Tu 8 DEE LI DEBE Ep) er EFT &E Er DIN) RE RHID 17: 25 Pi ea ET IE en Seren 2 f) a Yy 2 eh BELLE, N N it Kt 5 + ers ke Fa hate dhrk A I äy a ” In n urn por r ERFHN Fr en if Eu h Hi Haag Ba BE Hi) Hl “s Kasaden. REED N BER ; KanıE: el ie Ze = Dr ze Are | ve nr. BD) 2” u h A 7 B: { I erw. DER KL 2 Hi 07 Wi Die nen 4 KOSMOS. Zeitschrift für Entwickelungslehre und einheitliche Weltanschauung unter Mitwirkung von B. Carneri (Wien), Prof. Dr. 0. Caspari (Heidelberg), Charles Darwin (Down), Francis Darwin (Down), Prof. Dr. J. Delboeuf (Lüttich), Prof. Dr. A. Dodel-Port (Zürich), Dr. W.0. Focke (Bremen), Dr. Forsyth Major (Florenz), Prof. Dr. 8. Günther (Ansbach), Prof. Dr. E. Haeckel (Jena), Prof. Dr. Th. v. Heldreich (Athen), Fr. v. Hellwald (Stuttgart), Dr. F. Hilgendorf (Berlin), Prof. Dr. R. Hörnes (Graz), Prof. Dr. Th. H. Huxley (London), Prof. Dr. @. Jäger (Stuttgart), Sir John Lubbock (London), Prof. 0. €. Marsh (New- Haven), Dr. Fritz Müller (Itajahy), Dr. Herm. Müller (Lippstadt), Dr. C. du Prel (München), Prof. Dr. W. Preyer (Jena), W. v. Reichenau (Mainz), Prof. Dr. 0. Schmidt (Strassburg), Prof. Dr. Fritz Schultze (Dresden), Dr. @. Seidlitz (Königsberg), Herbert Spencer (London), Dr. H. Vaihinger Strassburg), Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. Wernich (Berlin), Dr.F. Weinland (Esslingen), Prof. Dr. A.Weismann (Freiburg), Prof. Dr.L.Wittmack (Berlin), L. Würtenberger (Karlsruhe), Prof. Dr. R. Zimmermann (Wien) und andern namhaften u Forschern auf.dem Gebiete des Darwinismus herausgegeben von Dr. Ernst Krause. V. Jahrgang. IX. Band (April — September 1881). Mit IIL Biss und 74 Holzschnitten. ” 5 = Y Stu TOAR”, E. Schweizerbart’sche Verlagshandung (E. Koch): 1881.. D tuts? aM me | 5 Kar keik) an; TR 1} WEN On N BOB N! " EM Ina ana \ j rer hr ur en I Deu hf T ir rt BL ar in Um TTa Abhandlungen. Seite Anders, Dr. B. H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus . . 220g Balfour, Prof. F. M. Larvenformen, ihre Natur, Entstehung und Vereandischafte Ei . (Mit 20 Ealchnken) RENTE ARBERNE EHRE. Behrens, Dr. Wilh. Caltha dionaeaefolia, eine neue ine tarore Pina, (Mit X Holz- ee RR: h Be NE SERIE ON ERRE RE BE HER ET TE REASIRENTTE AL NCRA N | Carneri, B. Ideologismus "uhd Ta heran ja Nekytafe Ho an ea Darwin, Franeis. Kletterpflanzen. Eine populäre el (Mit 6 Holzschnitten) 101 Fligier, Dr. Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer . . . 216 Haeckel, Ernst. Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. (Mit 9 Holase Kain) 29 Hentschel, Dr. Willibald. Zur Geschichte des a rn und der genetischen Naturbetr achtung . . . Age s Sri nt BERN AS or‘ Holetschek, Dr. J. Die Helme den Kiemeiön zu unserem Somensysten AU IRRE 329 Huth, Dr. E. Die Anpassungen = Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. (Eier zu atel I. IID ee 273 Huxley, Prof. Th. H. Ueber de Kaondine. der Enlsickeimiesufsctze s De An ordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere . . Ela Krause, Dr. E. Die „augenähnlichen“ Organe der Fische, nach den Ir Snehnngen von Dr.&Ussow. Prof. Leydigiu.A} (Mit ‚Tafel IM). 2. = 11%,%: at sc Müller, Dr. Fritz. Atyoida Potimirim, eine schlammfressende A se ae. (Mit 20 Holzschnitten) . . . BR ONE 1 |7| Müller, Dr. Herm. Die Entwickelung der Einmenthätiskeit der Insekten. 204. 258. 351. 415 Potonie, Henry. Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie . . . . 95 Schultze, Prof. Dr. Fritz. Ueber das Verhältniss des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie . 1. 85. 165 Spencer, Herbert. Staatliche Einrichtungen . . -» » » 2... 45. 124. 288. 370. 438 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Entwickelungsstufen der Fixsterne 60. — Die künstliche Darstellung des Indigo und der Alkaloidsruppe der Solaneen 61. — Der Einfluss der Bodenwärme auf die Zellen- bildung der Pflanzen 63. — Eine Eigenthümlichkeit der Stechpalme 64. — Experimentale Untersuchungen über die Entstehung der Geschlechtsunterschiede 65. — Die Zähne der Vogelembryonen 66. — Krankheitsanlage und Immunität vom Darwinistischen Standpunkte 67. — Die Photographie der Nebelflecke 135. — Die Constitution der Pflanzen-Alkaloide 136. Die Geschichte des Gingko-Geschlechts 135. — Verirrte Blätter von Fritz Müller. (Mit IV Inhalt. 1 Holzschnitt.) 141. — Aptychen und Anaptychen. (Mit 1 Holzschnitt.) 142. — Das Ver- halten der Siphonal-Dute und die Descendenz der Cephalopoden. (Mit 1 Holzschnitt.) 145. — Eine Anpassung an das unregelmässige Auftreten der Wanderheuschreeken 149. — Unfruchtbare Zwillinge bei Rindern 150. — Der germanische Typus 150. — Krautartige Weinreben aus dem Sudan 152. — Der Einfluss der Gezeiten-Reibung auf die Entwickelung des Sonnensystems 220. — Die Verbreitung des Alkohols in der Natur 223. — Das Ver- mögen der Pflanzen ihre Blätter senkrecht zum einfallenden Lichte zu stellen 224. — Die Theorie des Wachsthums von Pflanzenabschnitten 226. — Die Embryologie der Lungen- schnecken 229. — Das Geruchsorgan der Insekten 229. — ‚Ein Uebergangsglied von den Amphibien zu den Reptilien 230. — Die Menschen-Reste der Schipka-Höhle 231. — Die Kelten in Hallstadt 233. — Die Erblichkeit gewisser Verstümmelungen 236. — Die Gren- zen unserer Wahrnehmungen im Himmelsraume 311. — Die ältesten Blüthenpflanzen 313. — Westindische Tiefsee-Krebse 314. — Der Einfluss einer Stimmgabel auf eine Garten- spinne 316. — Fortpflanzung und Gewohnheiten der Callichthys-Arten 317. — Gehören die Seedrachen einer Nebenlinie der lungenathmenden Wirbelthiere an? 318. — Rückenmarks- höhle, Becken und Füsse der Stegosaurier. (Mit 4 Holzschnitt.) 319. — Die geographische Vertheilung der lebenden und fossilen Nager vom Standpunkte der Entwickelungslehre 321. — Eine Theorie der Schutzpocken-Impfung auf Darwinistischer Basis 322. — Die Farbe Roth 324. — Die Beobachtungen an dem neuen Kometen 382. — Die Nektar ab- sondernden Drüsen der Melampyrum-Arten 384. — Der Farbensinn der Ameisen 354. — Ammonites pseudo-anceps, Ebray. (Mit 1 Holzschnitt.) 386. — Die Hypophysis der See- scheiden 387. — Die Geschmacksorgane der Fische. (Mit einem Holzschnitt.) 389. -— Stereo- rachis dominans 390. — Platypodosaurus und Aleurosaurus 391. — Ueber die Wechsel- beziehung der Wollen- und Milchproduktion bei Schafen 392. — Die rudimentären Haut- muskeln des Menschen im besondern die des Ohres. (Mit 1 Holzschnitt.) 392. — Keltische Sprach-Spuren im deutschen Jägerlatein 397. — Ch. Darwin, Vererbung 458. — Ein che- mischer Unterschied zwischen lebendigem und todtem Protoplasma 459. — Silurische Pflanzen- Ueberreste 461. — Wasserthiere in Baumwipfeln 462. — Entwickelung und Organisation der Wurzelquallen (Rhizostomae) 462. — Eine neue Ordnung ausgestorbener ‚Jura-Reptile. (Coeluria Marsh.) [Mit 1 Holzschnitt.] 464. — Die Klassification der amerikanischen Jura- Dinosaurier 465. — Ornstein, Dr. B., Ein Zwerg auf der Insel Euböa. (Ein Beitrag zur Teratologie.) [Mit 1 Holzschnitt.] 466. — Die Gehirnbildung der Eskimos 469. Offene Briefe und Antworten. Y Brief‘ yon, Herm W. Hülken; Capetown. - m u. ee De Litteratur und Kritik . :'. 2 matt a. 1721158. 236.,398. 470 nn) Ueber das Verhältniss ‚des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie. Von Professor Dr. Fritz Schultze. Inhalt: Der Dogmatismus des realistischen und idealistischen Naturalismus. — Kriti- cismus und Skeptieismus. — Locke, Berkeley, Hume. — Der Humeismus und die Entwicke- lungstheorie. — I. Locke’s Sensualismus: Der Begriff der Erfahrung und des Erfahr- baren. — Erfahrung — sinnliche Wahrnehmung. — Der Geist als tabula rasa. — Sensation und Reflexion. — Primäre und secundäre Qualitäten. — Objeetive und subjeetive Welt- auffassung. — Einfache und zusammengesetzte Vorstellungen. — Descendenztheorie der Vorstellungen. — Verneinung der Lehre von den angeborenen Ideen. — Vier Klassen an- geborener "Ideen. — Die Lehre bei Platon, Descartes, Spinoza, Leibniz. — Die praktische Bedeutung der Lehre von den angeborenen Ideen. Locke’s Widerlegung der Lehre. — Der angeborene Begriff des Unendlichen. Der Satz der Identität und des Widerspruchs. — Verwerfung der Platonisch-Aristotelischen Ideenlehre. — Locke’s Darwinistische Fol- gerungen. — Kritik des Locke’schen Sensualismus. Der Geist keine tabula rasa. — Die richtige Fassung des „Angeborenen*. — heutigen Theorie des Angeborenen. Der realistische Naturalismus Baco’s wie der idealistische Descartes’ stimmen darin überein, dass sie im Gegensatze zu den Bestrebungen des Mittelalters nicht das Uebernatürliche durch über- natürliche Mittel (Offenbarung, Inspi- ration, Ekstase u. s. w.), sondern die Natur auf natürlichem Wege erforschen wolfen, der eine durch reine Erfah- rung, der andere durch klares und deutliches Denken. Auch darin wei- chen sie nicht von einander ab, dass sie eine vollendete Erkenntniss des Welt- ganzen für möglich halten. Aber eben dieses, ob das Weltganze der mensch- lichen Erkenntniss zugänglich sei, ist bei ihnen eine blosse Voraussetzung. Sowie sich der Zweifel darauf richtet, entsteht offenbar das Problem, ob wirk- lich die Erkenntnissmittel der reinen Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). Gegensatz zwischen den früheren und der Erfahrung und des klaren und deut- lichen Denkens so weit führen, oder ob nicht etwa ihre Kraft nur eine be- schränkte sei, so dass also auch das natürliche Erkenntnissgebiet des Men- schen ein viel engeres sei, als jene an- genommen. Offenbar müssen die Erkennt- nissmittel einer genauen Kritik unter- zogen werden, und da von der grösseren oder geringeren Tragweite der natür- lichen Erkenntnissfähigkeit auch die Weite oder Enge des natürlichen Er- kenntnissgebietes abhängt, so kann erst nach dieser kritischen Untersuchung ein von allen dogmatischen Einbildungen befreiter kritischer Naturbegriff aufgestellt, d. h. der kritische Na- turalismus begründet werden. Den Uebergang von dem dogmatischen Na- turalismus in Baco und Descartes zu jL 2 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. dem kritischen Naturalismus in Kant bildet der skeptische Naturalismus, der in Locke beginnt, in Berkeley sich steigert, in Hume seinen Höhepunkt erreicht. Die naturalistische Skepsis Hume’s ist es, welche, indem sie den Grundbegriff alles Erkennens, den Be- griff von Ursache und Wirkung, zersetzt, jede Möglichkeit der Erkenntniss eines ursächlichen Zusammenhanges in Frage stellt, damit aber nicht blos die Philo- sophie, sondern auch alle Naturwissen- schaft und zumal die Entwickelungs- theorie, deren ganze Absicht ja auf die Erkenntniss des ursächlichen Zusammen- hanges gerichtet ist, an Abgründe führt, deren Ausfüllung oder Ueberbrückung, soweit ich sehe, bisher noch nicht ge- lungen ist. Wir sind der Meinung, dass gerade der Humeismus der modernen Entwickelungstheorie Probleme stellt, mit denen sie sich auseinandersetzen muss, und es soll hier unsere Aufgabe sein, diese Schwierigkeiten, wenn nicht zu lösen, so doch zu formuliren. Zu dem Zwecke müssen wir aber den philo- sophischen Entwickelungsgang von Locke an durch Berkeley hindurch bis zu Hume hin verfolgen, da die Grundgedanken dieser Philosophie eine völlig in sich zusammenhängende Kette bilden. I. Der Sensualismus Locke’s. Das Mittelalter hatte für die einzig wahren und wirklichen Erkenntnisse gerade die erklärt, welche sich niemals durch Erfahrung und sinnliche Wahr- nehmung beweisen lassen: die auf das Transscendente gerichteten Annahmen der Religion. Sein erkenntnisstheoreti- scher Grundsatz lautete: Die höchste undwahrsteErkenntniss liegt indem Nichterfahrbaren. Ge- rade umgekehrt hatten Baco und seine Sinnesgenossen behauptet: Nur das Erfahrbare bietet Wahrheit; nur durch Erfahrung gelangen wir zur Erkenntniss. Aber was ist Er- fahrung? Schon Baco und ebenso Descartes sind sich klar, dass diese zur Erkenntniss führende Erfahrung nicht etwas so einfaches ist, welches jeder Mensch ohne weiteres besässe; im Gegentheil: die naive Erfahrung musste von Idolen gereinigt und durch eine ausführliche Methode unterstützt werden. Wenn wir aber auch alle Re- geln Baconischer und Cartesianischer Methode auf das genaueste befolgen, ' so ist damit nicht ausgeschlossen, dass unsdoch vielfach der Zweifel beschleichen könne, ob wir denn noch im Gebiete des Erkennbaren seien oder dasselbe bereitsüberschrittenhaben. Man spricht auch da noch ohne weiteres von dem Stoff der Dinge, von den Atomen, aus denen er besteht, oder von der Seele und ihren Kräften, als ob wir es in alledem mit unzweifelhaften Erfahrungs- objecten und Erfahrungsbegriffen zu thun hätten; man wird sich auch da nicht klar über die unendlich feine, oft kaum bemerkbare Grenze, die zwischen der Erfahrung und der Einbildung liest. Der Begriff der Erfahrung und des Er- fahrbaren muss also genau untersucht und damit eine Grenzregulirung zwi- schen den beiden Reichen wirklicher Erfahrungserkenntniss und dogmatischer Einbildung vorgenommen werden. Den ersten Schritt zur Fixirung dieser Grenze über Baco und Descartes hinaus thut der englische Philosoph John Locke (1637— 1704) in seinem »Versuch über den menschlichen Verstand« (1689). Locke ist mit Baco darin einver- -standen, dass alle Erkenntniss nur durch die von Idolen geläuterte und metho- disch fortschreitende Erfahrung gewon- nen wird. Diese Erfahrung reicht aber nach Locke nur so weit, als die Werk- zeuge reichen, mit denen wir Erfahrung machen. Diese Werkzeuge sind die Sinnesorgane. Das Gebiet der Erkennt- niss ist also genau das Gebiet der Sinnes- wahrnehmungen. Erfahrung ist völlig gleich sinnlicher Wahrnehmung, natür- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 3 lich gleich der methodisch geläuterten, durch Instrumente und Experimente ge- stützten Sinneswahrnehmung. Alles, was wir an Vorstellungen in uns tragen, alle Erkenntniss stammt mithin aus der sinnlichen Wahrnehmung, und es kann nichts im Geiste sein, was nicht ur- sprünglich einmal aus dieser Quelle her- vorgegangen ist: nihil est in intelleetu quod non antea fuerit in sensu, so lautet der erste Grundsatz des Locke’schen Sensualismus. Der Geist selbst ist dem- nach, bevor die Sinnesorgane ihn durch ihre Canäle mit Material gefüllt haben, ein durchaus Leeres; er ist wie ein Blatt Papier, das erst von der Sinnen- welt vollgeschrieben wird, wie eine glatte Tafel, in die erst der Griffel der sinn- lichen Empfindungen die Charactere ein- gräbt. Der Geist ist tabula rasa, so lautet das zweite Schlagwort dieser sensualistischen Lehre. '"Alle Vorstellungen stammen aus der sinnlichen Wahrnehmung, diese selbst aber fliesst aus zwei wohl zu unter- scheidenden Quellen. Wir nehmen die äusseren Dinge vermittelst unserer äus- seren Sinne wahr: Diese auf die Aussen- welt gerichtete Wahrnehmung bezeich- net Locke als Sensation. Aber wir nehmen auch wahr, was in unserem Organismus vorgeht, z. B. die Schmerz- empfindung, die aus irgend einer krank- haften Veränderung desselben entspringt. Hier haben wir nicht die Wahrnehmung eines äusseren, von uns verschiedenen Dinges, sondern die Empfindung eines inneren Vorgangs, die aber auch nichts anderes ist als eine Sinneswahrnehmung, die im Nervensystem verläuft. Diese innere Wahrnehmung, zu der auch alle . Gefühle, Phantasiebilder und Gedanken gehören, nennt Locke die Reflexion. Sensation und Reflexion sind also die beiden Unterarten der sinnlichen Wahrnehmung. Nicht etwa ist die Reflexion etwas rein Geistiges, während die Sensation ein materieller Vorgang wäre. Hinsichtlich ihres Wesens sind beide gleich sinnlich; nur bezüglich ihrer Richtung auf die Erscheinungen der Aussen- oder Innenwelt sind sie zu unterscheiden. So wie hinsichtlich des Wahrneh- mens, so ist nun auch hinsichtlich des Wahrgenommenen eine Unterschei- dung zu treffen. Vermittelst des Ge- sichts, Gehörs, des Tastens u. s. f. nehmen wir eine Fülle von Erscheinungen ausser uns wahr. Ist diese Wahrnehmung aber auch wirklich wahr? Zeigt sie uns wirklich das objective Sein der ausser uns befindlichen Dinge? Schon Hobbes hatte darauf hingewiesen, dass die sinn- liche Wahrnehmung uns nicht das wirk- liche »Wesen an sich« der äusseren Dinge zeige. Dort draussen, hatte er gemeint, gibt es nur Bewegungsvorgänge der Ato- me; diese Bewegungen wirken auf unsere Sinnesorgane, und alle unsere Empfin- dung ist nur die Reaction unserer Em- pfindungswerkzeuge auf jene Bewegungs- eindrücke; unsere Empfindungen, wie die der Farbe oder des Lichtes, sind also rein subjective Vorgänge in uns, die wir fälschlich mit der Natur der äusseren Dinge verwechseln und auf diese übertragen. Aehnlich hatten auch schon Baco, Descartes und Spinoza sich geäussert. So unterscheidet denn auch Locke in der Wahrnehmung eines Dinges erstens diejenigen seiner Eigenschaften, die in Wahrheit nur subjective Empfin- dungen in uns sind und fälschlich von uns als an dem Dinge befindliche Eigen- schaften genommen werden, und zwei- tens diejenigen, die diesem Gegenstande an sich wirklich zukommen und wirk- lich in seinem eigenen Wesen liegen. Die Eigenschaften des Dinges, die in Wahrheit nur subjective Empfindungen in uns sind, nennt Locke die secun- dären Qualitäten: dahin gehören die Eigenschaften des Geruchs, der Farben, der Töne. Die wirklich objectiven Eigen- schaften der Dinge dagegen nennt Locke die primären Qualitäten: dahin ge- hören Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, 1# 4 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Grösse, Gestalt, Lage, Zahl, Bewegung, Ruhe. Die Welt der objectiven Dinge ist also durchaus nicht gleich unserer subjectiven Vorstellung von ihr. Dass wir aber naiv und unkritisch die Natur, wie sie an sich ist, verwechseln mit den durch unsere Sinnesorgane vielfach veränderten subjectiven Vorstellungen von ihr, ist eines der am tiefsten im Menschen haftenden Idole, das ein für alle Mal zerstört werden muss. Die sinnliche Empfindung, Sensation und Reflexion ist der Urquell, aus wel- chem alle im Geiste befindlichen Vor- stellungen ausnahmslos hervorgeflossen sind. Die Vorstellungen selbst aber unterscheiden sich in einfache (simple ideas), wie z. B. die Vorstellung einer Farbe oder eines Tones, und zusam- mengesetzte (complex ideas), das sind solche, welche durch Verschmel- zung von mehreren Elementarvorstel- lungen gebildet sind, wie z. B. die Vor- stellung eines Baumes, in der ja eine Fülle von Einzelvorstellungen sich ver- einigt finden. Aber selbst die aller- complieirtesten Vorstellungen, bei denen, wie z. B. bei abstracten Begriffen, ihre Abstammung von ganz und nur sinn- lichen Elementen auf den ersten Blick nicht mehr zu erkennen ist, entspringen doch in letzter Instanz aus der sinn- lichen Quelle. Man forsche nur nach, und man wird stets ihren Ursprung aus einfachen Ideen entdecken; man wird von da aus den allmähligen Uebergang zu immer abstracterer, von dem sinn- lichen Urelement scheinbar ganz ab- liegenden Form verfolgen können. Selbst Begriffe, bei denen eine solche- Ent- stehung aus der Sinnenwelt scheinbar ganz unmöglich ist, wie etwa die Be- griffe Gott, Geist, Seele, sind ursprüng- lich aus einer einfachen Sinneswahr- nehmung hervorgegangen. So gibt Locke hier gewissermassen die Anregung zur Aufstellung einer Descendenz- und Entwickelungstheorie der Vorstel- lungen, und in diesem Locke’schen Sinne ist ja Sprachwissenschaft und Psychologie bemüht, die Herkunft un- serer Abstracta aus einfachen sinnlichen Elementen und ihren allmähligen Ent- wickelungsgang klarzulegen. Wenn nun der Geist an sich leer ist, und alle seine Vorstellungen aus- nahmslos der sinnlichen Wahrnehmung entstammen, so gibt es offenbar nichts im Geiste eines Menschen, was schon vor dem Beginn der sinnlichen Wahr- nehmung in seinem Besitz gewesen, was unabhängig von aller Sinneserfahrung a priori in ihm schon vorhanden ge- wesen, kurz, was ihm angeboren wäre. Die nothwendige Consequenz des Sen- sualismus ist mithin die Verneinung derExistenz der angeborenen Ideen. Schon wiederholt hat uns die Lehre von den angeborenen Ideen beschäftigt. Der unkritische Ursprung der Theorie aus Platon’s Ideenlehre heraus wurde bereits früher (Kosmos, Bd. II. S. 412 £.) von uns aufgedeckt und damit einer historischen Kritik unterworfen. Locke’s Kritik dagegen stützt sich auf Instanzen der Erfahrung und psychologischen Be- obachtung, die wir entwickeln und dann selbst einer Kritik unterwerfen müssen. Bekanntlich finden sich in uns eine Reihe von Vorstellungen oder Ideen, deren sinnlichen Ursprung wir nicht ohne weiteres aufzeigen können. Sie lassen sich in die vier Klassen der theoretischen, moralischen, ästhe- tischen und religiösen Ideen zerlegen. Zu der ersten Klasse gehören die Denk- gesetze, wie sie die Logik entwickelt; zu der zweiten die Ideen des Guten und des Gewissens; zu der dritten die Idee des Schönen und zu der vierten der Begriff Gottes. Es ist eine ausserordentlich schwierige Auf- gabe, die natürliche, psychologische EntstehungundEntwickelung dieserldeen nachzuweisen. Auf den ersten Blick scheinen sie sogar in absolutem Gegen- satz zur natürlichen Erscheinungswelt Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 5 zu stehen und aus dieser in keiner Weise zu resultiren. Gerade deshalb hatte Platon ihnen einen übernatür- lichen Ursprung zugeschrieben und sie für angeborene Beschaffenheiten der menschlichen Seele, welche vor und un- abhängig von jeder sinnlichen Wahr- nehmung in ihr wären, erklärt, d. h. in Wahrheit sie für unerklärbar erklärt. Bei Platon bildeten jene vier Klassen sogar nur einen Bruchtheil der ange- borenen Ideen überhaupt, waren doch nach ihm alle Vorstellungen ausnahms- los schon in der Seele, ehe diese noch mit dem Leibe und seiner Sinnlichkeit: in Berührung kam. Auch Descartes hatte den Gottesbegriff als angeborene Idee bezeichnet, von dieser aber einer- seits die von aussen gegebenen Vor- stellungen (z. B. eines Baumes), anderer- seits die vom Geiste selbst aus Sinnes- elementen gebildeten Vorstellungen (z.B. eines Centauren) unterschieden. Ja, bei Spinoza und Leibniz hatte die Lehre von den angeborenen Ideen, wenn dieselben auch nicht intransscendenter Weise nach Art Platon’s, vielmehr in natürlich immanenter Weise gefasst wurden, wieder neuen Boden und neue Aus- dehnung erhalten. Beide setzten die absolute Erkennbarkeit der Dinge durch reines Denken voraus, und zwar des- halb, weil wegen der substantiellen Ein- heit von Geist und Materie bei Spinoza die richtige Ideenfolge im Geist genau gleich war der Causalfolge der materiel- len Dinge (ordo idearum idem est ac ordo rerum), weil die Geisteswelt so- zusagen die immaterielle Parallele zur Körperwelt bildete, und also der Geist in seinen Ideen die Erkenntniss der Körperwelt schon eingeboren besass. In ähnlicher Weise trug bei Leibniz die Monade als mikrokosmisches Abbild des Makrokosmos alle Ideen a priori in sich, hatte sie doch keine Fenster, durch welche von aussen das Geringste hätte hineinscheinen können. Es ist also der gesammte idealistische Naturalismus, gegen den hier Locke Front macht. Er regt damit Gedanken- gänge an, die nicht blos akademischen Werth haben, sondern auch für eine Reihe praktischer Fragen von grösster Bedeutung sind. Die Zurechnungsfähig- keit eines Menschen vor Gericht z. B. wird ganz anders beurtheilt werden müssen, je nachdem man angeborene Ideen im Menschen annimmt oder nicht. Gilt die Voraussetzung, dass jedem menschlichen Individuum, was und wo es auch sei, und auf welcher Stufe cul- tureller Entwickelung es auch stehe, die moralische Idee des Sittengesetzes an- geboren sei, dass damit die Stimme des Gewissens in derselben Weise in jedem rede, so muss natürlich dann ein unter den ungünstigsten äusseren Verhältnis- sen ohne Erziehung und Belehrung auf- gewachsener Wilder, ja sogar ein Kind, die eines Vergehens sich schuldig machen, ebenso streng beurtheilt und bestraft werden, wie ein Mensch, der nachweis- lich die umfangreichsten Beeinflussungen aller moralischen Cultur und Belehrung genossen und doch kalten Blutes ein Verbrechen beging. Denn angeboren ist ja jenem Wilden und jenem Kinde die Idee von Recht und Unrecht; sie waren sich also bewusst, dass sie eine schwere Sünde begingen. Wenn dagegen die Lehre von den angeborenen Ideen sich als falsch erweist, so folgt, dass erst durch allmählige Entwickelung in der Menschheit wieim Individuum, phylo- genetisch wie ontogenetisch, die mora- lischen Ideen sich nach und nach bil- den, dass also nicht jeder Mensch die- selben Moralideen, noch dieselben in demselben Grade der Feinheit und Klar- heit besitzen kann, dass vielmehr je nach der Entwickelungsweise und Ent- wickelungsstufe bei verschiedenen ein verschiedenes Gewissen existirt. Es folgt also weiter, dass in jedem Specialfall die moralische Entwickelung des Indivi- duums psychologisch genau zu prüfen ist, und je nach derselben die Zurech- 6 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. nung in stärkerem oder geringerem Masse oder auch gar nicht stattfinde, d.h. dass Strafmass und Strafform nicht nach einer und derselben Schablone allen, vielmehr jedem Individuum ver- schieden zuzudictiren sei, ein Gedanke, der in unserer modernen Criminalistik glücklicherweise immer mehr Boden ge- winnt. Welche Bedeutung auch für die Praxis des Pädagogen die Bejahung oder Verneinung der Lehre von den an- geborenen Ideen hat, liegt auf der Hand. Wo die Ideen schon angeboren sind, bedarf es im Grunde gar keiner metho- dischen Erziehung mehr, während erst recht die Kunst der Erziehung da in voller Kraft sich geltend machen kann, wo es sich darum handelt, die an sich noch unbestimmte, doch bestimmbare Seele des Zöglings zu hohen Idealen hin zu entwickeln. Es sind hauptsächlich fünf und im Grunde sehr einfache Instanzen, welche Locke gegen die Lehre von den ange- borenen Ideen einwendet. Wenn es an- geborene Ideen in den Menschen gäbe, so müsste die Zahl dieser Ideen nach so langer Forschung sich doch endlich einmal feststellen lassen; in diesem Punkte herrscht aber bei den Verthei- digern der Theorie nicht die geringste Uebereinstimmung; man hat gewiss ein Recht, gegen eine Lehre, die nicht ein- mal den Umfang ihres Objectes be- stimmen kann, Misstrauen zu schöpfen. Und von dem Inhalte zweitens gilt dasselbe. Nicht blos über das Wieviel, sondern auch über das Was des An- geborenseins, ob nur theoretische, oder nur moralische, oder nur religiöse, oder alle zusammen angeboren seien, gehen die Ansichten auseinander. Auch darüber herrscht drittens keineEinigkeit, in wel- cher Form dieser Inhalt angeboren sei; einige meinen, das Angeborene sei nur als Keim angelegt, der erst zu entwickeln sei, aber auch unentwickelt bleiben könne; wiederum andere hegen gar den Glauben, dass die Ideen in Form höchst abstracter Sätze dem menschlichen Be- wusstsein innewohnten, wie z. B. der Satz der Identität (Was ist, das ist), oder des Widerspruchs (Es ist unmög- lich, dass dasselbe Ding sei und nicht sei). Diese Unmöglichkeit, zur Ueber- einstimmung zu gelangen, muss den Be- obachter mindestens stutzig machen. Wenden wir jetzt aber viertens die Forderungen der inductiven Methode auf die Frage an, so müssten bei ge- nauer Durchforschung der Menschen die angeborenen Ideen uns doch bei allen wirklich entgegentreten. Aber weder bei Wilden, noch bei Kindern, noch bei rohen Individuen in einem sonst gebildeten Volke lassen sie sich ent- decken, und der Grund ist klar. Denn alle angeborenen Ideen fünftens sind offenbar die letzten Ergebnisse hoch entwickelter Gedankenprocesse; sie sind also sehr abstracter Natur; sie sind nicht der Anfang, sondern das Ende einer langen psychologischen Entwicke- lungsreihe. Wie überall in der Natur, so auch im Seelenleben zeigt sich das Einfache stets als das erste, das Zu- sammengesetzte als das spätere; stets geht das Concrete dem Abstracten, die sinnliche Wahrnehmung der inneren Idee voraus. Die Lehre, dass Vorstel- lungen von sehr abstractem Inhalt und begrifflicher Tiefe einem im übrigen noch ganz unentwickelten Individuum von vornherein augeboren seien, widerspricht also völligdem natürlichenEntwickelungs- gang des menschlichen Geisteslebens. Die Fähigkeit, Erkenntnisse zu machen, ist angeboren; die Erkenntnisse selbst aber werden erst erworben. Die sog. angeborenen Ideen sind solche erwor- bene Erkenntnisse. Betrachten wir nun beispiels- und erläuterungsweise einige sog. angeborene Begriffe unter den Gesichtspunkten der Locke’schen Kritik. Descartes liess den Begriff des Unendlichen angeboren sein. Können wir aber uns diesen Be- griff irgendwie klar und deutlich vor- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. R stellen? Klar und deutlich ‚können wir nur das vorstellen, was wir erfahrungs- mässig wahrgenommen haben. Diese er- fahrungsmässigen Wahrnehmungen sind aber alle endlicher Natur; sie sind räumlich, zeitlich und qualitativ be- stimmt; ihre Eigenschaften sind ver- änderlich, ihre Form und ihr Stoff ver- gänglich. Von alledem ist aber das Unendliche das absolute Gegentheil, d.h. es ist das Gegentheil von allem, was wir überhaupt vorstellen können; es ist also ein - schlechthin Unvorstellbares. Wir können wohl das Wort »Unend- liche im Gedächtniss haben, aber den Inhalt dieses Begriffs kann der tief- sinnigste Metaphysiker sich nicht vor- stellen, geschweige der oberflächliche Sinnenmensch. Setzen wir aber statt des Begriffes »Unendlich« den Begriff »Gott«, so wird von allen Menschen Gott irgendwie in anthropomorphisti- scher Weise, also als ein irgendwie qualitativ bestimmtes, mithin nicht un- endliches Wesen vorgestellt. Befragen wirschliesslich die Entstehungsgeschichte des Begriffs »Unendlich«, so wird uns klar, warum demselben jeder Vorstel- lungsinhalt fehlt: Der denkende Mensch sucht sich den ursächlichen Zusammen- hang der Dinge klar zu machen; die Erscheinung A hat zur Ursache B, dieses wieder zur Ursache C u. s. f. im end- losen Regress. Aber der Verstand be- ruhigt sich nicht bei dieser ins Endlose fortschreitenden und keinen Abschluss gewährenden Causalkette; es muss doch sagt er sich, eine erste Ursache ge- ben, aus der alles folgt. So setzt er, heisse sein Name nun Platon, Aristo- teles oder Leibniz, denn diese erste Ursache. Aber diese erste Ursache ist eben als erste grundverschieden von allen übrigen. Diese secundären Ursachen sind räumlich, zeitlich, quali- tativ, endlich; die primäre Ursache ist in allem das Gegentheil, also un- räumlich, unzeitlich, qualitätlos, unend- lich. Positiv vorstellen können wir nur jene ersteren positiven Prädicate; der Begriff des Unendlichen besteht aber aus lauter negativen Prädicaten, d. h. es fehlt ihm jeder positive Vorstellungs- inhalt. Wir haben ein Wort, welches eine Summe von Negationen, mithin das Gegentheil einer jeden möglichen Vorstellung bezeichnet. Wie kann nun aber eine Vorstellung angeboren sein, die überhaupt keine Vorstellung ist ? Und wie mit diesem Begriff, so ver- hält es sich mit den übrigen sog. an- geborenen Ideen. So soll der Satz der Identität und des Widerspruchs ange- boren sein. Sicherlich sind diese Sätze so abstracter Natur, dass kein Kind sie begreift. In Wahrheit sind aber diese abstracten Sätze auch erst aus einer Fülle concreter Erfahrungen ge- bildet. Ein Kind lernt erfahrungsmässig das Bittere und das Süsse, die Ruthe und die Kirsche von einander unter- scheiden. Es lernt, dass die Ruthe die Ruthe und nicht die Kirsche, und die Kirsche die Kirsche und nicht die Ruthe ist. Nicht aber liegen, ehe es Kirschen und Ruthen kennen lernte, jene ab- stracten Sätze schon in ihm; die meisten Menschen kommen überhaupt niemals zur Bildung derselben; unmöglich kön- nen sie angeboren sein. Verwirft Locke schon die Lehre von den angeborenen Ideen, so erst recht die platonisch-aristotelische Ideenlehre überhaupt. Die abstracten Begriffe wer- den aufpsychologischemW ege im mensch- lichen Denken gebildet; ausserhalb des- selben sind sie nichts; wie könnten sie also gar an sich existirende Wesen sein! Als Nominalist und erst recht als Sensualist erklärt Locke die All- gemeinbegriffe für blosse Wörter, mit denen eine Summe gleichartiger Indi- viduen bezeichnet werden. Die Gat- tungen existiren nicht in der Natur, in der es vielmehr nur Individuen gibt. So lässt Locke auch die Annahme nicht gelten, dass die Arten absolut constante und unveränderliche Typen seien, und 8 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. in dieser Beziehung kann er mithin ein Vorläufer Darwin’s genannt werden. Von den fünf Gründen, welche Locke gegen die Constanz von in der Natur selbständig existirenden Gattungstypen vorbringt, können wir zwei als erkennt- nisstheoretische und die übrigen drei als rein empirische bezeichnen. Erstens: die sog. -Gattungen sind als abstracte Begriffe blos subjective Gebilde des menschlichen Geistes; sie sind mithin gar nicht extra animam in der Natur. Dies folgt aus dem Sensualismus. Zwei- tens: wenn es in der Natur solche Gattungstypen gäbe, so würde die Na- tur, wie ein Künstler, nach diesen Ty- pen wie nach Musterbildern oder Mo- dellen die einzelnen Individuen gestal- ten. Das Schaffen des Künstlers nach einem Vorbilde ist ein zweckmässiges Gestalten. Auch das Handeln der Na- tur müsste also ein zweckmässiges Han- deln sein. Aber auch der Zweckbegriff ist ein blos menschlicher Begriff. Es hiesse blos Menschliches auf die Natur übertragen, die Natur zu einem geisti- gen Wesen nach der Analogie des Men- schen machen, mit einem Worte die Natur anthropomorphistisch betrachten, wenn man sie nach Zwecken, d. h. nach von ihr gedachten geistigen Vorstellun- gen handeln lassen wollte. Die Natur handelt nicht nach Zwecken, schafft mithin auch nicht nach Gattungstypen, die als reine Zweckvorstellungen nicht in ihr liegen können.. Wenn es drit- tens in der Natur feste Gattungen, Typen, Modelle gäbe, wie könnte die durch diese Zwecke mit eiserner Natur- gesetzlichkeit beherrschte Natur. dann je ihre Zwecke verfehlen ? Sie verfehlt sie aber häufig genug. Alle Missgeburten sind, wie Baco es ausdrückte, solche vraetergenerationes, d. h. Bildungen, in denen sie an ihrem Ziel vorbeischoss. Wenn der unwandelbare Typus in der Natur wirklich bestände, so könnten Missgeburten gar nicht vorkommen. Wenn viertens die Natur nach solchen festen und ihrer Zahl nach begrenzten Zweckvorbildern schüfe, dürfte sie offen- bar immer nur Gebilde hervorbringen, die diesen Modellen genau entsprächen. Wie könnten dann aber so zahllos viele individuelle Varietäten oder Spielarten vorkommen, die doch ebenso viele Ab- weichungen von dem Gattungstypus dar- stellen, und deren es so unendlich viele gibt, dass, je mehr unsere Kenntniss von den Naturformen wächst, um so weniger Hoffnung vorhanden ist, die festen Grenzen einer Art zu bestimmen, da die sog. Arten continuirlich in ein- ander übergehen. Wenn fünftens diese Gattungstypen in der Natur schlechthin gegeneinander abgeschlossene und un- veränderliche Formen wären, von denen also die eine niemals auf die andere abändernd einwirken könnte, so dürften offenbar zwischen verschiedenen Arten niemals fruchtbare Zeugungen, mit an- deren Worten keine Bastarde vorkom- men, während im Gegentheil die Natur- wissenschaft heute immer mehr solcher Bastardzeugungen im Thier- und Pflan- zenreich aufzuweisen vermag. Glaubt man nicht, zumal in den drei letzten empirischen Argumenten Darwin selbst reden zu hören? Eine Kritik des Locke’schen Sensua- lismus, zu der wir jetzt übergehen, wird sich vorzugsweise auf eine Untersuchung des Begriffs des »Angeborenen« einzu- lassen haben. Zwei Extreme stehen sich hier gegenüber. Einerseits wird behauptet: es gibt nichts Angeborenes im Geist, andererseits: Alles im Geist ist angeboren. In Wahrheit sind beide Extreme im Irrthum. Darin hat Locke unzweifelhaft Recht, dass von ange- borenen Ideen im Sinne angeborener abstracter Begriffe oder ganzer Begriffs- verbindungen keine Rede sein kann. Aber gibt es desshalb gar nichts An- geborenesim Individuum? Nach Locke’s Lehre von der tabula rasa ist der Geist, möge er nun materialistisch oder spiri- tualistisch gefasst werden, offenbar ein Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 9 ganz passives, ohne jede Activität und Spontaneität. Er wird vollgeschrieben; er hat wohl die Fähigkeit zu leiden, aber nicht zu handeln. Ist denn aber der Geist wirklich ein so passives We- sen, das fast einem leblosen Dinge gleicht? Es ist doch eine Thatsache, dass alle Individuen dieselben Dinge der Welt in ganz specifischer, von der Art eines jeden anderen Individuums charakteristisch abweichender Weise auf- fassen; dass alle Individuen dieselben Eindrücke in ganz besonderer Weise zu neuen Phantasiebildern und Begriffsver- bindungen verarbeiten. diess der Fall sein, wenn der Geist nur eine passive leere Tafel wäre? Sollte man nicht meinen, dass diese indifferente Tafel unter denselben Umständen bei allen Individuen in genau derselben Weise beschrieben würde und die grösste Einförmigkeit herrschen müsste? Gerade jene unendlich mannigfaltigen indivi- duellen Bethätigungen beweisen, dass im Geiste, der doch, was er auch an sich sonst sein möge, auf alle Fälle ein Lebendiges ist, eine thätige, selb- ständige und spontane Kraft liest, und dass insofern ein »Angeborenes« in ihm ist. Aber eben dieser Begriff »Ange- boren« ist nun genau zu definiren. Als Ausgangspunkt dazu diene fol- ‚gender Fall aus der Anthropologie. Ein brasilianischer Indianer wird als kleiner Knabe von einer portugiesischen Familie in Bahia auferzogen; er empfängt die- selben Eindrücke und geniesst denselben Unterricht wie die Kinder seiner Pflege- eltern; er absolvirt Gymnasium und Universität, um dann mehrere Jahre hindurch als gesuchter Arzt in Bahia zu prakticiren. Da bemächtigt sich sei- ner eine allmählig sich steigernde Schwer- muth, und plötzlich ist er verschwunden. Nach mehreren Jahren trifft man ihn zufällig in den Urwäldern wieder, in- mitten seiner wilden Horde, der Cultur ebenso bar wie der Kleider. Ein un- widerstehlicher Zug habe ihn zu seinen Wie könnte Stammesgenossen zurückgetrieben, er- klärt er, und alle Versuche, ihn zur hückkehr zu bewegen, bleiben erfolglos. Die Acten der empirischen Psychologie kennen genug solcher Fälle, und ihre Erklärung sagt uns, dass das Angeborene, d.h. das durch viele Generationen hin- durch Angeerbte, also hier z. B. die Rasseneigenthümlichkeit eine gewaltigere Macht im Menschen habe als das in- dividuell Anerworbene. Hier treten also die angeborenen Anlagen mit gröss- ter Gewalt und Deutlichkeit- hervor, wie auch in dem häufig vorkommenden Fall, wo zwei Kinder unter genau gleichen Umständen erzogen und gebildet wer- den und doch jedes einen ganz ver- schiedenen Weg in Charakter und Geist einschlägt, eben den, welchen nachweis- lich schon seine Eltern und Voreltern gewandelt sind. Wenn demnach die heutige Psychologie im Gegensatz zu Locke den Begriff des Angeborenen stehen lassen muss, so ist sie trotzdem weit entfernt, ihn etwa im Platonischen oder Leibnizischen Sinne zu fassen. * Die Platonische Theorie erklärt das Angeborene für etwas absolut Ueber- natürliches und in keiner Weise durch Naturgesetze Erklärbares. Die heutige Psychologie sagt dagegen: Das Ange- borene ist ein durchaus Natürliches und aus natürlichen Gesetzen völlig Erklärbares. Die Platonische Theorie erklärt alles im Geist für angeboren; in Wahrheit werde gar nichts von der Seele erworben; dieselbe erinnere sich vielmehr nur dessen, was sie während ihrer Prae&xistenz im Jenseits schon ge- schaut habe; alles scheinbare Lernen sei in Wahrheit nur ein Sichwieder- bewusstwerden dessen, was bereits im Geiste liege. Die moderne Theorie da- gegen sagt: einiges nur ist angeboren, anderes dagegen von der Seele durch Wahrnehmung und Erfahrung erworben. Die Platonische Theorie lässt das An- geborene als Ideen in abstracten Be- griffen und deren Verbindungen beste- 10 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. hen. Heute sagt man: Das Angeborene besteht in blossen Anlagen, d. h. in blos formalen Dispositionen zu etwas, ohne dass der bestimmte Vor- stellungsinhalt dieses Etwas schon darin läge und auch mit angeboren wäre. Das Kind eines Musikers z. B. wird schon geboren mit einer eigen- thümlichen Tendenz seiner geistigen Kräfte zu musikalischer Bethätigung und dem entsprechender Structur seines Nervensystems; dadurch wird es prae- disponirt, vorzugsweise in musikalischer Beziehung vorzustellen; nicht aber, als ob es deshalb schon ganze Melodien mit auf die Welt brächte; vielmehr, würde dieses Kind niemals einen musi- kalischen Ton hören, so würden auch diese Anlagen sich nie entwickeln, die latenten Kräfte nie zu lebendigen wer- den. Damit die formellen Dispositionen also wirklich einen Vorstellungsinhalt bekommen, damit aus dem blossen an- geborenen Sinn für etwas ein actives Talent werde, dazu bedarf es stets erst der Befruchtung und Anregung durch die sinnlichen Eindrücke der Aussenwelt. Der antiken Theorie zufolge muss bei allen Menschen das Angeborene dasselbe sein. Die Ideen des Wah- ren, Schönen, Guten und Heiligen sind allen Menschen in gleicher Weise an- geboren, handele essichnun um Eskimos, Chinesen, Franzosen oder Pescherähs. Nach der modernen Theorie ist da- gegen das Angeborene bei verschie- denen Menschen sehr verschieden, je nach Abstammung, Zeit, Art, Gesell- schaft, kurz je nach der besondern Lage des Individuums. Die Frage ferner, warum bei allen Menschen ein Ange- borenes sich findet, wird von der alten Theorie dahin beantwortet, dass der Seele von Ewigkeit her durch Gott das Angeborene inübernatürlicher Weise angeschaffen sei, dass es also keines- wegs im Laufe natürlicher, psychologi- scher Processe entstanden sei. Dagegen erklärt die moderne Lehre das Ange- borene gerade für ein auf natürliche, physiologisch-psychologische Weise ent- standenes. Die Einflüsse der gesamm- ten äusseren Umgebung wirken auf ein Individuum während seines ganzen Le- bens fortgesetzt in einer ceteris paribus gleichmässigen Weise ein; diesen Ein- wirkungen passt sich das Individuum an, danach bildet sich sein körperliches wie geistiges Wesen. Die so auf sen- sualistischem Wege im Individuum ent- standenen Beschaffenheiten werden durch die Zeugung von den Eltern auf die "Kinder übertragen; sie werden als for- male Dispositionen auf diese vererbt, und bleiben die Kinder unter denselben Einflüssen und üben sie die ererbten Anlagen in derselben Richtung wie die Eltern, so ist die Folge davon, dass diese Anlagen sich mehr und mehr ver- stärken, und dass sie schliesslich im Laufe der Geschlechter zu einer Macht im Individuum werden, denen dasselbe als seinen so entstandenen, angeerbten und angeborenen Instincten willenlos und unbewusst in seinem Wesen und Handeln unterworfen ist. So wird gegen Locke auch heute das Angeborene gerettet, doch zugleich auch der Gegensatz sowohl gegen Platon als gegen Leibniz aufrecht erhalten. Locke hatte Recht, insofern er sich gegen die Platonische Theorie kehrte, aber Leibniz hatte gegen Locke Recht, wenn er die Existenz des Angeborenen vertheidigte. Unrecht hatte Leibniz, wenn er im Sinne der Monadologie der Monade alles angeboren sein liess und das Angeborene für etwas Ewiges, Un- entstandenes und Unveränderliches er- klärte. Gegen alle diese Theorien spre- chen die deutlichen Thatsachen, mit denen allein die Auffassung unserer modernen physiologischen Psychologie im Einklang steht. (Fortsetzung folgt.) Galtha dionaeaefolia, eine neue insectivore Pflanze. Von Dr. Wilhelm Behrens. (Mit 7 Holzschnitten,) Augenblicklich mit dem Studium der antarctischen Flora beschäftigt, habe ich Gelegenheit gehabt, die Bekannt- schaft eines kleinen, unscheinbaren Pflänzchens zu machen, dessen Blatt- structur mir interessant genug zu sein scheint, um hier besonders beschrieben zu werden. Es ist dieses Caltha dionaeae- ‚Folia Hook. fil., ein Gattungsgenosse unserer gemeinen Sumpfdotterblume, Caltha palustris. Die Gattung Caltha wurde 1818 von dem älteren De Candolle* in zwei Sub- genera Psychrophila und Populago ge- spalten: bei dem ersten bleiben die Kelchblätter (Blüthenblätter besitzt die Gattung Caltha überhaupt nicht) auch während der Fruchtreife vorhanden, bei dem letzten fallen sie nach der Bestäu- bung ab, wie bei unserer einheimischen Art, die mit noch etwa einem Dutzend ausländischen die Untergattung Populago bildet. Die Untergattung Psychrophila ent- hält nur drei Arten, welche insgesammt der antarctischen Flora angehören, (. sa- gittata CAavan., CO. appendiculata Pers. und unsere (. dionaeaefolia Hook. fil. * De Candolle Systema naturale, Parisiis 1818, vol. II, pag. 807. Letztere ist in dem kostbaren Pracht- werke: The botany of the antarctie voyage of H. M. Discovery-ships Erebus and Terror by J. D. Hooker* be- schrieben und abgebildet und nach den dort gegebenen Daten, sowie an der Hand einiger reproducirten Hooker’- schen Zeichnungen will ich hier die- jJenigen Theile der Pflanze, welche uns vornehmlich interessiren, beschreiben. Das ganze Pflänzchen ist 4 bis 6 Centimeter hoch, die Stengel stehen sehr dicht zusammengedrängt, sind sehr ästig und bilden einen dichten Rasen; an ihrem unteren Theile sind sie mit ‘den trocken gewordenen braunen Neben- blättchen der abgefallenen Blätter be- deckt, sie senden hier und dort dicke, nicht verzweigte Wurzeln in den Boden. (Figur 7. IT.) An ihrer Spitze tragen die Aestchen kleine Blüthen, die innen strohgelb, äusserlich gesättigt gelb sind. (Fig. III.) Kelchblätter sind fünf vorhanden, sie stehen in der geöffneten Blüthe stern- förmig auseinander; die Gestalt der ein- zelnen ist elliptisch-eiförmig, dicht vor * Vol. I, Flora antarctica; Part. II, Bo- tany of Fuegia, the Falklands, Kerguelen’s- Land etc. pag. 229. t. LXXXIV. 19 Behrens, Caltha dionaeaefolia, (4 Wi Wr | wi AT > Ks au Caltha (Psychrophila) dionaeaefolia Hook. fil. I, II. Blühende Pflänzchen in natürlicher Grösse. — III. Blüthe vergrössert. — IV. Blatt von der Seite, geöffnet. — V. Dasselbe von der Seite, geschlossen. — VI. Blattlamina von vorn, geöffnet. Bei den durchweg vergrösserten Figuren IV, V, VI bedeutet «a BlattscheideT,(Vagina), b Blattstiel, ce ce rechte und linke Hälfte der Blattlamina, d Anhänge derselben. der Spitze etwas zusammengeschnürt; sie sind fleischig-dick und von zahl- reichen Nerven durchzogen. Innerhalb derselben stehen 7 Staubgefässe mit grossen, gelben Antheren und dicken, purpurgefleckten Filamenten, ferner 2 bis 3 kleine, schief-eiförmige, oben stumpfe Fruchtknoten. Das Interessanteste an der Pflanze sind die Blätter, die in den Figuren IV—VI vergrössert dargestellt sind. Sie haben mitsammt dem Blattstiele Behrens, Caltha dionaeaefolia. 13 nur die geringe Länge von 10 bis 14 Millimeter. Der Blattstiel erweitert sich dort, wo er dem Stengel angewachsen ist, flügelartig zu einer grossen, kahn- förmigen Scheide von häutiger Beschaffen- heit und hellbräunlicher Farbe (a), die in ihrem oberen Theile beiderseitig so- gar verwächst, so dass die freie, obere Hälfte des Blattstieles (b) wie auf dem Rücken der Scheide entspringend er- scheint. Eine derartige Scheiden- oder Vaginabildung findet sich noch bei den meisten übrigen Hahnenfussgewächsen oderRanunculaceen (zu welcher Pflanzen- familie Caltha gehört), freilich nicht in dieser colossalen Entwickelung. Derdicke, saftig-grüne Blattstiel D trägt an seiner Spitze die sonderbar gestaltete Blatt- fläche oder Blattlamina (ec). Dieselbe ist kleiner als die Vagina, etwa 4 bis 7 Millimeter lang, fleischig-dick und von schön grüner Farbe. Ihr äusserer Um- riss ist rund-eiförmig und oben ist sie bis auf ein Drittel ihrer Länge gespal- ten, so dass sie in einen rechten und und einen linken Seitenlappen zerfällt. Jeder Lappen ist conduplicat (einge- faltet), d. h. er besitzt an seiner Basis innerlich einen Anhang. (d Figur VI.) Die beiden Anhänge — jeder hat eine elliptische Gestalt — sind zu einem Organe verwachsen, wie es Figur VI. d deutlich zeigt. Die Ränder der Blatt- fläche wie der Anhänge tragen zahl- reiche, starke Dornen, welche eine senk- rechte Stellung in Bezug auf die Fläche dieser Organe einnehmen. Ausserdem ist die Innenseite der Blattlamina ganz dicht mit klebrigen Papillenhaaren be- setzt. (Figur VI.) Endlich vermag die Lamina sich gegen die Anhänge hin zu bewegen: Figur VI stellt das Blatt vor dieser Bewegung (offen), Figur V nach derselben (geschlossen) dar. Jeder nun, der die elegante Fliegen- fallen-Einrichtung beideramerikanischen Fliegenfalle, Dionaea muscipula, kennt, wird sofort einsehen, dass diese ganze Vorrichtung keiner anderen Funktion dienen kann, als dem Insectenfang. Auch Hooker kann bei der Beschreibung der Pflanze die Bemerkung nicht unter- drücken: »The similarity between the leaf of this and of the Dionaea musci- pula (American Fly-trapp) is very strik- ing. « Nachdem uns aber durch Ch. Dar- win die Eigenthümlichkeit der »Insecten- fresserei« bei vielen Pflanzenarten be- kannt geworden ist, können wir nicht nur von vorn herein die Bedeutung des ganzen Gebildes einsehen, sondern es muss auch sogar unsere höchste Be- wunderung erregen, dass bei zwei Pflan- zen aus so verschiedenen Familien wie Dionaea (Droseracee) und Caltha (Ra- nunculacee) zwei so übereinstimmende Einrichtungen angetroffen werden. Ja, vergleichen wir den Fangmechanismus von Dionaea”, wie wir ihn in beistehen- der Abbildung sehen, mit dem von un- Dionaea museipula. Blatt im ausgebreiteten Zustande von der Seite. Aus Ch. Darwin, Insectenfressende Pflanzen. serer Caltha, so können wir nicht umhin, zu gestehen, dass er hier noch schöner ist — noch sinnreicher, hätten wir bei- nahe gesagt, wenn nicht der Ausdruck von der modernen Auffassung verpönt wäre. Caltha dionaeaefolia hat nur einen Verwandten, es ist die oben erwähnte C. appendiceulata — sowohl dem äusse- ren Habitus nach, als auch bezüglich der Blattbildung. Zwar fehlt der Fang- *® Vgl. Dodel-Port, Ilustrirtes Pflanzen- leben, pag. 60 Fig. 1, 2. 14 apparat bei dieser ganz, aber die klei- nen, keilförmigen, dreispaltigen Blätter tragen an der Basis zwei Öhrchenartige, lineare Anhänge, welche auf der oberen Blattlamina entspringen und ihr dicht anliegen. Die dritte Art der Unter- gattung Psychrophila, C. sagittata, steht unserer (. palustris viel näher als den beiden genannten. C. appendiceulata und dionaeaefolia sind eminent antarctische Pflanzen. Sie gehen nicht weiter nach Norden hinauf als bis Feuerland und die letztere wurde überhaupt erst von drei Reisenden ge- sammelt, von Forster und Darwin in Feuerland und von Hooker auf einer kleinen in der Nähe liegenden Insel. In den südlichen Theilen Feuer- lands ist sie eine sehr gemeine Pflanze, sie bedeckt hier weite, ausgedehnte Stellen moosartig mit tiefem, leuchten- den Grün, inmitten welches die gelben, sternförmigen Blüthchen ein äusserst hübsches Aussehen haben. Der wohl 'zweifellose Insectenfang seitens des Pflänzchens ist leider noch nie beobachtet worden. Er könnte über allen Zweifel erhoben werden, wenn Je- mand Gelegenheit finden würde, ein wenn auch getrocknetes Herbariums- Behrens, Caltha dionaeaefolia. exemplar des Pflänzchens zu zergliedern. Dann würden sich zwischen der Blatt- lamina und ihren Anhängen gewiss kleine Insectenleichen finden, die der Pflanze zum Opfer gefallen waren. Allein bei der Spärlichkeit antarctischer Pflanzen auch in unseren grösseren Herbarien wird dieses wohl nicht so leicht mög- lich sein. Jedenfalls ist die Frage nicht un- nütz, ob in dem so ärmlichen Vater- lande unserer Caltha auch Insecten, welche sie fangen kann, vorkommen. Zwar sagt Darwin”, er habe im Feuer- lande nur sehr wenige Insecten bemerkt, und, was noch auffälliger war, in er- staunlich geringer Individuenzahl. Allein Insecten, welche für die kleinen Blätt- chen der Caltha dionaeaefolia eine Jagd- beute werden könnten, nämlich sehr kleine Dipteren und auch wohl Hyme- nopteren, kommen zahlreich genug in jedem Lande vor; sie begleiten den Reisenden bis in die höchsten Breiten- grade, bis auf die höchsten Gipfel der Berge, weit hinaus über die Grenzen des ewigen Schnees. * Reise eines Naturforschers um die Welt, deutsch von J. Vietor Carus, pag. 273. Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. Eine in der Londoner Zoologischen Gesellschaft gehaltene Vorlesung. Von Professor Th Mancherlei Thatsachen, deren Werth nicht in Frage gestellt worden ist und die meiner Ansicht nach die Bedeutung von Beweisen haben, sprechen dafür, dass zwischem dem Anfang der Tertiär- zeit und der Gegenwart die Gruppe der pferdeartigen Thiere (Equidae) durch eine Reihe von Formen repräsentirt worden ist, von denen die ältesten so beschaffen waren, dass sie am wenig- sten vom allgemeinen Typus des Baues der höheren Säugethiere abwichen, wäh- rend die jüngsten sich am weitesten von diesem Typus entfernen. Thatsächlich besitzt das älteste uns bekannte pferde- artige Thier vier vollkommen ausgebil- dete, nahezu gleich lange Finger am Vorderfusse und drei am Hinterfusse; die Ulna ist vollständig und vom Radius getrennt, ebenso die Fibula von der Tibia; es sind vierundvierzig Zähne vorhanden, unter denen die Eck- zähne in voller Anzahl auftreten, und die Backzähne haben niedrige Kronen mit einfacher Oberflächenbildung und früh gebildete Wurzeln. Der späteste * Anm. der Red. Wir sind Herrn Professor Huxley für seine Güte, die vor- . H. Huxley.“ Vertreter anderseits besitzt blos einen vollständig ausgebildeten Finger an je- dem Fusse, während die übrigen durch blosse Rudimente vertreten sind; die Ulna ist verkümmert und theilweise mit dem Radius verschmolzen; die Fibula erscheint noch mehr verkümmert und theilweise mit der Tibia verschmolzen; die Eckzähne sind bei dem Weibchen theilweise oder vollständig unterdrückt; die ersten Backzähne bleiben in der Regel unentwickelt, und wenn sie auf- treten, so sind sie sehr klein; die übri- gen Backzähne endlich haben hohe Kro- nen mit ausserordentlich complieirter Oberflächenbildung und spät gebildete Wurzeln. Die Equidae der dazwischen- liegenden Zeitalter bieten dann ver- mittelnde Charaktere dar. Was nun die Erklärung dieser Thatsachen betrifft, so lassen sich augenscheinlich zwei, und nur diese zwei Hypothesen darüber auf- stellen. Die eine nimmt an, dass diese aufeinanderfolgenden Formen der pferde- artigen Thiere unabhängig von einander ins Leben getreten seien. Die andere liegende deutsche Uebersetzung selbst durch- zusehen, zu besonderem Danke verpflichtet. 