiſchen Proceſſe im nervus opticus und der geſteigerte Blut— andrang nach, wegen vorhergegangener An— ſtrengung. Wir haben alſo Senſationen vom Nerven aus. Unmittelbar nach den ob— jeftiven Auslöſungen von der Netzhaut find wir für Roth unterempfindlich, und die Zapfenfaſer löſt die einzig mögliche com— plementäre Grundempfindung in uns aus: . Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. bläulich Grün; dann werden wir für dieſe Farbe unterempfindlich, und wir urtheilen daß contraſtäre Auslöſungen erfolgen: wir empfinden wieder Roth. Dies wiederholt ſich je nach dem Ermüdungsgrade mehr oder weniger oft — je mehr oder weniger lang die mechaniſchen und chemiſchen Vorgänge im Nerven geſteigert andauern — bis dieſe Vorgänge zur Norm zurückkehren: wir be— kommen ſchließlich das wenig erleuchtete ſchwarze Geſichtsfeld. An das zeitliche Nachſchwingen und Nachempfinden fügen wir einige Worte über das räumliche Mitſchwingen und Mit— empfinden. Daß die räumliche poſitive Irradiation der Objektbilder auf unſere Netz haut ſehr für transverſale Schwing— ungen unſerer empfindenden Netzhautfaſern ſpricht, indem die Ausbreitung heller Bil— der auf Mitſchwingen von nicht getroffenen Faſern beruht, wenn ſie von nachbarlichen bewegten Faſern zum Mitſchwingen gebracht werden, iſt leicht einzuſehen. Leicht abzu— leiten iſt auch, daß das Mitſchwingen räum- lich um ſo weiter reichen kann, je intenſiver der objektive Reiz, und das Mitempfinden um jo ausgedehnter fein kann, je größer der relative Reizunterſchied zwiſchen den hellen und dunkeln Theilen des Geſichtsfeldes iſt. Hingegen wäre es ſchwer, aus den Vor— gängen in der Netzhaut die ſogenannte negative Irradiation zu erklären, welche Volkmann experimentell dargethan hat; Ein Blick auf die Verſuche von Volk— mann legt jedoch die gegründete Vermuth— ſelbſt iſt dieſer Anſicht. ung nahe, daß die negative Irradiation pſychiſchen Urſprungs ſei, und Volkmann Wenn aber die negative Irradition pſychiſchen Urſprungs iſt, kann fie mit unſern fundamentalen Au— nahmen für die Netzhaut nicht in Colli— ſion kommen. An die Reihe von Erſcheinungen, welche wir für unſere Annahme theils direkt be— weiſend, theils mit ihr vereinbar darzuſtellen uns bemüht haben, iſt nur Weniges mehr anzufügen. ſie bei Farbenblindheit am häufigſten be— obachtet iſt, kann ihren Grund haben in geringer Ausbildung der Zapfen: daß dieſe alſo zunächſt kleinere Dimenſionen haben, oder daß ihre Elaſticität abnorm iſt. Die ſeltener vorkommende Unempfindlichkeit für Grün“) könnte in Elaſticitäts-Abweichungen der Zapfen begründet ſein und müßten wir uns vorſtellen, daß in dieſem Falle etwa die Zapfen für die raſcheren Ober— ſchwingungen zu träge — rigid — ſind. Eine ähnliche Annahme hätten wir bei der Un- empfindlichkeit für Violett bei den Stäb⸗ chen zu machen, ein Zuſtand der übrigens erfahrungsgemäß zu den großen Raritäten gehört. Nicht weniger leicht können die ſenilen Veränderungen in der Farbenwahrnehmung, wie ſie bei einzelnen Malern ſich kund gaben, mit den ſenilen anatomiſchen Veränderungen ) Anmerk. d. Red. Nach den Unter- ſuchungen von Fr. Stilling in Caſſel ſoll Rothblindheit mit Grünblindheit und Gelb— blindheit mit Violettblindheit verbunden auf— treten. Kosmos, Jahrg. II. Heft 12. Lederer, Zur Mechanik der Farbenwahrnehmung. 457 | der Netzhautfäſerchen als parallel gehend aufgefaßt werden welche theils in ihren Dimenſionen, beſonders der Dicke nach, ge— ringer, theils in ihrer Schwingungsfähigkeit 8 beſchränkter — rigid — werden. Die Unempfindlichkeit für Roth, wie Als direkt beweiſend für die transver— ſalen Schwingungen der Netzhautelemente, und ſpeciell der Stäbchen glauben wir zum Schluß noch die pathologiſchen Funktions— ſtörungen anführen zu müſſen, wie ſie bei nicht ſtürmiſchen Anfangsſtadien der Glau— coma (oder ſeröſen Chorioiditiden) zur Be— obachtung kommen. Mit Zunahme des intraoculären Druckes und genau zuſammenfallend mit den quanti— tativen Schwankungen deſſelben beobachten wir da vor Allem peripheriſche Einengung des Geſichtsfeldes bei Abnahme des Druckes. Der verſtärkte intraoculäre Druck iſt alſo offenbar alleinige Urſache der krankhaften Funktionsſtörung. Nun kann aber der verſtärkte intraoculäre Druck mechaniſch dem Schwingen der Faſern ein Hinderniß bieten. Dieſes mechaniſche Hinderniß muß die dünneren Stäbchen früher treffen, als die ſtärkeren Zapfen, und daher wird das Sehen mit den peripheriſchen Netzhauttheilen zuerſt gehindert, weil hier eben Stäbchen vorzugsweiſe oder ausſchließlich das Sehen vermitteln. 60 Die Behandlung des Alters. Ethnologiſche Studie von Carl Haberland. wei durchaus entgegengeſetzte Be— handlungsarten des Alters treten uns bei den verſchiedenen Völkern entgegen. einen das Alter im Beſitze der Ehrenſtellen, voller Anſehen und Einfluß, | jein Wort von Gewicht, fein Rath geſucht, Beleidigung und Mangel an Achtung mit Strafe bedroht, ſo bieten uns andere dazu das Gegenbild; mißachtet und verſpottet, eine Laſt für ſeine Umgebung, mangelhaſt verpflegt, erſcheint es hier als ein Uebel in der Familie, deſſen man ſich ſo gut wie möglich zu entledigen ſucht, und dieſe ſelbſt ſchaudert vielfach nicht davor zurück, den einſtigen Erzeuger und Ernährer | durch das ſogenannte natürliche Gefühl, welches gerade bei dem Naturmenſchen ja überall zurücktritt vor dem überkommenen Brauch und der ererbten Anſchauungsweiſe, und in beiden gänzlich untergegangen iſt. Um dieſe beiden Behandlungsaxten aber in etwas zu verſöhnen und ihren Contraſt erklärlich zu finden, müſſen wir uns ihnen gegenüber auch das Bild des Alters nach feinen beiden Sehen wir bei den Seiten vorſtellen: Auf der eiuen daſſelbe als die reife Frucht des Daſeins, als Inbegriff der Erfahrungen eines Lebens und dadurch wichtig für die folgende Generation, als Inhaberin der Tradition und der Kenntniß des Brauches der Vorfahren, emporgehalten durch die Rückſicht und Achtung, welche ihm erwieſen wird, und dadurch ſelbſt wieder Achtung erweckend; auf der andern als das abſterbende Leben, als der Verfall der Kraft, ſowohl der körperlichen als der geiſtigen, und daher als ein zweites Kindes— alter mit all der Hülfloſigkeit des erſten, direkt dem Tode zu weihen, berechtigt dazu durch den Gebrauch und nicht zurückgehalten aber ohne die Hoffnungen, welche dieſes erweckt und welche für daſſelbe Intereſſe erwecken, ohne die Liebe, welche dieſes findet, unnütz für die Geſellſchaft und ſelbſt geiſtig und ſittlich herabgekommen durch die Ver— achtung, welche ihm gezeigt wird, durch den Mangel genügender Pflege aber ſich ſelbſt zur Laſt und eine Auflöſung erſehnend. Haberland, Die Behandlung des Alters. Dieſer letztere Zuſtand des Alters iſt es, welchen in beredten Worten die Poeſie der Völker ſchildert, jo namentlich in orienta— liſcher Bildlichkeit der Prediger Salomonis, ſo Sophokles in ſeinem Oedipus in Kolonos, jo Shakespeare in ſeinem Lear. Ihn ſtellten die Griechen dar in der Dicht— ung von Tithonos, dem feine Gemahlin, die Eos, wohl Unſterblichkeit, aber nicht die immer mehr und mehr abfallend, alle Wider— lichkeiten des höchſten Alters aufwies, bis endlich nur noch ſeine wie eine Cikade wispernde Stimme als Zeichen des Lebens blieb; ihn zeichnet die Tradition der Todas, wenn ſie erzählt, daß die Vorfahren nicht hätten ſterben ſollen, daß aber, als die Zeichen des Alters und der Gebrechlichkeit ſich bemerkbar gemacht hätten, und Gott geſehen, daß ſie nur das Haus durch ihre Schwäche verunreinigten und einzig eine Bürde ihrer Kinder waren, es dieſer doch für gut gehalten hätte, fie ſterben zu laſſen !“), und ihn ſchildert gleichfalls die deutſche ſprich- wörtliche Redensart „Alte Leute ſind zwei— mal Kinder“ und die empörenden Namen Pfuehähni und Stinkähni, womit die Lieb— loſigkeit in der Schweiz gebrechliche Ur— eltern zu bezeichnen wagt , am bezeichnend— ſten aber ohne Worte jene Greiſin in Schleſien, welche ſich ſelbſt den Tod gab, weil ſie glaubte, Gott habe ſie abzurufen vergeſſen ?). In dieſer Verfaſſung, Adern und Muskeln ſichtbar und an der Haut klebend, die Sinne ſtumpf, die Sprache rauh und unmelodiſch, verlaſſen wie ein ab— geſtorbener Baum im Walde, erſchien auch ) Miſſionär Greiner im Baſeler Miſſionsmagazin 1840. Heft 3. S. 124. 2) Wackernagel, Kleine Schriften. Bd. J. S. 16. ) Ebendaſelbſt. | 459 das Alter dem indiſchen Königsſohne, ehe er als Buddha der Stifter eines neuen Glaubens wurde, und rief ihn vom Rauſch und Taumel des Lebens zurück !). In wie weit die Lebensart und die Lebensgewohnheiten der einzelnen Völker auf den Eintritt des Greiſenalters, ſowie auf die Beſchaffenheit deſſelben, auf die mehr | allmälige oder plötzliche Abnahme der körper— Erhaltung der Jugend erbeten hatte, und der, lichen und geiſtigen Kräfte, auf den Grad und die Art der geiſtigen Fähigkeit des Alters einwirken, und in welcher Wechſel— beziehung ferner dieſe Momente mit der Behandlung ſtehen, welche das Alter findet, wäre wohl einer näheren Unterſuchung werth; wir begnügen uns aber hier mit einer einfachen Darſtellung der Art und Weiſe, wie bei den einzelnen Völkern ſich die Familie oder auch die ſtaatliche Ge— meinſchaft dem Alter gegenüber ſtellt. Hierbei dürfen wir indeſſen nicht außer Acht laſſen, daß einerſeits die Achtung, welche dem Alter gezollt, die Bedeutung, welche ihm zuge— ſtanden wird, hauptſächlich ſich auf das noch kräftige, namentlich aber das noch geiſtig friſche Greiſenalter bezieht; das wirklich ſchwache aber nur die als Abglanz dieſer Achtung zu betrachtende Rückſicht findet, andererſeits aber die Mißachtung ſich eben auch nur auf letzteres, auf das wirklich hülfloſe beſchränkt und noch nicht eintritt, ſo lange überhaupt noch Rüſtigkeit, wenn auch in verringertem Maße, was ja auch häufig durch die lange Erfahrung compenſirt wird, vorhanden iſt. Eine hohe Ehrfurcht vor dem Alter, welches übrigens bei ihnen nicht hoch, faſt nie über ſechzig Jahre hinauskommt , ) M. Müller, Eſſays, deutſche Aus- gabe. Bd. I S. 185. 2) Zeitſchrift für Ethnologie Bd. V. Ver- handlungen S. 185. 460 herrſcht bei den Negerſtämmen, liebevolle Pflege wird ihm zu Theil, bedeutend iſt ſein Einfluß in den allgemeinen Angelegen— heiten des Dorfes und Stammes, ſo daß zuweilen, wie in der Gabonregion, die dort allerdings wenig einflußreichen Häuptlinge ihr Anſehen einzig von ihrem Alter ab— leiten !), oder, wie in Süd-Guinea, der König gewiſſermaßen als das Oberhaupt einer An— zahl bejahrter Patriarchen erſcheint?); ehr— erbietiges Benehmen den bejahrten Perſonen gegenüber wird frühe den Kindern einge— prägt und vielfach gilt es als ein ſchweres Verbrechen, wenn ein Jüngerer ſich irgendwie unehrerbietig gegen einen Bejahrteren be— nimmt?). In einzelnen Gegenden laſſen ſich ſogar die jungen Leute auf das Knie nieder, wenn ſie einer alten Perſon die Pfeife reichen, und reden dieſe ſelbſt als Vater oder Mutter an 4). Die Suſuer kannten dementſprechend als Ehrentitel für das Alter die drei Anreden: „alter Mann“, „alter Vater“, „alter Großvater“, und brauchten dieſelben, je nachdem ſie ihm eine größere oder geringere Achtung zollen wollten; bei den Bullamern war für alte Leute ein beſonderer Ausdruck im Gebrauch, und es war verboten ſie anders zu nennen, nur als Unterſcheidung wurde ihr eigent— licher Name hinzugefügt ?). Entgegengeſetzt dem Erfahrungsſatze, daß eine milde Erziehung der Kinder und die Abweſenheit von Strafe und Schlägen im Jugendalter beim Größerwerden der Kinder ) Globus Bd. VII, S. 146. 2) J. L. Wilſon, Weſt⸗Afrika. Ueber⸗ ſetzt von Lindau. Leipzig, 1862. S. 199. 3) Ebendaſelbſt, S. 54. 199. 292. Th. Winterbottom, Nachrichten von der Sierra Leona Küſte und ihren Bewohnern. Ueber— ſetzt von Ehrmann. Weimar 1805 S. 273. ) Globus Bd. VII, S. 146. 5) Winterbottom a. a. O. ©. 273 Note. Haberland, Die Behandlung des Alters. von Liebloſigkeit und mangelnder Achtung vor den Eltern und ſpäter von Vernach— läſſigung derſelben gefolgt wird, findet ſich hier eine milde Erziehung und ein ſchönes Verhältniß der Kinder zu den Eltern in den ſpäteren Jahren vereint; ſelbſt wenn die Eltern, welche meiſt abſolute Gewalt über die Kinder haben, dieſelbe auch noch in ſpäteren Jahren durch eine Züchtigung geltend machen, wird ihnen dabei von den Kindern gewöhnlich kein Widerſtand ge— leiſtet. Nur wo fremde, faſt ſtets durch den Handel vermittelte Einflüſſe ſich geltend machen, da ſchwindet dieſer Geiſt der Pietät und Nichtachtung tritt an ſeine Stelle. Namentlich iſt es aber die Mutter, auf welche ſich die Zärtlichkeit der Kinder er— ſtreckt, eine natürliche Folge des polygamen Familienlebens, in welchem ſich das Intereſſe des Vaters auf eine große Zahl von Kindern vertheilen muß, und daher bei den Streite— reien zwiſchen den Frauen, welche ja natur— gemäß in dieſem Familienleben eine große Rolle ſpielen, die Mutter ſtets die Schützerin ihrer Kinder iſt, während der Vater beſon— ders in den früheren Jahren ihnen fern ſteht und ſich wenig um ſie kümmert; auch iſt dabei zu berückſichtigen, daß in vielen Läudern der Neger die Kinder dem Stande der Mutter folgen !). Dieſe Liebe zur Mutter ſpricht ſich rührend in vielen Zügen und zwar bei den verſchiedenſten Negervölkern aus, Züge, welche wir in dieſer Innigkeit und Allgemeinheit vergebens bei in der Cultur viel höher ſtehenden Völkern ſuchen werden. Die größte Be— leidigung, welche man dem Neger anthun kann, iſt die, daß man verächtlich von ſeiner Mutter ſpricht, oder, wie er ſelbſt es aus— ) Th. Waitz, Anthropologie der Natur- völker, fortgeſetzt von G. Gerland. Leipzig 1859/72 Bd. II, S. 121, 122, 153. wie „Schlage mich, nur ſchmähe meine Mutter nicht!“ hatte Mungo Park?) oft Gelegenheit, bei den Mandingos zu hören. Clapperton!) ſuchte vergebens in Borgu ein muſikaliſches Inſtrument, welches ihm gefiel, zu erhandeln, der Be— ſitzer war nicht dazu zu bewegen, weil er ſeinen verſtorbenen Eltern darauf vor— geſpielt hatte. Der Neger der Pfefferküſte, deſſen erſter Gedanke beim Erwachen ſeine Mutter iſt, wird in der Noth zuerſt ſie retten, ehe er an ſein Weib denkt, denn dieſe kann man wiederkaufen, die Mutter aber nicht“). Mehr nach dem Innern und Oſten des Sudan hinein ſcheint man dem Alter, wenigſtens in gewiſſen Beziehungen, ein ſchlechteres Los zu bereiten als im Weſten; drückt, „ſeiner Mutter flucht“, !) und Worte | | Haberland, Die Behandlung des Alters. 461 artiger Berichte mehr als zweifelhaft er— ſcheint. Wenn in Murghi nach Barth!) der Tod eines alten Mannes mit Jubel gefeiert, und nur der eines jungen beweint wird, ſo kann man daraus noch nicht auf ſchlechte Behandlung des Alters überhaupt ſchließen, ſondern es iſt dieſer Brauch, den uns mehr oder minder ausgeprägt auch andere Völker zeigen, nur der Ausdruck eines natürlichen Gefühles; warum ein Ereigniß beklagen, welches im Laufe der Natur liegt und die Ueberlebenden nur unnützer Mühen über— hebt und keinerlei Nachtheil zufügt. Wir müſſen uns dabei eben unſerer Anſchauungen entſchlagen, ebenſo wie z. B. bei dem Falle, wo ein Neger ſeine Mutter todtſchlug, weil ſie als Geiſt beſſer für ihn ſorgen könnte mehrfach wird uns dort von dem Tödten Alter und Gebrechlicher, z. B. in Kordofan | und Faſſoklö), ſelbſt von dem Auf— freſſen alter und kranker Leute ), ſogar vom Tauſch dieſer leckeren Braten zwiſchen den Familien, ſo daß die empfangende mit ihrem eignen nächſten Opfer bezahlt,“) be— richtet; allerdings, was den Kanibalismus anbetrifft, immer nur als Erzählung von Leuten anderer Stämme, ſo daß bei dem Beſtreben, fremde Völker möglichſt ſchlecht und furchtbar zu machen, die Wahrheit der— ) Winterbottom, a. a. O. S. 273 2) Reiſen im Innern von Afrika 1705 — 1797. Aus dem Engliſchen. Berlin, 1799. S389 237 f 3) Zweite Reife in das Innere von Afrika. Aus dem Engliſchen. Jena 1829. S. 320. 4) Wilſon, a. a. O. S. 82. 5) Waitz, a. a. O. Bd. II, S. 26 6) Clapperton, a. a. O. ©. 443 (von dem zu Jacoba gehörigen Bezirk Umburm). ) W. Studien. Munzinger. Oſtafrikaniſche Schaffhauſen 1864. S. 559. und ihm nützlicher fein würde 2), und uns in von den unſern ganz verſchiedene Ge— dankenkreiſe verſetzen. Bei den Abeſſinien angrenzenden Völkern finden wir einen auffallenden Gegenſatz zwiſchen den Kunäma und Bazen, bei welchen eine Art demokratiſcher Gemeinde— verfaſſung vorhanden iſt, einerſeits, und den Beni Amer, den Bogos und den übrigen Grenzvölkern, wo das ariſtokratiſche Familien— princip herrſcht, andrerſeits. Bei den erſte— ren ruht bei dem Greiſenalter die eigent— liche politiſche Macht, die Greiſe bilden die Behörde des Dorfes, ihr Ausſpruch wird unbedingt geachtet und der Widerſtand des Einzelnen vom ganzen Dorfe ge— brochen; ihr mächtigſtes Mittel aber iſt der Fluch, welchen ſie über den Verletzer ihrer Gebote, im Frieden zum Beiſpiel über jeden Raubzug, ausſprechen, und welcher auf das ärgſte gefürchtet wird. Dieſer hohen Gelt— ) Reiſen und Entdeckungen in Nord— und Central-Afrika 1849 — 55. Im Auszuge. Gotha 1859/60. Bd. I. S, 407. 2) Globus Bd. VII, S. 146. 462 Haberland, Die Behandlung des Alters. ung des Alters eutſpricht natürlich auch das | Mütter zu ſchwören pflegen !), die fonft in Benehmen ihm gegenüber, Ehrfurcht ſpricht ſich in ihm aus, und nie wird es ein Jüngerer wagen, ſich in das Geſpräch älterer Perſonen zu miſchen. Nicht einmal vor ſeinen Eltern darf der Jüngling reden, ihr Gebot wird ohne Widerſpruch, ſollte es auch noch ſo ungerecht ſein, befolgt, nament— lich aber wendet ſich die Liebe der Kinder, wie bei den Negern, wieder der Mutter zu. Sowohl dieſe politiſche Geltung des Alters, als auch die kindliche Pietät fallen bei der zweiten Klaſſe von Völkern fort; an Stelle des erſteren iſt eine Art ariſtokratiſcher Familien— verfaſſung getreten, an Stelle der letzteren aber, harmonirend mit einer laxen, über— mäßig nachſichtigen Erziehung, ein liebloſes Benehmen den Eltern gegenüber, welches bei den Beni Amer der bejahrten Mutter gegenüber ſo weit geht, daß der Sohn nicht einmal für ihren Unterhalt ſorgt, ſon— dern dieſe Sorge einzig den Töchtern zufällt!). Bei den Wakuafi und Maſai ſteht das Alter in hohem Anſehen, es zieht nicht mehr mit aus in den Kampf, ſondern überwacht zu Hauſe Alles 2); bei den Wanikas fand Krapf), daß die Jünglinge ſich nach geſchehener Begrüßung aus Ehrfurcht vor dem Alter zurückzogen; bei den Ovambos widmet man ihm treue Pflege und Wart— ung !). Dagegen zeigen uns die Hotten— totten eine ſehr geringe Achtung vor dem Alter, und wir finden bei ihnen, ebenſo wie bei den Damaras, von denen übrigens ) Munzinger, a. a. O. S. 474. 388.337. ) K. Andrece Forſchungsreiſen in Ar— abien und in Oſtafrika nach Burton, Speke, Krapf ꝛc. Leipzig 1861. Bd. H, S. 473. ) Baſeler Miſſionsmagazin 1850. Heft 4. S. 76. ) Andrei, aa. O. Bd. II, S. 70. Afrika nur vereinzelt auftretende Sitte des Sichentledigens alter, unbrauchbar gewor— dener Perſonen durch die eigenen Anver— wandten. Bei den Damaras geſchieht dies entweder durch direkten Mord 2) oder indem man fie im Walde verhungern läßt? ), bei den Hottentotten iſt nur die letztere Todes— art gebräuchlich; man überläßt ſie mit etwas Speiſe und Trank in einer abgeſonderten Hütte oder Umzäunung dem eigenen Schick— ſal“). Die häufige Tödtung und Verſtoß— ung alter Perſonen bei den Matebele geſchieht immer unter Anklage der Zauberei), wie wir ein gleiches Verfahren auch bei den Grönländern gegen die alten Weiber kennen lernen werden. Der Indianer Nordamerikas verbindet mit einer im Allgemeinen ſehr zärtlichen Liebe zu ſeinen Kindern eine große Pietät gegen das Alter, und je älter der Greis iſt, deſto ehrerbietiger hört man den Ruf deſſelben an, der Rath des Großvaters namentlich iſt von großem Gewicht bei ſeinen Enkeln, wie denn auch in der guten alten Zeit die betagten Leute reſpektvoll als Großvater oder Großmutter angeredet wur— den und man ihnen nie, weder im Hauſe noch außerhalb, widerſprach 6). Und den— noch darf es uns nicht Wunder nehmen, daß wir bei vielen Stämmen die Sitte finden, das Alter nicht ſein natürliches Ende ) Peſchel, Völkerkunde, Leipzig 1875. 9 f 8 | ©. 493. 514. die Herero trotzdem bei den Thränen ihrer 2) Galton, The narrative of an explorer in tropical South Africa. London 1853. p. 112. 3) Andrée a. a. O. Bd. II, ©. 70. 4) Waitz, a. a. O. Bd. II, ©. 314. Fr. Müller. Allgemeine Ethnologie. Wien 1873. | | | | | S. 90. 5) Fritſch, 3 Jahre in Südafrika. Bres-. lau 1868. S. 392. 