16 Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze nimmt an, dass sie das Resultat einer allmähligen Umwandlung darstellten, welche die nach einander folgenden Glie- der einer continuirlichen Reihe von Vor- fahren erlitten. Da ich nicht wüsste, dass irgend ein Zoologe noch an der ersteren Hypothese festhielte, so halte ich es auch nicht für nothwendig, dieselbe näher zu besprechen. Die Annahme der zweiten aber ist gleichbedeutend mit der Anerkennung der Entwickelungs- lehre, soweit die Pferde in Frage kom- men, und da ich keine Zeugnisse für das Gegentheil kenne, so darf ich wohl annehmen, dass dieselbe hier anerkannt ist. Seit dem Beginne der Eocänperiode haben die Thiere, welche die Familie der Equidae bilden, einen dreifachen Um- wandlungsprocess durchgemacht: 1) hat eine übermässige Ausbildung gewisser Körpertheile der älteren Formen gegen- über anderen stattgefunden; 2) haben gewisse Theile eine vollständige oder theilweise Verkümmerung erlitten, und 3) sind Theile, die ursprünglich getrennt waren, mit einander verschmolzen. Fas- sen wir den Ausdruck »Gesetz« einfach in dem Sinne einer allgemeinen Formu- lirung von durch Beobachtung fest- gestellten Thatsachen, so kann ich diese 3 Processe, vermöge deren die Kohippus- Form in die Equus-Form übergegangen ist, als Ausdruck eines dreifachen Ent- wickelungsgesetzes hinstellen. Es ist nun vom höchsten Interesse, zu be- achten, dass dieses Gesetz oder diese verallgemeinerte Darstellung von der Natur der Vorfahrenentwickelung des Pferdes genau übereinstimmt mit der, welche den Process der individuellen Entwickelung bei den Thieren im all- gemeinen ausdrückt, von der Zeit an, wo die wichtigsten Charaktere der Gruppe, welcher ein Thier angehört, unterscheid- bar werden, bis zu seinem ausgewachse- nen Zustande. Nachdem z. B. der Em- bryo eines Säugethieres seinen allgemei- nen Säugethiercharakter erlangt hat, besteht sein weiterer Fortschritt bis zur fertigen Form wesentlich in dem über- mässigen Wachsthum eines Theils im Verhältniss zu anderen, in dem Still- stand oder der Unterdrückung von be- reits angelegten Theilen und in der Verschmelzung von Theilen, die ur- sprünglich getrennt waren. Dieses Zu- sammentreffen der Gesetze der vorälter- lichen und der individuellen Entwicke- lung erweckt ein festes Vertrauen auf die allgemeine Giltigkeit des ersteren und die Ueberzeugung, dass wir das- selbe getrost in Anwendung bringen dürfen, wenn es sich um deductive Schlussfolgerungen von Bekanntem auf Unbekanntes handelt. Der Astronom, welcher den Ort eines neuen Planeten bestimmt hat, berechnet daraus seinen ‚Ort zu jeder beliebigen früheren oder späteren Zeit, wie fern dieselbe auch sein möge; und wenn wir uns auf das Entwickelungsgesetz verlassen dür- fen, so kann der Zoologe, welcher eine bestimmte Strecke des Verlaufs dieser Entwickelung in irgend einem gegebenen Falle kennt, mit eben solchem Rechte rückwärts auf die früheren, aber noch unbekannten Stadien zurückschliessen. Indem wir nun diese Methode auf das Pferd anwenden, sehe ich nicht ein, dass irgend ein Grund vorläge, zu be- zweifeln, dass die eocänen Equidae ihre Vorläufer in ‘mesozoischen Formen ge- habt haben, welche in ähnlicher Weise von Eohippus abwichen, wie Eohippus von Eguwus sich unterscheidet. Und auf diese Weise werden wir schliesslich zu der Vorstellung von,einer ersten Form in der Pferdereihe geführt, welche, wenn das Gesetz allgemeine Giltigkeit besitzt, mit fünf nahezu gleichen Fingern an jedem plantigraden Fusse, mit voll- ständig ausgebildeten, nahezu gleichen’ Unterarm- und Unterschenkelknochen, mit Schlüsselbein und zum mindesten mit vierundvierzig Zähnen versehen gewesen sein muss, unter denen die Backenzähne kurze Kronen und einfach auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 17 gefältelte oder höckerige Oberflächen- bildung hatten. Nachdem überdies die Untersuchungen von Lartet und Marsh uns gezeigt haben, dass die älteren For- men jeder beliebigen Säugethiergruppe weniger entwickelte Gehirnhemisphären hatten als die späteren, so liegt von vorn- herein die Wahrscheinlichkeit nahe, dass dieses ursprüngliche pferdeartige Wesen auch eine niedrigere Form des Gehirns aufwies. Da ferner das lebende Pferd eine diffuse Allantois-Placenta besitzt, so kann die primäre Form jedenfalls nicht eine höhere, sondern wird vielmehr wahrscheinlich eine einfachere Form der verschiedenen Einrichtungen, besessen haben, vermöge deren der Fötus Nah- rung aus dem mütterlichen Körper be- zieht. Ein solches Thier jedoch, wie das beschriebene, würde in keinem un- serer Classificationssysteme der Säuge- thiere einen Platz finden. Es würde den Halbaffen und den Insectivoren am näch- sten kommen, aber der nichtprehensile Fuss würde es doch von den ersteren und die Art seiner Placentabildung von den letzteren trennen. Eine natürliche Classification zeich- net sich nun dadurch aus, dass sie alle jene Formen zusammenstellt, welche zu- nächst mit einander verwandt sind, und sie von den übrigen trennt. Allein man mag das Wort »Verwandtschaft« in gewöhnlichem Sinn oder in rein morpho- logischem Sinn in Anwendung bringen, immer bleibt es unmöglich, sich zwei Gruppen von Thieren zu denken, welche näher mit einander verwandt wären als unsere ursprünglichen Hippoiden mit ihren Nachkommen. Und doch müssen auf Grund der herrschenden Anordnung die Vorfahren in die eine Ordnung der Säugethiere gestellt werden und ihre Nachkommen in eine andere. Man könnte zwar einwenden, dass es wohl besser wäre, abzuwarten, bis dieses primordiale Hippoid entdeckt ist, bevor man die Schwierigkeiten in Betracht zieht, welche durch sein Auftreten geschaffen werden . Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). könnten. Allein die Sache liegt so, dass diese Frage bereits in einer andern Form zur brennenden geworden ist. Zahlreiche »Lemuren« mit ausgeprägten Hufthiercharakteren sind in den älteren Tertiärschichten der Vereinigten Staa- ten und anderswo entdeckt worden und Niemand kann die älteren Säugethiere, mit denen wir bereits längere Zeit be- kannt sind, studiren, ohne beständig von den insectivoren Eigenthümlichkeiten überrascht zu werden, welche sie dar- bieten. Es gibt geradezu keinen Punkt in der Definition der Primaten, Carni- “ voren oder Ungulaten, der irgend ein Mittel an die Hand gäbe, um zu ent- scheiden, ob ein gegebenes fossiles Ske- let mit beinahe vollständig erhaltenem Schädel, Zähnen und Gliedmaassen zu den Lemuren, den Insectivoren, den Car- nivoren oder den Ungulaten gestellt werden müsste. In welcher Ordnung von Säuge- thieren immer bisher eine genügend lange Reihe von Formen zum Vorschein gekommen ist, stets bildete sie einen Beleg des dreifachen Entwickelungs- gesetzes, der ebenso klar, wenn auch vielleicht nicht so überraschend war wie derjenige der Pferdereihe. Carnivoren, Artiodactylen und Perissodactylen; alle streben, je weiter wir sie durch die Tertiärperiode zurückverfolgen, zu im- mer weniger abgeänderten Formen hin, welche in keine der anerkannten Ord- nungen passen, sich aber derjenigen der Insectivoren mehr als irgend einer an- deren annähern. Es wäre jedoch höchst unbequem und irreführend, wenn man diese primordialen Formen Insectivoren nennen wollte, indem die so bezeich- neten Säugethiere selbst mehr oder we- niger specialisirte Umformungen des- selben gemeinsamen Typus und nur in theilweisem und sehr beschränktem Sinne geradezu Vertreter dieses Typus genannt werden können. Die Wurzel der Frage scheint mir darin zu liegen, dass die paläontolögischen Thatsachen, welche 2 18 Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze im Laufe der letzten zehn oder fünf- zehn Jahre ans Licht gezogen wurden, vollständig die gegenwärtigen taxono- mischen Vorstellungen umgestürzt haben und dass dadurch die Versuche, neue Classificationen nach dem alten Muster aufzustellen, nothwendigerweise frucht- los geworden sind. Die Cuvier’sche Methode, welchersich alle neueren Classi- ficationen angeschlossen haben, war von unermesslichem Werthe, indem sie zu der genauen Untersuchung und der scharfen Bestimmung der anatomischen Charaktere der Thiere führte. Allein ihr Prineip, namentlich die Zusammenstel- lung in scharfe, logische, durch solche Charaktere bestimmte Kategorien, wurde schon erschüttert, als von Baer zeigte, dass bei der Beurtheilung der Aehnlich- keiten und Unähnlichkeiten von Thieren die Entwickelung in ihrem ganzen Um- fang in Rechnung gezogen werden muss; und sobald man die Bedeutung der in- dividuellen Entwickelungeingesteht, folgt daraus nothwendigerweise auch diejenige der Vorfahrenentwickelung. Wenn der Zweck aller zoologischen Classification ein klarer und bestimmter Ausdruck der morphologischen Aehnlichkeiten und Ver- schiedenheiten der Thiere ist, so müs- sen alle solchen Aehnlichkeiten auch ihren taxonomischen Werth haben. Dieseiben zerfallen aber in drei Gruppen: 1) die- jenigen der ausgewachsenen Individuen, 2) diejenigen der aufeinanderfolgenden Stadien in der embryonalen Ausbildung oder der individuellen Entwickelung, und 3) diejenigen der aufeinanderfol- genden Stadien in der Entwickelung der Species oder in der Vorfahrenent- wickelung. Eine Anordnung ist nun »natürlich«, d.h.logisch berechtigtgenau in demselben Maasse, als sie die Be- ziehungen der Aehnlichkeiten und Ver- schiedenheiten, wie sie in diesen drei Gruppen aufgestellt wurden, zum Aus- druck bringt. Versucht man also, die Säugethiere zu classificiren, so muss man nicht allein ihre fertigen und ihre embryologischen Charaktere in Betracht ziehen, sondern auch ihre morphologi- schen Beziehungen, insofern als die ver- schiedenen Formen verschiedene Ent- wickelungsstufen repräsentiren. Und so zeigt sich denn, dass ebenso wie der fortdauernde Widerstand Cuvier’s und seiner Schule gegen das Wesen der Lehren Lamarck’s (so unvollkommen und widerspruchsvoll auch dieselben oft in ihren Einzelheiten waren) sich als ein reactionäres Missverständniss her- ausgestellt hat, so auch CGuvier’s nicht minder bestimmte Zurückweisung des Prineips von Bonnet’s »£chelle des etres« nicht minder unglücklich war. Die Existenz einer » Scala animantium« ist eine nothwendige Folgerung aus der Entwickelungslehre und ihre Aufstellung bildet, wie ich glaube, die Grundlage der wissenschaftlichen Taxonomie. Wenn alle Säugethiere das Ergeb- niss eines ähnlichen Entwickelungspro- cesses sind, wie er für die Equidae nach- gewiesen worden ist, und wenn sie nur verschiedene Grade dieses Processes uns vor Augen führen, so muss eine natürliche Classification dieselben in erster Linie entsprechend der Stelle an- ordnen, welche sie in der Stufenleiter der Entwickelung des Säugethiertypus einnehmen, oder entsprechend der be- sonderen Sprosse auf der » Scala mam- malium«, auf welcher sie stehen. Die Bestimmung dieser Stellung, welche irgend eine Gruppe einnimmt, lässt sich nun meiner Ansicht nach durchführen vermöge der deductiven Anwendung der Entwickelungsgesetze. Mit anderen Wor- ten, diejenigen Gruppen, welche sich am meisten den nicht-säugethierartigen Wirbelthieren annäherın und die ge- ringste Ungleichheit in der Entwickelung, die geringste Unterdrückung und die geringste Verschmelzung der wesent- lichsten Theile des Typus darbieten, müssen den früheren Entwickelungs- stufen angehören, während diejenigen, bei welchen die entgegengesetzten Eigen- auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 19 thümlichkeiten hervortreten, aus den späteren Stadien stammen müssen. Von diesem Standpunkt aus betrach- tet, erscheinen die Monotremen unzweifel- haft als Verkörperung jenes Typus des Baues, welcher die erste Stufe der Säuge- thier-Organisation darstellt: 1) Die Milchdrüsen entbehren der Zitzen und somit könnte der wesent- liche Charakterzug des Säugethieres kaum in einer einfacheren Form auf- auftreten. 2) Es ist eine vollständige und tiefe Cloake vorhanden wie bei den in der Scala niedriger stehenden Wirbelthieren. 3) Die Oeffnungen der Ureteren sind »hypocystisch«, d. h. sie öffnen sich nicht in die Harnblase dieser Thiere, sondern hinter derselben in die dorsale Wandung des Urogenitalcanals. Da diese Stelle dem Halse der Allantois ent- spricht, so behalten also die Harnleiter der Monotremen ihre primitive embryo- nale Lage bei. 4) Es findet sich keine von dem Urogenitalcanal getrennte Vagina und die Eileiter sind nicht in einen beson- deren uterinen und Fallopi’schen Ab- schnitt differenzirt. 5) Der Penis und die Clitoris sind an der ventralen Wandung der Cloake befestigt. 6) Die Epiphysen der Wirbel sind nur wenig oder gar nicht entwickelt*. 7) Der Hammer ist verhältnissmässig sehr gross und der »processus gracilis«, der ausserordentlich lang und stark er- scheint, geht zwischen dem Tympanicum und den periotischen Knochen hindurch nach dem Pterygoid, mit welchem er fest verbunden ist. Auf diese Weise steht also der Palato-pterygoidapparat ® Dr. Albrecht(„Die Epiphysen und die Amphiomphalie der Säugethierwirbelkörper“; Zoologischer Anzeiger 1879, Nr. 18) gibt zu, dass Bchidna keine oinkaner habe, beschreibt aber Epiphysen von unvollständiger Beschaf- fenheit zwischen den hinteren zwölf Schwanz- wirbeln von Ornithorhynchus. Soviel ich durch ein »Suspensorium« mit dem Perioticum in Verbindung wie bei den Amphibien und Sauropsiden. Ferner ist wie bei diesen das den Ambos ver- tretende Stück ausserordentlich klein und dasjenige desSteigbügels stabförmig. 8) Das Coracoid ist vollkommen aus- gebildet, selbständig und articulirt mit dem Brustbein. 9) Der Beckengürtel ist mit grossen Epipubica versehen und die Darmbein- axe ist unter einem bedeutenden Win- kel gegen die Axe des Kreuzbeins geneigt. 10) Das Corp. callosum ist sehr klein. 11) Es scheint keine Allantois-Pla- centa vorhanden zu sein, obgleich nach den deutlichen Ueberresten des ductus arteriosus und der arteria hypogastrica zu urtheilen, kaum bezweifelt werden kann, dass der Fötus eine grosse respiratorische Allantois besitzt. Es ist sehr wohl mög- lich, dass vermittelst einesgrossen Dotter- sackes eine unvollständige »umbilicale« Placentabildung zu stande kommt. Während aber Ornithorhynchus und Echidna hienach die Repräsentanten der niedrigsten Entwickelungsstufe der Säuge- thiere sind, halte ich es für ebenso unzweifelhaft, dass sie, wie bereits Haeckel vermuthete, zugleich ausser- ordentlich modificirte Formen dieses Stadiums sind, und zwar weist Echidna im ganzen eine bedeutendere, Ornitho- rhynchus eine geringere Abweichung vom allgemeinen Typus auf. Der Mangel von eigentlichen Zähnen bei beiden Gat- tungen ist ein ganz augenscheinliches Zeugniss der ausserordentlichen Abände- rung. Die lange Zunge, die ungewöhn- lichen äusseren Gehörgänge und das verhältnissmässig grosse, mit Windun- gen versehene Gehirn von Echidna und habe sehen können, ist die Arbeit, von welcher Dr. Albrecht eine vorläufige Mittheilung gegeben hat, noch nicht veröffentlicht, ich beschränke mich daher auf die Bemerkung, dass meine eigenen neueren Beobachtungen durchaus mit Dr. Albrecht’s Darstellung übereinstimmen. 2* 20 die Backentaschen und die hornigen Kieferplatten von Ornithorhynchus sind andere Anzeichen derselben Art. Demnach können die primären Säuge- thiere, welche weniger modificirt waren und deren Existenz nothwendig durch die Vorstellung von der Entwickelung der Gruppe gefordert wird, nicht ohne Gefahr einer Verwirrung als Monotre- mata oder Ornithodelphia bezeichnet werden, da sie aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso bedeutend von Ornitho- rhynchus und Echidna abwichen, als die Insectivoren von den Edentaten oder die Ungulaten von Rhytina ‚sich unter- scheiden. Es. dürfte daher angemessen sein, einen besonderen Namen — Pro- totheria — für die Gruppe zu bilden, welche diese gegenwärtig noch hypothe- tischen Vertreter des erwähnten niedrig- sten Stadiums des Säugethiertypus um- fasst und von welcher die lebenden Monotremen die einzigen bekannten Re- präsentanten sind. Eine ähnliche Betrachtung lässt sich auch für dieMarsupialia anstellen. Ihren wesentlichsten und bedeutsamsten Cha- rakteren nach nehmen sie eine vermit- telnde Stellung zwischen den Prototheria und den höheren Säugethieren ein: 1) Die Milchdrüsen sind mit Zitzen versehen. 2) Die Cloake ist so sehr reducirt, dass sehr oft angegeben wird, sie sei ganz verschwunden. 3) Die Oeffnungen der Harnleiter sind entocystisch, d, h. diese öffnen sich in den sogenannten »Grund« der Harnblase vor (resp. über) dem ver- engerten Halse, durch welchen sie in die röhrenförmige Urethra übergeht. Das will meiner Ansicht nach so viel besagen, dass morphologisch genommen die Harnblase der Marsupialien gleich- werthig ist der Blase der Monotremen + dem vorderen Abschnitt des Urogeni- talcanals, wonach denn das sogenannte »Trigonum« und vielleicht noch mehr von der Blase der Marsupialien das Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze Homologon jenes vorderen Abschnittes des Urogenitalcanals der Monotremen wäre. 4) Es findet sich bei dem Weibchen eine besondere und lange Vagina, welche vollständig von der Urethra getrennt ist, und die Eileiter sind in einen ute- rinen und einen Fallopi’schen Abschnitt differenzirt. 5) Der Penis ist gross und die Cor- pora cavernosa sind durch Fasergewebe und Muskeln mit dem Becken verbunden. Der Schwellkörper hat einen grossen zweigabligen Bulbus und die Cowper’- schen Drüsen sind sehr stark entwickelt. 6) Die Wirbel besitzen besondere Epiphysen. 7) Der Hammer ist klein und seine Verbindungen sind denen ähnlich, welche er bei den höheren Säugethieren besitzt. Der Ambos ist verhältnissmässig grösser und der Stapes mehr oder weniger steig- bügelförmig. 8) Das Coracoid ist kurz, artikulirt nicht mit dem Brustbein und verschmilzt mit der Scapula. 9) Der Beckengürtel ist mit epipu- bica versehen, die gewöhnlich von be- deutender Grösse und wohl verknöchert sind, und die Darmbeinaxe ist nur unter einem. kleinen Winkel gegen die Axe des Kreuzbeins geneigt. 10) Das Corpus callosum ist klein. 11) Bei den wenigen Formen, von denen man den Fötus kennt, hat sich keine Allantois-Placenta gefunden, wäh- rend der Dottersack so gross ist, dass die Möglichkeit der Existenz einer vor- übergehenden umbilicalen Placentabil- dung im Auge behalten werden muss. Man wird leicht bemerken, dass die Beutelthiere in den Charakteren 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 und dem letzten Theile von 9 mit den höheren Säugethieren übereinstimmen, während sie im ersten Theile des 9., im 10. und 11. Charakter Prototherien-Eigenthümlichkeiten dar- bieten. Insofern also stellen sie einen vermittelnden Typus zwischen demjeni- auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 21 gen der Prototheria und dem der Säuge- thiere dar, weshalb man sie wohl als Metatheria bezeichnen könnte. Und wenn irgend ein Thier bekannt wäre, welches alle diese Charaktere nebst einer vollständigen doppelten Bezahnung, nicht modificirten pentadactylen Händen und Füssen und normaler Uterus-Schwanger- schaft besässe, so würde es uns gerade die Uebergangsstufe zwischen den Pro- totheria und den höheren Thieren vor- führen, welche existirt haben muss, wenn das Entwickelungsgesetz annehmbar ist. Allein kein bekanntes Beutelthier besitzt diese ferneren Charaktere. Bei keinem findet sich mehr als ein einziger zum zweitenmal wiederkehrender Zahn auf jeder Seite der Kinnladen, und wie Professor Flower (welchem wir den hochinteressanten Nachweis dieser That- sache verdanken) gezeigt hat, erhebt sich die Frage, ob wir hier ein pri- märes Gebiss mit nur einem einzigen secundären Zahn oder ein secundäres Gebiss vor uns haben, in welchem nur ein Zahn des ursprünglichen Gebisses übrig geblieben ist. Ich zweifle nicht, dass die Antwort, welche Professor Flower auf diese Frage gibt, die rich- tige ist und dass es das Milchgebiss ist, von dem sich nur eine Spur bei den Beutelthieren erhalten hat. Bei den lebenden Nagethieren kommen in der That alle möglichen Zustände des Milchgebisses vor, von einer Zahl, welche derjenigen der bleibenden Schneide- zähne und Praemolaren gleich ist (wie bei dem Kaninchen)* bis zum voll- ständigen Fehlen der Milchzähne. Dasselbe beobachtet man bei den Insectivoren, unter welchen der Igel * Die primären Backzähne und die hinteren ‚primären oberen Schneidezähne des Kanin- chens sind schon längst bekannt. Ich habe aber kürzlich gefunden, dass das Kaninchen vor der Geburt ausserdem zwei vordere obere und zwei untere primäre Schneidezähne be- sitzt. Beides sind einfache kegelförmige Zähne, deren Säcke blos in das Zahnfleisch einge- und wahrscheinlich auch Centetes die ganze Reihe der Milchzähne besitzen, während bisher bei den Spitzmäusen noch gar keine gefunden worden sind. In diesen Fällen ist klar, dass das Milchgebiss allmählig bei den stärker abgeänderten Formen unterdrückt wor- den ist, und ich glaube, es lässt sich kein vernünftiger Zweifel dagegen erhe- ben, dass die gegenwärtigen Beutel- thiere auch eine ähnliche Unterdrückung der Milchzähne im Laufe ihrer Abstam- mung von Vorfahren erlitten haben, wel- che die ganze Reihe. derselben besassen. Ferner findet sich bei keinem leben- den Beutelthiere ein nicht modifieirter pentadactyler Fuss. Wenn der Daumen vorhanden ist, so zeigt er stets eine sehr ausgiebige Adductions- und Ab- ductions-Bewegung; der Fuss ist ge- radezu ein Greiffuss. Dies ist der Fall bei den Phascolomyidae, Phalangistidae, Phascolarctidae und Didelphidae. Die Dasyuridae zeigen denselben Typus des Fusses, aber mit Verkümmerung oder Unterdrückung des Daumens. Berück- sichtigen wir nun die Beziehungen der Macropodidae und der Peramelidae zu den Phalangisten, so ist es wohl wahr- scheinlich, dass der Hinterfuss bei diesen Gruppen gleichfalls einen verkümmerten Greiffuss darstellt, in welchem Falle diese besondere Modification des Fusses die sämmtlichen lebenden Beutelthiere charakterisiren würde. 2 In dritter Linie bieten die auf- fallendsten Eigenthümlichkeiten derFort- pflanzungsorgane und -Vorgänge bei den Beutelthieren in keiner Weise Ueber- gangscharaktere, sondern scheinen ab- sonderlich specialisirt zu sein. Die Be- bettet erscheinen. Der obere, ist nicht mehr als */ıoo Zoll lang, der untere ist erheblich grösser. Es wäre von Interesse, den Fötus des Meerschweinchens im Hinblick auf diesen Punkt zu untersuchen; bisher weiss man nur, dass es blos die hintersten Backzähne wechselt, in welchem Punkte es also mit den Beutel- thieren übereinstimmt. 22 Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze festigung des Scrotums vor der Wurzel des Penis weicht von der Anordnung dieser Theile bei allen höheren Säuge- thieren ab und die Entwickelung des Bulbus und der Cowper’schen Drüsen geht über alles hinaus, was bei den letzteren zu beobachten ist. Bei dem Weibchen ist die Urethra cystica ebenso vollständig von der Vagina getrennt wie bei den höheren Säugethieren, wäh- rend anderseits die Verdoppelung der Vagina meiner Ansicht nach ebenfalls als eine besondere Eigenthümlichkeit zu betrachten ist, welche eher von den höheren Säugethieren weg- als zu ihnen hinführt. Bei den Monotremen zeigt allerdings das vordere Ende des Uro- genitalcanals jederseits eine sehr kurze Erweiterung oder ein Horn. In der Mittellinie, eine kurze Strecke hinter diesen, öffnen sich die Harnleiter auf einer vorragenden kanimförmigen Papille. Die Oeffnung der Harnblase liegt vor und unterhalb der Genitalhörner. Wenn wir nun diese Bildung mit derjenigen vergleichen, welche bei den niedrigen Formen der höheren Säugethiere auf- tritt, ‘so finden wir, dass sich die Pa- pillen der Harnleiter seitlich von ein- ander getrennt und nach vorn verschoben haben, derart, dass sie nun den Grund der Harnblase einnehmen und die Geni- talhörner hinter sie und etwas dorsal von ihnen zu liegen kommen. Zu glei- cher Zeit hat in der Längsrichtung eine Trennung Platz gegriffen zwischen den Abschnitten des Urogenitalcanals, welche man als »ureterischen« und »Genital«- Abschnitt bezeichnen kann. Der erstere wird in die Harnblase aufgenommen und tritt durch eine längere oder kürzere Urethra cystica mit dem letzteren in Verbindung, welcher sich in die bald längere bald kürzere Vagina umwandelt. Bei dem Beutelthiere ist dieselbe all- gemeine Modification eingetreten, allein die »Genitalhörner« haben sich unge- mein verlängert und stellen nun die sogenannte »doppelte« Vagina dar. Endlich ist das Marsupium, wo es vorkommt, ein nicht weniger auszeich- nender Zug der Beutelthiere und scheint gleich den Besonderheiten der weiblichen Geschlechtsorgane mit der abnorm frühen Geburt des Fötus in Zusammenhang zu stehen. Es ist wohl bekannt, dass auch unter den höheren Säugethieren der Fötus bei den einen in verhältnissmässig viel unvollkommenerem Zustande ge- boren wird als bei den anderen, selbst bei nahe verwandten Arten. So kommt das Kaninchen z. B. ohne Haare und blind auf die Welt, während der Hase mit Haaren bedeckt und mit geöffneten Augen geboren wird. Ich halte es nun nach dem Charakter des Fusses für wahrscheinlich, dass die ursprünglichen Formen, von denen sich die lebenden Marsupialien abgeleitet haben, auf Bäu- men lebende Thiere waren, und da ist es denn, wie ich glaube, nicht schwierig einzusehen, dass es einem Thiere mit einer solchen Lebensweise von hohem Vortheile war, wenn es die Jungen im Innern seines Körpers in so früher Ent- wickelungsperiode als immer möglich los wurde und dieselben während der späteren Entwickelungsperioden vermit- telst der Milchdrüsen statt, vermittelst einer unvollkommenen Placentaform mit Nahrung versehen konnte. Wie dem jedoch sei, die Eigenthüm- lichkeiten der existirenden Beutelthiere gestatten meiner Auffassung nach keinen Zweifel, dass sie bedeutend abgeänderte Glieder des metatherischen Typus sind, und ich vermuthe, dass die meisten, wenn nicht alle australischen Formen verhältnissmässig spät entstanden sein werden. Ich glaube annehmen zu müs- sen, dass die grosse Mehrzahl der Metatheria, von denen wir sicherlich binnen kurzem in den mesozoischen Formationen eine grosse Menge ent- decken werden, weit von unsern leben- den Marsupialien abweichen, dass sie nicht allein des Beutels entbehrten, wie dies schon bei manchen lebenden auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 23 »Beutelthieren« der Fall ist|\ sondern dass sie auch eine ungetheilte Vagina besassen und wahrscheinlich ihre Jungen nicht früher zur Welt brachten als die lebenden Carnivoren und Nagethiere, indem für die Ernährung des Fötus während der länger dauernden Schwan- gerschaft aller Wahrscheinlichkeit nach durcheinenumbilicalen Placenta-Apparat und für seine Athmung durch eine nicht- placentale Allantois gesorgt wurde. In der noch übrig bleibenden Gruppe der Säugethiere, die wir bisher als die »höheren Säugethiere« bezeichnet haben, finden wir folgende Merkmale: 1) Die Milchdrüsen sind mit Zitzen versehen *. 2) Die Cloake ist in der Regel ver- schwunden, manchmal jedoch (Biber, Faulthier) findet sich eine seichte Cloake, ganz besonders bei dem Weibchen. 3) Die Oeffnungen der Harnleiter sind stets entocystisch, allein ihre Lage variirt ausserordentlich, von nahe am Halse der Blase (Sorex) bis zum vor- deren Ende derselben (Hyrax). 4) Es ist eine besondere Vagina vorhanden, die fast immer ungetheilt erscheint. Die Eileiter sind in einen uterinen und einen Fallopi’schen Ab- schnitt differenzirt. 5) Der Penis ist gewöhnlich gross, der Bulbuseinfach odertheilweise getheiltund die Corpora cavernosa sind fast immer un- mittelbar an die Schambeine befestigt. 6) Die Wirbel besitzen Epiphysen. 7) Der Hammer ist gewöhnlich klein, der Ambos relativ gross, der Stapes steigbügelförmig. 8) Das Coracoid ist fast überall sehr verkümmert und mit der Scapula verschmolzen. 9) Die Darmbeinaxe bildet nur einen kleinen Winkel mit der Axe des Kreuz- beins und es findet sich kein Epipubi- cum oder nur faserige Reste desselben. * Die einzige mir bekannte Ausnahme bildet der Maulwurf vom Cap, Ohryso- 10) Das Corpus callosum und die vordere Commissur variiren in weiten Grenzen. Bei manchen Formen, wie bei Erinaceus und Dasypus, sind sie nahezu monotremenartig. 11) Der Fötus tritt durch eine Allan- tois-Placenta mit dem Uterus der Mutter in Verbindung. Der Dottersack zeigt eine wechselnde Grösse und ist bei man- chen niedrigen Formen (wie z. B. Lepus) anfänglich sehr gefässreich und spielt vielleicht während der ersten Entwicke- lungsstadien eine quasi placentale Rolle. Es ist klar, dass wir in allen diesen Hinsichten den Säugethiertypus auf einer höheren Entwickelungsstufe vorfinden, als sie die Prototheria und die Meta- theria darboten. Daher können wir die Formen, welche dieses Stadium erreicht haben, als Eutheria bezeichnen. Es ist eine Thatsache, welche merk- würdig mit dem übereinstimmt, was wir auf Grund des Entwickelungsprincips er- warten durften, dass, während die exi- stirenden Glieder der Prototheria und der Metatheria alle ausserordentlich mo- dificirt erscheinen, es unter den leben- den Eutheria gewisse Formen gibt, die sich nur wenig von dem allgemeinen Typus entfernen. Wenn z. B. Gymnura eine diffuse Placentabildung besässe, so wäre sie ein ausgezeichneter Vertreter eines undifferenzirten Eutheriden. Schon vor vielen Jahren habe ich in meinen Vorlesungen am Royal College of Surgeons ganz besonders die centrale Stellung der Insectivoren unter den höhe- ren Säugethieren hervorgehoben und das weitere Studium dieser Ordnung und derjenigen der Nagethiere hat nur meine Ueberzeugung befestigt, dass Jeder, der mit dem Umfange der Variationen im Bau dieser Gruppen bekannt ist, den Schlüssel zu jeder Eigenthümlichkeit in der Hand hat, die man bei den Primaten, den Carnivoren und den Ungulaten an- chloris, welcher derselben (nach Peters) entbehrt. Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze 24 b. Der Unterkiefer mit dem Quadratum artikulirend. theria. ä 3 B ES FRE: & E38 1 ® et ac ee ° 5 SEE ET Entwickelungs- a = 3 A Eee BB "Br Su asien‘ Säugethiere. E E E e ei : ErEH & u: BD Sees 1. Zitzen. deciduat. (0) (6) 0 00 20 (6) 2. Allantois-Placenta. 3. Die Harnleiteröffnungen entocystisch. 4. Kleiner Hammer. 5. Verkümmertes Coracoid. Eutheria. ® 6. Epipubica rudimentär oder fehlend. ; Placenta: E 7. Zwei Hinterhauptscondylen und ein 3 F E & knöchernes Basioceipitale. 3 . F \ ä 8. Ein Amnion vorhanden. Er =) Ö = 9. Ein Corpus callosum. indeeiduat. X 3 0 0 0 0 0 10. Keine Kiemen. 2 Gl : = Metatheria. J1 3 4 5, 7, 8, 9, 10 wie oben, II und\ x ER IE KRDEK EIER IE EX | VI wie wnten. J 5 & = [° „10 wie oben. 8 Er Zitzen. a z Brote |m . Keine Allantois-Placenta. HE rin, IT. Die Harnleiteröffnungen hypocystisch. EIDERELDELDESEITERZEFTE IV. Grosser Hammer. | | V. Vollständig ausgebildetes Coracoid. j VI. Grosse Epipubica. Be 8, 9, 1,-, IH, IV, V, VI wie oben. a. Keine Milchdrüsen. ee} ELSE IER DE KEX REN IE NEN DEAN EI . Kein Corpus callosum. auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 35 treffen mag. Ist der gemeinsame Bau- | tischen Zusammenhang zwischen den- plan der Insectivoren und der Rodentien gegeben und wird eingestanden, dass die Modificationen des Baues der Glied- maassen, des@ehirnsund des Ernährungs- und Fortpflanzungssystems, welche bei ihnen vorkommen, auch anderwärts sich finden oder auch sich steigern mögen, so erscheint die Ableitung aller Eutheria von Thieren, welche abgesehen von dem einfacheren Typus ihrer Placentabildung Insectivoren sein würden, als eine ein- fache Deduction aus dem Entwickelungs- gesetz. Es ist kein Monotrem bekannt, das sich nicht ausserordentlich viel weiter vom Typus der Prototheria, und kein Beutelthier, das sich nicht viel weiter vom Typus der Metatheria entfernte, als Gymnura oder sogar Erinaceus vom Typus der Eutheria abweicht. Der allgemeinste physiologische Un- terschied zwischen den Prototheria, den Metatheria und den Eutheria liegt in den Abweichungen, welche die Einrich- tungen zur Verlängerung der Dauer der intrauterinen und der extrauterinen Er- nährung durch die Mutter in jeder Gruppe darbieten. Die Möglichkeit einer höhe- ren Differenzirung der Species hängt offenbar innig mit der Länge dieser Periode zusammen. Ebenso liegt auch der allgemeinste morphologische Unter- schied, der sich innerhalb der Eutheria aufstellen lässt, in ihrer Placentabildung. Alle Formen der deciduaten Placenta gehen aus indeciduaten Formen hervor und der innige Zusammenhang des Fötus mit dem mütterlichen Körper erscheint als Weiterbildung einer früher nur locke- ren Verbindung derselben. Daher stehen die Eutheria mit deciduater Placenta auf einer höheren Entwickelungsstufe als diejenigen mit indeciduater Placenta. Wenn man nun die Beziehungen der verschiedenen lebenden Gruppen der höheren Säugethiere zu einander be- sprechen will, so wäre es ein missglück- ter Versuch, irgend einen directen gene- selben nachweisen zu wollen. Jede hat, wie schon das Beispiel der Equidae ver- muthen lässt, wahrscheinlich ihre be- sondere Vorfahrenreihe gehabt und in diesen Reihen stellen die Eutherienformen mit deciduater Placentabildung die letzte Stufe dar, die Eutherienformen mit in- deciduater Placentabildung die nächst jüngste; darauf folgen die Metatherien- formen und endlich stehen die Proto- therienformen auf der frühesten Stufe unter denjenigen Thieren, welche nach den geltenden Definitionen noch als Säugethiere zu betrachten wären. Die beifolgende Tabelle lässt mit einem Blick die Anordnung der Säuge- thiere entsprechend den Ansichten über- schauen, welche ich hier auszudrücken versucht habe. Das Zeichen O deutet die Stellen in der Tabelle an, welche von bekannten Säugethieren eingenom- men werden, während X die Gruppen bezeichnet, von denen nichts bekannt ist, deren frühere Existenz sich aber aus dem Entwickelungsgesetz ableiten lässt. Ich wage die bestimmte Erwartung auszusprechen, dass die Untersuchung der Säugethierfauna der mesozoischen Periode früher oder später diese Lücken ausfüllen wird. Wenn aber die Deduc- tion aus dem Entwickelungsgesetz so- weit gerechtfertigt war, so dürfen wir uns demselben auch noch viel weiter anvertrauen. Wenn man mit Bestimmt- heit erwarten darf, dass Fohippus einen pentadactylen, mit Schlüsselbeinen ver- sehenen Vorfahren hatte, so dürfen wir mit nicht geringerem Vertrauen voraus- setzen, dass die Prototheria aus Vor- fahren hervorgegangen sind, die keine Säugethiere waren, insofern sie wenig- stens keine Milchdrüsen besassen und ihre Unterkiefer mit einem Quadrat- knochenoder-Knorpelartikulirten, dessen verkümmerter Rest der Hammer der eigentlichen Säugethiere darstellt. Wahr- scheinlich war auch das Corpus callosum 26 Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze noch nicht als besondere Bildung auf- | dass selbst die lebenden Amphibien uns getreten. . Unsere gebräuchlichen Qlassificatio- nen haben keinen Platz für dieses >»sub- mammale« Entwickelungsstadium (wel- ches bereits von Haeckel unter dem Namen Promammale angedeutet wurde). Dasselbe würde sich von den Sauro- psiden unterscheiden durch seine beiden Condylen und durch das ausschliessliche Fortbestehen des linken Aortenbogens, während es wahrscheinlich nicht minder von den Amphibien abweichen würde durch den Besitz eines Amnions und den Mangel von Kiemen zu jeder Zeit seines Lebens. Ich schlage vor, die Vertreter dieses Stadiums Hypo- theria zu nennen, und ich zweifle nicht, dass, wenn wir 'einmal eine genauere Kenntniss der auf dem Lande lebenden Wirbelthiere der späteren paläozoischen Epochen haben, manche diesem Stadium angehörende Formen zu .Tage kommen werden. Wenn wir nun den Hypothe- rien noch das Amnion und das Corpus callosum wegnehmen und functionirende Kiemen hinzufügen — deren Vorhanden- sein bei den Vorfahren der Säugethiere ebenso bestimmt durch ihre Visceral- bogen und -Spalten angedeutet ist, wie die Existenz von vollständigen Schlüssel- beinen bei den Vorfahren der Canidae durch die Spuren derselben bei dem Hunde angedeutet wird — so finden die auf solche Weise reducirten Hypo- theria sofort ihren Platz unter den Amphibien. Denn der Besitz von Kie- men setzt denjenigen eines unvollständig getheilten Herzventrikels und zahlreicher Aortenbogen voraus, wie sie sich beim Säugethier-Embryo finden, um jedoch im Laufe seiner Entwickelung mehr oder weniger vollständig rückgebildet zu werden. Somit betrachte ich den Typus der Amphibien als den Repräsentanten des nächst. niedrigeren Stadiums der Wirbel- thierentwickelung, und es ist ausser- ordentlich interessant zu beobachten, beinah jeden möglichen Grad der Mo- dification dieses Typus darbieten, von solchen Formen an wie die eierlegenden, mit äusseren Kiemen und kleinen Lungen versehenen Siredon und Menobranchus, welche in gleichem Verhältnisse zu ihrem Typus stehen wie Gymnura zu den Eutheria, bis hinauf zu den ausschliess- lich luftathmenden Salamander und Frosch, bei welchen die Periode der Entwickelung im Ei, sei es innerhalb des Uterus selbst oder in besonderen Brutstätten, ebenso sehr verlängert sein kann wie bei den Säugethieren. Eine auf reichliches Material ge- gründete sorgfältige Untersuchung der Entwickelung mancher Formen, wie z. B. von Hylodes, wird wahrscheinlich ein bedeutsames Licht auf die Natur der Veränderungen werfen, welche mit der Rückbildung der Kiemen und der Aus- bildung des Amnions und des extra- abdominalen Abschnitts der “Allantois beim Fötus der höheren Säugethiere endigt. Die neuesten Untersuchungen von Boas* über den Bau des Herzens und den Ursprung der Lungenarterien von Ceratodus fielen in meine Hände, als ich mich gerade von neuem mit diesem Gegenstande beschäftigte und bereits, soweit es das Herz betrifft, zu Resul- taten gelangt war, welche die seinigen vollständig bestätigen. Dieses merk- würdige Geschöpf scheint wie geschaffen zur Erläuterung der Entwickelungslehre. Es liessen sich eben so gute Beweis- gründe für die Behauptung anführen, dass es ein Amphibium, wie dass es ein Fisch oder Beides oder keins von Beiden sei. — Der Grund hiefür liegt einfach darin, dass, wie mir scheint, Ceratodus ein ausserordentlich wenig modifieirter Vertreter jenes eigenthüm- * „Ueber Herz und Arterienbogen bei Oeratodus und Protopterus.“ (Morph. Jahr- buch 1880.) auf die Anordnung der Wirbelthiere, insbesondere der Säugethiere. 27 lichen Stadiums in der Wirbelthier- entwickelung ist, von welchem sowohl die typischen Fische als die typischen Amphibien besondere Abänderungen dar- stellen. Ich glaube, es dürfte ange- messen sein, einen eigenen Namen für die Vertreter dieses Stadiums zu haben, und ich schlage hiefür das Wort Her- petichthyes vor. Wenn wir dem Ceratodus die Haut- knochen des Schädels und die Pneu- matocoele (Schwimmblase) wegnehmen und den Bau seines Herzens ein wenig vereinfachen könnten, so würde sich ein Thier ergeben, das man unzweifel- ° haft unter die Chimaeroidei stellen müsste, und wären bei einem solchen Chimae- roiden die lamellenförmigen Scheide- wände zwischen den Kiemen nicht ver- kümmert, wie dies bei den jetzigen Chimaeroiden der Fall ist, während die Opercularfalte unentwickelt bliebe, so ergäbe dies einen wenig modifieirten Repräsentanten der Selachiergruppe, welchem sich unter den thatsächlich bekannten Formen Heptanchus und Üe- stracion noch am allermeisten annähern. Die Wirbelthiere auf diesem Entwicke- lungsstadium könnte man als Chon- drichthyes bezeichnen. Man denke sich nun die Gliedmaassen und die Geschlechtsausführgänge des Chondrichthys - Stadiums wunentwickelt und lasse die beiden Nasensäcke durch einen theilweise getheilten Sack mit einer einzigen äusseren Oeffnung ver- treten sein, so wird sich ein noch nie- drigerer Grad des Wirbelthierlebens er- geben, den man Myzichthyes nennen kann und der nur durch die bedeutend modificirten Lampreten und Pricken in der gegenwärtigen Fauna repräsentirt ist. Endlich denke man sich, dass der Kopf seine ursprünglichste Gliederung und das Herz seinen primitiven Charak- ter eines contractilen Rohres behalte, und wir erreichen mit den Hypichthyes ein Stadium der Vereinfachung des Wir- belthiertypus, dem man kaum noch irgend einen wesentlichen Zug nehmen könnte, ohne damit einen Punkt zu erreichen, wo es fraglich würde, ob man das betreffende Thier noch ein » Wirbel- thier« nennen könnte. Dieses Stadium wird gegenwärtig nur noch vertreten durch eine eigenthümlich modificirte Form, den lebenden Amphiosxus. Somit lassen sich alle Wirbelthiere nach der Reihenfolge ihrer Entwickelung, soweit wir sie bisher betrachtet, in neun Stadien eintheilen: 1) Das der Hypichthyes, 2) >» » Myzichthyes, di, 3 Chondrichthyes, 4) » » Herpetichthyes, Hr 5 win phnbea, 6) > » Hypotheria, lass. san Proibotherta; 8) >» >» Metatheria und RAR Eutheria. Alle diese Stadien mit Ausnahme desjenigen der Hypotheria sind durch lebende Gruppen der Wirbelthiere ver- treten, die sich freilich in den meisten Fällen aus bedeutend abgeänderten For- men des Typus zusammensetzen, welchem sie angehören, während nur die Amphi- bien und die Eutherien in einigen ihrer lebenden Glieder eine innigere Annähe- rung an den unmodificirten Typus dar- bieten. Es wird dem Leser bereits aufgefallen sein, dass ich die Ganoiden, die Knochen- fische und die Sauropsiden nicht erwähnt habe. Es geschah dies, weil mir die- selben von der Hauptentwickelungslinie abseits zu liegen scheinen — weil sie gleichsam Seitensprünge repräsentiren, welche vongewissen Punkten jener Haupt- linie ausgehen. Die Ganoiden und die Teleostier nehmen meiner Ansicht nach dieselbe Stellung zum Stadium der Her- petichthyes ein wie die Sauropsiden zum Stadium der Amphibien. Es gibt, soweit ich sehen kann, in der Organisation der Ganoiden und der Knochenfische keine Thatsache, die nicht leicht durch die Anwendung des Ent- 28 wickelungsgesetzes auf die Herpetich- thyes erklärlich wäre. Man kann die- selben in der That als das Ergebniss einer excessiven Entwickelung, einer Ver- kümmerung oder Verschmelzung der Theile eines Herpetichthyiden auffassen*. Ebenso haben wir mit der Unter- drückung der Kiemen, der Entwickelung eines Amnions und einer respiratorischen, extra-abdominalen Allantois und mit jener Verbreiterung des Basioccipitale im Verhältniss zu den Exoccipitalia, woraus sich die Entstehung eines einzigen Schä- Eintwickelungsstadien. Th. H. Huxley, Ueber die Anwendung der Entwickelungsgesetze ete. delcondylus ergibt, alle die Verände- rungen aufgezählt, welche nothwendig sind, um ein urodeles Amphibium in eine Eidechse umzuwandeln. Endlich wäre es ganz überflüssig, die Beweise für den Uebergang von dem Reptilien- zum Vogeltypus nochmals aufzuzählen, welche das Studium der Ueberreste aus- gestorbener Thiere ansLichtgebrachthat. Das Schema der Anordnung der Wirbelthiere, welches sich naturgemäss aus den hier dargelegten Betrachtungen ergibt, nimmt somit folgende Gestalt an: Repräsentirende Gruppen. 2>“Eutheria.... .. Monodelphia Ö 8. Metatheria . Marsupialia rs rerototheria . 2... Monotremata & jAves 6. ET ee Re 'opsi a 5. Hypotheria x Repriulie DFAmPHTDIa 4. . Amphibia...... x - (Ganoidei 2 tlerpetichtöhyes., . Dipnot. „ ..,... 2. ee Osteichthyes | m,]eostei Ö 10) 3. Chondrichthyes. . Chimaeroidei Re x Ö Selachii Ruat x Ö 2. Myzichthyes „Marsıpobranehii X .. x Ö 1. Hypichthyes . Pharyngobranchii X... x 10) Es scheint mir, dass alles, was wir bisher über die Wirbelthiere der ver- gangenen Perioden wissen, mit der An- nahme im Einklang steht, dass das Ge- setz, welches den Process der Vorfahren- entwickelung bei den höheren Säuge- thieren ausdrückt, eine allgemeine An- wendung auf sämmtliche Vertebraten zulässt. Wird dies eingeräumt, so meine ich, es folgt daraus nothwendigerweise, * Dass das Herz von Butirinus ein voll- ständiges Bindeglied zwischen dem typischen Ganoidenherzen und dem typischen Teleostier- herzen darbietet, ist erst kürzlich von Boas die hier angedeuteten Stadien durch- laufen haben müssen und dass der Fort- schritt unserer Entdeckungen, während er die scharfen Grenzlinien zwischen diesen Stadien verwischen und sie in eine continuirliche Reihe kleiner Diffe- renzirungen umwandeln muss, doch keine Wirbelthierform aufdecken wird, für welche in unserem allgemeinen Schema kein Platz wäre. gezeigt worden. (Morphol. Jahrbuch 1880.) Somit verschwindet auch die letzte der ver- meintlichen Lücken zwischen den Ganoiden und den Teleostiern. Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. Von Ernst Haeckel. (Mit 9 Holzschnitten.) 1. Die allgemeinen Keimungsverhältnisse der Scheibenquallen. Es gehört zu den grössten und an- erkanntesten Verdiensten unserer heu- tigen, durch Darwin fest begründeten Entwickelungslehre, dass sie uns in der Stammesgeschichte der Organismen die wahren Ursachen ihrer Keimesgeschichte aufgedeckt hat. Während wir noch vor 25 Jahren die wunderbaren Thatsachen der Keimesgeschichte oder der »indivi- duellen Entwickelungsgeschichte« nur als unbegreifliche Räthsel anstaunten, sind wir jetzt durch die Abstammungslehre in denStand gesetzt worden, in der Stam- mesgeschichte oder der » Urgeschichte der Vorfahren« die Lösung jener Räthsel zu finden. Denn dieselbe Formenreihe, welche durch die ganze lange Kette der ausgestorbenen Vorfahren jedes jetzt lebendenOrganismus dargestellt wird, die- selbe Formenreihe finden wir (— wenig- stenstheilweiseund annähernd— )wieder, wenn wir die individuelle Entwickelung des betreffenden Organismus vom Ei an Schritt für Schritt verfolgen. Ihren kür- zesten Ausdruck findet diese Theorie vom innigen Zusammenhang beider Ent- wickelungsreihen in dem biogeneti- schen Grundgesetze: »Die Keimes- geschichte ist ein Auszug der Stammes- geschichte« — oder mit anderen Worten: »Die Ontogenie ist eine Recapitulation der Phylogenie.« Ich habe dieses wahre »Grundgesetz der organischen Entwicke- lung« und den ihm zu Grunde liegenden ursächlichen Zusammenhang beider Ent- wickelungsreihen im ersten Vortrage mei- ner »Anthropogenie« ausführlich erläu- tert (III. Auflage, 1877, p. 6 u. s. w.). Indessen bedarf das biogenetische Grundgesetz, dessen hohe Bedeutung gegenwärtig fast allgemein anerkannt ist, eines wesentlichen Zusatzes, um richtig verstanden und angewendet zu werden. Denn in den allermeisten Fällen ist nur ein grösserer oder kleinerer Theil der Keimesgeschichte unmittelbar als Wiederholung oder Auszug der Stam- mesgeschichte zu deuten, während ein anderer Theil der ersteren Nichts mit der letzteren zu thun hat, vielmehr als eine Störung oder Fälschung jenes Aus- zugs erscheint. Demnach zerfällt die Kei- mesgeschichte eigentlich in zwei Theile, 'in eine Auszugsgeschichte oder Pa- lingenie, welche uns einen wahren Bericht von den längst entschwundenen Vorgängen der Stammesgeschichte gibt; und in eine Störungsgeschichte oder Cenogenie, welche gerade umgekehrt jenen alten Bericht stört und entstellt, und uns Erscheinungen vorführt, die in keiner Beziehung zur ursprünglichen Stammesgeschichte stehen. Auch diese 30 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. wichtige Unterscheidung der Auszugs- geschichte und der Störungsgeschichte habe ich bereits im ersten Vortrage der Anthropogenie ausführlich erörtert und mit Beispielen belegt, so dass ich hier einfach darauf verweisen kann. Ganz anderer Natur, als diese Unter- scheidung der palingenetischen und der cenogenetischen Processe ist eine Unter- scheidung, welche in der Keimesge- schichte der Organismen schon seit einem halben Jahrhundert gemacht wird, und wonach man als zwei Hauptformen der individuellen Entwickelung diejenige mit Generations-Wechselund diejenigen ohne denselben betrachtet. Sehr viele niedere Thiere (insbesondere Pflanzenthiere, Würmer und Sternthiere) — ebenso die meisten niederen Pflanzen (Moose, Farne ete.)besitzen einesogenannte»indirecte Entwickelung« mit Generationswech- sel oder Metagenesis; d. h. aus ihrem befruchteten Ei entwickelt sich zunächst ein ganz anderes Wesen, als dasjenige, welches die Eier gelegt hat, und dieses neue Wesen erzeugt erst wieder auf ungeschlechtlichem Wege, durch Thei- lung, Knospung oder Sporung, anders gestaltete Wesen, welche Eier bilden, und welche jener ersten Form gleichen; demnach wechseln hier regelmässig zwei verschiedene Generationen mit einander ab, von denen die erste der dritten, die zweite der vierten gleicht u. s. w. Dieser Generationswechsel oder diese Metagenesis fehlt dagegen den meisten höheren Thieren (Wirbelthieren, Glieder- thieren, Weichthieren etc.); und ebenso fehlt er den meisten höheren Pflanzen, den Phanerogamen. wickelt sich, wie bekannt, aus dem be- fruchteten Eie direct dieselbe Form, von der das Thier stammt, oder sie geht höchstens durch eine Reihe von Ver- wandlungen oder Metamorphosen un- mittelbar in letztere über; jede Gene- ration gleicht hier der anderen. Wir bezeichnen diese »directe Entwicke- lungs, (ohne Generationswechsel) kurz Bei diesen ent-' als Hiypogenesis, im Gegensatze zur »Metagenesis« (vergl. hierüber meine »Generelle Morphologie«, Bd. II, p. 88 und 99). Nun lässt aber in vielen Fällen ge- rade der Generationswechsel der Thiere uns die tiefsten Blicke in ihre Stammesgeschichte thun, indem die beiden mit einander wechselnden Ge- nerationen der Einzelwesen in bedeu- tungsvollster Weise zwei verschiedenen Ahnenstufen ihrer Art entsprechen; mit- hin ist hier die Metagenesis palingene- tisch. Nicht selten jedoch kommt es vor, dass von zwei nahe verwandten Thier-Gattungen einer und derselben Familie die eine jenen palingenetischen Generationswechsel besitzt, die andere nicht. Die scheinbar einfachere, » directe Entwickelung« dieser letzteren Form ist dann nach dem Gesetze der »abgekürz- ten Entwickelung« durch Verlust oder Ausfall jenes Generationswechsels ent- standen; ihre »Hypogenesis« ist dem- nach cenogenetisch; ihre scheinbar »einfache directe Entwickelung« erzählt uns von der Stammesgeschichte ihrer Art Vieles nicht mehr, von dem uns jener Generationswechsel getreue Kunde gab. Ein ausgezeichnetes Beispiel dieser Art liefern uns zwei der gewöhnlichsten und schönsten Scheibenquallen (oder Discomedusen), welche an unseren euro- päischen Küsten leben, die Feuerqualle (Pelagia) und die Goldqualle (Ohrysaora). ‚Beide gehören zur Familie der Pelagiden und sind so nahe verwandt, dass sich COhrysaora nur durch doppelt so grosse Zahl der Randlappen ihres Schirmes und durch die dreifache Zahl der Ten- takeln von Pelagia unterscheidet. Chrysa- ora, die Goldqualle, hat die ursprüng- liche (palingenetische) Entwickelungs- weise der Scheibenquallen beibehalten, indem sie sich durch Generations- wechsel aus einer festsitzenden Polypen- Form entwickelt. Hingegen hat Pelagia, die Feuerqualle, diese complieirte Kei- mungs-Form aufgegeben und entwickelt Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 31 sich direet (in cenogenetischer Weise) unmittelbar aus dem befruchteten Ei. aus der grossen Gruppe der Scheiben- quallen oder Discomedusen besitzen Wahrscheinlich die meisten Medusen | denselben Generationswechsel wie Chry- Fig. 1. Aurelia aurita (Ohrenqualle) aus der Ostsee im senkrechten Durchschnitt. vier Mundarmen, mit Brutbeuteln besetzt. g Eierstöcke. % Magen. a Gallertschirm. o‘ Deren Basis durchschnitten (Mundpfeiler). k‘‘ Verästelte Gefässe, welche vom Magen zum Schirmrande o Mund. 0‘ Zwei von den gehen; letzterer ist mit vielen feinen Fangfäden besetzt. saora, und insbesondere gilt dasauch von der gemeinsten und bekanntesten Schei- benqualle unserer europäischen Meere, von der gewöhnlichen » Öhrenqualle«, der Aurelia aurita. Das ist jene zarte, blass violett gefärbte, flache Gallert-Glocke von 10—15 CGentimeter Durchmesser, welche oft zu Tausenden im Spätsommer und Herbste an den Küsten unserer Ostsee und Nordsee ausgeworfen wird. Fängt man sie vorsichtig mit einem geräumigen Glase, ohne sie zu berühren, so wird man sich lange an den rhythmischen klappenden Schwimmbewegungen ihres flachgewölbten Schirmes ergötzen kön- nen, und an der zierlichen Bildung des feingefransten violetten Schirmrands, so- wie der 4 blattförmigen, ebenfalls gefrans- ten Mundarme, welche von der Mitte der hohlen Unterseite herabhängen und mit den 4 halbmondförmigen, im Kreuze stehenden Eierstöcken abwechseln (Fig. 1 und 2). Die reifen Eier gelangen aus den letzteren in die centrale Magenhöhle und von da durch den Mund in die fal- tigen Seitenränder der 4 Mundarme. Hier werden sie in kleine »Brutkapseln « eingeschlossen, in welchen sie die ersten Stufen ihrer individuellen Entwicke- Dieselbe Ohrenqualle (Aurelia aurita) von unten gesehen; die eine Hälfte davon ist weg- gelassen. a Sinnesbläschen (Augen und Ohren) am Schirmrand. t Fangfäden. d Mundarme. v Magenhöhle. ov Eierstöcke in deren unterer Wand. gv Verästelte Strahlcanäle, die vom Magen zum Schirmrande gehen und dort in einen Ringkanal zusammenfliessen. 33 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. lung durchlaufen. Diese letzteren wur- | einer Strobila-Kette kam. Mithin fällt den zuerst vor 42 Jahren an der Ost- see bei Danzig von dem berühmten Zoologen Professor C. Th. E. v. Sie- bold beobachtet, nachdem schon meh- rere Jahre zuvor einige spätere Ent- wickelungs-Stufenvon Sars undDalyell beschrieben worden waren. Es ergab sich daraus, dass die jungen, aus dem Ei entstandenen Keime der Aurelia sich nicht unmittelbar wieder zu dieser schö- nen und stattlichen, frei schwimmenden Medusen-Form entwickeln, sondern vielmehr zu einem winzigen, becherförmi- gen, auf einem Stiele festsitzenden Poly- pen, den sogenannten »Becher-Poly- pen« oder Scyphostoma. Dieser entwickelt sich dann später zu einem langen, geglie- derten Zapfen, Strobila, einer Kette von kleinen, achtstrahligen Scheiben, von denen sich eine nach der andern ablöst und in eine junge Aurelia verwandelt. Nachdem ich schon in früheren Jah- ren diesen merkwürdigen Generations- wechsel der Aurelia mehrfach untersucht und gelegentlich auffallende cenogene- tische Abweichungen von dem gewöhn- lichen palingenetischen Verlaufe des- selben beobachtet hatte, wurde ich im Laufe dieses Winters bei einer erneuten Untersuchung durch die Entdeckung überrascht, dass bisweilen die Meta- genesis der Aurelia unterbleibt und an deren Stelle die Hypoge- nesis tritt, die sogenannte >»directe Entwickelung, ohne Generationswech- sel«<. Unter einer grossen Schaar von Aurelien-Keimen, welche ich durch die Güte meines früheren Assistenten, Dr. Wilhelm Haacke, im vorigen Octo- ber aus Kiel zugeschickt erhielt, fanden sich zahlreiche Individuen, welche in auffallender und zum Theil sehr merk- würdiger Weise von dem gewöhnlichen Entwickelungsgange abwichen; und in einigen Fällen entwickelte sich sogar direct aus dem Gastrula-Keim die junge Aurelia, ohne dass es überhaupt zur Bildung eines Scyphostoma-Polypen und unter gewissen Bedingungen der Gene- rationswechsel dieser Scheibenqualle aus und die Awrelia entsteht direct aus der Gastrula, gleich der Pelagiden- Gattung Pelagia; während sie gewöhn- lich durch Metagenesis aus einem Scy- phostoma-Polypen entsteht, gleich der Pelagiden-Gattung Chrysaora. Ich will nun zuerst diese »indirecte« Metagenesis kurz schildern, darauf jene »directes Hypogenesis, und‘ endlich einige allgemeine Bemerkungen über die Beziehungen beider Keimungs - Formen zu einander anschliessen. IM. Die indireete Keimung von Aurelia und Chrysaora. (Ursprüngliche Entwickelung, mitGenerations- wechsel.) Der gewöhnliche Generationswech- sel der Aurelia, welchen dieselbe mit Chrysaora und wahrscheinlich mit der grossen Mehrzahl der Scheibenquallen- theilt, setzt sich aus 4 verschiedenen Abschnitten oder Keimungsperioden zu- sammen. Von diesen umfasst der erste die Bildung der Gastrula, der zweite die des Scyphostoma, der dritte die der Stro- bila, und der vierte endlich diejenige der jungen Aurelien-Larve (Ephyrula). Die. erste: Periode,' die: Bil- dung der Gastrula, geschieht in jener einfachenundursprünglichen Weise, welche bei den meisten niederen und phylogenetisch älteren Thierformen vor- herrschend ist, und aus deren typischer Uebereinstimmung wir auf eine entspre- chende phylogenetische Entstehung sämmtlicher vielzelligen Thiere aus einer und derselben ursprünglichen Stamm- form, Gastraea, schliessen. Ich habe diese »Gastrula-Bildung« und ihre phylo- genetische Bedeutung bereits in meiner »Natürlichen Schöpfungsgeschichte« ge- schildert (VII. Auflage, 1879, p. 443 bis 449, Fig. 20 AK). Noch ausführ- licher habe ich dieselbe im achten Vor- Fig. 3. Die fünf ersten Keim-Stadien einer Koralle (Monoxenia Darwini), von denen diejenigen der Aurelia nicht wesentlich verschieden sind. A Monerula (Kernlose Keimkugel oder „Bizelle nach Verlust des Keimbläschens“). B Cytula oder Stammzelle (befruchtete Eizelle mit nengebildetem Kern, oder „erste Furchungszelle“). € Dieselbe in Theilung (oder „Furchung“) begriffen. D Dieselbe in 4 Furchungszellen (oder „Segmentellen“) zerfallen. E Morula oder „Maulbeerkeim“. FF Blastula oder „Keimhautblase“. @ Dieselbe im Durch- schnitt. H Dieselbe in Einstülpung oder Invagination begriffen. I K Ausgebildete Gastrula. I im Längsschnitt (mit Urdarm und Urmund), K von aussen. Stark vergrössert. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 3 34 trage meiner Anthropogenie besprochen (IH. Auf. 1877, p.. 151-192, Fig. 22 bis. 51 und Tat: MU], p.7193). 20a die Gastrula-Bildung der Aurelia und Chrysaora in keiner wesentlichen Be- ziehung von der dort geschilderten typi- schen Keimung der Koralle Monoxenia abweicht, so genügt es, die dort ge- gebene Abbildung der letzteren hier zu wiederholen und die 5 Hauptstufen des Gastrulations-Processeskurz anzuführen. Nachdem die Eizelle schon vor der Be- fruchtung ihren ursprünglichen Kern, das Keimbläschen verloren hatte (Mone- rula, Fig. 3 A), entsteht in Folge der Befruchtung in der einfachen Keimkugel ein neuer Kern; sie stellt jetzt die Stammzelle oderCytula dar (Fig.3B), Jene wichtige »Urzelle«, von welcher alle späteren Zellen des vielzelligen Thierkörpers abstammen, aus welcher sie durch wiederholte Theilung hervor- gehen. Diese Theilung erfolgt als regel- mässig wiederholte Halbirung in geome- trischer Progression (Fig. 3 CD), so dass aus der »Stammzelle< (oder der »ersten Furchungszelle«) zuerst 2, dar- auf4, dann 8, 16, 32, 64 Zellen u. s. w. entstehen. Zuletzt bilden diese gleich- artigen einfachen »Furchungszellen « eine solide einfache Kugel, die aus lauter einfachen kugeligen Zellen von gleicher Grösse und Gestalt zusammen- gesetzt ist, der Maulbeerkeim, Morula (Fig. 3 E). Indem sich nun im Innern dieser soliden, maulbeerförmigen oder brombeerförmigen Kugel Flüssigkeit an- sammelt und dadurch sämmtliche Zellen derselben an ihre äussere Oberfläche gedrängt werden, entsteht eine einfache Hohlkugel, deren glatte Wand aus einer einzigen Schicht einfacher Zellen besteht; diese Zellenschicht ist die Keimhaut, Blastoderma; die Hohlkugel selbst ist die Keimhautblase (Blastula oder .Blastosphaera, Fig. 3 F von aussen, @ im Durchschnitt). Jetzt erfolgt jene wichtige Einstülpung oder »Invagination« der Blastula, welche zur Entstehung der Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. Gastrula führt. An einer Stelle der Oberfläche der Hohlkugel bildet sich eine grubenförmige Vertiefung, welche bald tiefer und tiefer wird (Fig. 3 4). Zuletzt berührt die Innenwand dieser Grube (oder der eingestülpten Theil der Keimhaut) die umgebende Aussenwand (oder den nicht eingestülpten Theil der Hohlkugel). Damit verschwindet die ursprüngliche Höhle der Blastula und fertig ist die Gastrula, jene bedeu- tungsvolle Keimform, deren eiförmiger Körper aus zwei einfachen Zellenschich- ten oder Keimblättern besteht (Fig. 3.J im Längsdurchschnitt, X von der äussern Fläche gesehen). Die innere Zellenschicht oder das innere Keimblatt ist das Darmblatt (Entoderma), die äussere hingegen das Hautblatt (Exoderma). Die neu gebildete (aus der Einstülpungs- Grube entstandene) Höhle ist der Ur- magen oder Urdarm (Archigaster), seine Oeffnung der Urmund (Archistoma) oder (Blastoporus. Auch beim Menschen, wie bei allen anderen Thieren, sind sämmtliche Organe und Theile des spä- teren Körpers Abkömmlinge von den Zellen, welche jene beiden ursprüng- lichen Keimblätter der Gastrula zusam- mensetzen. Die zweite Periode im Genera- tions-Wechsel der Scheibenquallen ist charakterisirt durch die Bildung des Becher-Polypen (Scyphostoma). Nach- dem die Gastrula eine Zeit lang mittelst der Flimmerhaare, welche aus ihrer Oberfläche hervorsprossen, im Wasser umhergeschwommen ist (Fig. 4, 1), setzt sie sich auf dem Boden fest und verwandelt sich so zunächst in einen einfachen Schlauchkeim (Ascula). Das Ende ihres eiförmigen Körpers, welches der ursprünglichen Mundöffnung gegen- über liegt, dient zur Anheftung und zieht sich in einen kurzen Stiel aus, während der übrige Körper sich becher- förmig erweitert (Fig. 4, 2). Am Rande des Bechers (rings um die Mundöffnung;) wachsen 4 kleine Zäpfchen hervor und Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 35 verlängern sich bald zu fadenförmigen Fühlern oder Tentakeln; dadurch geht der Schlauchkeim (Ascula) in die vier- strahlige Form des Polypenkeims über (Actinula Fig. 4, 3, 4). Zwischen den 4 ursprünglichen (oder perradialen Ten- takeln) wachsen bald 4 weitere (inter- radiale) Tentakeln hervor (Fig. 4, 5); und in der Mitte zwischen jenen pri- mären und diesen secundären Tenta- keln entstehen später noch 8 tertiäre (adradiale) Tentakeln (Fig. 4, 6). Jetzt gleicht der Aurelienkeim einem gewöhn- lichen Süsswasserpolypen (Hydra), dessen Mund von 16 Tentakeln kranzförmig umgeben ist. Allein inzwischen ist be- reits im Innern des Bechers eine wich- tige Veränderung erfolgt. Zwischen den 4 primären Tentakeln (also in der cen- tralen Verlängerung der 4 secundären) wachsen innen Längswälle aus der Becherwand 4 oder interradiale Leisten gewöhnliche Generationswechsel der Ohrenqualle (Aurelia aurita). 3, 4. Vierarmiger Hydropolyp (Aetr- Fig. 4. Der g 1: Bolertenn (Gastrula). 2. Schlauchkeim (Ascula). nula). 5. Achtarmiger Scyphopolyp (Seyphostoma). mit 16 Armen. lösung begriffen; Ephyr ascheibe (Ephı yrula). es sind nur noch 4 Ephyrascheiben vorhanden. 6. Becherpolyp oder Seyphostoma een umge Scheibenkette (Strobila). 8. Dieselbe Strobila, weiter entwickelt, mit a Randlappen der einzelnen Ephyrascheiben. 9. Dieselbe Strobila in Auf- 10. Eine ausgebildete 11. Die daraus hervorgegangene junge Aurelia, mit 8 adradialen Tentakeln. hervor, die Magenleisten (Taeniola gastralia). Dadurch zerfällt der peri- pherische Theil des einfachen Magen- raums oder Urdarms in 4 flache und breite Taschen oder Nischen. Diese eigenthümlichen Bildungen besitzen eine grosse morphologische Bedeutung und berechtigen uns, die damit ausgestat- teten Polypenformen als Becherpolypen oder Scyphopolypen von den gewöhn- lichen einfachen Polypen oder Hydro- polypen zu unterscheiden. Diese letz- teren haben (gleich unseren Teichpoly- pen, Hydra) eine einfache Magenhöhle, ohne Taeniolen. Hingegen alle Polypen, aus denen sich Scheibenquallen ent- wickeln, bilden jene 4 Taeniolen und werden daher als Becherpolypen oder Scyphostoma-Polypen bezeichnet (vergl. mein »System der Medusen«, 1879, 36 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. p. 364 etc.). Auf dem Stadium eines solchen Scyphostoma-Polypen, mit 4 Taeniolen und 16 Tentakeln (Fig. 4, 6), bleibt jetzt unser Aurelia-Keim längere Zeit bestehen, ehe er sich weiter zur Strobila entwickelt. Die dritte Periode in der Meta- genesis der Discomedusen wird durch die Bildung der Strobila oder des Kettenkeims gekennzeichnet (Fig. 4, 7,8). Das 16armige Scyphostoma (Fig. 4, 6) wächst beträchtlich in die Länge und gestaltet sich zu einer lang ausgedehn- ten Walze oder einem schlanken Kegel. An dessen Aussenfläche bilden sich meh- rere (bisweilen 10—20 und mehr) ring- förmige Einschnürungen; und indem diese tiefer und tiefer werden, zerfällt der cylindrische Körper in eine Anzahl hinter einander gelegener Scheiben, gleich einer Geldrolle (Fig. 4, 7, 8). Genauer ge- sagt, entspricht die Form dieses »Ketten- keims« mehr einem Satze von Tellern oder Untertassen; denn die einzelnen Scheiben, welche durch jene ringförmigen Einschnürungen getrennt werden, sind nicht flache Scheiben, gleich Münzen, sondern gewölbt, gleich einem tiefen Teller oder einer Untertasse; ihre eine Fläche (und zwar die der freien Mund- öffnung zugekehrte) ist ausgehöhlt, con- cav; die entgegengesetzte (der angehef- teten Basis zugekehrte) ist schwach gewölbt, convex (Fig. 4, 9). In der Mitte sind alle über einander liegenden Scheiben durchbohrt und hängen hier durch ein gemeinschaftliches centrales Magenrohr zusammen; auch die 4 Ma- genleisten oder Taeniolen setzen sich an dessen Innenfläche ununterbrochen durch die ganze lange Kette fort, von der ursprünglichen Basis des Scypho- polypen bis zu der Mundöffnung am Ende der letzten, grössten und ältesten Scheibe. Die vierte Periode im Genera- tionswechsel der Scheibenquallen wird durch die Ablösung und Ausbildung der Jungen Ephyra-Larven(Ephyrula) aus- gefüllt. Mit diesem Namen bezeichnet man die einzelnen Scheiben oder Teller der Strobilakette, von denen eine nach der anderen frei wird und sich zu einer jungen Discomeduse entwickelt (Fig. 4, 9, 10). Die Ablösung der einzelnen Ephyrascheiben von der Kette geschieht in der Weise, dass an der convexen (dem Basalpol der gemeinsamen Längs- axe zugewendeten) Fläche einer jeden Scheibe das gemeinschaftliche, die Axe durchziehende Magenrohr abreisst. Da- durch bildet sich in der Mitte der con- vexen Rückenfläche ein Loch, welches sich später bald schliesst. Das abge- rissene Stück des Magenrohrs aber wird zu dem Mundrohr der vorhergehenden, nächst jüngeren Meduse. Die abgetrenn- ten Stücke der 4 Magenleisten oder Taeniolen bleiben als 4 Magenfäden oder »Gastralfilamente« im Innern der Magenhöhle, an deren gewölbter Bauch- wand sitzen. Die Oeffnung am anderen Ende des abgerissenen Rohrstückes (— da wo die Trennung der beiden über einander sitzenden Scheiben erfolgt ist —) bleibt als Mundöffnung bestehen. Aber schon ehe diese Trennung erfolgt, treten an dem freien Rande einer jeden Scheibe (— oder am Tellerrande —) S Einschnitte auf, zwischen denen in gleichen Abständen 8 eiförmige Lappen vorspringen. Jeder dieser 8 eiförmigen »Hauptlappen« spaltet sich wieder gabel- förmig durch einen weniger tiefen Ein- schnitt in 2 kleinere Läppchen, die »Augenlappen oder Ocularlappen«, und in der Mitte zwischen den letzteren (im Grunde des Gabelspaltes) entsteht ein Auge — oder genauer gesagt, ein Sinneskolben, welcher aus einem Auge, einem Ohr und einer Nase besteht, und mithin die drei höheren Sinnesthätig- keiten des Sehens, Hörens und Riechens gleichzeitig vertritt. So ist denn die junge Ephyralarve der Scheibenquallen schon vor ihrer Ablösung von der Stro- bilakette mit 16 tentakelartigen Rand- lappen und mit 8 Sinneskolben ausge- Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. stattet, welche am Schirmrande regel- mässig vertheilt zwischen je 2 Augen- lappen sitzen, und den regulär-strah- ligen Bau der Meduse auf den ersten Blick erkennen lassen (Fig. 4, 9, 10, 11). Es ist ‚eine Thatsache von grosser phylogenetischer Bedeutung, dass bei allen Scheibenquallen, deren Keimes- geschichte man bis jetzt kennt, die jugendliche Ephyralarve völlig dieselbe Bildung besitzt. Trotzdem diese Disco- medusen den verschiedensten Familien der Ordnung angehören, und später sehr verschiedene Formen im Laufe mannigfacher Verwandlungen annehmen, “ zeigt dennoch ihre ZEphyrula oder Ephyra-Larve beständig denselben Bau, und insbesondere stets denselben charakteristischen Schirmrand, mit 8 Sinneskolben und 16 Randlappen (Fig. 4, 10, 11). Da nun diese typische Larven- form ausschliesslich für diese eine von den acht Medusenordnungen charakte- ristisch ist und bei den sieben anderen Ordnungen der Schirmquallen niemals vorkömmt (— auch ihrer ganzen Orga- nisation nach nicht vorkommen kann), so schliessen wir daraus nach dem bio- genetischen Grundgesetze, dass sämmt- liche Scheibenquallen ursprünglich von einer einzigen gemeinsamen Stammform abstammen, welche der Ephyrula im wesentlichen gleich gebildet war und welche wir Ephyraea nennen wollen. Die hypothetische Annahme einer solchen Ephyraea erscheint aber um so mehr gerechtfertigt, als auch gegenwärtig noch einzelne uralte, wenig veränderte Nach- kommen derselben leben: Zphyra, Pale- phyra, Nausithoe, Nauphanta ete. Diese einfachsten und ältesten unter allen Discomedusen bilden die besondere Fa- milie der Ephyriden, welche ich kürz- lich in meinem »System der Medusen« eingehend beschrieben habe (p. 451, 476, Taf. 27, 28). at IM. Die directe Keimung von Aurelia und Pelagia. (Abgekürzte Entwickelung, ohne Generations- wechsel.) Der gewöhnliche Generationswechsel der Scheibenquallen, dessen vier Haupt- perioden vorstehend kurz geschildert sind, unterliegt zahlreichen, mehr oder weniger bedeutenden individuellen Ab- änderungen. Alle Zoologen, welche bis- her die Keimung von Aurelia, Chrysa- ora, Cotylorhiza u. s. w. eingehend unter- suchten, und welche eine grössere Zahl . von Individuen sich entwickeln sahen, geben übereinstimmend an, (dass bei einzelnen Individuen mancherlei Varia- tionen und Modificationen jenes ur- sprünglichen Generationswechsels zur Beobachtung kommen. Auch hat bereits Louis Agassiz 1862 eine ziemliche Anzahl solcher individuellen Abweichun- gen beschrieben und abgebildet (Con- tributions to the Natural History. of the Un#Stat. Vol; EV I PaRER N Kae AT, XIa ete.). Bald betreffen diese Ab- weichungen die Bildung der Gastrula und des Scyphostoma, bald diejenige der Strobila und Ephyrula. Eine viel grössere Zahl solcher Abänderungen beobachtete ich selbst gelegentlich meiner onto- genetischen Untersuchungen über Me- dusen in den letzten Jahren, und ganz besonders im Laufe des letzten Winters. Die Aurelien-Brut, welche mir Herr Dr. Haacke aus Kiel geschickt hatte, entwickelte sich in meinem hiesigen Aquarium zu Tausenden, und produzirte zugleich unter den abweichenden Exi- stenzbedingungen, unter welchen die Keimung im Aquarium stattfand, eine Fülle von Spielarten und Monstrositäten, welche zum Theil höchst lehrreich und interessant waren. Ich habe dieselben kürzlich ausführlich beschrieben und durch 40 Figuren erläutert in einer be- ' sonderen Schrift: >Metagenesis und Hypogenesis von Aurelia auritas. (Mit | 2 Tafeln, Jena 1881, Verlag von G. Fi- 38 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. scher.) Den Leser, welcher sich näher für diese Keimungsvariationen interessirt, verweise ich auf diese Schrift, und be- gnüge mich hier damit, nur die wich- tigsten derselben kurz zu schildern. Die angezogenen Figurennummern (mit dem Citat: »Aur.«) beziehen sich auf jene Schrift. Unter der mannigfaltigen Variatio- nen der Gastrulabildung sind fol- gende von besonderem Interesse. Bis- weilen wird die oben beschriebene >Ein- stülpung der kugeligen Keimhautblase« nicht vollständig zu Ende geführt, so dass die beiden Keimblätter der dadurch entstehenden Gastrula sich nicht an- einander legen, sondern zwischen beiden ein Hohlraum bestehen bleibt, der mit einer hellen klaren Gallerte gefüllt ist. Dieser Hohlraum(— derRestderBlastula- Höhle — Fig. 3, H) kann sich unmittel- bar zum Gallertschirm einer jungen Meduse entwickeln (siehe weiter unten Fig. 8). Sowohl bei solchen unvoll- ständig eingestülpten Blastulakeimen, als auch bei manchen gewöhnlichen, frei schwimmenden Gastrulakeimen wach- sen bisweilen, noch ehe sie sich fest- setzen, am Mundrand 4 konische Zäpf- chen hervor, welche sich zu Tentakeln entwickeln. Einigemale entstehen sogar an den schwimmenden Flimmerlarven noch 4 weitere (interradiale) zwischen jenen 4 ursprünglichen (perradialen) Ten- takeln, und somit verwandelt sich die Gastrula, statt sich festzusetzen, direct in einen freischwimmenden vierarmigen oder achtarmigen Polypen, welcher erst später zur Anheftung gelangt. Unter den Variationen der Scy- phostomabildung sind ebenfalls zwei von besonderem Interesse. Erstens nämlich bildet diese festsitzende Polypen- form statt des gewöhnlichen einfachen Tentakelkranzes bisweilen einen doppel- ten, seltener sogar einen dreifachen. 2 oder 5 vollständige Reihen von Ten- takeln sitzen dann in grösseren oder geringeren Abständen über einander. Das Scyphostoma bildet sich so ge- wissermassen zu einer unvollkommenen Strobila um, aber zu einer Strobila- kette, welche nicht aus mehreren jungen Medusen-Scheiben, sondern vielmehr aus mehreren Polypen-Köpfchen zu- sammengesetzt ist; denn jeder Tentakel- kranz entspricht eigentlich einem solchen Polypen (Aur. p. 21, B2, Fig. 17). Nicht minder wichtig erscheint eine andere Spielform des Scyphostoma, welche sich durch Verästelung oder mehrfache Spaltung der Tentakeln auszeichnet. Die Tentakeln erscheinen dann alle oder zum Theil in 2—3 Aeste gespalten. Besonders merkwürdig aber sind jene Fälle, in welchen von den 16 Tentakeln des vollständig entwickel- ten Becherpolypen ganz regelmässig die 8 principalen (— die 4 primären und die 4 secundären —) in je 3 Fäden gespalten sind, während die 8 adradia- len (oder tertiären) einfach und unge- spalten sind. Daraus ergibt sich, dass jeder der 8 Gabellappen der Ephyrula- Meduse aus einem dreispaltigen Ten- takel des Scyphostoma-Polypen ent- standen ist; die beiden seitlichen Fä- den des letzteren werden zu den Augen- lappen der Meduse, während der mitt- lere Faden sich in einen Sinneskolben (mit Auge) verwandelt (Aur. p. 21, B3, Fig. 16). Die Variationen der Strobila- bildung sind noch weit mannigfaltiger als diejenigen der Gastrulabildung und der Scyphostomabildung. Während ge- wöhnlich zahlreiche Ephyrulascheiben aus einem Scyphostoma-Polypen hervor- gehen und so eine vielgliedrige Kette (oft von 10—20 oder mehr Scheiben) bilden, so beschränkt sich nicht selten die Production jedes Scyphopolypen auf eine einzige Medusenscheibe, und somit bleibt die Kette nur zweigliedrig. Von den Strobilaketten, welche ich im Laufe dieses Winters hier züchtete, blieb so die grosse Mehrzahl zweigliedrig und der Polyp bildete an seiner Mundfläche Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 39 nur eine einzige Meduse. Demnach trug das aborale (angeheftete) Glied der Kette einen Tentakelkranz, das orale (freie, mit Mund versehene) Glied einen Lappen- kranz mit 8 Sinneskolben. Ebenso sah Schneider, welcher im Aquarium in Giessen Aurelienbrut aus Kiel züchtete, sämmtliche Scyphostomen nur solche zweigliedrige Ketten bilden (Aur. p. 25, 67, Fig. 20). Bisweilen erschien bei meinen zweigliedrigen Ketten das fest- sitzende, polypenförmige Grundglied mit Tentakelkranz dergestalt verkümmert und rückgebildet, dass es nur einen unbedeutenden Stiel des sechzehnlap- pigen medusenförmigen Endgliedes mit Lappenkranz darstellte. Fällt endlich auch noch dieses kleine Stielchen weg, so erscheint die festsitzende Ephyrula- Meduse unmittelbar als ein umgebildeter Scyphostomapolyp, dessen Tentakel- kranz sich in einen Lappenkranz ver- -wandelt hat (Aur. p. 25, C8). Auch diejenigen vielgliedrigen Variationen der Strobila sind sehr merkwürdig, bei denen mehrere Tentakelkränze mit mehreren Lappenkränzen abwechseln, sowie die- jenigen, bei denen einzelne Scheiben theilweise Polypententakeln, theilweise Medusenlappen tragen (Strobilaketten mit gemischten Kränzen, Aur., p. 24, Coykie, 19): Die Variationen der Ephyrula endlich vervollständigen die Reihe von vermittelnden Zwischenstufen, welche die festsitzende, niedere Polypenform unmittelbar mit der freischwimmenden höheren Medusenform verbinden. Unter ihnen sind ganz besonders wichtig fol- gende Spielformen: I. Ephyrula connectens. Nur die 4 Hauptlappen erster Ordnung (die perradialen) sind in Gabellappen mit Sinneskolben umgebildet, während die 4 Hauptlappen zweiter Ordnung (die interradialen) statt deren dreispal- tige Tentakeln tragen; diese Form be- weist aufs Neue, dass jeder der 8 Haupt- lappen der Meduse (mit einem Sinnes- kolben zwischen 2 Augenlappen) aus einem dreispaltigen Polypententakel ent- standen ist (vergl. umstehend Fig. 5). II. Ephyrula sphinx. Während die vor- dere (mundtragende) Hälfte des Ephy- rulakörpers den gewöhnlichen normalen Lappenkranz (mit 8 Sinneskolben und 16 Augenlappen) trägt, bildet die hin- tere Hälfte einen polypenförmigen Becher mit 4 Magenleisten oder Taeniolen. Diese wahre »Sphinx«, — vorn Meduse, hinten Polyp — kann als ein Scypho- stoma angesehen werden, welches, statt eine Strobila zu bilden, unmittelbar in eine Ephyrula sich verwandelt (vergl. umstehend Fig. 6). Noch vollständi- ger ist diese Verwandlung bei der Ephy- rula pedunculata, einer festsitzenden ge- stielten Medusenscheibe, bei welcher statt der 4 basalen Taeniolen in der Rückenwand (wie sie der Polyp trägt), 4 den Mund umgebende »Gastralfila- mente« erscheinen, wie sie die Meduse in der Bauchwand trägt (Aur. p. 27, D4, Fig. 27, 28). An diese Spielform schliesst sich endlich unmittelbar die Ephyrula tesseroides an, im Wesentlichen eine echte Ephyrameduse, deren Schirm aber nicht, wie gewöhnlich, flach schei- benförmig ist, sondern hochgewölbt becherförmig, wie ein Polypenleib (vergl. Bie: 7). Schon diese wenigen, hier kurz an- geführten, cenogenetischenAbweichungen von der normalen, palingenetischen Kei- mungsform der Scheibenquallen zeigen zur Genüge, wie wesentlichen Schwan- kungen dieser wichtige Process unter- worfen ist. Ich habe denselben in der oben angeführten Schrift noch eine grosse Anzahl anderer angeschlossen und durch Abbildungen erläutert. Es geht daraus hervor, dass unter gewissen Bedingungen eine zunehmende Ab- kürzung oder Vereinfachung jenes palingenetischen Generations- wechsels stattfindet, und diese erreicht ihren Höhepunkt in der völlig direeten Entwickelung, welche nach meinen, im Laufe dieses Winters ange- 40 stellten Beobachtungen bisweilen bei Aurelia an dessen Stelle tritt. Diese Hypogenesis von Aurelia — oder die directe Entwickelung ohne Generationswechsel — verläuft ganz in derselben Form, welche bisher unter allen Scheibenquallen nur von der ein- zigen Gattung Pelagia (— der Feuer- Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. qualle —) bekannt war. Sie wurde zu- erst bei der gewöhnlichen Pelagia noctiluca des Mittelmeeres 1855 von August Krohn entdeckt und später von meh- reren anderen Beobachtern bei anderen Arten dieser Gattung bestätigt. Im Beginne dieser Hypogenesis bleibt die Einstülpung der Blastula unvollständig, Fig. 5. Ephyrula connectens, mit 4 perradialen Gabellappen mit Sinneskolben und 4 interradialen dreispaltigen Tentakeln. Das centrale Mundkreuz ist von 4 Filamenten umgeben. so dass die beiden Keimblätter der Gast- rula durch einen weiten, mit klarer Gallerte gefüllten Zwischenraum getrennt bleiben (vergl. umstehend Fig. 8). So- dann nimmt der eiförmige Körper der Gastrula eine kegelförmige Gestalt an, indem die vordere, breitere Mundfläche sich stärker abflacht, die entgegen- gesetzte hintere Rückenfläche sich kup- pelförmig wölbt. Hierauf entsteht rings um den centralen Mund in der Mund- fläche eine ringförmige Vertiefung, und diese wird zur Schirmhöhle; indem sie immer tiefer sich einsenkt, tritt aussen der Rand der ursprünglichen Mund- scheibe immer stärker hervor, verdickt sich wulstförmig und wird zum Schirm- rande. An diesem letzteren sprossen Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 41 Fig. 6. Fig. 6. Ephyrula sphinz; die aborale Hälfte mit dem Lappenkranz mit acht Sinneskolben und sechszehn Randlappen. Fig. 7. Stiel (p) ein festsitzender Scypho- polyp, mit 4 Taeniolen oder gastralen Längsleisten (v); die orale Hälfte ein medusoider “Das kurze Mundrohr ragt in der Mitte frei hervor. Fig. 7. Ephyrula tesseroides, mit konischem Schirm, wahrscheinlich direct aus der Gastrula entstanden, mit 8 Gastralfilamenten. s Stiel oder Scheitelkanal. 2 Gastralfilamente. o Sinneskolben (Rhopalien). c Centrale Magenhöhle. öffnung (Urmund, Archistoma). sodann in gleichen Abständen 8 Wärz- chen hervor, welche sich zu flachen Läppchen entwickeln; indem sie sich am Aussenrande gabelig spalten, bilden sie die 16 Augenlappen, und im Grunde zwischen den beiden Augenlappen eines jeden Gabellappens entsteht ein Sinnes- kolben. Während sodann in der Mitte der concaven Bauchfläche das Mundrohr weiter aus der centralen Mundöffnung hervorwächst, flacht sich gleichzeitig die convexe Rückenfläche bedeutend ab, und indem der Schirmrand mehr und mehr in die Breite sich ausdehnt, geht die kegelförmige Larve in die gewöhn- liche flache Scheibenform der Ephyrula über. Bezüglich der Einzelheiten dieses r Radialtaschen der Magenhöhle. ü Umbrella, Gallertschirm. a Mund- I Lappen des Sehnde Keimungsprocesses ist die ausführliche Darstellung zu vergleichen, welche ich in der angeführten Schrift über »Meta- genesis und Hypogenesis von Aurelia aurita« kürzlich gegeben habe (p. 23—32 ‚ Fig. 21—26 u. Fig. 8, 9 dies. Aufsatzes). So entwickelt sich also bisweilen die Ephyrula — die bedeutungsvolle Jugendform der Aurelia, wie aller übri- gen Scheibenquallen — unmittelbar aus der Gastrula. Weder entsteht aus der letzteren ein festsitzendes Scey- phostoma, noch aus diesem eine geglie- derte Strobila. Diese beiden wichtigen Hauptstufen der normalen Entwickelung fallen vollständig aus, und die vierte Stufe entsteht direct aus der ersten 42 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. Stufe. Damit fällt aber zugleich der charakteristische Generations-Wechsel, die Metagenesis vollständig fort, und an die Stelle dieser indirecten Kei- mungsform tritt die »directe« Entwicke- lung ohne Generationswechsel, die Hy- pogenesis. Freischwimmende Zwischenstufe zwischen der Gastrula und der Ephyrula; am Schirm- rande beginnt die Bildung der 8 Lappen. e Exoblast (Hautblatt, äusseres Keimblatt). h Furchungshöhle (Blastocoeloma). © Endo- blast (Darmblatt, inneres Kejmblatt). ce Cen- trale Magenhöhle. « Mundöffnung (Urmund). Direct aus der Gastrula entwickelte Ephy- rula. In Ausrandungen der 8 Lappen sind die 8 Sinneskolben angelegt, das Mundrohr ragt weit aus der Schirmhöhle vor. Bedeu- tung der Buchstaben wie in Fig. 7 und 8. IV. Das Verhältnis der diresten zur in- direeten Keimungsform der Scheibenquallen. So überraschend die angeführten Ab- weichungen von dem normalen Ent- wickelungsgange der Aurelia und ganz besonders die zuletztbeschriebene directe Entwickelung derselben zunächst er- scheint, so kennen wir doch zahlreiche Thatsachen aus der Entwickelungsge- schichte der Thiere, welche mit Hülfe der Abstammungslehre uns zu einem Verständnisse derselben hinführen. Zu- nächst ist daran zu erinnern, dass beide bei Aurelia beobachtete Kei- mungsformen auch bei anderen Disco- medusen vorkommen. Die Cyaneide Oyanea, die Versuride Ootylorhiza, die Pelagide Ohrysaora und Andere besitzen ganz denselben Generationswechsel, wel- cher bei der Ulmaride Awrelia die nor- male Regel ist. Hingegen entwickelt sich die Pelagidengattung Pelagia be- ständig in derselben »directen Form«, ohne Generationswechsel, welche bei Aurelia nur unter gewissen Umständen, als seltene Ausnahme, auftritt. Nun gehören aber Pelagia (mit Hypogenesis) und Chrysaora (mit Metagenesis) der- selben Familie an, und sind so nahe blutsverwandt, dass die Abstammung der letzteren von der ersteren keinem Zweifel unterliegt. Die junge Goldqualle (Ohry- saora) ist von der ausgebildeten Feuer- qualle (Pelagia) überhaupt kaum zu unterscheiden; erst im Laufe ihrer Ver- wandlung bildet die Goldqualle die grössere Zahl von Tentakeln und von Randlappen, durch welche allein sie sich von der Feuerqualle generisch unterscheidet. Mithin dürfen wir mit voller Bestimmtheit annehmen, dass Chrysaoraihren Generationswech- sel ursprünglich von ihrer Stamm- form Pelagia geerbt hat, und dass diese letztere erst später (— nach Ab- zweigung der Ohrysaora von der Stamm- form —) den Generationswechsel in derselben Weise verloren hat, wie noch Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. 43 gegenwärtig einzelne Individuen von Aurelia denselben verlieren. Die Hypo- genesis also, die bei Aurelia jetzt noch als seltene Ausnahme er- scheint, ist bei Pelagia schon längst zur festen Regel geworden. Dass der Generationswechsel der Scheibenquallen- die ursprüngliche Form ihrer Keimang darstellt und wirk- lich palingenetisch zu deuten ist, unterliegt keinem Zweifel. Denn die festsitzenden, einfach organisirten Po- Iypen bilden die älteste Form der Nessel- thiere, aus welchen sich alle übrigen Formen dieses Stammes erst viel später. entwickelt haben. Insbesondere die Medusen sind erst durch Anpas- sung an freischwimmende Lebens- weise aus den festsitzenden Poly- pen entstanden; sie haben dadurch den charakteristischen Schirm mit Lap- penkranz und höheren Sinnesorganen erworben, welche an die Stelle des ein- fachen Tentakelkranzes der Polypen ge- treten sind. Polypen, welche zufällig von ihrer Anheftungsstelle durch die Meereswellen abgerissen worden sind, machen mit ausgebreitetem Tentakel- kranze Schwimmversuche, und lediglich solchen fortgesetzten Schwimmübungen und der damit verbundenen höheren Ausbildung des Schirmrandes und Ten- takelkranzes ist die Entstehung der Medusenform zu verdanken. Wenn sich nun aus den Eiern der so entstandenen Meduse zunächst wieder ein festsitzender Polyp entwickelt, so ist dieser Gene- rationswechsel (— der sich dann be- | ständig wiederholt —) zunächst einfach als Rückschlag in die ursprüng- liche Stammform aufzufassen, oder als »Atavismus«, nach dem »Gesetze der unterbrochenen oder latenten Vererbung (Natürliche Schöpfungsgeschichte, VII. Aufl. 1879, p. 184—186). Bei denjenigen Medusen, welche sich direct aus ihren Eiern entwickeln (— wie Pelagia beständig, und Aurelia in ein- zelnen Fällen —) ist somit der ursprüng- lich vorhandene Generationswechsel ver- loren gegangen, und die scheinbar »einfache, directe Entwickelung« (Hypo- genesis) beruht somit nur auf einer cenogenetischen Abkürzung jener ursprünglich vorhandenen Metagenesis (in Folge von Anpassung an beson- dere Keimungsbedingungen). Jene Meta- genesis bleibt aber desshalb palin- genetisch, weil sie uns die ursprüng- liche historische Entstehung der frei schwimmenden Meduse aus dem fest- sitzenden Polypen in Folge steter Ver- erbung naturgetreu erzählt. Würden alle Scheibenquallen, gleich der Pelagia, sich direct entwickeln, durch Hypoge- nesis, so würden wir keine unmittel- baren Beweise für die ursprüngliche Abstammung derselben von Scypho- polypen mehr in Händen haben. Ein ähnliches Verhältniss der direc- ten zur indirecten Entwickelung, wie hier die Scheibenquallen, zeigen uns auch die Seesterne. Während die meisten Seesterne sich durch Genera- tionswechsel (oder irrthümlich soge- nannte Metamorphose) entwickeln, haben einige Seesterne Bruthöhlen gebildet, unter deren Schutze die junge Brut unmittelbar (— ohne Metagenesis oder nur ‚mit Spuren derselben —) zu See- sternen sich entwickelt. Die meisten marinen Krebse entwickeln sich indirect, durch eine verwickelte Metamorphose, während unser Flusskrebs dieselbe ver- loren hat und sich direct entwickelt. Fast alle Amphibien durchlaufen in ihrer Jugend die fischähnliche Larvenform der Kaulquappen, mit Kiemen und Kiemen- spalten; nur einige, neuerdings entdeckte Frösche, insbesondere der westindische Laubfrosch (Hylodes martinicensis) haben dieselbe verloren und entwickeln sich »direct< aus dem Ei, gleich den Rep- tilien, Vögeln und Säugethieren (»Kos- mos«, Band II, p. 161). In allen diesen Fällen handelt es sich um eine ceno- genetische Abkürzung des ur- sprünglichen, palingenetischen 44 Ernst Haeckel, Ein neuer Fall von abgekürzter Entwickelung. Entwickelungsganges. Durch An- passung an besondere Bedingungen der Entwickelung ist die ursprünglich durch Vererbung übertragene Keimungs- form zusammengezogen und vereinfacht worden, nach den »Gesetzen der ab- gekürzten oder vereinfachten Vererbung « (Natürl. Schöpfungsgeschichte. VI. Aufl. 1879, p.- 190). Die Erforschung der besonderen Kei- mungsbedingungen, welche derge- stalt im Stande sind, die ursprüngliche, palingenetische Form der Keimung in eine abgekürzte, cenögenetische Form überzuführen, bildet das interessante und lehrreiche Object einer besonderen Wissenschaft, der Experimental- Öntogenie. Aber dieser wichtige, experimentirende Zweig der Keimungs- geschichte existirte bisher kaum dem Namen nach. Zwar wissen wir schon längst, dass die normale Entwickelung des Hühnchens im bebrüteten Ei unter gewissen Bedingungen bestimmte Stö- rungen erleidet, und durch die Experi- mente von Dareste und Anderen wissen wir sogar, dass wir durch be- stimmte Veränderungen mechanischer und thermischer Natur, durch veränderte Stellung, Umgebung und Temperatur des bebrüteten Hühnereies im Stande sind, bestimmte Missbildungen des Hühn- chens zu erzeugen. Aber im Ganzen ist doch bis jetzt noch sehr wenig ge- schehen, um dieses dankbare Gebiet der experimentellen Keimesge- schiehte weiter zu bebauen und aus- zudehnen. Und wie zahllos und gross- artig sind die mannigfaltigen Aufgaben, welche hier des experimentirenden Phy- siologen harren! Im vorliegenden Falle liegt es auf der Hand, dass die Aure- lienbrut im stillen, engen Aquarium des Binnenlandes, unter künstlicher Luftzufuhr, im geheizten Zimmer, - ganz anderen Keimungsbedingungen ausge- setzt ist, als draussen im freien Meere, unter der eisigen Winterkälte des Nor- dens und unter dem Einflusse der ewi- gen Bewegung des weiten Meeres! Es wäre wunderbar, wenn diese höchst be- deutende Veränderung der Keimungs- bedingungen nicht einen entsprechenden Einfluss auf die Ausbildung der Medusen- brut ausübte! Sache der Experimen- tal-Ontogenie wird es nun sein, diese Einflüsse nach Qualität und Quantität genau zu untersuchen. Bestimmte Ver- änderungen der Temperatur, des Lichtes, der Luftzufuhr, der Wasserbewegung werden sicher von mehr oder weniger bestimmendem Einflusse auf die Ent- wickelung solcher zarten und bildsamen Organismen sein. Die zahlreichen, vorher erwähnten, und anderen, neuerdings beobachtete Fälle von verschiedenartiger Entwicke- lung nächst verwandter Thiere haben mit Recht das ganz besondere Interesse der Zoologen erweckt; denn sie sind nur mit Hülfe der Abstammungs- lehre erklärbar, mit Hülfe der Lehre von der Vererbung und-Anpas- sung; ohne diese bleiben sie unver- ständlich. Sie liefern daher zugleich ebenso viele Beweise für die Wahrheit dieser fundamentalen Lehren. Aber in allen jenen Fällen handelte es sich um verschiedene Gattungen einer und der- selben Familie oder Classe. Hier da- gegen, bei der Aurelia, liegt der erste Fall vor, dass bei verschiedenen Individuen einer und derselben Art die grössten Unterschiede in derKeimungsform beobachtet wur- den; und darum glauben wir ihm eine allgemeine Bedeutung zuschreiben zu dürfen; er liefert in der That eine neue und wichtige Stütze für den Trans- formismus! Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. WIE Herrscher im Staate — Häuptlinge, Könige u. s. w. Von den drei Bestandtheilen des dreieinigen Staatsgebildes, wie sie im ersten Anfange nachgewiesen sind, haben wir jetzt zunächst die Entwickelung des ersten derselben zu verfolgen. Schon in den letzten beiden Capiteln habe ich mehrfach von jener höchst wichtigen Differenzirung gesprochen und noch öfter dieselbe angedeutet, welche zur Ein- setzung eines bestimmten Oberhauptes führt. Was dort in allgemeinsten Zügen erwähnt wurde, ist nun hier in den Ein- zelheiten näher auszuführen. »Als Rink die Nikobaren-Insulaner frug, wer von ihnen der Häuptling sei, antworteten sie ihm lachend, wie er denn glauben könnte, dass Einer über so Viele Gewalt haben sollte?« Ich führe dies an, um darauf aufmerksam zu machen, dass anfänglich ein lebhafter Widerstand gegen die Anerkennung der Öbergewalt eines Mitgliedes der Gruppe über die Anderen vorhanden ist — ein Widerstand, der bei manchen Men- schengruppen nur klein, bei den meisten bedeutend, bei einigen wenigen sogar sehr gross ist. Den schon erwähnten Beispielen von in Wirklichkeit eines Häuptlings entbehrenden Stämmen seien noch aus Amerika die Haidahs beige- fügt, bei welchen »die Leute sämmtlich einander gleich zu sein scheinen«; dann die californischen Stämme, wo. »jeder Einzelne so thut, wie es ihm beliebt«, und die Navajos, bei welchen »jeder nach eigenem Rechte als Krieger sein eigener Herr ist«, endlich aus Asien die Angamies, welche »kein anerkanntes Oberhaupt oder Häuptling haben, ob- gleich sie einen Sprecher auswählen, der aber in jeder Hinsicht und bei jeder Gelegenheit machtlos ist und keine Verantwortung trägt«. Die geringen Anfänge von Unter- ordnung, wie sie manche rohe Menschen- gruppen zeigen, kommen blos da vor, wo die Nothwendigkeit gebieterisch ein gemeinschaftliches Handeln fordert und es eines äusseren Zwanges bedarf, um dasselbe wirksam zu machen. Ohne die schon früher erwähnten Beispiele zeitweiliger Häuptlingschaft wieder auf- zuzählen, will ich hier nur einige andere hinzufügen. Von den Unter-Californiern lesen wir: »Auf der Jagd und im Kriege haben sie einen oder mehrere Häupt- linge, um sie anzuführen, die jedoch nur für die betreffende Gelegenheit erwählt worden sind.< Von den Häupt- lingen der Flachkopfindianer wird er- zählt, »dass ihre Macht mit dem Kriege aufhört«. Bei den Soundindianern »hat 46 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. der Häuptling keinerlei Autorität und lenkt die Bewegungen seiner Bande blos bei kriegerischen Ueberfällen«. Wie schon bei einer anderen Gele- genheit bemerkt wurde, behält diese ursprüngliche Insubordination grösseren oder geringeren Spielraum, je nachdem die Verhältnisse der Aussenwelt und die Lebensgewohnheiten den Zwang hindern oder begünstigen. Die Unter-Californier, deren Mangel an Häuptlingen ich schon erwähnt habe, gleichen, wie Baegert sagt, »Heerden von wilden Schweinen, die nach ihrem eigenen Belieben herum- laufen, heute beisammen sind und sich morgen wieder zerstreuen, bis sie zu- fällig in einer späteren Zeit sich wieder zusammenfinden«. »Die Häuptlinge der Chippewähs haben gegenwärtig absolut keine Macht«, sagt Franklin, und dieses Volk besteht aus lauter kleinen wandernden Horden. Von den Abiponen, welche »zu ungeduldig sind für den Ackerbau und eine feste Heimstätte und die sich fortwährend von einer Stelle zur andern fortbewegen«, schreibt Dobrizhoffer: »sie verehren weder ihren Caziken als Herrn, noch geben sie ihm Abgaben, noch leisten sie ihm Dienste, wie dies bei anderen Nationen gebräuchlich ist«e. Das Gleiche gilt unter ähnlichen Bedingungen für andere Völker von ganz abweichendem Typus. So bemerkt Burckhardt von den Beduinen: »Ihr Scheikh hat keine fest- stehende Autorität«; und nach einem anderen Schriftsteller wird »ein Häupt- ling, welcher die Schranken der Unter- thanenpflicht zu eng gezogen hat, ein- fach abgesetzt oder verlassen und er wird zu einem blossen Mitgliede eines Stammes oder bleibt ohne einen sol- chen«. Und nun, nachdem wir den ursprüng- lichen Mangel des staatlichen Zwanges, den Widerstand, welchem derselbe be- gegnet, und die Umstände, welche eine Aufhebung desselben begünstigen, dar- gelegt haben, dürfen wir uns die Frage stellen, was für Ursachen seine weitere Entwickelung unterstützen. Es gibt deren mehrere, und die Häuptlingswürde wird um so dauerhafter, je mehr die- selben zusammenwirken. Unter den Gliedern der primitiven Gruppe, die doch immer in verschie- dener Weise und in mannigfaltigem Grade etwas von einander abweichen, wird sich sicherlich Einer finden, der eine anerkannte Ueberlegenheit besitzt. Diese Ueberlegenheit kann von verschie- dener Art sein, was wir kurz in's Auge fassen wollen. Wenn es auch in gewissem Sinne abnorme Fälle sind, so müssen wir doch auch diejenigen berücksichtigen, in denen diese Ueberlegenheit einem frem- den Einwanderer zukommt. Die Häupt- linge der Khonds »sind in der Regel Nachkommen irgend eines kühnen Aben- teurers»Pferde oder Scalps auszeichnet, die Ehren der Häuptlingschaft erstreben darf und ganz allmählich auf Grund der stillschweigenden Zustimmung des Volkes zu derselben gelangt«, so liegt Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 49 die natürliche Entstehungsweise der- selben klar vor uns. Sehr verbreitet jedoch ist die freie Wahl, so bei den Flachkopfindianern, bei welchen »Nie- mand eine wirkliche Autorität ausübt, ausser die Kriegshäuptlinge«. Bei man- chen Dajaks werden sowohl Kraft als Muth auf die Probe gestellt. »Die Geschicklichkeit im Erklettern einer grossen Stange, die gut eingeschmiert worden ist, erscheint als nothwendige Qualification eines streitbaren Häupt- lings für die See-Dajaks«, und St. John sagt, es sei in manchen Fällen »Sitte, wenn man auszumachen hatte, wer zum Häuptling ernannt werden sollte, dass die Rivalen auszogen, einen Kopf zu suchen: wer zuerst einen fand, war Sieger«. Ueberdies strebt nun das Bedürfniss nach einem leistungsfähigen Führer stets die Häuptlingschaft wieder herzustellen, wo sie etwa nur nominell oder schwach sein sollte. Von den Cariben erzählt uns Edwards, dass »die Erfahrungen im Kriege sie gelehrt hatten, dass Unterordnung ebenso nothwendig sei als Muth; daher erwählten sie ihre Hauptleute in ihren allgemeinen Ver- sammlungen mit grosser Feierlichkeit« und »stellten ihre Ansprüche an sie mit ausserordentlich barbarischen Umstän- den auf die Probe«. Ebenso bei den Abiponen: »obgleich sie weder ihren Caziken als ihren Richter fürchten, noch ihn als ihren Herrn ehren, so folgen ihm doch seine kriegerischen Genossen als ihrem Leiter und Herrscher im Kriege, wo immer der Feind ange- eriffen oderzurückgetrieben werdensoll.« Diese und ähnliche Thatsachen, deren leicht eine grosse Menge noch beigebracht werden könnte, ergeben drei verwandte Folgerungen. Die eine besagt, dass Fortdauer des Krieges zu einer Fortdauer der Häuptlingschaft führt. Die zweite lautet, dass der Häuptling mit der Steigerung seines Einflusses als erfolgreiches Kriegsober- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). haupt auch Einfluss als staatliches Oberhaupt gewinnt. Und drittens folgt daraus, dass auf diese Weise zwischen kriegerischer und staatlicher Oberherr- schaft sich eine Verbindung herstellt, welche auch in den späteren Phasen der socialen Entwickelung fortbesteht. Nicht nur bei den uncivilisirten Hot- tentotten, Malagassen und andern Völ- kern ist der König zugleich das Haupt des Heeres — und nicht nur bei jenen halb civilisirten Völkern wie den Peruanern und Mexicanern finden wir, dass Monarch und Oberbefehlshaber eins und dasselbe sind, sondern auch ‘die Geschichte der ausgestorbenen und lebenden Nationen der ganzen Welt dient als Beleg für diesen Zusammen- hang. In Aegypten »waren in den früheren Zeiten die Obliegenheiten des Königs und des Generals von einander untrennbar«. Die assyrischen Urkunden stellen immer das Staatsoberhaupt zu- gleich als erobernden Krieger dar, ebenso auch die der Hebräer. Bürger- liche und kriegerische Oberherrschaft fielen bei den homerischen Griechen gleichfalls zusammen und im alten Rom »war gewöhnlich der König selbst Heerführere.. Dass Gleiches für die ganze europäische Geschichte gilt und theilweise in den mehr kriegerischen Gesellschaften sogar heute noch statt- findet, braucht nicht nachgewiesen zu werden. Inwiefern nun aus der kriegerischen Obergewalt eine Herrschaft von weiterem Umfange sich ableitet, lässt sich bei solchen Gesellschaften, die keine ge- schriebenen Urkunden besitzen, nicht leicht darthun; wir können vielmehr nur schliessen, dass mit der Steigerung der Herrschergewalt, welche der erfolg- reiche Kriegsführer erlangte, naturge- mäss auch die Ausübung einer strengeren Herrschaft in bürgerlichen Angelegen- heiten einherging. Dass dies aber auch bei den Völkern stattfand, welche eine Geschichte haben, dafür gibt es Beweise 4 50 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. genug. Von den alten Germanen be- merkt Sohm, dass die römischen Ueber- fälle wenigstens ein Resultat hatten: „Die Königswürde wurde mit der Führer- schaft des Heeres (welche eine bleibende war) vereinigt und in Folge davon erhob sie sich selbst zu einer Macht (Institution) im Staate. Die kriegerische Unterordnung unter den königlichen Heerführer förderte natürlich auch die staatliche Unterordnung unter den König Jets Nach den römischen Kriegen ist das Königthum bereits mit den höchsten Rechten bekleidet — es ist ein Königthum in unserem Sinne geworden.“ Auf ganz ähnliche Weise bemerkt Ranke, dass während des Krieges mit England im 15. Jahrhundert — „die französische Monarchie, während sie geradezu um ihre Existenz kämpfte, zu glei- cher Zeit und als unmittelbares Ergebniss des Kampfes eine festere Organisation er- langte. Die Vorkehrungen, welche ergriffen wurden, um den Kampf fortzusetzen, gestal- teten sich, wie in so vielen anderen wichti- gen Fällen, zu bleibenden nationalen Ein- richtungen.“ Und Beispiele des Verhältnisses zwischen erfolgreicher Kriegführung und der Kräftigung des staatlichen Zwanges aus der Neuzeit finden wir in der Lauf- bahn Napoleons I. und in der neuesten Geschichte des Deutschen Reiches. Die staatliche Oberherrschaft also, die gewöhnlich in dem von dem kräf- tigsten, muthigsten und schlauesten Krieger erlangten Einfluss wurzelt, kommt da zur dauernden Ausbildung, wo die Thätigkeit im Kriege seiner Ueberlegenheit Anlass gibt, sich zu zei- gen und Unterordnung zu erzwingen, und das weitere Wachsthum der staatlichen Gewalt behält dann auch in der Folge- zeit seine ursprüngliche Beziehung zur Ausübung der kriegerischen Functionen. Die so gewonnene Vorstellung wäre jedoch sehr irrthümlich, wenn keine andere Möglichkeit des Ursprungs der staatlichen Herrschaft angeführt würde. Es gibt eine Art des Einflusses von höchster Bedeutung, welche in manchen Fällen allein und in anderen Fällen .Medicinmann , wieder mit der oben dargelegten zu- sammenwirkt. Ich meine den Einfluss, welchen der Medicinmann ausübt. Dass dieser ebenso früh zur Geltung gelangt wie der andere, lässt sich kaum behaupten, da er überhaupt nicht ent- stehen kann, bevor die Geistertheorie in’s Leben getreten ist. Sobald aber der Glaube an die Geister der Todten allgemein wird, pflegt man auch den der das Vermögen zu besitzen behauptet, dieselben nach sei- nem Belieben zu regieren, und der den Glauben an seine Behauptungen einzuflössen weiss, mit einer Furcht zu betrachten, welche Gehorsam erzwingt. Wenn wir von den Thlinkeets lesen, dass »der bündigste Beweis von der Gewalt eines Beschwörers darin besteht, einen der ihm unterthänigen Geister in den Körper desjenigen fahren zu lassen, der dem Glauben an seine Macht widersteht, infolge dessen dann der Besessene von Ohnmachten und Krampf- anfällen heimgesucht wird«, so können wir uns wohl die Furcht vorstellen, welche er hervorruft, und die Bedeu- tung, die er dadurch zu erlangen ver- mag. Von den niedrigsten bis zu den höchsten Racen finden wir eine Menge Beispiele. Fitzroy berichtet von dem »Doctor-Hexenmeister der Feuerländer«, dass er der schlaueste und verschla- genste Mensch seines Stammes sei und grossen Einfluss über seine Genossen ausübe. »Obgleich die Tasmanier frei von der Despotie von Herrschern waren, so standen sie doch unter den Ein- flüssen der Rathschläge gewisser weiser Männer oder Doctoren, liessen sich durch ihre Künste regieren oder durch ihre Schreckmittel in Furcht setzen. Dieselben vermochten nicht allein die Leiden zu mildern, sondern auch nach Belieben Jemand solche zuzufügen.« Der Häuptling der Haidahs >»scheint auch der oberste Zauberer zu sein und in der That nur geringe Autorität zu besitzen, soweit sie nicht mit seinen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 51 in Zusam- Die Medieinmänner übermenschlichen Kräften menhang steht«. der Dacotahs „sind die grössten Schufte im Stamme und besitzen unglaublichen Einfluss über den Geist der Jüngeren, welche in dem festen Glauben an ihre übernatürlichen Kräfte auf- erzogen werden ..... Der Kriegshäupt- ling, welcher den Stamm in den Kampf führt, ist stets einer dieser Medieinmänner und sie glauben, er habe die Macht, sie zum Siege zu führen oder vor der Niederlage zu retten.“ Bei weiter vorgeschrittenen Völkern in Afrika verleiht der Glaube an die Macht, übernatürliche Wirkungen her- vorzubringen, gleichermaassen grossen | Einfluss, welcher dann die auf andere Weise erlangte Autorität zu unterstützen vermag. So bei den Amazulus: ein Häuptling »übt magische Künste gegen einen andern Häuptling, bevor er mit ihm kämpft«, und sein Gefolge setzt um so mehr Vertrauen auf ihn, je grösser sein Ruf als Zauberer ist. Daraus erklärt sich die Gewalt, welche Langalibalele besass, der, wie Bischof Colenzo sagt, »sehr gut die Zusam- mensetzung jenes intelezi (des Mittels, was zum Wettermachen gebraucht wird) und ebensogut die Kriegsmedicin, d.h. alle ihre Bestandtheile kennt, da er selbst ein Doctor ist«. Noch deutlicher erkennt man den auf solche Weise erlangten herrschenden Einfluss in dem Falle des Königs von Obbo, welcher zu Zeiten der Dürre seine Unterthanen zusammenruft und ihnen erklärt — „wie sehr er bedaure, dass sie ihn durch ihr Betragen genöthigt hätten, sie mit un- günstigem Wetter heimzusuchen, dass dies aber ihr eigener Fehler sei..... Er müsse Ziegen und Korn haben. ‚Keine Ziegen, kein Regen: das ist unser Contract, meine Freunde‘, sagt Katchiba. . Sollte sich sein Volk über zu viel Regen beklagen, so droht er Stürme und Blitze auf immer über sie ausgiessen zu lassen, bis sie ihm so und so viel hundert Körbe voll Kom u. s. w. daherbringen. ... .... Seine Unterthanen setzen das unerschütterlichste Vertrauen in seine Gewalt.“ Und nicht minder fest ist der Glaube an die Gewalt des Königs über das Wetter bei dem Volke von Loango. Ein ähnlicher Zusammenhang lässt sich in den Urkunden der verschieden- sten ausgestorbenen Völker auf beiden Hemisphären nachweisen. Von Huitzilopochtli, dem Begründer der mexicanischen Macht, lesen wir, dass er »ein grosser, Hexenmeister ge- wesen ist und ein Zauberer«, und jeder mexicanische König musste bei der Thronbesteigung das Versprechen be- schwören, »die Sonne in ihrem Laufe gehen, die Wolken ihren Regen ergiessen, die Flüsse fliessen und alle Früchte reifen zu machen«e. Ein Chibeha-Herrscher, welcher seinen Unterthanen wegen man- gelhaften Gehorsams Vorwürfe machte, erzählte ihnen: »sie wüssten wohl, dass es in seiner Macht stände, sie mit Pestilenz, Pocken, Rheumatismus, Fie- ber u. s. w. heimzusuchen oder auch so viel Gras, Kräuter und Pflanzen wachsen zu lassen, als sie nur wünsch- ten«. Die alten ägyptischen Urkunden geben mancherlei Hindeutungen aufeinen ähnlichen alten Glauben. Thutmes III. wurde nach seiner Vergötterung »als der glückbringende Gott des Landes und als sein Beschützer gegen den schlechten Einfluss verfluchter Geister und Zauberer betrachtet«. Und nicht anders stand es bei den Juden: — „Die rabbinischen Schriften werden nie müde, die Zaubergewalt und Kenntnisse von Salomo weitläufig hervorzuheben. Er wurde nicht allein als König der ganzen Erde, son- dern auch als Herrscher über Teufel und böse Geister hingestellt, der die Macht habe, sie aus dem Körper der Menschen und Thiere auszutreiben oder auch das Volk ihnen preis-- zugeben.“ Die Ueberlieferungen der europäi- schen Völker sprechen in gleichem Sinne. Wie schon früher gezeigt wurde, lässt sich aus den Geschichten der Heims- kringlasaga schliessen, dass der scan- dinavische Oberherrscher Odin ein Medi- cinmann war, ebenso auch Niort und Frey, seine Nachfolger. Und wenn wir 52 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. uns der übernatürlichen Waffen und der übermenschlichen Thaten der alten Hel- denkönige erinnern, so ist kaum zu be- zweifeln, dass mit ihnen in manchen Fällen die vermeintlichen zauberhaften Gewalten verbunden waren, von denen sich dann der Glaube an die Macht eines Königs, durch blosse Berührung oder auf andere Weise Krankheiten zu heilen, abgeleitet hat. Wir werden dies um so weniger bezweifeln können, als wir finden, dass auch untergeordneten Herrschern von altem Ursprunge ähn- liche Kräfte zugeschrieben wurden. Es gab gewisse alte britannische Adelige, deren Speichel und Berührung heilende Eigenschaften hatte. Ein sehr wesentlicher Factor also für die Entstehung der staatlichen Ober- herrschaft entspringt aus der Geister- theorie und dem damit zusammenhän- genden Glauben, dass gewisse Menschen, welche über die Geister Macht bekom- men hätten, auch ihre Hilfe sich ver- schaffen könnten. Im allgemeinen zwar sind der Häuptling’ und der Medicin- mann verschiedene Personen und dann gibt es zwischen ihrien manchen Con- fliet; ihre Autoritäten streiten oft gegen einander. Wo aber der Herrscher mit der auf natürlichem Wege erlangten Gewalt diese ihm zugeschriebene über- natürliche Macht vereinigt, da wird natürlich seine Autorität nothwendig bedeutend vergrössert. Widerspenstige Glieder seines Stammes, welche am Ende es wagen würden, sich wider ihn auf- zulehnen, wenn körperliche Tapferkeit allein den Kampf entscheiden könnte, ‚wagen dies doch nicht zu thun, wenn sie glauben, er könne ihnen Einen aus seinem willfährigen Geisterheer auf den Hals schicken, um sie zu quälen. Dass aber die Herrscher in der That diese beiden Gewalten mit einander zu ver- einigen streben, dafür haben wir in einem Falle bestimmte Beweise. Canon Callaway erzählt uns, dass bei den Amazulus die Häuptlinge häufig bestrebt sind, die Geheimnisse eines Medicin- mannes zu entdecken, um ihn nachher zu tödten. Aber wieder erhebt sich die Frage: wie entsteht die dauernde staatliche Herrschaft? Selbst wo sie aus körper- licher Kraft oder Muth und Schlauheit entspringt und sogar wo sie durch ver- meintliche übernatürliche Hilfe unter- stützt wird, endigt sie doch mit dem Leben des Mannes, der sie zu erringen vermochte. Das Princip der physischen oder geistigen Leistungsfähigkeit strebt zwar wohl eine zeitweilige Differenzi- rung in Herrschende und Beherrschte zu erzeugen, genügt aber nicht, um. dieser Differenzirung Dauer zu geben. Es muss also ein anderes Princip mit- wirken, zu dessen Betrachtung wir nun übergehen wollen. Wir haben bereits gesehen, dass selbst in den rohesten Gruppen von Menschen das Alter eine gewisse Ueber- legenheit verleiht. Bei den Feuerlän- dern wie bei den Australiern üben nicht allein die alten Männer, sondern auch die alten Frauen eine gewisse Autorität aus. Und dass diese Achtung vor, dem Alter abgesehen von anderen Auszeich- nungen ein wichtiger Factor in der Be- festigung der staatlichen Unterordnung ist, geht namentlich auch aus der merk- würdigen Thatsache hervor, dass in manchen vorgeschrittenen Gesellschaften, welche sich durch eine aussergewöhn- lich strenge Regierungsform auszeich- nen, der dem Alter schuldige Respect vor allen übrigen Forderungen den Vor- rang hat. So bemerkt Sharpe von dem alten Aegypten, dass >hier sowohl, wie in Persien und Judäa die Mutter des Königs oft höheren Rang besass als sein Weib«. In China findet sich ungeachtet der. niedrigen socialen und häuslichen Stellung der Frauen doch dieselbe Ueberlegenheit der Mutter, welche blos derjenigen des Vaters nach- steht; und dieselbe Erscheinung kehrt Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 53 in Japan wieder. Zur Stütze der An- nahme, dass die Unterordnung unter die Eltern der Unterordnung unter den Herrscher den Weg bereitet, will ich noch eine entgegengesetzte Thatsache anführen. Von den Coroados, deren Gruppen so wenig Zusammenhang be- sitzen, lesen wir Folgendes: — „Der Paje jedoch hat ebensowenig Ein- fluss über den Willen der Menge als irgend ein Anderer, denn sie leben ohne jegliches Band socialer Vereinigung, weder unter einer republikanischen noch unter einer patriarcha- lischen Regierungsform. Selbst die Familien- bande sind bei ihnen sehr lose; ...... es gibt auch keinen geregelten Vorrang zwischen den Alten und Jungen, denn das Alter ‚scheint. keinerlei Achtung bei ihnen zu geniessen.“ Und zur ferneren Bekr äftigung dieser entgegengesetzten Thatsache will ich hinzufügen, dass, wie ich bereits ander- wärts zeigte, die Mantras, die Cariben, die Mapuches, die brasilianischen. In- dianer, die Gallinomeros, die Schoscho- nen, die Navajos, die Californier, die Comanches, welche sich alle nur wenig oder gar nicht der Herrschaft eines Häuptlings unterwerfen, gleichfalls eine kindliche Unterordnung zeigen, die zu- meist nur sehr gering ist und früh auf- hört. Unter welchen Umständen erlangt nun aber die Achtung vor dem Alter jene ausgeprägte Form, die wir in den durch bedeutende staatliche Unterord- nung ausgezeichneten Gesellschaften vorfinden? Es wurde früher darauf hin- gewiesen, dass, wenn die Menschen aus dem Jagdstadium in das Hirtenstadium übergehen und nun zu wandern begin- nen, um Futter für ihre Hausthiere zu suchen, sie dadurch in Verhältnisse ge- riethen, welche die Bildung jener patriar- chalischen Gruppe begünstigen, die zu gleicher Zeit Familie und Gesellschaft im kleinsten Maassstabe ist und die Zu- sammensetzungs-Einheit für alle die Ge- sellschaften bildet, welche die höchste Entwickelungsstufe erreicht haben. Wir sahen, dass in den primitiven Hirten- stämmen der Mann, aller jener früheren Einflüsse des Stammes entledigt, welche die väterliche Gewalt beeinträchtigen und geordnete Beziehungen zwischen den Geschlechtern verhindern, so ge- stellt war, dass er die Führerschaft einer zusammenhängenden Gruppe in die Hand bekam: der Vater wurde »nach dem Rechte des Stärkeren der Führer, Besitzer und Herr seiner Weiber, Kinder und alles dessen, was er mit sich führte«. Es wurden die Einflüsse aufgezählt, welche dahin streben, den ältesten Mann zum Patriarchen zu machen, und es wurde gezeigt, dass nicht allein bei den Se- miten, Ariern und Turaniern diese Be- ziehung zwischen dem Hirtenzustand und der patriarchalischen Civilisation zu er- kennen ist, sondern dass dieselbe auch bei südafrikanischen Völkern wieder- kehrt. Mögen jedoch die Ursachen sein, welche sie wollen, wir finden jedenfalls reichlichen Beweis dafür, dass diese Familienherrschaft des ältesten Mannes, die bei Hirtenvölkern und allen denen, welche durch das Hirtenstadium in das Ackerbaustadium übergegangen sind, allgemein verbreitet ist, sich ganz natur- gemäss zur staatlichen Oberherrschaft entwickelt. Hunter erzählt uns von den Santals:ı — „Die Dorfregierung ist rein patriarcha- lisch. Jeder Weiler hat einen ursprünglichen Begründer (den Manjhi-Hanan), welcher als Vater des Gemeinwesens betrachtet wird. Er empfängt göttliche Ehren in dem heiligen Haine und überträgt seine Autorität auf seine Nachkommen.“ Von der zusammengesetzten Familie der Khonds lesen wir bei Macpher- son: — „dort herrscht sie [die väterliche Auto- rität]| beinahe unumschränkt. Es ist ein Grundsatz der Khonds, dass der Vater eines Menschen sein Gott ist, welchem nicht zu gehorchen das grösste Verbrechen wäre, und alle Mitglieder einer Familie leben vereinigt in strenger Unterordnung unter das Ober- haupt bis zu dessen Tode.