6) Waitz, a. a. O. Bd. III, S. 114-116. Haberland, Die Behandlung des Alters. finden zu laſſen, ſondern demſelben zuvor— zukommen und die Greiſe zu tödten. Wir müſſen uns nur davor hüten, mit unſeren Ideen von Recht und Unrecht an die Hand— lungen von Naturvölkern zu treten; Eltern— mord, bei uns das unnatürlichſte, fluch— würdigſte Verbrechen, erſcheint bei ihnen oft als ein Ausfluß kindlicher Liebe, als eine Pflicht, welche die Erzeuger von ihren Kindern fordern. So ſehr der Naturmenſch am Leben hängt, wie uns ſchon die Seltenheit des Selbſtmordes ohne beſondere Urſachen lehrt, ſo ſehr all ſein Thun, ſein Wünſchen und Hoffen auf dieſes Erdenleben gerichtet und einzig auf daſſelbe eingeſchränkt iſt, ſo leicht macht ſich andererſeits bei Verfall der Kräfte und bei den vielfachen Unan— nehmlichkeiten im Alter die Sehnſucht nach einem Aufhören dieſer freudloſen Exiſtenz geltend. Die beiden Thätigkeiten, welche ſeine Zeit als Mann ausfüllten, die Jagd und der Krieg, verſagen ſich ihm, ohne daß ein Erſatz ſich dafür böte; fremd und fremder wird ihm ſein Stamm, ſein Intereſſe an deſſen Thaten und Schickſale ſchwindet mehr und mehr, da Schwäche ihn hindert, in eine Bezahlung für die Erdroſſelung anbieten“). ſeinen Thaten mit ihm zu leben, und nichts bleibt ihm, die Oede ſeines Daſeins, deſſen unvermeidliche Unannehmlichkeiten ihn drücken, auszufüllen. Und wenn Unglück im Kriege ſeinen Stamm trifft, wenn nur Flucht ihn retten kann, wenn feindlicher Ueberfall, deſſen ſich bei dem allgemeinen Kriegszuſtande des Naturmenſchen dieſer ſtets verſehen muß, ſein Dorf trifft, was iſt ſein Loos? — ein unrühmlicher Tod ohne Widerſtand oder eine Trophäe in der Hand des Feindes, beides ein gleichgefürchtetes und verab— ſcheutes Schickſal. Und ſchon abgeſehen davon, welche Entbehrungen, welche Schwierig— keit des Fortkommens, welche Mühſeligkeit für den Altersſchwachen auf den fortwähren— 463 den Wanderungen, zu welchen die Natur durch unzureichende Nahrungsbewilligung den culturloſen Menſchen zwingt. Wie natürlich iſt nicht da der Wunſch, da kein moraliſches Gefühl den Naturmenſchen an das Leben bindet, von Allem erlöſt zu ſein, und ſeine Verwandten um den letzten Liebes— dienſt zu bitten. Der nächſte Verwandte, alſo der älteſte Sohn, iſt denn auch meiſt bei den Indianern der Vollſtrecker des über ſich ſelbſt ausgeſprochenen Todesurtheils ). Ueberhaupt ſteht natürlich nur der Familie das Recht der Tödtung zu; ſollte ſie indeſſen im allgemeinen Intereſſe liegen, ſo beſchließt auch wohl der Rath aller Stammesmit— glieder dieſelbe ). Auf den Antillen wurden ſelbſt die Kaziken im Alter trotz ihres gött— lichen Anſehens erdroſſelt?). Tödtung des Greiſenalters ohne Willen deſſelben ſcheint bei den Indianern nur ſelten und im Falle der Nothwendigkeit vorzukommen, vielmehr wird überall berichtet, das die Altgewordenen den Tod ſich erbitten oder die Tödtung als eine Pflicht fordern“), daß fie dabei als Grund anführen, ſie hätten es mit ihren Vätern auch jo gemacht?), daß ſie ſelbſt Bei den Vancouver-Indianern bedarf es jedoch zur Tödtung einer vorherigen Autori— ſation durch den Medicinmann 7). Wenn von Stämmen Neucaliforniens berichtet wird, daß ſie die Güte ihrer vergifteten Pfeile ) J. G. Müller, Geſchichte der ameri- kaniſchen Urreligionen. Baſel 1867. S. 137. 2) Waitz, a. a. O. III, S. 116. 3) J. G. Müller, a. a. O. S. 165. ) Waitz, a. a. O. Bd. III, S. 116. 5) G. Catlin, Die Indianer Nord— amerikas. Deutſch von H. Berghaus.“ Brüſſel 1850. S. 152. 6) The Church Missionary Intelligencer 1859. p. 239 (vom Mackenzie River). ) Das Ausland 1858. S. 621. 464 an alten Weibern probiren ſollen!), und dies ſich wirklich ſo verhält, ſo müſſen wir dabei bedenken, daß das weibliche höhere Alter vielfach mit dem Begriffe der Bös— artigkeit und Hexerei verknüpft erſcheint und daher häufigen Nachſtellungen und Gefahren ausgeſetzt iſt, wie man zum Beiſpiel auch am Mackenziefluſſe zuweilen alte Frauen im Verdachte hat, daß ſie ſich dem Kani— balismus ergeben haben, und ſie dann ohne weiteres tödtet ?). Bei den ſüdamerikaniſchen Stämmen herrſcht nicht die Ehrfurcht vor dem Alter und die Rückſichtnahme auf daſſelbe, wie bei ihren nördlichen Verwandten, denn wenn auch bei einzelnen Völkern Beiſpiele von Liebe und Rückſicht gegen die betagten Eltern, wie bei den Botokuden?), vor— kommen, und auch bei den Patagoniern das im Verhältniß zur läſſigen Erziehung gehorſame Betragen der Kinder hervorge— hoben wird!), jo ergiebt fi doch im All— gemeinen, daß der ſüdamerikaniſche Indianer ſich keinerlei Verpflichtungen gegen das hülf— loſe Alter bewußt iſt “), dieſes gänzlich ver nachläſſigt und oft ihm nicht einmal die nöthigſte Nahrung verabreicht, wie dies den Kariben vorgeworfen wird 6). Viele braſi— lianiſche Stämme tödten auch die alten Ver— wandten, wenn ſie ihnen läſtig werden, unter 9 Waitz, a. a. O. Bd. IV, S. 242. 2) The Church Missionary Intelligencer | 1859. p. 240. 3) Maximilian Prinz zu Wied, Reiſe nach Braſilien 1815 —17. Frankfurt 1820/1. Bd. II, S. 40. 1) G. Oha worth Musters, At home um den Tod als einen Liebesdienſt ). 5) C. F. Ph. v. Martius, Bon dem Rechts ... with the Patagonians. London 1871. p. 187. zuſtande unter den Ureinwohnern Braſiliens. München 1832. S. 72. 6) R. H. Schomburgk, Reiſen in Gui nea und am Orinoko 1835— 39. Leipzig 1841. S. 87. f Haberland, Die Behandlung des Alters. i | dem Vorgeben, daß für fie ja doch keine Freuden mehr übrig ſeien, und von einzelnen Stämmen wird uns ſogar berichtet, daß ſie das Fleiſch der verſtorbenen Verwandten aufzehren, wenngleich Tödtungen zu dieſem Zwecke nicht vorzukommen ſcheinen. Im alten Peru wurde das zu andern Geſchäften untaugliche Alter auf öffentliche Kosten er— halten und ihm als Gegenleiſtung durch ein Geſetz der Inkas die Verſcheuchung der Vögel aus den Feldern auferlegt !), eine Verordnung, würdig des ſtrenggeregelten ſocialen Lebens des alten Culturſtaates. Auch im alten Mexico war das Loos des Alters ein menſchenwürdiges. Gehen wir nun zu den nördlichſt wohnen— den Völkern über, ſo bieten uns ſowohl die Grönländer als die Koluſchen wiederum das Beiſpiel von zärtlichſter Liebe zu den Kindern, mit aller Nachſicht gegen die Un— arten derſelben (daher auch bei den Koluſchen, wie gleichfalls bei den Aleuten, die Erziehung der Knaben dem Großvater überlaſſen wird), ſowie das eines dankbaren Benehmens der Kinder den betagten Eltern gegenüber, wovon Ausnahmen bei beiden Völkern kaum vor— kommen. Sehr alte Weiber fanden aller— dings bei den Grönländern häufig das Schickſal lebendig begraben oder in die See geworfen zu werden, aber dieſe Weiber galten bei ihnen eben als Hexen und fanden ſich daher Gründe, fie zu tödten, ſehr leicht 2). Das Begraben altersſchwacher Leute aus Mitleid, um ihnen das Hinſiechen zu er— ſparen, wird von den Eskimo berichtet, und bei den Tſchuktſchen bitten ſolche gleichfalls Bei ) Mart ius, a. a. O. S. 73. 72. 2) Erman in der Zeitſchrift für Ethno— logie. Bd. II, S. 382. — D. Cranz, Hiſtorie von Grönland. Barby 1765 S. 214. 3) J. C. Prichard, Naturgeſchichte des 1 * Haberland, Die Behandlung des Alters. den Tuski wird der freiwillig ſich den Tod | weihende Greis in eine mit Moos gefütterte Grube gelegt, das Blut eines zu dieſem | Zwecke geſchlachteten Thieres hineingegoſſen, und er dann nochmals gefragt, ob er ſterben wolle; nachdem er dies bejaht, reibt man ihm eine betäubende Subſtanz in die Naſe, öffnet ihm die Adern und durchbohrt das Herz h. ungemeſſene Freiheit ihren Kindern wie die obengenannten Völker, aber mit entgegen— geſetztem Erfolg, ihr Alter bringt ihnen Verachtung und Verdruß, und überhaupt Erhaltung nur, weil die Verweigerung der— ſelben als Schande gelten würde?); trotz— dem bietet aber die lappiſche Sprache merk— würdigerweiſe in den Bezeichnungen „Vater“ und „alter Mann“ die höchſten Ehrenbe— zeichnungen, wie überhaupt die finniſchen Stämme auch ihrem Hauptgott gern das Epithet des Greiſes oder Großvaters geben.“) Der Auſtralier ehrt trotz ſeines tiefen Standpunktes in der Culturentwickelung das Alter wenigſtens ſo lange als es noch ſeine Kräfte hat, und überläßt höchſtens ganz alte Leute, wenn ſie ihrer Umgebung zur Laſt fallen, ihrem Schickſale, jedoch auch dies noch nicht einmal überall, da ſich genügende Beiſpiele von Pflege hülfloſer Perſonen finden; namentlich ſcheint der Weſten, wo auch die alten Weiber beſſer behandelt werden, in dieſer Beziehung höher zu ſtehen als der Oſten.“) Die beſte Nahr— ner. Leipzig 1840/8. Bd. III, Abth. 2 S. 472. 1) Fr. Müller, a. a. O. S. 209. 2) Allgemeine Hiſtorie der Reiſen zu Waſſer und zu Lande, Leipzig 1849 ff. Bd. XX, S. 551. Beſchreibung aller Nationen des ruſſiſchen Reiches. Petersburg 1776. Bd. I, S. 11. 3) Berghaus-Lüdde, Zeitſchrift für Erdkunde. Bd. II, S. 503, VII, S. 395. ) Globus Bd. XXXII, S. 382. Die Lappen geſtatten die gleiche | | 465 ung gehört in Auſtralien den Greifen, Be— freiung vom Kriegsdienſte und von der Ar— beit wird ihnen gewährt, ja die herrſchende Gewohnheit, die Mädchen bald nach der Geburt einem angeſehenen älteren Manne zu verloben !), bringt es mit ſich, daß namentlich das Alter, und dieſes ſogar viel— fach ausſchließlich, ſich im Beſitze der größe— ren Frauenzahl befindet. Dies bedeutet aber zugleich, da das Weib dienende Ar— beitskraft iſt, Beſitzer der größern Bequem— lichkeit und des größeren Wohlſtandes zu ſein, und gewährt vielfach noch einen be— deutenden Einfluß auf den Stamm, da bei dem herrſchenden Weibermangel die Jünglinge oft auf die Weiber angewieſen ſind, welche ihnen das Alter überläßt, und jene dadurch in eine Art Abhängig— keit von demſelben kommen.?) Neben dieſer guten Stellung der Alten treffen wir aber auch Tödtung, ja ſelbſt Auffreſſen der- ſelben, theils aus den gewöhnlichen Grün— den, theils aber auch unter Mitwirkung religiöſer Motive.) N Den Gegenſatz zu den Auſtraliern fin— den wir bei den viel höher in der Cultur und der geiſtigen Entwickelung ſtehenden Polyneſiern. Mit Ausnahme von Tonga, wo das Alter wegen ſeiner Weisheit ge— ſchätzt, und auch die Erziehung eine ver— nünftigere und ſtrengere iſt “), und von Samoa, wo die ausgebildete Familienver— faſſung ſchon auf eine größere Bedeutung des Alters hinwirkt und zum Beiſpiel nur Wen A Wag dieſes die Berechtigung zum Eintritt in den ) Waitz-Gerland, a. a. O. Bd. VI, S. 781, 774. 2) Baſeler Miſſionsmagazin 1842. Heft 2. S. 15 (von Wellington-Valley). 5) Waitz-Gerland, a. a. O. Bd. VI, S. 747 782. ) Ebendaſelbſt S. 135, 136. Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. 61 nn —-— \_ 466 Rath gewährt‘), treffen wir überall auf eine ſehr ſchlechte Behandlung des Alters, Vernachläſſigung durch die Kinder, über— müthiges und wegwerfendes Betragen ſeitens derſelben, was nicht zu verwundern iſt, wenn die Stellung der Kinder eine der— artige iſt, daß auf Tahiti der Erſtgeborene ſofort nach der Geburt als Haupt der Familie betrachtet wird; ja ſelbſt öffentlicher Spott iſt dem Alter hier oft nicht erſpart. Nur das Tödten der Altersſchwachen finden wir nicht, außer vereinzelt im weſtlichen Polyneſien, wo auf Tobi der Altersſchwache in einem lecken Kahne zur Reiſe in das jenſeits des Meeres gelegene Geiſterreich den Wellen überlaſſen wird ). Trotz des ſchlechten Familienverhältniſſes erſcheint aber. auch in Polyneſien, ſowohl auf Tahiti als auf den Markeſasinſeln, als ärgſte Be— leidigung die Erwähnung der Mutter in den Flüchen, wie wir dies ſchon bei den Negern getroffen haben; aber während dieſe Sitte bei den letzteren aus der Liebe zur Mutter ihren Urſprung nimmt, wird hier bei dem Mangel kindlichen Gefühls nur die einfache Rückſicht auf die Abſtammung und der dadurch hervorgerufene Schimpf wirkend ſein. Erziehung iſt in Auſtralien und hier die— ſelbe, übergroße Zärtlichkeit, Nachgeben Die Behandlung der Kinder in der Haberland, Die Behandlung des Alters. die Cultur uns das Bild der Abweſenheit eines moraliſchen Gefühles bietet, das wohl zu erwartenden geweſen wäre. Das Tödten alter gebrechlicher Perſonen, welches in Polyneſien fehlt, ſtellt ſich uns dagegen in höchſter Blüthe bei den Mela— neſiern, namentlich bei ihren Hauptvertretern, den Fidſchiinſulanern, dar, und zwar als eine von den Vätern ererbte Sitte, von welcher abzuweichen als eine Schande für die Familie betrachtet wird. Die Eltern fordern es als eine Pflicht von ihren Kin— dern und ſehen dem Tode ruhig in dem Glauben entgegen, daß er zu ihrem Beſten ſei, da man im Jenſeits jo weiter lebe, wie man hier ſtirbt, ein rechtzeitiger Tod alſo, außer daß er ein freudenloſes Daſein ab— kürzt, eine Bürgſchaft für ein freudenvolles ferneres Leben gewähre. Die Todesart iſt theils ein Todtſchlagen, theils ein Ausſetzen auf unbewohnten Inſeln, wie beides in Ku— naie vorkommt, theils, und zwar vorwiegend, ein Erdroſſeln oder ein Lebendigbegraben, dieſes häufig gleichfalls mit einem Erdroſ— ſſeln, ehe der Körper gänzlich mit Erde be— deckt iſt, verbunden. Die ruhige Ergebung in ihr Schickſal geht bei den alten Leuten jeder Laune, ſelbſt wenn dadurch der Tod des Kindes eintreten kann, wovon uns Fälle aus Samoa berichtet werden ?), Abweſenheit aller Strenge, aber das Reſultat iſt das entgegengeſetzte: in dem primitiven Zuſtande ) Ch. Wilkes, Die Entdeckungsexpe— dition der Vereinigten Staaten 1838 — 42. Deutſche Ueberſ. Stuttgart 1848. Bd. I. S. 205. 2) Waitz⸗Gerland, a. a. O. Bd. VI, S. 135, Bd. V, Alth. 2. S. 150. ) Ebendaſelbſt Bd. VI, S. 122 136. ſo weit, daß ſie häufig ſelbſt ihr Grab graben und ruhig an dem voraufgehenden Feſte ſich betheiligen, um dann ſofort die Reiſe in das Jenſeits anzutreten.!) Das Grab wird bei den Häuptlingen und An— geſehenen weich mit Matten ausgepolſtert, die als Begleiterinnen und als „Todtenſpreu“ vorher getödteten Frauen zuerſt hineingelegt zeigt ſich die moraliſch höhere Form, während nochmals mit Matten und dann mit Erde und darauf der dem Tode Geweihte, welcher bedeckt wird.?) Auf den Neuhebriden führt man lebende Schweine an das Grab, bin— S. 639—44. 2) „Ausland.“ 1859. S. 114. det fie mit einem Stricke an den Arm des richtet wird, dem Tode Verfallenen und bedeckt dieſen alsdann mit Erde; ſobald er aber ausge— athmet hat, werden die Stricke durchſchnitten und die Schweine beim Leichenſchmaus ver— zehrt, dies aber nicht als ein Raub an dem Todten betrachtet, da man annimmt, daß ihm die Schweine im Jenſeits zu Gute kommen.!) Von derartigen Tödtungen altersſchwacher Perſonen und auch vom Eſſen ihrer Leichen wird uns gleichfalls bereits aus alten Zei— ten berichtet. wir in der Hauptſache wohl auf die Idee zurückführen müſſen, daß man dadurch einen Uebergang des geliebten Todten mit ſeinem Weſen und ſeinen Eigenſchaften in den Eſſenden hervorzubringen, oder auch ſich des Schutzes des freiwerdenden Geiſtes zu ver— ſichern vermöchte,?) und der auch mehrfach von ſüdamerikaniſchen Stämmen, früher auch von verſchiedenen Inſeln des indiſchen Oceans,s) jo namentlich von Sumatra, be ) C. Turner, Nineteen years in Poly- nesia. London 1859. p. 450. Idee, daß es beſſer und dem Todten ange— nehmer ſei, den Körper ſelbſt zu verſpeiſen, als ihn den Würmern zum Fraß zu überlaſſen. Ein Batta gab auf Befragen ſelbſt an, daß ſie aus Pietät, um den Würmern den Körper zu entziehen, dem Kanibalismus huldigten (Waitz⸗Gerland a. a. O. Bd. V. Abth. 1 S 189.) Am Urayali beklagte ſich ein getauf— ter Indianer bei ſeinem Tode darüber, daß ihn nun die Würmer und nicht ſeine Stamm— genoſſen verzehren ſollten (Globus, Bd. XXI. S. 302.) und von den Wilzen heißt es in einer alten Chronik, „daz fi iro parentes mit meren rehte ezen ſulten, dann die Wurme“ (J. Grimm, DeutſcheRechtsalterthümer, Göt— tingen 1828. S. 488,) ein merkwürdiges Vor— kommen genau deſſelben Gedankens an drei räumlich weit geſchiedenen Stellen. 3) F. Liebrecht, Gervaſius von Tilbury, Hannover 1856. S. 84. ſpeiſt hätten. Haberland, Die Behandlung des Alters. 467 wo noch bis in neuere Zeit hinein die Battas die greiſen Perſonen, welche auf einen Baum ſteigen mußten, nach Strabo die Männer, Der letztere Brauch, welchen von demſelben als eine reife Frucht zum Mahle herabgeſchüttelt haben ſollen, !) begegnet und bereits in den Berichten Herodots und Strabo's. Bei den Derbikern in der Gegend des Kaspiſchen Meeres wurden welche das ſiebenzigſte Jahr zurückgelegt hatten, ge ſchlachtet, und von den Verwandten gegeſſen, bei den Maſſageten galt nach ihm als der beſte Tod, im Alter mit Schaflfleiſch zuſammengehackt verſpeiſt zu werden und auch bei den Iren war das Verzehren der verſtorbenen Eltern, nach dem, was er ge— hört hatte, Brauch.?) Gleicherweiſe berich— tet Herodot )) von den Pädäern, noma— diſirenden, nach Oſten zu wohnenden Indern, daß ſie die Altgewordenen, wenn ſie nicht ſchon vorher bei Krankheiten zur Mahlzeit geſchlachtet wären, getödtet und dann ver— Ob dieſe Fälle auf Wahr- heit beruhen oder ſich auf zweifelhafte Be— 2) Mehrfach verbreitet findet ſich auch die richte ſtützen, läßt ſich nicht beſtimmen, doch kann man wenigſtens als Zeugniß für die Angabe Herodot's anführen, daß noch jetzt bei gewiſſen nichtariſchen in— diſchen Stämmen an der Narmada,?) ebenſo wie auch bei dem Gondſtamme der Binder— wurs,?) hier als ein der Göttin Kali wohl— gefälliger Akt, der Brauch des Verzehrens altgewordener Verwandten Sitte ſein ſoll. Unter den nichtariſchen Stämmen Indiens ') y Waitz⸗ Gerland a. a. O. Bd. V. Abth. 1. S. 186. 2) Geographie. Ueberſetzt von Kärcher. Stuttgart 1828/36. S. 953, 942. 349. Bd U IN ) M. Duncker, Geſchichte des Alterthums. Leipzig 1874 ff. Bd. III. S. 286. 5) Prichard, a. a. O. Bd. III, Abth. 2. S. 131. L zeichnen ſich übrigens verſchiedene, wie die Santhals, !) die Khonds, bei denen die väterliche Gewalt bis zum Tode eine ſchranken— loſe iſt und der Sohn bis zu dieſem Zeit— punkte kein Vermögen beſitzen kann, die Bodo und Dhimal, wo Verlaſſen der Eltern durch den letztgebliebenen Sohn mit Buße und Enterbung geſtraft wird,?) durch die Pflege und Liebe aus, welche ſie ihren alten und ſchwachgewordenen Erzeugern widmen, während bei den Hindus das Geſetz des Manu, das Liebe zu den Eltern, Achtung und Rückſicht vor dem Greiſenalter ſo ſtark einſchärft, in der Praxis vielfach unbeachtet gelaſſen und übertreten wird. Weniger Zweifel als die oben mitge— theilten Fälle geſtatten die ferneren Anga— ben Strabo's, daß die Baktrier Alters— ſchwache beſonderen, zu dieſem Zwecke ge— haltenen Hunden vorgeworfen, die Kaspier die ſiebenzigjährigen Greiſe getödtet und dann in die Wüſte gelegt hätten,“) denn das Tödten abgelebter Greiſe finden wir nicht nur jetzt als weitverbreitete Sitte, ſondern auch die alten Schriftſteller berichten noch von manchen derartigen Fällen. So erwürgten die Troglodyten am rothen Meere die Greiſe mit einem Ochſenſchwanz,s) und auf Sardinien erſchlugen die Söhne mit Keulen ihre altgewordenen Väter, weil ſie es für ſchimpflich hielten, in ſo hohem Alter, wo in Folge der Kräfteabnahme ſo mancher Fehler und Ungehörigkeit begangen wird, noch zu leben; ?) fo tödteten ſich heiteren Haberland, Die Behandlung des Alters. Muthes auf Keos die Greiſe durch einen h The Church Mission. Intell. 1860. p. 158. 2) Globus Bd. X. ©. 15. ) B. H. Hodgson, On the Origin etc, of the Köcch, Bodo and Dhimäl people (Jour- | nal of the Asiat Soc. of Bengal 1849). p. 119. | ) Strabo a. a. O. ©. 949, 954. Lieb recht a. a. OD. S 85. ) Aelian, Verm Nachrichten Bd. IV. K. 1. Schierlingstrank bei feſtlichem Mahle, wenn ſie fühlten, daß ihre körperlichen und geiſtigen Kräfte abnahmen,!) und ebenſo ſollen auch in Rom, nach der von Cicero und Feſtus aufbewahrten Tradition, in älteren Zeiten die ſechzigjährigen Greiſe von der Tiber— brücke hinabgeſtürzt worden ſein. Ein walachiſches Mährchen 2) meldet gleichfalls das Tödten der Greiſe als unnützer Per— ſonen, vielleicht noch ein Nachklang der rö— miſchen Tradition, da die Mährchen dieſes Volkes gleich ihren Gebräuchen vielfach auf römiſchen Urſprung hinweiſen. Auch unſeren eigenen Vorfahren war das Tödten Altersſchwacher nicht fremd; nicht allein, daß in den Zeiten allgemeiner Noth ſie nebſt den Unmündigen und Kran— ken dem Hungertode preisgegeben oder ander— weit getödtet wurden,) wie zum Beiſpiel ein derartiger Beſchluß in Island nur durch das zur Zeit gerade eindringende Chriſten— thum noch hintertrieben,“) und nach nordi— ſcher Ueberlieferung ein gleicher durch den klugen Rath der ſpäteren Königin Diſa, — eine durch das Loos beſtimmte Volks— hälfte als Coloniſten in die unbebauten nördlichen Gegenden zu ſchicken,?) — vereitelt wurde, ſondern es begegnet uns auch als feſtſtehende Gewohnheit, als durch Recht und Herkommen geforderte Sitte in den früheſten Zeiten unſeres Volkes. So wird es uns durch Prokop von den Herulern be— richtet, ſo aus dem Norden; an der Grenze 1) Ebendaſelbſt Bd. III. K. 37. 2) Wolff-Mannhardt, Zeitſchrift für deutſche Mythologie u. Sittenk. Bd. II. S. 112. ) Wackernagel, Kleine Schriften Bd. I. ieh ) Grimm a. a. O. ©. 487. 5) A. A. Afzelius, Volksſagen und Volkslieder aus Schwedens älterer und neue— rer Zeit. Ueberſetzt von F. H. Ungewitter, Leipzig 1842. Bd. I. S. 32 ff. 05 FE Haberland, Die Behandlung des Alters. Weſtgothlands war nach der Gautreksſage | | ein Felſen, von dem ſich die Greiſe, wenn ſie überalt geworden, gefolgt von ihren Die— nern, hinabzuſtürzen pflegten,“ ) heiter und frei— willig ſich der geheiligten Sitte fügend und ſo ſicher zu Odin gelangend. Nur dem nicht auf dem Krankenlager Sterbenden war dieſer Aufenthalt beſtimmt, und daher leicht erklärlich, wie der Greis den freiwilligen Tod, ſei es durch einen ſolchen Sturz, ſei es dadurch, daß er ſich ſelbſt aufhing, ) eine dem Odin gleichfalls genehme Todes— art, dem langſamen Hinſiechen vorzog. Auch dem freiwilligen Tode durch Hinaustreiben auf einem brennenden Schiffe, der bei den Wikingern beliebt war,“) liegt der gleiche Gedanke zu Grunde. Das Loos des hohen Alters war bei den Deutſchen kein beneidenswerthes; nur bis zu ſeinem ſechzigſten Jahre galt der Greis als voller Mann, dann begann all— mälig wieder ſeine Unmündigkeit und man— nigfach waren die Proben und Zeichen, wo— ran rechtlich erkannt wurde, ob er noch ge— nügende Kräfte beſaß, um als Mann, nicht als Unmündiger zu gelten. So lange er noch ungeführt und ungeſtabt gehen oder ſtehen, ſo lange er noch mit Schild und umgegürtetem Schwerte ein Roß beſteigen, ſo lange er noch einen, einen Morgen lan— gen Umgang pflügen oder noch ein Meſſer in den Baum oder Pfoſten ſtoßen konnte,“) ſo lange galt er als vollberechtigter Mann; war aber die dazu erforderliche Kraft nicht mehr vorhanden, dann wurde der Sohn Vormund des Vaters und dieſer ſank in ein Verhältniß zu ihm herab, welches dem 1) Grimm a. a. O. ©. 