“ Wie aber auf solche Weise entstan- dene Gruppen sich zu einfach und mehr- fach zusammengesetzten Gruppen ent- 54 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wickeln, welche stets die Autorität des- jenigen anerkennen, welcher Familien- herrschaft mit staatlicher Herrschaft vereinigt, ist durch Sir Henry Maine und Andere für die alten Griechen, Römer und Germanen und als eine die sociale Organisation immer noch beein- flussende Erscheinung für die Hindus und Slaven nachgewiesen worden. Hier sehen wir denn also einen Factor in Wirksamkeit treten, welcher zur Fortdauer der staatlichen Herrschaft führt. Wie in einem früheren Capitel gezeigt wurde, verleiht Nachfolge auf Grund der Leistungsfähigkeit der socialen Organisation eine gewisse Plasticität, Nachfolge auf Grund der Vererbung aber Stabilität. Es kann in einer primitiven (Gemeinschaft keine feststehende Ordnung sich ausbilden, so lange die Function jedes einzelnen Bestandtheils ausschliess- lich durch seine Befähigung bestimmt wird, da mit seinem Tode die Einrich- tung, soweit er selbst ein Theil der- selben war, von vorn wieder beginnen muss. Erst wenn seine Stelle sofort durch einen Anderen eingenommen wird, dessen Ansprüche darauf anerkannt sind, fängt jene Differenzirung an, welche dann auch in den folgenden Generationen fort- zudauern vermag. Und offenbar erscheint es gerade in den früheren Stadien der socialen Entwickelung, wo der Zusam- menhang noch gering, das Bedürfniss nach einer bestimmten Structur aber gross ist, durchaus erforderlich, dass das Prineip der Vererbung besonders in Hinsicht auf staatliche Führerschaft den Vorrang über das Princip der Leistungs- fähigkeit gewinne. Eine nähere Betrach- tung der Thatsachen wird dies klar- legen. Wir müssen hier zwei primäre For- men der Erbfolge ins Auge fassen. Das System der Verwandtschaftsbestimmung nach der weiblichen Linie, wie es bei den wilden Völkern allgemein verbreitet ist, führt zur Uebertragung von Eigen- thum und Macht auf die Brüder oder auf die Kinder der Schwester, während das System der Verwandtschaftsbestim- mung nach der männlichen Linie, das bei vorgeschrittenen Völkern zu finden ist, die Uebertragung von Eigenthum und Macht auf die eigenen Söhne oder Töchter bedingt. Zunächst haben wir nun zu beachten, dass die Erbfolge in weiblicher Linie eine weniger be- ständige Staatsherrschaft zur Folge hat als die Erbfolge in männlicher Linie. Aus einer bei Besprechung der häus- lichen Verhältnisse erwähnten Thatsache, dass nämlich das weibliche Verwandt- schaftssystem dort auftritt, wo die Ver- einigung der Geschlechter nur erst zeit- weilig oder noch ungeordnet ist, lässt sich schon schliessen, dass dieses System eben solche Gesellschaften charakteri- sirt, die auch in allen übrigen Hin- sichten mit Einschluss der staatlichen Verhältnisse noch nicht weiter vorge- schritten sind. Wir sahen, dass unregel- mässige Verbindungen auch eine geringe Zahl und eine gewisse Schwäche der bekannten Verwandtschaftsgrade und einen Typus der Familie bedingen, in welchem die aufeinanderfolgenden Gene- rationen nicht durch so viele Seiten- zweige unter einander verbunden sind. Eine allgemeine Folgeerscheinung ist die, dass sich mit der Erbfolge in weib- licher Linie entweder keine Häuptling- schaft verbindet oder dass letztere auf dem Verdienste beruht oder, wenn sie erblich ist, doch gewöhnlich sehr un- beständig erscheint. Als typisches Bei- spiel mögen die Australier und ‚Tas- manier genannt werden. Bei den Hai- dahs und anderen wilden Völkern von Columbia ist »der Rang nur dem Na- men nach erblich, zumeist in weiblicher Linie«, die eigentliche Häuptlingswürde aber »hängt zum grössten Theile nur von Reichthum und Geschicklichkeit im Kriege ab«. Von anderen nordameri- kanischen Stämmen zeigen uns die Chippewähs, Comanches und Schlangen- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. indianer das System der Verwandtschaft in weiblicher Linie gleichfalls verbunden entweder mit gänzlichem Mangel von erblicher Häuptlingswürde oder wenig- stens mit sehr geringer Entwickelung dieser Einrichtung. Wenden wir uns nach Südamerika, so treten uns die Arawaks und die Waraus als Beispiele solcher Völker entgegen, welche weib- liche Erbfolge und zugleich beinah nur nominelle, obgleich erbliche Häuptlinge haben; und ziemlich dasselbe lässt sich von den Cariben behaupten. Es dürfte am Platze sein, hier nun auf eine Gruppe von Thatsachen hin- zuweisen, welche grosse Bedeutunghaben. In manchen Gesellschaften, wo Ueber- tragung von Eigenthum und Rang in der weiblichen Linie die Regel ist, wird hinsichtlich des Standesoberhauptes eine Ausnahme gemacht, und alle die Ge- sellschaften, bei welchen solche Aus- nahmen vorkommen, zeichnen sich zu- gleich dadurch aus, dass ihre staatliche Herrschaft verhältnissmässig beständig gewordenist. Obgleichin Fidschidas weib- liche Verwandtschaftssystem herrscht, so ist doch nach Seemann der Herrscher, welcher aus den Mitgliedern der könig- lichen Familie gewählt wird, »im allge- meinen der Sohn des letzten Herrschers«. In Tahiti, wo die beiden höchsten Rang- stufen noch das primitive System der Erbfolge beobachten, ist doch die männ- liche Erbfolge der Herrscherwürde so scharf ausgeprägt, dass mit der Geburt des ältesten Sohnes sein Vater zum blossen Regent an seiner Statt wird. Und bei den Malagassen finden wir zu- gleich mit dem Vorwalten der Verwandt- schaft in weiblicher Linie, dass der Herrscher entweder seinen Nachfolger selbst ernennt oder, wenn er dies unter- liess, die Adligen ihn bezeichnen, und »sofern nicht positive Unfähigkeit vor- liegt, wird gewöhnlich der älteste Sohn gewählt«. Afrika bietet uns Beispiele verschiedenster Art dar. Obgleich die Congo-Völker, die Küstenneger und die 55 Binnenlandneger Gesellschaften von be- deutender Grösse und verwickelter Zu- sammensetzung gebildet haben, trotzdem bei ihnen die Verwandtschaft in weib- licher Linie auch bei der Erbfolge des Thrones in Geltung ist, so lesen wir doch von den ersteren, dass ihre Unter- thanenverhältnisse »sehr schwankendund unbestimmt« sind, von den zweiten, dass die Herrschaft, ausser wo sie eine freie Form zeigt, >eine unsichere und kurz- lebige monarchische Despotie ist«, und von den dritten, dass ihre Herrschaft, wo sie nicht gemischten Typus ist, »zwar eine strenge aber unsichere Despotie zu sein scheint«. In den beiden am wei- testen vorgeschrittenen und mächtigsten Staaten indessen geht Beständigkeit der staatlichen Herrschaft Hand in Hand mit einer theilweisen oder vollständigen Abweichung von der Erbfolge in weib- licher Linie. In Aschanti ist die Erb- folge: »Bruder, Schwestersohn, Sohn«, und in Dahome herrscht die männliche Primogenitur. Fernere Beispiele dieses Ueberganges finden wir bei den ausge- storbenen amerikanischen Civilisationen. Obgleich die aztekischen Eroberer von Mexico das System der Verwandtschaft in weiblicher Linie und ein entsprechen- des Erbfolgegesetz mit sich brachten, wurde das letztere doch bald theil- weise oder vollständig mit der Erbfolge in männlicher Linie vertauscht. In Tez- cuco und Tlacopan (Bezirken von Mexico) erbte der älteste Sohn die Königswürde und in Mexico selbst war die Wahl eines Königs auf die Söhne und Brüder des verstorbenen Königs beschränkt. Vom alten Peru sodann berichtet G@o- mara: »Die Neffen sind hier die Erben und nicht die Söhne, ausser im Falle der Yncas«, — und diese Ausnahme für die Yncas hat noch die sonderbare Eigenthümlichkeit, dass »der Erstgebo- rene dieser Brüder und Schwestern [d. h. des Ynca’s und seines obersten Weibes] der einzige legitime Erbe des König- thums war«, — eine Einrichtung, welche 56 die Erbfolge ungewöhnlich einschränkte und scharf bestimmte. Und hier wer- den wir dann wieder nach Afrika zurück- verwiesen durch die Aehnlichkeit zwi- schen Peru und Aegypten. »In Aegyp- ten war es die Abstammung von der Mutter, welche das Recht auf Eigenthum und auch auf den Thron verlieh. Das- selbe Gesetz herrschte in Aethiopien. Wenn der Monarch aus der königlichen Familie hinaus heirathete, so erlangten die Kinder nicht das legitime Anrecht auf die Krone.< Wenn wir die Bemer- kung hinzufügen, dass der Monarch »nach dem Glauben des Volkes von den Göttern abstammt, sowohl in männlicher als weiblicher Linie«, und wenn wir da- mit die fernere Thatsache in Verbindung setzen, dass königliche Heirathen zwi- schen Bruder und Schwester vorherrsch- ten, so sehen wir, dass in Aegypten sowohl wie in Peru ähnliche Ursachen ähnlicheWirkungen hervorbrachten. Denn auch in Peru war der Ynca vermeintlich von göttlicher Abkunft; er erbte seine Göttlichkeit von beiden Seiten her und heirathete seine Schwester, um das gött- liche Blut in ungemischter Reinheit zu erhalten. Und in Peru wie in Aegypten entwickelte sich darausschliesslich könig- liche Erbfolge in männlicher Linie, wäh- rend im übrigen die Erbfolge in weib- licher Linie vorherrschte. Mit diesem Process des Uebergangs von dem einen Erbfolgegesetz zum andern, wie er aus den letzterwähnten That- sachen ersichtlich wird, können wir noch einige andere Erscheinungen zu- sammenstellen, die sich aus früher erwähnten Thatsachen ergeben. In Neu-Caledonien »ernennt der Häuptling zu seinem Nachfolger wenn möglich einen Sohn oder einen Bruder«, Die eine Wahl setzt Nachfolge in männlicher Linie voraus und die andere ist wenig- stens ebensogut mit Erbfolge in männ- licher wie in weiblicher Linie vereinbar. In Madagascar, wo das System der weiblichen Verwandtschaft _ vorwaltet, Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »ernannte der Herrscher seinen Nach- folger — und natürlich wählte er hiezu seinen Sohn«. Ferner ist hervorzuheben, dass, wenn keine Ernennung stattge- funden hatte, die Edlen aus den Gliedern der königlichen Familie einen König zu wählen hatten, also in ihrer Wahl durch eine bestimmte Wählbarkeit be- schränkt waren, wodurch leicht eine Abweichung von der Erbfolge in der weiblichen Linie veranlasst werden kann und ganz naturgemäss veranlasst wird; und ist jenes Gesetz einmal durch- brochen, so ist es aus verschiedenen Gründen in Gefahr, bald abgeschafft zu werden. Wir sehen auch noch einen andern Uebergangsprocess vor uns. Denn einige jener Fälle sind Beispiele für die zahlreichen Vorkommnisse, in welchen die Erbfolge für die Herrschaft bestimmt ist, soweit es die Familie betrifft, nicht aber in Hinsicht auf ein einzelnes Glied dieser Familie — ein Stadium, welches eine theilweise, jedoch noch unvollständige Stabilität der staat- lichen Herrschaft bedingt. . Mehrere Beispiele dieser Art finden sich in Afrika. »Die Krone von Abyssinien ist in einer einzigen Familie erblich, aber die ein- zelne Person ist wählbar«, sagt Bruce. »Bei den Timmanees und Bulloms bleibt die Krone stets in derselben Familie, allein die Häuptlinge oder die Obersten des Landes, von denen die Wahl eines Königs abhängt, haben die Freiheit, ihren Candidaten auch aus einem sehr entfernten Seitenzweige der Familie zu nehmen«. Und bei den Kaffern »gebietet ein Gesetz, dass der Nachfolger des Königs aus einigen der jüngsten Fürsten gewählt werden solle«. Auch auf Java und Samoa ist zwar die Erbfolge in der Herrschaft auf die Familie begrenzt, allein hinsichtlich des Individuums nur theilweise fest bestimmt. Dass die Beständigkeit der staat- lichen Herrschaft durch Feststellung der Abkunft in männlicher Linie ge- sichert sei, soll damit natürlich nicht Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. behauptet werden. Unsere Folgerung besagt einfach, dass eine Erbfolge dieser Art besser als jede andere zur Bestän- digkeit führen wird. Von den wahr- scheinlichen Gründen hievon ist zunächst der anzuführen, dass in der patriarcha- lischen Gruppe, wie sie sich in jenen Hirtenvölkern entwickelt hat, von denen die wichtigsten civilisirten Völker ab- stammen, das Gefühl der Unterordnung unter das älteste männliche Glied, ge- fördert durch die Verhältnisse in der Familie und im Stamme, schliesslich zum Werkzeug einer weiteren Unter- ordnung innerhalb der grösseren, später gebildeten Gruppen wird. Ein zweiter wahrscheinlicher Grund ist der, dass mit der Erbfolge in männlicher Linie sich sehr häufig eine Vereinigung von Leistungsfähigkeit und hoher Stellung verbindet. Der Sohn eines grossen Kriegers oder eines sonstwie besonders zum Herrscher befähigten Mannes wird höchst wahrscheinlich eher ihm ähnliche Züge besitzen als der Sohn seiner Schwester, und wenn dem so ist, so wird in jenen frühesten Stadien, wo die persönliche Ueberlegenheit ebenso unumgängliches Erforderniss war wie die Legitimität der Ansprüche, die Erbfolge in männlicher Linie dadurch zum Fortbestand der Macht beitragen, dass sie eine Usurpation bedeutend erschwert. Es gibt jedoch einen noch viel wirk- sameren Einfluss, der dazu beiträgt, der staatlichen Herrschaft Dauer zu verleihen, und der zugleich mehr in Verbindung mit der Erbfolge in männ- licher als weiblicher Linie thätig ist, — ein Einfluss, der wahrscheinlich grössere Bedeutung hat als irgend ein anderer. Als ich zeigte, wie die Achtung vor dem Alter die patriarchalische Autorität in’s Leben ruft, wo die Erb- folge in männlicher Linie besteht, führte ich verschiedene Fälle an, die zugleich ein ferneres Resultat erkennen liessen, 57 dass nämlich der verstorbene Patriarch, indem er von seinen Nachkommen Ver- ehrung empfängt, zur Familien-Gottheit wird. In .mehreren vorangegangenen Capiteln wurden ausführlich aus der Vergangenheit und Gegenwart die von den verschiedensten Ländern und Völ- kern gewonnenen Beweise einer solchen Entwickelung der Götter aus verehrten Geistern zugestellt. Wir brauchen also hier nur noch darauf hinzuweisen, wie fast unvermeidlich die staatliche Herr- schaft durch diesen Vorgang verstärkt wird. Die Abkunft von einem Herrscher, der sich während seines Lebens durch Ueberlegenheit auszeichnete und dessen Geist, da er ganz besonders gefürchtet wird, man auch in so aussergewöhn- lichem Grad zu versöhnen sucht, dass er weit über die übrigen Geister der Vorfahren hinausragt, vermag den leben- den Herrscher auf zweierlei Weise zu erhöhen und zu unterstützen. In erster Linie wird ihm zugeschrieben, dass er von seinem grossen Erzeuger auch in höherem oder geringerem Grade den Charakter ererbt habe, den man so gern für übernatürlich hält und der ihm seine Gewalt verlieh, und in zweiter Linie glaubt man, wenn er diesem grossen Erzeuger Opfer darbringe, könne er eine solche Beziehung mit ihm fort- setzen, dass ihm dadurch göttliche Hilfe gesichert werde. Verschiedene Stellen in Canon Callaway’s Bericht über die Amazulus verrathen den Einfluss dieses Glaubens. So wird erwähnt, dass >»der Itongo [der Geist des Vorfahren] bei dem grossen Manne wohne und mit ihm spreche«, und dann heisst es ferner von einem Medicinmann: »die Häupt- linge des Hauses von Uzulu pflegten nicht zu gestatten, dass man von einem blossen Untergebenen auch nur erzähle, er besitze Macht über den Himmel, denn es gilt dort der Glaube, dass der Himmel blos den Häuptlingen des Landes gehöre«. Diese Thatsachen geben uns 58 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. dann auch eine sichere Erklärung für manche andere, welche zeigen, dass die Autorität des irdischen Herrschers durch seine vermeintlichen Beziehungen zum himmlischen Herrscher erhöht wird, mag nun der letztere der Geist des ältesten bekannten Vorfahren, welcher die Gesellschaft begründete, oder der Geist eines siegreichen Eroberers oder eines siegreichen Fremden sein. Von den Häuptlingen der Kukis, die Abkömmlinge von hindostanischen Abenteurern sind, lesen wir: „Alle diese Rajahs gelten als Abkömm- linge desselben Ahnen, der, wie sie glauben, ursprünglich mit den Göttern selbst in Ver- kehr stand. Ihre Person wird daher mit der grössten Achtung und mit beinah abergläubi- scher Verehrung betrachtet und ihre Befehle sind in jedem Falle Gesetz.“ Von den Tahitiern erzählt Ellis: „Der Gott und der König sollen nach allgemeinem Glauben die Herrschaft über die grosse Masse des Menschengeschlechts unter sich theilen. Der letztere ist gar oft die Personification des ersteren... .. Die Kö- nige hielt man auf mehreren Inseln für Nach- kommen der Götter. Ihre Personen galten stets für heilig.“ Nach Mariner sind »Toritonga und Veachi (erbliche göttliche Häuptlinge auf Tonga) beides anerkannte Nach- kommen der obersten Götter, welche früher die Tonga-Inseln besuchten«. Und im alten Peru »gab der Ynca ihnen (seinen Vasallen) zu verstehen, dass Alles, was er in Hinsicht auf sie thue, nur auf Geheiss und nach der Offen- barung seines Vaters, der Sonne, ge- schehe«. Diese Verstärkung der natürlichen Macht durch die übernatürliche Macht erreicht ihren Höhepunkt da, wo der Herrscher gleichzeitig als Nachkumme der Götter und selbst als Gott verehrt wird: eine Vereinigung von Attributen, die bei all’ den Völkern gewöhnlich ist, welche nicht ebenso wie wir zwi- schen dem Göttlichen und dem Mensch- lichen zu unterscheiden vermögen. So verhielt es sich in dem eben erwähnten Falle, bei den Peruanern, so auch bei den alten Aegyptern. Der Monarch »war der Repräsentant der Gottheit auf Erden und war von gleicher Sub- stanz«e. Und nicht allein wurde er in vielen Fällen nach seinem Tode zum Gott, sondern er wurde auch während des Lebens als Gott verehrt, wie es z. B. das folgende an Ramses II. ge- richtete Gebet bezeugt: „Als sie vor den König gekommen wa- fielen sie auf die Erde nieder und beteten mit erhobenen Händen zum Kö- nige. Sie lobpriesen diesen göttlichen Wohl- thäter . .. .. indem sie also sprachen: Wir sind vor dich gekommen, du Herr des Him- mels, Herr der Erde, Sonne, Leben der ganzen Welt, Herr der Zeit... . Herr des Glückes, Schöpfer der Ernte, Bildner und Former der Sterblichen, du Spender des Athems für alle Menschen, Beleber der ganzen Gesellschaft der Götter... . du Bildner des Grossen, Schöpfer des Kleinen .... du unser Herr, unsere Sonne, durch dessen Wort aus seinem Munde Tum lebt ...... gewähre uns das Le- ben aus deinen Händen .... und Athem für unsere Nase.“ Dieses Gebet veranlasst uns zu einer bemerkenswerthen Vergleichung. Ramses, dessen Macht, wie er sie durch seine Eroberungen bewies, für so über- menschlich gehalten wurde, erscheint. in dieser Darstellung als Herrscher nicht allein der unteren, sondern auch der oberen Welt, und eine ähnliche königliche Gewalt wird dann auch in den beiden lebenden Gesellschaften, wo der Absolutismus in gleicher Weise uneingeschränkt herrscht, in China und Japan, dem Könige zugeschrieben. Wie schon im Abschnitt über die Herrschaft der ceremoniellen Einrichtungen gezeigt wurde, besitzen sowohl der Kaiser von China als der Mikado von Japan eine solche Gewalt im Himmel, dass sie die Bewohner desselben nach Gutdünken von einem Range in den andern zu versetzen vermögen. Dass diese Kräftigung der staat- lichen Herrschaft durch vermeintliche Göttlichkeit oder wenigstens durch ver- meintliche Abstammung von einem Gotte (entweder dem vergötterten Vorfahren Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 59 des Stammes oder einer der älteren Gottheiten) auch bei den alten Griechen vorkam, braucht nicht nachgewiesen zu werden. Nicht minder war sie allge- mein verbreitet bei den nördlichen Ariern. »Nach dem alten heidnischen Glauben wurde der Stammbaum der sächsischen, angelsächsischen, dänischen, norwegi- schen und schwedischen, wahrscheinlich auch derjenige der deutschen und scan- dinavischen Könige im allgemeinen auf Odin oder auf einen seiner nächsten Genossen oder heroischen Söhne zurück- geführt. « Ferner ist hervorzuheben, dass ein von Gott abstammender Herrscher, der zugleich Oberpriester der Götter ist (was er in der Regel zu sein pflegt), eine wirksamere übernatürliche Hilfe zu erlangen vermag als derjenige Herr- scher, welchem nur Zauberkräfte zuge- sprochen werden. Denn in erster Linie pflegen die von dem Magier angerufenen unsichtbaren Agentien nicht als solche vom höchsten Range zu gelten, während man annimmt, der gottentsprossene Herrscher könne die Hilfe eines obersten unsichtbaren Wesens gewinnen. Und in zweiter Linie zeigt die eine Form des Einflusses über diese gefürchteten übermenschlichen Wesen viel weniger die Tendenz, zu einem bleibenden Attri- bute des Herrschers zu werden, als die andere. Obgleich wir z. B. bei den Chibchas einen Fall finden, wo die Zauberkraft auf den Nachfolger über- tragen wurde, obgleich »der Cazike von Sogamoso bekannt machte, dass er [Bochica] ihn zum Erben aller seiner Heiligkeit eingesetzt habe und dass er dieselbe Macht besitze, regnen zu lassen, sobald es ihm beliebe«, und Gesundheit oder Krankheit zu verleihen (eine Be- hauptung, welcher das Volk Glauben schenkte), so ist dies doch immerhin eine Ausnahme. Allgemein gesprochen lässt sich sagen, dass der Häuptling, dessen Beziehungen mit der übernatür- lichen Welt nur diejenigen eines Zau- berers sind, diese seine Beziehungen nicht auf den Nachfolger überträgt und daher auch nicht eine übernatürliche Dynastie zu begründen vermag, wie dies dem Häuptling von göttlicher Ab- kunft gelingt. (Fortsetzung folgt.) Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Entwickelungsstufen der Finsterne. Bekanntlich hatten Secchi und an- dere Astronomen bald nach der ersten . Anwendung der Spektralanalyse auf die Sternkunde unter den Fixsternen, je nach ihrem Spektrum verschiedene Ty- pen unterschieden, von denen 1. die weissen und bläulichen, 2. die gelb- lichen und 3. die röthlichen als die drei Hauptklassen angesehen wurden. Man hielt die weissen und bläulichen Sterne wegen der grösseren. Intensität ihres Lichtes für die heissesten, die gelblichen, zu denen unsere Sonne gehört, für etwas mehr abgekühlt und die rothen, in deren Spektrum breite dunkle Bän- der erscheinen, für die am meisten in dem Abkühlungsprozesse vorgeschrit- tenen. Diese Annahmen erregten um so mehr Interesse, als sie sich mit der Dissociationstheorie desenglischen Astro- nomen Lockyer verbanden, nach wel- cher sich auf den Sternen der ersteren Gruppe alle Elemente im Zustande der Dissociation und auf denen der letztern die ersten chemischen Verbindungen befinden sollten. Der Astrophysiker H. C. Vogel an der Sonnenwarte zu Potsdam hat diese Untersuchungen von Neuem aufgenommen und auf Hellig- keitsbestimmungen der einzelnen Farben- und Wellenlängen ausgedehnt, indem er sich eines Polarisations - Photometers, ähnlich den Apparaten vonBohn, Wild und Glan bediente, wobei das Licht einer Petroleumlampe von constanter Hellig- keit als Vergleichsobjekt benützt wird. Aus den Mittheilungen über die erhal- tenen allgemeineren Resultate, wie sie in den Monatsberichten der Berliner Akademie der Wissenschaften (1880, S. 801) gegeben wurden, heben wir die ' folgenden Daten heraus: Die gewonne- nen Zahlenwerthe lassen leicht eine Ver- wandtschaft der Sterne mit nahezu glei- chem Spektrum, z. B. Sirius und Wega einerseits, Capella und Sonne anderer- seits erkennen, auch zeigen die rothen Sterne unter sich nahezu gleiche Inten- sitätsverhältnisse. Bei den weissen Ster- nen Sirius und Wega ist deutlich aus- gesprochen, dass die brechbareren Theile des Spektrums eine viel grössere In- tensität besitzen, als bei den gelblichen Sternen Capella und Sonne, und bei den rothen Sternen Aldebaran, Arktur und Beteigeuze. Es ist ferner nicht ohne Interesse, dass die Intensitätsverhält- nisse des elektrischen Lichtes im Ver- gleich zu Petroleum, von denen der rothen Sterne wenig abweichen. Wenn- gleich eine direkte Vergleichung nicht statthaft sein dürfte, da das von den Sternen zu uns gelangende Licht in unserer Atmosphäre, eine Absorption er- litten hat, die sich vorzugsweise auf die blauen Strahlen erstreckt, und daher sämmtliche Curven für die Sonne und die Sterne ein stärkeres Anwachsen mit Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 61 abnehmender Wellenlänge zeigen würden, wenn wir den Einfluss der Atmosphäre eliminiren könnten, so lässt sich doch soviel erkennen, dass die rothen Sterne in einem Glühzustande befindlich sind, der sich einigermassen mit der Tempe- ratur des elektrischen Flammenbogens vergleichen lässt. Wenn bei der Beob- achtung des Spektrum’s schon der blosse Augenschein die verhältnissmässig grosse Intensität der brechbareren Theile des Spektrum’s weisser Sterne ergeben hat, so fehlte doch bisher jeder Anhalt über die Grösse der Unterschiede, auch war nicht ohne Weiteres zu entscheiden, in welchem Verhältniss der Glühzustand der Sterne zu dem unserer Sonne stand. Aus den mitgetheilten Beobachtungen Vogel’s geht nun mit Sicherheit her- vor, dass die weissen Sterne in einem bedeutend höheren Glühzustande sich befinden müssen, als die Sonne, dass die gelben Sterne mit nahezu gleichem Spektrum als die Sonne, sich auch in ganz ähnlichem Glühzustande befinden, endlich, dass die Temperatur der rothen Sterne weit unter der Temperatur der Sonne gelegen ist. Mittelst der Kirch- hoff’schen Funktion dürfte es dereinst gelingen, aus den Beobachtungen der Intensitätsverhältnisse in den Sternspek- tren die wirklichen Temperaturunter- schiede der Himmelskörper abzuleiten. Im Uebrigen dienen diese neuen Beob- achtungen zur Bestätigung der Ansicht, dass sich in den Spektren das Entwicke- lungs- (Abkühlungs-) Stadium der Sterne abspiegelt, welche Ansicht ihn schon früher veranlasst hatte, eine etwas an- dere Klassifikation der Sterne nach ihren Spektren vorzunehmen, als sie von Secchi vorgeschlagen worden war; auch gewinnt die Annahme, dass ein Theil der Streifen und Bänder, welche wir in den Spektren rother Sterne beobachten, chemischen Verbindungen in den sie umgebenden Atmosphären zuzuschreiben sind, sehr an Wahrscheinlichkeit, da bei Temperaturen, welche die des elek- trischen Flammenbogens nicht sehr we- sentlich überschreiten, sehr wohl che- mische Verbindungen denkbar sind. Die künstliche Darstellung des Indigo und der Alkaloidgruppe der Solaneen. Die Tiegeldarstellung solcher orga- nischen Verbindungen, die sonst nur im Organismus der Pflanzen und Thiere er- zeugt werden, hat heute nicht mehr die schwerwiegende philosophische Bedeu- tung im Kampfe gegen die Annahme einer besonderen Lebenskraft, wie sie ehemals der künstlichen Darstellung des Harnstoffs durch Wöhler beigemessen wurde. Gleichwohl ist es zu Zeiten auch für die Vertreter der biologischen Wissen- schaften wichtig, einen Blick auf die einschlägigen Errungenschaften der mo- dernen Chemie zu werfen, zumal wenn sie, wie bei den Giften der Solaneen Betrachtungen über den Zusammenhang von Stoff und Form anregen. Seit den Berliner Chemikerın Gräbe und Liebermann im Jahre 1868 die Darstellung der Krappfarbstoffe, aus Anthrazen, einer Art Steinkohlenkampfer, der sich in den Abfällen der Gasberei- tung vorfindet, gelungen war, und nach- dem fast alles Alizarin künstlich aus dem Anthrazen dargestellt wird, so dass der Krappbau grösstentheils aufgehört hat, ist die künstliche Darstellung des Indigo noch emsiger als zuvor umworben worden. Insbesondere hat sich Professor Adolph Baeyer in München seitdem mit diesem Problem beschäftigt, und war be- reits vor drei Jahren zu einer Methode gelangt, durch welche er winzige Spuren desgeschätzten Farbstoffesdurchmannig- fache Behandlung und Umwandlung eines ebenfalls aus dem Steinkohlentheer dar- stellbaren Stoffes, der Phenylessigsäure, erhielt. Im vorigen Jahre sind nun Baeyer’s fünfzehnjährige Versuche durch eine neue Synthese belohnt worden, die eine etwas grössere Ausbeute gibt, und 63 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. eine praktische Ausnützung von Weitem ahnen lässt. Dieselbe geht von der Zimmtsäure aus, einer im Zimmtöl, Perubalsam, Benzo&, Storax und anderen Droguen vorkommenden organischen Säure, die aber ebenfalls, was für die Praxis wichtig sein würde, aus Toluol, einem Bestandtheile des Steinkohlen- theers, darstellbar ist. Die Zimmtsäure wird durch Behandlung mit Salpetersäure in ihre Nitroverbindung, letztere durch Behandlung mit Brom in das Dibromid derselben verwandelt, einer Verbindung, die in Berührung mit Alkalien Indigo- blau liefert. In der Praxis ist es frei- lich vortheilhafter, jenes Dibromid zu- nächst in Orthonitrophenylpropiolsäure zu verwandeln, welche Verbindung wahr- scheinlich berufen ist, in der Färberei eine Rolle zu spielen, da sie sich un- mittelbar dem Gewebe aufdrucken lässt, um das Indigo in der Faser selbst zu erzeugen. Behandelt man diese Sub- stanz mit Alkalien, so gibt sie unmittel- bar das längst bekannte Oxydations- produkt des Indigo’s, das Isatin, und wenn man einen reducirenden Körper, wie Traubenzucker, hinzusetzt, so ent- steht unmittelbar Indigoblau. Leider gibt die neue Methode noch immer nicht den ersehnten klaren Einblick in die nähere Constitution des Indigo’s. Glücklicher war Baeyer in der Er- kenntniss der Zusammensetzung eines durchtrockne Destillation desCinchonins, eines Alkaloids der Chinarinde, ent- stehenden einfacheren Alkaloids, des Chinolins (CaH- N), welches er als ein Naphtalin (Cıo Hs) erkannte, in welchem eine Atomgruppe (CH) durch N ersetzt ist. Diese Erkenntniss wurde. durch künstliche Darstellung des Chinolins ge- wonnen. Ebenso hat Professor Albert Ladenburg eine Reihe von Erfahrungen über die Alkaloide der Solaneen gemacht, die ein ausserordentliches wissenschaft- liches Interesse darbieten, da sie eines- theils einen Blick in die noch immer sehr dunkle Constitution der Alkaloide überhaupt gestatten, und andrerseits zeigen, dass verwandte Pflanzen chemisch verwandte und physiologisch ähnlich wir- kende Alkaloide erzeugen. Behandelt man das Alkaloid der Tollkirsche, das Atropin, bei 100° mit Baryt, so zer- fällt es, wie Kraut und Lossen fanden, in eine Säure und eine Basis, Tropa- säure und Tropin, indem ein Atom Wasser aufgenommen wird. Cır Has NO3 + Ha 0 = Atropin. Wasser, — (9 Hıo 03 + Cs Hı5s NO —— oo oo I Tropasäure. Tropin, Ladenburg zeigte nun (1879), dass wenn man das tropasaure Tropin mit verdünnter Salzsäure erhitzt, daraus wie- derum Atropin durch Entziehung des Was- sers gebildet wird, und zwar erwies sich dieses künstliche Atropin sowohl in seinen giftigen, als in seiner für die Augen- heilkunde werthvollen Eigenschaft, stark die Pupille zu erweitern, vollkommen identisch mit dem natürlichen, während das tropasaure Tropin keine dieser Eigen- schaften besitzt. In neuester Zeit (Ende 1880) ist es Ladenburg nun aber auch gelungen, die Tropasäure überhaupt künstlich darzustellen, so dass nur noch die Darstellung des Tropin fehlt, um das geschätzte Alkaloid gänzlich ' auf künstlichem Wege darstellen zu können. Interessant ist der Umstand, dass dieses Alkaloid ausser in der Tollkirsche im Bilsenkraut und Stechapfel gleichfalls vorkommt, und zwar gemengt mit wech- selnden Mengen eines andern, wohl defi- nirten Alkaloids, des Hyoscyamins, von dem es nur schwierig zu trennen ist, und zwar indem man die Goldchlorür- Verbindungen der beiden Alkaloide, einer sogenannten fraktionirten Krystallisation überlässt. Die wechselnden Mengen des schwereren und des leichteren Alkaloids (Atropin und Hyoscyamin) erklären die Verschiedenartigkeit der toxikologischen Wirkungen der einzelnen Atropa, Datura, und Hyoscyamus-Arten. Noch merkwür- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 63 diger aber ist, dass man dasselbe Alka- loid in einer Pflanzengruppe gefunden hat, die von einigen Botanikern gar nicht mehr zu den Solaneen gerechnet wird, sondern zu den verwandten Scrophu- larineen, den Duboisien, welche die Ein- gebornen Australiens seit uralten Zeiten als betäubendes, Muth erregendes Ge- nussmittel verwenden*, und welches neuerdings auch in der Augenheilkunde Anwendung gefunden hat. Ladenburg fand ferner, dass das Tropin auch mit anderen organischen , Säuren Salze bildet, die durch Erhitzung mit verdünnter Salzsäure unter 100°, Wasser abgeben und in Alkaloide über- gehen, so dass sich hier eine Möglich- keit der Darstellung unzähliger Alkaloide eröffnet, die sich zum Theil durch sehr merkwürdige physiologische und toxi- kologische Eigenschaften auszeichnen, so dass vielleicht manche von ihnen wichtige Arzneistoffe abgeben können. So erwies sich das aus salicylsaurem Tropin dargestellte Salicyltropin als ein Gift, von welchem 25 Milligramm einen Frosch tödteten, während es sich gleich dem natürlichen Atropin Pflanzenfressern weniger schädlich erwies, aber nicht wie dieses die Pupille erweiterte. Ebenso gaben Phtalsäure, Benzo&säure, Zimmt- säure, Oxybenzo&säure und Oxytoluol- säure besondere Alkaloide, von denen für die Medizin besonders das aus der letzteren Säure gewonnene Homatropin sehr werthvoll ist, da es die pupillen- erweiternde Eigenschaft in einem noch höheren Grade besitzt, als das Atropin. Sollte man das Atropin vor der Hand nicht künstlich darzustellen lernen, so würde man es zur Darstellung der neuen Basen in hinreichender Menge aus dem nicht weiter medizinisch verwendbaren Hyoscyamin, Daturin und Duboisin ge- winnen können. Die hier gegebene Uebersicht über die neuern synthetischen Resultate auf einem gewissen Gebiete * Vergl. Kosmos Bd. VI. 8. 361. der organischen Chemie konnte natür- lich nur eine flüchtige sein; die Origi- nalabhandlungen findet der sich näher dafür interessirende Leser sämmtlich in den Berichten der Deutschen chemischen Gesellschaft von denJahren 1879— 1881. Der Einfluss der Bodenwärme auf die Zellen- bildung der Pflanzen. In einer der Pariser Akademie der Wissenschaften kürzlich vorgelegten Ar- beit hat der französische Botaniker Ed. Prillieux auf merkwürdige Verän- derungen die Aufmerksamkeit gelenkt, welche die Zellen junger Pflanzen zeigen, wenn sie in einem Boden treiben, der wärmer als die umgebende Luft ist. Man kann dadurch nach seinem Belieben künstlich eine Hypertrophie der innern Theile junger Stengeltriebe erzeugen, welche viel dicker und kürzer als im normalen Zustande ausfallen. In den so hypertrophisch gemachten Stengeln bemerkt man, wie in den Anschwel- lungen, welche die Stiche der Wollen- oder Blutlaus (Aphis lanigera) auf den Zweigen des Apfelbaumes hervorbringen, die Vervielfältigung der Zellkerne im Innern der Zellen. Die angeschwollenen Stengel der Bohnen und Kürbisse, welche in einem Boden gekeimt hatten, dessen Temperatur um ungefähr 10° die der umgebenden Luft überstieg, haben häufig pro Zelle zwei oder drei, sei es isolirte, oder in einer Masse vereinigte und gegen- einander gedrückte Kerne dargeboten; manchmal haben sie denselben Wuchs, aber oft sind sie von ungleicher Dicke und variabler Form, bald kuglich, bald nierenförmig oder unregelmässig gelappt. Die Vermehrung der Zellkerne in den hypertrophischen Geweben geschieht durch Theilung und die sehr erweiterten Zellkerne enthalten in den meisten Fällen vervielfältigte Nucleoli, von sehr ver- 64 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. schiedenartigen Grössen und Gestalten, oft findet man vier oder fünf in einem Zellkern, häufig sind sie verlängert oder gelappt, oder in ihrem mittleren Theile zusammengedrückt, und man sieht deut- lich, dass sie sich durch Einschnürung in dem hypertrophischen Zellkerne thei- len. Wenn der Kern sich theilt, bildet sich anfangs eine Scheidewand in sei- nem Innern, am häufigsten gegenüber einem dicken Nucleolus, oder zwischen zwei noch sehr genäherten Zwillings- Nucleolen, dann blähen sich die beiden Hälften des Kermes, von denen jede eine besondere Höhlung hat, auf und streben sich zu trennen. Der Kern ist dann zweilappig, am häufigsten nieren- förmig, indem sich die Erweiterungen am meisten auf der dem Nucleolus gegen- überliegenden Seite vollziehen. Die Iso- lirung vervollständigt sich durch die Verlängerung der Spalte, welche zwischen den Lappen quer durch die Dicke der Trennungswand sich fortsetzt. (Revue scientifique 1881. Nr. 5.) Bine Eigenthümlichkeit der Stechpalme. Wie ich früher in dieser Zeitschrift (Bd. IV. S. 405) und in meinem Buche über Erasmus Darwin (Deutsche Aus- gabe S. 145) erwähnt habe, hatte die- ser aufmerksame Naturbeobachter die Wahrnehmung gemacht, dass die Stech- palme meist nur in der Jugend und in ihren unteren Theilen stachlige Blätter trägt, dagegen wenn sie älter wird, an ihren höheren Zweigen dornenlose Blät- ter treibt. Er erklärte sich diese Eigen- thümlichkeit durch die von ihm ange- nommene Fähigkeit der Pflanzen, sich gegen Angriffe selbst zu schützen, und meinte, die Stechpalme treibe diese stachligen Blätter, um sich gegen den nackten Mund der Hufthiere zu schützen, und darum verlören auch die Blätter der höheren Zweige ihre Dornen, weil der Mund der Thiere dort überhaupt nicht hinreichen könne. Wie ich erst kürzlich gefunden habe, ist diese Eigenthümlichkeit auch Frei- ligrath aufgefallen, der sie in einem gedankenreichen Gedichte besungen hat, welches deshalb hier mitgetheilt werden mag; da es ohnehin zu Betrachtungen über die Verschiedenheit der poetischen und philosophischen Naturauffassung anregt. Ö Leser hast du je betrachtet die Stechpalme? — sieh Ihr glattes Laub, wie eine weise Hand Es zum Gewand Dem Baume gab, so sinnig, dass daran Des Atheisten Klugheit scheitern kann. Denn unten, wie ein Zaun von Dornen, starrt Es scharf und hart; Kein weidend Vieh durch diesen spitzen Saum Verletzt den Baum. Doch oben, wo die Rinde nichts befährt, Wird stachellos das Laub und unbewehrt. Dies ist ein Ding, wie ich’s betrachten mag, Gern denk’ ich nach Des Baumes Weisheit, seiner Blätter Zier Reicht willig mir Ein Sinnbild für ein Lied, das lange Zeit Nach mir vielleicht noch nützt und auch erfreut. So, schein’ ich draussen auch bisweilen rauh Und herbe, schau’ Ich finster auch, wenn mich am stillen Heerd Ein Lust’ger stört, Doch streb’ ich, dass ich Freunden gut und treu, Sanft wie das Laub hoch auf der Stechpalm’ sei. Und heg’ ich jung, Auch Uebermuth Und Trotz, doch schaff’ ich, dass ich jeden Tag Sie mindern mag: Bis ich im hohen Alter mild von Sinn, Gleich dieses Baumes hohen Blättern, bin. wie wohl die Jugend thut, Und wie, wenn alle Sommerbäume grün Dasteh’n und blüh’'n, Die Blätter dieses einz’gen Baumes nie So glüh'n, wie sie, Doch spät im öden Winter uns allein Mit ihrem dunklen Immergrün erfreu'n: So auch in meinen Jugendtagen will Ich ernst und still Im Kreis der Jugend sein, die unbedacht Des Ernstes lacht, Auf dass mein Alter frisch und fleckenfrei Gleich dieses Baumes grünem Winter sei. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. 65 Es wäre eine nicht uninteressante Frage, ob Freiligrath, der zugleich ein aufmerksamer Naturbeobachter und ein genauer Kenner der englischen Litteratur war, diese Eigenthümlichkeit der bei uns nur selten zum Baume erwachsen- den Stechpalme selbst beobachtet hat, oder durch Darwin’s Bemerkungen zu seinem Gedichte angeregt worden ist. Das erstere ist wahrscheinlicher, und Freiligrath spricht vom Schutz der Rinde, während Darwin an den Selbstschutz der Blätter dachte. Wir können uns leicht vorstellen, wie Freiligrath durch den Anblick der jungen Alleebäume, deren Stamm man häufig durch Dornen-. reiser vor der Annäherung der Thiere schützt, auf diesen Ideengang geführt worden sein mag. Eine andere Frage wäre es, ob Freilig- ‚ rath und Darwin wirklich die Dornen- losigkeit des oberen Laubes richtig ge- deutet haben, abgesehen von ihrer sich unmerklich zur modernen Anschauung abstufenden Interpretation der Natur. Denn wir sehen auch die Blätter an- derer Pflanzen, wenn sie hoch empor- steigen, die Schärfe ihres Umrisses ein- büssen, so z. B. den Epheu, dessen scharf fünfeckiges Blatt an den oberen Zweigen eirund wird, ohne dass man dabei an eine schützende Eigenthüm- lichkeit der scharfeckigen Form denken könnte. Diese Erscheinungen verdienen offenbar noch eine genauere Prüfung. K. Experimentale Untersuchungen über die Entstehung der eschlechtsunterschiede hat neuerdings der Prosektor am Bres- lauer anatomischen Institute Dr. G.Born angestellt und darüber in der Breslauer ärztlichen Zeitschrift (1881, Nr. 3 ff.) berichtet. Bekanntlich ist die Haupt- frage die, ob die geschlechtlichen Unter- schiede schon im befruchteten Ei aus- geprägt sind, und durch ungleiches Vermögen der Eltern bedingt werden, Kosmos, V, Jahrgang. (Bd, IX). oder ob auf die Erzeugung der Ge- schlechter nachträgliche Entwickelungs- bedingungen Einfluss haben. Der Ex- perimentator wählte zu seinem Versuche reife Eier des gemeinen braunen Gras- frosches, die nach der Methode Spal- lanzani’s künstlich befruchtet wur- den, und in einunzwanzig geräumigen Aquarien bis zur eingetretenen Erkenn- barkeit der Geschlechtsverschiedenheit gezüchtet wurden. Das Resultat war ein sehr merkwürdiges. In fünf Becken betrug die Anzahl der Weibchen 100°/o, es war also gar kein Männchen vor- handen, in weiteren sechs Becken stieg die Prozentzahl der Weibchen auf 91,5—96°/o; nur in zwei Becken wurde eine erheblichere Anzahl Männchen er- zielt, nämlich in dem einen 13,2 °/o und in einem andern 28°/o. Da nun in der Natur die Anzahl der entstehenden Männchen derjenigen der Weibchen ziemlich gleich zu kommen pflegt, so frägt es sich, wodurch die Entwickelung einer grösseren Zahl Männchen hinter- trieben wurde. Das Becken, in welchem die grösste Anzahl von Männchen (28°/o) erzielt wurde, war das einzige, durch Versehen verschlammte, und Dr. Born neigt deshalb und aus mehreren andern Gründen der Meinung zu, dass die Lar- ven zu ihrer naturgemässen kräftigen Entwickelung, weniger der Fleisch- und Pflanzennahrung bedürfen, die ihnen in den einzelnen Becken zur Genüge ge- reicht wurde, als vielmehr der Infuso- rien, Räderthierchen, Diatomeen und Algen, die sie im Schlamm der Tüm- pel finden. In Tümpeln, die gar keinen Pflanzenwuchs zeigen, fanden sich im Freien wohl entwickelte Frosch- und Unkenlarven in Menge, kurz das ge- sammte Resultat veranlasste Dr. Born mit allen Einschränkungen als möglich anzunehmen, dass in seinen Versuchen die ungeeignete Ernährungs- und Le- bensweise eine vorwiegende Ausbildung der Keime zu Individuen des stärkern Geschlechts zurückgehalten, und das .) 66 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. schwächere Geschlecht begünstigt habe. Man sieht, es wird hierbei als wahr- scheinlich vorausgesetzt, dass die Eier ursprünglich geschlechtslos sind. Wir wollen hier bemerken, dass Prof. Hoffmann in Giessen bei seinen 1878 veröffentlichten Versuchen über die Geschlechtervertheilung bei Spinat- pflanzen zu einem ähnlichen, wenn auch in mancher Beziehung entgegengesetzten Resultate gelangte. Bei Freilandpflanzen, die einen genügenden Raum zu ihrer Entwickelung fanden, wurden auf 63 weibliche Exemplare 65 männliche ge- zählt, bei einer Dichtsaat im Topfe auf 40 weibliche 91 männliche. Da ein zweiter Versuch ganz entsprechende Resultate lieferte, und da die Samen in allen diesen Aussaaten von denselben Eltern stammten und äusserlich ganz gleich waren, so schloss Prof. Hoff- mann daraus, dass das Geschlecht im reifen Samen noch nicht bestimmt sei, und dass in diesem Falle eine un- vollkommene Ernährung eine überwie- gende Ausbildung des männlichen Ge- schlecht bedingt habe. Das wäre also ein entgegengesetzter Erfolg beschrän- kender Entwickelungsbedingungen. Die Zähne der Vogelembrvonen. In Hinblick auf die gezähnten Vögel (Odontornithes) der Sekundärzeit, über welche Professor O0. C. Marsh vor Kurzem eine grössere Monographie veröffentlicht hat, auf die wir eingehend zurückzukommen gedenken, hat das Auf- treten kleiner Zähnchen bei den Em- bryonen gewisser heute lebender Vögel ein bedeutendes Interesse, weshalb Dr. P. Fraisse in Würzburg dasselba vor einiger Zeit in der dortigen physikalisch- medizinischen Gesellschaft einen Vor- trag gehalten hat, dem wir nach einem Referate im »Neuen Jahrbuche für Mi- neralogie, Geologie und Paläontologie (1880, Bd. II, S. 220)« das Folgende ent- nehmen. Im Jahre 1821 beobachtete Etienne Geoffroy Saint-Hilaire an Em- bryonen eines Papageien (Palaeornis torquatus) in beiden Kiefern eine sehr regelmässige Reihe von Papillen ver- schiedener Form, von sehr einfacher Struktur, die aber nicht in den Kiefer eingekeilt waren. Diese Papillen be- deckten markige Knoten oder Kerne, nach seiner Meinung denen analog, aus welchen sich Zähne bilden, und inner- halb derselben verliefen Gefässe und Nerven. Neben den dreizehn Zahn- keimen im Unterkiefer fanden sich noch dreizehn Gefässe und nervenreiche kug- liche Gebilde, etwa so beschaffen, wie die Zahnkeime des Menschen im drit- ten Monat des embryonalen Lebens. Es hatten also nach diesen Beobach- tungen die Vögel, ehe sie einen Horn- schnabel besitzen, Zahnanlagen und zwar, wenigstens in dem einen Kiefer, eine doppelte Anlage, wie die Säuge- thiere. Cuvier bestätigte, dass diese Zahnkeime denen der ächten Zähne analog seien, und.dass ihre weitere Um- wandlung in der Weise erfolge, dass die Hornschichte des Schnabels sich über die vaskulären Papillen ausbreite, wie der Schmelz über den Zähnen der Säugethiere. Einige fernere, die Auf- fassung 'seines Vaters bekräftigende Be- merkungen, fügte später Isidor Geoffroy Saint-Hilaire hinzu. Diese wichtigen Beobachtungen verfielen beinahe der Vergessenheit, bis endlich 1860 Blan- chard auf dieselben zurückkam. Nach ihm bedürfte es, um von Zähnen reden zu können, des sichern Nachweises von Dentin. Er untersuchte mikroskopisch die Kiefer junger Papageien und gab an, nach der Struktur sowohl den Kno- chen als auch die Substanz der Zähne deutlich unterscheiden zu können. Es kommt nach Blanchard bei gewissen Vögeln, besonders bei Papageien, ein wirkliches Zahnsystem vor, welches so- wohl durch seine Struktur, wie durch das Eingekeiltsein in die Kiefern die Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 67 gewöhnlichen Charaktere der Zähne er- kennen lässt. Später bedeckt der Kie- ferknochen die Zähne durch fortgesetz- tes Wachsthum, wodurch sie der äusser- lichen Beobachtung entzogen werden. Dr. P. Fraisse nahm nun die Un- tersuchung von Neuem auf, und ge- langte zu dem Resultate, dass zwar Zähne und kleine Alveolen vorhanden sind, dass aber Dentin fehlt. Was Blanchard für solches ansah, sind um- gewandelte Hornzellen, so dass also Cuvier ganz richtig bemerkte, dass die Papillen bei Papageien in spätern Sta- dien von Hoın bedeckt würden. Die Beobachtungen wurden an einem etwa zehn Tage ausgeschlüpften Sperlings- papagei, am Wellensittich und andern Papageien angestellt. Es wird dann weiter die auffallende Thatsache her- vorgehoben, dass Hornzähne bei zwei weit von einander entfernten Ordnungen lebender Vögel, Sumpf- und Kletter- vögeln vorkommen, und dass es sich ähnlich bei den fossilen Ichthyornis, Hes- perornis einerseits und Archaeopteryx an- drerseits verhalte.e. Mit letzterem ist nun in dieser Richtung vor der Hand nicht viel anzufangen, da das zweite gefundene, nunmehr in Berlin befind- liche Exemplar nur zwei sehr kleine Zähne besitzt, bei dem länger bekann- ten, zuerst gefundenen und in London befindlichen, der Kopf ganz fehlt. An- ders ist es mit den Odomtornithen, die ja überhaupt in ihrem gesammten Ske- letbau vogelähnlicher sind, als Archae- opteryx. Hier soll Schmelz auf den Zäh- nen vorhanden sein. Dr. Fraisse hegt nun Zweifel, ob es sich bei den fos- silen amerikanischen Vögeln wirklich um Schmelz handle, ob nicht etwa die Cu- tis-Papillen nur an ihrem äussersten Theil verkalkten und so eine Aehnlich- keit mit Dentin erzeugt werde. Durch ein intensives Wachsthum der Kiefer- rinde könnten denn auch scheinbar Al- veolen entstehen. Da Marsh ausdrück- lich Dentin angiebt, genauere Unter- ‘daran zu knüpfen, suchungen aber nicht vorzuliegen schei- . nen, wären Zweifel gerechtfertigt. Er hofft auf erneute Prüfung und betont vor der Hand, dass »bei den lebenden Vögelarten echte Zähne oder auch nur Zahnanlagen nicht vorkommen, es darum immer leichter möglich wäre, dass fossile Vögel verkalkte Hornzähne besessen hät- ten, als dass wirkliche in Follikeln ge- bildete Zähne in einer Thierklasse vor- kommen sollten, die dieselbe sonst (d. h. heute) nicht besitzt«. Wir haben diese Argumentation wie- dergeben wollen, um die Bemerkung dass Marsh in seiner Monographie über die Odontor- nithensehr genaue mikroskopische Längs- und Querdurchschnitte der Zähne von Hesperornis gegeben hat, und dass aus seinen Untersuchungen hervorgeht, dass diese Zähne sowohl Schmelz- als Dentin- Lagen aufweisen, mit einer Markhöhle versehen waren, und in Form und Er- neuerungsweise auf das genaueste mit den zum Vergleiche abgebildeten Zähnen eines echten Reptils (Mosasaurus) über- einstimmten. Jedenfalls boten sie nicht die geringste Analogie mit den »Horn- zähnen« heute lebender Vögel, und wenn Fraisse’s Beobachtungen über die Em- bryonalzähne der Papageien richtig sind, so wird man wahrscheinlich besser thun, daraus zu schliessen, dass die bei Vögel- embryonen auftretenden Zahnpapillen, eben stark zurückgebildete Anlagen dar- stellen, zu denen sich wohl Parallelen finden liessen. Krankheitsanlage und Immunität vom Darwinistischen Standpunkte. Der französische Arzt und Natur- forscher A. Bordier hat kürzlich in der Pariser Ecole d’Anthropologie einen Cyklus von Vorträgen über pathologische Anthropologie und Geographie der Me- dizin begonnen, welcher sich mehrfach mit Darwinistischen Fragen beschäftigen - 68 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. wird, weshalb wir nach dem Berichte der Revue scientifigque (1881, Nr. 6). einen Auszug aus seiner Einleitung hier mit dem Vorbehalt wiedergeben, auf einzelne Kapitel seiner Ausführungen noch besonders zurückzukommen. Der berühmte französische Physio- loge Claude Bernard hat mit grossem Geschick die Uebereinstimmung der all- gemeinen Lebenserscheinungen bei Pflan- zen und Thieren z. B. diejenige der Verdauungserscheinungen bei den insek- tenfressenden Pflanzen mit denen der Thiere nachgewiesen. Auch die Einwir- kungen vieler Arzneimittel und Gifte sind bei vielen Thieren, ja sogar bei einigen Pflanzen den beim Menschen beobachteten durchaus analog. DasEisen heilt die Chlorose bei den Gewächsen ganz ähnlich wie bei den Thieren; Chloro- form und Aether betäuben auch die Sinnpflanzen und die Insekten zeigen nachden UntersuchungenBaudrimont's ganz ähnliche Berauschungserscheinun- gen wie der Mensch. Nichtsdestoweniger sind die Unterschiede in der Reaktion gegen äussere Einflüsse selbst unter den Rassen derselben Art, z. B. des Men- schen, sehr gross, jede hat, wie man weiss, ihren besonderen Geruch und auch, wie die Anthropophagen versichern, ihren besonderen Geschmack, der Neger soll das schmackhafteste, der Weisse das un- schmackhafteste Fleisch haben. Broca hatte bemerkt, dass auf dem anatomi- schen Theater das Fleisch des Negers weniger schnell in Fäulniss übergeht, als das des Weissen. In jeder Rasse gibt es physische und chemische Ver- schiedenheiten, der Dichte, Temperatur, Durchwässerung der Gewebe u. s. w., welche das darstellen, was Cl. Bernard als »inneres Mittel«< dem äusseren Mittel gegenüber stellte, und was Bordier »Essenz« der Rasse nennt. Es ist sehr klar, dass anatomischen Bedingungen dieser Art die Verschieden- heit der Einwirkung einer und derselben giftigen Substanz auf die einzelnen Rassen oder besonderen Arten zuzuschreiben ist. Man kann hiervon zahlreiche Bei- spiele beibringen: Rana. esculenta und Rana temporaria reagiren gegen ein und dieselbe Dosis Coffein verschieden, und Rana viridis ist weniger als die beiden genannten gegen Veratrin empfänglich. Belladonna ist ohne Wirkung auf ge- wisse Nager; — die Ziegen fressen Ta- bak; — das Morphium ist für das Pferd ein heftiges Erregungsmittel; — die Schnecke bleibt gegen die Wirkung des Digitalin’s unempfindlich. Darwin ver- sichert, dass im Tarentino die Einwoh- ner nur schwarze Schafe halten, weil das Hiypericum crispum, welches dort massenhaft vorkommt, die weissen tödtet. Alle diese Thatsachen verknüpfen sich offenbar nochunbekannten anatomischen Thatsachen. Auf diese Ideenreihe zielte Claude Bernard, indem er schrieb: »Ich habe bei mehreren Hunde- und Pferderassen gänzlich besondere physio- logische Charaktere feststellen können, welche sich auf verschiedene Grade in den Eigenthümlichkeiten gewisser histo- logischer Elemente, besonders des Ner- vensystems beziehen.