487, 486. 2) K. Simrock, Handbuch der deutſchen Mythologie. Bonn 1874. S. 238. 3) Afzelius a. a. O. Bd. I. S. 165.273. ) Grimm a. a. O. S. 95—97. 469 eines Knechtes zu feinem Herrn entſprach.!) Wackernagel ſieht ſogar in der Be— zeichnung Enke, einer Verkleinerungsform von Ahn, für Acker- und Viehknecht einen in unſere Zeit hineinreichenden Be— weis dieſer Sitte, und gleichſalls finden wir noch heute bei unſerem Bauernſtande in dem „Setzen auf den Altentheil“ unter milderer Form dieſes Herabſinken des Familienhauptes im höheren Alter von ſeiner Würde als Herr des Hauſes und der Wirthſchaft in eine, wenn auch nicht dienende, ſo doch untergeordnete Stellung. Wohl bleiben ihm theilweiſe noch Vorzüge, wie in Schwaben der Ehrenſitz im Ofen— ſeſſel, welcher erſt mit ſeinem Tode an den Erben übergeht, und den weder Knecht noch Fremder durch Benutzung entweihen darf,?) aber die Behandlung, welche ſo häufig die Eltern beim Sohne oder auch Schwieger— ſohne und den Enkeln finden, denen die Laſt der Erhaltung und die Schmälerung des Einkommens durch den Altentheil eine überflüſſige Bürde dünkt, iſt nicht diejenige dankbarer Liebe und wirft ein bedenkliches Licht auf den Mangel eines feineren moraliſchen Gefühls und auf die Rohheit der Geſinnung, welche vielfach die guten, zwar derben aber ſonſt unverdorbenen Sitten unſeres Bauern— volkes begleitet. Dieſe Nachtſeite der alten Sitte des Setzens auf den Altentheil ſchil— dern übrigens ſchon Gedichte des Mittel— alters,?) und ſelten nur begegnen uns auch in neuerer Zeit Schilderungen, welche von guter Pflege der auf den Altentheil geſetzten Eltern ſprechen, wie dies zum Beiſpiel den Saterländern nachgerühmt wird,“ jo daß ) Wackernagel a. a. O. Bd. I. S. 16. 2) A. Birlinger, Aus Schwaben. Wies⸗ baden 1874. Bd. II. S. 376. 3) Grimm a. a. O. S. 490. 3) Globus Bd. VII. S. 304. 170 das alte Symbol der Keule an den Stadt— thoren ſchleſiſcher und ſächſiſcher Städte mit der Unterſchrift: Wer ſeinen Kindern giebt das Brod Und leidet dabei ſelber Noth, Den ſchlage man mit dieſer Keule todt! ') ein aus alltäglicher Beobachtung hervorge— gangenes ſein wird. Bei den alten Slaven ſcheint im Gegen— ſatz zu den Deutſchen gerade das hohe Alter ein beſonderes Anſehen genoſſen zu haben; zeigte man ſchon überhaupt dem Alter gegen— über Achtung und Ehrfurcht, ſo ſteigerte ſich dies für die Periode des hohen Greiſen— alters zu einer Art religiöſer Verehrung und bis zum Tode blieb der Stammvater für die Familie das religiöſe Oberhaupt, dem wahrſcheinlich auch die Rechtsvertretung derſelben nach außen zufiel.?) Wenn trotz— dem auch hier wieder ſich Spuren der Tödt— ung des ſchwachen Alters finden, ſo müſſen wir uns eben die bereits entwickelte Anficht von derartigen Tödtungen als einer erwünſch— ten Wohlthat gegenwärtig halten, um bei— des, Greiſentödtung und Verehrung dieſer Altersſtufe, als gleichzeitig bei einem Volke vorhanden, begreifen zu lernen. Derartige Morde altersſchwacher Väter ſollen der Tra— dition nach ſogar noch um das ſechzehnte Jahrhundert bei den nördlich von Salzwedel wohnenden Wenden vorgekommen ſein, und zwar begleitet von beſonderen Ceremonien,“) ſo daß wir alſo einen feſtſtehenden Brauch vor uns haben. Aus früheren Zeiten wird dieſer Brauch mehrfach von den Wenden und Wilzen, ebenſo auch von den Preußen Haberland, Die Behandlung des Alters. berichtet.“) Ferner ſchreibt die Ueberliefer— ) Simrock a. a. O. S. 238. 2) J. J. Hanuſch, Wiſſenſchaft des fla- wiſchen Mythus. Lemberg 1842. ) Liebrecht a. a. O. S. 85 (n. Kuhn). | ) Grimm a. a. O. S. 488. ung in Norddeutſchland den Zigeunern viel— fach das gleiche Verbrechen zu; nach Olden— burgiſcher Sage wurden die greiſen Zigeu— ner lebendig begraben, indem man ihnen eine Pfeife zum Rauchen gab, ſie dann rückwärts zur Grube führte und unter Ge— ſchrei hineinſtieß. “) In Athen ſchärfte ſowohl das religiöſe Geſetz, als das ſtaatliche Gebot ſtreng die Achtung vor dem Alter ein und der Staat bedrohte mit Atimie die Verletzung der kindlichen Pflichten; wer ſeine Eltern miß— handelte, ihnen die Unterſtützung im Alter verweigerte oder die gebürende Beſtattung unterließ, verfiel dem Geſetz, indem er der bürgerlichen Rechte verluſtig ging; verflucht wurde, wer ſeinen Vater ſchlug. Der Pflicht der Kinder zur Unterſtützung der altgewordenen Eltern ſtand aber die Ver— pflichtung dieſer gegenüber, dem Kinde die Möglichkeit ſeiner ſpäteren ehrlichen Exiſtenz zu geben, entweder durch Hinterlaſſung eines dazu hinreichenden Vermögens oder durch Erlernenlaſſen eines Gewerbes; wer dieſe Pflicht verfehlte oder ſein Kind zur Be— friedigung der Wolluſt preisgegeben hatte, ging des Rechtes auf kindliche Unterſtützung verluftig.?) Den ſemitiſchen Völkern hat die pa— triarchaliſche Verfaſſung, welche ihr ganzes Leben durchdringt, ſchon in früheſter Zeit die höchſte Ehrfurcht vor dem Alter gelehrt. Wie noch jetzt bei den Arabern, ſoweit alte Sitte gilt, der Sohn in Gegenwart des Vaters ſich weder ſetzen, noch rauchen oder ſprechen darf, ebenſowenig wie der jüngere Bruder in Gegenwart des älteren, die ) Ebendaſelbſt. — L. Strackerjan, Aberglaube und Sagen aus dem Herzogthum Oldenburg. Oldenburg 1867. Bd. II. S. 12. ) Schoemann, Griechiſche Alterthümer. Berlin 1871/73. Bd. II. S. 551, 532. Jugend dem Alter überhaupt gegenüber durchaus reſpektvoll ſich benehmen muß, ebenſo forderte ſchon bei den Hebräern die gute Sitte dieſes ehrfurchtsvollen Betragen von der jüngeren Generation. Vor den Greiſen ſich zu erheben oder beſcheiden vor ihnen zurückzutreten, jedes vorlaute Darein— reden ſtreng zu meiden und dem grauen Haar jede Art von Ehre anzuthun, gehörte zu den Erforderniſſen des geſitteten Jüng— lings. Als Beſitzer der Lebensweisheit wurde der Umgang des Alters zu Zwecken der Bildung geſucht; als ein Lohn Gottes für den Gehorſam gegen ſeine Gebote be— trachtet, ſchmückte das graue Haar das greiſe Haupt mit einem Glanze, welcher ſchon über das irdiſche Leben hinauszuweiſen ſchien.!) Dieſe Verehrung des Alters ſpiegelt ſich bei den Semiten, wie auch bei verſchiedenen anderen Völkern, in den Bezeichnungen von Rang und Amt wieder; dem Wortlaute nach Altersbezeichnungen, iſt in ihnen dieſe urſprüngliche Bedeutung zurückgetreten oder ganz verſchwunden und nur die eines mit dem Alter als ſolchem einſt verbunden ge— weſenen Anſehens und Einfluſſes geblieben. So bedeutet der arabiſche Name für den Stammeshäuptling, „Scheich“, wofür bei den Stämmen der Diebi noch bezeichnender „Abu“ d. i. Vater eintritt,?) urſprünglich der Alte, der Greis; ſo finden wir bei den Hebräern die Bezeichnung „Aelteſte“ als reinen Rang- und Amtstitel, ebenſo wie bei uns die Bezeichnung „Kirchenälteſte“, andere. wie der Titel „Senator“ und Die Haſarer nennen die Dorfvorſtände mit dem türkiſchen Namen „Akſakal“, grauer Bart, und die gleiche Bedeutung finden wir 1) E. C. A. Riehm, Handwörterbuch des Bibl. Alterthums. Bielefeld 1875. S. 51-53. 2) H. v. Maltzan, Reiſe nach Südara— bien. Braunſchweig 1873. S. 238. Haberland, Die Behandlung des Alters. 471 in dem „Spin Shireh“ der Afghanen, bei denen gleichfalls hohe Ehrfurcht vor dem Alter herrſcht und das Sprichwort „älter und klüger“ geläufig iſt, ſowie im „Riſch Saffid“ der Perſer wieder.!) Bei dieſen räumt das hier noch vielfach herrſchende patriarchaliſche Syſtem dem Vater gegen ſeinen Sohn ſo bedeutende Rechte ein, daß dieſer nicht nur, mag er ſo alt ſein als er will, nicht ohne beſondere Erlaubniß, welche nicht immer ertheilt wird, in ſeiner Gegenwart ſich ſetzen oder rauchen darf, ſon— dern daß der Vater ſogar der rechtliche Be— ſitzer des Eigenthums ſeines Sohnes ift.2) Bei den Kaukaſusvölkern genießt das Alter die größte Achtung. Der Tſcherkeſſe erhebt ſich ſofort, wenn eine ältere Perſon, auch wenn ſie von untergeordneter Klaſſe iſt, eintritt und ſetzt ſich erſt auf Auffor— derung derſelben; dieſes Benehmen trägt er auch in den Familienkreis und in den Um— gang mit Frauen über. Im Familien⸗ kreiſe, wo natürlich ſtrengſter Gehorſam den Eltern gegenüber herrſcht, wird nie der Sohn mit dem Vater oder der jüngere Bruder mit dem älteren an einen Tiſch ſich ſetzen, da dies gegen die gute Sitte ver— ſtoßen würde. Der jüngere Oſſete ſitzt überhaupt nie in Gegenwart älterer Leute und auch nie der Sohn vor dem Vater, nie der jüngere vor dem älteren Bruder; nichts entehrt ihn mehr, als wenn er ſeine betagten Eltern verläßt oder ſie aus dem Haufe weiſt.?) Sache des Alters iſt es bei den Tſcherkeſſen, die Streitigkeiten zu 1) M. Elphinſtone, Geſchichte der engliſchen Geſandtſchaft nach Kabul 1808. Ueberſetzt von Ruhs. Weimar 1817. Bd. J. S. 387, II. S. 243. 2) Ausland 1865. S. 1039. 3) Dubois de Montpereux, Reiſe um den Kaukaſus. Aus dem Franzöſiſchen. Darmſtadt 1842,46. Bd. I. S. 73, II. S. 449. x r 412 ſchlichten,!) der verſöhnende, Ruhe verlan— gende Zug im Greiſenalter hat ihm hier, wie bei vielen anderen Völkern, dieſen ehren— vollen und ſegenbringenden Beruf zu Theil werden laſſen. Als das Muſtervolk kindlicher Pietät iſt aber wohl widerſpruchslos das chineſiſche zu betrachten, deſſen geſammtes Staatsweſen, wenigſtens in der Theorie und in einem idealiſirenden Lichte betrachtet, ſogar darauf gegründet erſcheint, und deſſen Religions— übungen innig damit verknüpft ſind. früheſter Jugend an prägen ſich ihm in nicht ſtrenger, aber ſorgfältiger, von vornherein auf ein ernſtes, formenvolles Benehmen gerichteter Erziehung die Principien der höchſten Acht— ung vor den Eltern und mit dieſer vor dem Alter überhaupt ein, und gleichzeitig erſcheinen ihm Kaiſer und Kaiſerin als die Eltern des Reiches, der Statthalter der Provinz als der Vater derſelben, die Re— gierung des Landes als eine aus väterlicher Liebe gefloſſene Behandlung einer zahlreichen Familie, wie eigenthümlich auch häufig die Bethätigungen dieſer väterlichen Liebe er— ſcheinen mögen; daſſelbe Pietätsprincip lehrt ihn daher ehrfurchtsvolle Liebe zu den Eltern und blinde, demüthige Unterwürfig— keit der Regierungsgewalt und ihren Ver— tretern gegenüber. Und dieſe nach unſeren Begriffen häufig excentriſche Liebe zu den Eltern exiſtirt nicht nur in den Moral— büchern oder als leeres Formenweſen, wie ſo manche andere chineſiſche Tugend, obgleich auch das Formenweſen in der Familie auf das peinlichſte geordnet ift,2) nein, fie be— ) J. v. Klaproth, Reiſe in den Kau— ) Plath (in den Sitzungsberichten der königl. bayeriſchen Academie der Wiſſenſchaften 1862. II. 234 ff.) giebt in Auszügen aus den | Originalen die genauen, bis ins einzelnſte und kindiſchſte gehenden Vorſchriften für das Haberland, Die Behandlung des Alters. Von thätigt ſich nach jeder Richtung hin, im täglicher Umgange, wie auch dann, wenn Unglück oder Mangel außergewöhnliche Opfer fordern. Das eigene Leben aufopfern, in— dem man ſich als Stellvertreter für einen zum Tode verurtheilten reichen Verbrecher gegen gute Bezahlung verkauft, um mit dieſem Blutgelde den nothleidenden Eltern zu helfen, klingt uns wie eine alten Mähr— chen entnommene Handlung, und dennoch kommt ſie noch heute in China und nicht nur vereinzelt vor; ein ſehr armer Diſtrikt in der Nähe von Canton iſt bekannt durch viele Fälle dieſer aufopfernden Liebe.!) Manch treuer Sohn, wenn er die Leiden kranker Eltern ſieht, entſchließt ſich dazu, ſich ein Stück Fleiſch aus dem Arme ſchneiden zu laſſen, um daraus eine heilſame Brühe für ſie zu kochen,?) und wie ſehr auch Ausſicht auf Gewinn, der mächtigſte Reiz für den Chi— neſen, ihn ins Ausland locken und dagegen der Mangel den Bleibenden bedrohen mag, er folgt ruhig dem Geſetz, welches ihm ver— bietet, das Land zu verlaſſen, ſo lange noch ſeine Eltern am Leben ſind;s) denn wer ſollte im Fall ihres Todes für das Be— gräbniß ſorgen und ihnen das Todtenopfer ausrichten — dieſe heiligſte aller Kindes— pflichten hält ihn an die Scholle gefeſſelt. tägliche Benehmen der Kinder den Eltern gegenüber, welche im Allgemeinen die unter— thänigſte Ehrfurcht athmen und nur durch Entäußerung jeder Selbſtſtändigkeit ausführ— bar ſind; ſogar der Beſitz von Privateigen— thum iſt den Kindern nach Seite 238 nicht geſtattet. Wie weit alle dieſe Vorſchriften durchführbar ſind und durchgeführt werden, iſt natürlich eine andere Frage. fajus. Halle 1812/14. Bd. I. S. 466, II. ©. 615. ) Reinhold Werner, die preußiſche Expedition nach China, Japan und Siam 186062. Leipzig 1873. S. 184. 2) Globus Bd. XXXI. S. 383. >) Baſeler Miſſionsmagazin. 1840. Heft 4. S. 124. Haberland, Die Behandlung des Alters. 473 Die Verletzung der kindlichen Pflichten, unter anderen die Heirath vor Ablauf der geſetzlichen Trauerzeit, das Geben von Feſten bald nach dem Tode der Eltern, die Trenn— ung von dieſen ohne ihre Erlaubniß, be— droht das Geſetz ſogar mit dem Tode, und mit einer körperlichen Züchtigung ſchon den Bauer, welcher den Vorzug des Alters beim Sitzen am Mittagstiſch nicht beobachtet.!) Sorgt ſo das Geſetz für die Eltern und das Alter, ſchon durch Strafen, ſo ehrt ſie andererſeits auch noch der Staat, in— dem er einen Theil des Verdienſtes der Kinder auf ſie überträgt, und zum Bei— ſpiel den Eltern derjenigen, welche eine höhere literariſche Stufe erreicht haben, die Anrede der Mandarinen mittleren Ranges, welche etwa unſerem „Ew. Hochgeboren“ entſpricht, bewilligt, ein Vorzug, welcher von dem Chineſen, deſſen Geiſt ſo ſehr auf die Form gerichtet iſt, nicht gering angeſchlagen wird. Für die dem hohen Alter überhaupt gewidmete Ehrfurcht mag als ein Beiſpiel die Handlungsweiſe des Kaiſers Kang⸗hi dienen, welcher, als ein mehr als 100 Jahre alter niederer Officier ihm in Audienz nahte, nicht litt, daß er vor ihm ſich niederwarf — was ſelbſt für die höchſten Würdenträger dem Sohne des Himmels gegenüber uner— läßlich iſt —, ſondern ihm voller Herablaſſ— ung entgegenging,?) dem rangloſen Alter alſo die größtmögliche Ehre, welche einem Sterb— lichen nach chineſiſchen Begriffen widerfahren kann, erwies. Wie in Japan Vieles den qhineſiſchen Gewohnheiten entſpricht, ſo iſt auch das Verhältniß zwiſchen Eltern und Kindern, ) G. Timkowski, Reiſe nach China durch die Mongolei 1820 —21. Ueberſetzt von J A. E. Schmidt. Leipzig 1875. Bd. II. S. 39,41. 2) Baſeler Miſſionsmagazin 1848. Heft 3. S. 124; 1810. Heft 1. S. 23. ein ausgezeichnetes und zwar heimelt es unſeren abendländiſchen Begriffen trotz aller Verſchiedenheit mehr an, als das chineſiſche, da in Japan die ſteife Vorſchrift für die Handlungen mehr zurücktritt und die Liebe ſich als eine freiere, der Individualität ge— mäße zeigen darf. Die Erziehung iſt eine ſorgfältige, mehr durch Zureden und Ver— nunftgründe, als durch Schelte und Strafe wirkende, und ſo erfolgreich, daß für das ganze Leben das Verhalten der Kinder gegen die Eltern ein pietätsvolles iſt, und dieſe es im Alter mit mehr Vertrauen als die Eltern unſerer Bauern wagen dürfen, ſich gänzlich in die Abhängigkeit ihrer Kinder zu begeben; dies geſchieht vielfach, wenn ſie das Alter von 50 Jahren erreicht haben, und zärtliche Liebe pflegt dann den Reſt ihres Daſeins. Dieſe Pflicht der Dank— barkeit gegen die, denen ſie es verdanken, das ſie überhaupt ſind, ſchärft auch die Schule den Kindern ein, ebenſo, motivirt durch die Erinnerung an den Ruhm der Vorfahren, die Ehrfurcht vor dem Alter im Allgemeinen, welche ſich denn auch über— all im Verkehr bemerkbar macht, ſo daß der guten Sitte gemäß ſich ſelbſt der Reichſte vor einem armen Greiſe verneigen muß und nie der Jüngere die Rede eines Aelteren unterbrechen darf.“) Aus der gegebenen Ueberſicht tritt klar hervor, daß die menſchenwürdige und ehrende Behandlung des Alters nicht nur ein Pro— dukt der fortgeſchrittenen Civiliſation iſt, ſondern daß auch niedere Culturſtufen ſie bereits beſitzen, und öfters gerade dieſe ſie uns ausgebildeter zeigen als die ihnen in ſonſtiger Cultur mehr vorausgeſchrittenen Völker. Nicht überall iſt das Benehmen dem Alter gegenüber nur der Sitte über— laſſen, ſondern auch der Staat tritt ſtellen— ) Globus Bd. X. S. 108. Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. 62 Bee 474 Haberland, Die Behandlung des Alters. weiſe mit Verordnungen nach dieſer Nicht- ung hin ein, zuweilen derartig damit in das Familienleben eingreifend, daß ein Druck auf die freie Entwickelung der heranwachſen— den Generation ausgeübt wird. Wunder— bar erſcheint die Gleichförmigkeit, welche Sitte und Gewohnheit auf räumlich ent— fernten Punkten angenommen haben, wie uns dies vielfach im Lauf der Unterſuchung aufgeſtoßen iſt. Am traurigſten herrſcht dieſe Gleichförmigkeit allerdings in dem Gebrauche des Tödtens der Altersſchwachen, von dem uns alle Erdtheile entweder aus alter oder neuer Zeit Beiſpiele gezeigt haben, und ſie muß uns vermuthen laſſen, daß dieſer Brauch ein nothwendiger Durchgangspunkt in der Entwickelungsgeſchichte der Menſchheit geweſen iſt. Wir brauchen ihn indeſſen nicht, wie wir geſehen haben, auf eine urſprüngliche böſe Richtung der menſchlichen Natur zurüczu- führen, ſondern dürfen ſeinen Urſprung in falſchen Ideen ſuchen, die ſich -in dem ſich entwickelnden Geiſte nothwendig bilden muß— ten, dann aber ſpäter beſſerer Erkenntniß Platz gaben, ſo daß die im und durch das Familienleben ſich offenbarende edlere Seite der Menſchennatur mit vollerer Wirkſam— keit ſich entfalten konnte, und an dieſem Fa— milienleben, welches am früheſten den craſſen Egoismus des Naturmenſchen überwand, rankte ſich neben vielfältigen anderen edlen Blüthen auch die menſchenwürdige Behand— lung des Alters, die Schonung ſeiner Schwäche, die Achtung vor dem grauen Haar des Greiſes empor. Er C Kleinere Mittheilungen und Journallchau. Sind die Elemente zufammen- geſetzte Körper? ieſe wichtige Frage bildete den Gegen⸗ ſtand einer ausführlichen Abhand- lung, welche J. Norman Lockyer in der Sitzung der Royal Society vom 12. December 1878 vorlegte. Be— vor wir aber daran gehen, einen kurzen Auszug aus dieſer nunmehr gedruckt vor— liegenden Abhandlung?) zu geben, wird es zweckmäßig ſein, mit einigen Worten auf die früheren Arbeiten des Verfaſſers über dieſe Frage zurückzugehen. Vor fünf Jahren, im December 1873, machte er zuerſt dar— auf aufmerkſam, daß die ſpektralanalytiſche Unterſuchung und Vergleichung des Lichtes der ſelbſtleuchtenden Himmelskörper gewiſſe Anhaltspunkte dafür ergäbe, daß unſere Elemente noch zerſetzbar wären, ſofern das Spektrum eines Sternes um ſo einfacher erſcheine, je heller und heißer er ſei, wäh— rend auf den kühleren Sternen die metal— liſchen Elemente nach der Reihenfolge ihrer Atomgewichte aufträten. Wir müßten näm⸗ lich unterſcheiden: 1) Sehr glänzende, weiße ) Nature No. 477, 479 and 480, De- cember and January 1869. Die erſte Num⸗ mer enthält den hier benutzten Auszug, die beiden folgenden die Original- Abhandlung. Sterne, wie der Sirius, aus deren Spek— trum wir auf das Vorhandenſein enormer Mengen von Waſſerſtoff ſchließen müſſen. Außerdem ſei nur noch Magneſium (und, wie erſt ſpäter erwieſen wurde, Calcium) in ihnen nachzuweiſen. 2) Lichtſchwächere, gelber leuchtende, kühlere Sterne, wie unſere Sonne, Arktur, Procyon, Capella, in deren Licht ſich noch andere Metalle, wie Natrium, Eiſen und viele andere bemerkbar machen, aber noch keine nichtmetalliſchen Stoffe oder Metalloide. 3) Noch kühlere, röthliche Sterne, wie Antares und Beteigeuze, auf denen die metalliſchen Elemente nur noch in gebundener Form auftreten, und neben ihnen die Metalloide. Da dieſe Reihenfolge ergiebt, daß, je älter und erkalteter ein Stern iſt, auf dem- ſelben um ſo weniger freies Waſſerſtoffgas auftritt, bis es auf den erkalteten Planeten, wie unſere Erde, völlig gebunden erſcheint, ſo glaubte Lockyer auf eine Art Zerſetz— ung (Diſſociation) der Elemente auf den heißeren Sternen ſchließen zu müſſen. Wie die Hitzegrade, welche wir in unſeren La— boratorien hervorbringen können, hinreichen, faſt alle unſere Verbindungen in ihre Elemente zu zerſetzen, jo ſchreite dieſer Proceß der Zer⸗ ſetzung oder Diſſociation in der überirdiſchen Hitze der Geſtirne weiter fort; es würden nun auch die ſogenannten Elemente, und a) 476 | | | Werden und Vergehen, S. 17 — 21. zwar zuerſt die Metalloide, dann die Schwermetalle, darauf auch die Leichtmetalle zerſetzt, und zuletzt bleibe nur noch der Waſſerſtoff übrig, der möglicherweiſe das Grundelement der anderen Körper, den Bauſtoff der Welt bilde.