« Ein Beispiel von dem, was die organische Prädisposition gegenüber der Wirkung von Substanzen thun kann, wird uns durch die Sola- neen geliefert. Die giftigen Solanum- Arten, so genannt, weil sie Vergessen und Trost (Solamen) bringen, wirken nur auf die histologischen Elemente des Gehirns, und haben darum nach der Bemerkung von Professor Bouchardat um so weniger Einfluss auf ein Thier, je weniger Intelligenz dasselbe besitzt. Es sind ebenso uns unbekannte anatomische Eigenthümlichkeiten, die uns die Auswahl verbergen, mit welcher die Krankheiten diese oder jene Rasse zu befallen scheinen. Das bei dem Pferde, dem Esel und dem Menschen so wirksame Rotzgift bringt bei den Hunden oft nur lokale Zufälle hervor. Die an- steckende Lungensucht des Hornviehs, welche manchmal die Viehstände deei- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. mirt, bringt bei Rindern der holländi- schen Rasse viel geringere Verheerungen hervor als bei den anderen. Während das Rind von der Rinderpest bei der geringsten Berührung und fast immer in gefährlicher Weise ergriffen wird, er- fordert das Schaf, um angesteckt zu werden, enges Zusammenwohnen, und oft bleibt die Krankheit bei ihm gut- artig. Die Rinderpest liefert mir über- haupt, eine Gelegenheit, die ich mir nicht entschlüpfen lassen darf, schon heute zu zeigen, wie weit die Feinheit der Rassen-Analyse durch die Pathologie geht. Die Rinderpest ergreift nur Wie- derkäuer: Rinder, Schafe, Ziegen, Ze- bras, Gazellen, Antilopen. Als nun diese Krankheit vor zehn Jahren im Pariser Acclimatisationsgarten wüthete, machte ein einziges, nicht zum Wieder- käuer-Geschlecht gehöriges Thier eine Ausnahme, nämlich ein kleiner, unserem Schwein verwandter Dickhäuter, das Pecari. Kürzlich konstatirte aber Dr. Coudereau durch eine Reihe von anato- mischen Untersuchungen im Magen des Schweins eine rudimentäre Organbildung, welche an die der Wiederkäuer erinnert. Da haben wir also eine Reihe von Dick- häutern, welche sich in den Augen des Anatomen den Wiederkäuern nähern, und welche inden Augen der Pest für Wieder- käuer passiren, man muss annehmen, dass die Gewebe des Pecari für das vermuthete Microbium der Pest, ein ebenso günstiges Medium als die Gewebe der Wiederkäuer darbieten. Diese Krank- heitsauswahl wird also durch die Ana- tomie gerechtfertigt. Die parasitischen Krankheiten bieten häufig Fälle einer ähnlichen Auswahl dar; die Kartoffel- krankheit ergreift die runde gelbe und die rothe Varietät mehr als die violette und jedermann kennt die Widerstands- kraft der amerikanischenWeinrebengegen die Verheerungen der Reblaus. Aber nicht allein die Krankheiten sind verschieden wie die Rassen, auch die Symptome einer und derselben Krank- 69 heit differiren; die durch einen und den- selben Parasiten angegriffenen Gewebe reagiren verschieden. So hat Professor Laboulbene gezeigt, dass durch die- selbe C'ynips-Art auf verschiedenen nahe- stehenden Pflanzen verschiedene Gallen erzeugt werden. @uercus robur, pedun- culata, sessiflora, pubescens bringen in Folge des Stichs derselben Gallwespe, um dieselbe Larve herum, vier absolut unähnliche Gallen hervor. Die Tuber- kulose des Rindes hat eine langsame Form, die des Schweins erinnert an die galoppirende des Menschen. Die ner- vösen Complicationen der Krankheiten sind weniger häufig beiden Wiederkäuern als bei den Pferden und Hunden. Die vergleichende Pathologie zeigt uns end- lich, welche verschiedenartige Formen die Pocken nach den Rassen, welche sie befallen, annehmen. Es reicht hin, die Kuh-, Pferd-, Schaf- und Hunde- Pocken mit den Schweine-, Vögel- und Menschenblattern zu vergleichen. In Summa, es verhält sich, wie Professor de Quatrefages es ausgedrückt hat: »Ob es sich um Thiere oder Pflanzen handle, die Rassen haben ihre patho- logischen Charaktere ebensowohl, wie ihre äusseren und besondern anatomi- schen Charaktere und der Mensch ent- schlüpft diesem Gesetze nicht. In der That finden wir bei dem Menschen Beispiele, die den soeben von den Thieren berichteten ähnlich sind. Alle Aerzte, welche in einem Lande, wo mehrere Rassen neben einander leben, praktizirt haben, wissen, dass jede Rasse ihre eigene Pathologie hat, und ihrer eigenen Therapie bedarf; die Neger er- tragen enorme Dosen von Brechwein- stein, man kann ihnen davon in vier- undzwanzig Stunden ein Gramm geben, ohne dass das bei ihnen mehr wirkte als bei einem Weissen fünf Centigramm. Eine und dieselbe Dosis Alkohol, die man einem Weissen, einem Gelben und einem Schwarzen reicht, werden bei diesen drei Personen weder in demselben 70 Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Zeitpunkte, noch überhaupt denselben Rausch verursachen, da jede der drei Personen einer und derselben Dosis der- selben Substanz ein anatomisch ver- schiedenes Nervensystem entgegenstellt. Die gelbe Rasse erträgt nach der An- gabe von Pallas zum Verwundern dra- stische Abführmittel. Das gelbe Fieber ist ein sehr bekanntes Beispiel einer den Neger allgemein verschonenden Krank- heit. Er besitzt Immunität dafür. Im Gegensatze dazu, neigt er zur Lungen- schwindsucht; dafür hat er Anlage. Die Cholera befällt ihn lieber als den Weissen. Verschiedene Menschen-Rassen, bieten, selbst wenn sie gleichmässig das Wechselfieber zur selben Zeit und im selben Sumpfe acquiriren, jeder einen verschiedenen Fiebertypus dar: der Eine wird z. B. das dreitägige Fieber haben, während bei dem Andern das viertägige auftritt. Ebenso nimmt die Syphilis bei den verschiedenen Rassen verschiedene Formen an. Der Doktor Crevaux hat in Südamerika bemerkt, dass die Läuse des Eingebornen von denen des schwarz- braunen Negers differiren, und dass alle beide von denen des Europäers ver- schieden sind. Darwin hat auf seiner Reise mit dem Beagle dieselbe Bemer- kung gemacht. Wenn man eine grosse Zahl dieser Fälle studirt haben wird, so wird man an die Synthesis gehen können, um sich Rechenschaft zu geben, was die vielgebrauchten Worte Immunität und Anlage bedeuten. Allgemein bekannt geworden ist in neuerer Zeit einer der hierbei thätigen Mechanismen. Die Vögel werden nicht vom Milzbrand befallen. Alle Versuche Pasteur’s, den Milz- brand auf Hühner zu übertragen, miss- glückten. Nun weiss Jedermann, dass die normale Temperatur der Vögel höher ist als die normale Temperatur der Säugethiere, die eine variirt von 40— 44°, die andere von 36—39°. Pasteur frug sich desshalb, ob es, um dem Huhn die Anlage für den Milzbrand mitzu- theilen, vielleicht hinreichen würde, dasselbe abzukühlen; er that dies mit- telst eines verlängerten kalten Bades und das abgekühlte Huhn wurde vom Milzbrand angesteckt. Der Besitz einer gewissen, für das Gedeihen der Milz- brandbakterien erforderlichen Körper- temperatur, das ist also der bestim- mende Grund für die Anlage des Säuge- thiers zum Milzbrand. Umgekehrt ist das Fehlen dieser bestimmten erforder- lichen Temperatur die entscheidende Ursache der natürlichen Immunität der Vögel für den Milzbrand. Endlich weiss man, dassesscheint, alswenndie Mikro- bien, welche die Agentien einer Infek- tionskrankheit sind, wenn sie einmal in dem Blute eines Individuums sich fortgepflanzt haben, sie in diesem Blute etwas für ihre Sippe, welche später in diesem Blute zu keimen versuchen könnte, Schädliches zurückgelassen hät- ten, oder dass sie scheinen, etwas dem Leben jedes ähnlichen Microbium nöthiges und unentbehrliches fortge- nommen zu haben. Welche von beiden Wahrscheinlichkeiten die wahre ist, wissen wir nicht. Ebenso wie ein Glas Zuckerwasser, in welchem bereits Hefe Gährung verursacht und Alkohol er- zeugt hat, unfähig ist, eine zweite Hefe- zufuhr zu ernähren, ebenso ist das ein- mal verunreinigte Blut eines Individu- ums für ähnliche Mikrobien unbewohn- bar geworden. Das Individuum hat die Immunität für die Krankheit, welehe diese Mikrobien repräsentiren und per- sonificiren erworben. Dies ist die ' Theorie der erworbenen Immunität, welcher wir bei der Impfung vertrauen und auf welche die Untersuchungen von Pasteur, Toussaint und Chauveau neuerdings Licht geworfen haben. Die Immunität für gewisse Krankheiten kann einem Individuum ferner vorübergehend durch das Vorhandensein einer damit unverträglichen andern Krankheit mitgetheilt sein. Man hat dies den pathologischen Antagonis- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Fl mus genannt und viel darüber ge- schrieben. Die Krankheiten verändern also das Individuum indem sie ihm gewisse Anlagen oder gewisse Immunitäten ver- leihen; wenn die Immunität vorherrscht, sagt man, dass Jemand sich akklima- tisirt hat, wenn im Gegentheil die krank- hafte Anlage vorherrscht, spricht man von einem Degeneriren. Sich akklima- tisiren heisst seine Organe und Gewebe, seinen Organismus, sein »inneres Mittel« in Bezug auf den physikalisch-chemi- schen Gesichtspunkt langsam in ein gewisses günstiges Verhältniss, in Har- monie mit dem äussern Mittel bringen. Degeneriren heisst seine Organe allmälig in einen Zustand übergehen sehen, welcher in keinem günstigen Verhältniss mit dem äussern Mittel steht. Aber die Wichtigkeit des Individu- ums steht in der Zoologie erst in zweiter Reihe, die Krankheiten modificiren auch die ganze Rasse, und das, was uns ei- gentlich interessirt, sind die Bestän- digkeit, Abnahme und Charakter-Ab- änderungen der Anlage sowohl wie der Immunität, durch die Erblichkeit, den Atavismus, und die Kreuzungen. Wir werden also die Erblichkeit der Krank- heiten zu studiren haben. So giebt ein gegen den Milzbrand geimpftes Schaf, welches diese Krankheit nicht mehr aufnehmen kann, und welches trächtig ist, einem Lamm das Leben, welches bereits gegen den Milzbrand geimpft zur Welt kommt. Die erwor- bene Immunität der Mutter, wird also bei dem Kinde zur natürlichen Im- munität. Ich erwähnte soeben, dass der Neger nur selten, der Weisse im Gegentheil leicht das gelbe Fieber be- kommt, der Mestize und Mulatte nimmt eine Mittelstellung ein; — die natür- liche Immunität ist mithin erblich. Wir werden den Einfluss der Bluts- heirathen zu studiren haben, der Hei- rathen zwischen Geschwisterkindern beim Menschen, und der Inzucht bei den Thieren. Bekanntlich sind die Natur- forscher in zwei Lager getheilt, die einen behaupten, dass die Blutheirath durch sich selbst alle Uebel erzeuge, die andern behaupten, dass sie durch sich selbst das beste Mittel zur Vered- lung einer Rasse sei. Ich hoffe zeigen zu können, dass die Blutheirathen nichts Specielles durch sich selbst hervor- bringen; alles was sie bewirken, ge- schieht durch Erblichkeit, und zwar durch Erblichkeit in ihrer höchsten Machtvollkommenheit, wie man mit Recht sie genannt hat. An den Schluss dieser Lektionen gelangt, wird es uns schwer sein, die Veränderlichkeit der Arten durch pathologische Einflüsse zu läug- nen. Wir werden durch die Vererbung dem Kinde zu Recht die Anlagen und Immunitäten übergeben sehen, welche die Mutter erworben hat. Wir werden die Erblichkeit den Kindern als phy- siologischen Charakter dasjenige über- tragen sehen, was bei dem Vater eine pathologische Wirkung war. (Hunde- rassen mit fünf Zehen, sechsfingrige Menschenfamilien, hornlose Wieder- käuer.) Man wird darnach unsre Art über das Dogma von der Art zu den- ken und die durch die medizinische Geographie gelieferten Thatsachen als einen Beitrag zur Umwandlungstheorie bezeichnen müssen. Litteratur und Kritik. Grundlegung der Ethik vonB. Car- neri. 80.457 8. Wien, Brau- müller 1881. Wenn man den tiefern Ursachen jenes in einzelnen Individuen bis zur Angst gesteigerten Misstrauens nach- spürt, mit welchem die Gebildeten zum Theil heute noch der einheitlichen, auf dem festen Fundamente der Entwicke- lungslehre sich aufbauenden Weltan- schauung gegenüberstehen, so wird man finden, dass sie sich meist in der Be- fürchtung einer vollständigen Unter- grabung der »sittlichen Weltordnung« zusammenfassen lässt. Diese Befürch- tung wurzelt ihrerseits in dem Wahne, dass die Sittlichkeit mit der von den verschiedenen Religionssekten gepredig- ten Moral identisch sei, dass sie nicht das Produkt einer ebenso natürlichen Entwickelung, wie das Leben selbst sein könne, sondern dem Menschen aus einer übersinnlichen Welt als Richtschnur mit auf den Weg gegeben sei. Die Philo- sophie hat diesen Irrthum längst wider- legt, sie hat den Ursprung der Sittlich- keit in einem verfeinerten Egoismus nachgewiesen, der anfangs ein blosses Gegenseitigkeits-Verträgniss, durch die Steigerung der Vernunft aber den Re- gionen des dumpfen Gefühls entrissen, nun zu einem beseligenden Momente im Denken und Thun gebildeter und veredelter Menschen wird. Schon in dem Gesagten erkennen wir das Ent- wickelungsverhältniss, welches auch hin- sichtlich der Ethik existirt, sie ist ein Gewordenes, wie alles in der Welt, und wenn wir von einer neuen »Grundle- gung der Ethik« hören, so handelt es sich damit zugleich um eine Fortbildung und Veredlung der ethischen Gesichts- punkte und dies — es ist kaum glaub- lich! — aufGrundder Entwickelungslehre. Der Verfasser ist den Lesern unseres Journals kein Unbekannter. Wie kein Zweiter hat er sich um die Zerstö- rung des im Eingange erwähnten Vor- urtheils gegen den Darwinismus ver- dient gemacht, seine Schriften »Sitt- lichkeit und Darwinismus« (1871), »Ge- fühl, Bewusstsein, Wille« (1876), »der Mensch als Selbstzweck« (1877) be- schäftigten sich alle mehr oder minder unmittelbar mit dem Problem, auch den sittlichen Menschen als ein im Kampfe ums Dasein geläutertes Natur- produkt, die sittliche Welt als eine Fortsetzung und Verfeinerung der Welt des Kampfes roher Naturgewalten una nur dem unmittelbaren Triebe gehor- chender Lebewesen darzustellen. Das vorliegende Buch geht sowohl gründ- licher als systematischer ale die bis- Litteratur und Kritik. 13 herigen Versuche, demselben Ziele nach. In den drei Kapiteln des ersten Buches: »das Leben, die Seele, der Mensch« betitelt, empfangen wir ein Bild des Weltganzen, wie es sich nach ein- heitlichen Prinzipien in der Zeit ent- wickelt hat, reich an feinen Bemerkun- gen und kritischen Gängen. Das dritte Kapitel hätte systematischer das » Selbst- bewusstsein« überschrieben werden müs- sen, denn dies ist die neue Fähigkeit des Menschen, mit welcher das Gebiet der Ethik anhebt. Sehr schön sagt der Verfasser hierüber: »das Böse hat so wenig als das Gute in der Natur seinen Grund. Es ist daher ebenso ungereimt, vom Menschen zu sagen, er könne Tugend lernen von der Natur, als wenn behauptet wird, der mensch- liche Geist trage den Begriff des Guten von Haus aus in sich. Die Natur kennt kein Gutes, weil sie den Widerspruch, aus dem das Böse sich ergiebt, nicht kennt. Die Natur kennt überhaupt keinen Widerspruch. Der Mensch ist es, der in sie die Widersprüche hinein- lest, die der erste Widerspruch auf Er- den, das Selbstbewusstsein in seiner Brust wachgerufen hat. Es liegt ein schönes Stück altegyptischer Weisheit in:der Genesis, die in der beginnen- den Erkenntniss den Anbruch des Bösen erblickt. Bis dahin war der Mensch ein argloses Thier, und was den Sünden- fall darstellt, ist die eigentliche Mensch- werdung. Das erwachende Selbstbewusst- sein war, dualistisch aufgefasst, einBruch mit der Natur und der Mensch fühlt sich von ihr abgetrennt. Der Riss war nur für ihn da, aber für ihn war er vollständig. So plötzlich, wie es die Genesis lehrt, war er nicht entstanden, wie auch die Schöpfungstage nicht wörtlich zu neh- men sind; aber mit der Vollendung des Selbstbewusstseins war der Riss eine Thatsache, und mit dem Gefühl grenzen- loser Vereinsamung, das damit den Men- schen überkam, hat seine ethische Entwickelung. begonnen.« Das zweite wiederum in drei Kapi- tel (Denkgesetze — Leidenschaften — Wille und Verstand) getheilte Buch, wel- ches der Widerstreit überschrieben ist, schildert den gedachten Widerspruch im selbstbewussten Menschen näher, der Verstand zeigt sich ohnmächtig gegen die Leidenschaften, die Freiheit des Wil- lens verflüchtigt sich vor der durch Bil- dung und Charakter gebundenen Noth- wendigkeit des Handelns, ja der Wille selbst, auf welchen Schopenhauer eine Welt bauen wollte, entpuppt sich als ein den Widerspruch lösendes Miss- verständniss. »Wie in der Natur alles mit Nothwendigkeit geschieht, so thut auch der Mensch alles mit Nothwendig- keit. Was er will, muss er wollen, denn er kann nur wollen, in Gemäss- heit seiner Vorstellungen und Begriffe. Wenn er meint, seinem Willen entgegen- zuhandeln, so ist es doch nur ein mäch- tigerer Trieb, der einen schwächeren Trieb überwindet, und den Willen be- stimmt. Immer wird es sein Glück sein, das er will und sucht, sei es, dass er den Genuss findet in eirer Schwäche oder in einer Kraft, in einer Wonne, oder in einem Schmerz. Der Selbst- quäler findet ein Vergnügen an der Grau- samkeit, mit der er sich misshandelt, gelinder gesagt: seine quälenden Ge- danken sind ihm lieber als die An- strengung, sich ihnen zu entreissen.« In einem allgemeinen Streben nach Glückseligkeit sucht also Carneri die Triebfeder aller Handlungen des Menschen und es ist dies wohl ziemlich dasselbe, was Spinoza Egoismus nannte; allein man muss hier den unbedingt zu seinem Ziele führenden, von dem irre- geleiteten Glückseligkeitstriebe unter- scheiden. Mit schöner dichterischer Be- redtsamkeit schildert uns der Verfasser den irregeleiteten Glückseligkeitstrieb des Märtyrers, des unglücklich Lieben- den, des Geizigen und Ehrsüchtigen. Worauf es daher allein ankommt, ist, dass der Glückseligkeitstrieb ein wohl- 74 Litteratur und Kritik. verstandener sei. sprechen alle Abwege zu Gunsten des rechten Weges: auf jedem Abwege be- gegnen wir früher oder später der ver- derblichen Unlust, während auf dem rechten Wege die Lust immer mit uns ist, und zwar wie Spinoza sagt, als »Uebergang des Menschen von geringerer zu grösserer Vollkom- menheit«. DerEin Mal vom Gefühl ge- kostet hat, vollkommnung verbunden ist, der folgt dieser Richtung bis zum letzten Athemzuge.« Damit sind wir schon zum dritten Buche, die »Versöhnung«, gelangt, des- sen drei Kapitel die Ueberschriften »die Vernunft, das Ideal, das Mögliche« tragen, und in welchem der Verfasser in ähnlicher Weise wie Höffding (vgl. Kosmos, Bd. VII, S. 159) in der Ver- nunft das regulirende Prinzip in dem allgemeinen »Kampf um das Glück« findet. Wenn hier die Ansichten der englischen vom Gesellschaftswohl aus- gehenden Ethiker verworfen werden, so muss, dünkt uns, dabei unterschieden werden, die Entstehung und die Be- gründung ethischer Grundsätze. Denn die gegenseitige vom Wohlwollen und Altruismus getragene Beschränkung des Egoismus, war unzweifelhaft das mäch- tigste Moment zur Verfeinerung dessel- ben, und diese Verfeinerung führt erst zu einer tieferen Begründung, wie wir sie in dem Werke Carneri’s finden. Darin löst sich zugleich der Widerspruch der Meinungen über die Grundlagen der Ethik, und der Darwinismus, der sie untergraben sollte, führt sie vielmehr zu höheren Idealen, als sie bisher kannte. Man muss das Buch selber lesen, um zu erfahren, wie tief und klar, warm und schwungvoll, hinreissend und zün- dend es geschrieben ist. Der Denker kann den Poeten nicht verläugnen, aber er lässt sich niemals von ihm aus den Grenzen der strengsten Logik hinaus- führen. Ueberaus wohlthuend ist die »Glücklicherweise das mit der Selbstver- | Milde der reichlich, aber fast nur dem aufmerksamen Leser bemerkbar geübten Polemik, die oft scharf genug, aber nie verletzend auftritt. Wie prächtig wird Du Bois-Reymond abgeführt, wenn es heisst: »Wir halten das (Bekenntniss, dass man niemals alles wissen wird) für bescheiden, und eine weitergehende Be- scheidenheit nicht für angemessen, weil die Bescheidenheit, welche über die Wahrheit hinausgeht, nur zu leicht der Heuchelei verfällt. Jetzt schon bestim- men zu wollen, was wir nie wissen werden, wäre das andere Extrem und, nach der bekannten Unart der sich be- rührenden Extreme, eine Unbescheiden- heit.« Ebenso treffend heisst es von dem Verhältniss des Materialismus zum Spiritualismus: >»der Materialismus unserer Zeit hat darum so viel Bedeu- tung, weil unsere Spiritualisten, zu- mal die religiösen, die ärgsten Materia- listen sind; sie wollen einen Geist, den sie mit Händen greifen können, und ernten, wo der Materialismus sät.« Viel- leicht dasjenige, was den darwinistischen Leser am meisten anziehen wird an dem Buche, dürfte sein, dass er eine Menge Gedanken, die ihm selbst längst dunkel vorschwebten, in demselben entwickelt, ausgearbeitet, und in gewinnende Form gebracht findet; der Verleger hat dazu das seinige gethan, und dem Buche auch ein schönes Aussehen verschafft. K. Il materialismo nella scienza. Dis- corso pronunciato nella grande aula della Regia Universitä di Genova per la solenne inaugurazione dell’ anno acca- demico 1350—81 da Federico Del- pino professore ordinario di botanica. Genova Pietro Martini. Die dualistischen Grundanschau- ungen Delpino’s treten zwar in seinen zahlreichen botanischen Schriften überall zu Tage, aber meist verdunkelt durch zahlreiche Stellen, denen man es nicht ansehen kann, ob sie wörtlich oder bild- Litteratur und Kritik. lich gemeint sind. Wir erinnern uns hierbei z. B. ‘an den von ihm mit be- sonderem Nachdruck betonten Satz: »In der Natur ist der Gedanke ein einziger, die Ausführung eine vielfältige « und an seine ungemein häufig sich wie- derholende Ausdrucksweise, dass gewisse Insekten für gewisse Blumen, gewisse Blumen für gewisse Insekten vorher be- stimmt (predestinati) seien, und fragen den unbefangenen Leser, ob er derartige Aussprüche im Munde eines Forschers, der ein menschlich denkendes Wesen als Schöpfer der organischen Natur an- nimmt, anders als wörtlich nehmen würde. Delpino selbst aber hat gegen eine wört- liche Auffassung seiner derartigen Aus- drücke nachdrücklich protestirt und da- mit über seine eigentliche Naturauffas- sungeine Dunkelheit verbreitet, diegegen die in seinen Schriften niedergelegten klaren und scharfsinnigen biologischen Beobachtungen und Schlussfolgerungen einen peinlichen Gegensatz bildet und eine Aufklärung über des Verfassers eigentliche Meinungdringend wünschens- werth macht. In der vorliegenden Rede verkündet nun Delpino, indem er die monistische (für ihn gleichbedeutend mit materia- listischer oder atomistischer) Weltan- schauung als in wissenschaftlicher, mo- ralischer und ästhetischer Beziehung höchst verwerflich hinstellt, ein eigenes »vitalistisches« Glaubensbekenntniss, das sich kurz in folgenden Sätzen zusam- menfassen lässt: In der unorganischen Welt gilt das Princip der Erhaltung der Kraft, gilt das Walten unabänderlichen ursächlichen Zusammenhanges, existirt kein Gott. Die lebende Welt dagegen ist von der unorganischen durch eine unausfüllbare Kluft getrennt; in ihr waltet Empfindung, Verstand und Wille; in ihr waltet Gott, das universelle Sensorium, der höchste Verstand, der allmächtige Wille, der erste Anreger der Bewegungen des Stoffes, der Urheber des Lebens. Alles Lebende 75 ist wesensgleich; denn vom Menschen führen uns Abstufungen bis zu den Amöben, und die Pflanzen, auch die höchsten, sind nichts anderes als Staaten eingekapselter Amöben. Wie der Mensch müssen also alle Lebewesen Empfindung, Verstand und Willen besitzen, wofern man unter Verstand nicht den eines besonderen, hoch organisirten Thieres, sondern nur Wahrnehmung der eigenen Bedürfnisse versteht. Die Darwinische Theorie hat vollständig recht, indem sie - Variabilität der Organismen und Ent- wickelung derselben durch Naturauslese behauptet. Aber neben den zufälligen Abänderungen, die sie allein annimmt, haben in grosser Zahl nicht zufällige sondern vernünftige, d. h. aus der Ein- sicht und dem Willen der Organismen selbst hervorgegangene Abänderungen stattgefunden, von denen Naturauslese die lebenstüchtigsten erhalten hat. Diese allein machen die Ausprägung so compli- cirter Apparate wie das Auge, das Ohr, viele Blumeneinrichtungen u. s. w. erklär- lich. Und der Wille der Lebewesen ist keinem Causalnexus unterworfen, son- dern absolut frei. Dies Delpino’s Weltanschauung, in der, wie man sieht, so entgegengesetzte, Prineipien wie Darwinismus und Teleo- logie, unabänderliche Naturnothwendig- keit und absolute Willkür, Atheismus und Kirchenglaube auf das friedlichste neben einander wohnen können, die uns aber über einige Fragen, die uns neben- beidochauchein wenig interessiren, leider keinerlei Auskunft ertheilt. Wie ist es denkbar, dass der Lebensschöpfer und dass die Lebewesen als reines Empfinden, Denken und Wollen auf den vom Em- pfinden, Denken und Wollen durch eine unausfüllbare Kluft getrennten Stoff überhaupt einwirken können? Wie ist es möglich, dass derselbe Stoff gleich- zeitig unabänderlicher Naturnothwendig- keit und absoluter Willkür folgt? Wie können Lebewesen gleichzeitig 1) aus natürlichen Ursachen, 2) aus eigener 76 b Litteratur und Kritik. Einsicht und eigenem freien Willen, 3) aus Veranlassung des höchsten Ver- standes und des allmächtigen Willens variiren? Wenn das Auge aus Einsicht und Willkür varlirt, sind es dann die einzelnen Amöben, oder ist es der Amö- bencomplex des Auges oder das ganze Lebewesen, oder ist es der Lebens- schöpfer selbst, der Einsicht und Will- kür bethätigt? Oder sind es alle vier in Compagnie und vielleicht ausserdem noch »zufällige«, d. h. natürliche Ur- sachen ? Wenn die Organismen aus natür- lichen Ursachen variiren und durch Naturauslese der passendsten Lebens- formen sich den veränderten Lebens- bedingungen entsprechend weiter ent- wickeln können, was bedarf es dann noch der durch nichts begründeten An- nahme, dass sie ausserdem auch noch nach eigenerEinsicht willkürlich variiren ? Oder folgt etwa aus der Einsicht und dem Willen des Menschen, dass er nach seiner besten Einsicht willkürlich zu variiren vermag? Wenn aber Gott den Lebewesen, trotzdem dass sie schon aus natürlichen Ursachen ihren Lebensbe- dingungen angepasst werden, zum Ueber- .Huss auch noch die Fähigkeit verliehen hat, aus eigener Vernunft und Kraft ihren Bedürfnissen entsprechend will- kürlich zu variiren, was bleibt ihm dann selbst nach gethaner Schöpfung in der organischen Natur noch zu thun übrig? Warum setzt er sich nach Erschaffung des Lebens nicht auch in Bezug auf die organische Welt in Ruhe, da er sich doch, nach Delpino, in der unorga- nischen Welt mit der Anregung der Bewegungen des Stoffes begnügt hat? Wenn ferner Gott in Bezug auf die unorganische Welt nicht der Schöpfer sondern nur der Aufzieher des grossen Uhrwerks (l’iniziatore dei movimenti nella materia) gewesen ist, hat dann nicht das Uhrwerk, .ehe es von ihm auf- gezogen wurde, schon bestanden, ohne zu gehen? Alle diese fundamentalen Wider- sprüche, die sich ins Unendliche steigern, sobald man Delpino’s Gedanken weiter in ihren Consequenzen verfolgt, lässt. der- selbe vollständig unberührt. Die oben gerügte Unklarheit seiner Ausdrucks- weise, die so oft seinen trefflichsten Erörterungen sich störend beimischt, wird durch sein hier verkündetes Glau- bensbekenntniss in keiner Weise auf- - gehellt. Als Grund aber, weshalb der sonst so klar denkende Forscher an den ersten Principienfragen mit geschlossenen Augen vorbei geht, können wir nur seine absolute Befangenheitin der am Schlusse seiner Rede mit Emphase verkündeten obwohl durch nichts begründeten An- sicht vermuthen, dass die monistische Weltanschauung mit Nothwendigkeitzum Atheismus, Egoismus, Socialismus und Nihilismus, zum Leugnen der Pflichten und Rechte führe. Lippstadt. Hermann Müller. Opfersteine Deutschlands. Eine geologisch - ethnographische Unter- suchung von Dr. H. Gruner, Lehrer der Mineralogie und Geologie in Proskau. Mit eingedruckten Holz- schnitten und vier Steintafeln. 8°. 63:8. Leipzig, :1881.r; Duncker und Humblot. Wohl jedermann sind die mulden- und schalenförmigen Vertiefungen an der Oberfläche von erratischen Blöcken sowohl wie anstehenden Gesteinsmassen bekannt, die in der Regel als Opfer- schüsseln gedeutet werden, die von vorzeitlichen Völkern zum Auffangen des Blutes thierischer oder menschlicher Opfer ausgehöhlt sein sollen, aber auch zahlreichen Sagen von Fuss-, Schulter- und Gesässeindrücken übermenschlicher Wesen ihren Ursprung gegeben haben. Man nennt sie bei uns Näpfchensteine, Opfersteine, Druidensteine, Teufels- altäre, Teufelssitze und Rasirschüsseln, Hexenkessel und Waschschüsseln, im Litteratur und Kritik. 77 Norden Elfen- oder Baldersteine, in Frankreich Pierres ä& &@cuelles, in England ceupstones, in Indien Maha- deos. Fast überall knüpfen sich die Sagen uralter Kulte an sie, und fast nirgends zweifelt man daran, dass diese Aushöhlungen künstlich hervorge- bracht seien. Sie haben meist einen Durchmesser von 5—30 cm, aber auch von einem Meter und darüber, und sind am auffallendsten an schwer- verwitterbaren Gesteinen, wie Graniten und Porphyren, wahrscheinlich weil leichter verwitterbare Gesteine besondere Öberflächenbildungen überhaupt nicht lange bewahren. In manchen Gegenden sind sie besonders häufig, so z. B. im Fichtelgebirge, wo sich ein erheblicher Sagenkreis um sie gebildet hat, so dass einzelne Ethnologen und Kulturge- schichtsforscher, wie z. B. L. Zapf, Scherber und in neuerer Zeit W. Scherer (1874), dieses Gebirge ge- radezu als einen Mittelpunkt desWuotan- und Hrödo-Dienstes angesehen haben. Selbst ein so ausgezeichneter Gesteins- forscher und Beobachter wie Goldfuss äusserte den zahlreichen Schalen und Becken des Fichtelgebirges gegenüber: »Ihrer Regelmässigkeit wegen können sie nicht leicht für ein blosses Natur- spiel angesehen werden und ebenso wenig möchte Jemand zum blossen Zeitvertreib den harten Granit auf diese Weise bearbeitet haben. Wahrschein- lich haben daher diese Felsen in der Vorzeit zu einem gottesdienstlichen Ge- brauch gedient.« Der Verfasser des vorliegenden Buches hat nun ausser mannichfachen ähnlichen Aushöhlungen an erratischen Blöcken eine Anzahl dieser Vorkommnisse im Fichtelgebirge eingehend untersucht und ist zu einer Deutung derselben gekom- men, die sich näher derjenigen von Malm und der schwedischen Natur- forscher überhaupt anschliesst, welche diese Oberflächen-Aushöhlungen für na- türliche Bildungen ansehen. Zur bessern Örientirung wollen wir zunächst seine Beschreibung einiger der merkwürdigsten sogenannten Opferstätten wiedergeben: »Betrachten wir zuerst den Nusshardt- rücken, -auch Nusser oder Mittelstein genannt, an der Südseite des Schnee- bergs gelegen. Gewaltige Granittafel- stücke liegen hier in wilder Unordnung übereinander gestürzt umher; man er- blickt sie in den seltsamsten, gleichsam kühnsten Stellungen, so dass man jeden Augenblick ihren Fall erwarten sollte. Auf der etwas über 10 Meter hohen, nur durch eine Leiter erreichbaren höchsten Platte sind neun muldenförmig ausge- grabene Vertiefungen von verschiedener Gestalt. Dies ist, wie Zapf (Die alt- germanischen Opferaltäre und Richter- sitze im Fichtelgebirge) sagt, das »wich- tige von der Nachwelt unberührte Denk- mal heidnischen Götterdienstes..... .« Auch nach Scherer (Ueber die religiöse und ethnographische Bedeutsamkeit des Centralstockes desFichtelgebirges. Sulz- bach 1874) soll dies »die Hauptstätte der Qualen, der Tödtung und Opferung der Gefangenen gewesen sein«. Dem nur durch besondere Hilfs- mittel zugänglichen Nusshardt zeigt sich in seiner Art ebenbürtig der sogenannte Druidenfelsen auf dem 863 Meter hohen Rudolphstein oder Rollenstein, so be- nannt nach der 857 vom Pfalzgrafen Rudolph hier erbauten und 1412 von der Stadt Eger zerstörten Burg. Hier ragt eine Anzahl höchst merkwürdiger Felsmassen bis über 30 Meter hoch und aus DO einzelnen, 0,5 bis 1 Meter dicken Granitbänken bestehend, empor. Der >Druidenstein« liegt am weitesten ost- wärts. Der Aufstieg wird in etwas durch in das Gestein gehauene Stufen erleichtert; er mag aber nur von ganz schwindelfreien Personen unternommen werden, weil der Rückweg sehr gefahr- bringend ist. Nicht fünf, wie Kadner angibt, sondern zwanzig vortrefflich erhaltene »Wannen und Richtersitze« befinden sich theils auf der obersten 78 Litteratur und Kritik. Platte, theils an vorspringenden, niedriger gelegenen Punkten. Scherer müsste demnach beigestimmt werden, wenn er im »Vichtelberge« eine Hauptkultus- stätte zur Blüthezeit des deutschen Heidenthums erblickt, wenn er hier sogar das ehemalige Centralheiligthum der Sueven vermuthet, welches Tacitus in Öapitel 37 seiner Germania so erhaben beschreibt. Zu grossen Massenopfern, wie sie die Sueven dem Tiu, Eru, Eor oder blutigem Zio, auch Hrödo genannt, dargebracht haben, und bei denen, wenn sie vom Kampfe heimkehrten, Hunderte von Menschen verbluteten, müssen begreiflich auch besondere Altäre vorhanden gewesen sein, und es könnte der Rudolphstein, den Scherer Rudo- (Hrödo-) Stein nennt, wohl als Mittel- punkt derartiger Ceremonien geeignet erscheinen. Aber dennoch findet es der Verf. mit Recht unwahrscheinlich, dass die Priester auf der Nordseite des Felsens in schwindelnder Höhe, dicht am Rande des Abgrunds, staffelförmig hinter ein- ander in den sogenannten »Richtersitzen « gesessen haben sollten, um die zu ihren Füssen in den sogenannten Wannen liegenden Opfer zu schlachten. Ferner darf nicht übersehen werden, dass nicht nur an dieser, trotz neuerdings ange- brachter Stufen, schwer zugänglichen Gipfelplatte, sondern auch rings umher an den verschiedensten Punkten der beinahe senkrechten Felswände ähnliche vollkommen unzugängliche Aus- höhlungen sich finden, wo nie eines Menschen Fuss hingekommen ist oder seine Hand gearbeitet haben kann. Aehnliche »Richtersitze und Opferschüs- seln« zeigt der herrlich gelegene, mit den Resten einer Burg derer von Sparneck gekrönte Waldstein, und hier bezeichnet man an den jähen Felswänden sich findende Aushöhlungen als »Treppen- stufen« zur Ersteigung der obersten Platte, welche indessen keine Schüsseln besitzt. Aehnliche nur mittelst Leitern und durch enge Felsklüfte zugängliche Schüsseln besitzen die Riesenpyramiden des Haberstein und Burgstein, sowie der sogenannte Brand, alle in der Nähe - der durch ihre pittoreske Umgebung bekannten Luisenburg unweit Wunsiedel. Die Wahl so schwer zugänglicher Orte, die man heute kaum in eigener Person und mit allerlei künstlichen Hilfsmitteln, geschweige mit widerstrebenden Opfer- gefangenen erreichen kann, hat man mit der Bedrängniss des heidnischen Dienstes durch das aufstrebende Chri- stenthum oder besser durch eine be- sondere Vorliebe für so erhabene Opfer- plätze erklärt, und bei einzelnen dieser Opferbecken glaubt man sogar die Rinnen nachweisen zu können, durch welche das Opferblut hinabfloss. Solche Rinnen nahm aber der Verfasser nur bei fünf der zahlreichen von ihm unter- suchten und abgebildeten Opferbecken des Fichtelgebirges wahr. Er verweist nun zunächst auf die Unregelmässigkeiten sowohl im Umriss als in der Modellirung der einzelnen Vertiefungen hin. Wir entlehnen seinem Buche die hier folgenden Querschnitte einer Anzahl solcher Vertiefungen, die alle in gleichem Verhältnisse gezeichnet sind, und von denen 1, 2, 6 dem »Brand« bei der Luisenburg, 3, 10, 11 dem be- nachbarten Girgelstein, Haberstein und Burgstein, 4 und 7 dem Rudolphstein, 5 und 8 dem Nusshardt und 9 dem Waldstein angehören. Ebenso ist in kei- nem dieser Fälle eine verständliche Grup- pirung dieser Aushöhlungen, z. B. bei den neun nebeneinander befindlichen Ver- tiefungen der Nusshardtplatte, erkenn- bar. Kurz der Verfasser verwirft die Hypothese, dass es sich hier bei den zahlreichen Schüsseln und Becken des Fichtelgebirges, um künstliche Aushöh- lungen für Cultuszwecke handele, ganz und gar, und erklärt sie für Erzeug- nisse der Natur, die theils durch Ver- witterung, theils durch fliessendes Was- ser hervorgebracht worden seien. Litteratur und Kritik. 79 »Durch die bei der Verwitterung thätigen Kräfte«, sagt der Verfasser, wurden die phantastisch übereinander- gestürzten, gewaltigen Felstrümmer, die wild aufgethürmten, ruinenartigen Fels- burgen, die Felsenmeere, Felsenlabyrinthe oder Teufelsmühlen, die wir so schön an der Luisenburg, der Platte, der Kös- sein zu bewundern Gelegenheit haben, und die alles ähnliche weit übertreffen, herbeigeführt. Nur die säculare Ver- witterung rief jene quader- oder pfeiler- förmigen, parallelepipedischen oder regel- los polyedrischen, plattenförmigen, kug- ligen, schaligen, flachgewölbt kuppel-, säulen-, matratzen-, oder wollsackähn- lichen, grossen Linsen vergleichbaren Formen hervor. Sie sind nicht die Fol- gen von Zerberstungen, welche bei der Erstarrung der Granitkuppen eintraten, noch von vulkanischen Explosionen und Erdbeben, auch nicht von Glacialwir- kungen, denn man begegnet hier, wie auch im Riesengebirge, im Harz und Thüringer Walde weder erratischen Blöcken, noch Moränen, Glacialschutt- massen oder Gletscherschliffen. - Nicht eine Thatsache spricht zu Gunsten ge- waltsamer Katastrophen. Die Frage, ob solche Verwitterungsprocesse Becken hervorbringen können, muss dahin be- antwortet werden, dass dies allerdings unter gewissen Umständen möglich ist. Wie oben erwähnt, besitzt der Granit im Fichtelgebirge vielfach eine schalige Struktur, welche dann erst schön her- vortritt, wenn er der Verwitterung an- heimfällt. Den kuglig schaligen und gewölbartigen Absonderungen begegnen wir unter andern an der Kössein und am Girgelstein. Würde man die ein- zelnen krummschaligen Gesteinsbänke von der Kössein z. B. abheben, so hätte man eine grosse Anzahl vortrefflicher ÖOpferwannen, und zwar in allen mög- lichen Grössenverhältnissen. Solcher Na- tur ist z. B. das grosse Becken im Bischofsgrüner Revier (Fig. 2), welches nur durch Verwitterung und eigenthüm- liche Struktur entstand; es ist kein sogenannter Findling, sondern anstehen- der Granit, und bei Nachforschungen würden ähnliche Bänke gefunden werden. Scharfe Kanten und Ecken scheinen durch nachfolgende Bearbeitung erzeugt zu sein, die sogenannte Ablaufsrinne ist nicht, wie man glaubt, eingemeisselt, sondern ein einfacher Sprung. Die meisten Becken des Fichtelge- birges sind aber ausschliesslich von der mechanischen und chemischen Einwir- kung lange auf einen Fleck treffender 80 Tropfen oder Wasserstrahlen, die von Platte zu Platte fielen, abzuleiten, und zwar sowohl die kleinen rundlichen »Tritte«, als die tieferen mulden-, kessel- oder bassinförmigen Aushöhlungen und die »Richtersitze«. Fallende Tropfen höhlen eben bei jahrelanger Einwirkung auch den Granit, wie wir ja bei den Häusertraufen sehen können, und dies wird um so schneller geschehen, je be- deutender die Fallhöhe des Tropfens IA EN = \ Ta AN \ N RN Zi Ru Ns [ELAL N oder die Traufsteine selbst herabgleiten, wird die Erscheinung auffallend, weil man sie nicht mehr in Verbindung mit dem erzeugenden Processe sieht. Am unmittelbar verständlichsten ist die Erscheinung bei den sogenannten »Tritten«, die wie oben erwähnt, nach der gemeinen Sage, zur Ersteigung der Felsgipfel gedient haben sollen. Man begegnet ihnen entweder an der Basis oder in etwas höherem Niveau mehrerer steiler Felswände, und ihre Formen und Litteratur und Kritik. oder Strahles ist, je geschützter und windstiller der Ort ist, wo die Einwir- kung vor sich geht. Darum werden in Gesteinsspalten herabfallende Wasser- strahlen die schärfsten und tiefsten Becken ausmeisseln. Erst dadurch, dass diese Traufsteine später durch ander- weitige Vorgänge aus dem Bereiche der Traufe kommen, indem diese entweder durch Herabwitterung des gesammten höhergelegenen Theiles ganz aufhört, Dimensionen zeigen grosse Mannigfaltig- keit. Geschaffen wurden sie durch das Spiel des von Felsabsatz zu Absatz auf- schlagenden, zum schwachen Strahle ver- stärkten Wassers; es hiesse die Augen freiwillig besserer Erkenntniss verschlies- sen, wollte man ihnen eine andere Er- klärung unterlegen. Damit hängt die besonders häufige lemniskatenförmige, der Zahl 8 gleichende Figur dieser Traufeindrücke zusammen, indem der herabkommende Wasserstrahl je nach der Menge des zufliessenden Wassers senkrecht oder im Bogen fällt, und die Platte darnach an zwei benachbarte» Stellen abwechselnd trifft. Als Beispiel Litteratur und Kritik. 81 mag ein solcher im Querschnitt und in der Ansicht dargestellter Eindruck am »Thurm« des Waldsteins (Fig. 3, 4) dienen, wobei die Buchstaben sich in beiden Figuren entsprechen. Diese lem- niskatenförmigen Eindrücke gaben dann Anlass zu den weitverbreiteten Sagen AT IK [ N ——< \ NN AN EAN N N S | ) ITRI SS NETT AN NSS stein auf Stubbenkammer, wo man den verrätherischen Kinderfusseindruck ne- ben der Fussspur seiner priesterliche Mutter erblickt. Andere Entstehungsfälle solcher Becken sind die im zerklüfteten Ge- steine mit härterer Unterlage, oder die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). über Fusseindrücke von Riesen und übermenschlichen Wesen. Mitunter ver- ändert sich die Traufstelle ein wenig, dann entstehen mehrere solcher Ein- drücke nebeneinander und geben dann zu derartigen Sagen Anlass, wie die von Kosegarten besungene vom Wunna- unter verlängerten Moostraufen, durch welche einfache, flache, muldenförmige Becken erzeugt werden, wie der Ver- fasser an einem besonders augenfälligen Beispiele von der Westseite des kleinen Habersteins (Fig. 5), bei welchem die Bildung fortdauert, nachweist. In ähn- 6 82 Litteratur und Kritik. licher Weise (vergl. auch Fig.6)lassensich die meisten Vorkommnisse ungezwungen genug erklären, und das mit zahlreichen Textabbildungen und vier Steindruck- tafeln erläuterte Werk dürfte bei jedem ruhig prüfenden Beobachter die Ueber- zeugung zurücklassen, dass die soge- nannten Opfersteine in der Mehrzahl der Fälle nicht Zeugen eines blutigen Cultus, sondern der stillen Arbeit des Wassers in der grossen Naturwerkstatt zuzuschreiben sind. Wir empfehlen die sehr klar geschriebene und auf sorg- fältigstem Studium beruhende Arbeit gleichmässig der Aufmerksamkeit der Gesteinsforscher, wie der Ethnologen. Untersuchungen über Diatomeen. Insbesondere über ihre Bewegungen und ihre vegetative Fortpflanzung. Von Ernst Hallier. Mit 2 Tafeln in Farbendruck. 12°. 328. Gera-Unterm- haus, 1880. Fr. Eugen Köhler. Aus ihren Untersuchungen über Bau und Entwickelung der Diatomeen glaub- ten bekanntlich Pfitzer und andere Botaniker schliessen zu können, dass diese sich wie gewöhnliche Zellen durch Halbirung vermehrenden einzelligen We- sen, in Folge der Starrheit ihres Kiesel- panzers einer beständigen Verkleinerung im Laufe der Generationen unterlägen, indem die ursprüngliche Panzerhälfte über die nachwachsende jüngere stets wie der Deckel einer Schachtel über- greife, so dass diese fortlaufend kleiner ausfallen müsse. Dadurch müsste natür- lich die Durchschnittsgrösse der Art nach Verlauf einer Reihe von Generatio- nen zu einem Minimum der Artgrösse hinabsinken, und es werde eine Auf- frischung derselben nöthig, die entweder dadurch erfolge, dass die Kieselzellen- hälften den Inhalt vollends heraustreten lassen, der sich dann nicht theilt, son- dern mit einer vorläufig weichen Haut umgibt, um nachwachsen zu können, oder indem zwei Kieselzellen ihren In- halt vereinigen, um ein grosses Indivi- duum, eine Auxospore zu bilden. Hallier sucht nun nachzuweisen, dass die Schachtelhypothese weder bei Melosira, nock bei den schiffehenförmi- gen Diatomeen (Navicula, Frustulia, Su- rirella u. A.) zutreffend ist, dass diese Organismen sich vielmehr, wie so viele einzellige Algen durch Zweitheilung ver- mehren, ohne dass eine Schalenhälfte die andere umfasse, und so ein Herab- sinken der Grösse bedinge*. Ebenso widersprechen Hallier's Beobachtungen den Ansichten über die Bewegungen der jungen Diatomeen, die man im Ein- klange mit den: Vorstellungen über die Schachtelhypothese und Starrheit des Kieselpanzers von dem Heraustreten des rotirenden Plasmas aus einem Spalt der Hauptseite abgeleitet hatte. Hallier sucht nun nachzuweisen, dass diese Starrheit des Panzers, selbst bei völlig ausgebildeten jüngeren Individuen nicht vorhanden sei, dass vielmehr schon der leise Druck, welchen das Aneinander- stossen zweier sich im Wasser begegnen- den Diatomeen, Einbiegungen der Haut- panzer veranlasst, dass diese letzteren vielmehr, erst durch Einlagerung fernerer Kieseltheile starr werden, wenn die In- dividuen sich nicht mehr bewegen. Er leitet desshalb die so mannigfachen Be- wegungen der jungen Diatomeen von einer Contractilität des Gesammtumrisses der Zellen ab, wodurch die Bewegung sich derjenigen gewisser Infusorien un- mittelbar anschliessen würde. »Dieses Resultat,« sagt der Verfasser, »ist von Bedeutung für die Descendenzlehre, denn es zeigt, dass die Diatomeen in der That weder Thiere noch Pflanzen, oder beides zugleich sind, denn wenn ihre Ernährung, ihre Auxosporenbildung und ihre Zelltheilung sie den Conjugaten bei- *® Es muss indess hier bemerkt werden, dass die Schachtelhypothese neuerdings von dem gründlichen Diatomeenkenner Grunow gegen die Angriffe Hallier’s vertheidigt wor- den ist. Litteratur und Kritik. 33 gesellen, so ist dagegen die Bewegung diejenige niederer Thiere und mit Aus- nahme der Oscillarineen, wo die Be- wegung dieselbe Ursache zu haben scheint, kommt eine derartige Eigen- bewegung der ganzen vegetativen Zell- wand im Pflanzenreiche kaum vor. . Bezüglich ihrer Fettbildung und ihrer Bewegungserscheinungen stehen sie den Thieren näher, bezüglich der Chlorophyll- bildung und namentlich bezüglich ihrer Fortpflanzung verhalten sie sich wie Pflanzen; man darf sie daher wohl als Protisten betrachten in dem Sinne, dass bei ihnen die Aufgaben der Pflanzen- und Thierwelt sich noch nicht differenzirt haben, dass die Arbeitstheilung in dieser Richtung noch nicht vollzogen ist.« Grundzüge der Naturgeschichte der Hausthiere von Dr. Martin Wilckens, Professor an der k. k. Hochschule für Bodenkultur in Wien. 8°. 3778. Dresden, 1880.G.Schön- feld. Da sich bekanntlich unser positives Wissen über das Variationsvermögen der Thiere und Pflanzen auf das Stu- dium des Viehhofes und Gartens stützt, so hat umgekehrt das erfahrungsmässige Geschick der Züchter erst durch Dar- win’s Untersuchungen seine wissenschaft- liche Grundlage empfangen. Dies zeigt sich so recht an dem vorliegenden Buche, welches aus dem Bedürfnisse hervorge- gangen ist, für den Unterricht über Hausthierkunde einen Leitfaden zumal für Privatstudien zu haben. Im Gegen- satze zu mehreren berühmten Züchtern, wie z. B. Herrn von Nathusius, der nicht einmal die Hausthiere von wilden Formen ableiten wollte, sondern sie für direkt erschaffen hielt, hat sich der Verfasser voll und aufrichtig auf den Boden der Entwickelungslehre gestellt, und man wird wenig Mühe haben, zu finden, wie ausserordentlich das ganze | Wissensgebiet der Hausthierkunde da- durch an Klarheit sowohl wie an An- ziehungskraft gewonnen hat. Nach einer kurzen Erörterung der Begriffe Haus- thier, Rasse, Schlag, Typus u. s. w. geht er auf Abstammung und geogra- phische Verbreitung derselben ein, und schickt sodann der speziellen Erörterung der Hausthiere par excellence, der Huf- thiere, einen ausführlichen, 36 Seiten langen Bericht über die paläontologische Entwickelung derselben voraus. Durch eine Kombination der Studien Kowa- lewskys mit den im »Kosmos« ausführ- lich mitgetheilten Studien von Marsh zeigt er, wie erst aus der paläontologi- schenGeschichte der gesammte Körperbau unddie Vorzüge dieser Thiere verständlich werden, wie Skelet, Zahnbau und Magen erst im Laufe der Zeit und durch na- türliche Zuchtwahl diejenigen Vorzüge erlangt haben, welche diese Thiere be- fähigen, uns als leicht zu züchtende Nahrungslieferanten und Zugthiere zu dienen. Ebenso wird bei den übrigen Vierfüsslern die paläontologische Ent- wicklung berücksichtigt, und bei sämmt- lichen hier behandelten Thieren, das Studienmaterial über die unmittelbare Abstammung von wildlebenden Thieren möglichst eingehend erörtert. Wir em- pfehlen das gediegene und geschmack- voll ausgestattete Werk namentlich unseren landwirthschaftlichen Lesern auf das Wärmste. Naturgeschichte des Menschen von Friedrich v. Hellwald. Illustrirt von F. Keller-Leuzinger. 8°. In 70 Lieferungen. Lief. 1—4. Stutt- gart, W. Spemann. Fast auf keinem Gebiete des Wis- sens war es dem Laien bisher schwerer, sich einen allgemeinen Ueberblick zu verschaffen, als auf dem ihn zu aller- nächst angehenden der allgemeinen Menschen- und Völkerkunde. Zu tau- senden besitzen wir populäre astrono- mische, geologische, botanische und z00- 34 Litteratur und Kritik. logische Schriften, aber kaum ein paar Dutzend anthropologischer und ethno- logischer Werke, und unter diesen bei- nahe keines, welches eine leichtverständ- liche, anschauliche Uebersicht über das ganze weite und doch wahrlich Jeder- mann interessirende Wissensgebiet gäbe. Durch eine ganze Bibliothek von Reise- werken, geographischen, ethnologischen und anthropologischen Quellenschriften musste sich bisher Jeder durcharbeiten, der zu derjenigen Kenntniss gelangen wollte, welche ihm das vorliegende Werk bequem zu vermitteln verspricht. Hell- wald, der in beiden Hemisphären hei- mische, vielbelesene und vielgereiste, mit einer beispiellosen Arbeitskraft und Versatilität des Geistes begabte Schrift- steller ist wie vielleicht Niemand sonst in Deutschland, befähigt, uns ein solches Werk zu schenken. Er hat es nach dem Vorgange Prichard’s sehr gut »Natur- geschichte des Menschen« betitelt, und diese Naturgeschichte soll uns nicht blos den Menschen als Naturobjekt, sondern den »ganzen Menschen« mit Sprache, Lebensweise, Gesinnung, Ernährungs- weise, Sitten und Gebräuchen schildern. Er beginnt dabei mit dem auf mindester Gesittungsstufe stehenden Australier, gelangt dann im dritten und vierten Hefte zu den Bewohnern Tasmaniens und den Inseln des grossen Oceans sowie Neuguineas und gedenkt von da über Amerika und die Polarländer zur alten Welt zurückzukehren, deren Menschen natürlich im Zusammenhange behandelt werden müssen. Eine ganz besondere Anerkennung verdient, die in den er- probten Händen vonKeller-Leuzinger ruhende Illustration des Werkes. Selbst- verständlich muss bei einem solchen Werke das Anschauungsmaterial in rei- cher Fülle geboten werden, und dazu gehört, selbst wo es sich nur um die Wiedergeburt vorhandener photographi- scher Aufnahmen u. dergl. handelt, ein völkerkundiger, für die Rassenunter- schiede geschärfter Blick, wie ihn der Verfasser und Illustrator des Pracht- werkes »Vom Amazonas nach Madeira « vielfältig bewährt hat. Das ganze Unter- nehmen ist, um es mit einem Worte zu kennzeichnen,einethnographischesHand- buch für Jedermann, und dürfte ebenso die Reise um die Welt machen und in alle Kultursprachen übersetzt werden, wie sein Pendant: »die Erde und ihre Völ- ker«, desselben Verfassers. K. IllustrirtesPflanzenleben. Gemein- verständliche Originalabhandlungen über die interessantesten und wich- tigsten Fragen der Pflanzenkunde. Von Prof. Dr. Arnold Dodel-Port. Lief. 3. Mit einer Tafel und fünfzehn Abbildungen in Holzschnitt. Zürich. Cäsar Schmidt 1880. 48 S. Text. Da wir schon früher auf diese Samm- lung vom entwickelungsgeschichtlichen Standpunkt verfasster botanischer Ab- handlungen empfehlend aufmerksam ge- machthaben, begnügen wir uns heut mit einem kurzen Hinweise auf diese Fort- setzung, welche den Schluss der Abhand- lung über die fleischfressenden Pflanzen enthält und uns dann die niedrigsten Stufen der geschlechtlichen Fortpflan- zung an der Kraushaaralge (Ulothrix zonata) vorführt, um dann zu einem »Blick in die untergetauchte Flora der Adria« überzugehen, der sehr lebendig geschrie- ben ist. Die zahlreichen Abbildungen sind theils in Holzschnitt, theils in Licht- druck ausgeführt und geben die präch- tigen Zeichnungen des Verfassers zum Theil recht ansprechend wieder. Ueber das Verhältniss des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie. Von Professor Dr. Fritz Schultze. Inhalt: IL. Deismus, Materialismus, Phaenomenalismus. — a) Theismus und Deismus. — Theistischer und deistischer Naturbegrif. — Kritik der Religion. — Wunder, Offenbarung, Weissagung. — Die „natürliche Religion“. — Baco, Hobbes, Herbert von Cherbury, Locke. — Die Deisten. — Christenthum = natürliche Religion = Moral- philosophie. — Letzte Consequenz des Deismus. — b) Der Materialismus: Ansatzpunkte zum Materialismus in Locke (der „vereinfachte Sensualismus“ Condillac’s), in Descartes (de la Mettrie, ’homme machine), in Spinoza, in Leibniz. — Diderot, d’Alembert, Holbach. — Systeme de la nature. Der Inhalt der materialistischen Theorie: Natur, Mensch, Religion, Moral. — Kritik des Materialismus: der theoretische und ethische Materialismus; der Materialismus als methodologisches Forschungsprinzip für die Naturwissen- schaften. — ec) Berkeley’s Phaenomenalismus: Inhalt, kritische Bedeutung und dog- matische Wendung. — Recapitulation und Debergang zum Skepticismus Hume's. II. Deismus, Materialismus und Phaeno- menalismus. Aus Locke’s Sensualismus gehen im 18. Jahrhundert drei Richtungen her- vor: der Deismus, der Materialis- mus und die diesem letzteren diametral entgegengesetzte Theorie des absoluten Immaterialismus oder Phaenome- nalismus. Auf ihnen und über sie erhebt sich endlich der Skepticismus Hume’s, der alles in Frage stellt, wäh- rend die drei vorhergenannten Systeme, ebenso wie die Lehre Locke’s nur zum | Theil skeptisch, zum Theil aber dog- matisch sind, insofern sie einiges be- zweifeln, einiges dagegen positiv be- haupten. Hume’s Skepticismus bildet den Uebergang zu Kant’s Kriticismus. a) Der Deismus. Der Deismus ist die nächste phi- losophischeFortentwickelung des Theis- mus und von diesem genau zu unter- scheiden. Der Theismus ist die von Augustin in classischer Weise dogma- tisch befestigte Lehre, nach welcher Gott die aus Nichts geschaffene und Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). deshalb an sich nichtige Welt in jedem Moment ihres Werdens, Wirkens und Erscheinens durch sein unaufhörliches, unmittelbares und persönliches Eingrei- fen bewahrt und erhält, wodurch allein verhindert wird, dass sie nicht augen- blicklich wieder in Nichts zurückfällt (creatio continua). Der theistische Naturbegriff, nach welcher die Natur an sich ohne jede Selbständigkeit, Kraft und Bestand ist und einzig durch Gottes Niemandem verantwortliche und srundlose Willkür besteht, die kein Natur- gesetz anzuerkennen braucht und in je- dem Augenblick anders verfahren kann — dieser Naturbegriff, welcher in der Naturphilosophie etwa die Stellung des Absolutismus in der Politik einnimmt, kann offenbar nicht der Naturbegriff des empiristischen Naturalismus sein, welcher vielmehr eine gesetzlich ge- sicherte Constitution auch für das Reich der Natur verlangt. Der Empirismus geht deshalb hinsichtlich des Naturbe- griffs vom Theismus über zum Deismus. Auf dem Standpunkt des Deismus ist die Welt zwar von Gott geschaffen, 7. 36 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. aber Gott ist viel zu gross und erhaben, als dass er einso unvollkommenes Kunst- werk hervorgebracht hätte, dass er es in jedem Augenblicke in seinem Gange unterstützen müsste. Im Gegentheil, er hat es so vollkommen und gesetz- mässig gestaltet und mit solchen Kräf- ten ausgestattet, dass nun alle seine Processe ohne des Künstlers fortgesetzte ängstliche Bemühungen nach festen Na- turgesetzen sich unwandelbar genau und pünktlich vollziehen und abwickeln. Alles geschah und geschieht von Ewig- keit her nach unabänderlichen Normen, die zwar von Gott gesetzt und bestimmt sind, in die er aber niemals abändernd oder gar aufhebend einzugreifen brauchte oder eingegriffen hätte, da der absolut vollkommene Gott ja nur das absolut Vollkommene schaffen konnte, jede Ab- änderung aber ein Beweis der Unvoll- kommenheit sein würde. Der Grundsatz des Deismus hin- sichtlich der Natur ist also der em- piristische: in der Welt herrscht ausnahmslos die Causalität der Natur- gesetze; es gibt in der Welt nichts Un-, . Ausser- oder Uebernatürliches, und alles, was unter diese Begriffe fällt, besteht nur in der Phantasie des Menschen. Von diesem Grundsatz aus gestaltet der Deismus seine Kritik der Religion. Alle Wunder sind Abweichungen vom naturgesetzlichen Geschehen, der Deist kann sie also nicht zu Recht anerken- nen. Eine übernatürliche Offenbarung, sowie ein prophetisches Schauen des Vergangenen oder Künftigen wären Wun- der, die gegen den Naturlauf verstiessen. Die »Freidenker« des Deismus merzen also nicht blos alle Wunder aus der christlichen Religion aus, sondern wol- len überhaupt von einer Begründung derselben auf Offenbarung und Pro- phetie nichts wissen. Von hier aus wendet sich ihre Kritik gegen die Bibel. Als der einzig wahre Kern aller Reli- geion bleibt nur die sog. natürliche Religion bestehen, deren Inhalt allein der natürliche Gottesglaube und die Anerkennung der in jedes Menschen Brust geschriebenen, von Vaterland und Bekenntniss unabhängigen Sittengesetze bilden. Wenn Baco die Erfahrung als die einzige Quelle und den alleinigen Mass- stab aller Erkenntniss hingestellt hatte, so musste endlich auch die Religion auf ihren Wahrheitsgehalt, d. h. Er- kenntnissgehalt, an diesem Massstabe geprüft werden. Baco’s Schüler, Hobbes, schritt in dieser Prüfung schon so weit vor, dass er jeden objectiven Wahrheits- gehalt der Religion überhaupt leugnete, die Religion als blosse Furcht vor er- dichteten, übersinnlichen Mächten de- finirte, und den Unterschied zwischen Glauben und Aberglauben allein darin fand, dass der Glaube der vom Staate anerkannte Aberglaube, der Aberglaube aber der vom Staat nicht gebilligte Glaube war. Bis zu diesem Extrem folgten ihm die Deisten nicht. Herbert von Cherbury, sein älterer Zeitgenosse, wollte vielmehr als wahren Kern der Religion den Glauben an Gott und an eine zukünftige Vergeltung stehen las- sen, woraus einerseits die Verehrung Gottes, aber nur durch Tugend und Frömmigkeit, und andererseits die Noth- wendigkeit, sich von Sünden zu reini- gen, als religiöse Gebote hervorgingen. Alle Specialitäten der besonderen, histo- risch gegebenen Religionen wurden je- nem wahren Inhalt der natürlichen Re- ligion gegenüber für überflüssig und falsch erklärt. Wurde nun in der Nach- folge Baco’s durch Locke die vernunft- gemässe Erkenntniss lediglich auf das Gebiet der sinnlichen Wahrnehmung eingeschränkt, so konnte endlich auch alles Ausser- und Uebersinnliche in der Religion nicht mehr als objectiv wahr anerkannt werden; es musste vielmehr unter dem sensualistischen Gesichts- punkt eine neue Sonderung des Rich- tigen vom Falschen vorgenommen wer- den, um den eigentlichen Grundkern Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. des Religiösen herauszuschälen. In die- sem Sinne hatte Locke seine Schrift »Die Vernünftigkeit des Christen- thums« (the reasonableness of christia- nity 1695) geschrieben und damit einen neuen Anstoss zur Fortbildung des Deis- mus gegeben, der nun in Männern wie Tolland, Collins und Woolston seine Kritik gegen die Wunder und Weis- sagungen sowohl der Propheten und Apostel, als auch Christi selbst richtete. In seinem Werke »Das Christen- thum ohne Wunder« (Christianity not mysterious) suchte Tolland das Chri- stenthum von all jener Mystik zu be- freien, welche gerade dem gläubigen Gemüthe stets so erquicklich war. Als eigentlicherKern desChristenthums bleibt die Religion an sich, die menschlich- natürliche Religiosität, wie sie von Ewig- keit her auch ohne Offenbarung dem Menschen von Natur eingepflanzt war, so dass in diesem, aber auch nur in diesem Sinne Tindal in seinem Buche »Christianity as old as the creation« das Christenthum für ebenso alt wie die Schöpfung selbst erklären konnte. Auch Christus hat nichts anderes gelehrt als den Inhalt der natürlichen Religion, und so verkündet denn, um dies darzuthun, Chubb noch einmal »das wahre Evangelium Jesu Christi« (the true gospel of Jesus Christ). Dieses wahre Evangelium besteht schliesslich nur noch in einer Anzahl von Moral- sätzen, und so ist es denn endlich »der Moralphilosoph« (the moral philosopher, wie der Titel des Morgan’- schen Buches lautet), als welcher der deistische Religiöse sich zuletzt ent- puppt, nachdem er sich aller religiösen Mystik entkleidet hat. Und so lautet denn die endgültige Gleichung des Deismus: Christenthum — natürliche Religion — Moralphilo- sophie. Die Richtung auf das Natürliche war der Grundcharakter der neueren | Zeit im Vergleich zu dem des Mittel- | 87 alters. Auch auf religiösem Gebiet macht sich dieser Drang geltend; auch hier verläuft Schritt für Schritt die Ent- wickelung vom Uebernatürlichen zum Natürlichen. An Stelle der übernatür- lichen Offenbarungstheologie hatte schon Raymund von Sabunde eine natürliche Theologie gesetzt, und nachdem man — ein weiterer bedeu- tungsvoller Schritt — auch zwischen Theologie und Religion zu unterscheiden gelernt hat, ist es die nächste noth- wendige Entwickelungsstufe, dass man an Stelle der geoffenbarten Religion die natürliche Religion setzt, die aber eine angeborene Wahrheit ist. Der fernere Fortschritt kann offenbar nur darin bestehen, dass man wie alles Angeborene auch die angeborene natür- liche Religion für natürlich ent- standen und erworben erklärt, und auch die Entstehung und Entwicke- lung der Religion nach Naturgesetzen historisch und psychologisch zu er- klären sich bestrebt. Das ist die Auf- gabe, an der unser Zeitalter zu ar- beiten hat. Von England, seinem Entstehungs- herde, wird der Deismus nach Frank- reich durch die beiden berühmtesten französischen Schriftsteller des 18. Jahr- hunderts, Voltaire und Rousseau, hin- übergetragen; in Deutschland vertreten und verbreiten ihn die Aufklärungs- philosophen. In Frankreich besonders, weniger in Deutschland, entsteht in seinem Gefolge der Materialismus, womit eih neues Glied in die Entwicke- lungskette des skeptischen Naturalis- mus eingefügt wird. b) Der Materialismus. Der Deismus ist offenbar eine Mittel- stufe zwischen dem Extrem des Theis- mus, wo Gott alles und die Welt so gut wie nichts ist, und dem Materialis- mus, wo die Welt alles und Gott gleich nichts ist. So vollzieht sich denn auch der Uebergang vom Deismus zum Ma- 88 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. terialismus mit Leichtigkeit. Wenn im Theismus die Natur zu verschwinden droht, so im Deismus Gott. In dem- selben Masse, als Gott nicht mehr in die Gesetzmässigkeit der Natur eingreift, erscheint diese als ein völlig Selbstän- diges und Gott als ein Ueberflüssiges. Bleibt im Pantheismus Gott immer noch ein ebenso mächtiger Factor als die Welt, so wird er dagegen im reinen Materia- lismus völlig eliminirt. Man bedarf dann dieser Hypothese nicht mehr, wie Laplace sich hinsichtlich des Gottes- begriffes Napoleon gegenüber geäussert haben soll; es bleibt nur die Natur in der Form der Materie. So entwickelte sich denn im 18. Jahr- hundert der Materialismus in Frankreich mit Nothwendigkeit aus den vorhan- denen Systemen heraus. Der Punkt, wo er in Locke ansetzen kann, liegt auf der Hand: wenn der Geist als tabula rasa von den Eindrücken der Aussen- welt vollgeschrieben wird, diese äusseren Eindrücke aber materielle Bewegungs- vorgänge sind, so muss auch der Geist materiell sein, denn auf das Immaterielle kann das Materielle nicht einwirken. Mit der Lehre von der tabula rasa wird also in Wahrheit der Geist bereits ver- stofflicht und der Anstoss zur materia- listischen Theorie gegeben, wenn auch Locke selbst die Materialität der Seele nur ganz hypothetisch hinstellte. Den Uebergang von Locke’s Sensualismus zum reinen Materialismus macht die Theorie des sogenannten vereinfach- ten Sensualismus, welche auf Grund der Locke’schen Lehren Gondillac ent- wickelte. Locke hatte zwischen pri- mären und secundären (ualitäten unterschieden. Diesen Dualismus der zwei Arten Qualitäten hebt Condillac auf, indem er die secundären Qualitäten auf die primären zurückführt. Die secun- dären Qualitäten, d. h. unsere Sinnes- empfindungen, wie Wärme, Farbe u. s. w., werden in uns bewirkt durch die Ein- drücke von Seiten der materiellen Be- wegungsvorgänge ausser uns. Diese sub- jectiven Sinnesempfindungen könnten aber nicht so verschieden und mannig- faltig in uns auftreten, wenn nicht auch die sie bewirkenden äusseren Bewegungs- vorgänge selbst entsprechend verschie- den und mannigfaltig wären, d. h. wenn nicht die Dinge in sich selbst in demselben Maasse verschiedene Qua- litäten hätten, als durch dieselben in uns verschiedene Empfindungen her- vorgerufen werden. Auch die secun- dären Qualitäten sind in letzter In- stanz durch die objective Verschieden- heit der äusseren materiellen Dinge be- wirkt, so dass also die secundären Qualitäten zurückweisen auf ebenso viele ihnen entsprechende primäre Qualitäten der Dinge selbst. In Wahrheit gibt es also nach Condillace nur primäre Qualitäten. Diese sind materielle Be- wegungsvorgänge; dieselben wirken auf den Geist, mithin muss auch dieser materiell sein, eine Schlussfolgerung, durch welche demnach mit Nothwen- digkeit Locke’s Sensualismus vermittelst des vereinfachten Sensualismus zum Ma- terialismus hinübergeführt wird. Der Materialismus des 18. Jahr- hunderts strömt aber auch noch aus einer anderen Quelle hervor. Descartes war zwar Dualist; Seele und Körper waren bei ihm zwar entgegengesetzte Substanzen, aber beide wirkten doch auf einander ein. Ja, Descartes hatte der Seele sogar einen bestimmten Sitz im Körper angewiesen; in der sogenannten Zirbeldrüse sollte sie ihre Wohnung aufgeschlagen haben, hier die Einwirkungen der in den (als hohle Röhren gedachten) Nerven hin- und her- strömenden materiellen Lebensgeister empfangen und ihrerseits auf diese ein- wirken. Hat aber die Seele einen Sitz, so ist sie im Raume, also selbst räum- lich, und wenn sie auf die materielle Zirbeldrüse und die Lebensgeister Ein- flüsse ausübt und solche von ihnen er- | fährt, so muss sie selbst materiell sein, Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. * wie könnte sonst eine Berührung statt- finden? Ist sie aber auch nur in einem Punkte materiell, so muss sie es offen- bar in ihrem ganzen Wesen sein, sonst würde ja wieder die Einheit der Seele dualistisch zerklüftet werden. Wie auf der tabula rasa bei Locke, so nimmt auf dem Sitz der Seele bei Descartes unverdrängbar der Materialis- mus Platz, so sehr er auch als unge- hetener Gast sich einstellen mag. Und wenn ferner, wie Descartes will, die Thiere ohne Seele als blosse stoff- liche Maschinen empfinden und vor- stellen, warum sollte denn der Mensch - sein zwar höheres, aber im Grunde doch identisches Empfinden und Vor- stellen nicht auch ohne Seele als hlosse stoffliche Maschine verrichten kön- nen? Auch die gerade im Interesse der immateriellen Seele erfundene Cartesia- nische Thierpsychologie wendet sich hier gegen ihren Urheber; auch sie führt dazu, dass der französische Arzt de la Mettrie, der sogenannte Hofatheist Friedrich’s des Grossen, in seinem Werke »L’homme machine« den Materialismus in frivolster Weise verkündet. Sogar in den Lehren Spinoza’s und Leibniz’ liegen Anregungen zur Be- gründung des Materialismus; es scheint, als ob jetzt alles auf die Stofflehre hindrängte. Spinoza’s Formel war: Gott oder Natur. Wurde in dieser Gleichung der Gottesbegriff stärker be- tont, so stand man dem Materialismus ferner; wurde dagegen der Naturbegriff schroffer hervorgehoben, so stand man dem Materialismus schon bedenklich nahe. Und hatte nicht gerade der Spinozismus die Tendenz, den Natur- begriff dem Gottesbegriff gegenüber zu seinem Rechte zu verhelfen? War nicht in der Natur der Uebergang dazu leicht ge- geben, an Stelle der Natur den blossen Stoff zu setzen? Nach Leibniz soll- ten die Monaden zwar beseelte Atome sein, aber sie waren doch Atome und starken Betonung der 89 als solche stofflich. Leicht konnte man die Beseelung für ein blosses Product des Stofflichen, für ein blosses Anhängsel zur Hauptsache, dem Materiellen, er- klären. Sobald man vorzugsweise ihren Charakter als Atom betonte, sprang auch aus der Monade der Materialismus hervor. Ueberall demnach zeigen sich die Keimpunkte für den Materialismus im 18. Jahrhundert, welcher, abgesehen von dem antiken Atomismus, der eigent- liche classische Materialismus genannt zu werden verdient, sind doch alle heutigen Auffrischungen des Materialis- mus nichts anderes, als höchst ober- Nächliche, nur mit mehr naturwissen- schaftlichen Kenntnissen und bei eini- sen mit etwas dialektischer Methode aufgeputzte Verwässerungen jener fran- zösischen Lehren, welche in Wahrheit von der Kantischen Philosophie längst kritisch überwunden waren. Ausser den genannten CGondillac und de la Mettrie stehen als Classiker des Materialismus Diderot und d’Alembert da; sei- nen vollendeten systematischen Ausdruck fand aber die Lehre in dem von einem in Paris lebenden Deutschen, dem Baron v. Holbach verfassten »Systeme de la nature«. Es gibt nur Stoff und die mit dem Stoffe naturgemäss verbundenen Be- wegungen, entwickelt das >» Natursystem«. Diese Bewegungen sind rein mechani- scher Art; etwas Planvolles, nach Zwe- cken Geordnetes ist durchaus nicht in ihnen; allein der Zufall der wirkenden Ursachen beherrscht sie. Nach dem Zweck der Dinge zu fragen, ist thöricht; das richtig gestellte Problem geht nicht auf das Wozu, sondern lediglich auf das Warum und Wie. Alle Beweg- ungen in der Materie führen sich auf drei Kräfte zurück; von den Physikern werden sie als die Kraft der Träg- heit, der Anziehung und der Ab- stossung bezeichnet. Sie bewirken jegliche Veränderung und alles Werden, 90 und zwar nicht blos in der materiellen Welt, sie herrschen auch in der soge- nannten moralischen und geistigen Welt. Der Trägheitskraft in der materiellen Welt entspricht in der moralischen die Selbstliebe, die Anziehungskraft dort heisst Liebe, hier die Abstossungs- kraft Hass. Selbstliebe, Liebe und Hass, weit entfernt, geistige Qualitäten zu sein, beruhen ganz und gar auf den materiellen Bewegungsvorgängen unserer Gehirnmoleküle. Wie kommt aber der Mensch dazu, statt von der rein mechanischen Be- wegung der Gehirnmolekeln, von einem besonderen Seelischen und Geistigen zu reden, dieses für immateriell zu erklä- ren und in seine Sphäre alle Vorgänge des Wollens und Denkens hineinzuheben ? Der Grund davon ist einfach: Die Be- wegungen ausserhalb unseres Gehirnes in der Welt der Dinge nehmen wir wahr und sehen, dass sie an den Stoff ge- bunden sind; die Bewegungen unserer Gehirnmoleküle in unserem Inneren aber können wir mit unseren Sinnen nicht unmittelbar wahrnehmen, sie sind un- sichtbar. Der naive Mensch glaubt nun, dieses Unsichtbare sei überhaupt etwas ganz anderes als das Sichtbare, es sei dem sichtbaren qualitativ entgegen- gesetzt; es sei unstofflich, da jenes stoff- lich ist. Auf Grund dieses Irrthums hält sich der Mensch für ein Doppel- wesen, und doch ist alles Fühlen, Den- ken und Wollen nur verschiedenartige Bewegung unserer Gehirnmoleküle. Nur durch diese wird alles menschliche Han- deln verursacht und geleitet; ihre Be- wegungen selbst aber finden nach festen und rein mechanischen Gesetzen statt, so dass, könnte man die Gehirnmoleküle in ihren Bewegungen genau beobachten, man nach mathematisch-mechanischen Gesetzen, wie den Lauf eines Himmels- körpers, auch die Handlungen oder Un- terlassungen eines Menschen unter ge- gebenen Bedingungen genau vorauszu- berechnen vermöchte. 2 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Was ist aber die Empfindung? Sie ist eine natürliche Eigenschaft des Stoffes, ohne dass es sich jedoch mit Sicherheit entscheiden liesse, ob sie aller Materie überhaupt zukommt, oder ob sie erst in der bestimmten Mischung verschiedener Stoffe entsteht. Hier wie immer ist dem Materialismus das Pro- blem der Empfindung, die Frage, wie aus der materiellen Bewegung Empfin- dung werde, gefährlich und unbequem, um so rascher geht er deshalb darüber hinweg, und behauptet nur um so nach- drücklicher, dass alles, was wir, wie Temperament, Leidenschaft, Gefühl, Ta- lent, Genie u. s. w., als geistige Kräfte bezeichnen, nur in der Verschieden- artigkeit der stofflichen Mischung seinen Grund habe. Jemanden geistig gesund machen, heisst die richtige Stoffmisch- ung wieder in ihm herstellen. Wie der Mensch sich selbst zu Seele und Körper, so verdoppelt er in Con- sequenz davon auch das All in Gott und Welt. Auch für den Körper der Welt wird nun eine lenkende Seele, die Gottheit, angenommen. Die Gottesidee ist ebenso sehr ein blosses Phantasie- gebilde wie die Seelenidee, aber eine Phantasie, die dem Menschen unendlich geschadet und gar nicht genützt hat. Gerade durch die auf dem Gottesbegriff basirende Religion ist die blutigste Zwie- tracht erzeugt, und indem der Mensch alle seine Interessen und Hoffnungen einem erdichteten Jenseits zuwendete, wurde er von der richtigen Bearbeitung und planvollen Verbesserung seiner dies- seitigen Zustände abgezogen und da- durch die Entwickelung seiner selbst und seiner Lebensverhältnisse immer und immer wieder gehemmt und geschädigt. Jeden günstigen Einfluss von Seiten der Religion leugnet also der Materialismus als barer Atheismus gänzlich. Statt irgend welche religiöse Phantasieen im Menschen zu pflegen, sollte man viel- mehr seinen Egoismus in richtiger Weise wecken und zur alleinigen Richtschnur Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. für sein Handeln machen; denn wer sich selbst liebt, ist um seines Vor- theils willen gezwungen, bis zu einem gewissen Grade auch auf die übrigen Menschen Rücksicht zu nehmen; er sieht bald ein, dass er allein im ver- träglichen Zusammenleben mit anderen seiner Selbstliebe die vollste Befriedig- ung gewähren kann, und wird somit durch den Egoismus von selbst dazu geführt, gut zu handeln. Eine vollständige Kritik des Ma- terialismus, die erst auf Grund der Kantischen Philosophie möglich wäre, können wir an dieser Stelle noch nicht. geben; einige Hauptpunkte lassen sich indess andeutungsweise hervorheben *. Vor allen Dingen muss die Kritik genau unterscheiden 1) den theore- tischen Materialismus oder den Ma- terialismus als philosophisches System; 2) den ethischen Materia- lismus als Princip der praktischen Lebensführung und 5) den Ma- terialismus als methodologisches Forschungsprincip für die Natur- wissenschaft. — Der Materialismus als philosophisches System ist vol- ler Dogmatismus. Denn abgesehen davon, dass er die Erkennbarkeit des Weltganzen ohne weiteres als selbst- verständlich voraussetzt, so übersteigt auch der Begriff der Materie, den der Materialismus als das alleinige Grund- princip alles Seins hinstellt, jede mög- liche Erfahrung. Die Existenz der ma- terialistischen Materie kann empirisch nicht bewiesen werden. Denn unter der Materie als Grundprincip versteht der Materialismus nicht dieses Holz oder jenen Stein, nicht diesen Sauerstoff oder jenen Wasserstoff u. s. w. Alle diese wahrnehmbaren, empirischen Stoffe sind | ja nur die secundären Erscheinungen des ihnen zu Grunde liegenden und sie * Eine ausführliche Kritik des Materialis- mus findet sich in meinem soeben erschie- 9 hervorbringenden, also primären mate- riellen Prineipes. Der Grund aller ein- zelnen Materien, die Materie an sich, ist weder Holz noch Stein u. s. w., kurz keiner der empirisch erkenn- baren Stoffe. Die Materie des Ma- terialismus ist mithin etwas empirisch absolut nicht Wahrnehmbares, vielmehr dernurhypothetisch angenom- mene Untergrund für alle Erschein- ungen der Welt. Dieses hypothetische Prineip wird gewöhnlich als eine Viel- heit von Atomen bezeichnet; die früher (Kosmos Bd. II, 8. 308 ff.) gegebene Kritik des Atoms hat uns aber schon längst über seinen rein hypothetischen Charakter aufgeklärt. Wird also das Princip des Materialismus an dem allein gültigen Massstab des kritischen Em- pirismus gemessen, so ergiebt sich, dass diese „Materie“ ein blosses Gedanken- ding, kein in der Natur irgendwo em- pirisch aufweisbares Wesen ist. Der Materialismus ist also ein Glaube an einen vorausgesetzten Urgrund der Dinge, mithin ist er Dogmatismus und seine Lehren Glaubensartikel, aber keine Wis- senssätze. Der ethische Materialismus zwei- tens tritt mit dem Anspruch auf, Prin- cip unserer Lebensführung zu sein; er will die Gesetzgebung für unser prak- tisches Handeln übernehmen: das Grund- motiv unseres Handelns, der katego- rische Imperativ für den Menschen, sagt er, soll nur die absolute Selbstsucht sein. Die Unterdrückung der Selbst- sucht, welche sonst in allen hochent- wickelten Moralsystemen als Grundprin- cip alles sittlichen Handelns hingestellt ist, wird hier als geradezu schädlich verdammt. Nun führt aber dieser ab- solute Egoismus, wie die Geschichte ganzer Völker und einzelner Individuen oft genug gezeigt hat, allemal dahin, „Die Grundgedanken des Materialismus und die Kritik derselben,“ worauf ich ver- nenen Vortrage (Leipzig, Günther’s Verlag): | weise. 92 dass jeder schliesslich von jedem nur unter dem Gesichtspunkte des zu ver- brauchenden Genussmittels betrachtet und als solches ausgebeutet wird. Dabei entsteht naturgemäss aus dem Angriff der Beute die Wehr derselben; erbit- terter Kampf auf Tod und Leben ent- brennt, alle geordneten Verhältnisse werden untergraben, und das Ende ist entweder gegenseitige Aufreibung oder despotische Unterdrückung der Schwä- cheren von Seiten des letzten übrig bleibenden Listigsten und Stärksten. In beiden Fällen aber führt der ethische Materialismus zum Untergang jedes Ge- fühls wahrer selbstsuchtloser Nächsten- liebe, zum Schwinden jeder socialen Tugend, zur Aufhebung all der sittlichen Ideale, welche »der Menschheit Würde« bilden. Der ethische Materialismus ist also für die Praxis des Lebens der Ge- sammtheit wie des Individuums als ein rein negatives und zerstörendes Moral- prineip durchaus zu verwerfen. Ganz anders verhält es sich aber drittens mit dem Materialismus, in- sofern er methodologisches For- schungsprincip für die Natur- wissenschaft ist. Hier liegt seine ernste Bedeutung; ihn hier aufgeben, hiesse dem Simson der Naturwissenschaft die Locken beschneiden. Man verstehe jedoch recht: hier wird dem Materia- lismus weder als philosophischem Sy- stem, als ob er die theoretische Wahr- heit wäre, noch als sittlichem Principe, als ob seine Grundsätze unser Wollen bestimmen dürften, sondern lediglich als methodologischem Forschungs- princip der Naturwissenschaften das Wort geredet. Die Naturwissenschaften haben mit Recht die materialistische Anschauung zu ihrem Forschungsprineip erhoben, das heisst nichts anderes, als dass sie mit Recht es sich zum Gesetz gemacht haben, all ihre Forschungen nur auf die Materie und die in der- selben liegenden empirisch constatir- baren und quantitativ messbaren Be- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. wegungen zu beschränken. Allein aus dieser Selbstbeschränkung sind die gross- artigen Erkenntnisse der Naturwissen- schaften erwachsen. Solange sie em- pirisch umfassbare, geheimnissvolle »ver- borgene Qualitäten« als Erklärungs- principien setzten, blieben sie in allen Stücken dunkel und unsicher. Ihr Auf- schwung stammt erst von dem Augen- blick, wo sie ihr Augenmerk einzig und allein auf die mechanisch materiellen Vorgänge richteten. Den Materialismus als methodologisches Forschungsprincip verlassen, würde das Ende sicherer Na- turerkenntniss und die Wiedergeburt mittelalterlicher Mystik und Magie sein, wie dies die spiritistischen Rückbildun- gen gewisser Forscher zur Genüge be- weisen. Der Materialismus ist noth- wendiges Instrument des Naturforschers, aber auch weiter nichts. Leugnet der Naturforscher die Existenz jeder anderen als der ihm zugänglichen materiellen Erscheinungen, so wird er damit ma- terialistischer Dogmatiker und als solcher unkritisch. Der kritische Forscher for- mulirt seinen Grundsatz so: »Beobach- ten kann ich nur und will ich nur die materiellen Erscheinungen, welche allein erfassbar sind; über alles ausser diesen lasse ich mein Urtheil ganz dahin gestellt sein, da ich weder über Sein noch Nichtsein anderer als materieller Erscheinungen das Geringste entschei- den kann.« Einer solchen, sich kritisch begrenzenden Verwendung des materia- listischen Princips entspringt nirgendwo Gefahr, sondern überall nur der reiche Segen, den die Naturwissenschaften der Menschheit gespendet haben. Hier liegt also der wirkliche Werth des Materia- lismus; als System dagegen erscheint er oberflächlich, als Sittenprincip geradezu verwerflich. Eine unparteiische Kritik hat aber vor allem die angegebenen Unterscheidungen zu treffen. c) Der Phaenomenalismus. Dass Locke’s Philosophie den Aus- gangspunkt für die verschiedenartigsten Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 93 Lehren bildet, deutet auf innere Wider- sprüche derselben zur Genüge hin. Sonst könnte schwerlich sowohl der Materia- lismus als auch der diesem diametral entgegengesetzte Standpunkt des Im- materialismus oder Phaenomena- lismus von hier aus seine Begründung finden. Der englische Bischof George Berkeley hat diese auch für den kri- tischen Empirismus hochwichtige Theorie ausgeführt, welche hehauptet, dass alles, was wir Materie und materielle Er- scheinungen nennen, wie alle unsere Vor- stellungen überhaupt, lediglich Vor- stellungen im menschlichen Geiste seien, ohne dass ihnen irgendwelche von diesem unabhängige äussere Dinge entsprächen. Er begründet dies in so scharfsinniger Weise, dass selbst das »Systeme de la nature« ein- gesteht, es gebe nur zwei in sich con- sequente Systeme, das materialistische Holbach’s und das immaterialistische Berkeley’s. Welche wichtige Rolle der Phaenomenalismus in der Kantischen Philosophie spielt, werde hier nur an- gedeutet. Berkeley kommt zu seiner Lehre, indem er die Consequenzen des Sen- sualismus zieht. Locke hatte den Dua- lismus zwischen primären und secun- dären Qualitäten zurückgelassen. Die primären Qualitäten sollten den Dingen an sich selbst zukommen, die secun- dären nur unsere, von uns auf die Dinge fälschlich übertragenen Empfin- dungen sein. Aber offenbar können wir jene primären Qualitäten doch auch nur vorstellen und erfassen durch unser Wahrnehmungsvermögen. Die Undurch- dringlichkeit bekundet sich uns doch lediglich durch unseren Tastsinn; und wie wollen wir die geringste Vorstel- lung von der Ausdehnung und Beweg- ung gewinnen, wenn nicht durch un- seren Tast- und Gesichtssinn ? Mithin auch die primären Qualitäten kennen wir nur durch unsere Wahrnehmung, welche doch ganz und gar subjectiver Natur ist. So zeigt sich klar, dass von den primären Qualitäten dasselbe gilt wie von den secundären, d. h. dass sie nur als unsere subjectiven Vorstel- lungen existiren. Ob ihnen etwas an sich ausser uns zu Grunde liegt, können wir nicht behaupten, denn das etwa zu Grunde liegende nehmen wir niemals wahr; was wir aber wahrnehmen, ist alles ausnahmslos unsere subjective Vorstellung. So schliesst denn Berkeley kühn und entschieden: Das Sein der Dinge besteht überhaupt nur in ihrem Wahrgenommenwerden (esse — percipi), und da dies Wahrgenommen- werden lediglich in einem wahrnehmen- den Geiste stattfindet, so bestehen alle Dinge nur als Perceptionen im Geiste und haben ausserhalb desselben keine eigene Existenz. In dem »Nur« liegt hier der Fehlschluss, den wir aber an dieser Stelle noch ununtersucht lassen. Mit diesem Fehlschluss segelt nun aber Berkeley direct in das dogmatische Fahrwasser hinein. In unserem im- materiellen Geiste haben wir eigenthüm- liche Vorstellungen, welche fälschlich von uns für äussere Dinge gehalten werden, in Wahrheit aber rein inner- liche Perceptionen sind und als solche von Berkeley »Ideen« (ideas) genannt werden. Was wir Welt nennen, besteht also lediglich aus immateriellen Geistern und den in diesen befindlichen Ideen, welche wir in Selbsttäuschung für ma- terielle Dinge halten. Woher stammen aber diese »Ideen« ? Sie existiren nicht durch sich selbst; sie gehen aber auch nicht lediglich aus unserem Geiste her- vor, denn sonst tauchten sie nicht viel- fach auf und verschwänden wieder auch gegen den Willen desselben. So bleibt nur eine Annahme übrig: Eine höhere Macht lässt sie in unserem Geiste er- scheinen und verschwinden, es ist Gott, der die gesammte Bewegung unserer »Ideen« schafft und leitet. Mithin be- steht die gesammte Welt nur aus dem immateriellen Gott und den immateriel- 94 Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. len Geistern nebst den in diesen be- findlichen Ideen. Materielles giebt es überhaupt nicht; was wir so nennen, “ist blosse Erscheinung, Phaenomen im Geiste; die ganze materielle Welt ledig- lich Phaenomen desselben, daher Ber- keley seinen reinen Immaterialismus auch Phaenomenalismus nennt, mit dem er sich rühmt, ein rein mo- nistisches System begründet und alle aus der Annahme eines materiellen Prineips hervorgehenden Widersprüche beseitigt, die Grundlagen des Glaubens aber neu befestigt zu haben. Erst vom Standpunkte des Kan- tischen Kriticismus aus ist es möglich, sowohl das grosse Verdienst des Ber- keleyanismus zu würdigen, als auch die Achillesferse desselben aufzuweisen. Wir sehen desshalb an dieser Stelle von einer genaueren Kritik ab, um nur durch eine recapitulirende Uebersicht über die bisher geschilderten philosophischen Be- strebungen des 18. Jahrhunderts den Uebergang zum Skeptiecismus David Hu- me’s zu finden. Mehrheitslehre /weiheitslehre Vielheitslehre ——. mar u Ver rn rn Theismus Deismus Monadologie So bunt und mannigfaltig erscheint hier das Bild der Philosophie! Welcher von diesen verschiedenen Standpunkten ist denn nun der richtige? Offenbar wollen alle diese Systeme die Urcau- salität der Welt erklären und von ihrem Princip aus den causalen Zu- sammenhang des Weltganzen be- sreiflich machen. In diesem Streben stimmen sie alle überein; aber sie gehen gänzlich auseinander in dem, was sie als die eigentliche causale Triebfeder des Weltwerdens ansetzen. Wo so viele einander widerstreitende Ansichten über dasselbe Problem auftauchen, kann un- möglich das Richtige schon mit Sicher- heit erkannt sein. Und doch ist bereits In zwei Formen trat uns der Dua- lismus entgegen: in der christlich- dogmatischen des Theismus und in der freidenkerischen des Deismus. Sowohl Theismus als Deismus setzen zwei Grundprincipien: Gott und Welt. An Stelle der Zweiheit von Prin- cipien erscheint in der Leibnizischen Monadenlehre eine Vielheit von Prin- cipien: wir bezeichneten daher die Mo- nadologie als individualistischen Pluralismus. Dualismus (Theismus und Deismus) und Pluralismus fassen wir jetzt unter dem Allgemeinbegriff der Mehrheitslehre (weil mehrere Principien gelehrt werden) zusammen. Ihr steht gegenüber die Einheits- lehre in den beiden Formen der Ein- heitlichkeitslehre (der Pantheis- mus Spinoza’s, in welchem Gott und Welt als einheitlich verbunden ge- dacht werden) und der Einzigkeits- lehre, mit den beiden Unterformen des Materialismus und des Im- materialismus (Phaenomenalismus). Im Schema: Einheitslehre Einheitlichkeitslehre — m Pantheismus (Spinoza) Einzigkeitslehre — Materia- Phaenome- lismus nalismus eine Riesenmühe an die Aufgabe ver- wendet worden! Da liegt endlich der Zweifel nahe, ob es denn überhaupt möglich sei, das Problem zu lösen, ob die Causalität der Dinge über- haupt erkennbar sei: Die Gau- salität selbst wird somit zum Erkenntnissproblem. Der scharf- sinnige Denker, der auf die Causalität hinsichtlich ihrer Erkennbarkeit jetzt die Untersuchung richtet, und damit den Anstoss zu Kant’s kritischen For- schungen gibt, ist David Hume, dessen Ruhm nicht höher hätte ver- kündet werden können als dadurch, dass ein Kant bekennt, von ihm aus dem dogmatischen Schlummer geweckt zusein. (Fortsetzung folgt.) Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. Von Henry. Potonie. Wenn eine gewisse Summe von That- sachen errungen worden ist, und der Forscher sich zuvörderst auf diese be- schränkt, so besteht die nächste Thätig- keit desselben darin, dieselben zu ordnen: das Aehnliche zusammenzustellen, das Unähnliche zu sondern und die Einzel- heiten durch Gedanken, Theorieen zu verbinden. Diese Zusammenfassung des Zusammengehörigen ergiebt die Einthei- lung in Wissenschaften. — Es ist nun sofort einleuchtend, dass durch die Er- werbung neuer, bei der Eintheilung also unberücksichtigtgebliebener Thatsachen, die vorher erzielte, auf eine beschränkte Anzahl derselben begründete Einthei: lung sich vielfach als hinfällig heraus- stellen muss, dass sie also mit der Zeit einer Aenderung unterliegen wird. - Es ist also zu beachten, dass solche Ein- theilungen nicht a priori gemacht wer- den können. Innerhalb der Wissen- schaften wird in gleicher Weise ver- fahren und so eine Scheidung in Disci- plinen erreicht. So gewonnene Disciplinen sind nun in der Wissenschaft von den organischen “Wesen die Morphologie und die Physiologie, derenVerhältniss zu einander zu betrachten der Zweck folgender Zeilen ist. Die Anregung hierzu ist gegeben durch die Ansicht, welche in neuerer Zeit sich "schaft geltend zu machen strebt, dass es eigent- lich der morphologischen Wissenschaft nicht bedarf, was doch nur nach dem Gesagten heissen kann, dass die in der- selben verwertheten Thatsachen besser anderweitig untergebracht werden. Es soll nun auf Grund der bisher erwor- benen Kenntnisse hiermit der Versuch gemacht werden, die Lösung des Pro- blems anzudeuten, ob die Fakta eine Scheidung in Morphologie und Physio- logie gebieten, oder ob es wirklich sich herausstellt, dass die Morphologie als besondere Wissenschaft aufzugeben ist. Die Betrachtung alles dessen, was die Wissenschaft von der organischen Natur enthält, führt bald zu der Er- kenntniss, dass auf der einen Seite eine Reihe von Thatsachen sich einzig auf das materielle Substrat, durch welches die Organismen in die Erschei- nung treten, beziehen, Thatsachen, die nur die Anordnung, die Form, die gegenseitige Lage der Theile der Lebe- | wesen ausdrücken, und dass anderer- seits gewisse Erscheinungen sich einzig auf den Zweck, welchen die verschie- denen Theile der Organismen für das Individuum oder sonst wie haben, be- ziehen. In der That scheint es zuvör- derstzweckmässig, die organische Wissen- in eine Lehre vom mate- riellen Substrat der Organis- 96 men: Morphologie im weitesten Sinne, zu scheiden, und in eine Lehre vom Zweck der Theile des Körpers der Lebewesen: die Physiologie. Nun muss allerdings um ein Organ physiologisch besprechen zu können, vorher eine Darlegung der physikalischen Eigenschaften desselben stattgefunden haben, und man pflegt dies die mor- phologische Betrachtung desselben zu nennen. Dass nun selbstredend solche physiologischen Erörterungen nothwen- dig vorausgehende morphologische Be- trachtungen nicht eine Wissenschaft zu bilden vermögen, liegt auf der Hand. Schon die blosse Absicht, das Organ seinem Baue nach nur desshalb kennen zu lernen, um dann seine Wirkungs- weise für das Leben zu verstehen, be- weist dies zur Genüge. Von einer sol- chen Morphologie kann also natürlich hier von vornherein nicht die Rede sein. Es ist hier Morphologie und Physiologie überhaupt gar nicht zu trennen und somit die Morphologie in diesem Sinne keine für sich bestehende Wissenschaft. Es ist daher klar, dass gewisse Funktionen nur in Verbindung mit be- stimmten Formen gedacht werden kön- nen, so dass hier die Form und die Funktion am besten zusammen betrachtet werden, und da obendrein nachgewiesen worden ist, dass in vielen Fällen, wo sonst nur die morphologische Betrach- tung Geltung besass, die betreffenden Verhältnisse einzig von der Funktion bedingt sind, so glaubte man folgern zu dürfen, dass schliesslich sich überall der Zusammenhang zwischen Form und Funktion herausstellen würde, und dass somit Morphologie und Physiologie im Grunde zusammenfallen. Es fragt sich nun: Ist diese Folge- rung richtig, oder giebt es Thatsachen, die keine physiologische Deutung zu- lassen, somit einer anderen Disciplin zuzuweisen sind? — Die befriedigende Lösung dieses Problems ist abhängig von der Wahr- Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. scheinlichkeit, mit welcher dargethan werden kann, dass entweder alles dar- auf hinweist, dass die Form allein von der Funktion bedingt wird, oder, dass es nach dem Standpunkte unserer jetzi- gen Kenntnisse gerechtfertigt ist, ge- wissen Gestaltungen der Organismen mit überzeugender Kraft eine durchaus andere als physiologische Bedeutung beizulegen. Im letzten Falle würde eine Wissenschaft der Morphologie gesichert erscheinen, während, wenn das Problem die zuerst genannte Lösung erführe, gesagt sein würde, dass die Morpho- logie, wenigstens als besondere Wissen- schaft, keine Berechtigung habe. Uebrigens werden wahrscheinlich jederzeit gewisse Formenverhältnisse übrig bleiben, die sich einer physiolo- gischen Deutung nur wegen unserer doch immerhin lückenhaft. bleibenden Kenntniss entziehen, trotzdem dieselben irgend einen uns unbekannten Zweck haben könnten. Insofern wird aller- dings immer ein Gebiet zurückbleiben, in welchem Untersuchungen, die sich allein auf die Formen richten, statt- finden; aber dieses Gebiet bildet keine Wissenschaft, da man immer an das Fehlende erinnert werden muss: es kein abgeschlossenes Ganze darstellt, welches auf bestimmten Principien ruhend, ein von Gedanken und Theorieen getragenes Gebäude sein muss, um eine Wissen- schaft genannt werden zu dürfen. Es kommt mithin darauf an, darzuthun: entweder, dass wirklich gewisse Formen- verhältnisse im weitesten Sinne keine physiologische Behandlungzulassen, d.h., dass man nach der Betrachtung der- selben vollkommene Befriedigung fühlt, da man die Gründe ihres Daseins kennt, wenigstens soweit dies, bis auf die ersten Principien der Forschung zurückgehend, möglich ist; oder es ist nachzuweisen, dass alle Formenerscheinungen noth- wendig auf eine physiologische Deutung zu harren haben. — Auf Grund unserer jetzigen Anschauungen und Erfahrungen Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. 97 auf naturwissenschaftlichem Gebiete glaube ich, dass dieses Problem in dem ersterwähnten Sinne gelöst werden kann. Wenn wir die am wenigsten diffe- renzirten Organismen, die wir kennen, und alles was wir über dieselben wissen, ins Auge fassen, die aus einer einzigen, so einfach als möglich gestalteten Zelle bestehen, so haben wir bis jetzt noch keine Anhaltspunkte, welche uns ge- statteten, das für das Leben dieser Zellen nothwendige und nicht nothwendige, resp. nützliche und nicht nützliche zu sondern. Die Anordnung der Moleküle der Zellen ist von vornherein nur durch theoretische Betrachtungen zu muth- massen; ja die Annahme von Molekülen selbst ist eine theoretische. Hier kön- nen wir nicht an thatsächlich Gegebenes anknüpfen, wesshalb unsere Schlüsse Gefahr laufen, fehl zu treffen. Zwar begreifen wir, dass diese einfachsten Organismen z. B. sich ernähren und athmen müssen, aber ob diese Funk- tionen von bestimmten Theilen des doch wahrscheinlich sehr complicirt organi- sirten Plasmas ausgehen, oder ob jeder Theil der Zelle in gleicher Weise allen Funktionen genügt, welche letzte An- schauung den meisten Anklang gefunden hat, ist uns doch unbekannt. Es fehlt uns hier bisher noch jeder Anhaltspunkt, der uns berechtigte, bestimmte Form- erscheinungen als einzig vom Material abhängig zu erklären, welches zum Auf- bau des Körpers dient, und andere als für die Funktion nothwendig darzulegen. Nun ist es allerdings richtig, dass bei der Entstehung der ersten Lebe- wesen dieselben zur Bildung ihres Lei- bes die vorhandene Materie verwenden mussten, und dass sie, da es zum Leben gewisser Funktionen bedarf, diesen ge- gebenen Stoff so gestalteten, dass die Funktionen möglich waren. Man sieht, dass dabei die Beschaffenheit der Ma- terie selbst einen Einfluss auf die Ge- staltung des Leibes wird ausüben müssen, die also, ‘soweit dies geschieht, von der Funktion gänzlich unabhängig ist. Die- ses durch das Wesen der Materie allein Bedingte zu erforschen, wäre nun nach dem Gesagten bereits Aufgabe der Mor- phologie.. Aber, wie erwähnt, kommen wir hier doch über blosse Speculationen, die sich allein auf Annahmen und nicht auf Thatsachen stützen, nicht hinaus. Nun sehen wir schon bei den un- differenzirtesten Organismen verschie- dene Formen auftreten: die einfachen Zellen nehmen verschiedene Gestalten an; aber wodurch diese Mannigfaltig- keit bedingt wird, ist bislang noch un- entschieden. Wir wissen nicht, in wie weit diese Formabweichungen durch molekulare Verhältnisse bestimmt wer- den, oder durch geänderte Funktionen bei der Anpassung an andere Lebens- bedingungen gefordert sind. Erst bei weiter differenzirten grösseren Lebe- wesen, bei welchen sicher erkannt wer- den kann, dass bestimmten Theilen, in diesem Falle Organe genannt, auch be- stimmte Funktionen zugewiesen sind, erst hier finden wir den Ausgangspunkt für unsere Betrachtung, die doch eben das Verhältniss der Formen im wei- testen Sinne zu den Funktionen be- handeln will und daher auch erst da beginnen kann, wo überhaupt ein Zu- sammenhang zwischen Form und Funk- tion erkannt worden ist. Stellen wir uns nun vor, dass ein organisches Wesen, bei welchem eine Arbeitstheilung sicher vorliegt, sich, wie es die Descendenz-Theorie verlangt, um- gestaltet, d. h. zu neuen Arten fort- schreitet, so kann dies nur dadurch geschehen, dass die physiologischen Organe ihre Gestaltung, soweit es ohne Gefahr für die ihnen obliegende Funk- tion geschehen kann, modificiren. Nun ist es wahrscheinlich, und so nimmt es die Wissenschaft, wie schon gesagt, vorläufig auch an, dass bei den ein- fachsten Organismen alle Funktionen von allen Theilen der Zelle gleichmässig verrichtet werden, die erst später ge- 98 Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. sonderten Organen übertragen werden; desshalb ist es erklärlich, dass bei schon differenzirten Organismen die Zellen, welche einer bestimmten Funktion dienen, die Fähigkeit besitzen werden, mit der Zeit andere Funktionen für die ihnen augenblicklich zugewiesenen einzutau- schen, um so mehr, als sie im Urzustande genöthigt waren, alle zum Leben er- forderlichen Funktionen überhaupt zu leisten. Es könnte dies somit in ge- wissem Sinne als Rückschlag, Atavis- mus aufgefasst werden, wenigstens in den Fällen, wo nicht eine ganz neue Funktion übernommen wird. Beginnt nun ein solcher Tausch sich einzuleiten, so müssen wir annehmen, dass er für eine gewisse Gruppe von Wesen an- fängt nützlich zu werden; dabei kann nun das ursprüngliche Organ, das an seinem ursprünglichen Orte natürlich verharrt, entweder eine neue Funktion übernehmen, oder es wird ganz funk- tionslos und wird, wenn es dennoch nicht oder doch nur bis zu einem er- kennbaren Rest schwindet, einfach fort- geerbt, ohne dass es mehr als eine, höchstens ganz untergeordnete Bedeu- tung für das Leben des Organismus hätte. Dass es in der That solche nicht physiologischen Organe giebt, scheint nicht zweifelhaft: alle sogenannten ru- dimentären Organe sind hierher zu rechnen. Wahrscheinlich haben z. B. bei den höheren Pflanzen ursprünglich bestimmte Organe, die Blätter, die allei- nige Funktion gehabt, für die Gewächse zu assimiliren. Bei gewissen Pflanzen übernahmen diese Blätter oder ein Theil derselben an jeder Pflanze andere Funk- tionen, wie die Blüthenblätter; in an- deren Fällen jedoch wurde die Funk- tion der Blätter anderen Organen über- tragen, z. B. Sprossen, und zwar be- hielten entweder daneben die Blätter die ursprüngliche Funktion noch bei, oder aber sie gaben dieselbe auf und verkümmerten, wie dies z. B. Phyllo- cladus, Asparagus und andere Pflanzen zeigen. Es kann also kaum bestritten werden, dass es Wesen giebt, welche Organe besitzen, die keine physiolo- gische Bedeutung haben, also durch ihr Vorhandensein einzig Angriffspunkte für die Abstammung der Lebewesen abgeben. Diese Organe nun, die auf bestimmte Orte angewiesen bleiben, können somit nur von der Physiologie gesondert betrachtet werden, in einer Wissenschaft, die sehr zweckmässig Morphologie genannt worden ist. Diese rein morphologischen Organe werden einzig durch Vererbung erhalten, wenn sie nicht doch noch in untergeordneter Weise nützlich sind, wie z. B. die ru- dimentären Blätter, von denen ange- nommen werden könnte, dass sie für die Pflanze insofern wichtig sind, als sie in manchen Fällen wenigstens die in ihren Achseln entstehenden Spross- anlagen schützen; die physiologischen Organe hingegen sichern ihre Existenz durch Vererbung und Gebrauch. Aus dem Thierreich mag als Beispiel rudimentärer Organe das Vorkommen niemals durchbrechender Schneidezähne im Oberkiefer ungeborener Kälber die- nen. Die rein morphologischen Organe können schliesslich wegen ihrer Bedeu- tungslosigkeit — ohne Schaden also für den Organismus — gänzlich zu Grunde gehen, so dass überhaupt nur der Ort, welchen sie einnahmen, zu- nächst noch zurückbleiben wird, bis auch dieser aus gleichen Gründen in besonderen Fällen verschwinden kann. Hierauf gründet sich die Annahme fehl- geschlagener, abortirter Organe, die übrigens auch dadurch entstanden gedacht werden können, dass zwar nütz- liche, jedoch überflüssige Organe ihren Platz räumen. So ist es recht wohl möglich, dass bei einer Pflanze, die in ihren Blüthen erst viele Staubblätter besass, einige derselben aufgegeben wurden, da die Befruchtung in gleicher Weise vor- wie nachher gesichert blei- ben kann. Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. 99 Wie schon angedeutet, ist noch eine andere Reihe von Erscheinungen mor- phologischen Betrachtungen in dem hier geäusserten Sinne zugänglich, nämlich der Funktionswechsel der Or- gane. Sehen wir an Orten, wo wir gewohnt sind, bestimmte physiologische Organe anzutreffen, solche von unge- wöhnlicher Funktion, so liegt der Ge- danke nahe, dass hier bei der Um- formung der Arten die betreffenden Or- gane ihre Funktion geändert haben. Beispiele hierfür liefern die Ranken, die bei den Passifloren u. s. w. an Stelle von Zweigen auftreten, also morpho- logisch metamorphosirte Sprosse ge-- nannt werden dürfen und die Ranken von Lathyrus Aphaca, welche die Stelle der Laubblätter einnehmen und daher als metamorphosirte Blätter gedeutet werden. Da man annehmen muss, dass die physiologischen Organe sich nach und nach gesondert haben, so ist es wohl berechtigt, hier die Entstehung der Ranken später zu setzen, als das Auftreten der assimilirenden Laubblätter, die offenbar die wichtigeren Organe sind, und daher früher vorhanden sein mussten. Wer dies nicht zugiebt, kann allerdings behaupten, dass bei den ge- nannten Gewächsen vielmehr die Blätter metamorphosirte Ranken sind; aber es müsste dann wahrscheinlich gemacht werden, dass die betreffenden Pflanzen in einem früheren Zustande an Stelle der assimilirenden Laubblätter Ranken besessen haben. Dieser letzten Annahme möchten sich jedoch viele Bedenken entgegenstellen lassen. Jedenfalls kommt esalso bei solchen Fällen immer daraufan, welche von zwei Funktionen man durch die Umstände genöthigt wird, als die frühere anzunehmen. Eine dritte Reihe von Thatsachen, nämlich die Homologieen, welche im Bau gewisser Organe verschiedener Arten sich zeigen, sind ebenfalls rein mor- phologischer Natur, da auch hier die Einsicht leicht zu gewinnen ist, dass zur Erreichung des Zweckes, welchen das betreffende Organ für den Organis- mus zu erfüllen hat, die Construction desselben auch eine andere sein könnte. Wie verschieden funktioniren nicht die Mundtheile der Insekten? — und trotz- dem welche Uebereinstimmung im Bau derselben! Ein hierher gehöriges Bei- spiel aus dem Pflanzenreich wäre die Verschiedenheit der Natur der haarigen Anhänge der Samen und Früchte zur Verbreitung derselben durch den Wind bei verschiedenen Familien. So haben die Baumwollenarten solche Anhänge an den Samen, während dieselben bei gewissen Ranunculaceen Fruchtblatt- natur besitzen und bei Gräsern die Ver- breitung durch haarige Anhänge der die Blüthe umhüllenden Blätter begün- stigst wird. — Auch die hierher gehö- rigen Erscheinungen lassen sich nur vom descendenz-theoretischen Standpunkte aus begreifen. Denn für die Thatsache, dass gerade die systematisch verwandten Organismen auf gleiche Weise verfah- ren, um gewisse Zwecke zu erreichen, oder verschieden funktionirende Organe aus gleichen Stücken, nach demselben Typus construiren, ist vorläufig noch kein besserer Grund angegeben worden. Auch Erscheinungen aus der Ent- wickelungsgeschichte kann eine Bedeutung für das Leben des Organis- mus nicht zugeschrieben werden, da uns bekannt ist, dass erst dasjenige, was durch die Entwickelung erreicht wer- den soll, für das Leben des Wesens von Wichtigkeit ist. Wenn wir daher sehen, dass bei verschiedenen Pflanzenarten zur Erreichung desselben genau bekannten Zieles verschiedene Wege benutzt wer- den, so müssen wir zugeben, dass un- möglich die Art und Weise der Ent- wickelung, um diesen Zweck zu er- reichen, von Bedeutung für das Leben des Organismus sein kann. Man wird doch kaum bestreiten, dass wenn z. B. bei verschiedenen Arten, um denselben Blüthenstand mit derselben Aufblüh- 100 folge zu erlangen, zwei Wege eingeschla- gen werden, der Grund dieser verschie- denen Entwickelungsweise nicht ein physiologischer sein kann. — Ein Blü- thenstand mit einer Hauptachse und vielen Nebenachsen, bei welchem die Blüthen von unten nach oben nach einander aufbrechen, kann sowohl eine Traube als auch ein Wickel sein, zwei Begriffe, die sich auf den Aufbau, die Entstehungsweise dieser Blüthenstände beziehen. — Auch hier ist wieder die verschiedene Descendenz der gedachten Arten, welche, in den Fällen wenigstens, wo nicht eine ganz neue Anpassung vorliegt, allein diese Unterschiede in der Entwickelung zu erklären vermag. Ebenso ist es mit der Verschiedenheit im Theilungsmodus der Zellen zur Dif- ferenzirung bestimmter erkannter Organe. Die Wurzelhaube dient z. B. offenbar überall einzig dazu, die Vegetationsspitze des Wurzelkörpers zu schützen; und trotz dieser überein- stimmenden Funktion bei allen Pflanzen ist die Entstehung bei den verschiedenen Pflanzen sehr abweichend. Mit anderen Worten: Die Genesis von Organen, welche eine gleiche Funktion haben, ist häufig nicht dieselbe. Es hat also in solchen Fällen die Morphologie wie- derum eine Fülle von Thatsachen zu deuten, und zwar durch Verwerthung derselben für ein natürliches System in descendenz-theoretischem Sinne. Aus dem Gesagten geht hervor, dass wir, wie die Sache jetzt steht, berech- tigt sind, von einer praktischen und theoretischen Morphologie zu sprechen. Die erste behandelt solche Fälle mit, | bei welchen noch nicht erkannt worden ist, ob sie in irgend einer Weise nütz- physiologisch | Henry Potonie, Ueber das Verhältniss der Morphologie zur Physiologie. lich sind oder nicht, wie z. B. die Blattformen ; während die theoretische, d. h. wissenschaftliche Morphologie nach dieser Darstellung einzig solche Erschei- nungen einer Betrachtung unterziehen darf, für welche Gründe dafür vorliegen, dass sie in keiner Weise nützlich sind. Es ist nun keineswegs gemeint, dass alle Formerscheinungen überhaupt sich den beiden Wissenschaften der Mor- phologie und der Physiologie unter- ordnen lassen; vielmehr sind Fälle recht wohl denkbar, in denen weder eine physiologische noch eine morphologische Deutung in unserem Sinne zulässig ist, nur sind uns bis jetzt keine Beispiele bekannt, von denen dies mit Bestimmt- heit behauptet werden dürfte. Die wichtigsten Erscheinungscom- plexe, welche die theoretische Morpho- logie zu behandeln hat, sind also: Erstens die rudimentären und abortirten Organe, zweitens der Funktionswechsel der Organe, drittens die Homologieen und viertens die Entwickelungs- geschichte. Die hierher zu rechnenden That- sachen sind, wie gesagt, vorläufig nur erklärbar unter der Voraussetzung, dass die organischen Wesen blutsver- wandt sind, und fassen wir die Aufgabe der Morphologie in dem hier dargestell- ten Sinne, so müssen wir mit dem Zoolo- gen C. Gegenbaur sagen: »Die Resultate der Morpho- »logie fliessen in eine Verwandt- »schaftslehre (Genealogie) der Or- »ganismen zusammen, und diese »findet ihren Ausdruck durch »die Systematik (Systemkunde).« Kletterpflanzen, Eine populäre Vorlesung* von Francis Darwin. (Mit 6 Holzschnitten.) Wohl beinahe Jeder hat, denke ich, eine allgemeine Vorstellung davon, was eine Kletterpflanze ist. Gedeihen doch sogar in der rauchigen Atmosphäre Londons zwei Vertreter der Klasse. Ein gewisses Haus des Portman Square zeigt, wie gut der wilde Wein bei uns fortkommt, und den Epheu kann man die Fenster manches Londoner Speise- zimmers umrahmen sehen. Viele andere Kletterpflanzen drängen sich ausserdem der Erinnerung auf, der Weinstock, das Gaisblatt, der Hopfen, die Zaunrübe, da sie mehr oder weniger auffallende Elemente unserer Vegetation bilden. Wenn wir untersuchen, welche Eigen- schaften diesen sonst verschiedenartigen Pflanzen gemeinsam sind, so finden wir, dass sie sämmtlich schwache und üppig wachsende Stengel besitzen, und dass sie, statt gleich andern schwachgebau- ten Pflanzen gezwungen zu sein, sich am Boden hinzuschleppen, alle befähigt sind, sich hoch über denselben zu er- heben, indem sie sich auf irgend eine *® Anm. der Red. Die obige Vorlesung wurde in einer vorjährigen Versammlung der Londoner Sunday - Lecture -Society gehalten, und dürfte unsern Lesern als Uebersicht Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). Art an benachbarten Gegenständen fest- halten. Dies kann in verschiedener Weise geschehen, durch Festkleben an einer flachen Oberfläche gleich dem Epheu, oder durch Winden um einen Stab, gleich dem Hopfen, oder vermit- telst Ranken, gleich dem Weinstock. Diese verschiedenartigen Einrich- tungen sind von mehr als einem deut- schen Naturforscher studirt worden und ebenso von meinem Vater, in dessen Buch über die »Bewegungen und Lebens- weise der kletternden Pflanzen«* sehr reichliche Details über diesen Gegen- stand zu finden sind. Die Kletterpflanzen werden zunächst grob eingetheilt in solche, welche win- den und solche, welche nicht winden; die ersteren, welche man Schling- pflanzen nennt, werden durch Hopfen und Gaisblatt und alle jene Pflanzen repräsentirt, welche an einem Stab emporklettern, indem sie sich spiralig um denselben winden. Diejenigen, welche keine Schlingpflanzen sind, gewinnen eine Stütze, indem sie irgend einen und Einführung in das betreffende, höchst anziehende Forschungsgebiet willkommen sein. ® Deutsche Ausgabe von J. Vietor Carus. Stuttgart 1876. 8 102 nahen Gegenstand mit verschiedenartigen Klammer-Organen ergreifen, mögen dies nun einfache Haken, oder festhaltende Wurzeln, oder ausgebildete und empfind- liche Ranken sein, welche sich mit einer Geschwindigkeit, die mehr der Thätig- keit eines Thieres, als der einer Pflanze gleicht, eines Stabes als Stütze bemäch- tigen. Wir werden weiter unten auf diese zweite Klasse von Kletterpflanzen zurückkommen und werden dann ihre verschiedenen Arten von Klammerorga- nen betrachten. Ich wünsche jetzt nur die Wichtigkeit der Unterscheidung zwi- schen diesen beiden Arten des Kletterns hervorzuheben: bei der einen steigt die Pflanze an der Stütze empor, indem sie spiralig um sie herumwandert, bei der andern befestigt sie sich an der Stütze, indem sie dieselbe an einer Stelle erfasst und fortfährt sie höher und höher zu umfassen, wie ihr Stamm in der Länge wächst. Ich habe den Vorsteher eines aus- wärtigen botanischen Gartens sich bitter über seine Gärtner beklagen hören, dass sie niemals den Unterschied zwischen diesen beiden Klassen von Kletterpflan- zen lernen wollten, und dass sie einigen Ranken tragenden Pflanzen blos einige kahle Stäbe geben wollten, in der Er- wartung, dass sie sich wie Hopfen um dieselben winden würden, während diese Pflanzen in Wirklichkeit eines mit Seiten- zweigen versehenen Astes bedürfen, an welchem sie in die Höhe klettern können, indem sie mit jeder ihrer zarten Ranken einen Zweig ergreifen, während sie höher und höher steigen. Diese beiden Arten von Kletterpflanzen — Schlinger und “Nichtschlinger — können wir in jedem Küchengarten, wo die Feuerbohnen spi- ralig um dünne Stangen winden, und die Erbsen an ästigen, in Reihen ge- steckten Zweigen in die Höhe klettern, beobachten. Eine Hopfenpflanze wird ein gutes Beispiel von der Wachsthumsart der wahren Schlingpflanzen abgeben. Wir Franeis Darwin, Kletterpflanzen. wollen uns einbilden, dass wir eine junge in einem Topfe wachsende Hopfen- pflanze haben, und wollen annehmen, dass sie keinen Stab habe, um daran in die Höhe zu winden, und dass ihr Topf an irgend einem offenen Orte stehe, wo keine andere Pflanze sich befindet, mit der sie in Berührung kommen könnte. Ein langer dünner Schössling wird her- auswachsen, und, da er nicht stark ge- nug ist, sich selbst in aufrechter Stel- lung zu tragen, nach der einen Seite überhängen. Bis hierher haben wir nichts irgendwie Bemerkenswerthes an unserer Hopfenpflanze wahrgenommen, sie hat einen wuchernden Schössling ausgesandt, welcher sich verhalten hat, wie man erwarten konnte, indem er nach der einen Seite überfiel. Aber wenn wir jetzt die Pflanze genau be- wachen, werden wir eine sehr merk- würdige Erscheinung eintreten sehen. Angenommen, dass wir davon Notiz genommen haben, dass der Schössling, als er überzuneigen begann, nach dem Fenster, nehmen wir an, nach einem nördlichen Fenster gerichtet war, und dass er, wenn wir zum nächsten Male nach einigen Stunden nach ihm sehen, in den Raum hinein, d. h. nach Süden zeigte, so werden wir wiederum nach einem ferneren Zwischenraum, die merk- würdige Thatsache entdeckt haben, dass die Hopfenpflanze ein gewisses Beweg- ungsvermögen besitzt, durch welches ihr Schössling zeitweise nach der einen, und zeitweise nach einer anderen Rich- tung weist. Aber dies wäre nur eine halbe Beobachtung, und wenn wir eine genaue Untersuchung anstellen, werden wir finden, dass die Bewegung kon- stant und regelmässig ist, indem der Stengel zuerst nach Norden, dann nach Osten, Süden, Westen in regel- mässiger Folge deutet, so dass seine Spitze beständig rund herum wandert, gleich dem Zeiger einer Uhr, und bei warmem Augustwetter eine Umdrehung in zwei Stunden vollendet. Hier finden Franeis Darwin, Kletterpflanzen. wir also im Besitze der Schösslinge windender Pflanzen ein höchst merk- würdiges Vermögen, welches werth ist, weiter untersucht zu werden, sowohl hinsichtlich der Art, in welcher die Be- wegung hervorgebracht wird, als rück- sichtlich des Nutzens, welche sie für die Pflanze haben kann. In gärtneri- schen Zeitschriften sieht man oft Fragen darüber aufgeworfen, wie Hopfen und andere Schlingpflanzen es anfangen, stets genau in der Richtung zu wach- sen, in welcher sie eine Stütze finden werden. Diese Thatsache hat viele Beobachter in Erstaunen versetzt, welche angenommen haben, dass Kletterpflanzen irgend ein geheimes Sinnesvermögen be- sitzen, durch welches sie das Vorhan- densein einer Stütze entdecken, an wel- cher sie in der Folge emporklimmen. Aber in Wirklichkeit giebt es keinerlei Art von Geheimniss bei der Sache: der wachsende Schössling schwingt einfach rund herum, bis er einer Stütze be- gegnet und klettert dann an ihr hinauf. Nun kann ein umlaufender Schössling mehr als zwei Fuss lang sein, so dass er in seinen Kreisschwingungen durch einen in einer Entfernung von nahezu zwei Fuss in der Erde befestigten Stab aufgehalten werden kann. Dann wird ein gerades Stengelstück vorhanden sein, welches von der Wurzel der Pflanze in gerader Linie zu dem Stabe führt, um welchen sie windet, so dass ein Beobachter, welcher nichts von der Kreisbewegung wusste, entschuldigt wer- den kann, wenn er annahm, dass die Pflanze auf irgend eine Weise den Stab wahrgenommen habe, und geradenwegs zu ihm hingewachsen sei. Dieses selbe Vermögen einer langsamen Kreisschwing- ung kommt bei dem eigentlichen Akt des Windens um eine Stütze in’s Spiel. Angenommen, ich nehme ein dünnes Seil und schwinge es rings um mein Haupt: so kann das als Versinnlichung der Kreisbewegung eines jungen Hopfen- schösslings genommen werden. Wenn 103 ich ihm dann gestatte, gegen eine Stange zu schlagen, so windet sich das Ende des Seils, welches über die Stange hin- ausragte, freiwillig in einer Spirale rund um dieselbe. Und dies kann als eine rohe Darstellung der Thätigkeit einer Schlingpflanze nach ihrer Begegnung mit einem auf ihrem Wege stehenden Stabe betrachtet werden. Das heisst, der Theil des Sprösslings, welcher über den Stab hinausragt, fährt fort, sich gegen ihn zu winden, und da das Wachs- thum fortschreitet, wird das überragende Stengelstück immerfort länger und län- ger, und indem es immerfort strebt, die kreisende Bewegung weiterzuführen, gelangt es dahin, sich um den Stab zu ringeln. Aber darin liegt ein Unter- schied zwischen dem Seil und der Pflanze, dass das Seil sich in derselben Ebene, in der es geschwungen wurde, um den Stab ringelt, und nicht an dem Stab, gegen welchen es schlägt, in die Höhe windet. Obgleich die Schlingpflanze dagegen in einer ziemlich gleichförmigen Ebene rund herum schwingt, wenn sie nach einer Stütze sucht, bewahrt sie doch nicht, wenn sie um dieselbe sich ringelt, eine gleichförmige Entfernung vom Boden, sondern steigt rings herum windend wie ein Korkzieher bei jeder Windung höher und höher. Man kann eine fernere Erläuterung der Thätigkeit des Windens in dem Seil-Modell auffinden. Es ist eine Ei- genthümlichkeit der Schlingpflanzen, dass sie einzig und allein an mässig dicken Stützen emporsteigen können. Eine Feuerbohne kann an einem Stück Bindfaden oder an einem dünnen, ein bis zwei Zoll im Durchmesser haltenden Stabe emporklimmen, aber wenn sie zu irgend einem dickeren Gegenstande kommt, hört sie auf, dies zu thun. Gerade so wird das schwingende Seil, wenn es gegen einen dicken Baumstamm schlägt, ausser Stande sein, eine Wind- ung um denselben auszuführen, und wird auf die Erde fallen, ohne ihn mit 8* 104 Francis Darwin, Kletterpflanzen. einer einzigen Windung zu umfassen, | zwungen sein, rückwärts und vorwärts wie es bei einem dünnen Stabe thut. Die Schwierigkeit, welche eine Schling- pflanze beim Aufsteigen an einem dicken Stamm findet, wird besser verständlich werden, wenn wir zu der ursprünglichen Kreisbewegung zurückkehren, welche die Pflanze bei der Aufsuchung eines Stabes vollführt und betrachten, wie die Bewegung hervorgebracht wird. Da Pflanzen keine Muskeln besitzen, werden alle ihre Bewegungen durch ungleiches Wachsthum hervorgebracht; das heisst, indem eine Hälfte eines Organes schneller in die Länge wächst, als die entgegengesetzte Hälfte. Nun liest der Unterschied zwischen dem Wachsthum einer Schlinspflanze, welche nach einer Seite hinüberneigt, und einer gewöhnlichen Pflanze, welche gerade aufwärts in die Höhe wächst, darin, dass das Wachsthum in dem aufrechten Schoss auf allen Seiten in derselben Zeit nahezu gleich ist, während die Schlingpflanze stets auf der einen Seite viel schneller wächst, als auf der an- deren. Es kann vermittelst eines einfachen Modells gezeigt werden, wie ungleiches Wachsthum in umlaufende Bewegung verwandelt werden kann. Der Stengel einer jungen Hopfenpflanze werde durch eine biegsame Ruthe dargestellt, deren unteres Ende befestigt ist, während das obere sich frei bewegen lässt. Zuerst wird angenommen, die Ruthe wachse senkrecht aufwärts, aber wenn sie zu winden beginnt, fängt eine Seite an, schneller zu wachsen als alle anderen; angenommen die rechte Seite thäte das, so wird die Ruthe nach der linken Seite überneigen. Lassen wir nun die Region des schnellsten Wachsthums wechseln und die linke Seite anfangen, schneller als alle anderen zu wachsen, so wird die Ruthe gezwungen sein, rückwärts nach der rechten Seite über- zuneigen. So wird die Ruthe durch einen Wechsel des Wachsthums ge- von rechts nach links sich zu beugen. Aber stellen wir uns nun vor, dass das Wachsthum der Ruthe auf der uns zu- und der uns abgekehrten Seite in die Kombination einträte, dass, nachdem die rechte Seite für einige Zeit im schnellsten Wachsthum gewesen, die uns abgekehrte Seite es aufnähme, dann würde die Ruthe sich nicht geraden- wegs rückwärts nach rechts hinüber- beugen, wie sie vorher that, sondern nach der uns zugekehrten Seite. Nun wird die alte Bewegung durch die am schnellsten wachsende linke Seite wieder- kehren, um durch das schnellste Wachs- thum der uns zugekehrten Seite gefolgt zu werden. So wird durch eine regel- mässige Folge das Wachsthum auf allen Seiten in allmähliger Folge die Kreis- schwingung, und durch eine Fortsetzung dieser Thätigkeit, wie ich