“) Die neuen Unterſuchungen, zu denen wir nunmehr übergehen, knüpfen an ein anderes Verhalten an, nämlich an die ver— ſchiedene Beſtändigkeit der längeren und kürzeren Linien der Spektra. Gewöhnlich werden die Linien abgebildet, als wenn ſie alle gleichmäßig den ganzen Spektralſtreifen in ſeiner vollen Breite durchkreuzten, aber bei Einſchaltung einer Linſe zwiſchen dem glühenden Stoff und dem Spalte des Spek— troſkopes ergab ſich, daß die einzelnen Linien verſchiedene Längen beſitzen, insbeſondere was die Länge ihrer gelegentlichen Verbrei— terung betrifft. Mit Hülfe dieſer Methode zeigte Lockyer dann, daß bei Legirungen das Spektrum eines nur in geringerer Menge vorhandenen Metalles nur durch ſeine längſten Linien im Geſammtſpektrum vertreten war, wenn aber die Quantität dieſes Gemengtheils verſtärkt wurde, fo er⸗ ſchienen alle Linien allmälig in der Ord— nung ihrer abnehmenden Länge. Aehnliche Wahrnehmungen wurden bei zuſammenge— ſetzten Verbindungen gemacht, und zugleich wurde beobachtet, daß nicht nur die Länge und Zahl, ſondern auch Helligkeit und Dicke der Linien von der relativen Menge des Stoffes abhängig war. Mit dieſen Thatſachen ausgerüſtet, begann der Genannte vor ungefähr vier Jahren die Herſtellung einer Tafel, auf welcher eine beſtimmte Region der einzelnen Metallſpektra mit allen Einzelheiten dargeſtellt wurde, um ſie mit ) Eine ausführlichere Darſtellung dieſer Hypotheſe findet man in Carus Sterne, — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. der nämlichen Region des Sonnenſpektrums zu vergleichen und dadurch endgiltig feſt— ſtellen zu können, welche Elemente in der Sonne vorhanden ſeien. Für dieſen Zweck wurden ungefähr 2000 Spektrum-Photo— graphien der einzelnen Elemente aufgenom— men und mehr als 100000 Augenbeob— achtungen dazu gemacht. Da es faſt un— möglich iſt, reine Subſtanzen zu erhalten, ſo wurden die Photographien ſorgſam ver— glichen, um die von Verunreinigungen her— rührenden Linien auszumerzen, wobei die Abweſenheit eines beſtimmten Stoffes als Verunreinigung für erwieſen angeſehen wurde, wenn ſeine längſte und ſtärkſte Linie in dem Spektrum des in Unterſuchung befind— lichen Elementes fehlte. Das Ergebniß aller dieſer Arbeit beſtand, wie Lockyer feit- ſtellte, darin, zu zeigen, daß die Annahme, nach welcher zuſammenfallende Linien ver— ſchiedener Spektren ſtets von Verunreinig— ungen herrühren müßten, nicht ſtichhaltig iſt, denn er fand Coincidenzen von kurzen Linien zwiſchen den Spektren verſchiedener Metalle, deren Freiſein von gegenſeitigen Verunrei— nigungen durch die Abweſenheit der läng- ſten Linien bewieſen war. Es ergiebt ſich hieraus ein beträchtlicher Unterſchied in den ſpektroſkopiſchen Erſcheinungen zwiſchen den Fällen, ob ein Stoff A einen andern B als Verunreinigung oder als integrirenden Beſtandtheil enthält. In beiden Fällen wird A ſein eigenes Spektrum darbieten, B in— deſſen wird, wenn als Verunreinigung zu— gegen, nur je nach der Menge, in welcher es vorhanden iſt, ſeine Linien hinzufügen, wie das ſoeben erörtert wurde, dagegen, wenn es als Beſtandtheil von A vorhanden iſt, wird es ſeine Linie nach dem Maße hinzu— fügen, in welchem es durch Zerſetzung von A frei geworden iſt. Auf dieſe Weiſe ver- blaßt das Spektrum von A, wenn dieſes ein zuſammengeſetzter Körper ift, wogegen es nicht vergeht, wenn A ein wahres Ele ment iſt. Ferner werden, wenn A ein zu— ſammengeſetzter Körper iſt, die bei einer beſtimmten Temperatur längſten Linien nicht mehr die längſten bei einer anderen ſein. Die Abhandlung wendet ſich nach dieſen Vorbemerkungen zu dem Verhalten der Spektren des Calcium, Eiſen, Li— thium und Waſſerſtoff, bei verſchiede— nen Temperaturen, wobei ſich ergiebt, daß genau diejenigen Veränderungen eintreten, welche man bei der Annahme eines nicht elementaren Charakters dieſer Stoffe er— warten müßte. So zeigt jede Calcium -Verbindung, ſo lange die Temperatur unterhalb eines gewiſſen Punktes bleibt, ein beſtimmtes ihr zugehöriges Spektrum, wenn aber die Tem— peratur erhöht wird, ſchwindet das Spek— trum der Verbindung ſchrittweiſe dahin, und ſehr zarte, dem reinen Calcium angehörige Linien erſcheinen in den blauen und vio— letten Theilen des Spektrums. Bei der Temperatur des elektriſchen Bogens erſcheint die blaue Linie von großer Intenſität, wäh- | rend die violetten, mit H und K bezeich— neten Linien noch dünn bleiben. Sonnenſpektrum dagegen ſind die Linien H und K ſehr dick, die Linie im blauen Theile aber von geringerer Bogen. Aus dieſem Verhalten hatte Lockyer ſchon 1876 geſchloſſen, daß das Calcium ein zuſammengeſetzter Stoff ſei. Schließlich zeigen Dr. Huggins' pradt- volle Sternphotographien, daß die H- und K-Linien im Spektrum von a Aquilae beide vorhanden ſind, die letztere indeſſen nur etwa halb ſo breit wie die erſtere, während im Spektrum von a Lyrae und vom Sirius einzig die II-Linie vom Cal- Intenſität und viel dünner als in dem eleftriichen | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. In dem 477 cium gegenwärtig iſt. Aehnliche Wahr- ſcheinlichkeitsbeweiſe dafür, daß dieſe ver— ſchiedenen Linien verſchiedene Subſtanzen repräſentiren mögen, ſcheinen durch Prof. Young's ſpektroſkopiſche Beobachtungen von Sonnenſtürmen beigebracht zu werden, bei denen er die II-Linie 75 Mal, die K-Linie 50 Mal, aber die blaue Linie, welche im Spektrum des elektriſchen Bogens die aller— wichtigſte Calciumlinie iſt, nur dreimal in die Chromoſphäre hineingeſchleudert (injee— ted) ſah. Das Spektrum des Lithium bietet bei ſteigender Temperatur eine Reihe genau denen des Calcium-Spektrums ana— loger Veränderungen dar. Im Spektrum des Eiſens treten zwei Gruppen von drei Linien in der Region von H und G auf, welche für dieſes Me— tall höchſt charakteriſtiſch ſind. Beim Ver— gleiche von Photographien des Sonnen— Spektrums und des zwiſchen zwei Eiſen— polen erhaltenen Funken Spektrums erſcheint die relative Intenſität dieſer Drillings-Linien— Paare vollſtändig umgekehrt, die ſchwer ſicht— baren Linien der Funken-Photographie ge— hören zu den hervortretendſten in der des Sonnen-Spektrums, während die Drillings— Linien, welche in der Funken-Photographie überwiegen, im Sonnen-Spektrum nur halb fo ſtark find. Prof. Young hat im Ver— laufe von Sonnenſtürmen dreißigmal zwei ſehr ſchwache Linien des Eiſen-Spektrums nahe bei G in die Chromoſphäre geſchleu— dert geſehen, während eine Linie des Dril— lingspaares nur zweimal dort erſchien. Dieſe Thatſachen würden, wie Lockyer behauptet, ſofort eine einfache Erklärung finden durch die Annahme, daß die Linien durch Schwingungen mehrerer getrennter Moleküle hervorgebracht werden. Bei der Beſprechung des Spektrums vom Waſſerſtoff bringt Lockyer eine 2 Bir Anzahl hüchſt wichtiger und intereſſanter Thatſachen herbei. Er weiſt darauf hin, daß die brechbarſte Waſſerſtoff-Linie im Sonnen-Spektrum h bei Laboratoriums— Verſuchen nur unter Anwendung einer ſehr hohen Temperatur geſehen wird und daß ſie in den Sonnen-Protuberanzen der Fin— ſterniß von 1875 fehlte, obwohl die an— deren Waſſerſtoff-Linien photographirt wur— den. Dieſe Linie fällt auch mit den ſtärk— ſten Linien des Indiums zuſammen, wie bereits von Thalen bemerkt wurde, und kann bei Verflüchtigung des Indiums im elektriſchen Bogen photographirt werden, während mit Waſſerſtoff beladenes Palla— dium eine Photographie liefert, in der keine von den Waſſerſtoff-Linien ſichtbar iſt. Bei Anwendung eines ſehr ſchwachen Funkens bei einem ſehr niedrigen Drucke wird die F-Linie des Waſſerſtoffes im grünen Theile ohne die blauen und rothen Linien erhal— ten, welche letzteren bei Anwendung eines ſtärkeren Funkens geſehen werden, ſo daß unzweifelhaft im Waſſerſtoff-Spektrum Ver⸗ änderungen Platz greifen, denen ähnlich, die beim Calcium beobachtet wurden. Am Schluſſe dieſes Theiles ſeiner Abhandlung berichtet Lockyer, daß er Beweiſe gefun— den habe, die zu dem Schluſſe leiten, daß die Subſtanz, welche in der Chromoſphäre die nicht umgekehrte Linie giebt und He— lium genannt worden iſt, weil ſie bisher nicht mit irgend einer bekannten irdiſchen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ebenſo die Subſtanz, welche die ſogenannte | Corona-Linie (1,474) giebt, thatſächlich nur veränderte Formen des Waſſerſtoffes ſind; die eine einfacher als diejenige, welche die | aufmerkſam gemacht zu werden, daß mit dieſen Deutungsverſuchen einiger ſpektral— analytiſcher Erſcheinungen die zuſammen— geſetzte Natur des Calcium, Lithium, Eiſens und Waſſerſtoffes keineswegs bewieſen iſt. Lockyer geht eben hierbei von der noch zu beweiſenden Annahme aus, daß nur verſchiedene Moleküle durch ihre Schwing— ungen die einzelnen Linien erzeugen können; aber man kann ſich noch viel einfacher vor— ſtellen, daß dieſelben Moleküle im Stande fein könnten, in verſchiedenen Tempe— raturen verſchiedene Schwingungen zu voll⸗ führen, ſo daß wir es immerhin nur erſt mit einer kühnen und geiſtreichen Hypotheſe zu thun haben. Eine neue Delta-Cheorie. Bekanntlich wurden die Delta-Bildungen der Strom-Mündungen bisher einfach fo erklärt, daß man meinte, durch den mit- geführten Schlamm werde die Mündungs— bucht nach und nach ausgefüllt und der Strom dadurch gezwungen, ſich in Arme zu theilen, welche die Schlamm-Ablagerun— gen mehr oder weniger umfaſſen. Man hielt dies, wenn man auch nebenher der Ebbe und Fluth eine Rolle zuſchrieb, doch in ſolchem Grade für das Hauptmoment bei der Deltabildung, daß man auf die fortgeführten Schlamm-Maſſen ſeit Hero— Subſtanz identificirt werden konnte, und dot Berechnungen über die Fragen begrün— det hat, wie alt einige Delta und wie alt die Menſchenwohnungen, deren Spuren ſich in gewiſſen Tiefen in ihren Schlammſchichten finden, ſein könnten. Dr. Georg Rudolf h-Linie allein giebt, die andere zuſammen— | Credner in Halle hat nun in einer aus— geſetzter als diejenige, allein giebt. Es braucht zum Schluß kaum darauf mann's „Geographiſchen Mittheilungen“ welche die F-Linie | führlichen Abhandlung, welche den Inhalt des 56. Ergänzungsheftes von Peter— n bildet, dieſes Problem auf Grund eines außerordentlich reichen Beobachtungsmaterials neu unterſucht und iſt zu weſentlich ver— ſchiedenen Schlüſſen gekommen. Er zeigt, wie unter den 143 größeren Flüſſen, deren Deltabildungen er ſtudirt hat, ſich ſehr zahl- reiche befinden, die ſehr wenig feſte Theile führen, während andere, die an Sinkſtoffen reicher find, als ſogar Ganges, Miſſiſſippi, Nil, Donau u. ſ. w., trotzdem keine Delta bilden, ſondern ſich im Gegentheil durch langgeſtreckte Mündungstrichter ins Meer ergießen, wie z. B. Gironde und Elbe. Auf der andern Seite ſieht man Flüſſe gleichſam ihre deltabildende Thätigkeit ein- ſtellen, z. B. den Nil, der Herodot's Berechnungen ſtark getäuſcht haben würde, denn ſein Delta wird jetzt alljährlich kleiner, ſtatt größer. In dem Werke über ſeine erſte Orient— reiſe erzählt Fraas“) von dem wunder— baren Gemiſch weither geſchaffter Säulen— und Steinfragmente, welches das Meer bei Alexandrien bereits verſchlungen hat. „Wo der alte Hafendamm ſich ans Meer an— ſchließt und die halbverfallenen arabiſchen Forts geiſterhaft aus der See hervorragen, wo die Welle alle 15 — 20 Secunden das Ufer peitſcht, da liegen Gallerien von Back— ſteinbauten, cementirte Eſtriche, gepflaſterte Wege blos, die bereits mehr oder minder alle unter dem Waſſerſpiegel der Ebbezeit liegen. . . . Alles das lehrt unwiderſprechlich, daß wir es mit einer ſin- kenden Meeresküſte zu thun haben.“ Auch ein großer Theil des Rhein-Delta würde, wenn nicht Dämme es abhielten, längſt vom Meere wieder in Beſitz genom— men ſein, wie letzteres in neueren Zeiten ) „Aus dem Orient.“ Geologiſche Be— obachtungen am Nil, auf der Sinai-Halbinſel und in Syrien. Stuttgart 1867. S. 178. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 479 das Ems-Delta mit fünfzig Ortſchaften wiederum verſchlungen hat. Das genauere Studium der vergehenden Delta führte Dr. Credner auch zu der Erkenntniß der Haupturſache der werdenden und ſich „bildenden Delta, die alſo in der lang— ſamen Hebung des Ufers geſucht werden muß. Erſt dadurch, daß die im Meere verſenkten Schuttkegel der Mündun— gen langſam an die Oberfläche ſteigen, wird die Mündungsſtrömung genöthigt, ihren Lauf zu theilen, wahrſcheinlich, indem ſie dabei ſchon unterſeeiſch vorhandenen Ström— ungsfurchen des Schuttkegels folgt. In langen Perioden bald aus dem Meere em— porgehoben, bald von demſelben wieder ver— ſchlungen, dürften mithin Delta-Ablagerun— gen ſehr ungeeignete Chronometer ſein und die denkbar unzuverläſſigſten Anhaltspunkte für chronologiſche Berechnungen ungeheurer Zeiträume ergeben. Die Apogamie bei den Pflanzen und ihre Beziehung zur Entwickelungs Lehre. Apogamie oder Zeugungsverluſt nennt man die namentlich bei Culturpflanzen, doch auch vielfach in der Freiheit auftretende Erſcheinung, daß eine beſtimmte Pflanzen— art ſich nicht mehr auf geſchlechtlichem Wege, ſondern nur noch durch Sproſſung fort— pflanzt. Man kann dabei drei Fälle unter— ſcheiden: Verluſt oder Unwirkſamkeit der männlichen, oder der weiblichen Geſchlechts— werkzeuge, oder Beider zugleich (Apandrie, Apogynie und Apogenie). Die letzteren beiden Fälle find in vorzüglicher Entwickel— ung neuerdings bei einzelnen Farnen ſtudirt worden. Prof. A. de Bary hat dieſe ſchon früher von Farlow beobachtete Er— — 480 ſcheinung an Pteris eretica, Aspidium filix mas eristatum und Aspidium falcatum näher unterſucht und gefunden, daß dieſe Pflanzen ſich nur aus Sproſſen entwickeln, die auf Prothallien erſcheinen, welche ent— weder gar keine, oder nur unfruchtbare Archegonien erzeugen. Der völlige Verluſt der Zeugungsfähigkeit ſcheint bei beſtimmten Arten ſehr ſchnell eintreten zu können, denn Aspidium filix mas eristatum iſt doch zweifellos nur eine irgendwo plötzlich entſtan— dene Garten-Varietät unſeres ſtets fruchtbaren Wurmfarn. Man könnte hierbei zwar die Anomalität der Entwickelung in Verbind— ung bringen wollen mit der Anomalität der Wedelbildung, allein die genannten beiden andern Farne zeigen keine analoge Anomalität. Aehnliche, wenn auch möglicherweiſe nicht identiſche Erſcheinungen ſehen wir bei der Apandrie mit Parthenogeneſis, wie ſie bei Chara erinita durch ganz Nordeuropa be obachtet wird, bei der die Keimanlagen der weiblichen Pflanze ſich ohne Befruchtung regelmäßig zu reifen Früchten entwickeln, ebenſo der bekannte Fall bei Caelebogyne*) und bei den allbekannten zahlreichen wilden und Culturpflanzen, die ſich bei gänzlich ausbleibender oder ſpärlicher reſp. ſeltener Samenbildung regelmäßig durch reichliche Sproſſenbildung fortpflanzen, wie die Ficaria unſrer Frühlingsgehölze, die Meer— rettig- und Allium-Arten unſerer Gärten. Ueber die Frage nun, was die Apo— gamie für die Entwickelung und das Be— ſtehen der von ihr betroffenen Pflanzen bedeuten mag, ſagt Prof. A. de Bary Folgendes: „Zunächſt iſt klar, daß vollſtändige Apo— gamie das Gegentheil von Vervollkomm— nung, daß ſie ein Herabſinken des Ent— ) Vergl. Kosmos, Bd. III. S. 355. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wickelungsganges darſtellt; denn dieſem ſind hoch ausgebildete Glieder verloren gegangen, entweder ohne allen Erſatz, wie bei der parthenogenetiſchen Chara crinita, oder mit Erſatz durch Sproſſung, welche im Grunde nirgends etwas Anderes iſt, als die Wiederholung der beim Aufbau des Stockes ohnehin überall auftretenden Ver— zweigungen. Iſt dieſe Anſchauung richtig, ſo bedeutet auch die unvollſtändige Apo— gamie ein ihren verſchiedenen Graden ent— ſprechendes Herabſinken, wenn es bei ihr auch den Anſchein haben kann, als ſei der Formenkreis der Species durch das Auf— treten beſonderer Sproſſungen neben der regulären Embryo-Bildung vervollkommnet oder bereichert. Es fragt ſich nun weiter, ob dieſe morphologiſche Degradation eine Bedeutung hat für das Beſtehen und die Weiterbildung der Species reſp. Varie— tät, ob ſie als eine hierfür günſtige oder ungünſtige oder gleichgiltige Einrichtung aufzufaſſen iſt? Die ſexuelle Zeugung wird im Allgemeinen“), und mit gutem Grunde, als eine in der angegebenen Beziehung günſtige Einrichtung betrachtet; ſchon die durch ſie gegebene Möglichkeit der in den meiſten Fällen als nützlich erwieſenen Kreuz— ungen iſt hierfür entſcheidend. Geht man hiervon aus, fo liegt es a priori nahe, die apogamen Formen nicht nur für mor— phologiſch geſunken, ſondern auch für nach dem Grade der Apogamie phyſiologiſch be— nachtheiligt und in ihrer Exiſtenz und Weiterbildung für bedroht zu halten, ſoweit dieſe von der Reproduktion abhängen. Die Erſcheinungen an den apogamen Farnen und an Chara erinita führten mich zunächſt auf dieſen Gedanken und in Verbindung damit auf die Vermuthung, dieſe Formen ) Seit Erasmus Darwin, Vergl. Kosmos, Bd. IV. S. 418. — ——mitum 9 —: ::: — — —.. —— — FKK — —— 9, ——ůäůää —̃ ͤK1——̃— — — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſeien ſolche, welche in ein letztes Stadium ihrer Exiſtenz, in den Beginn allmäligen Ausſterbens getreten ſeien — vorausgeſetzt, daß die Apogamie dauernd bleibt und nicht irgend wann wieder in Eugamie umſchlägt, worüber Erfahrungen fehlen. Die Be— obachtungen an Aspidium falcatum und beſonders an A. filix mas eristatum ſtehen auch mit dieſer Auffaſſung in Ueberein— ſtimmung, denn durch die (in der Original— abhandlung beſprochene) langſame Ausbild— ung der erſten Wurzel an den normalen Sproſſen ſind dieſe lange Zeit der Gefahr des Unterganges durch alle möglichen Be— ſchädigungen des Prothalliums ausgeſetzt, und im Vergleich mit regulär erzeugten jungen Farnpflanzen entſchieden im Nach- theil. Solchen Erſcheinungen und Erwäg— ungen gegenüber ſteht aber auf der andern Seite die bei den meiſten apogamen Pflan⸗ zen exceſſive Produktivität an entwickelungs— fähiger, geſchlechtslos erzeugter Nachkommen— ſchaft: die überaus reiche Sproſſung der Prothallien von Pteris eretica, die un— gemeine Fruchtbarkeit von Chara crinita, Allium fragrans, die maſſenhafte Bul- billen⸗ und Sproſſenbildung bei Barbula papillosa und Ficaria. Wäre die phyfio- logiſche Benachtheiligung im obigen Sinne des Wortes eine für apogame Pflanzen aus irgend welchen feſten Gründen nachgewieſene Thatſache, ſo würde exceſſive geſchlechtsloſe Reproduktivität als ein intereſſantes Symp— tom beginnenden Rückſchrittes und Erlöſchens aufgefaßt werden können. Die Dinge liegen aber anders. Denn erſtens iſt die Lehre, daß die ſexuelle Zeugung eine für die Exi— ſtenz der Species günſtige Einrichtung ſei, ein Erfahrungsſatz, welcher ſtreng gilt für die Objekte, für welche er ſtreng nachge—⸗ wieſen iſt, und auch mit Wahrſcheinlichkeit auf andere übertragen werden kann, welcher 481 aber eine allgemeine principielle Giltigkeit nicht beſitzt. Wir kennen das Weſen der Sexualität viel zu wenig, um einer Species, welche dieſelbe verloren hat, eine dauernde Benachtheiligung zuſchreiben zu dürfen, welche nicht durch ungeſchlechtliche Repro— duktion vollſtändig erſetzt und übererſetzt werden könnte. Die Benachtheiligung der apogamen Formen ſammt ihren Confequen- zen bleibt daher eine zu prüfende Vermuth— ung; und ſo lange dies der Fall iſt, liegt in der hervorgehobenen Erſcheinung ein ſchwerer Einwurf gegen ſie. Ob und wie ſich derſelbe beſeitigen läßt, muß die Zu— kunft lehren.“ (Botaniſche Zeitung Nr. 29 —31, 1878.) Hesperiden-Blumen Braſiliens. Eine werthvolle Vervollſtändigung er- fährt der zweite Theil meines Aufſatzes über die Inſekten als unbewußte Blumenzüchter (Kosmos, Bd. III. S. 403 fgde.) durch folgende briefliche Mittheilung meines Bru- ders Fritz Müller aus Blumenau in Südbraſilien vom 18 Sept. v. J.: „Hier wird ſich vielleicht eine beſon— dere kleine Gruppe von Blumen unter⸗ ſcheiden laſſen, die von langrüſſeligen, gegen Abend fliegenden Dickköpfchen (Hesperi- dea) gezüchtet ſind. Lange Blumenröh— ren, ſehr eng, oder doch nicht mit ſehr engem Eingang, geruchlos, violett. Da— hin namentlich Franciscea und Bouchea (Verbena) laetevirens, vielleicht auch an⸗ dere Verbenen. Von Tagfaltern habe ich Franeiscea in meinem Garten niemals be— ſucht geſehen; daß ſie keine Schwärmerblume ſei, zeigen die Farbe und Geruchloſigkeit. Dickköpfe, und zwar nur einige wenige, gegen Abend fliegende Arten „habe ich öfter daran Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. 63 1 1 3 482 gefangen. — (Uebrigens giebt es auch, je— doch bei uns nicht wild, eine Franeiscea mit kleineren, wohlriechenden Blumen, — vielleicht eine Anpaſſung an Schwärmer.)