auseinander- gesetzt habe, die windende Bewegung hervorgebracht. Ich habe mich ausgedrückt, als wenn die Frage, wie Pflanzen winden, ein völlig gelöstes Problem wäre, und in einem gewissen Sinne ist dies der Fall. Ich denke, dass die Erklärung, welche ich gegeben habe, die Begrün- dung der Thatsache bleiben wird. Aber es giebt da noch vieles zu erforschen. Wir wissen nicht im geringsten, warum jede einzelne Hopfenpflanze auf einem Felde wie eine links gedrehte Schraube windet, warum jede einzelne Pflanze eines Bohnenbeetes in der entgegen- gesetzten Richtung windet, noch warum in einigen seltenen Fälle eine Species gleich dem menschlichen Geschlecht in rechts- und linkshändige Individuen ge- theilt ist, indem einige wie eine links- gewundene, andere wie eine rechts- gewundene Schraube winden. Oder ferner, warum einige wenige Pflanzen den halben Weg einer Stange in der einen Richtung emporwinden, und dann die Spirale umkehren und in der ent- gegengesetzten Richtung den Weg fort- Franeis Darwin, Kletterpflanzen. setzen. Noch haben wir eine Idee da- von, was diesen Wechsel des Wachs- .thums verursacht, obwohl wir wissen, dass bei allen diesen Pflanzen, die Windung durch den Wechsel in der Region des schnellsten Wachsthums bewirkt wird. Es giebt da noch viel zu erforschen, und es steht zu hoffen, dass noch eine Fülle von Forschern thätig sein werden, um diese Probleme zu lösen. Oftmals wird der Schlüssel zu einem Problem gefunden, indem man auf die Ausnahmen den Blick richtet. Die Ausnahmen von den allgemeinen Regeln leiten uns oft erst dazu, die Bedeutung und den Ursprung der Regeln selbst zu verstehen, und jeder, den es verlangt, Forschungen über Kletter- pflanzen anzustellen, sollte sich zu sol- chen Ausnahmen wenden. Nun ist es eine allgemeine Regel, dass eine Schling- pflanze in derselben Richtung windet, in welcher sie umläuft. Es scheint ganz deutlich, dass wenn wir das Seil in unserm Versuch um unser Haupt in der Richtung des Uhrzeigers schwingen, dasselbe in-derselben Richtung, in wel- cher es gegen den Stab schlägt, um denselben sich ringeln muss. Aber bei den Pflanzen ist das nicht allemal so. In der grossen Mehrzahl der Fälle trifft es allerdings zu, und wenn dem nicht so wäre, hätten wir das Seil zur Er- läuterung nicht brauchen können; aber es ist nicht allgemein die Regel, jedes Individuum von Hibbertia dentata win- det um seinen Stab stets in derselben Richtung, aber wenn sie die schwin- gende Bewegung im Suchen nach einer Stütze vollbringt, wandern einige Pflan- zen mit der Sonne, und andere in ent- gegengesetzter Richtung. Diese That- sache bildet eine Ausnahme von einer überraschenden Art, und solche Aus- nahmen sind eines genauen Studiums werth. Es giebt andere Thatsachen von einer verschiedenen Natur, welche zu zeigen scheinen, wie schwierig das Pro- 105 blem ist, und wie äusserst fein im Gleichgewicht jener Theil der Pfanzen- Organisation ist, welcher mit dem Be- wegungsvermögen in Verbindung steht. Wenn wir z. B. einen Zweig von den meisten Strauchgewächsen abschneiden und in Wasser setzen, so schreitet er anscheinend im Wachsthum so gesund wie immer fort. In der That zeigt uns die Praxis der Pflanzenzucht aus Setzlin- gen — wobei ein abgeschnittener Zweig oder Schoss Wurzeln bildet und sich in eine neue Pflanze umwandelt, dass dabei keine ernstere Schädigung statt- findet. Aber die Organisation der Schlingpflanzen ist für solche Behand- lung empfindlich. Ein abgeschnittener und in Wasser gestellter Hopfenzweig vollendete, wie beobachtet wurde, seine Kreisbewegung in ungefähr zwanzig Stunden, während er in seiner natür- lichen Lage (d. h. an der Mutterpflanze sitzend) einen vollständigen Umlauf in zwei oder drei Stunden vollführt. Wenn ferner eine in einem Topfe wachsende Pflanze von einem Gewächshaus nach einem andern gebracht wird, ist die so hervorgebrachte leichte Erschütterung hinreichend, die umlaufende Bewegung für einige Zeit aufzuhalten, — ein an- derer Beweis für die Feinheit der in- neren Maschinerie der Pflanzen. Einige Probleme, wie z. B. weshalb Schlingpflanzen in der Regel keine dickern Stämme erklimmen können, müssen von dem Gesichtspunkte der Na- turgeschichte betrachtet werden. Die meisten unserer Schlingpflanzen sterben im Winter ab, so dass sie, wenn sie fähig wären, um dicke Baumstämme zu winden, die ganze kostbare Som- merwitterung vergeuden würden, um wenige Fuss emporzuklimmen, während derselbe Aufwand von Längenwachs- thum, auf das Emporwinden um eine dünne Stütze verwendet, hingereicht haben würde, sie zu dem Lichte em- porzuheben, nach welchem sie stre- ben. Und da eine Pflanze keine Wahl 106 ausübt, sondern blos rund herumläuft, bis sie gegen einen Gegenstand stösst, an welchem sie dann empor zu win- den versuchen wird, so scheint es, als ob die Unfähigkeit, um dicke Stämme zu winden, einer Pflanze von einem positiven Vortheil sein müsse, indem sie dadurch gezwungen wird, an solchen Gegenständen emporzuklimmen, wo es sich der Mühe verlohnt. In der von meinem Vater in sei- nem Buche vorgeschlagenen Eintheilung der Kletterpflanzen, macht er eine Un- terabtheilung der »Hakenkletterer«e. Dieselben können als die einfachsten Vertreter jener Abtheilung der Kletter- pflanzen, welche keine Schlingpflanzen sind, betrachtet werden. Der gemeine Brombeerstrauch klettert oder klimmt durch dichtes Unterholz aufwärts, in- dem er durch die rückwärts gekrümm- ten Dornen unterstützt wird, welche dem rapid wachsenden Schössling ge- statten, aufwärts zu kriechen, wie er sich verlängert, aber ihn vor dem Wie- derabwärtsgleiten bewahren. Das ge- meine Gänsegras (Galium. Aparine) klet- tert ebenfalls auf diesem Wege, indem es gleich einer Klette an der Seite eines Heckenzaunes festklebt, auf welchem es klettert. Die meisten auf dem Lande Aufgewachsenen werden sich erinnern, von dieser klettenartigen Beschaffenheit des Galium Vortheil gezogen zu haben, indem : sie nachgemachte Vogelnester daraus verfertigten, da die dornigen Stengel leicht in der gewünschten Form aneinanderhaften. Solche Pflanzen wie die Brombeere oder Galium weisen nichts* von der umschwingenden Be- wegung auf, welche ich bei den Schling- pflanzen beschrieben habe: sie wachsen einfach gerade in die Höhe, indem sie auf ihre Haken vertrauen, um die ge- wonnene Stellung zu behaupten. *® D. h. die allgemeine Circumnutations- Bewegung ist nicht hinreichend entwickelt, um von einer praktischen Wichtigkeit zu sein; dieselbe Bemerkung ist auf die andern Franeis Darwin, Kletterpflanzen. Bei einigen Arten von Clematis treffen wir einen Mechanismus, welcher an den eines einfachen Hakenkletterers erinnert, . aber in Wirklichkeit eine viel bessere Einrichtung darstellt. Die jungen aus- wärts und ein wenig abwärts aus dem Stengel hervortretenden Blätter können uns an die gekrümmten Dornen einer Brombeere erinnern, und gleich ihnen bleiben sie leicht an benachbarten Ge- genständen hängen und unterstützen den langgedehnten Stamm. Das in Figur 1 abgebildete Blatt einer Clematis kann als Beispiel eines gleich einem Haken gebogenen Blattes dienen. Der Hauptstiel des (zusammengesetzten) Blattes biegt sich, wie man sieht, an den aufeinanderfolgenden Punkten, wo Blättchenpaare befestigt sind, winklig nach rückwärts, und das Blättchen am Ende des Blattes ist rechtwinklig nach unten gebogen und bildet so einen Anker-Apparat. Die Waldrebe vertraut nicht, gleich der Brombeere, auf ihr Wachsthum allein, um sich im Busch- dickichtfortzuhelfen, sondern besitzt das- selbe Umlaufsvermögen zur Aufsuchung einer Stütze, welches einfachen, oder ech- ten Schlingpflanzen eigen ist. In der That sind gewisse Clematis-Arten wirkliche Schlingpflanzen und können an einem in ihren Weg gestellten Stab spiralig empor- winden. Und dieselbe umlaufende Beweg- ung, welche sie so befähigt, spiralig zu winden, hilft ihnen auch irgend einen An- haltsort für ihre Haken- oder Anker- gleichen Blätter zu suchen und bei vielen Arten wird die Suche befördert durch die Rundschwingung der Blätter, welche ganz unabhängig von der umlaufenden Bewegung der Stengel, auf dem sie ge- wachsen sind, stattfindet. Wenn einem Blatte einer Clematis auf irgend eine Weise geglückt ist, sich an einem benachbarten Gegenstande Fälle anzuwenden, in denen ich von der Ab- wesenheit von revolvirender Bewegung in den wachsenden Pflanzentheilen gesprochen habe. Franeis Darwin, Kletterpflanzen. festzuhaken, so kommt die für die Blattkletterer im Besonderen cha- rakteristische Eigenschaft in’s Spiel. Der Blattstiel rollt sich gegen den ihn berührenden Gegenstand zusammen und umfasst ihn fest. Es ist klar, wie gross 107 der so über einen blossen Haken ge- wonnene Vortheil ist. Auf solche Weise kann ein Blatt, wie in Figur 2 ab- gebildet, geeignet sein, einen benach- barten Zweig mittelst seines gebogenen Stiels in solcher Weise festzuhaken, Fig;jl.: Fig. 2. umfassenden Stellen verdickt. obgleich es für sich, wenn auch an dem Orte festgehalten, keineswegs das Ge- wicht der Pflanze zu tragen vermöchte, und der Losreissung durch einen star- ken Wind oder durch eine andere Stör- ung ausgesetzt sein würde. Aber wenn der Blattstiel sich rund und eng um den Zweig gerollt hat, kann ihn nichts aus seiner Stellung bringen, und er kann seine Aufgabe bei der Stützung der Pflanze erfüllen. Die äusserste Empfindlichkeit des Blattstiels gegen leichte und zarte Be- rührungen, giebt eine merkwürdige Idee von der Lebendigkeit, mit welcher die Pflanze ihre Stützen aufsucht. Ein Blatt kann durch eine Fadenschleife, die nur ein !/ıs Gran wiegt, veranlasst werden, sich zu krümmen. Es ist eine interessante Thatsache, dass bei solch einem hakenförmigen Blatt wie das von Clematis viticella (Fig. 1) das haken- förmige Endglied des Blattes, welches Junges Blatt von Olematis viticella. Olematis glandulosa. Mit zwei jungen, zwei Zweige umfassenden Blättern; die (Aus demselben Werke.) Fig. 2. (Aus Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) die meiste Aussicht hat, mit Hinder- nissen in Berührung zu kommen, der am meisten empfindliche Theil ist. Dies ist dadurch festgestellt worden, dass kleine Gewichte über verschiedene Theile des Blattes gehängt wurden, und es ergab sich, dass das Endblättchen sich in wenigen Stunden krümmt, nachdem eine Fadenschleife, die weniger als ein Gran wiegt, darüber gehängt ist, wäh- rend dieselbe auf die Stiele der andern Blättchen in vierundzwanzig Stunden keine Wirkung hervorbrachte. Man kann leicht Proben von der Empfind- lichkeit der Blattstiele der wilden eng- lischen Olgmatis-Art auffinden, welche mitunter verwelkte Blätter oder feine Stengel des Zittergrases einfangen. Dieselbe Thatsache wird durch ein Blatt, welches mit ein wenig Wasserfarbe be- tupft wird, dargelegt, indem die zarte Kruste der eingetrockneten Farbe miss- verständlich für irgend einen die Pflanze 105 berührenden Gegenstand genommen wird. In solchen Fällen, oder wenn das Blatt blos mit einem vor dem Ergreifen weg- genommenen Zweige gerieben worden ist, entdeckt die Pflanze, dass sie ge- täuscht worden ist, und das einige Zeit gekrümmte Blatt krümmt sich zurück, und wird wieder gerade. Die Krümmung, welche ein Blatt befähigt, einen Zweig zu ergreifen, ist aber nicht der einzige Wechsel, welchen der Reiz einer Berührung hervorruft. Der Blattstiel schwillt an, wird dicker und holziger und verwandelt sich in eine starke, ausdauernde Stütze der Pflanze. Die Verdickung der Blattstiele ist in Figur 2 erläutert, welche einen Olematis-Spross darstellt, der zwei Blät- ter trägt, von denen jedes einen Zweig ergriffen hat; in einem der Blattstiele hat die Verdickung begonnen und ist sehr auffallend. Die verdickten und holzigen Blattstiele überdauern den Winter, nachdem der Blatttheil abge- fallen ist, und in diesem Zustande sind sie wirklichen Ranken auffallend ähnlich. Die Gattung Tropaeolum, deren kul- tivirte Arten (in England) häufig Na- sturtiums genannt werden, enthält eben- falls viele Blattkletterer, welche gleich Clematis emporklimmen, indem sie in der Nähe befindliche Gegenstände mit ihren Blattstielen ergreifen. Bei einigen Tropaeolum-Arten finden wir Kletterorgane entwickelt, welche logisch nicht von Ranken unterschieden werden können; sie bestehen aus klei- nen Fäden, die nicht grün wie ein Blatt, sondern gefärbt, wie der Stengel sind. Ihre Spitzen sind ein wenig ver- breitert und gefurcht, aber entwickeln sich niemals zu Blättern, und diese Filamente sind gegen Berührung em- pfindlich, und krümmen sich gegen einen sie berührenden Gegenstand, den sie fest umspannen. Fadenförmige Organe dieser Art werden von der jungen Pflanze erzeugt, aber sie bringt in der Folge Filamente mit leicht verbreiterten En- Francis Darwin, Kletterpflanzen. den, dann mit rudimentären oder zwerg- haften Blättern, und endlich mit völlig ausgewachsenen Blättern hervor; wenn diese entwickelt sind, umklammern sie mit ihren Blattstielen, und dann welken die erst entstandenen Filamente und sterben ab; so entwickelt sich die Pflanze, welche in ihrer Jugend ein Ranken- kletterer war, allmählig zu einem wah- ren Blattkletterer. Während des Ueber- ganges kann jede Abstufung zwischen einem Blatt und einer Ranke an ein und derselben Pflanze beobachtet werden. Es ist nicht immer der Stiel eines Blattes, welcher in das umklammernde Organ verwandelt worden ist; das in Figur 3 abgebildete Bignonienblatt trägt Ranken an seiner freien Extremität. Und bei anderen Pflanzen werden die Ranken von Blumenstielen gebildet, deren Blumen unentwickelt geblieben sind, oder eskann auch der ganze Pflan- zenstengel, oder ein einzelner Zweig in eine Ranke verwandelt worden sein. In einem seltsamen Falle von mon- ströser Bildung, wuchs bei einer Kürbis- Art, ein Theil, der eigentlich ein Dorn hätte werden müssen, zu einer langen gerollten Ranke aus. Die Familfe der Bignoniaceen ist eine der interessantesten aus der Ab- theilung der Rankenkletterer in Anbe- tracht der Anpassungs-Verschiedenhei- ten, welche bei ihren Arten angetroffen werde. In der obenerwähnten Figur 3 Blatt einer unbekannten Bignonien- Species von Kew. (Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) Francis Darwin, Kletterpflanzen. ist das Ranken tragende Blatt einer Bignonien-Art dargestellt. Das Blatt trägt ein Blätterpaar und endigt in eine Ranke mit drei Zweigen. Die Hauptranke kann einem Vogelfuss mit drei Zehen verglichen werden, von denen jede eine kleine Kralle trägt. Und dieser Vergleich erscheint passend genug, denn wenn die Ranke gegen einen Zweig trifft, krallen die drei Zehen, wie die eines sich darauf stellenden Vogels um ihn zusammen. Ausser den Zehen oder Ranken ist auch der Blattstiel empfind- lich, und wirkt wie der eines regulären Blattkletterers, indem er sich um einen benachbarten Gegenstand rund zusam- menrollt. In einigen Fällen haben die jungen Blätter keine Ranken an ihren Spitzen, und dies ist genau die Umkehrung des oben erwähnten Falls bei Tropaeolum — ein Rankenklimmer, dessen junge Blätter keine Ranken aufweisen, anstatt eines Blattklimmers, dessen Kletter- organe keine Blätter sind. Dadurch wird die nahe Verwandtschaft, welche zwischen Blatt- und Rankenklimmern existirt, wiederum veranschaulicht. Dieselbe Pflanze vereinigt damit auch die Eigenschaften einer andern Klasse von Kletterpflanzen, nämlich der Schlinsgpflanzen, denn sie kann so gut wie Hopfen oder eine andere echte Schlingpflanze spiralig um eine Stütze emporwinden. Eine andere Art, B. Twee- dyana, nimmt ausserdem Wurzeln, die sie aus den Stengeln hervortreibt, und welche an dem Stamm festhaften, an welchem die Pflanze klettert, für ihre Unterstützung zu Hilfe, so dass hier vier verschiedene Methoden des Klet- terns, mittelst Windung, Blatt-, Ranken- und Wurzelbefestigung, welche gewöhn- lich für verschiedene Klassen klettern- der Pflanzen charakteristisch sind, in einer einzigen Species vereinigt er- scheinen. Unter den Bignonien werden Ranken mit verschiedenen seltsamen Arten von 109 Empfindlichkeit angetroffen. Die Ranken einer Art zeigen das Vermögen des Wachsthums vom Lichte weg nach der Dunkelheit, also gerade das Gegentheil von der Gewohnheit der meisten Pflan- zen in der höchsten Vollendung. Eine in einem Topfe wachsende Pflanze wurde so gestellt, dass das Licht von einer Seite darauf fiel. Eine Ranke, die von dem Lichte weg gerichtet war, bewegte sich nicht, aber die entgegengesetzte Ranke, welche gegen das Licht zeigte, bog rechts herum, und stellte sich zu _ der ersteren Ranke parallel. Der Topf wurde nun rund herum gedreht, so dass beide nach dem Lichte zeigten, und sie bewegten sich beide nach der an- deren Seite herüber, und zeigten vom Lichte weg. In einem andern Falle, in welchem eine Pflanze mit sechs Ranken in eine auf einer Seite offene Büchse gestellt worden war, zeigten alle sechs Ranken, wie ebenso viele Wetterhähne im Winde — sämmtlich genau nach der dunkelsten Ecke der Büchse. Diese Ranken zeigten auch ein merkwürdiges Wahlvermögen. Als es sich ergeben hatte, dass sie die Dunkelheit dem Lichte vorzogen, wurde versucht, ob sie eine geschwärzte Glas- röhre oder eine geschwärzte Zinkplatte ergreifen würden. Die Ranken rollten sich um beide Gegenstände zusammen, entfernten sich aber bald wieder und wanden sich auf, mit einem Verhalten, welches man, wie mein Vater sagt, nur als Ekel bezeichnen kann. Ein Pfosten mit sehr rauher Borke wurde dann in ihre Nähe gebracht, zweimal berührten sie dieselbe für ein bis zwei Stunden, und zweimal zogen sie sich wieder zu- rück; aber zuletzt gewann eine der hakenförmig gekrümmten Ranken Halt auf einem kleinen hervorragenden Punkt der Borke; und nun hatte er gefunden, was er brauchte. Die andern Zweige der Ranke folgten ihm schnell, indem sie sich ausbreiteten, sich allen Uneben- heiten der Oberfläche anpassten, und 110 in alle die kleinen Risse und Höhlun- gen der Borke hineinkrochen. Endlich fand ein bemerkenswerther Wechsel in den Ranken statt: die Spitzen, welche in die Spalten hineingekrochen waren, schwollen zu kleinen Knöpfchen an und sonderten schliesslich einen klebrigen Kitt aus, durch welchen sie in ihren Verstecken festgeklebt wurden. Dieses Mittel, anhängende Scheiben an seinen Ranken zu bilden, werden wir bei dem wilden Wein als dessen einzige Methode sich zu stützen, finden, und es bildet das fünfte Hilfsmittel zum Klettern, welches man unter den Bi- gnonien antrifft. Wir erkennen nun- mehr den Zweck des den Ranken eigen- thümlichen Vermögens, sich nach der Dunkelheit hinzubewegen, denn auf diesem Wege sind sie im Stande, die Stämme der Bäume, an welchen sie sich dann befestigen, aufzufinden und zu erreichen. Es scheint indessen, als ob die Ranken speziell für mit Moos oder Flechten bedeckte Bäume angepasst seien, denn die Ranken werden am mei- sten durch Wolle, Flachs oder Moos gereizt, deren Fasern sie in kleinen Bündeln erfassen können. Der An- schwellungs-Process ist so fein, dass wenn zwei oder drei feine Fasern am Ende einer Ranke bleiben, die Anschwel- lung in Leisten, dünner wie ein Haar, zwischen denselben hervortritt und end- lich die Fasern einhüllt. Dies geht so fort, dass der Ballen am Ende einer Ranke fünfzig bis sechszig Fasern in sich eingebettet haben kann, die ein- ander in verschiedenen Richtungen kreuzen. Die Ranken des wilden Weins dürf- ten hier einer Erwähnung werth sein. Diese Pflanze kann an einer ebenen Wand emporklimmen und ist nicht dazu angepasst, Stäbe oder Zweige zu er- greifen; ihre Ranken rollen gelegentlich um einen Stab, aber häufig lassen sie ihn wieder los. Sie sind gleich den Bignonia-Ranken empfindlich für das Francis Darwin, Kletterpflanzen. Licht und wachsen von ihm weg, auf diese Weise leicht herausfindend, wo die Wand liegt, auf welcher sie heran- zuklimmen haben. Eine Ranke, welche die Wand erreicht hat, sieht man oft sich erheben und abermals herabkom- men, als wenn sie von ihrer ersten Stellung nicht befriedigt wäre. Wenige Tage, nachdem eine Ranke eine Wand berührt hat, schwillt die Spitze an, wird roth, und bildet einen der kleinen Füsse oder Klebepolster, mittelst wel- cher die Ranken festhängen und welche in Figur 5 dargestellt sind. Die An- klebung wird vermittelst eines von den Polstern ausgesonderten harzigen Kittes bewirkt, welcher ein starkes Vereinig- ungsband zwischen der Wand und der Ranke bildet. Nachdem die Ranke be- festigt ist, wird sie holzig, und ist in diesem Zustande merkwürdig dauerhaft, so dass sie fest und völlig kräftig für mehr als fünfzehn Jahre befestigt blei- ben kann. Ausser diesem Tastsinn, durch wel- chen eine Bignonia-Ranke zwischen den Gegenständen, welche sie berührt, un- terscheidet, giebt es noch weitere Bei- spiele von viel vollkommenerer und un- begreiflicherer Empfindlichkeit. So neh- men einige Ranken, welche so empfind- lich sind, dass sie sich aufwärts krümmen, wenn ein Gewicht von !/s3o oder gar !/;o Gran auf sie gelegt wird, nicht die mindeste Notiz von einem Regen- schauer, dessen fallende Tropfen den Ranken einen viel grösseren Stoss ver- setzen müssen. Ferner scheinen einige Ranken das Vermögen zu besitzen, zwi- schen den Gegenständen zu unterschei- den, welche sie zu ergreifen wünschen, und ihren Schwester-Ranken, welche sie nicht zu fangen beabsichtigen. Eine Ranke kann wiederholt über eine an- dere gezogen werden, ohne die letztere zu veranlassen, sich zusammenzuziehen. Die Ranken eines andern ausgezeich- neten Kletterstrauchs Cobaea scandens besitzen einige merkwürdige Eigenthüm- Franeis Darwin, Kletterpflanzen. lichkeiten. Die Ranken sind vielfach getheilt und endigen in feine Zweig- lein, so dünn wie Borsten und sehr biegsam, von denen jede einen winzigen doppelten Haken an seinem Ende trägt. Diese sind von einer harten, holzigen Substanz gebildet, und so scharf wie Nadeln; eine einzige Ranke kann zwi- schen neunzig und hundert dieser wun- derschönen kleinen Enterhaken tragen. Die Biegsamkeit der Ranken ist von Nutzen, indem er ihnen gestattet, durch einen leisen Windhauch bewegt zu werden, und sie können so veranlasst werden, Gegenstände festzuhalten, wel- che ausser dem Bereich ihrer gewöhn- lichen revolvirenden Bewegungen be- findlich sind. Viele Ranken können einen Stab einzig dadurch ergreifen, dass sie sich um ihn herumrollen, und dazu sind selbst bei den am meisten empfindlichen Ranken ein bis zwei Mi- nuten erforderlich, aber bei Cobaea hal- ten die scharfen Haken an kleinen Un- regelmässigkeiten der Rinde in dem Moment fest, in welchem die Ranke mit ihr in Berührung kommt, und nach- her kann die Ranke rund herumrollen und die Befestigung dauernd machen. Die Wichtigkeit dieses Vermögens tem- porärer Befestigung zeigt sich, wenn man einen Glasstab in die Nähe einer Cobaea-Pflanze stellt. Unter diesen Um- ständen verfehlen die Ranken stets Halt an dem Glase zu gewinnen, welches ihre ankerähnlichen Haken nicht er- greifen können. Die Bewegung der kleinen Haken tragenden Zweige ist bei dieser Species sehr merkwürdig. Wenn eine Ranke einen Gegenstand mit ein oder zwei Haken erfasst, ist sie nicht befriedigt, sondern versucht, den Rest derselben auf demselben Wege zu befestigen. Nun werden viele von den Zweigen zu einer solchen Stellung gelangt sein, dass ihre Haken naturgemäss nicht eingreifen können, entweder weil sie seitlich zu stehen kommen oder mit 111 ihren stumpfen Rücken gegen das Holz, aber nach einer kurzen Zeit wird jeder kleine Haken durch einen Vorgang der Drehung und Einstellung so gewendet, dass seine scharfe Spitze an dem Holze Halt gewinnen kann. Der scharfe Haken an den Ranken der Cobaea ist nur eine sehr vollkom- mene Form der rückwärts gewendeten Spitze, welche viele Ranken besitzen, und welche demselben Zweck der zeit- weisen Festhaltung des Gegenstandes dient, bis die Ranke sich herumrollen und ihn sicher fassen kann. Es giebt einen merkwürdigen Beweis von der Nützlichkeit sogar dieses Rückenhakens in der Thatsache, dass die-Ranke blos auf der Innenseite des Hakens für Berührung empfindlich ist. Wenn die Ranke gegen einen Zweig stösst, gleitet sie stets daran hin bis der Haken denselben fasst, so dass es für sie von keinem Nutzen sein würde, auf der convexen Seite empfindlich zu sein. Einige Ranken haben andererseits keinen Haken am Ende und dann sind die Ranken auf jeder Seite für Berührung empfindlich. Diese Ranken verführten meinen Vater anfangs zu einem bemer- kenswerthen Missverständnisse, welches er in seinem Buche erwähnt. Er presste eine Ranke sanft zwischen seinen Fin- gern und da er fand, dass sie sich nicht bewegte, schloss er, dass sie keine Empfindlichkeit besässe. Aber das that- sächliche war, dass die auf zwei Seiten berührte Ranke nicht wusste, welchem Reiz sie gehorchen sollte und desshalb unbeweglich blieb. Sie war in Wirk- lichkeit auf allen Seiten für eine Be- rührung äusserst empfindlich. Es giebt eine bemerkenswerthe Be- wegung, welche bei Ranken eintritt, nachdem sie einen Gegenstand gefangen haben, und welche eine Ranke zu einem besseren Klimmorgan macht, als irgend ein empfindliches Blatt. Diese als »spi- ralige Zusammenziehung« bezeichnete Bewegung ist in Figur 4 abgebildet, 112 welche die spiralig zusammengezogene Ranke der wilden Zaunrübe BDryonia darstellt; sie ist auch in Fig. 5, welche die Ranken des wilden Weins zeigt, zu sehen. Wenn eine Ranke zuerst einen Gegenstand ergreift, ist sie ganz gerade, mit Ausnahme der äussersten Spitze, welche fest um den ergriffenen Gegen- stand herumgerollt ist. Aber nach einem oder zwei Tagen beginnt die Ranke sich zusammenzuziehen, und nimmt schliesslich die in den Figuren dar- gestellte korkzieherartige Form an. Es Francis Darwin, Kletterpflanzen. . ist klar, dass die Ranke, indem sie sich spiralig zusammenzieht, beträchtlich kürzer wird, und da das Ende der Ranke an einem Zweige befestigt ist, so ist es offenbar, dass der Stengel der Bryonia näher zu dem Objekte, welchen seine Ranke ergriffen hat, her- angezogen werden muss. Sie wird, wenn ein Schoss der Bryonia eine über ihm befindliche Stütze ergreift, den Schoss in gerader Richtung emporziehen, so dass in dieser Beziehung das Vermögen der spiraligen Zusammenziehung einem Eine angeheftete, in entgegengesetzten Richtungen spiralig zusammengezogene Ranke von Bryonia dioica. (Aus Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) Rankenklimmer einen Vortheil über Blatt- klimmer verleiht, welche kein Zusammen- ziehungsvermögen und deshalb keine Mittel, sich zu stützenden Gegenständen heranzuziehen, besitzen. Aber die spiralige Zusammenziehung der Ranken hat noch einen anderen Nutzen und dieser gehört wahrschein- lich zu den allerwichtigsten. Dieser Nutzen hängt von der Thatsache ab, dass eine zusammengezogene Ranke wie eine Spiralfeder wirkt, und selbige in einennachgebenden Körper anstatt eines unnachgiebigen verwandelt. Die spiralig gewundene Ranke giebt gleich einem elastischen Bande einem Zuge nach, welcher die Ranke in ihrem ursprüng- lichen Zustande abreissen würde. Die Bedeutung dieser Anordnung ist, die Pflanze zu befähigen, einem Sturme zu widerstehen, welcher sie durch Zer- reissen der Ranken von ihrer Stütze reissen würde, wenn sie nicht in Spiral- federn verwandelt wären. Mein Vater beschreibt, wie er bei stürmischem Wetter eine Bryonia an einer exponirten Hecke beobachtete, und wie zum Trotze des heftigen Win- des, welcher die Zweige der Pflanze umherschleuderte, die Bryonia sicher im Sturme ruhete, >wie ein Schiff mit zwei Ankern im Grunde, und einem langen Tau-Ende am Vordertheil, um als Feder zu dienen, wenn das Schiff im Sturme schaukelt.< Es mag auch dazu dienen, das Gewicht zu verthei- len, welches von einer Anzahl von Ran- ken gleichmässig gestützt werden soll, und dies ist der Sinn der bei den Ran- ken des wilden Weins zu beobachtenden spiraligen Zusammenziehung. In Fig. 4 sieht man, dass nicht alle Windungen der Spirale in derselben Richtung gedreht sind. Erstlich sind Franeis Darwin, Kletterpflanzen. da zwei in einer Richtung, dann sechs in der andern, und dann wieder drei in der ersten Richtung, also sechs Windungen in der einen und fünf in der andern Richtung. Und dies findet allgemein statt; die Windungen nach der einen Richtung sind stets in ihrer = 113 Zahl annähernd den Windungen nach der entgegengesetzten Richtung gleich. Es kann als eine mechanische Noth- wendigkeit erwiesen werden, dass sich eine Ranke, dessen beide Enden be- festigt sind, in dieser Weise verhalten muss. Fig. 5. Ampelopsis hederacea. A. Voll entwickelte Ranke mit einem jungen Blatt auf der entgegengesetzten Seite des Stengels. B. Aeltere Ranke, einige Wochen nach ihrer Befestigung an einer Wand, mit verdickten und spiralig zusammengezogenen Zweigen ‘und den zu Scheiben entwickelten End- {>} ungen. Die unbefestigten Zweige dieser Ranke sind verwelkt und abgefallen. (Aus Ch. Darwin’s Kletterpflanzen.) Ein einfaches Modell, um diese mechanische Nothwendigkeit zu bewei- sen, ist von Sachs in seinem Hand- buch der Botanik beschrieben worden. Es ist durch Ausstreckung eines Strei- fen Kautschuk und Festkittung auf einen unausgestreckten Streifen hergestellt. Die in einem Zustande von Längs- spannung vereinigten Streifen bilden beim Nachlassen des Zuges eine Spi- 114 rale. Wenn das Modell blos an einem Ende festgehalten wird, werden die Windungen der Spirale alle in einer Richtung sein. Und dies stellt das Verhalten einer Ranke vor, welche nicht dazu gelangt ist, eine Stütze zu ergrei- fen: denn irgend eine unbekannte Ur- sache zieht auch solche Ranken zu Spi- ralen zusammen, und die Windungen solcher Spiralen sind alle nach einer Richtung. Aber wenn der Kautschuk- streifen an beiden Enden gehalten wird, erfolgt die Hälfte der Windungen in einer Richtung und die andere Hälfte in der andern, genau wie sich dieselbe Sache bei einer Ranke ereignet. Wir wollen nunmehr die allgemeinen Beziehungen, welche zwischen Schling- pflanzen, Blatt- und Rankenkletterern existiren, betrachten. Einem Evolutio- nisten ist vielleicht die Frage, wie diese verschiedenen Klassen von Kletter- pflanzen entwickelt worden sind, von dem grössten Interesse. Welche Ver- wandtschaft ist zwischen ihnen? Haben sich alle Klassen aus gewöhnlichen, nicht kletternden Pflanzen getrennt ent- wickelt, oder hat sich eine Klasse aus einer der anderen entwickelt, und wenn so, welches ist die älteste Form der Kletter- pflanzen? Ueber diesen letzteın Punkt kann nur geringer Zweifel sein. Ichdenke, wir können als gewiss behaupten, dass die am frühesten existirende Form eine Schlingpflanze war. Wir sehen, dass windende Pflanzen nicht den wesent- lichen Charakterzug der Blatt- oder Rankenklimmer darbieten, nämlich die Empfindlichkeit gegen Berührung, wel- che‘ein Blatt oder eine Ranke befähi- gen, einen Stab zu ergreifen. Dagegen besitzen andererseits viele Blatt- und Rankenklimmer die wesentliche Eigen- schaft einer Schlingpflanze — das Ver- mögen des Umlaufs oder der Kreis- schwingung, welches in den Schöss- lingen, Blättern oder Ranken so vieler von ihnen vorhanden ist. Dieses Um- laufsvermögen dient bei einigen Blatt- Franeis Darwin, Kletterpflanzen. und Rankenklimmern sie bei der Auf- suchung zu Stützen zu führen; aber andere Blatt- und Rankenklimmer win- den, wie wir gesehen haben, wirklich spiralig um einen Stab, genau wie eine echte Schlingpflanze. Wie die Schling- pflanzen ursprünglich ihr Rundschwing- ungs-Vermögen erhielten, brauchen wir jetzt nicht zu untersuchen; es scheint blos eine Erweiterung einer ähnlichen Bewegung zu sein, welche in einer be- deutungslosen Weise auch bei andern Pflanzen vorkommend gefunden wurde. So sind verschiedene Blüthenstiele be- obachtet worden, welche überneigen, und in kleinen Kreisen gleich klettern- den Pflanzen rings herum schwingen. Hier ist die Bewegung blos ein un- verständlicher Begleiter des Wachsthums, denn so weit wir sehen, ist die Be- wegung von keinem Vortheil für den Blumenstiel. Aber die Existenz dieser Bewegung ist von grossem Interesse für uns, denn sie zeigt, wie das Winden einer Pflanze sich aus einer ähnlichen sich vortheilhaft zeigenden Bewegung entwickelt und durch natürliche Zucht- wahl bis zu der erforderlichen Aus- dehnung vermehrt haben kann. Eine andere Frage, welche uns auf- steigen kann, ist diese: inwiefern ist das Klettern mittelst der Blätter oder Ranken eine vollkommnere Methode als durch Winden? Warum bleibt eine Pflanze, wenn sie eine windende ge- worden ist, nicht befriedigt? Die That- sache, dass sich Blatt- und Ranken- klimmer aus Schlingpflanzen entwickelt haben, und nicht umgekehrt, ist ein Beweis dafür, dass Klettern mittelst der Blätter oder Ranken eine vortheilhaftere Gewohnheit ist, als Winden, aber wir sehen nicht ein, warum das so sein muss. Wenn wir untersuchen, warum eine Pflanze überhaupt eine Kletter- pflanze geworden ist, werden wir den Grund einsehen. Licht ist allen grünen Pflanzen erforderlich, und eine Pflanze, welche klettern kann, ist im Stande, Franeis Darwin, Kletterpflanzen. dem Schatten der andern Pflanzen mit einer viel geringeren Material-Verschwen- dung zu entschlüpfen, als ein Wald- baum, welcher seine Aeste einzig durch reines Wachsthum zum Lichte beför- dert. So erreicht der weiche, wuchernde Stengel einer Kletterpflanze alle durch den festen, säulenartigen Baumstamm gewonnenen Vortheile. Wenn wir diese Prüfung — welches ist die sparsamste Kletterweise, Winden, oder Blattklim- men — anwenden, sehen wir mit einem Male, dass eine Pflanze, welche durch Ergreifen klettert, bei weitem weniger Material verbraucht, als eine Schling- pflanze. So wurde eine Schminkbohne, welche an einem Stabe zur Höhe von zwei Fuss emporgeklettert war, wenn sie von ihrer Stütze losgewunden wurde, drei Fuss lang gefunden, während eine Erbse, die durch ihre Ranken zwei Fuss hoch geklettert war, kaum länger als die erreichte Höhe war. So hatte die Bohne bei ihrer Art zu klettern durch Winden um einen Stab, statt gleich der Erbse, durch ihre Ranken unterstützt, gerade aufwärts zu gehen, beträchtlich mehr Material verbraucht. Es giebt noch verschiedene andere Rücksichten, nach welchen Rankenklimmen eine viel bessere Methode als Winden ist. Es ist eine sicherere Methode, wie sich jeder selbst überzeugen kann, wenn er die Sicherheit eines Rankenträgers bei heftigem Winde mit der Leichtigkeit vergleicht, mit welcher eine Schling- pflanze theilweise von ihrer Stütze weg- geblasen wird. Wenn man ferner auf jene Blattklimmer blickt, welche ausser- dem noch Schlingpflanzen sind, so sieht man, wie unvergleichlich besser sie eine Stütze ergreifen, als eine einfache Schlingpflanze. Und schliesslich hat eine auf das Beste zum Erklettern nackter Stämme befähigte Schlingpflanze oftmals im Schatten aufzusteigen, während ein Blatt- oder Ranken- klimmer für die gesammte Ausdehnung seines Wachsthums auf der sonnigen 115 Seite eines Busches umherschweifen kann. Wir können so vollkommen einsehen, wie vortheilhaft es für Schlingpflanzen gewesen ist, sich zu Blattklimmern zu entwickeln. Wir werden auch Gründe finden, aus welchen ein Blattklimmer es vortheilhaft finden musste, ein Ran- kenklimmer zu werden. Wir haben gesehen, wie Ranken ein empfindlicheres, wirksameres Greif- organ bilden, als einfache Blätter. Ranken besitzen auch die werthvolle Eigenschaft, sich durch spiralige Zu- sammenziehung zu verkürzen und so den Stengel, an welchem sie wachsen, nach sich emporzuziehen, und nachmals als Federn zu dienen, und die Kraft des Windes zu brechen. Wir haben einige Fälle gehabt, wo wir die nahe Verwandtschaft zwischen Blatt- und Rankenklimmern sehen, und wo wir Zwischenstufen eines Ueberganges von der einen Klettermethode zur andern gewahren. Bei gewissen Frumaria-Arten können wir den ganzen Vorgang verfolgen. So haben wir eine Art, welche ein reiner Blattklimmer ist, und mit Blattstielen erfasst, welche in ihrer Grösse gar nicht reducirte Blätter tragen. Bei einer zweiten Art sind die Endblättchen sehr viel kleiner als die übrigen. Eine dritte Art hat zu mikroskopischen Dimensio- nen reducirte Blätter, und eine vierte Art endlich hat wahre und vollendete Ranken. Wenn wir die Vorfahren dieser letzteren Art sehen könnten, würden wir zweifellos eine sie mit einem aus- gestorbenen Blattklimmer verbindende Formenreihe erhalten, die der Reihe gliche, welche sie jetzt mit ihren mit- lebenden verwandten Blattklimmern ver- bindet. Wir wollen noch einmal die Schritte wiederholen, welche muthmasslich bei der Evolution der Kletterpflanzen vor- gekommen sind. Es ist wahrscheinlich, dass Pflanzen zu Schlingpflanzen ge- 116 worden sind, durch Erweiterung einer rundschwingenden oder revolvirenden Bewegung, welche in einer schwachen und nutzlosen Form bei ihren Ahnen vorhanden war. Diese Bewegung ist zum Emporwinden verwerthet worden; der Reiz, welcher den Umwandlungs- process in diese Richtung gelenkt hat, ist das Lichtbedürfniss gewesen. Die zweite Stufe ist die Entwicke- lung empfindlicher Blätter bei einer Schlingpflanze gewesen. Zweifellos hing anfänglich kein Blattklimmer gänzlich von seinen Blättern ab, es war nur eine Schlingpflanze, welche sich durch ihre Blätter forthalf. Allmälig wurden die Blätter vollkommener und dann konnte die Pflanze von der verschwenderischen Weise, spiralig um einen Stamm empor- zuwachsen, ablassen, und die mehr sparsame und wirksame, eines reinen Blattklimmers annehmen. Endlich wurden aus empfindlichen Blättern, die wunderbar vollkommenen Ranken entwickelt, welche 1/50 eines Grans empfinden, und in 25 Sekunden nach der Berührung eine entschiedene Krümmung zeigen, Ranken mit zarten, klebrigen Enden, oder mit dem Ver- mögen begabt, sich nach dem Dunkeln hinzubewegen, oder in kleine Spalten Franeis Darwin, Kletterpflanzen. zu kriechen, oder mit jenem geheim- nissvollen Tastsinn, durch welche eine Ranke ihre Schwesterranke von einem gewöhnlichen Zweige, und das Gewicht eines daran hängenden Regentropfens von einem Endchen Faden unterscheiden kann — kurz alle die feinen Einrich- tungen, welche die Rankenträger so offenbar an die Spitze der Kletterpflan- zen stellen. Noch auf eine die Entwickelung der Kletterpflanzen . betreffende Thatsache muss hingewiesen werden, nämlich auf die merkwürdige Art, in welcher die Vertreter dieser Abtheilung durch das Pflanzenreich verstreut sind. Lindley theilt die Blüthenpflanzen in 59 Klassen (Alliancen) und im nicht weniger als 45 derselben werden Kletterpflanzen ange- troffen. Diese Thatsache zeigt zwei Dinge: erstens wie stark die bewegende Kraft — das Suchen nach Licht — gewesen ist, welches so viele verschie- dene Pflanzenarten getrieben hat, Klet- terer zu werden. .Zweitens, dass die Eigenschaft der umlaufenden Bewegung, welche den ersten Schritt auf der Ent- wickelungs-Leiter des Klimm-Vermögens darstellt, im unentwickelten Zustande in fast jeder Pflanze der vegetabilischen Schaaren gegenwärtig ist. Atyoida Potimirim, eine schlammfressende Süsswassergarneele*. Von Dr. Fritz Müller. (Mit 20 Holzschnitten.) Die Reinigung der Kiemenhöhle wird | Geisselanhänge der drei Kieferfuss- hei verschiedenen Garneelen, z. B. Pa- | paare**. In wieder anderer, wieder laemon, durch das erste, bei Einsiedler- | völlig abweichender, ganz eigenartiger krebsen, Porcellankrebsen u. s. w. durch Weise geschieht dieselbe bei einer klei- das letzte Fusspaar des Mittelleibes besorgt, bei den Krabben durch die nen Garneele des Itajahy, Atyoida Potimürim. Eig: 1. Atyoida Potimirim. Ergochacnes Weibchen. 3:1. F‘. Vorderer Fühler F’a. äusserer, Fi. innerer Ast. F". Hinterer Fühler. F"'«. äusserer Ast (Schuppe). F“i. innerer Ast (Geissel). Kf. Hinterer Kieferfuss. M! bis MV- Füsse des Mittelleibes.. A! bis HV- Füsse des Hinterleibes. 5. Schwanzfüsse (seitliche Schwanz- blätter). Sa. äusserer, zweigliedriger Ast. S%. innerer Ast. 7. Letzter Leibesring (Mittlere Schwanzplatte, Telson). Diesekleine Garneele, überderenFar- | ich glaube, eine Besprechung derselben benwechsel ich bereits berichtet habe***, | auch den nicht krebskundigen Lesern bietet auch sonst so zahlreiche und so | des »Kosmos« vorlegen zu dürfen. merkwürdige Eigenthümlichkeiten, dass Was zunächst auffällt, ist die Bil- * Auszug aus einer für die „Archivos #* Vergl. „die Putzfüsse der Kruster“. do Museu nacional do Rio di Janeiro“ be- | (Kosmos, Bd. VII, S. 148.) stimmten portugiesischen Abhandlung. — *%*% Kosmos Bd. VIII, S. #72. (poti—= Garneele, mirim — klein.) Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). b5) 118 dung der Hände oder Scheeren, mit denen, wie bei der grossen Mehrzahl der Garneelen, die beiden ersten Fuss- paare des Mittelleibes ausgerüstet sind. Die Scheeren oder Hände der Krabben und Krebse entstehen aus gewöhnlichen Lauffüssen, — und es lassen sich in der Reihe der lebenden Arten alle mög- lichen Zwischenstufen nachweisen, — indem unter der Einlenkung des letzten Gliedes ein Fortsatz des vorletzten her- vorwächst, gegen welchen dann das letzte einschlägt. Man unterscheidet also den beweglichen Finger (Fig. 2, F), den unbeweglichen Daumen (D) und die eigentliche Hand (H); letztere bildet, wie Jedem, der Krebse oder Krabben verspeist hat, bekannt ist, die Haupt- masse der Scheere und umschliesst die denFingerbewegenden kräftigenMuskeln. Fig. 2. Fig. 4. Fig. 3. Vorderarm und Scheere des 2. Fuss- paares, von Palaemon Potiuna. f nat.Gr. Fig. 3. Desgl. vom ersten Fusspaare und Fig. 4 vom zweiten Fusspaare von Atyoida Fig. 2. otimirim. 8:1. Pot 8:1 V. Vorderarm. H. Hand. F. Finger. D. Daumen. Bei unserer Atyoida (Fig. 3, 4) kann nun von einer eigentlichen Hand im Gegensatz zum Daumen kaum die Rede sein; die Scheere ist in ganzer Länge gespalten, Hand- und Finger- gelenk liegen in gleicher Höhe. Dazu kommt noch, um das aussergewöhnliche Aussehen der Scheere zu erhöhen, ein- mal die sehr bewegliche Einlenkung der Hand an der unteren Ecke des tief ausgebuchteten Vorderarms (Fig. 3. 4, V) und zweitens ein dichter Besatz unge- Fritz Müller, Atyoida Potimirim. mein langer Borsten am letzten Drittel beider Finger. Ist die Hand geschlossen, so neigen alle Borsten in einen langen spitzen Pinsel zusammen. So sieht man sie stets bei todten Thieren; die Hände scheinen dann ganz ungeeignet, irgend etwas zu fassen und lassen nicht ahnen, welch fesselndes Schauspiel sie beim lebenden Thiere bieten, wie prächtig sie der Nahrung der Thiere angepasst sind. Diese besteht in Schlamm, be- sonders in dem feinen Schlamme, der sich an Wasserpflanzen absetzt und reich ist an allerlei winzigen Lebewesen, wie an verwesenden thierischen und pflanzlichen Stoffen. Oeffnet sich die Hand, so breiten sich die Borsten des Pinsels in einer Ebene aus, stellen sich fast senkrecht zum Rande der Finger und bilden so zwei sehr breite Fächer, die eine Menge feiner, von den Blättern abgefegter Schlammtheilchen zwischen sich nehmen können; mit dem Schliessen der Hand schliessen sich auch die Bor- sten von allen Seiten wieder zusammen und ballen so die gewonnene Nahrung in einen Bissen, der dem Munde zu- geführt, oder richtiger in den Mund geschleudert wird, so rasch, kaum dem Auge verfolgbar, sind alle Bewegungen. Kaum ist ein Bissen verschluckt, so kommt schon eine zweite, eine dritte Hand mit neuer Ladung. Namentlich, wenn die Thiere von dem weichen Schlamme des Bodens fressen, wo sie nur frisch zuzugreifen brauchen, wirbeln die vier Hände in ruheloser Hast durch- einander. Die innersten Borsten der Finger sind bedeutend kürzer und steifer, als die äusseren; letztere sind einfach, erstere kammartig gezähnt; sie befähigen die Finger, von zarten Wurzeln oder Stengeln, die sie zwischen sich nehmen, den anhaftenden Schlamm abzustreifen. Recht hübsch sieht es auch aus, wenn das Thier, ich möchte sagen auf der Lauer liegt, um die feinen im Wasser schwebenden Nahrungstheilchen zu er- haschen, welche ihm durch die äusseren Fritz Müller, Atyoida Potimirim. Aeste der mittleren und hinteren Kiefer- füsse zugestrudelt werden. Die Scheeren, etwa in rechtem Winkel geöffnet, hangen vom Vorderarm nach unten und alle vier bilden eine einzige Querreihe, da das zweite weiter nach hinten einge- lenkte Fusspaar länger ist, als das erste; bei der grossen Breite, die jede einzelne Scheere durch die langen seitlich aus- gespreizten Borsten erhält, überwachen sie einen recht ansehnlichen Raum. Bald sieht man die eine, bald die andere Scheere sich schliessen und zum Munde fahren. * Wie die Bildung der Hände, so 119 der Bau der Mundtheile im Zusammen- hang, der von dem der Palaemoniden und anderer Garneelen, wie überhaupt anderer Decapoden vielfach abweicht. Die hinteren Kiefer (Fig. 6), die vorderen Kieferfüsse (Fig. 8) und in minderem Grade die mittleren Kieferfüsse haben einen ungewöhnlich langen geraden Innenrand, der mit steifen Borsten von zum Theil ganz eigenartiger Gestalt überaus dicht besetzt ist. Man begreift, wie nützlich diese grossen Flügelthüren mit ihrem dichten Borstenbesatz bei der Aufnahme der aus feinen losen Theilchen geballten Bissen sind. steht mit der Art der Nahrung auch Sehr merkwürdig sind auch die Fig. 5. Fig. 6. Fig. 7 Fig. 8 Fig. 5. Hinterer Kiefer von Palaemon Potiuna. Fig. 6. Derselbe von Atyorda Potimirim. Fig. 7. Vorderer Kieferfuss von Palaemon Potiuna. Fig. 8. Derselbe von Atyoida Potimirim. e. Grundglied, oder Stamm (coxa). . ©. i‘. innerer ‘Ast. e. äusserer Ast. 9. Geisselanhang (lagellum). Kinnbacken. Noch kürzlich ** hat man als unterscheidendes Merkmal zwischen langschwänzigen Krebsen und Mysiden hervorgehoben, dass »die rechte und linke Mandibel bei den Macruren gleich, bei den Mysiden ungleich und häufig ® Atyoida Potimirim hält sich sehr gut in der Gefangenschaft, ohne dass man mit Wasserwechsel und Fütterung sich viel zu bemühen braucht. Da dies auch für andere Familiengenossen gelten dürfte, mache ich darauf aufmerksam , dass Europa zwei nahe Verwandte besitzt: die in Flüssen des süd- *lichen Frankreich häufige, auch in Corsica, br. Kieme (bei Atyoida fehlend). sehr verschieden« seien. Auch abge- sehen von Atyoida ist dieser angebliche Unterschied nicht stichhaltig; bei den Palaemoniden z. B. sind die Höcker der Kaufortsätze rechts und links ganz verschieden; allein nirgends sonst unter Sieilien und Dalmatien vorkommende Cari- dina Desmarestii und die in den Grotten- gewässern des Karst lebende Caridina Schmidtüi, für die man ihrer Blindheit halber eine eigene Gattung 7rog oglocari is errichtet hat. (Verel. Kosmos Bd. IV, 8. 149.) *® Zoolog. Anzeiger. Nr. 54. 3. Mai 1880 Seite 214. 120 den Langschwänzen habe ich eine so | erhebliche, dem ersten Blicke sich auf- drängende Verschiedenheit der beiden Kinnbacken gesehen, wie bei unserer Atyoida. Fritz Müller, Atyoida Potimirim. Ich möchte darin eher ein altes Erbstück, als eine neuere Anpassung sehen, um so mehr, als auch sonst die Kinnbacken eine alterthümliche Form zeigen. Wie bei denjenigen Garneelen, Fig. 9. Fig. 10. = 0 seite. 15:1. pi. Schneidefortsatz. 11. 12. Fig. Fig. die sich bis heute die vollständigste und ursprünglichste Entwickelungsge- schichte bewahrt haben, die Kinnbacken bei ihrem ersten Auftreten im Innern des dritten Gliedmaassenpaares des Nau- plius eine mit Schneidezähnen bewehrte Spitze, einen dahinter liegenden mit Querleisten versehenen Kaufortsatz und zwischen beiden eine Reihe von Borsten zeigen, so finden wir dieselben drei Theile bei Atyoida. Unter den Decapo- den sind ähnliche Kinnbacken heute e RW Fig. 13. Fig. Fig. 13. Finger des dritten und Fig. 14 des fünften Fusspaares von Atyoida Potimirim. 50:1. Fig. 15. Geisselanhang des ersten” Fusspaares. Auch das letzte, fünfte Fusspaar wird beim Laufen und Festhalten be- nützt und hat am Ende des Fingers (Fig. 14) einige krumme Dornen; gleich- | zeitig aber trägt der untere Rand des | Fingers einen zierlichen Kamm, dem | ı Fig. 12. Fiat &. 9. Linker und Fig. 10 Rechter Kinnbacken von At yoida Potimirim, von der Kinunee pm. Kaufortsatz. t. Sehne. Schneidefortsatz des linken Kinnbackens, Rückenseite. Derselbe vom rechten Kinnbacken, Bauchseite, stärker vergrössert. selten, häufig aber bei anderen höheren Krebsthieren, z. B. Amphipoden und Cumaceen. Die beiden den. Scheerenfüssen fol- genden Fusspaare (das dritte und vierte des Mittelleibes) sind schlanke Lauf- füsse, deren Endglied mit sechs bis neun krummen klauenartigen Dornen bewehrt ist (Fig. 13), wie man es ähnlich auch bei anderen Garneelen (z. B. Hippolyte) trifft, die, wie unsere Art, an Pflanzen sich anzuklammern lieben. 14. Fig. 15. SIDE das Reinigen hauptsächlich des Hinter- leibes obliegt. Eine regelrechte Rei- nigung des Hinterleibes, die das Thier mit grosser Gemächlichkeit und Sorg- ' falt ausführt und die mehrere Minuten in Anspruch nimmt, beginnt mit dem Fritz Müller, Atyoida Potimirim. ersten Schwimmfusspaare; die vier fol- genden sind einstweilen nach hinten geschlagen; ist das erste Paar und der Raum zwischen erstem und zweitem sauber, so erhebt sich das zweite, dann das dritte u. s. f. Zuletzt kommt der Schwanz an die Reihe, der sich stark nach vorn biegen muss, um dem Kamme zugänglich zu werden. Weder die beiden vorderen Fuss- paare, deren langbeborstete Hände man gelegentlich am vorderen Theile des Leibes hinfegen sieht, noch auch das letzte sind geeignet, in die Kiemenhöhle einzudringen und sie zu reinigen. Dies seschieht durch die hinteren Kiefer (Fig. 6). Diese Kiefer tragen bekannt- lich bei allen Decapoden nach aussen eine grosse breite Platte (Fig. 5, 6, e. g.), die als Klappe am Ausgange der Kiemen- höhle liegt und durch ihre Bewegungen den Athemstrom unterhält; man unter- scheidet an ihr bald mehr, bald weniger deutlich einen vorderen Theil (Fig. 5,6, e), der als äusserer Ast, und einen hinteren Abschnitt (Fig. 5, 6, y), der als Geissel- anhang zu deuten sein dürfte. Wo die Platte nur als Klappe zur Regelung des Athemstromes dient (Fig. 5), ist dieser hintere Abschnitt kurz, am Ende abgestutzt oder abgerundet ‚und reicht kaum in die eigentliche Kiemenhöhle hinein; bei Palaemon z. B. reicht er nur bis zu der Kieme des äusseren Kieferfusses. Dagegen ist derselbe hin- tere Abschnitt bei Atyoida lang, schmal, nach dem Ende zu verjüngt und hier mit etwa einem Dutzend sehr langer biegsamer Borsten besetzt; er reicht his zur drittletzten, über dem dritten Fusspaare sitzenden Kieme und seine Endborsten bis zum hinteren Ende der Kiemenhöhle. So kann durch ihn, wie man sich leicht an genügend durch- sichtigen lebenden Thieren überzeugt, die ganze äussere Fläche der Kiemen abgekehrt werden. Zur Reinhaltung der Kiemenhöhle dürfte noch eine andere Einrichtung 121 beitragen, die auch bei vielen anderen Garneelen, z. B. in der artenreichen Gattung Hippolyte wiederkehrt. Die hin- teren Kieferfüsse und eine wechselnde Anzahl der Füsse des Mittelleibes, bei Atyoida Potimirim die drei ersten Paare, tragen einen winzigen Geisselanhang, den man seiner geringen Grösse halber für verkümmert halten könnte, wenn dem nicht sein eigenthümlicher Bau widerspräche. Bei unserer Atyoida (Fig. 15) lässt er sich beschreiben. als ein kleiner wurstförmiger Anhang, der nahe dem Vorderrande des Hüftgliedes entspringt und nach hinten gerichtet mit seiner inneren Seite der äusseren Fläche des Hüftgliedes anliegt. Seine äussere Fläche ist mit etwa einem Dutzend ziemlich langer, gerader, in zwei Reihen gestellter Haare besetzt, und sein freies Ende mit einem Haken versehen, der wohl dient, ihn in seiner Lage zu halten. Diese Geisselanhänge liegen nun im Eingange zur Kiemen- höhle, in der Spalte zwischen den Hüft- gliedern der Füsse und dem unteren Rande des Panzers; sie verengen diesen Eingang und wehren dadurch, wie durch ihren Haarbesatz dem Eindringen frem- der Körper. — Aber, wird man ein- wenden, sie fehlen gerade da, wo sie am nöthigsten wären, wo das Wasser am lebhaftesten in die Kiemenhöhle ein- strömt, über dem vierten und fünften Fusspaare. — Gewiss, aber dafür findet sich hier eine andere höchst eigen- thümliche Vorrichtung, die, soviel ich weiss, noch bei keiner anderen Garneele beobachtet worden ist. Die Hinter- leibsfüsse der Garneelen sind bekannt- lich (mit wenigen Ausnahmen) zweiästig;; die Aeste haben meist die Gestalt zun- genförmiger Blätter, deren Rand mit langen gefiederten Schwimmborsten be- setzt ist. In der Ruhe werden diese Schwimmfüsse nach vorn geschlagen und legen sich zwischen die Füsse des Mittel- leibes. Abweichend von allen anderen Garneelen, die ich gesehen, legt sich nun bei Atyoida der äussere Ast des ersten Schwimmfusspaares nicht zwi- schen die letzten Füsse des Mittelleibes, sondern aussen über sie und den Ein- gang der Kiemenhöhle hin (Fig. 1 H'), so dass alles hier eintretende Wasser durch seine Fiederhaare durchgeseiht wird. * Die Männchen unserer Atyoida sind weit kleiner als die Weibchen; erstere fand ich nie über 15 mm, letztere bis 25 mm lang. Je besser die Männchen mit Waffen zu Schutz und Trutz aus- gerüstet sind, je erbitterter sie um den Besitz ihrer Weibchen kämpfen, um so mehr pflegen sie dieselben an Grösse zu übertreffen. So unter den Garneelen des Itajahy das Männchen von Palae- mon jamaicensis, dessen his über fuss- lange Scheerenfüsse fast immer unver- kennbare Spuren der Kämpfe an sich tragen, die es schon mit seinen Neben- buhlern bestanden hat. Wo Waffen fehlen, erreicht häufig das Weibchen eine bedeutendere Grösse, was wohl be- dinst ist durch den vielfach grösseren Aufwand an Stoff, den die Eier bean- spruchen. Um aus der Reihe der hö- heren Krebsthiere ein zweites Beispiel zu geben, will ich an die Tatuira (Hippa ‚emerita) erinnern, deren Männchen eben- falls neben den Weibchen ganz zwerg- haft aussehen. Wie bei Atyoida die Männchen waffenlos geworden oder ge- blieben sind durch die Anpassung der Scheeren ans Schlammfressen, so bei der im Sande wühlenden Hippa dadurch, dass sich die Endglieder der Beine zu breiten, nur zum Graben tauglichen Schaufeln umgebildet haben. Nicht nur zum Kampf mit Neben- buhlern, auch zum Ergreifen und Fest- halten der Weibchen scheinen die Hände der Atyoida-Männchen ungeeignet und es kann daher nicht auffallen, dass sich bei ihnen anderweitige Einrichtungen ®= Nach Milne Edwards’ Abbildung von Caridina typus (Hist. nat. Crust. Pl. 25»i» Fig. 4) vermuthe ich, dass sich hierin die Fritz Müller, Atyoida Potimirim. entwickelt haben, die man bei anderen Garneelen vermisst, deren Hände gehörig zuzupacken vermögen. Fig: 165, Rig.AT, Fig. 16. Ende des hinteren Kieferfusses von Atyoida Potimirim, Weibehen. 30:1. Fig. 17. Dasselbe von einem Männchen der- selben Art. 30:1. Fig. 18. Ende des Schenkels (f) und Anfang der Schiene (t) des dritten Fusspaares, von Atyoida Potimirim, Männchen. Innenseite. 30:1. Fig. 18. So ist der bei den Weibchen (Fig. 16) gerade Enddorn der hinteren Kiefer- füsse beim Männchen (Fig. 17) zu einer krummen Klaue umgebildet, und an der Innenseite der Schienen (Fig. 18,t) des dritten und vierten Fusspaares findet sich ein starker gezähnelter Dorn** und ihm gegenüber zahlreiche warzenförmige . Höcker, die, wie der Dorn, dem Weib- chen vollständig fehlen. Peer ya Fig. 19. Fig. 20. Fig. 19. Vorderer Theil des Panzers, von einem Männchen. 5:1. Fig. 20. Derselbe von einem Weibchen. 