“ — E. Krauſe hat einmal im Kosmos (Band III. S. 48) behauptet, daß blaue und violette Blumen bei Dämmerungs-Be— leuchtung beſonders augenfällig ſeien und daß man daher vermuthen könne, daß ſie vor— zugsweiſe von Dämmerungs Inſekten be— fruchtet werden möchten. Mit dieſer Be— hauptung ſtimmt es ſehr gut überein, daß die gegen Abend fliegenden Hesperiden, vor— ſtehender Mittheilung zufolge, ſich violett— farbige Blumen gezüchtet haben. Hermann Müller. Die Reptile der Primärzeit. In der Sitzung der Pariſer Akademie vom 16. December vorigen Jahres las Prof. Alb. Gaudry eine Abhandlung über neuerdings gefundene Reptile, der wir fol— gende wichtige Bemerkungen entnehmen. Wirbelthiere der Primärzeit aus einer die Fiſche überragenden Klaſſe ſind bis auf die jüngſte Zeit kaum in Frankreich ge— funden worden. Der Aphelosaurus von Lode ve (Depart. Hérault), deſſen Beſchreib ung man Paul Gervais verdankt, war bisher das einzige Reptil, welches noch unter Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. den ſecundären Schichten angetroffen worden iſt. In neuerer Zeit haben Nachgrabungen in den permiſchen Schichten bei Autun dieſe Lücke ausgefüllt. Seit einiger Zeit bereits, als man angefangen hatte, die bituminöſen Schiefer der Umgebung dieſer Stadt aus zubeuten, hatte man zahlreiche Coprolithen von Reptilen, die nach Form und Größe verſchieden waren, angetroffen. Dieſe foſſilen Reſte verkündeten zuerſt die Gegenwart zahlreicher primärer Reptile auch auf franzö— ſiſchem Boden, und in der That konnte A. Gaudry 1867 den Actinodon, 1875 den Protriton beſchreiben. Neuerdings haben Roche, Abbé Duchene, Vélain, Pellat, Renault, Jutier, Durand und Aymard weitere Funde gemacht, über welche Gaudry, ausgehend von dem erwähnten Actinodon, einige allgemeine Schlüſſe ziehen konnte, die für die Ge— ſchichte des Wirbelthier-Typus ſehr merk— würdig ſind. Die Wirbel eines vollſtändig zuſammengeſetzten Actinodon zeigen folgende Eigenthümlichkeiten: Der Mitteltheil iſt aus drei Theilen zuſammengeſetzt, einem unteren Knochen und zwei ſeitlichen, welche er Pleu— rocentrum zu nennen vorſchlägt, weil ſie die beiden Seitentheile des Centrums bilden. Dieſe Stücke ſind nicht mit einander ver— ſchmolzen, es bleibt vielmehr zwiſchen ihnen ein leerer Raum, welcher durch eine Ab— theilung der perſiſtirenden Rückenſaite ein— genommen war; der Wirbel iſt alſo theilweiſe in einem Zuſtande verblieben, den wir heute als embryonal bezeichnen. Sogar in dem Neuralbogen deuten ſichtbar gebliebene Nähte die Trennungslinie der zuſammen— ſetzenden Theile an. Man beobachtet ana— loge Bildungen bei dem Archegosaurus der permiſchen Schichten Deutſchlands: allein die Verknöcherung iſt dort unvollkommner und die Art der Verſteinerung hat dieſe Theile deſſelben der Unterſuchung unzugäng— lich gemacht. Cope hat kürzlich in den permiſchen Schichten von Texas Wirbel ent— deckt, welche denen des Aectinodon beinahe ganz gleich ſind. So ſind demnach in der— ſelben geologiſchen Periode in Amerika, Deutſchland und Frankreich Thiere gefunden worden, welche ſich in dem nämlichen Zu— ſtande der Entwickelung befinden. Wenn man darüber nachdenkt, daß der Charakter der älteſten primären Wirbelthiere darin beſtanden hat, keine Wirbel, oder Wirbel ohne Centrum zu beſitzen, ſo kann man nicht umhin, über den Zuſtand zu erſtaunen, in welchem ſich die Wirbelſäule mehrerer Thiere gegen das Ende der primären Zeiten darſtellte: Die Elemente des Centrums, zwar zum großen Theil fertig gebildet, aber noch nicht mit einander verſchmolzen, zeigen den Moment der Entwickelung, in welchem ſich die Verknöcherung der Wirbelſäule voll— enden will, die in den devoniſchen Zeiten nur leicht ſkizzirt war; fie zeigen den Ueber— gang des unvollkommnen Wirbelthieres zum vollkommnen an. Unter den foſſilen Wirbelthieren der permiſchen Schichten von Autun befindet ſich ferner ein von Pellat gefundenes Thier, welches dem Protriton ähnlich iſt, aber einen längeren Schwanz (mit 15 Wir- beln) beſitzt, der dem dritten Theil der Körperlänge gleichkommt, während der Schwanz des Protriton nur acht Wirbel enthält und dem ſechſten Theil der Körper— länge gleichkommt. Dieſes Thier iſt Pleuro- noura Pellati getauft worden, weil es von den Tritonen einen Uebergang zu den Fröſchen zu bilden ſcheint. Da nämlich der hintere Theil des Körpers bei Pleuro— noura beſſer der Bewegung im Waſſer an— gepaßt iſt, als der Schwanz des Protriton, ſo hat erſterer nicht nöthig gehabt, ſeine Vorderbeine der Schwimmkunſt beſonders zu widmen; anſtatt nach hinten gewendet zu fein, wie bei Protriton, ſind fie nach vorn gewendet, wie bei den Fröſchen, welche ſich auf dem Lande bewegen. Die Weich- theile von Pleuronoura haben ihren Abdruck zurückgelaſſen, ſo daß man den Körperumriß beinahe nachzeichnen kann; wahrſcheinlich beſaß Pleuronoura eine widerſtandsfähigere Haut als Protriton, | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. von welchem ſich derartige Umriſſe nicht gefunden haben. An der Seite dieſer Stücke, welche uns permiſche Wirbelthiere von wenig vorge— ſchrittener Stufe zeigen, hat Roche bei Igornay einen Knochen des Vorderbeins eines Reptils entdeckt, deſſen ſehr vervoll— kommnete Bildung in Erſtaunen ſetzt. Es iſt dies ein Humerus von ſeltener Form, ſein Proximal-Theil iſt von hinten nach vorn entwickelt, während ſein diſtales Ende ſich transverſal auslegt; er beſitzt eine ſehr hervorragende ereta deltoides, feine untere Fläche deutet das ehemalige Vorhanden- ſein eines Höckers an, auf der Seite ſieht man Auswüchje, welche die Rudimente eines Knochenbogens zu ſein ſcheinen, der zum Durchgange einer Arterie beſtimmt war, wie bei mehreren Raub-Säugethieren. Dieſer Knochen gehört einem bedeutend größeren Reptile als alle bisher in den primären Schichten Frankreichs entdeckten an, denn er hat 0,120 Meter Länge. Gaudry hat demſelben den Namen Euchy- rosaurus Rochei beigelegt, weil er die Idee von einem Thiere erweckt, welches in ſeinen Händen geſchickter ſein mußte, als alle jetzt lebenden Reptile. Nahezu ana⸗ loge Knochen ſind ſchon früher durch Ku— torga aus Rußland, durch Owen aus Südafrika, durch Cope aus Texas beſchrie— ben worden, und dieſe gelehrten Paläonto— logen ſind ſämmtlich über die Aehnlichkeiten erſtaunt geweſen, die ſie mit denen der Säugethiere darbieten. Der Humerus des Reptils von Igornay liefert ein Beiſpiel mehr von der Ungleichheit, mit welcher die Entwickelung der Weſen in den geologiſchen Zeiten vor ſich gegangen iſt, und er ver— anlaßt zu denken, daß es noch viele alte Wirbelthierformen auszugraben giebt; denn ohne Zweifel ſtellte das Thier, von dem 484 er ſtammt, keine Anfangsbildung dar, ihm mußten ſchon manche weniger entwickelte Reptilien- Gattungen vorausgegangen ſein. (Comptes rendus T. LXXXVII. p. 956.) Die Unterſuchungen von Prof. P. Mantegazza über den dritten Backenzahn des Menſchen. Der letzte dicke Molar oder ſogenannte Weisheitszahn iſt zwar ein verſchwindend kleiner Theil unſeres Körpers, bietet uns aber in ſeiner Veränderlichkeit eines der wichtigſten Probleme der Evolutionstheorie. Darwin, der die Frage mit einiger Zurückhaltung berührt, neigt zur Annahme hin, dieſer Zahn gehe in den höheren Menſchenraſſen einem rudimentären Zuſtande entgegen. Er ſagt, daß der dritte Backen— zahn beim Menſchen kleiner als die beiden anderen Backenzähne ſei, was man auch beim Chimpanſe und Orang bemerkt, und nur zwei Wurzeln habe; er fügt hinzu, daß dieſer Zahn erſt gegen das 17. Lebens— jahr hervortrete, leichter erkranke und früher ausfalle als die beiden anderen Backen— zähne. Zugleich zeigt derſelbe größere Unter— ſchiede, ſowohl in der Zeit der Entwickel— ung als auch in ſeinen Formen. In den Negerraſſen dagegen ſoll der Weisheitszahn drei deutliche Wurzeln haben, gewöhnlich gut gebaut ſein und weniger in der Größe abweichen als bei den kaukaſiſchen Raſſen. Schaaffhauſen erklärt dieſe Unterſchiede mit dem Bemerken, der hintere Zahntheil der Kiefer ſei bei den civiliſirten Menſchen immer verkürzt, und Darwin glaubt dieſe Thatſache leicht dadurch erklären zu können, daß die höheren Raſſen gewöhnlich gekochte und weichere Nahrungsmittel genießen und da— her ihre Kiefer weniger gebrauchen. Schaaff⸗ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. hauſen beobachtete eine ſtarke Entwickelung des hinteren Zahntheils der Kiefer, nicht nur bei den Negern und Auſtraliern, ſondern auch bei den Malayen. Das von Darwin aufgeführte Pro— blem, welches er mit ſeiner gewohnten Be— ſcheidenheit nur als wahrſcheinlich gelöſt dargeſtellt (It appears as if the posterior molar or wisdom-teeth were tending to become rudimentary in the more eivilized races of man), iſt auch bis heute noch im ſelben Stadium der Ungewißheit geblieben, obgleich man aus ihm eines der leicht verfolgbarſten Argumente für oder gegen die Evolutionstheorie ſchöpfen könnte. Selbſt Magitot und Lambert, die ſich doch in letzter Zeit mit dem Specialſtudium der Anomalien des Zahnſyſtems und deſſen Morphologie beſchäftigten, haben wenig oder gar nichts zur Feſtſtellung des Wahrſchein— lichkeitsſchluſſes Darwin's beigetragen. Magitot, der im Zahnſtudium vielleicht die erſte Autorität iſt, ſcheint wenig ge— neigt zu glauben, daß die alten Schädel betreffs der Zähne den Affen näher ſtänden als die unſrigen. Er führt Mummery an, der die Zahn-Anomalien auch bei den alten römiſchen Schädeln gemein fand. In der That wurden bei denſelben viele Fälle von Atreſie in den Dentar-Bogen con- ſtatirt, und unter 143 Schädeln fehlte bei 8 der letzte Backenzahn, obwohl die Schädel von Erwachſenen herrührten, und bei 5 anderen zeigten ſich verſchiedene andere Ano— malien. Unter 76 anglo⸗-ſächſiſchen Schädeln, die Mummery ebenfalls verglich, fanden ſich fünf Fälle gänzlichen Fehlens des letzten Molars und einer hatte eine Abweichung in der Richtung der beiden erſten oberen Biscupiden. In den alten Raſſen fand man im Ganzen 43 Anomalten unter 458 Schädeln, ein Zahlenverhältniß, welches nach Magitot nicht weit von dem der modernen Schädel abwiche. Der franzöſiſche Anthropolog, den man gewiß keiner großen Voreingenommenheit für die Darwin ice Theorie zeihen kann, bekennt aber, daß in den gegenwärtigen Raſſen die Menſchen von niedrigem Typus auch in Form und Vo— lumen ihrer Zähne ſich den Affen nähern. Gelegentlich der Beſprechung der Form und Zahlanomalien der Zahnwurzeln, berührt Magitot das erwähnte Problem nicht und ſchweigt über die von Owen ange— führten Differenzen, die er andererorts üb— rigens der Beſtätigung bedürftig erklärt. Bezüglich der Zahl- Anomalien findet Magitot, daß im Oberkiefer der am meiſten fehlende Zahn einer der Schneidezähne iſt und dann der Weisheitszahn, deſſen Ver— kümmerung (Atrophie) häufig vorkommt. Im Unterkiefer iſt dieſe Atrophie die ge— wöhnlichſte und viel häufiger vorkommend als im Oberkiefer. Dieſen Unterſchied er- klärt Magitot durch den Umſtand, daß die Kiefer⸗Tuberoſität oben gewöhnlich hin— reichend Raum zur Entwickelung des letzten Molars giebt, während im Unterkiefer der zwiſchen dem aufſteigenden Knochen und Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. verſchwindet. 485 zweiten Backenzahn zuſammengedrückte Keim leicht verkümmert und durch Reabſorption Dr. Lambert, der ſich ſo viel mit dem Zahnſtudium befaßt, ſchweigt ebenfalls über dies Problem und benutzt ſeine tauſende von Beobachtungen an Schädeln verſchiedenlichſter Raſſen nur zur Morphologie der Zähne. Nicht zufrieden mit dieſen Reſultaten, hat nun Dr. Mantegazza mit dem um⸗ fangreichen Material des muse o antropo- logieo nationale in Florenz ein genaues vergleichendes Studium angeſtellt, deſſen Ergebniſſe er uns in einer faſt zweihundert Seiten langen Tabelle im Archivio per l’Anthropologia (Vol. VIII. Heft 2) mit- theilt. Die Beobachtungen erſtrecken ſich auf 1249 ausgeſuchte Normalſchädel (ſolche von zu jungen und zu alten Individuen aus- geſchloſſen) und zwar auf moderne Schädel höherer Raſſen 844 moderne Schädel niederer Raſſen DR antike Schädel (von Etruskern, Rö— mern und Phöniciern) 128 1249 Es ergab ſich für den Zuſtand des dritten Backenzahns in Procenten: Anormal pCt. | Normal Totale Bei den Pet Fehlen 5 Vorzeitig Abnormi⸗ pCt. eines oder Atrophie | Eftopie tät mehrerer modernen höheren Raſſen [ 37,09 || 42,42 | 10,90 [ 2,01 | 7,58 || 62,91 modernen niederen Raſſen || 50,54 || 19,86 | 20,58 | 1,80 | 7,22 | 29,46 antiken Raſſen 50,78 [ 27,34 | 1641 | — [5,47 [ 49,22 und das Vorhandenſein von Zahnwurzeln beim dritten Backenzahn (pr. hundert) | im Oberkiefer | im Unterkiefer 1 om LI 5 W. I I W. 2 DLZ W. W modern höhere Raſſe 20,10 23,14 51,35 | 5,24 | 0,17 [ 9,38 81,53 | 8,50 | 0,59 modern niedere Raſſe 31,51 | 20,09 | 45,20 | 3,20 | — || 6,12 | 91,84 | 2,04 | — | 30,36 | 20,53 | 46,43 | 2.68 | — |] 12,35 | 81,48 | 6,17 | — antife Raffe — JJ. TVT ĩò 486 d. h. in Worten ausgedrückt: 1) Bei den niederen Raſſen fehlt der dritte Backenzahn ſeltener als bei den höhe— ren Raſſen, und zwar im Verhältniß von 19,86 pro hundert für die Erſteren, und 42,42 für die Letzteren. — Der Unter⸗ ſchied iſt daher mehr als doppelt. 2) Die Atrophie des dritten Molars zeigt ſich ſeltener in den höheren als in den niederen Raſſen, und zwar 10,90 pCt. bei jenen, 20,58 PCt. bei dieſen. 3) Die Ektopie oder Lage-Abweichung kommt in faſt allen Schädeln gleichmäßig vor, von welcher Raſſe ſie auch ſein mögen (2,01 pCt. für die hohen, 1,80 pCt. für die niederen Raſſen.) 4) Daſſelbe gilt für das vorzeitige Aus— fallen des Zahnes (im Verhältniß von 7,22 bei den niederen, 7,58 bei den höheren). 5) Die Summe aller Abnormitäten des dritten Backenzahns leinbegriffen die größte des gänzlichen Fehlens des Zahnes) zeigt, daß bei den niederen Raſſen die normalen und anormalen Zuſtände des dritten Backenzahnes faſt in gleicher Zahl vorkommen (50,54 pCt. normal, 49,46 pCt. Anormal) während bei den höheren Raſſen die Anormalität die Regel und die Nor— malität die Ausnahme (37,09 Normal 62,91 anormal) iſt. 6) Die antiken Schädel ſtehen in Betreff des Mangels des dritten Backenzahns zwiſchen den niederen und höheren modernen Raſſen: Fehlen in 27,34 pCt., Atrophie bei 16,41 pCt., während das vorzeitige Ausfallen weniger häufig iſt als bei allen modernen Schädeln zuſammengenommen. 7) Die Anzahl der Wurzeln des dritten Backenzahns hat nichts mit der Evolutions— theorie, noch mit dem Hoch oder Niedrig des betreffenden Typus zu ſchaffen. — Es iſt daher nicht wahr, daß bei den Menſchen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. hoher Raſſen zwei oder eine Wurzel durch— ſchnittlich beſtändig vorkommen, während bei den niederen Raſſen der Weisheitszahn immer drei Wurzeln haben ſoll. Es iſt im Gegentheil gewöhnlich, daß ſowohl die ganz antiken Menſchen als auch die mo— dernen, hoher ſowie niederer Raſſen einen dritten Backenzahn mit drei Wurzeln be— ſitzen (51,35 pCt. bei den modernen hohen, 45,20 bei den modernen niederen, 46,43 bei den ganz alten Raſſen). 8) Die vierwurzeligen Backenzähne ſind aber etwas häufiger bei den modernen höhe— ren Raſſen (5,24), dann kommen die moder— nen niederen (3,20) und ſchließlich die ganz antiken Raſſen (2,68 pCt.). Der Fall zweier Wurzeln iſt häufiger bei den modernen höheren (23,14), dann kommen die antiken niederen (20,53) und faſt in demſelben Verhältniß die modernen niederen Raſſen (20,09 pCt.). 9) Das Vorkommen eines Zahnes mit einer Wurzel iſt häufiger bei den niederen Raſſen (31,51) dann kommen die ganz antiken (30,36) und ſchließlich die modernen höheren Raſſen (20,10 pCt.). 10) Das Vorkommen eines Zahnes mit fünf Wurzeln iſt bei höheren Raſſen höchſt ſelten und der in der Tabelle aufge— führte Fall vielleicht ein Unicum. 11) Im Unterkiefer aller Raſſen hat der dritte Backenzahn faſt immer zwei Wurzeln (91,84 bei niederen modernen, 81,53, bei höheren modernen, 81,48 PCt. bei den antiken Raſſen). 12) Weder bei den niederen modernen, noch bei den antiken Raſſen wurde ein dritter Backenzahn im Unterkiefer mit vier Wurzeln gefunden, während dieſer Fall bei den höhe— ren Raſſen der Jetztwelt in 0,59 PCt. conſtatirt wurde. 13) Der Fall einer einzigen Wurzel im dritten unteren Backenzahn iſt nicht ſehr | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſelten und findet ſich häufiger in den alten Schädeln (12,35), weniger häufig bei höhe— ren modernen (9,38) ſeltener bei den niederen modernen Raſſen (6,12). 14) Es fehlen nicht Fälle von dritten unteren Backenzähnen mit drei Wurzeln, und zwar kommen ſie häufiger vor bei den modernen höheren (8,50), dann bei den alten (6,17) und ſchließlich bei den niederen Raſſen (2,04). 15) Es ſcheint, als ob in einigen Fällen das Fehlen eines oder mehrerer dritter Backenzähne ein ethniſches Faktum ſei. 16) Die dogmatiſchen Behauptungen Owen's über die Anzahl der Zahnwurzeln bei den ſchwarzen und weißen Raſſen ſind mithin falſch, und die Morphologie der Wurzeln des dritten Molars hat gar keine ſchätzbare Beziehung zur Evolutionstheorie. Dagegen beſtätigen dieſe ſchönen und werthvollen Beobachtungen in vollſtändigſter Weiſe die Annahme Darwin's. Es darf alſo fürderhin nicht mehr ge— wagt erſcheinen, wenn man vorausſetzt, daß früh oder ſpät der dritte Backenzahn ganz aus den Kiefern der Menſchen verſchwinden wird. 3m Die neueſten Ausgrabungen auf Hifarlik und ihre Bedeutung. Der viel umneidete Entdecker der Stätte der Urzeit auf dem Hügel von Hiſſarlik, den er bekanntlich mit dem ſagenhaften Ilion oder Troja identificirt, hat im letzten Sommer an dieſer fruchtbaren Stätte von Neuem Ausgrabungen unternommen, welche im Anſchluſſe an die früheren Explorationen daſelbſt, ſowie an ſeine Funde zu Mykenä und Tiryns ein dankbares Reſultat der Wiſſenſchaft gegeben zu haben ſcheinen. Die 487 ausgegrabenen Gegenſtände hat Dr. Schlie— mann in das Muſeum zu Kenſington bringen laſſen; über dieſelben, ſowie über die Ausgrabungen ſelbſt hat er einen Be— richt in dem englifchen Journal „Athenaeum“ vom 14. December 1878 gegeben, deſſen Hauptinhalt wir hier in Kürze recapituliren. Seine Hauptbemühungen bei den letzten Ausgrabungen waren dahin gerichtet, das weſtlich und nordweſtlich von dem Thore — dem ſkäiſchen? — gelegene große Haus (Palaſt), ſowie das Thor ſelbſt bloszulegen. Beide Objekte waren mit einer gewaltigen Maſſe von Holzaſche zugedeckt, die in dieſer Menge nur von einem devaſtirenden Brande herrühren kann.“) Dies große Haus, hart neben welchem Schliemann den ſogen. „Schatz des Priamus“ mit ſeinen goldenen und ſilbernen Gefäßen dem Boden ent— nahm,) hielt der glückliche Finder für den Palaſt des Königs Priamus von Troja, und ſeine neueſten Funde daſelbſt ſcheinen wenigſtens den Gedanken zu ſtützen, daß hier das Wohnhaus eines Regenten der Vorzeit einſt ſich erhob, über deſſen Schick— ſal ein dies irae von Jahrtauſenden ent— ſchied. In dieſem Complexe fand Schlie— mann vier kleinere „Schätze“ oder Con— volute von Koſtbarkeiten, welche in Metall und Arbeit ſich dem früher gefundenen Hauptſchatze anſchließen. Die erſte Collek— tion fand ſich im nordweſtlichen Ende des Palaſtes in einer Tiefe von 26,5 Fuß und beſteht aus einer Reihe goldener Ohr— ringe, Perlen und Ornamenten; darunter befinden ſich einige Artefakte in Form von Spiralen, welche vollſtändig ſolchen Mu— ſtern von Mykenä gleichen.“) Außerdem ) Vergl.: Trojaniſche Alterthümer, S. 268 — 287. **) A. a. O. S. 288 — 302. kt) Vergl. Mykenae Nr. 297 d. A. S. 226. 488 befanden ſich hierbei Ringe und Perlen aus Silber, ein gewundenes Armband (Bracelet) aus Elektron (einer Maſſe, aus Silber und Gold beſtehend), ſowie Reſte einer Elfen— beinröhre. Alle dieſe Gegenſtände ſind durch Brand zuſammengeſchmolzen. Es bleibt nur die Annahme, die Beſitzer ſeien durch ein plötzlich eintretendes Ereigniß der Menſchen— wirkung (Ueberfall), oder der Natur (Erd— beben) verhindert worden, ihre Schätze, die nachher der Zuſammenſturz des brennenden Gebälkes begrub, in Sicherheit zu bringen. Weſtlich vom Thor an einer Mauer, die noch 53½ Fuß lang und 4½ Fuß hoch aus unregelmäßig großen, mit Lehm verbundenen Steinen beſteht, fanden ſich zwei weitere Collektionen von Metall- und Werthgegenſtänden. Auch dieſe lagen je in einer rohen Terracottenvaſe, wie der erſt— gefundene. Beide Vaſen enthielten wieder Unmaſſen goldener Perlen, eine goldene Platte mit Zickzacklinien und Kronen in Intaglioarbeit, ferner Perlen aus Karneol; dann eine Reihe von Ohrringen aus Gold, Silber, Elektron in den verſchiedenſten Facond und mit dem reichſten Zierrath von Intaglio-Ornamenten bedeckt. Auch hier, wie beim erſten Schatz und dem früheren „des Priamos“, zeigten ſich ſtarke Spuren hef— tiger Feuereinwirkung in der Erhaltung der Zierrathe und der Metallbarren. Nahe den Vaſen lag hier eine Streitaxt aus Bronce, 9 ½ ͤ Zoll lang, von der gewöhnlichen tro- janiſchen Form.?) Nur 3 Fuß davon auf den Mauern des Hauſes entdeckte das Glückskind einen viel größeren Schatz (treasure) von Broncewaffen und Goldſachen. Jene beſtanden aus zwei Lanzen, einer Streitaxt, einem Meſſer, zwei kleineren Waffen (Pfeilſpitzen?). In einem ) Vergl. Trojaniſche Alterthümer, S. 330, d. A. Nr. 257 — 260; S. 332 Nr. 267, 268. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Broncegefäß dabei lagen zwei ſchwergoldene Armringe; der eine mit Spiralen und 72 aufgelötheten Verzierungen aus Golddraht*), der andere mit Perlen zwiſchen zwei Reifen. Dabei geſchmolzene Goldklumpen und in einem Doppelbecher aus Thon 16 Goldbarren, je 4,33 Zoll lang, jede mit 56 Einſchnitten (Münzzeichen, die inecisions?). In dem- ſelben derras augyinvrreidov lagen zwei Paar ſchwergoldene Ohrringe, reich geziert mit Roſetten (— Spiralen), erhöhten Punk— ten, geometriſchen Figuren und verſehen mit je 16 Ketten, die aus goldenen Perlen beſtanden — natürlich find fie zerriſſen. Des Weiteren lagen dabei mit Spiralen verzierte Ohrringe, wie ſolche die zweite Grabſtelle von Mykenä aufweiſt *); andere goldene Spiralen ſind nach Schliemann als Lockenhalter zu erklären.“* *) Doch noch mehr der Koſtbarkeiten wurden hier 16 Fuß unter der von Lyſimachus ungefähr 300 v. Chr. erbauten Mauer gefunden, als ge— lochte Goldbarren, goldene Knöpfe, eine flache Haarnadel mit achteckigem Kopfe, andere maſſiv goldene, mit mykeniſchen Spi- ralen verzierte Haarnadeln. An einer vierten Stelle an der Nordſeite des Hügels gab der Urboden zwei ſchlangenförmige, goldene Ohrringe heraus, ſowie goldene Perlen, mehrere Gegenſtände von Silber, dann eine mit Blumenblättern gezierte Haarnadel von Gold. In derſelben Tiefe — 28 Fuß — entdeckte Schliemann einen Gegenſtand, den er mit Gold aufwog, einen kleinen Dolch (4 Zoll lang) aus Meteorſtahl (me- teorie steel); das erſte Eiſen in der Stadt der Vorzeit. Der Eiſendolch iſt durch die Holzkohle und Holzaſche vortrefflich conſer— virt und wenig patinirt. An ſeinem un— ) Vergl. Mykenä d. A. S. 226 Nr. 295. **) A. a. O. S. 91 Nr. 140. ) Vergl. Ilias, XIII, V. 51—52. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 489 teren Ende ſind zwei Löcher von je 0,53 Zoll Länge und 0,12 Zoll Breite (zum An— hängen am Gürtel, da Schliemann von einer Scheide nichts berichtet?). Ferner iſt merkwürdig und ſingulär ein Webe— geräth aus Elfenbein in Geſtalt eines Schweines, ſowie eine flache Statuette aus Blei von 2,6 Zoll Länge von deutlichem egyptiſchem Typus: ungetrennte Beine, Un— tertheil mumienähnlich, angedeutete Haar— flechten. Außerdem grub man eine Reihe der thönernen Spinnwirtel aus, die Schlie— mann ſonderbarer Weiſe als Idole der Pallas Athene deutet; eine Annahme, die' doch unnatürlicher iſt als die, hierin Spuren einer ſtark betriebenen Hausweberei zu er— blicken, die Anzeichen einer trojaniſchen Spinn— ſtube. Wie kämen Votiv⸗Idole in den Palaſt des Priamus? — Wenn Schliemann ferner in dem zahlreichen Auffinden von kleinen, einfach oder doppelt geſchliffenen Sägen aus Feuerſtein (saws of silex) eine Schwierig— keit erblickt, ſo können uns dieſe Funde im Kjökkenmödding um ſo weniger Wunder nehmen, da auch noch andere Anzeichen da— für beſtehen, daß das gewöhnliche Material für Werkzeuge für eine Reihe von Fällen der Stein war. So findet Schlie— mann häufig Meſſer von Feuerſtein und Obſidian, ferner in den Einſchnitten zu ſeinen Ausgrabungen Feuerſteinſplitter (fint- chips) neben Fiſchgräten, Eberzähnen und Hirſchgeweihſtücken. Den deutlichſten Beweis aber dafür, daß das gemeine Volk hier in der trojaniſchen Stadt noch des Steines als Werkzeug und Waffe ſich bediente, während der Herrſcher mit Gold ſich ſchmückte und mit Bronce ſich wehrte, kann man in dem Funde einer Ulna vom Eber ſehen, welche die Spuren von Bearbeitung mittelſt eines Feuer— ſteinmeſſers zeigt. So das Urtheil des Dr. Mohr von J. M. Schiff „Reſearch“, der dieſe Küchenabfallſchichten mit eigenen Augen prüfte. Von ſonſtigen intereſſanten Artefakten erwähnt Schliemann noch das Stück eines Scepters aus Glas mit einer Schlangenverzierung und zwei Durchbohr— ungen: das erſte Glas zu Troja; zu Mykenä fand ſich weißes und blaues mehr— fach vor.“) Einen ſtarken Brand im „Hauſe des Priamus“ und ſonſt beweiſen die ver⸗ glaſten Fußböden. Dieſelben haben große Flieſen zur Unterlage. Dieſe ſind mit der Ueberlage von Aſche und Schutt zu einer vollkommen verglaſten und poröſen Maſſe von grüner Oberfläche verbunden worden. An anderen Stellen ſind Steine von asphaltähnlicher Maſſe aus den oberen Stockwerken, wo ſie den Holzböden zur Ueberlage dienten, herabgefloſſen und bil— den unten kegelförmige, 5 — 6 Zoll dicke Klumpen. Allerdings ein ſtrikter Beweis für einen durchgreifenden Brand in Alttroja! Die Reſte der Subſtruktionen der tro— janiſchen Häuſer und des Palaſtes von Priamus beſtehen in 5 Fuß hohen Mauern, die wahrſcheinlich als Vorrathskammern — und als Keller — gebraucht wurden. Dieſe Mauern beſtehen aus unbehauenen, mit Lehm verbundenen Steinen, deren Innen- ſeite mit Lehm verkleidet und geweißt iſt. In einem viereckigen Kellerraum von 7,6 Fuß: 4 Fuß ſteht auf einer halbkreis— förmigen Rinne ein 5,6 Fuß hohes Ge— fäß aus Thon; daneben liegt ein zweites Gemach mit drei Krügen derſelben Dimen— ſion und einem etwas kleineren. Es ſind dies wahrſcheinlich Krüge für einen Gähr- proceß, ein prähiſtoriſcher Weinkeller! Die fünf oder ſechs Oberſtöcke des Palaſtes, mit mehr als 100 Gemächern, *) Vergl. Mykena d. A. S. 125, 128, 136, 184. Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. . — \ 490 beftanden aus an der Sonne getrockneten Ziegeln; einer davon hat folgende Dimen- ſionen: 2 Fuß Länge, 1,3 Fuß Breite, 3,8 Zoll Dicke. Unter dieſer Schicht trifft man jedoch noch eine ältere an, welcher die glänzend rothe und braune Töpferarbeit zu— zuſchreiben iſt. Auch die große Umfaſſungs— mauer ward von dieſen Vorgängern der Trojaner erbaut, denn auf ihr ruht eine Schicht mit nicht trojaniſchen Gegenſtänden. Nach den Beobachtungen von Dr. Schlie— mann und Dr. Mohr ſtand übrigens der Palaſt des Königs direkt an der Stadt— mauer und diente mit ſeinen Zinnen zu— gleich zur Vertheidigung der Stadt, ähnlich bei Jericho, nach Joſua II, 15. Auch das dreifache ſkäiſche Thor wurde urſprünglich von den Einwohnern der älteſten Stadt aus großen, roh behauenen Steinen erbaut. Uebrigens giebt Schliemann zu, daß Homer, der Dichter der Ilias, dieſe ſchon von Bergen von Schutt begrabene Stadt nie geſehen hat. Er beſchreibt Ilion mit ſeinen Bauwerken von polirtem Stein als ein Spiegelbild ſeiner Zeit; blos die Sage und der Mythus meldeten ihm von den Helden und Kämpfen zu Alt-Ilion, von den Tempeln und Thoren, von den Paläſten und Gemächern des Priamus. der Sage feſtgeſtellt, daß hier auf dem do— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Sagen und z Volkstraditionen, wie wir auch auf deutſchem Boden wahrnehmen (Nibelungenſage, Drachenhöhle, Rieſen und Zwerge, unterirdiſche Schlöſſer, verſunkene Ortſchaften ꝛc.), oftmals ein objektiver Kern, eine hiſtoriſche Thatſache zu Grunde liegt. Blos im Vertrauen auf den Wahrmund der Ueberlieferung entdeckt der Spürſinn Schlie— mann's dieſe 30 Fuß unter der Oberfläche begrabene, vorgeſchichtliche, trojaniſche Stadt. Von ähnlich hoher Bedeutung ſind aber die culturgeſchichtlichen Folgerungen und Schlüſſe, welche ſich in Verbindung mit den Funden von Mykenä und Tiryns, ſowie den früheren von Hiſſarlik aus den letzten combiniren laſſen. Einen ziemlich gleichmäßigen, qualitativ verhältnißmäßig hohen Culturgrad ſehen wir an den Höfen der Regenten links und rechts des ägäiſchen Meeres. Da ſehen wir kunſtreiche Thon— gefäße, reichornamentirtes Geſchirr aus Gold, Silber und Elektron getrieben, reichen Schmuck in Goldperlen und Silberketten, in Edelſtein und Elfenbein, in Glas und Bernſtein. Das Roheiſen fehlt, eine Ra— rität iſt der Meteorſtahldolch; daneben aber zahlreich vertreten die ſchimmernde Bronce in Waffen und Hausgeräth, in Streitaxt und Schale, in Lanze und Halsſchmuck. Das aber hat Schliemann als Baſis minirenden Hügel von Hiſſarlik einſt eine alte Stadt ſtand, welche durch einen unge— heuren Brand mit ihren Schätzen von Edel— hiſtorie verdeckt liegt. Nur die Sage windet den Erinnerungskranz um ihre Ueberbleibſel, welche die Energie Schliemann's an den Tag gezogen hat. Gleichen Werth hat der allgemeine Gewinn des Satzes, daß del Das Volk aber, die Plebs, gebrauchte noch für Haus und Feld, für Krieg und Frieden den Stein neben den koſtſpieligen impor— tirten Bronceartefakten. Auch von der Nahrung der Bevölkerung ſind uns durch metall begraben wurde, und deren Geſchichte | von dem Schutte von Jahrhunderten bes deckt und vom Dämmerſchleier der Prä- die neueſten Entdeckungen am Strande des Skamander deutliche Spuren erhalten. Da erblickt man in der trojaniſchen Schicht, un— termiſcht mit verkohlten Küchenabfällen, Scheide, Schüſſel-, Kammmuſcheln, Auſtern, Fiſchgräten, Knochen von Haſen, Schweinen, Ebern, Hirſchen. Das Meer und die Jagd, daneben geringer Ackerbau und etwas Vieh— zucht (Schwein, sus serofa domestieus?), boten den Alttrojanern die Mittel zum Lebensunterhalt. Die vielen Reſte von | Webegeräthen ſetzen den Anbau von Lein und Hanf voraus. Von Anzeichen einer höheren, Cultur will Schliemann auf einer der vielen Kugeln aus Terracotta Schriftzeichen entdeckt haben, ebenſo eine Münze aus Kupfer oder Bronce, welche auf einer Seite einen viereckigen Stempel mit einem Hakenkreuz, auf der andern einen hervorſtehenden Punkt aufweiſt. Der Reichthum an Goldgegenſtänden dürfte ſich aus den Mineralſchätzen Klein— aſiens erklären; man denke an den Fluß Midas. bekannt, welche Goldſchätze zu Lydien in Sardes aufgehäuft waren, und welche Auf— häufung von Schätzen zu Babylon ftatt- Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 491 1000 Jahre ſpäter in Mitteleuropa aus den Nachgrabungen am Rhein und an der Donau erkennen. Auch hier herrſchte ſpäter, als der Culturſtrom des Südens und Südoſtens allmälig vom Padus und Rhodanus, vom Iſter und dem Pontus Euxinus an die Grenzen der Silva Hercynia, zu den Keltogermanen im äußerſten Weſten am Urſprung der Donau und des Rheins ge— langt war, im Allgemeinen noch der Stein als Werkzeug vor: nur Höherſtehende ge— ca. ſtatteten ſich den Luxus der Broncewaffen, und das Eiſen ruhte meiſt noch in den Tiefen des Urbodens. So kann die Aufdeckung dieſer fernen Culturobjekte, welche wir am beſten und getreueſt den hiſtoriſchen Ueberlieferungen als Reſte der pelasgiſchen Periode bezeich— | nen, von indirektem und direktem Einfluffe Paktolus und an die Sage vom König Außerdem iſt aus der Geſchichte fand nach der Ausplünderung von Klein- aſien unter Nabukuruduſſur.“) Die Fürſtenfamilien ſehen wir hier und zu Mykenä im Goldreichthum ſchwelgen, die Krieger ſich ſchmücken mit Silber und Elektron, Goldringen und Broncewaffen. Die Maſſe des Volkes dagegen hat die Steinzeit, die unmetalliſche Periode noch nicht überwunden, denn es fehlte noch in Maſſe der Bringer der aktuellen Gleichheit: das Eiſen. Wir nehmen hier ein ähnliches Verhält- niß zwiſchen Steinartefakten und Bronce— werkzeugen, zwiſchen Metallarmuth und Koſt— barkeiten⸗Ueberfluß am Strande des ägäiſchen Meeres in der Mitte des zweiten Jahr— auſends v. Chr. wahr, wie wir daſſelbe ) Vergl. F. Lenormant, Die Magie und Wahrſagekunſt der Chaldäer, 1879. S. 546. für die Werthſchätzung der Morgenröthe der abendländiſchen Cultur und das Ver— ſchwinden des Abendſcheines der mitteleuro— päiſchen Barbarei werden. Naturgemäß fluthete der Strom der Bron ce- und Metallcultur, der nachweisbar im Oſten an den Geſtaden von Euphrat und Tigris langſam ſich gebildet hatte,“) zuerſt an die Küſten Kleinaſiens; dort und am andern Ufer traf er mit den Culturelemen— ten zuſammen, die von Phönicien und Egypten ausgingen und welche ſich zu Troja und Mykenä wirklich vorfinden, und kam ſo verſtärkt auf die weſtlicheren Küſten des Mittelmeeres. Zwei dieſer wichtigen Cultur— ſtationen hat uns, die wir origines epochae ſuchen, am Meeresſtrande das Genie Hein— rich Schliemann's aufgedeckt. Ihm ge— bührt der wärmſte Dank und die Anerkenn— ung der archäologiſchen und culturgeſchicht— lichen Forſcher. Dr. C. Mehlis. ” 9 Vergl. F. Lenormant, Die Anfänge der Cultur. 1875. Bd. I. S. 65 — 94. Ü 492 Das Wellenornament bei flavifchen und germanischen Stämmen. Bei dem Aufſchwunge, den die prä— hiſtoriſche Archäologie in Deutſchland ſeit einem Jahrzehnt genommen hat, giebt es nichts verlockenderes, als von einer Reihe noch ſo genau explorirter Funde allgemein giltige Rückſchlüſſe zu machen auf die Cul— turhöhe und die Technik des Menſchen— complexes, bei dem die betreffenden Fund— ſtücke gemacht wurden. Aus dieſem Rück— ſchluſſe, der vielfach ohne Weiteres von den Broncefunden auf die Broncebeſitzer gemacht wurde, iſt die ſogenannte Bronce— frage entſtanden, wobei man ſtreitet, wer die gefundenen Bronce-Artefakte fabricirt habe, die Beſitzer oder x-Fremde. Einen ähnlichen dubiöſen Schluß er- lauben ſich diejenigen, welche von einer be— ſtimmten, häufig gefundenen Ornamentations— art ausgehen und dieſelbe nur als ſpecifiſche Eigenthümlichkeit dem Volke zuſchreiben wollen, bei dem man es in erſter Linie vorge— funden hat. So hat man das Spiralorna— ment und den Mäander als Erfindung und Eigenthümlichkeit den klaſſiſchen Völkern des Alterthums zuſchreiben wollen, während der durch Schliemann's Entdeckungen erwei— terte Geſichtskreis dieſe Ornamente noch einer Reihe von anderen orientaliſchen Völ— kern zuſchreiben wird. Aehnlich ſteht es mit dem Ornament der Wellenlinie, welches durch die uner— müdlichen Unterſuchungen Virchow's, be— ſonders aus den Pfahlbauten und den Burg— wällen in Nordoſtdeutſchland, den Archäo— logen bekannt iſt. Virchow erklärt wiederholt dieſes Wellenornament d. h. die horizontale Linie in Wellenform?) als ein Charakteriſticum der 9 Vergl. Zeitſchrift für Ethnologie a. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau— ſlaviſchen Funde. Und zwar ſind dieſe Wellenlinien in Verbindung mit anderen Ornamenten, als Spirale, Wolfszahn, Mäan— der, vertieften, eingeſtempelten Punktreihen nach ſeinen richtigen Erörterungen die Eigen— ſchaften desjenigen Typus der Slavenlande, den man ſeinem Hauptfundorte nach mit dem Namen Burgwalltypus bezeichnet. Muß man darnach auch zugeben, daß das Wellen— ornament eine charakteriſtiſche Eigenſchaft des ſlaviſchen Thongeräthes iſt, jo muß man ſich andererſeits hüten, dieſen Schluß allzu— ſehr einzuſchränken und dies Ornament nur den Slaven zuzuerkennen. Aus dem Weſten Deutſchlands war von dieſen ſlaviſchen Funden gleichzeitigem Töpfergeräthe bis jetzt nur ein Gefäß be— kannt, das gleichfalls den Schmuck der Wellenlinie trägt, und dieſes ſtammt aus dem alemanniſch-fränkiſchen Reihengrabe von Schierſtein bei Wiesbaden her.“) Da jedoch aus den vielen Reihengräbern (allein am Mittelrhein gegen 100) kein weiteres Vorkommen vom Wellenornament auf Ge— fäßen aus der alemanniſch-fränkiſchen Pe— riode (4.— 7. Jahrhundert) bekannt wurde, hat man dieſen Ausnahmefund als ein zu— fälliges Ergebniß zu betrachten angefangen und ihn ignorirt. Um ſo mehr war der Verfaſſer dieſer Zeilen erfreut und erſtaunt, als ihm jüngſt ein Reihengräberfund von Kirchheim a. d. Eck zwiſchen Grünſtadt und Dürkheim i. d. Rheinpfalz mit den ſpecifiſchen Funden des Reihengräbertypus: den eiſernen, pilumähn— lichen Lanzen (Angon), dem Scramaſax, dem Glasbecher, den ſchwarzblauen Gefäßen m. St. und IX. Verſammlung zu Kiel, nach dem Bericht im Kosmos Bd. III. S. 158. ) Vergl. Bericht über die IV. Verſamm⸗ lung der deutſchen Anthropologen zu Wies— baden, Braunſchweig 1874, S. 12. e Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. mit weiter Oeffnung, bekannt wurde, wo= | runter ſich eine Urne mit mehreren, nicht zu verkennenden Wellenlinien vorfand. Die Urne mit weiter Oeffnung und ſchwach, jedoch hübſch profilirten Rändern hat eine Höhe von 11,4 Centimeter und einen obern Durchmeſſer von 10 Centimeter. Unter dem Rande, ſowie unter dem erſten und dem zweiten Profil ziehen ſich (1, 4 und 2) jieben*) Wellenlinien in horizontaler Richt— ung um das Gefäß. Der Untertheil weiſt die für die römiſch-fränkiſchen Gefäße ſehr charakteriſtiſchen Längevertiefungen von eiför— miger Geſtalt auf. Das Gefäß beſteht aus grau⸗ſchwarz gefärbtem Thon. Die übrigen dabei vorgefundenen Thongeräthe: zwei Urnen, ein Krug, eine Lampe, tragen den gewöhnlichen Typus der Thonartefakte aus ) Anmerk. d. Red. Die eine etwas Andeutlichere Wellenlinie hat der Xylograph überſehen. Sie gehört in die mittlere Reihen— folge dicht unter den darüber hinausſpringen— den Rand. Ueberhaupt iſt der Holzſchnitt für ein Thongefäß zu ſcharfkantig ausgefallen, aber der Xylograph iſt zu entſchuldigen, da die Bild-Vorlage äußerſt mangelhaft war. So ſind auch wohl die unteren Eindrücke viel weniger ſcharfrandig. 493 dieſer Periode, der jedem Archäologen aus den Reihengräbern von Selzen, Alsheim u. a. O. bekannt iſt. Da von einem Einfluße einer zu poftu- lirenden ſlaviſchen Einwanderung für dieſe Periode weder zu Schierſtein noch zu Kirchheim die Rede ſein kann, ſondern im Gegentheil alle Anhaltspunkte der Archäo— logie und der Anthropologie auf eine rein germaniſche (alemanniſch-fränkiſche) Bevölker⸗ ung hindeuten, ſind wir zur Erklärung dieſer Thatſache auf andere Momente hingewieſen. Und dies iſt nicht die Ethnologie, ſon— dern die Technik. Die meiſten Gefäße vom Burgwalltypus, ſowie alle von den rheiniſchen Reihengräbern find mit Anwendung der Drehſcheibe fabri— cirt worden, im Gegenſatz zu den Gefäßen aus den Hügelgräbern, welche meiſt primitiv mit der bloßen Hand gerundet ſind. Nun iſt aber die Wellenlinie, um mit M. Much zu reden, jo recht ein Kind der Töpfer— ſcheibe. Fährt die Hand beim Drehen der Töpferſcheibe mit einem mehrzinkigen Ge— räth (einer Gabel u. ſ. w.) auf dem Ge— fäße auf und ab, ſo entſteht das Wellen— ornament. So gut nun die freie Form— 494 ung der Gefäße zur Anſetzung von Buckeln und Henkeln anleitete, ſo ſpontan führte der Gebrauch der Töpferſcheibe zur Erfind— ung des Wellenornamentes. So kommt denn auf deutſchem Boden das Wellenorna— ment beſonders in Verbindung, mit römiſchen Culturreſten vor, “ſo in Niederöſterreich bei Salzburg, bei Hallſtadt.“) Auch hei Funden aus der Zeit der Römerherrſchaft in Eng— land wird folglich und faktiſch dieſes Orna— ment angetroffen. Von eineml anderen Geſichtspunkte aus, von der Vergleichungfprähiſtoriſcher Gefäße aus den Burgwällen in Böhmen iſt L. Schneider zu demſelben Reſultate ge— kommen, daß die Ornamentation und auch die Wellenlinie eine Begleiterin der in Folge der Töpferſcheibe neu eingetretenen Technik ſei. ““) Dieſer rheiniſche Fund beſtätigt hiermit den von Much und Schneider gefun— denen Satz, daß die Ornamentation in Ver— bindung mit der Technik und nicht mit ethnologiſchen Unterſcheidungen zu er— klären ſei. Römer, Germanen (Alemannen— Franken und Markomannen-Quaden), Sla— ven (Nord- und Südſlaven) und andere Völker wenden das Wellenornament an, wenn ſie vertraut geworden ſind mit ſeiner nothwendigen Vorausſetzung — der Töpferſcheibe. Mutatis mutandis iſt dieſer Erfahrungsſatz für andere Fälle zur An— wendung zu bringen. Dr. C. Mehlis. Vergl. M Much, über prähiſtoriſche Bauart und Ornamentirung der menſchlichen Wohnungen, Wien, 1878, S. 27—28. a) Vergl. Zeitſchrift für Ethnologie X. Bd. 1878, S. 39—46, beſonders S. 42. | | | | | j Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die „Farbenblindheit“ der Uaturvölker. In einem Werke über den Urſprung und die Entdeckung des Farbenſinnes von Mr. Grant Allen, welches demnächſt bei Trübner & Co. in London erſcheinen ſoll, wird der Verfaſſer unter Anderm zu zeigen verſuchen, daß der Gebrauch der Farbenausdrücke in den Homeriſchen Ge— dichten ſtreng analog demjenigen anderer lebender oder erloſchener Völker iſt, die der— ſelben Culturſtufe zuzurechnen ſind, und daß Beide nicht von einer blos zweier Farben mächtigen Perceptionsfähigkeit (dichromie vision), ſondern von einer Unvollkommenheit der Sprache herrühren, die eng verbunden iſt mit der geringen Zahl der natürlichen oder künſtlichen Farbſtoffe, die dieſen verſchiede— nen Stämmen bekannt waren oder find. „Um dieſes Ergebniß feſtzuſtellen, habe ich,“ bemerkt Mr. Grant Allen (Nature No. 472 November 1878), „eine Anzahl von Circularen an Miſſionäre, Regierungs— beamte und andere Perſonen verſendet, welche Beziehungen mit unciviliſirten Natur⸗ völkern in den verſchiedenſten Theilen der Welt haben, und ihre Antworten auf meine Fragen und Bitten, ſorgfältig zwiſchen Per— ception und Sprache zu unterſcheiden, be— ſtätigten in jedem Falle die von mir auf— geſtellte Theorie.“ — Der Verfaſſer hat offen- bar nicht gewußt, daß genau die nämliche Theorie bereits früher von dem Unterzeich— neten aufgeſtellt worden iſt. (Kosmos, Bd. I, S. 264 — 275 und 428 — 433.) K. n ·· — ee ie ee — Era rr . BR ren Theorie und Erfahrung. Beiträge zur Beurtheilung des Darwinismus von Dr. Paul Kramer. Halle, L. Ne- bert, 1877.) » ie Principien des Darwi— nismus können zur Erflär- ung der Thatſachen nichts beitragen, durch ſie wird keine uns vor Augen liegende Wirklichkeit verſtändlich. Dies das kurze Reſultat und das ein- fache Ergebniß vorſtehendertheo— retiſcher Betrachtungen.“ So ver— kündet Verf. am Schluſſe des erſten, „mathe— matiſche Entwickelungen“ überſchriebenen Capitels ſeiner Schrift. Dieſe „mathematiſchen Entwickelungen“ erklärt Prof. S. Günther (Kosmos, III. S. 292) für „planmäßiger, umfaſſen— deer und deshalb auch wichtiger“, als ver- ſchiedene früher gegen den Darwinismus gerichtete mathematiſche Betrachtungen und glaubt, „der gebotenen Leiſtung einen ent— ſchiedenen Werth zuſprechen zu müſſen.“ Nur dieſes einer ſo berufenen Feder ent— floſſene günſtige Urtheil veranlaßt mich, auch meinerſeits über die genannte Schrift ) Dem Referenten erſt im September 1878 zugegangen. Literatur und Kritik. | mich auszuſprechen; ſonſt würde ich die— ſelbe der Beachtung nicht werth halten und den Verf. nicht in dem ſtolzen Bewußt— ſein ſtören, Darwin gründlich abgeführt zu haben. Prof. Günther hat ſich, als Mathe— matiker, „vornehmlich mit dem Gange der Unterſuchung beſchäftigt, die empiriſche Grund— lage der Prüfung Anderen überlaſſend“; als Nicht-Mathematiker werde ich umgekehrt hauptſächlich die Vorausſetzungen ins Auge faſſen, auf welchen Verf. ſeine „mathema— tiſch eingekleideten Schlüſſe“ aufbaut. Verf. ſtellt ſich die Aufgabe, darzulegen, wie weit auf dem Gebiete der ſecundären Geſchlechtscharaktere „die Darwiniſtiſche Me— thode eine natürliche und der Wahrſchein— lichkeit nach zum Ziele führende“ iſt. Be— hufs der „Entwickelung einer Fundamental— formel“ werden nun im erſten Abſchnitt der mathematiſchen Entwickelungen folgende „Vorbedingungen“ aufgeftellt: Erſte Vorbedingung. Es ſeien pa Weibchen und ma Männchen einer Thier— art in einem gewiſſen Gebiete vorhanden. Letztere allein mögen nach einer beſtimmten Richtung veränderlich ſein und zwar mögen immer ö; derſelben während der Ent— wickelung zum reifen Alter abändern, alſo "nt, unverändert bleiben. Der Bruch „„ wird Variabilitätscoöfficient | 8 2 . en 496 genannt. — Zunächſt ein Wort über die vom Verf. eingeführte Bezeichnung. Es handelt ſich in der ganzen Unterſuchung nie um die abſolute Zahl der Weibchen und Männchen, ſondern ſtets nur um deren Verhältnißzahl; warum alſo nicht einfach ſagen: die Zahl der Männchen ſei das m fache von der der Weibchen, wo m ein beliebiger echter oder unechter Bruch ſein kann; weshalb drei Buchſtaben, a, p, m, wo einer genügt? Und warum für den Bariabilitätscoeffictenten zwei Buchſtaben, wo einer ausreicht? Dieſelbe eigenthüm— liche Art der Bezeichnung wiederholt ſich auch ſpäter; für fünf in Betracht gezogene Größen kommen zehn Buchſtaben zur Verwendung. Schon dadurch erhalten die „mathematiſchen Entwickelungen“ eine gewiſſe ſchwerfällige Unbeholfenheit, durch die ſie auch ſonſt ſich auszeichnen, und die Fundamentalformel ge— winnt ſicher nicht an Ueberſichtlichkeit und Verſtändlichkeit dadurch, daß die Größen, auf welche es ankommt, als ſolche gar nicht darin auftreten. Der Variabilitätscoöôfficient wird, ohne daß dies irgendwo ausdrücklich geſagt wird, (der Verf. ſcheint es als ſelbſtverſtändlich anzuſehen) als gleichbleibend angenommen. Er ſoll der gleiche ſein für Thiere, deren Vorfahren ſeit langer Zeit unverändert geblieben, und für Thiere derſelben Art, deren Vorfahren in dieſer Zeit von Ge— ſchlecht zu Geſchlecht ſich fortwährend ge— ändert haben. Wer die Darwin'ſche Theorie an der Erfahrung zu prüfen un— ternimmt, der ſollte doch wiſſen, daß eine ſolche Annahme unvereinbar iſt mit den allbekannten, Jahr für Jahr tauſendfältig aufs Neue beſtätigten Erfahrungen der Gärtner und Thierzüchter. Zweite Vorbedingung. Literatur und Kritik. „Die Anzahl der Jungen betrage ſtets das 1 fache der vorhandenen Paare. Die Zahl er heiße der Vervielfältigungscoöfficient. Er iſt unter allen Umſtänden eine ganze Zahl.“ — Unter allen Umſtänden? Doch wohl nur dann, wenn alle Paare gleich fruchtbar ſind. Und das iſt ein Umſtand, der in der Wirklichkeit vielleicht niemals eintritt. Immer oder faſt immer ſchwankt die Zahl der Jungen in engeren oder wei— teren Grenzen. Mögen bi, ba, bz. bp die Anzahl der Jungen je eines der p in einem Gebiete vorhandenen Paare be— zeichnen, ſo iſt allerdings jede dieſer Zahlen eine ganze Zahl und ebenſo Tb = pr; 9 die Wahrſcheinlichkeit aber, daß auch > eine ganze Zahl fei, iſt —= !/). Wie groß iſt alſo z. B. die Wahrſcheinlichkeit des nach dem Verf. „unter allen Umſtänden“ ein— tretenden Falles, daß x eine ganze Zahl iſt, für die Ehen im deutſchen Reiche? Unter allen Umſtänden beweiſt der Verf. durch dieſe wunderliche Behauptung, die übrigens ohne Einfluß iſt auf den Gang der mathematiſchen Entwickelungen, wie voll— berechtigt gerade er iſt, den Darwiniſten Mangel an Vorſicht, Klarheit und Schärfe vorzuwerfen. | In derſelben „zweiten Vorbedingung“ wird die Annahme gemacht, die wir uns merken wollen, „daß eine beſondere Aus— wahl von Seiten der Weibchen oder Männ— chen nicht eintrete.“ Dritte Vorbedingung. „Nach der Erzeugung der Jungen mögen die alten Thiere ſämmtlich zu Grunde gehen.“ Paßt für zahlreiche Thiere. In der vierten Vorbedingung wird der Bruchtheil von unveränderten Eltern abſtammender Jungen, der während des Heranwachſens ſtirbt, mit / bezeichnet und Abnahmecoöfficient genannt; es a Literatur und Kritik. wird angenommen, daß dieſer Abnahme— coöfficient „bei zunehmender Variirung“ ſich ändere, und zwar bei einmal variirten A o! ; „ bei zweimal va- Thieren um 201 8 t1 riirten um — . — u. |. w., jo daß t alſo „der Abnahmecosfficient im Verhält— niß der abgelaufenen Variationsperiode ſich ändert.“ Worauf gründet ſich dieſe An— nahme? Wenn durch den Kampf ums Daſein eine natürliche Ausleſe ſtattfindet, dann allerdings wird in Folge der Aus— leſe, aber nicht als unmittelbare Folge der Abänderung, der Abnahmecoöfficient, oder ſagen wir kürzer die Sterblichkeit der be- vorzugten Varietäten kleiner, diejenige der in ungünſtiger Richtung abweichenden größer ſein, als die der unveränderten Thiere. Wo aber keine Ausleſe eintritt, da beſteht kein nothwendiger Zuſammenhang zwiſchen Ab— änderung und Sterblichkeit. Und ſelbſt zu— geſtanden, daß jede Abänderung auch die Sterblichkeit der heranwachſenden Jungen irgendwie beeinfluſſe (warum nicht ebenſo den „Variabilitäts⸗“ und den „Vervielfältigungs— coéfficienten?“), zugeſtanden, daß der Ab— nahmecoöfficient eine Funktion ſei der „ab- gelaufenen Variationsperiode“, woher in aller Welt die Berechtigung zu der Annahme, daß die Veränderung des erſteren den letz— teren proportional ſei? — Wir wiſſen nicht, ob überhaupt y = f (x). Was ſchadet es? Nehmen wir an, es ſei y = Cx! Gewiß ein gutes Beiſpiel der „äußerſten Vorſicht“, mit welcher Verf. (S. 68) ſich bewußt iſt, zu Werke gehen zu müſſen. — Und wenn nun das Variiren eine Aender- ung der Sterblichkeit zu Wege bringen ſoll, weshalb ſoll dieſe Aenderung erſt bei den Jungen der variirenden Thiere eintreten, wie in des Verf. mathematiſchen Entwickelungen, 497 und nicht ſchon bei den variirenden Thieren ſelbſt? — Die ganze Annahme iſt aller thatſächlichen Begründung bar, aufs Gerathe— wohl aus der Luft gegriffen. Schlimmer noch ſteht es mit der fünf— ten Vorbedingung; denn ſie ſchlägt allen Thatſachen geradezu ins Geſicht. „Die Anzahl der Männchen, ſowie der Weibchen mögen ſich im Laufe der Zeiten nicht ändern.“!!! Vermag der Verf. ein einziges Dorf, eine Stadt, ein Land aufzuzeigen, deſſen Bewohnerzahl nicht „im Laufe der Zeiten“, nein, nur im Laufe eines einzigen kurzen Menſchenalters ſich nicht geändert? Vermag er eine einzige Thier— oder Pflanzenart nachzuweiſen, für welche, nur während zehn oder zwanzig Generationen, ein unveränderter Beſtand nicht bewieſen, nein, nur wahrſcheinlich gemacht werden kann? Von ſelteneren Thieren und Pflan⸗ zen weiß ja jeder Sammler, wie ſehr ihre Zahl in verſchiedenen Jahren wechſelt; ebenſo iſt es von ſchädlichen Thieren be— kannt, wie ihre Zahl bald raſch zu einer allgemeinen Landplage anſchwillt, bald ohne menſchliches Zuthun ebenſo raſch zurückſinkt. Bei anderen Arten pflegt man ihre wechſelnde Häufigkeit weniger zu beachten; doch könnte ich eine lange Reihe einſchlägiger Beiſpiele anführen. Es iſt ja übrigens dieſes Auf— und Abwogen im Kampfe ums Daſein, bei dem ewigen Wechſel der äußeren Verhält— niſſe (Wetter u. ſ. w.), ſelbſtverſtändlich. Es mag hier zu Lande, wo der Einfluß des Menſchen noch verſchwindend klein iſt, vielleicht mächtiger hervortreten, als wo Feld und Wald ſeit lange dem Anbau und der Pflege des Menſchen unterworfen wurden. Für die Wirkſamkeit natürlicher Ausleſe find, bei- läufig bemerkt, die Zeiten äußerſter Bedräng- niß, durch die wohl jede Art wiederholt hin— durchgehen muß, von der größten Bedeutung. Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. 498 Aber wie kommt der Verf. zu dieſer Annahme von der Unveränderlichkeit der Individuenzahl, welche die Lehre von der Unveränderlichkeit der Arten weit hinter ſich läßt? Er giebt uns ſelbſt die Antwort: die Reſultate zu einer Gleichung zuſammen— zufaſſen“. Die Annahme iſt alſo einfach gemacht, weil Verf. ſie für nöthig hielt, um eine „Fundamentalformel“ zu gewinnen, um dem Darwinismus mit tiſchen Entwickelungen“ zu Leibe gehen zu können. Ob ſie wahr ſei, oder auch nur wahrſcheinlich, iſt Nebenſache. Kümmerte | ſich Virchow um die Wahrheit der ge häſſigen Denunciation, die er in München gegen den Darwinismus ſchleuderte? Sechſte Vorbedingung. 1) „Jedes Männchen möge ſich immer nur mit einem einzigen Weibchen paaren und 2) diejenigen Männchen oder Weibchen, welche nicht beim erſten Male (?) einen Gefährten finden, mögen unfruchtbar zu Grunde gehen.“ Erſteres gilt für einzelne Thiere; was der zweite Theil Siebente Vorbedingung. „Eine einmal gewonnene Charaktereigenthümlichkeit werde ungeſchwächt auf die männlichen Jungen vererbt. Dieſe Vorbedingung iſt der Aus— druck eines Hauptgedankens der Darwini— ſtiſchen Theorie und wird hier zu Grunde gelegt, da die Betrachtungen ſich zunächſt ganz eng an die Grundſätze des Darwinismus anſchließen ſollen.“ — Aber wo hat Dar— win, wo hat einer ſeiner Anhänger, je eine ähnliche, aller Erfahrung zuwiderlaufende Behauptung ausgeſprochen? Welchem Thier— oder Pflanzenzüchter fällt es ein, eine „ein— mal gewonnene Charaktereigenthümlichkeit“ ſofort als ſicher befeſtigt zu betrachten und auf ihre „ungeſchwächte“ Vererbung zu rechnen? Soweit mir bekannt, haben alle „mathema- | Literatur und Kritik. Darwiniſten, die über Vererbung geſprochen, dabei ſtets den Rückſchlag im Auge be— halten. — Wie verträgt ſich übrigens mit dem hier vorgegebenen ganz engen Anſchluſſe an die Grundſätze des Darwinismus der „Unter dieſer Bedingung iſt es möglich, kurz vorher aufgeſtellte ultra-immutabiliſtiſche Satz von der Unveränderlichkeit der Indi— viduenzahl? Dies ſind die Annahmen, an welche ſich des Verf. „mathematiſch eingekleidete Schlüſſe“ knüpfen. Zum Theil, und es ſind dies gerade die wichtigſten, ſind ſie willkürlich aus der Luft gegriffen oder ſtehen in offenem Widerſpruche mit aller Erfahr— ung, zum Theil haben ſie nur eine be— ſchränkte Gültigkeit, während der Reſt nur eine Bezeichnung gewiſſer Verhältniſſe durch Buchſtaben enthält. Ich verliere kein Wort über den Werth, der demnach den Ergeb— niſſen des Verf. beizulegen iſt. Im zweiten Abſchnitte der „mathe— matiſchen Entwickelungen“ wendet Verf. die gewonnene Fundamentalgleichung an auf den Fall, „daß die Anzahl der Männ— der Annahme ſagen ſoll, iſt mir unerfindlich. chen das mfahe von der Anzahl der Weib- chen iſt“ und ſtellt ſich als Hauptaufgabe, „die nach x Generationen vorhandene An— zahl von veränderten und unveränderten Männchen zu beſtimmen“. Es wird dabei die Anſicht ausgeſprochen und der Rechnung zu Grunde gelegt, daß „eine ererbte und eine ſelbſt erfahrene Veränderung weſentlich gleichbedeutend ſind.“ — Verf. wird von jedem Gärtner oder Thierzüchter hören können, ob wirklich eine zum erſten Male auftretende und eine ſeit einer langen Folge von Generationen fortgeerbte Veränderung „weſentlich gleichbedeutend“ ſind in Bezug auf den Punkt, der allein hier in Frage kommt, die wahrſcheinliche Veränderlichkeit der Nachkommen. — Das vom Verf. gewonnene Ergebniß hätte unter den von ihm gemachten Voraus— ſetzungen wohl auf einfacherem Wege ge | funden werden können. Da Verf. in dieſem Abſchnitte den Abnahmecoöfficienten als conſtant annimmt, da nach ſeinen Voraus— ſetzungen weder die abſolute Zahl, noch die Verhältnißzahl der Männchen und Weibchen, ebenſowenig die Fruchtbarkeit der Paare und die Sterblichkeit der Jungen in irgend welcher Beziehung ſtehen zu dem Zahlen— verhältniß der mehr oder minder oft ab— geänderten Männchen, ſo hängt dieſes einzig und allein ab von dem als conſtant an— genommenen Variabilitätscoöfficienten. Mögen die männlichen Nachkommen jedes Paares ſich in zwei Gruppen ſpalten, von denen die eine unverändert, dem Vater gleich, die andere weiter verändert iſt, und mögen dieſe in dem Verhältniſſe 1: » ſtehen. Für drei aufeinanderfolgende Generationen ergiebt ſich dann: 1 — V — — — 1 — v 1 - v —— nn — —n 1l—v1i1-+v1i1+v1i-+v In der dritten Generation hat man alſo eine Gruppe unveränderter, drei Grup- pen einmal, drei Gruppen zweimal und eine Gruppe dreimal abgeänderter Männchen; die Zahlen der Männchen je einer dieſer viererlei Gruppen ſtehen im Verhältniß von 1: v: v2: v3. Alſo verhalten ſich die unveränderten zu den einmal, zweimal, dreimal veränderten Männchen, wie 1: 3v: 3v2:v3, Man ſieht ſofort, wie das in den folgenden Generationen weitergeht. Für die xte Generation werden die Verhältniß— zahlen der keinmal, einmal, zweimal,. .. bis x mal abgeänderten Männchen dargeſtellt durch die (X + 1) Glieder der Potenz (I )x. Für die Männchen, welche y mal abgeändert haben, hat man alſo xy. vx, Literatur und Kritik. 499 wo xy der y!° Binomialcosfficient von x. Setzt man X = 10, v ½ und multiplicirt mit 219, fo erhält man die vom Verf. auf Seite 22 gegebenen Zahlen. Zur Erlangung dieſes der einfachſten Ueberlegung ſich mühelos bietenden Ergeb— niſſes hat der Verf. 15 Seiten und eine weitſchichtige Rechnung mit zehn Buch- ſtaben gebraucht. Ein einziger thut's auch, wie man ſieht. Verf. knüpft hieran u. a. folgende Be- merkung: „Einzig und allein in dem ein- zigen, aber undenkbaren Falle, daß n der Einheit gleich iſt“ (d. h. daß alle Männ- chen variiren), „finden ſich künftighin nur veränderte Formen, in allen übrigen Fällen bleibt in einer guten Anzahl Nach— kommen die alte Form erhalten.“ Verf. ſcheint vergeſſen zu haben, daß es zwiſchen 2 und 1 auch noch Zahlen giebt wenn auch keine ganzen; für alle dieſe zwiſchen 1 und 2 liegenden Werthe von n aber tritt, unter den Vorausſetzungen des Verf., die Zahl der unveränderten Männchen zurück gegen die der am meiſten veränderten. Für n 1,5, (v = 2 nach der oben gebraud- ten Bezeichnung), würden die vom Verf. gegebenen Zahlen in gerade umgekehrtem Sinne gelten: unter 310 = 59049 Männ⸗ chen würden ſich ein unverändertes, 20 ein— mal veränderte u. ſ. w., dagegen 5120 neun⸗ mal und 1024 zehnmal veränderte finden. Wäre 59049 die Zahl der Männchen in einem beſtimmten Gebiete, und wären die Männchen hundertmal zahlreicher als die Weibchen, ſo würde die Wahrſcheinlichkeit, daß jenes eine unveränderte Männchen eine Genoſſin fände, nur ½100, die Wahrſchein— lichkeit, daß eins der 20 einmal veränderten Männchen zur Paarung gelangte, nur ½ ſein. Wahrſcheinlich alſo würden ſchon in der elften Generation alle unveränderten 500 und einmal veränderten Männchen verſchwun— den ſein, und ſo, ſelbſt ohne Ausleſe, nach und nach alle minder veränderten Männ— chen ausſterben. Das Ergebniß dieſes zweiten Abſchnittes iſt, daß wenn keine beſondere Auswahl von Seiten der Weibchen ſtattfindet, — wir erinnern uns, daß dies eine der Vorbeding— ungen des Verf. war, — „ein Chaos von ineinanderfließenden Männchenformen“ ent— ſteht. Das aber ſteht „mit der Erfahrung im ſchneidenden Widerſpruch“; alſo „folgt nothwendig, daß der Darwinismus für die Erklärung der ſecundären Geſchlechtscharak— tere nicht ausreicht.“ — Wir könnten uns des Verf. Vorderſätze wohl gefallen laſſen und nur bedauern, daß fie auf jo völlig haltloſen Grundlagen ruhen; denn wahr— ſcheinlich würde die Mehrzahl der Natur— forſcher aus denſelben Vorderſätzen den Schluß ziehen: alſo folgt nothwendig, daß bei Entſtehung des ſecundären Geſchlechts— charakters eine beſondere Auswahl im Spiele geweſen iſt. Der dritte Abſchnitt der „mathematiſchen Entwickelungen“ erwägt den Fall, daß die Eltern nur allmälig abſterben, ſieht alſo ab von der dritten Vorbedingung des erſten Abſchnitts. Ob die Unterſuchung den ver— wandten „umfänglichen mathematiſchen Ap— parat“ wirklich verlangt, wie Profeſſor Günther glaubt, möchte ich bezweifeln; jedenfalls hat dieſer umfängliche Apparat zur Folge gehabt, daß Verf. die weitſchich— tige Rechnung nicht' über die dritte Gene— ration hinausgeführt hat. Und ſo kann, ganz abgeſehen von der Unhaltbarkeit der Vorausſetzungen, das Ergebniß dieſes Ab- ſchnittes nicht einmal als mathematiſch be— wieſen betrachtet werden; denn aus den erſten Gliedern einer Reihe läßt ſich kein Schluß ziehen, der über ſie hinausreicht, ſo lange | Literatur und Kritik. nicht das Geſetz, nach welchem ſie fort— ſchreitet, erkannt iſt. Wie nöthig dieſe von jedem beſonnenen Mathematiker geübte Vor— ſicht ſei, dafür liefert Verf. in demſelben Abſchnitte ein ſchlagendes Beiſpiel. Unter der Vorausſetzung, daß „ein Theil der jedes— mal vorhandenen Eltern dreimal zu einer Brut gelangt und das Abſterben der alten Thiere dabei derart geregelt iſt, daß im Laufe jeder Entwickelungsperiode der dritte Theil dieſer urſprünglich vorhandenen Thiere zu Grunde geht, ſo daß alſo ein Drittel noch zur dritten Brut gelangt“, kommt näm⸗ lich Verf. nach (obendrein falſcher) Berech— nung von nur zwei Gliedern der betreffen— den Reihe zu dem Schluſſe, daß unter den genannten Bedingungen und bei unverän— derter Sterblichkeit (/) der Jungen, die Fruchtbarkeit der Paare G) mit der Zeit wachſen muß!!! — „Doch laſſe man dies noch einen Augenblick außer Acht“, fügt der Verf. hinzu, kommt aber nie wieder auf dieſe Frage zurück und läßt ſo den Leſer in Zweifel, ob ihm überhaupt klar geworden, was er eigentlich aus ſeinen Formeln herausgeleſen hat. Mit dem weit— ſchichtigen Apparate des Verf. würde man Bogen brauchen, um die auf flacher Hand liegende Verkehrtheit ſeines Schluſſes mathe: matiſch nachzuweiſen. Und doch iſt die Sache höchſt einfach. Die vom Verf. mit 2 r (/ (mA!) bezeichnete Größe, die alſo der Fruchtbarkeit der Paare (r) propor- tional iſt, fo lange m und t ſich nicht än— dern, drückt nichts anderes aus, als die Zahl der bei jeder Brutzeit neu hinzu— tretenden Männchen, verglichen mit der als Einheit betrachteten Geſammtzahl derſelben. Wir wollen ebenſo mit Y und X die Zahl der Männchen bezeichnen, welche beziehungs— meiſe zum zweiten oder dritten Male die Brutzeit erleben. Dann ergiebt ſich, da von den erwachſenen Männchen Literatur und Kritik. jeder Brut PF 501 2 die zweite, ½ die dritte Brut erleben ſollen, für ſieben aufeinanderfolgende Brut- zeiten: | X. 2 Z. m | il — 2187 5 73 2187 1 = , 9 =? 6 1g7 u * —92187 II J — 12187 Ger 187 "far 967187 h 187 1 = Aa) O 181 — 99187 u | —8¹— 27218 68612 6187 ½43 - 1 sr * os — 62187 7729 — „1837 720 — 92137 VII ——29 — 921827 187 187 Die Rechnung iſt leicht fortzuſetzen und es ergiebt ſich, was ſchon die vorgeführten Glieder veranſchaulichen, daß Z (und das ihm proportionale r) keineswegs mit der Zeit wächſt, daß ſich vielmehr Gruppen von je drei Werthen bilden, in der Weiſe, daß rn ZVII N und daß (zun — ZI) => (ZYI: 27) > (Ax — S daß fi) alſo Z mit der Zeit einem Grenz— werthe nähert, der, wie ſchon die vorſtehen— den Glieder errathen laſſen, = ½ iſt; ebenſo nähert ſich v dem Werthe ½ und X dem Werthe ¼, jo daß ſchließlich I 23. Es liegt ja auf der Hand, ſobald bei jeder Brutzeit gleichviel friſche Männchen eintreten, von denen 2/ zur nächſten, ½ zur übernächſten Brutzeit übrig bleiben, daß dann, bei gleichbleibender Geſammtzahl das Verhältniß der drei Altersklaſſen das eben angegebene ſein muß. Verf. hat bei ſeiner Rechnung angenommen (und dieſelbe An— nahme iſt deshalb obiger Tabelle zu Grunde gelegt), daß das Weiterleben gewiſſer Paare über die erſte Brutzeit hinaus erſt gleich- zeitig mit dem erſten Auftreten der Varia— bilität der Männchen eingetreten ſei, — eine äußerſt unwahrſcheinliche Annahme. Die weit natürlichere Annahme, daß beim Ein— tritt der Variabilität ſchon Männchen von drei Altersclaſſen im Verhältniß von 3:21 vorhanden geweſen, würde die Rechnung ſehr vereinfacht, z. B. für 2, wie ſchon er- wähnt, den conſtanten Werth ½ gegeben haben. Noch einfacher und thatſächlich vor— kommenden Verhältniſſen mehr ſich nähernd, wäre es wohl geweſen, jedes erwachſene Männchen drei Bruten erleben, jedes Mal alſo ein Drittel der Geſammtzahl neu Hin- zutreten zu laſſen.“) ) Verf. findet richtig für die erſte Brut- zeit Z = ½, für die zweite aber nicht —2 /10 =, ob⸗ wohl er nämlich ſelbſt ausrechnet, daß für aufeinander folgende Bruten der Werth von — 0 5 10 fich ändert, obwohl er alſo dieſe verſchiedenen Werthe in demſelben Aus- drucke nicht mit demſelben Buchſtaben hätte bezeichnen dürfen, hat er dies doch gethan in den S. 27 aufgeſtellten Ausdrücken. — Ein ſtarkes Stück für einen preußiſchen Oberlehrer! — Daher jener Irrthum. Führt man ſtatt de Buchſtaben 2 ein, und be- t (1 4 m) zeichnet die dem verſchiedenen Alter der Thiere %, ſondern 2 = entſprechenden beiden Werthe durch und ZU, ſo erhält man zur Beſtimmung von 2“ die LG 502 Literatur und Kritik. Ich halte ein, um die Leſer nicht zu unhaltbaren Erklärungsverſuche verlockt hat; ermüden. Die noch folgenden Abſchnitte der „mathematiſchen Entwickelungen“ ſind den vorangehenden ebenbürtig. Als Beweis ge— nüge ein einziges Beiſpiel aus dem VI. Abſchnitte, der überhaupt durch unglaub- | liche Naivetät — bezeichnendere deutſche Ausdrücke ſind unparlamentariſch — ſich auszeichnet. erſten Generation 2, in der zweiten 4— 22, in der dritten 8 - 23, in der vierten 16 = 2* Gruppen — fo weit geht die Berechnung des Verf. —, von denen immer die Hälfte ſchwächlich, die Hälfte kräftig ſind, Bilden die Weibchen in der und „find 1000 Entwickelungsperioden ver- floſſen, ſo hat man ſchon 1001 verſchiedene Gruppen unter den ſchwächlichen Weibchen, und ebenſo 1001 verſchiedene Gruppen unter den kräftigen Weibchen der letzten Genera— tion.“ Seit wann iſt 210 = 2 K 10012 — Man meint in 1001 Nacht zu leſen, ſtatt in „mathematiſchen Entwickelungen“ eines preußiſchen Oberlehrers. — Dem mathematiſchen Theile der Schrift ſchließen ſich drei weitere Capitel an, in denen ich Nichts finde, was der Beachtung und Beſprechung werth wäre. Sie ent— halten weder neue Thatſachen, noch Gedan— ken. Wenn im zweiten Capitel Verf. an „Beiſpielen zum Schlußverfahren Darwini- ſtiſcher Schriftſteller“ nachzuweiſen ſucht, wie ſchlecht es mit deren Logik beſtellt ſei (da— bei manchen Mißverſtändniſſen verfallend, wie bei zweien der drei Beiſpiele, die er der Schrift des Ref. „Für Darwin“ ent— lehnt), ſo räume ich für meinen Theil willig ein, daß mich der Darwinismus anfangs zu manchem übereilten Schluß, zu manchem Gleichung: am S 4 + 8 (Z. + 20 + am 2. 2 oder: %, (Z. * zZ) + 2. 2 = 2 alſo, da 7 — Y iſt, A je: Ja. | ſein. zum Glücke habe ich fie meiſt für mich be— halten. Anderen mag es ähnlich gegangen Man darf uns wohl verzeihen, daß uns bisweilen das neue Licht geblendet, die neue Erkenntniß berauſcht hat. Aber was haben einzelne Irrthümer, Fehlſchlüſſe, Uebertreibungen ſeiner Anhänger zu thun mit der Wahrheit des Darwinismus? Und was bedeutet die Bemängelung einzelner mißlungener Erklärungsverſuche durch Herrn Oberlehrer Dr. Paul Kramer in Schleu— fingen, gegenüber den Tauſenden von TIhat- ſachen, welche, den geſammten Inhalt weiter Wiſſensgebiete umfaſſend, nur von der Ab— ſtammungslehre und vom Darwismus aus zu verſtehen ſind? Itajahy, September 1878. Fritz Müller. Aus dem Orient. Zweiter Theil. Geologiſche Beobachtungen am Libanon, von Profeſſor Dr. Oskar Fraas. Mit 6 Tafeln und 9 Holz ſchnitten. Stuttgart, E. Schweizerbart'ſche Verlagsbuchhandlung (E. Koch) 1878. 136 Seiten in 8°, Dieſes kleine Buch des berühmten Mün⸗ chener Geologen und Anthropologen iſt außerordentlich reich an wichtigen Ergeb— niſſen; es reformirt unſere Anſchauungen über Klima und Bewohner des Morgen— landes in den älteſten Zeiten von Grund aus. Schon bei ſeinem erſten Beſuche des Morgenlandes, deſſen Bericht wir in dem 1867 erſchienenem erſten Theile erhielten, war dem Verfaſſer klar geworden, daß dieſe Länder, ſeitdem ſie von Menſchen bewohnt ſind, beträchtliche klimatiſche wie geologiſche Veränderungen durchgemacht haben müſſen. Eine Einladung des europäiſch gebildeten e 2 ia iii Literatur Gouverneurs der Libanonländer, Ruſtem Paſcha, gab im Jahre 1877 zunächſt Ge— legenheit, dieſes Gebiet mit einer Genauigkeit geologiſch zu unterſuchen, wie ſie bisher noch nicht angewendet worden war, dann aber namentlich auch dazu, die Spuren des vor— hiſtoriſchen Menſchen in jenen Gegenden zu ſtudiren und ausführlicher auf die im erſten Bande nur kurz angeregte Klimafrage zu— rückzukommen. Was den Grundſtock des Libanon⸗Gebirgs anbetrifft, ſo gehört er zur Jura- und Kreide-Formation, auf welche nur an wenigen Stellen tertiäre (miocäne) Schichten aufgelagert erſcheinen. Wir müſſen wegen dieſer Unterſuchungen auf das Dri- und Kritik. ginal verweiſen und wollen nur über die prähiſtoriſchen Funde einen kurzen Auszug fang der dreißiger Jahre Hedenborg und Botta der Knochenbreccien von Ant-Elias und der Grotte am Hundsfluß Erwähnung gethan. Der Expedition des Herzogs von Luynes war es (1864) vorbehalten, in dieſen Breccien die Spuren prähiſtoriſcher Stationen zu erkennen, doch auch ihre Unter— ſuchung der betreffenden Höhlen war nur eine ſehr flüchtige. Inzwiſchen war an Ort und Stelle viel geſammelt worden, aber die Klaſſification und Deutung der Schicht, in der ſich dieſe Ueberreſte der Prä-Adamiten des gelobten Landes finden, iſt erſt durch Fraas gegeben worden. Er identificirt dieſes Kalkgebäck, welches nicht nur die Höhlen er— füllt, ſondern in Paläſtina Hügel und Thäler der Kreideformation, wie der Zuckerguß eines Conditors ſein Gebäck, überzieht, mit der terra rossa der dalmatiniſchen Berge, wie Hauer (1868) dieſe Conglomerat-Maſſe getauft hat. „Am Libanon erſt“, jagt Fraas, lernte ich dieſes Geſtein recht kennen und verſtehen, wo es ſich von den höchſten Bergen 503 herab bis an das Meer zieht, und mit Vorliebe den Thalgehängen nachgeht. Es iſt ſtets auf Kreidefelſen aufgeklebt, und die feſt cementirte Breccie aufs Innigſte mit dieſem verwachſen. Wie ſich nur ein Mörtel an alten römiſchen Bauten mit den Mauer— ſteinen verbindet, ſo feſt klebt die Breccie am Kreidekalk, der augenſcheinlich die Waſſer, die über ihn liefen, mit kohlenſaurem Kalk geſchwängert hat, alſo daß ſie in den Stand geſetzt wurden, den Schutt von loſem Ge— ſtein, Knochen, Zähnen, Feuerſteinen, Kohlen, und Aſchen zu cementiren. Ueber die Zeit der Bildung habe ich keinen Zweifel mehr: es iſt die Zeit der Gletſcher, und der Schutt, der auf dem Rücken der Gletſcher von den Höhen zu Thale ſchob, iſt glacialer Schutt der zu geben verſuchen. Ohne den Werth ihrer Entdeckung zu beachten, hatten ſchon zu An— Moränen. Derſelbe iſt 1) wirklicher Schutt, d. h. eckige, wenig entkantete Marmore, Dolomite, Sandſteine und Baſaltite, kurz die härteren Geſteine, die es überhaupt im Libanon giebt, nur wenig gerollt und ab— geſchoben, in allen denkbaren Größeverhält— niſſen, von der Staubform an, bis zur Größe mehrerer Kubikmeter. 2) Die kleinſt zer— trümmerten, zu Pulver zermahlenen Theile des Kreidegebirges, namentlich der erzfüh— renden mittleren Formation. Der fein vertheilte, die Kalke durchſetzende Schwefel— fies färbte die ganze Maſſe braunroth; da— her die röthliche Erde, die über Paläſtina hin auf ſo vielen Höhen liegt; ſie iſt der „Erdenkloß“, aus dem der erſte Menſch gebildet war.“) 3) Die terra rossa be- 0 Der Verfaſſer ſpielt hier offenbar auf den unweit Hebron belegenen Ager Damas- cenus an, auf welchem nicht nur Abraham, Iſaak und Jacob, dieſe berühmten Seigneurs de Damas gewohnt haben und begraben liegen, ſondern wo auch Adam an Ort und Stelle erſchaffen, und vor und nach der Paradieſes— zeit gelebt haben ſoll. Die Pilger der erſten Jahrhunderte und des Mittelalters füllten hier 504 wahrt in ſich die Spuren prähiſtoriſcher Zeit, Holzkohlen, Aſchen, Steinmeſſer, Scher— ben, Knochen und Zähne der Thiere, die dem prähiſtoriſchen Menſchen zur Nahrung dienten. 4) Die Ebenen, in welchen die terra rossa, den Untergrund bildend, ſich über Meilen ausdehnt, iſt ſtrichweiſe über— ſät mit erratiſchen Blöcken . . . 5) Inner— halb der Engpäſſe klebt der Schutt an den Felswänden, völlig mit denſelben verwachſen, namentlich gern bei Biegungen des Thales in Niſchen und Löchern, welche damit ange— füllt ſind. Ein ausgezeichneter, ſehr leicht erreichbarer Punkt iſt an dem großen Völker— weg, der an der Mündung des Hunds— fluſſes auf einer in die Felſen gehauenen Straße zwiſchen dem Meer und dem Ge— birge hinführt. In Spalten der Felſen, auf welche die Aegypter unter Seſoſtris zu Ende des vierzehnten Jahrhunderts v. Chr. ihre Felſeninſchriften dem ammoniſchen Gotte Phtha zu Ehren eingemeißelt, und die Aſſyrer den Einfall Sanheribs (701 v. Chr.) in reizender Keilſchrift auf den Gewändern ihrer Fürſten verewigt, auf welchen (180 n. Chr.) ihre Taſchen mit dieſer koſtbaren, immer nach— wachſenden rothen Erde, aus der Adam ge— macht ſein ſollte, und die ſie angeblich, ohne den Anklang an die Anthropophagie zu ſcheuen, ihres pikanten Geſchmackes halber, als eine Art Gewürz verzehrt haben ſollen. In den Pilgerſchriften des Mittelalters, namentlich auch noch bei Mandeville und Fabri fin— det man die wunderbarſten Berichte über dieſe präadamitiſche, rothe Erde: Der Letztere, welcher 1483 — 1484 dieſe Stätten beſuchte, probirte in ſeiner Naivetät ſogar die Bild— ſamkeit des Materials. er, „iſt an der Oberfläche in Wahrheit grob und braun, aber wenn man gräbt, erſcheint ſie roth und lehmig, ſchmiegſam und geeignet, Figuren daraus zu bilden. daß wer von dieſer Erde bei ſich trägt, auf der Reiſe nicht müde wird, oder wenn er zu Literatur und Kritik. „Dieſe Erde,“ ſagt Man ſagt auch, der römiſche Kaiſer Marcus Antoninus und letztmals 1868 die franzöſiſche Expedition tapoleons III. eine Felſentafel mit den Namen der Generäle und Oberſten bedeckt hatten, liegen die noch viel älteren Zeugen menſchlicher Spuren der Steinmeſſer und Thierknochen als Zeugen einer Zeit vor der Gletſcherperiode oder Bildung der terra rossa.“ Zu den früher bekannten prähiſtoriſchen Grotten am Libanon entdeckte Fraas eine beſonders ergiebige im Djauz-Thale (Wadi e Djauz), die wahrſcheinlich erſt neuerdings durch Menſchenhände im Kreidemarmor aus— gehöhlt iſt, um den phosphorſäurereichen Inhalt, als — Düngemittel für eine Tabaks— plantage zu benützen. Der Boden dieſer Grotte und deren Dach iſt das reinſte Ge— bäcke aus Kohlen und Aſchentrümmern, Knochen, Zahufetzen und Feuerſteinlamellen jeder Art. Hier brachte Fraas em: reiches Unterſuchungsmaterial zuſammen, zu dem noch Geweihſtücke, Knochen und Zähne aus einer Höhle bei Faraiya kamen, die der deutſche Generalconſul Weber nach Berlin geſandt hat, und die dem Verfaſſer Pferde iſt, nicht ſtürzt, oder wenn er ſtürzt, ſich nicht verwundet, oder wenn er ſich ver— wundet, gleich wieder geheilt aufſteht u. ſ. w.“ Auf die Autorität des heiligen Auguſtin und Methodius hin, welche von dreiunddreißig Kindern Adams Nachricht hatten, zeigte man auf demſelben Felde, außer vielen anderen Merkwürdigkeiten auch das nidus pullifica- tionis generis humani, eine Grotte, in welcher ſich Adam und Eva um die Fortdauer des menſchlichen Geſchlechtes bemüht haben ſollen, nachdem der Tod in die Welt gekommen war. Bekanntlich zeigte man auch in Griechenland, wie Pauſanias erzählt, unweit Panope in Phokis (jetzt St. Blaſios) eine röthliche, ſchon im Voraus nach Menſchenfleiſch duftende Erde, aus welcher Prometheus die erſten Menſchen gemacht haben ſollte. zur Vergleichung überlaſſen wurden. Die Funde gruppirten ſich nun wie folgt: Die Feuerſtein⸗Inſtrumente zerfallen in 1) ächte Spaltſplitter (lames), mit der breiten innern Flachſeite, der ſchmalen Außenſeite und den ſchief anliegenden zwei Seitenflächen; 2) dieſelben, zugeſpitzt oder abgerundet (grattoirs); 3) gleichſeitige Dreiecke, deren Kanten zugeklöpfelt ſind; 4) runde oder ovale Lamellen; 5) formloſe Splitter zweifel— haften Urſprungs. Von den Reſten der quaternären Thiere, welche die Zeitgenoſſen des prähiſtoriſchen Menſchen am Libanon waren, ſind hervorzuheben: Eine auffallend kleine Varietät des nordiſchen Bären (Ursus arctos Linné), von dem Fraas einen voll— ſtändigen Unterkiefer aus der Hundsfluß— grotte herausgegraben hat. Zwar erinnert der hinter dem Eckzahn ſtehende Lückenzahn an denjenigen von Ursus priscus, aber die kleine Figur deutet auf jene kleine Varietät des grauen Bären, welche unter dem Namen U. isabellieus oder syriacus noch jetzt am Libonon hauſt. Ferner der Höhlenlöwe, das wollhaarige Nashorn, der Wiſent, das Urſchwein, eine Equus-Art, der Edelhirſch, eine dem Damhirſch ähn— liche oder identiſche Art, der von Luther „Gemſe“ getaufte Sinai-Steinbock (Capra sinaitica), und eine neue, etwas größere Art, welche Fraas Capra primigenia nennt, und die möglicherweiſe mit einer der von P. Gervais ſtudirten Ziegenraſſen übereinſtimmt, welche Zeitgenoſſen des Mam— muth waren. „Gerne ſehe ich“, ſetzt Fraas hinzu, „in Capra primigenia die Stamm- raſſe der Hausziege, welche wenigſtens in den deutſchen Höhlen bis jetzt nicht ge— funden wurde und erſt in der verhältniß— mäßig jungen Zeit der Pfahlbauten auftritt. Der Gedanke liegt nun ſehr nahe, daß im Kosmos, II. Jahrg. Heft 12. Lande der Phönicier die jo werthvolle Haus- Literatur und Kritik. 505 ziege zuerſt gezähmt wurde. Haben doch die Phönicier nach den übereinſtimmenden Zeugniſſen der Griechen zuerſt ſich Haus— thiere gezüchtet und Gewächſe gebaut, an denen beiden ſie aus dem halbbarbariſchen Zuſtand der Wandervölker zu einem ftatio- nären, Ackerbau treibenden Volk ſich empor— ſchwangen.“ Die bereits S. 64 dieſes Bandes kurz erwähnten Nachrichten, den quaternären Pflanzenwuchs am Libanon betreffend, wollen wir ihres außerordentlichen Intereſſes wegen, bei dieſer Gelegenheit lieber vollſtändig mit- theilen, weil ſie die klarſte Anſchauung von dem hier eingetretenen Klimawechſel geben. „Nicht minder als die Höhlen- und Grotten— funde und die Ausbeute in der terra rossa“ jagt Fraas, „verdienen die ältern Kalk- tuffe in der Nähe der Quellen unſere Aufmerkſamkeit. Eine dieſer Lokalitäten wurde von mir näher unterſucht; ſie liegt 130 Meter unter den Cedern, wo die Kadiſcha-Quelle unterhalb des Moränen— ſchuttes, wahrſcheinlich aus dahinterliegendem Sandgebirge, durch einen engen Spalt hervor— bricht. Toſend dringt der ſtarke Quell aus ſeiner Höhle, um ſich ſofort in Cascaden von gegen 100 Metern über die Felſen zu ſtürzen und im Sturz ſich in Staub auf— zulöſen. Die Felſen gehören alle der Moräne an, denn ſie beſtehen aus einem Felſenſchutt, der dem Machmel entſtammt, wahre Rieſenbreecien von glatten, rauhen, weißen, grauen, löcherigen Kalken, Dolo— miten und Mergeln. Der Schutt iſt durch— gängig durch Kalkwaſſer cementirt und hat nach Maßgabe der ſpäteren Eroſion die kühnſten Geſtalten angenommen, zu denen ſich nur eine Phantaſie aufſchwingen kann. In den letzten bis gegen Bſcherre vorge— ſchobenen Felſen hat ſich das Kloſter Mar Sar— kis eingegraben, von welchem nur eine ſchmale, 66 506 weinumrankte Terraſſe ſichtbar iſt. Die Kirche, die Wohnräume und Zellen ſind alle im Felſen. Luft und Licht fällt durch ſchmale Lucken ein. Dieſe Moräne, die von ihrem Anfang bei den Cedern in einer Höhendifferenz von 400 Meter ſich erſtreckt, weiſt an verſchiedenen Stellen Kalktuffe auf, die theilweiſe mit den Abdrücken von Pflanzen- reſten erfüllt und von Röhren durchzogen ſind, die von Schilfen und Gräſern her— rühren. Am bekannteſten aber ſehen die Abdrücke von Blättern aus, von welchen eine Anzahl geſammelt wurde. Leider gingen die meiſten Hauptſtücke beim Transport ſchon über die Berge und Schluchten des Libanon zu Grunde. Der Kalkſinter, in welchem die Blätter abklatſchte. iſt in einer Weiſe zerbrechlich und bröcklich, daß deſſen Fixirung ohne Leimwaſſer nicht möglich iſt. Bis dies geſchah, war der größere Theil zerfallen. Doch ließen ſich noch be— ſtimmen die Blätter von Eichen, Buchen, Ulmen und Haſelnuß. Eichen ſind zwar noch im Libanon, es ſind aber andere Arten als die Quercus pedunculata und sessiliflora, welche unſere deutſchen Wälder kennzeichnen. Dagegen weiſen die bei Bſcherre erſammelten Stücke auf unſere großblättrige Art, welche mit der klein— blättrigen Kermeseiche oder der ſtachel— blättrigen immergrünen Art des Libanon nichts gemein hat. Der gleiche Fall iſt mit der Haſelnuß; man ſucht ſie vergeblich unter den wildwachſenden Sträuchern des Libanons. Noch weniger ſind Ulmen und Buchen in Syrien zu finden.“ „Die Funde der Blattabdrücke genannter Bäume ſprechen nach meiner Anſicht mit großer Beſtimmtheit für ein weſentlich verändertes Klima, in welchem an— Literatur und Kritik. Meereshöhe bis zu 400 Meter zu treffen iſt. Laubwald deckte die Berge in prähiſtoriſcher Zeit, bis das „feuerſchnaubende Ungeheuer Aegis“ (Diodor 3, 70) die Wälder an— zündete. Sturm und Wetter, nicht etwa Menſchenhand, änderte jedoch dieſes Klima, über deſſen Exiſtenz nur noch die Abdrücke der Blattleichen uns dunkle Kunde geben. Eine einzige Art nur von den Bäumen der prähiſtoriſchen Zeit hat die Wandlung des Klimas mit durchgemacht, die Cedern des Libanons, von denen eine kleine Anzahl noch übrig iſt.“ „Für die weite Verbreitung der Ceder, Pinus cedrus, in früherer Zeit ſprechen die Zeugniſſe des alten Teſtaments, wonach nicht blos zum Bau der Tempel und Paläſte in Jeruſalem Cedernholz als Bauholz ver— wendet wurde, ſondern die Schiffe (Maſt— bäume) der ſyriſchen Flotte, die Vertäfel— ung der Wohnungen, Schnitzwerke, Götzen⸗ bilder und dergl. aus dem duftenden, harz— reichen Holz hergeſtellt wurden. Wenn ferner die Schrift gerade die Ceder zum Ideal von königlicher Pracht, Schönheit und Majeſtät macht, und ſie als Vorbild der Ehrwürdigkeit darſtellt, ſo darf man wohl annehmen, daß ſchon in den alttefta- mentariſchen Zeiten ſolche Rieſenbäume zu ſchauen waren, wie heutzutage nur noch fünf Exemplare exiſtiren. Eben damit reichen ſie ſchon in die prähiſtoriſche Zeit, aus welcher ſie die hiſtoriſche Zeit geerbt hat.“ „Im Jahr 1550 zählte Bellonius die alten Bäume und fand 28 Stück, 1573 Rauchwolf 24; Pococke 1754 nur noch 15, Burkhardt 1810 nur 10—12, Ruſſegger (1836) 7, ſeit 1875 ſind es nur noch 5. Man kann nach dieſem ſteten Abgang der alten Bäume, nähernd ein Baumſchlag herrſchte, wie er welche den Stürmen und Gewittern er— z. B. heutzutage in Deutſchland bei einer liegen, mit großer Beſtimmtheit voraus— | Literatur und Kritik. jagen, daß ums Jahr 1940 keiner der alten ſalomoniſchen Bäume mehr am Leben ſein wird. Dies aber iſt der beſte Beweis dafür, daß die Cedern heutzutage nicht mehr in dem ihnen zuträglichen Klima und auf dem ihrem Gedeihen entſprechenden Stand— ort ſtehen. Jetzt gedeiht bekanntlich in Mitteleuropa, ja ſogar am Canal, der Nord— ſee und Oſtſee die Libanonceder beſſer als am Libanon. Es verhält ſich, wie es ſcheint, mit den natürlichen Zuſtänden eines Landes nicht anders, als mit den Erzeugniſſen des menſchlichen Geiſtes, der gewiſſe Sitze des Planeten verläßt, um anderswo Blüthen und Früchte zu treiben.“ Das Titelbild ſtellt eine der ſchönſten und älteſten Cederngruppen des Libanons dar, die ſechs Tafeln geben Verſteinerungen des Libanon⸗Gebirges. Darunter eine Auswahl der altberühmten Judenſteine vom Berge Karmel, Seeigelſtrahlen, die für Oliven, oder Datteln ausgegeben wurden, welche der Fluch des Propheten Elias verſteinert haben ſollte, und die von den Pilgern eifrig geſammelt wurden. Die Ausſtattung iſt der Arbeit angemeſſen eine vorzügliche. Profeſſor A. de Quatrefages, das Menſchengeſchlecht. Autoriſirte Aus— gabe. Leipzig, 1878. F. A. Brockhaus. 2 Bde. 336 und 276 Seiten. Dieſes Werk, welches den XXX. und XXXI. Band der internationalen wiſſen— ſchaftlichen Bibliothek bildet, wird von den deutſchen Herausgebern derſelben, Prof. J. Roſenthal und Prof. Oskar Schmidt, mit einer Bemerkung eingeleitet, der wir vollſtänd ig beipflichten müſſen. Sie ſagen nämlich: „Auch diejenigen Leſer, welche mit uns über Leben, Thierſeele, Menſchenſeele, Art, Stellung des Menſchen zum Thiere . | 507 u. A. entgegengeſetzter Anſicht ſind, als de Quatrefages, werden aus ſeinem Buche viele Belehrung ſchöpfen.“ Das ift ganz ſicher; das Buch enthält eine Fülle aus eigner Anſchauung und tiefen Studien geſchöpfter Einzelheiten, die gut gruppirt und lebendig vorgetragen werden, doch enthält ſich der Verfaſſer nicht nur aus den meiſt genau wiedergegebenen Ihat- ſachen weitere Schlüſſe zu ziehen, ſondern er bekämpft auch alle diejenigen, welche dies thun. Es geht zur Evidenz hervor, daß eine philoſophiſche Behandlung allgemeiner Probleme nicht des Verfaſſers Stärke iſt. Wie ſonderbar iſt gleich im Anfange die Eintheilum des All's in fünf Reiche: Sideralree , Mineralreich, Pflanzenreich, Thierreich und Menſchenreich, die nach ganz ungleichen Principien abgegrenzt werden. Der Menſch ſoll ſich von den Thieren nicht durch Intelligenz und Sprache unterſcheiden, die vielmehr beide den Thieren zugeſprochen werden, ſondern durch Moral und Religion! Und zwar ſollen die letzteren nicht Aus— flüſſe der Intelligenz ſein, welche den Thieren zugeſprochen wird, ſondern ſpecifiſche Eigen⸗ thümlichkeiten einer noch unbekannten Ur— ſache, die er „Menſchenſeele“ nennt. Im erſten Bande wird ſodann die Einheit des Menſchengeſchlechts (wegen der Fruchtbarkeit der Raſſenvermiſchung) gegen die Poly- geniſten vertheidigt, dann mit Verwerfung der Darwin'ſchen und verwandter Hypotheſen, für Jeden, dem das lieber iſt, „bewieſen“, daß wir über die Herkunft des Menſchen gar nichts wiſſen; dann das Alter des Menſchengeſchlechts, die Wanderungen, Accli— matiſirung und Raſſenbildung zum Gegen— ſtand eben ſo vieler Abſchnitte gemacht. Von ganz beſonderer Rundung und vor— züglichſter Ueberzeugungskraft iſt darin z. B. das 17. Kapitel, welches die polyneſiſchen und 508 Literatur und Kritik. neuſeeländiſchen Einwanderungen ſchildert. ſchen Geologen, welche die Gedanken Lyell's Im zweiten Bande betritt der Verfaſſer ſein eigentliches Arbeitsgebiet, indem er die aus— geſtorbenen und lebenden Menſchenraſſen ſo eingehend charakteriſirt, wie es bei dem hat außer mehreren neuen Holzſchnitten auch knappen Raume nur immer möglich iſt. Die Schilderungen der Canſtatt-, Cro- Magnon- und Furfooz-Raſſen dürfen als kleine Meiſterſtücke betrachtet werden. In dem zehnten und letzten Buche, welches von den pſychologiſchen Charakteren der Species Menſch handelt, tritt wieder der engere Standpunkt des Verfaſſers mehr hervor, und es wird namentlich Lubbock abge— kanzelt, weil er einigen wilden Völkern ganz dasjenige abgeſprochen hat, was ja nach de Quatrefages das weſentliche Kriterium der Gattung Menſch ſein ſoll, nämlich die Religion. Nun, wie geſagt, das Buch iſt nicht arm an ſchiefen Geſichtspunkten, die uns aber nicht abhalten ſollen, die Vor— trefflichkeit einer großen Anzahl von Einzel— ſchilderungen anzuerkennen. Bernhard von Cotta, die Geo— logie der Gegenwart. Fünfte, um- gearbeitete Auflage. Leipzig, J. J. Weber 1878. 452 Seiten in 80. Dieſem Buche gegenüber, deſſen Ruf ein wohlbegründeter iſt, haben wir nur zu conſtatiren, daß die neue Auflage durch zahlreiche Zuſätze in den Stand geſetzt worden iſt, dem Titel zu entſprechen, ohne daß ſie etwas von ihrer anſprechenden Form und allgemeineren Faſſung eingebüßt hat. Be— kanntlich war Cotta einer der erſten deut— | und Darwin's voll und ganz acceptirten, ja er hatte dieſelben theilweiſe, ſoweit ſie die Geologie betreffen, ſchon vor bald dreißig Jahren ausgeſprochen. Die neue Auflage eine Farbentafel erhalten, welche die ſedi— mentären und eruptiven Formationen ſche— matiſch zu einem Bilde vereinigt, wobei die Acidite, d. h. die kieſelſäurereichen, eruptiven Geſteine (Granite, Porphyre, Trachyte und Laven) von den Baſiten (Syenit, Grünſtein, Baſalt und Laven) durch verſchiedene Färb— ung auseinander gehalten werden. Die Ausſtattung iſt elegant. Die Fortſchritte des Darwinis— mus. Nr. 3 (1875 — 78). Separataus⸗ gabe aus der Vierteljahresrevue der Na— turwiſſenſchaften von Dr. Hermann J. Klein. Cöln und Leipzig, E. H. Meyer. 1879. 136 Seiten in kl.⸗8“. Als Fortſetzung der Spengel'ſchen Berichte erhalten wir hier von ungenannter Seite eine fleißige und reichhaltige Ueber— ſicht der in den letzten vier Jahren auf dem Gebiete des Darwinismus erſchienenen Arbeiten. Der Kreis der Berichte iſt enger gezogen als man dies gewöhnlich zu thun pflegt, und nur auf die Biologie beſchränkt; was aber im Zuſammenhange dieſer Pu— blikationen nicht anders geſchehen konnte, da den Fortſchritten der Geologie und Urge— ſchichte beſondere Abtheilungen gewidmet ſind. Wir empfehlen die kurze und bequeme Ueberſicht unſern Leſern angelegentlichſt. Druck von 080 N u Zu \ x 10 Dis! ih, 66 h 1 ET 0 — 1 Mol N ku A NA N. * U Ne ee 0 0 NN 1 ur 0 e e 1 1 e 1 0 Na } e 5 x DACH) KIN A RAINER NN \ $ Mi 11 155 0 WN W N 1 h TAN und O N D oo O 2 le) O N O 2 © @ — 92 — — T [7] 2 — > z 2 E = 3 = = 2 = E 85 2 > 2 m 0