3:1. Noch einer bemerkenswerthen Ver- schiedenheit der Geschlechter muss ich gedenken. Bei den Männchen (Fig. 19) ist am Vorderrande des Panzers die untere Ecke abgerundet, bei den Weib- chen (Fig. 20) in einen spitzen Zahn (Simpson’s >»spina pterygostomiana«) ausgezogen. Ausnahmen von dieser Regel sind sehr selten. — Die Beweh- nahe verwandte Gattung Caridina eben so verhält, wie Atyoida. — ** Die Zähnelung hat der Xylograph übersehen. Fritz Müller, Atyoida Potimirim. rung des vorderen Panzerrandes gilt sonst nicht nur als sicheres Merkmal der Art, man hat sie selbst zur Unter- scheidung von Gattungen benutzt; so hat man die Gattung Leander einzig deshalb von Palaemon getrennt, weit jene eine »spina branchiostegiana«, aber keine »spina hepatica«, diese eine »spina hepatica«, aberkeine »branchiostegiana« besitzt. Bei Atyoida Potimirim bildet nun die. An- oder Abwesenheit der »spina pterygostomiana« einen einfachen Geschlechts- oder Altersunterschied; denn mit den Männchen stimmen in dem Mangel eines Zahnes an der un- teren Panzerecke auch alle jüngeren’ Weibchen von weniger als 12 mm Länge überein. — Da die Männchen weit kleiner bleiben, als die Weibchen, er- scheint es begreiflich, dass manche Eigenthümlichkeiten der Weibchen, die erst dann auftreten, wenn sie über das Maass der Männchen hinausgewachsen sind, bei letzteren nicht zur Entwicke- lung kommen. So erklärt sich z. B. ‘die bei erwachsenen Männchen und Weibchen verschiedene Zahl der Borsten am Ende des letzten Leibesringes oder der mittleren Schwanzplatte (»Telson«); diese Zahl nimmt im Allgemeinen mit Grösse und Alter zu, ohne dass gerade immer grössere Thiere zahlreichere Bor- sten haben. Ich fand bei elfjüngeren, 8 bis 12 mm langen Thieren, die noch keine äusseren Geschlechtsverschiedenheiten zeigten, 6 bis 9, im Durchschnitt 7,1 Borsten ; 10 Männchen von 12 bis 13 mm hatten 8 bis 10, im Durchschnitt 8,7 Borsten; bei 11 Männchen von 14 bis 15 mm wechselte die Borstenzahl eben- falls zwischen 8 und 10, aber der Durchschnitt betrug 9,9; bei neun Weib- chen von 12 bis 19 mm fanden sich 8 bis 14, im Durchschnitt 10,6 Bor- sten; endlich bei 14 Weibchen von 20 bis 24 mm Länge waren 12 bis 17, * Diese bei Atyoida Potimirim so wech- selnde Borstenzahl hat Heller bei der nahe verwandten Caridina unter die Gattungs- 123 durchschnittlich 14,4 Borsten vorhan- den. * Ebenso einfach würde sich mit der geringeren Grösse der Männchen der Mangel des Zahnes an der unteren Ecke des Panzers in Zusammenhang bringen lassen, wenn nicht schon bei Weibchen von 13 bis 15 mm Länge, die also die Grösse der erwachsenen Männchen noch nicht überschritten haben, der Zahn sich fast immer we- nigstens angedeutet, ja gewöhnlich schon - zu voller Länge entwickelt fände. Bei diesem Sachverhalt scheint mir die wahrscheinlichste Annahme die, dass die »spina pterygostomiana« zuerst bei erwachsenen oderfast erwachsenen Weib- chen und im Laufe der Zeit bei dem- selben Geschlechte in immer jugend- licherem Alter aufgetreten sei. Wie dem auch sei, jedenfalls liegt hier eine beachtenswerthe Ausnahme von der fast allgemeinen Regel vor, dass die Männ- chen sich weiter von der gemeinsamen Jugendform entfernen, als die Weibchen. Wie unsere Atyoida in einer ganzen Reihe von Eigenthümlichkeiten von dem gewöhnlichen Baue der Garneelen, von Palaemon, Hippolyte, Alpheus u. s. w. abweicht, so pflegen ja überhaupt Arten, Gattungen, Familien nicht durch ein einziges, sondern durch zahlreiche Merk- male von ihren Verwandten und Vor- fahren sich zu unterscheiden. Wie man gewöhnlich zwischen diesen verschie- denen Merkmalen keinen ursächlichen Zusammenhang erkennen kann, so würde man einen solchen auch bei Atyoida kaum vermuthen z. B. zwischen dem Baue der Scheeren, dem der hinteren Kiefer und der je nach dem Geschlechte verschiedenen Bewehrung des Panzers, wenn man nur ihre Leichen zergliederte. Wie aber, sobald man diese kleine Garneele lebend in ihrem Thun und Treiben beobachtet, die Art ihrer Nah- merkmale aufgenommen; er schreibt ihr neun „Borstenhaare“ zu (Heller, Crustaceen des südlichen Europa, Seite 238). 124 rung, den Bau ihrer Scheeren und Mundtheile und ihren Aufenthalt an Pflanzen, und dieser die vielklauigen Finger ihrer Lauffüsse erklärlich macht; wie wieder mit der Bildung der zur Reinigung der Kiemenhöhle untauglichen Scheeren die diesem Dienste angepasste Gestalt der hinteren Kiefer und die so ganz abweichende Lagerung des ersten Schwimmfusspaares in Beziehung treten; wie die Waffenlosigkeit der Männchen ihre geringere Grösse und diese wieder die jugendlichere Bildung ihres Panzers Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. begreifen lässt u. s. w. u. s. w.; kurz, wie dann mit einem Schlage all’ ihre mannigfachen Eigenthümlichkeiten in engste Beziehung zu einander treten, so darf man wohl hoffen, dass auch in ‚vielen anderen Fällen bei aufmerksamer Beobachtung der lebenden Thiere gar manche anscheinend zusammenhangs- lose Bildungen, für die man jetzt eine geheimnissvolle Wechselbeziehung der Theile verantwortlich macht, als sich gegenseitig bedingende Ergebnisse der Naturauslese zu erkennen sein werden. Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. V1. Herrscher im Staate — Häuptlinge, Könige u. ©. W. (Fortsetzung.) Nachdem wir so die verschiedenen Factoren in’s Auge gefasst haben, welche zur Herstellung der staatlichen Herr- schaft zusammenwirken, wollen wir nun den Process dieses Zusammenwirkens in seinen aufsteigenden Stadien näher betrachten. In erster Linie ist die That- sache hervorzuheben, dass die succes- siven Erscheinungen, welche bei den einfachsten Gruppen vorkommen, ge- wöhnlich in der gleichen Reihenfolge auch bei den einfach und mehrfach zu- sammengesetzten Gruppen wiederkehren. Wie in der einfachen Gruppe zu- nächst ein Zustand herrscht, wo noch keine Führerschaft besteht, so finden wir auch, wenn einfache Gruppen, welche bereits eine jede ihr mit einer geringen Autorität bekleidetes staatliches Haupt besassen, sich unter einander verbinden, dass anfänglich noch keine Oberherr- schaft über das ganze Aggregat vor- handen ist. Die Chinooks geben uns- ein Beispiel hiefür. In ihrer Schilderung derselben sagen Lewis und Clarke: — »Indem diese Familien sich allmählich zu Horden oder Stämmen und Völkern ausbreiten, wird die väterliche Autorität durch den Häuptling jeder grösseren Gesellschaft repräsentirt. Diese Häupt- lingswürde ist jedoch nicht erblich.« Und dazu kommt die fernere Thatsache, welche uns hier vor allem von Interesse ist, dass nämlich »die Häuptlinge der einzelnen Dörfer unabhängig von ein- ander sind:« es gibt keine allgemeine Häuptlingschaft. Wie die Herrschaft in der einfachen Gruppe anfänglich nur zeitweilig ist und aufhört, sobald der Krieg, welcher sie hervorrief, zu Ende ist, so wird auch in dem Aggregate von Gruppen, die ihre besonderen anerkannten Häupter besitzen, eine gemeinsame Oberleitung anfänglich nur durch den Krieg veran- lasst und sie dauert auch nicht länger Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. als dieser Krieg. Falkner sagt: »In einem allgemeinen Kriege, wenn meh- rere Völker sich gegen einen gemein- samen Feind verbinden,< pflegen die Patagonier »einen Apo oder einen Ober- befehlshaber aus den ältesten oder be- rühmtesten der Caziken zu wählen.« Die Indianer am oberen Orinoco leben »in Horden von vierzig oder fünfzig unter einem Familienregiment und sie anerkennen einen gemeinsamen Häupt- ling blos in Kriegszeiten.< So auch in Borneo. »Während des Krieges treten die Häuptlinge der Sarebas-Dajaks in ein unbestimmtes Lehensverhältniss zu einem obersten Häuptling oder Ober- befehlshaber.« Nicht anders war es auch in Europa. So bemerkt Seeley, dass die Sabiner »>nur in Kriegszeiten eine centrale Regierung gehabt zu haben scheinen.< Ferner »bestand Germanien in der Urzeit aus ebenso vielen Repu- bliken, als Stämme vorhanden waren. Mit Ausnahme der Kriegszeiten gab es keinen für sie alle gemeinsamen Häupt- ling oder nicht einmal einen Anführer für eine Bundesgenossenschaft. « Dies erinnert uns an die früher angedeutete Thatsache, als von der staatlichen Integration die Rede war, dass der Zusammenhang innerhalb zu- sammengesetzter Gruppen geringer ist als innerhalb einfacher Gruppen und ebenso der Zusammenhang innerhalb der doppelt zusammengesetzten geringer als in der einfach zusammengesetzten Gruppe. Was dort vom Zusammenhang galt, lässt sich ebenso gut von der Unter- ordnung sagen, denn wir finden, dass, wenn durch beständigen Krieg eine dauernde Herrschaft in einer zusammen- gesetzten Gruppe hergestellt wird, die- selbe doch weniger beständig ist als die Führerschaften der einfachen Grup- pen. Oft dauert sie nur während des Lebens des Mannes, welcher dieselbe errungen hat, so bei den Karenen und den Maganga und ebenso bei den Da- jaks, von denen Boyle sagt: — 125 „Es ist ein Ausnahmfall, wenn ein Da- jak-Häuptling sich zu einer anerkannten Oberherrschaft über die anderen Häuptlinge emporzuschwingen vermag. Wenn ihm dies gelungen ist, so kann er jedoch aus keinem anderen Grunde auf seine Macht Anspruch erheben als infolge seines persönlichen Ver- dienstes und der Zustimmung derjenigen, welche bisher seines Gleichen waren, und auf seinen Tod folgt ohne Weiteres der Zerfall seiner ganzen Herrschaft.“ Selbst wenn es zu einer Führerschaft über die zusammengesetzten Gruppen gekommen ist, welche das Leben ihres Begründers überdauert, so ist diese doch noch lange Zeit hindurch bei weitem nicht so beständig wie die Führerschaf- ten in jeder der einzelnen Gruppen. Pallas, welcher von den mongolischen und kalmukischen Häuptlingen erzählt, sie hätten eine unbeschränkte Gewalt über ihre Unterthanen, bemerkt ander- seits, dass die Khans im allgemeinen nur eine unbestimmte und schwache Autorität über die ihnen untergeordneten Häuptlinge besässen. Von den Kaffern lesen wir: »Sie sind alle Vasallen des Königs, die Häuptlinge sowohl wie die ihnen Untergeordneten. Allein die Unter- thanen sind ihren Häuptlingen im all- gemeinen so blind ergeben, dass sie ihnen selbst gegen den König Folge leisten werden.< Europa liefert uns manche ähnliche Beispiele. Von den ho- merischen Griechen schreibt Herr Glad- stone: »Es ist wahrscheinlich, dass die Unterordnung des Unterhäuptlings unter seinen localen Herrscher einen innigeren Zusammenhang bedingte als diejenige des localen Herrschers unter das Ober- haupt von ganz Griechenland.< Und während der frühesten feudalen Periode in. Europa war gleichfalls die Lehns- pflicht viel bindender dem localen Herr- scher als dem allgemeinen Oberhaupt gegenüber. In der zusammengesetzten Gruppe sowohl wie in der einfachen wird der Fortschritt zu einer beständigen Herr- schaft gefördert durch den Uebergang von der Nachfolge durch die Wahl zur 126 Nachfolge durch Vererbung. In den ersten Stadien des einfachen Stammes wird die Häuptlingswürde, wenn nicht ein einzelnes Individuum durch seine stillschweigend anerkannte Ueberlegen- heit sie an sich reisst, dem Betreffenden durch Wahl übertragen. In Amerika ist dies bei den Aleuten, den Comanches und manchen anderen Völkern der Fall, so in Polynesien bei den Land-Dajaks, und vor der muhammedanischen Erobe- rung galt es auch in Java. Unter den Bergvölkern von Indien finden wir das- selbe bei den Nagas und anderen. In manchen Ländern erkennen wir noch den Uebergang zur erblichen Nachfolge bei verschiedenen Stämmen derselben Race. So lesen wir von den Karenen, dass >in vielen Bezirken die Häuptlings- würde für erblich gehalten wird, bei den meisten aber ist sie der Wahl unter- worfen.« Einige Chinook-Dörfer haben Häuptlinge, welche ihre Macht erben, während sie sonst meistentheils erwählt werden. Ebenso wird auch die zusammen- gesetzte Gruppe anfänglich stets durch ein erwähltes Haupt regiert. Mancherlei Belege hiefür finden wir in Afrika. Bastian berichtet, dass »in vielen Theilen der Congo-Länder der König vondenkleineren Fürsten erwählt werde.« Die Krone von Yariba ist nicht erblich: »vielmehr wählen die Häuptlinge ihren Herrscher stets aus den weisesten und schlauesten ihrer eigenen Classe.< Und der König von Ibu, berichtet Allen, scheint »durch einen Rath von sechzig Aeltesten oder Häuptlingen der grössten Dörfer erwählt zu werden.« In Asien findet sich das Gleiche bei den Kukis: — „Einer unter allen Rajahs jeder Classe wird auserwählt, um der Prudham oder oberste Rajah des Clans zu werden. Diese Würde ist aber nicht erblich, wie dies für die klei- neren Rajahs gilt, sondern ein jeder Rajah des Clans bekleidet dieselbe der Reihe nach.“ Aehnliches kehrt in Europa wieder. Obgleich im alten Griechenland das Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Recht der Erbfolge in bhedeutendem Maasse anerkannt war, so lässt doch die Geschichte von Telemach darauf schliessen, »>dass sich derselbe einem Gebrauch zu unterziehen hatte, welcher sich entweder der Wahl annäherte oder wenigstens in irgend einer Weise eine freiwillige Thätigkeit von Seite der Unter- thanen oder eines Theiles derselben be- dingte.« Dasselbe gilt für das alte Rom. Dass die Monarchie ein Wahl- königthum war, »>wird schon dadurch bewiesen, dass in späteren Zeiten das Amt eines Interrex bestand, was anneh- men lässt, dass die königliche Gewalt sich nicht naturgemäss auf einen erblichen Nachfolger übertrug.« Später finden wir Aehnliches bei den westlichen Völkern. Bis zum Anfange des 10. Jahrhunderts »erhielt sich die Formalität der Wahl a. in jedem europäischen Königreiche und das ungenügende Anrecht der Geburt bedurfte einer Bestätigung durch öffent- liche Zustimmung.« Und früher herrschte die gleiche Anschauung auch in Eng- land. Im alten England war die Bret- waldschaft oder die oberste Führerschaft über die kleineren Königreiche zuerst der Wahl unterworfen, und sogar die Form dieser Wahl lässt sich noch lange in der Geschichte nachweisen. Wird die Beständigkeit der Herr- schaft über die zusammengesetzte Gruppe durch erfolgreiche Führerschaft im Kriege und durch Herstellung dererblichen Nach- folge schon bedeutend verstärkt, so er- hält dieselbe noch eine fernere Stütze, wenn ein weiterer Factor mitwirkt — der übernatürliche Ursprung oder die übernatürliche Sanction. Ueberall, von dem neuseeländischen Könige an, welcher streng tabu oder heilig ist, bis zu den höchsten Völkern hinauf, können wir diesen Einfluss verfolgen und gelegent- lich findet sich, wo zwar nicht eine königliche Abkunft oder Zauberkräfte in Anspruch genommen werden, doch die Behauptung eines Ursprunges, der höher als menschlich ist. Asien zeigt uns Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. - ein Beispiel hiefür in der Fodli-Dyna- stie, die in Süd-Arabien 150 Jahre lang regierte — eine’ Dynastie sechsfingeriger Menschen, welche vom Volke eben um ihrer beständig sich vererbenden Miss- bildung willen mit Ehrfurcht betrachtet wurden. Europa zeigt ein ähnliches Beispiel aus der merovingischen Periode. In den heidnischen Zeiten schrieb man der königlichen Familie allgemein einen gött- lichen Ursprung zu, in den christlichen Zeiten aber, erzählt uns Waitz, wo sie nicht mehr auf die Götter zurückgehen konnten, klammerte sich der Mythus im- mer noch an das Uebernatürliche an: »Ein Seeungeheuer schändete das Weib von Chlogio, als es am Meeresufer sass, und aus dieser Umarmung entsprang Merovech.<.i Spätere Zeiten lassen uns dann die allmähliche Annahme eines geheilisten oder halb übernatürlichen Charakters erkennen, wo derselbe nicht von Anfang an schon anerkannt war. Den karolingischen Königen schreibt man eine göttliche Billigung ihrer Ober- herrschaft zu. Im späteren feudalen Zeitalter waren die Könige mit wenigen Ausnahmen »nicht weit davon entfernt, sich selber für nahe Verwandte der Herren des Himmels zu halten. Könige und Götter waren nächste Collegen.« Im 17. Jahrhundert wurde dieser Glaube sogar durch die Priester sanctionirt. »Könige,« sagt Bossuet, »sind Götter und haben in gewisser Weise Antheil an der göttlichen Unabhängigkeit. « Die Herrschaft über eine zusammen- gesetzte Gruppe also, welche zunächst nur zeitweilig während des Krieges be- stand, dann aber durch häufiges Zu- sammenwirken der Gruppen infolge einer Wahl zunächst für die Lebenszeit des Betreffenden festgestellt wird, geht bald in die erbliche Form über und wird dann um so beständiger, je bestimm- tere und je weniger angefochtene Formen das Gesetz der Nachfolge erreicht; die grösste Stabilität jedoch wird erst dann erlangt, wenn der König zu einem gött- 127 lichen Bevollmächtigten wird oder wenn, sofern die ihm zugeschriebene gottähn- liche Natur nicht wie in primitiven Ge- sellschaften von einer vermeintlichen göttlichen Abkunft hergeleitet wird, dies wenigstens ersetzt wird durch einen göttlichen Auftrag, den die Autorität der Kirche ihrerseits unterstützt. Hat das Staatsoberhaupt diese ab- solute Macht erlangt, welche aus ver- meintlich göttlicher Natur oder gött- licher Abstammung oder göttlichem Auf- trag entspringt, so hat seine Befugniss natürlich so gut wie gar keine Grenzen. In der Theorie und häufig auch in grossem Maasse in der Praxis ist er ge- radezu der Besitzer seiner Unterthanen und des ganzen Landes, das sie be- wohnen. Wo kriegerische Verhältnisse scharf ausgeprägt und die Ansprüche. eines Eroberers unbeschränkt sind, da treffen wir diesen Zustand in der That bis zum höchsten Grade verwirklicht, selbst bei jenen uncivilisirten Völkern, welche ihren Herrschern keinerlei übernatür- liche Charaktere zuschreiben. Bei den Zulukaffern »übt der Häuptling die höchste Gewalt über das Leben seines Volkes aus.« . »Die Bheel-Häuptlinge haben Machtbefugniss über das Leben und Eigenthum ihrer eigenen Untertha- nen,« und in Fidschi ist der Unterthan nichts weiter als Eigenthum. Noch mehr aber ist dies dort der Fall, wo der Herrscher als etwas Uebermenschliches betrachtet wird. Astley erzählt uns, dass in Loango der König »samba und pongo, das ist Gott, genannt werde, « und nach Proyart behaupten "die Leute von Loango, »auch ihr Leben und ihre Güter gehörten dem Könige.« In Wasoro (Ostafrika) »hat der König eine unbe- schränkte Gewalt über Leben und Tod; in mehreren Stämmen ; wird er beinah göttlich verehrt.« In Msambara erklären die Leute: »wir sind alle Sclaven des Zumbe (des Königs), welcher unser Mulungu [Gott] ist.« »Nach dem Staatsgesetze von Dahome und ebenso in Benin sind alle Männer Sclaven des Königs und die meisten Frauen sind seine Weiber,« und in Dahome wird der König »der Geist« genannt. Die Malagassen sprechen von dem Könige als von »unserem Gott« und er ist »der Herr des Bodens, der Besitzer alles Eigenthums und der Herr- scher über seine Unterthanen. Ihre Zeit und ihre Dienste stehen ihm zur Ver- fügung.« Auf den Sandwichinseln gibt der König, welcher als Personification des Gottes betrachtet wird, orakelhafte Antworten und seine Macht »erstreckt sich über das Eigenthum, die Freiheit und das Leben seines Volkes.«< Ver- schiedene asiatische Herrscher, deren Titel ihnen göttliche Abkunft und Natur zuschreiben, stehen in gleichem Verhält- nisse „zu ihren Unterthanen. In Siam »ist der König nicht allein Herr der Personen, sondern in Wirklichkeit auch des Eigenthums seiner Untergebenen, er verfügt ganz nach Willkühr über ihre Arbeit und schreibt ihnen ihre Thätig- keit vor.< Von den Burmesen lesen wir, dass »ebenso ihre Güter und so- gar ihre eigene Person für sein [des Königs] Eigenthum gelten, und auf Grund dessen ist er befugt, zu seiner Concu- bine jedes weibliche Wesen auszuwählen, das zufälligerweise seinen Augen gefällt. « In China »gibt es nur einen, der wirk- lich Autorität besitzt, den Kaiser. ..... Ein Wang oder König hat keine erb- lichen Besitzungen und er lebt nur von den Jahrgeldern, die ihm der Kaiser bewilligt. .... Dieser ist der einzige Besitzer “des gesammten Grundeigen- thums. « In der That, wo das Staatsober- haupt eine unbeschränkte Macht besitzt — wo seine Unterthanen ihm, dem sieg- reichen Eroberer, auf Gnade und Un- gnade ergeben sind oder wo man ihn für göttlicher Abkunft hält und seinem Willen daher nicht zu widerstehen wagt, - ohne sich der Gottlosigkeit schuldig zu Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. machen, oder wo er endlich die Charak- - tere des Siegers und des Gottes mit einander vereinigt, da absorbirt er na- türlicherweise jede Art von Autorität in sich: er ist zu gleicher Zeit Kriegs- oberhaupt, oberster Gesetzgeber, höch- ster Richter und Oberhaupt der Kirche. Der König anf der Höhe seiner Ent- wickelung ist das oberste Centrum jedes socialen Gebildes und der Lenker jeder socialen Function. In einem kleinen Stamme vermag der Häuptling persönlich sämmtliche Öbliegenheiten seiner Stellung zu er- füllen. Abgesehen davon, dass er die übrigen Krieger in der Schlacht anführt, hat er noch Zeit genug, um Streitig- keiten zu schlichten; er kann dem Vor- fahrengeist opfern, er kann das Dorf in Ordnung halten, er kann Strafen auf- erlegen und die Handelsverbindungen regeln, denn der von ihm Regierten sind nur wenige und sie leben auf engem Raume beisammen. Wird er aber zum Haupt zahlreicher vereinigter Stämme, so bereiten sowohl’ der grössere Umfang seiner Geschäfte als auch das grössere Gebiet, das seine: Unterthanen bewoh- nen, der ausschliesslich persönlichen Verwaltung seiner Würde mancherlei Schwierigkeiten. Es wird zur Nothwen- digkeit für ihn, noch Andere zu ver- wenden, sei es um Berichte über Das und Jenes zu bekommen, sei es um Befehle zu ertheilen oder deren Aus- führung zu überwachen, und im Laufe der Zeit werden die auf solche Weise verwendeten Gehilfen zu bleibenden Vor- stehern ihrer Abtheilungen mit einer auf ihrer Vollmacht beruhenden Autorität. Während nun diese Ausbildung des inneren Baues der Regierung in der einen Hinsicht die Macht des Herrschers vermehrt, indem sie ihn in den Stand setzt, zahlreiche Geschäfte zu erledigen, vermindert sie jedoch auch in anderer Hinsicht seine Macht, denn seine Thätig- keit wird mehr und mehr durch die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Werkzeuge, von welchen sie ausgeführt werden, modifieirt. Diejenigen, welche die Wirksamkeit einer Verwaltung, gleich- gültig welcher Art, beobachten, werden leicht von der Thatsache sich überzeu- gen, dass ein oberstes regierendes Agens zu gleicher Zeit gefördert und gehemmt wird durch seine untergeordneten Werk- zeuge. Mag es sich um eine philan- thropische Vereinigung, um eine wissen- schaftliche Gesellschaft oder um einen Club handeln, jedenfalls machen -die Regierenden bald die Erfahrung, dass die organisirte Beamtenschaft, welche sie geschaffen haben, ihre Zwecke häufig hemmt und sie nicht selten völlig lahm legt. In noch höherem Maasse gilt dies von der ungemein umfassenderen Ver- waltung des Staates. Durch Bevoll- mächtigte empfängt der Herrscher seine Berichte, durch sie werden seine Be- fehle ausgeführt, und in demselben Maasse, als seine Verbindung mit den Geschäften immer indirecter wird, nimmt auch seine Controle über die Geschäfte ab, bis er schliesslich in extremen Fällen entweder zu einer Puppe in den Händen seines obersten Bevollmächtig- ten herabsinkt oder geradezu durch diesen von seiner Stelle verdrängt wird. So sonderbar es auch scheinen mag, so zeigt sich doch stets, dass die bei- den Ursachen, welche zusammenwirken, um der staatlichen Herrschaft Dauer zu verleihen, in einem späteren Stadium ebenfalls wieder zusammenwirken, um das Staatsoberhaupt zu einem Auto- maten herabzudrücken, welcher nur den Willen der von ihm geschaffenen Werk- zeuge ausführt. In erster Linie hat die erbliche Nachfolge, wenn sie schliesslich innerhalb einer Familie auf eine bestimmt vorgeschriebene Linie beschränkt wor- den ist, zugleich zur Folge, dass der Besitz der höchsten Gewalt unabhängig wird von der Fähigkeit zur Ausübung derselben. Der Erbe eines erledigten Thrones mag, wie das häufig auch der Fall ist, zu jung sein um seine Ob- 129 | liegenheiten zu erfüllen, oder er mag von zu schwachem Verstande oder von zu geringer Energie sein, oder zu sehr den Vergnügungen sich hingeben, welche ihm seine Stellung in unbegrenztem Maasse darbietet, was dann bewirkt, dass in dem einen Falle der Regent und in dem anderen der oberste Mini- ster zum eigentlichen Herrscher wird. In zweiter Linie macht ihn gerade jener geheiligte Charakter, den er ver- möge seiner vermeintlich göttlichen Ab- kunft erlangt hat, unnahbar für alle Unterthanen. Jeder Verkehr mit ihm muss durch seine Werkzeuge gehen, mit denen er sich umgeben hat. In Folge dessen wird es ihm schwierig oder nahezu unmöglich, mehr zu erfahren, als was ihnen beliebt, ihm zukommen zu lassen, und die Folge davon ist eine Unfähig- keit von seiner Seite, seine Befehle den Erfordernissen anzupassen, und zugleich die Unmöglichkeit, zu beobachten, ob seine Befehle wirklich ausgeführt worden sind. Seine Autorität dient demnach nur dazu, den Absichten seiner Werk- zeuge Nachdruck zu verleihen. Selbst in einer verhältnissmässig so einfachen Gesellschaft wie diejenige auf den Tonga-Inseln finden wir ein Bei- spiel hiefür. Dort gibt es einen erb- lichen geheiligten Häuptling, welcher »ursprünglich der einzige Häuptling war und die ganze zeitliche sowohl wie geist- liche Macht besass und welcher für ein Wesen von göttlichem Ursprung gehal- ten wurde;« jetzt aber ist derselbe po- litisch machtlos. Abyssinien zeigt uns etwas ganz ähnliches. Dort ist der Monarch, da er keinen directen Verkehr mit seinen Unterthanen hat und von einer solchen Heiligkeit umgeben ist, dass er sogar in seinem obersten Rathe unsichtbar dasitzt, zum blossen Stroh- mann geworden. In Gondar, einem Theile von Abyssinien, muss der König dem königlichen Hause von Salomo angehören, allein irgend ein Beliebiger unter den aufrührerischen Häuptlingen, 150 welcher durch Waffengewalt sich Einfluss verschafft hat, macht sich zum Ras, d. h. zum obersten Minister oder zum eigentlichen Monarchen; er bedarf. aber »eines Titular-Kaisers, damit dieser die unerlässliche Ceremonie der Ernennung eines Ras vollziehe,< weil man wenig- stens den Namen des Kaisers »für we- sentlich hält, um dem Titel des Ras Giltigkeit zu verschaffen. « Thibet mag als Beispiel dafür angeführt werden, dass die Heiligkeit des ursprünglichen Staats- oberhauptes sich schliesslich von dem auf die erbliche Nachfolge gegründeten Anspruch trennt; denn der Grosse Llama, der als »Gott-Vater« betrachtet wird, welcher sich von neuem in jedem spä- teren Besitzer des Thrones verkörpert habe, erlangt doch trotzdem seine gött- liche Natur nicht durch natürliche Ab- stammung, sondern auf übernatürlichem Wege, indem er unter dem ganzen Volke an gewissen Anzeichen seiner Gott- heit herauserkannt wird, und mit seiner Gottheit, welche geradezu eine Fernhal- tung von allen weltlichen Geschäften be- dingt, verbindet sich dann auch ein Mangel an jeglicher staatlichen Gewalt. Ein gleiches Verhältniss findet sich in Bhotan: — „Der Dhurma-Raja wird von den Bhota- nesen an gleichem Lichte betrachtet wie der grosse Lama von Thibet von seinen Unter- thanen, nämlich als dauernde Fleischwerdung der Gottheit oder als Buddha selbst in körper- licher Gestalt. Während des Zeitraums zwi- schen seinem Tode und seinem Wiedererschei- nen, oder besser gesagt, bis er ein Alter er- reicht hat, ın dem er reif genug ist, um seinen geistlichen Thron zu besteigen, die Stellung des Dhurma-Raja stellv ertr etungs- weise durch die Priesterschaft ausgefüllt. & Und neben diesem geheiligten Herr- scher existirt dann noch ein weltlicher. Bhotan »besitzt zwei nominelle Ober- häupter, welche uns und den benach- barten Bergvölkern unter dem hindo- stanischen Namen des Dhurma- und des Deb-Raja’s bekannt sind . Der -erstere ist das geistliche, der Br tere das weltliche Oberhaupt.« Obgleich Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. in diesem Falle erwähnt wird, dass das weltliche Oberhaupt keinen grossen Ein- fluss habe (wahrscheinlich weil der die Regentschaft führende Priester, dessen Cölibat ihn verhindert, selbst‘ eine Dy- nastie zu gründen, der Anmaassung un- beschränkter Gewalt durch das weltliche Oberhaupt im Wege steht), so ergibt sich doch schon aus dem blossen Vor- handensein eines weltlichen Oberhauptes, dass ein Theil der staatlichen Functio- nen den Händen des ursprünglichen Staatsoberhauptes entglitten ist. Das bemerkenswertheste und zu gleicher Zeit bekannteste Beispiel jedoch bietet uns Japan dar. Hier finden wir die Ver- drängang der ererbten Autorität durch Bevollmächtigte nicht allein in der cen- tralen Herrschaft, sondern auch in den localen Regierungen durchgeführt. „Zunächst nach dem Fürsten und seiner Familie kommen die Karos oder die ‚Aelte- sten‘. Ihr Amt wurde erblich und gleich den Fürsten wurden sie in vielen Fällen un- fruchtbar. Die Obliegenheiten der Stellung, die wir als diejenige des Clan’s bezeichnen können, gelangten in Folge dessen in die Hände irgend eines gewandten Mannes oder mehrerer Verbündeter aus niederen Ständen, welche, da sie Geschicklichkeit mit Wag- halsigkeit und Gewissenlosigkeit vereinigten, die Fürsten und die Karos den Blicken ent- zogen, sich selbst aber mit der leeren Würde bekleideten, die Meinungen der grossen Masse der Samarai oder der Kriegerelasse beherrsch- ten und so die eigentliche Gewalt ausübten. Sie sahen aber stets darauf, jeden Act im Namen jener Nichtsthuer, ihrer -Herren aus- zuführen, und so hören wir von... .. den Daimios, ganz ebenso wie von den Kaisern, dass sie Thaten vollbracht und eine Politik befolgt hätten, von welcher sie vielleicht gar nichts gewusst haben.“ Dieser Uebergang der Staatsgewalt in die Hände von Ministern hatte sich, was die Centralregierung betrifft, sogar zweimal vollzogen. Die japanesischen Kaiser, da sie Nachfolger eines von Gott abstammenden Eroberers waren, der wirk- lich die Herrschaft geführt hatte, wurden allmählich zu blossen nominellen Herr- schern, theils wegen ihrer Heiligkeit, welche sie von der Nation trennte, und Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. theils wegen des jugendlichen Alters, in welchem sie häufig kraft des Erb- folgegesetzes auf den Thron kamen. In Folge dessen erlangten ihre Bevollmäch- tigten das Uebergewicht. Die Regent- schaft wurde im 9. Jahrhundert »erb- lich in der Familie der Fujiwara [welche dem kaiserlichen Hause entsprungen war], und diese Regenten wurden schliess- lich allmächtig. Sie bekamen das Privi- legium, alle Bittschriften, welche an den Herrscher gerichtet wurden, zu öffnen und ihm dieselben nach Belieben vor- zulegen oder sie zurückzuweisen.« Im Laufe der Zeiten aber wurde die usur- pirte Autorität dieser Werkzeuge auf- gleiche Weise von Anderen wieder usur- pirt. Abermals war es dahin gekommen, dass die Erbfolge nach einer bestimm- ten Regel streng beobachtet wurde, und abermals zog die Abgeschlossenheit des HerrschersVerlust dereigentlichenMacht- ausübung nach sich. »Hohe Abstam- mung war die einzige Bedingung für ein Amt und Untauglichkeit zu gewissen Functionen wurde bei der Wahl der Be- amten nicht beachtet.« Ausser den vier vertrauten Beamten des Shögun »durfte sich ihm Niemand nähern. Was für Verbrechen auch in Kama Koura be- gangen wurden, es war in Folge der Intriguen dieser Günstlinge unmöglich, dieselben dem Seogoun zu klagen.« Das Resultat war, dass »später diese Familie den militärischen Ober- befehlshabern weichen musste, welche jedoch oft selbst wieder zu blossen Werkzeugen in den Händen anderer Häuptlinge wurden. Wenn auch in minder bestimmter Form, kehrt doch dieser Process auch in den früheren Zeiten von Europa wieder. Die Merovingischen Könige, an welchen die Ueberlieferung von ihrem übernatürlichen Ursprung haftete und deren Erbfolge so festgesetzt war, dass auch Minderjährige regieren konnten, ge- langten unter den übermächtigen Einfluss derjenigen, welche sie zu ihren obersten 131 Ministerngemachthatten. Schon lange vor Childerich hatte die Familie der Mero- vingerthatsächlich aufgehört zu regieren. „Die Schätze und die Macht des König- thums waren in die Hände der Vorgesetzten des Palastes übergegangen, welche man ‚Majo- res domus‘ nannte und: denen atssehhrt die oberste Gewalt gehörte. Der Fürst war ge- nöthigt, sich mit der Führung des königlichen Namens zu begnügen. Er trug seine wallen- den Locken und einen langen” Bart, sass auf dem Throne und repräsentirte Is Bild des Monarchen.“ Auf diese Weise sind wir in den Stand gesetzt worden, vom Standpunkt der Entwickelungslehre aus die verhält- nissmässigen Vortheile von Einrichtungen zu erkennen, welche absolut betrachtet nicht wohlthätig erscheinen, und wir lernen das als vorübergehende Erschei-- nung zu billigen, was wir als bleibende Erscheinung verabscheuen. Die That- sachen nöthigen uns zu dem Geständ- niss, dass die Unterwerfung unter des- potische Herrscher dem Fortschritt der Civilisation in hohem Grade förderlich war. Induction und Deduction beweisen dies in gleichem Maasse. Wenn wir auf der einen Seite jene wandernden führerlosen Horden zusam- menstellen, die in den verschiedensten Varietäten des Menschengeschlechts vor- kommen und die man hier und dort auf der Erde antrifft, so zeigen sie uns allgemein, dass in Verbindung mit dem Mangel einer staatlichen Organisation nur geringer Fortschritt bei ihnen Platz gegriffen hat. Und fassen wir jene fest- sitzenden einfachen Gruppen ins Auge, die nur erstnominelle Öberhäupter haben, so sehen wir, dass zwar eine gewisse Entwickelung der gewerblichen Künste und ein gewisses Zusammenwirken er- reicht ist, aber doch der Grad des Fort- schrittes nur gering erscheint. Gehen wir anderseits zu jenen alten Gesell- schaften über, welche zuerst eine be- trächtliche Höhe der Civilisation er- reichten, so finden wir dieselben stets unter autokratischer Herrschaft. In 132 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Amerika waren die mexicanischen, die | Griechenland wären die Griechen, wenn centralamerikanischen und die Chibcha- Staaten durch eine rein persönliche Re- gierung charakterisirt, welche nur durch bestehende Sitten einigermaassen einge- schränkt wurde, und in Peru hatte der Absolutismus des göttlichen Königs ge- radezu keine Schranken. In Afrika zeigt uns das alte Aegypten in auffälligstem Grade diesen Zusammenhang zwischen despotischem Zwang und socialer Ent- wickelung. In der fernsten Vergangen- heit schon lässt sich dieselbe Erschei- nung wiederholt in Asien beobachten, von der akkadischen Civilisation an bis herab zu den jüngsten Zeiten, und die noch lebenden Civilisationen in Siam, Burmah, China und Japan dienen gleich- falls als Beweise dafür. Auch die frühe- ren europäischen Gesellschaften standen, wenn sie nicht den vollständig centra- lisirtten Despotismus zeigten, jedenfalls unter einer gemilderten Form der pa- triarchalischen Despotie. Erst bei den Völkern der Neuzeit, deren Vorfahren die durch die erwähnte sociale Form gegebene Schulung durchgemacht und ihre guten Wirkungen ererbt haben, tritt allmählich eins bleibende Trennung der Civilisation von der Unterwerfung unter den Willen des Einzelnen insLeben. Die Nothwendigkeit des Absolutismus wird am leichtesten erkennbar werden, wenn wir beachten, dass im Kampfe um’s Dasein zwischen den einzelnen Gesellschaften diejenigen Sieger blieben, welche unter sonst gleichen Umständen am vollständigsten sich ihren Häupt- lingen und Königen unterordneten. Und da in den frühesten Stadien die krie- gerische und die sociale Unterordnung Hand in Hand gehen, so folgt daraus, dass lange Zeit hindurch die siegenden Gesellschaften auch fortfahren mussten, unter despotischen Regierungen zu leben. Alle die Ausnahmen, welche die Ge- schichte uns zu bieten scheint, be- weisen in Wirklichkeit unser Gesetz. In dem Kampfe zwischen Persien und sie nicht ein blosser Zufall gerettet hätte, unfehlbar gerade in Folge jener Zersplitterung der Kräfte zu Grunde gerichtet worden, welche aus dem Mangel einer Unterwerfung unter ein einzelnes Oberhaupt entspringt; und die Sitte der Römer, angesichts einer grossen, von einem Feinde drohenden Gefahr einen Dictator zu ernennen, zeigt deutlich, dass auch sie erkannt hatten, wie sehr die Leistungsfähigkeit im Kriege einen absoluten Herrscher- zwang erfordert. Somit dürfen wir, indem die Frage offen bleiben soll, ob auch ohne den Krieg primitive Gruppen jemals sich zu civilisirten Völkern hätten entwickeln können, jedenfalls die Behauptung auf- stellen, dass unter den einmal gegebenen Bedingungen die Kämpfe um’s Dasein zwischen den Gesellschaften, welche fortwährend wirksam waren, kleinere zu grösseren Gruppen zu verschmelzen, bis schliesslich mächtige Nationen daraus entstanden, nothwendigerweise die Ent- wickelung eines socialen Typus bedingt haben, der sich durch persönliche Herr- schaft der strengsten Art charakterisirt. Um die allmähliche Ausbildung dieser wichtigsten staatlichen Einrichtung deut- lich zu übersehen, wollen wir nun noch einmal in Kürze die verschiedenen Ein- flüsse zusammenstellen, welche zu ihrer Entstehung beigetragen haben, und die verschiedenen durchlaufenen Stadien überblicken. In den rohesten Gruppen verhindert der Widerstand gegen die Ausübung einer Obergewalt durch irgend ein ein- zelnes Mitglied gewöhnlich die Fest- setzung einer bestimmten Führerschaft, obgleich immerhin die Ueberlegenheit, welche auf Körperstärke oder Muth oder Schlauheit, auf Besitzthümern oder auf der das Alter begleitenden Erfahrung beruht, gewöhnlich einen gewissen Ein- fluss gewinnt. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. In solchen Gruppen und in etwas weiter vorgeschrittenen Stämmen tragen dann meistens zwei Arten von Ueber- legenheit mehr als alle übrigen zur Erlangung der Herrschaft bei — die- jenige des Kriegers und die des Medicin- mannes. Oft von einander getrennt, manchmal aber auch in einer und der- selben Person vereinigt und dann sich gegenseitig ausserordentlich fördernd, haben diese beiden Arten der Ueber- legenheit die Tendenz, eine staatliche Herrschaft zu begründen, und sie bleiben auch später wichtige Factoren in der Entwickelung derselben. Anfänglich jedoch ist die durch grosse natürliche oder übernatürliche Macht oder durch beides erlangte Herrschaft nur zeitweiliger Natur — sie hört mit dem Leben des- jenigen, der sie errungen hat, auf. So lange das Princip der Leistungs- fähigkeit allein wirksam ist, kommt die staatliche Herrschaft nicht zu einer wirklichen Dauer. Sie zeigt sich dann erst fest gegründet, wenn noch das Prineip der Vererbung gleichfalls mit- wirkt. Die Sitte, die Abstammung nach der weiblichen Linie zu bestimmen, welche viele rohe Gesellschaften charak- terisirt und noch in andern sich fort- erhält, die schon erhebliche Fortschritte gemacht haben, ist der Festsetzung einer dauernden staatlichen Herrschaft weniger günstig als die Sitte der Erb- folge in männlicher Linie, und in der That hat sich in verschiedenen halb eivilisirten Gesellschaften, welche durch bleibende staatliche Herrschaft ausge- zeichnet sind, die Erbfolge in männ- licher Linie für das Herrscherhaus wenigstens festgesetzt, während in der ganzen übrigen Gesellschaft die Ver- erbung nach der weiblichen Linie noch in Kraft besteht. Abgesehen von dem Umstande nun, dass die Erbfolge in männlicher Linie einen innigeren Zusammenhang in der Kosmos, V. Jahrgang (Bd, IX). vermeintliche 133 Familie, eine grössere Pflege der Unter- ordnung und eine wahrscheinlichere Vereinigung von ererbter Stellung mit ererbter Befähigung bedingt, kommt noch der viel wichtigere Umstand in Betracht, dass sie auch die Vorfahren- verehrung begünstigt und in Folge dessen die natürliche Autorität durch die übernatürliche Autorität kräftig unterstützt. Die Entwickelung der Gei- stertheorie, welche, wie wir sahen, eine besondere Furcht vor dem Geiste der mächtigsten Menschen bedingt, bis endlich, wo zahlreiche Stämme durch einen siegreichen Eroberer zusammen- geschweisst worden sind, sein Geist in der Ueberlieferung die Uebermacht eines Gottes erlangt, ruft zweierlei Wirkungen hervor. In erster Linie macht sich der Glaube geltend, dass sein Nachkomme, welcher nach ihm regiert, auch an seiner göttlichen Natur Antheil habe, und in zweiter Linie wird geglaubt, dass er durch Versöhnungsopfer, die er jenem darbringe, auch seine Hilfe erlangen könne. Jede Auflehnung gegen den Herrscher gilt in Folge dessen für ebenso hoffnungslos wie gottlos. Die Vorgänge, vermöge deren sich die staatliche Herrschaft befestigt, wie- derholen sich dann in jedem höheren Stadium. In einfachen Gruppen ist die Häuptlingswürde anfänglich nur eine zeitweilige; sie hört mit dem Kriege auf, der sie geschaffen hat. Wenn einfache Gruppen, welche bleibende Staatsoberhäupter besitzen, sich zu kriegerischen Zwecken vereinigen, so ist wieder die allgemeine Führerschaft nur eine zeitweilige. Wie in den ein- fachen Gruppen die Häuptlingswürde im Anfang gewöhnlich der Wahl unter- worfen erscheint und erst ın einem späteren Stadium erblich wird, so ist auch der Führer der zusammengesetzten Gruppe anfänglich meistens wählbar und seine Stellung pflegt erst später erblich zu werden. Ganz ebenso in manchen Fällen, wo eine doppelt zu- 10 134 sammengesetzte Gesellschaft entstanden ist. Ferner ist diese später entstandene Macht des obersten Herrschers, die ihm anfänglich durch Wahl verliehen wird, bald jedoch in Erblichkeit übergeht, doch meist geringer als diejenige des localen Herrschers in seinem eigenen Gebiete, und wo sie grössere Bedeutung erlangt, da geschieht dies gewöhnlich unter wesentlicher Mitwirkung des Glau- bens an eine göttliche Abkunft oder einen göttlichen Auftrag. Wo kraft des vermeintlich über- natürlichen Ursprungs oder der über- natürlichen Autorität der König zum absoluten Herrscher geworden ist und, da er als Eigenthümer sowohl seiner Unterthanen wie des ganzen Landes gilt, auch alle Gewalt in Händen hat, da sieht er sich durch die Mannich- faltigkeit seiner ÖObliegenheiten bald genöthigt, seine Macht den Händen von Bevollmächtigten anzuvertrauen. Daraus ergibt sich dann eine auf ihn Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. zurückwirkende Einschränkung, welche eben durch die von ihm geschaffene Staatsmaschinerie nöthig gemacht wird, und diese Maschine selbst hat stets die Neigung, ihm über den Kopf zu wachsen. Ganz besonders da, wo ein strenges Festhalten an dem Erblich- keitsgesetze Unfähige auf den Thron bringt oder wo die dem König zuge- schriebene göttliche Natur ihn für alle Unterthanen mit Ausnahme seiner Werk- zeuge unnahbar macht oder wo gar beide Ursachen zusammenwirken, da geht die Macht allmählich ganz in die Hände der Bevollmächtigten über. Der legitime Herrscher wird zu einem Auto- maten, sein oberster Beamter aber zum wirklichen Herrscher, um jedoch in manchen Fällen gleichfalls eben solche Stadien zu durchlaufen, indem er selber zum blossen Scheinkönig herabsinkt und seine nächsten Untergebenen sich zu Herrschern aufschwingen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Photographie der Nebelflecke. Die Verschiedenheit des Anblickes, welchen die Nebelflecke zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Beobachtern dar- geboten haben, und die von denselben in zum Theil noch erhaltenen Zeich- nungen fixirt worden ist, haben schon die älteren Astronomen Marius, Le- gentıl, Messier, W. Herschel u.a. zu der Vermuthung gedrängt, dass in diesen kosmischen Gebilden Gestalt- veränderungen vor sich gehen, die schon im Verlaufe weniger Generationen zu einer erheblichen und auffallenden Um- wandlung des gesammten Aussehens derselben führten. Namentlich an die Gestalt des Orion-Nebels sind derartige Vermuthungen häufiger geknüpft worden, und wenn man die Zeichnung von W. Herschel (1779) mit derjenigen von De Vico (1839) und von W. Tem- pel (1877) vergleicht, so möchte man in der That eine solche allmälige Form- wandlung für nachgewiesen halten. Die neuere Weltanschauung, welche auf Grund des spektralanalytischen Nach- weises der gasartigen Natur der echten Nebel, geneigt ist, dieselben als Welt- embryonen aufzufassen, würde Ursache haben, diese allmäligen Veränderungen in Umriss und Struktur einzelner Nebel- flecke zu ihren Gunsten zu verwerthen, aber die Rapidität einzelner dieser an- geblichen Veränderungen fordert zur Vorsicht heraus, und lässt die Frage berechtigt erscheinen, ob diesen nebel- - haften, verschieden schattirten, im Um- risse wenig bestimmten Gebilden gegen- über, nicht vielmehr Verschiedenheiten der Beobachtungsgabe und der durch- dringenden Kraft der einzelnen Instru- mente, sowie der Klarheit der Luft für die Abweichungen verantwortlich seien, die sich in den Zeichnungen der ein- zelnen Beobachter vorfinden. Es wäre daher wichtig, ein objek- tives Darstellungsmittel zu besitzen, durch welches man die Gestalten der Nebel zu verschiedenen Zeitepochen sicher zu fixiren vermöchte. Die Photo- graphie hatte hierbei bisher nur wenig ermuthigende Resultate ergeben, aber am 1. Oktober 1880 meldete H. Draper in New-York der Pariser Akademie, dass es ihm durch fünfzig Minuten lange Exposition gelungen sei, ein sehr deut- liches Bild des helleren Theiles vom Orion-Nebel zu erhalten, welches dazu dienen könnte, künftig jede Verände- rung dieser Partieen zu beweisen. In der Sitzung der Pariser Akademie vom 7. Februar dieses Jahres hat indessen J. Janssen gezeigt, dass auch diese Bilder nur mit gewissen Vorsichtsmass- regeln als Zeugnisse benützt werden können und sagt darüber: Wenn es verhältnissmässig leicht ist, ein photographisches Bild der glän- zenderen Partieen der Nebelflecke zu erhalten, so ist es im Gegensatze dazu recht schwer, vollständige Bilder dieser 10* 136 Gestirne herzustellen, welche geeignet wären, als sichere Ausgangspunkte für zukünftige Vergleichungen zu dienen. Ein Nebelfleck ist thatsächlich kein Objekt von bestimmten Umrissen, wie die Sonne, der Mond, die Planeten und die anderen Himmelskörper. Sie bieten das Ansehen mehr oder weniger um- rissener Wolken dar, deren verschiedene Theile eine äusserst veränderliche Leucht- kraft haben. Es folgt daraus, dass je nach der Kraft des Instrumentes, der Expositionszeit, der Plattenempfindlich- keit, der Durchsichtigkeit der Atmo- sphäre u. s. w. äusserst verschiedene Bilder von einem und demselben Nebel- fleck erhalten werden, oft sogar Bilder, von denen man nicht annehmen würde, dass sie von demselben Objekt erzeugt wurden. Mit einem Teleskop von einem halben Meter Oeffnung und sechszehn Decimeter Brennweite wurden bei Expo- sitionen von resp. 5, 10 und 15 Minuten Dauer drei ganz verschieden aussehende Bilder erhalten. Das erste Bild zeigt nur die leuchtendsten Theile, das zweite ausserdem die von mittlerer Helligkeit und erst das dritte giebt ein vollstän- digeres Bild. Es ist daher durchaus nöthig, dass die Photographien von Nebelflecken mit einer Art Zeugniss (t&moin) versehen werden, welches die Resultante der Be- dingungen wiedergiebt, unter welchen das Bild erhalten wurde. Dieses Zeug- niss kann man nun aber nach Janssen von den Sternen erhalten. Ein Stern giebt auf der in den Brennpunkt des Instruments gestellten photographischen Platte einen mehr oder weniger regel- mässigen schwarzen oder dunklen Punkt. Dieser kleine Punkt kann wegen seiner geringen Dimensionen zu keiner photo- metrischen Vergleichung dienen, aber ganz anders verhält es sich damit, wenn man die Platte, anstatt sie in den Brennpunkt zu stellen, ein wenig inner- halb desselben aufstell. Man erhält alsdann anstatt eines für die Verglei- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. chung unbrauchbaren Punktes eine kleine Scheibe von ziemlich gleichmässiger Färbung, deren Helligkeitsgrad mit dem anderer, ähnlich erzeugter Scheibchen verglichen werden kann. Da dieser Hel- ligkeitsgrad des Sternscheibchens nicht allein von der Dauer der Lichteinwir- kung, sondern auch von der Durchsich- tigkeit der Atmosphäre, der Platten- empfindlichkeit u. s. w. abhängt, so kann sie als eine Resultante der hier in Betracht kommenden Factoren be- trachtet werden und das erforderliche Zeugniss ablegen. Wenn nun eine Nebel- fleck-Photographie von 5—6 solchen, unter gleichen Bedingungen erhaltenen Sternscheibchen begleitet wird, so würde der spätere Photograph sich darnach (die Unveränderlichkeit der Photographie vorausgesetzt!) in genau entsprechende photographische Bedingungen versetzen können, und. das in denselben erzielte Nebelfleckbild würde mit dem älteren vergleichbar sein. Er würde zunächst die Zeit bestimmen müssen, die er braucht, um ein Sternscheibchen von derselben Helligkeit bei gleichem Durch- messer zu erhalten. Diese Zeit kann wegen der anderen in Mitwirkung tre- tenden Bedingungen eine ganz andere sein, als die zur Erzeugnng des »Zeugen« erforderlich gewesene, aber wenn der Photograph den Nebel ebensolange auf die Platte wirken lässt, so wird er eine Photographie erhalten, die ohne Be- denken mit der älteren verglichen wer- den kann. Auch sonst glaubt Janssen diesen Sternscheibchen eine wichtige Rolle in der Gestirnsphotographie vor- aussagen zu können. (Comptes rendus T.+XCH.p- 261.) Die Constitution der Pfianzen-Alkaloide. Die Gruppe der Alkaloide, denen die wichtigsten Arzneistoffe und stärk- sten Gifte angehören, bildete bisher eines der dunkelsten Gebiete der or- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ganischen Chemie. Man wusste bisher nicht viel mehr, als dass es sämmtlich stickstoffhaltige Verbindungen von mehr oder weniger complicirter Zusammen- setzung seien. In neuerer Zeit aber beginnt sich, wie wir schon in einem vorangegangenen Artikel des Kosmos (Bd. IX, 8. 71) kurz angedeutet haben, dieses Dunkel zu lichten, und wir wollen deshalb hier eine Uebersicht der haupt- sächlichsten bisherigen Ergebnisse auf diesem wichtigen Felde der organischen Chemie zusammenstellen. Den Ausgangspunktbildeten die Spal- tungsprodukte der Alkaloide, welche eine einfachere Zusammensetzung als - diese selbst haben, und deren rationelle Formel daher leichter zu enträthseln war. Im Jahre 1879 war es Ad. Baeyer in München gelungen, das Chinolin, einen Körper, der durch Erhitzen des Cinehonins, eines Alkaloids der China- rinde, mit Alkalien entsteht, künstlich darzustellen und darnach dessen empi- rische Formel (CoH- N) in eine ratio- nelle zu verwandeln. Es ergab sich nämlich daraus, dass das Chinolin ein Naphtalin ist, in welchem eine Kohlen- wasserstoffgruppe (CH) durch Stickstoff (N) ersetzt ist. In Verfolg dieser Unter- suchungen wurde dann auch erkannt, dass das dem Chinolin in vieler Hin- sicht ähnliche Pyridin (C5H5 N), das ein- fachste Alkaloid des aus thierischen Produkten gewonnenen Theeres oder Thieröls, ein Benzol (Cs Hs) ist, in welchem eine Gruppe CH durch N er- setzt ist. Damitwaren, wieWeidelbald darauf zeigte, die Anfangsglieder zweier Reihen von Verbindungen, von denen die einen sich in den Destillationsprodukten stick- stofffreier Körper (Steinkohlentheer u. s. w.) und die andern in den Destil- lationsprodukten stickstoffhaltiger Kör- per (Thieröl, Knochentheer u. s. w.) finden, in eine einfache Beziehung zu einander gesetzt, die einfachste Basis des Thieröls zeigte sich ganz analog 137 dem einfachsten aromatischen Kohlen- wasserstoff des Steinkohlentheers zu- sammengesetzt; die Natur arbeitete also in beiden Fällen gleich, nur dass in dem einen Falle Stickstoff in die Ver- bindung eintrat, der im andern fehlte. Dies war aber noch nicht die wich- tigste Erkenntniss, denn wie vor sechs- zehn Jahren die Arbeiten Kekule’s ge- zeigt hatten, dass die nach ihrer ratio- nellen Formel damals ebenso dunklen sogenannten aromatischen Körper, d.h. die schmeckenden und riechenden Be- standtheile der bittern Mandeln, des Zimmts, der Nelken, des Perubalsams, und vieler anderer Gewürze, insgesammt Ableitungsprodukte jener stickstofffreien Kohlenwasserstoffe (nämlich, des Benzols, Naphtalins u. s. w.) sind, so ergab sich jetzt immer klarer, dass die stickstoff- haltigen Alkaloide ähnliche Derivate der Pyridingruppe seien, wie es jene von der Benzolgruppe sind. Schon in dem- selben Jahre (1879) hatten Cahours ‘und Etard die Meinung ausgesprochen, dass das Alkaloid des Tabaks (Nikotin) als Dipyridin betrachtet werden könne, welches vier Atome Wasserstoff aufge- nommen hat, eine Vermuthung, die durch Versuche bestätigt wurde. Im Jahre darauf (Anfang 1880) fand W. König, dass das Piperidin, ein Spaltungsprodukt des im weissen Pfeffer enthaltenen Alka- loids von der Formel C5 Hıı N, ein Pyridin ist, welches 6 Atome Wasserstoff auf- genommen hat, wie es auch durch Oxydation Pyridin giebt. Einige Monate später entdeckte E. v. Gerichten, dass sich auch die Alkaloide des Opiums gerade wie die vorgenannten von Pyri- din und Chinolin herleiten lassen, und dies wurde von ihm namentlich in Bezug auf das Cotarnin und Narkotin gezeigt. In neuester Zeit hat nun Ladenburg nachgewiesen, dass auch das Tropin, die Grundsubstanz der Solaneengifte (vergl. Kosmos IX, 8. 72), der Pyridingruppe angehört, und ein Alkohol oder Hydrat des Collidin’s, eines 138 höhern Gliedes der Pyridinreihe zu sein scheint. Diese an sich vom theoretischen Standpunkte höchst wichtigen Unter- suchungen erhalten eine praktische Be- deutung insofern, als sie wahrscheinlich zur künstlichen Darstellung einer oder der andern, dieser zum Theil in der Arzneikunde sehr geschätzten und kost- baren Substanzen führen werden. Be- reits ist es Wisneyradsky gelungen, das Chinolin durch Behandlung mit Zinnfeile und Chlorwasserstoffsäure zur Aufnahme des sich entwickelnden Wasser- stoffs zu veranlassen, und so wasser- stoffreichere Alkaloide darzustellen. Eine andere hierhergehörige Frage hat sich J. Ponath vorgelegt, ob näm- lich nicht im thierischen Körper eine ähnliche Oxydation und Zersetzung vor sich geht, wie sie bei der Erhitzung der Alkaloide stattfindet und Chinolin, Pyridin u. s. w. liefert. Er hat zu diesem Zwecke das Grundalkaloid des Chinin’s und Cinchonins, d.h. das eben- erwähnte Chinolin auf seine fieber- widrigen und antiseptischen Wirkungen untersucht, und dieselben in der That denjenigen dieser berühmten Arzneimittel ähnlich gefunden. Andererseitshat Claus nach einer aus diesen Einblicken in die chemische Constitution der Chinaalka- loide gefolgerten Methode mit Aether- arten zusammengesetzte China-Alkaloide dargestellt, auf deren arzneiliche Wir- kung man gespannt sein darf. Auch hier müssen wir den Leser, der sich genauer auf diesem neuerschlossenen Gebiete der organischen Chemie orien- tiren will, auf die letzten Bände der an Alkaloid-Untersuchungen seit Jahr und Tag überaus reichhaltigen » Berichte der deutschen chemischen Gesellschaft« verweisen. Die Geschichte des Kinkgo-Geschlechts. Der englische Botaniker und Pa- läontologe J. Starkie Gardner setzt Kleinere Mittheilungen und Journalschau. in der englischen Zeitschrift »Nature« seine Mittheilungen aus der Geschichte der Nadelhölzer fort, und giebt in Nr. 585 (January 1881) einen Abriss vonder Geschichte desGinkgo-Geschlech- tes, dem wir das Folgende entnehmen. Die Beblätterung dieser heute nur noch in der einzigen Art Ginkgo biloba Linne (Salisburia adiantifolia Sm.) in Nordchina und Japan lebenden Baum- art, gleicht bekanntlich derjenigen eines gigantischen Venushaarfarns (Adiantum), aber der Blattstiel ist dick, oft drei Zoll lang und an der Basis deutlich abgegliedert. Ein wichtiger Charakter zur Erkennung des fossilen Blattes liegt ausserdem darin, dass dasselbe beinahe ohne Ausnahme zweilappig erscheint, wie unregelmässig der Rand auch sonst gelappt oder eingeschnitten sein möge. Obschon der Gingko-Baum heute eine auf eine einzige Art beschränkte Gattung darstellt, ist seine Vorfahren- schaft vielleicht ehrwürdiger als die irgend eines andern Waldbaumes. Die Steinkohlenzeit-Früchte Trigonocarpus und Noeggerathia werden sowohl von Hooker als von Saporta als einer seiner Ahnenformen zugehörig betrach- tet, und sogar die Beblätterung der letzteren, vom Psygmophyllum Schimper’s nähert sich derjenigen von Ginkgo auf das Engste. Die Gattung Baiera, ohne Zweifel eine nähere Verwandte, erscheint in der permischen, Epoche, und Ginkgo selbst tritt in aller Wahrscheinlichkeit in der zweilappigen Jeanpaulia der rhä- tischen Formation von Baireuth hervor, aber erst im jurassischen System erreicht die ganze Gruppe ihren Höhepunkt. Einige wenige Species sind in andern Werken beschrieben worden, aber Heer’s Juraflora des östlichen Sibirien (Flora foss. arctica vol. IV) liefert weitaus den wichtigsten Beitrag zu ihrer früheren Geschichte. Fünf verschiedene Gattun- gen sind in die Gruppen Phoenicopsis, Ginkgo, Baiera, Trichopitys und Ozeka- nowskia vertheilt, doch ist kein specieller Kleinere Mittheilungen und Journalschau. | Charakter vorhanden, der die letztere mit Ginkgo vereinigte, obwohl sie ohne Zweifel zu den Coniferen gehört. Ihre Ueberreste stellen Büschel von spitzigen und gelegentlich gegabelten Nadeln dar, die an ihrer Basis in dachziegelförmig sich deckenden Schuppen stecken. Ihre Blätter bilden bei den meisten Arten hierundda knopfähnliche Erweiterungen, die durch irgend einen ausgestorbenen Parasiten erzeugt worden sein mögen. Heer glaubt, dass ein getrennt gefun- dener Zweig, der kurz gestielte dop- pelte Samen oder Nüsse trägt, ihren Fruchtstand darstelle. Phoenicopsis zeigt ein Büschel getrennter Blätter, die eben- falls an ihrer Basis mit Schuppen be- deckt sind, aber ein schönes palmen- ähnliches Laubwerk bilden, und Heer glaubt, dass diese Gattung (ordaites mit Baiera verbinde, jedoch ohne direkte Verwandtschaft mit Ginkgo sei. Die abweichendste der zweifellos zu der Gruppe gehörenden Gattungen ist Trichopitys Saporta. Bei ihr sind die Blätter schmaler, mit spärlicheren Adern versehen, und das Parenchym zu einem schmalen, jede Ader einfassenden Strei- fen verschmälert. Obgleich eine höchst extreme Modifikationdesnormalen Typus, besitzt Trichopitys setacea die charak- teristische Zweilappigkeit und den Blatt- stiel. Seine Zugehörigkeit lässt sich aufs Beste durch Ginkgo concinna ver- folgen, welche ähnlich gestaltet ist, aber so verbreiterte Blattsegmente be- sitzt, dass jeder zwei oder drei Adern aufnehmen kann. G. sibirica und lepida werden auf geringfügige und nicht durch die Ab- bildungen gestützte Gründe hin von einander getrennt, und liefern zusam- men die hauptsächlichste und massen- hafteste Laubmasse der Absatzschichten. Die Blätter sind nahezu so breit wie bei der lebenden Art, aber mehr finger- förmig zertheilt, und mit ungefähr fünf Adern in jedem Abschnitt versehen. Sie haben die Aderung, Zweilappigkeit 139 und Stielbildung von Ginkgo, nähern sich jedoch durch ihre breiteren Blätter Baiera. Andere ähnliche Arten (?) von verminderter Grösse sind @. Schmidtiana, mit ungefähr sechs Segmenten, @. fla- bellata, mit vierzehn bis fünfzehn Seg- menten, und @. pusilla mit einer gerin- geren Zahl und bloss einen Zoll an der Basis breit. Diese drei können wahr- scheinlich zu einer einzigen Species vereinigt werden. Die noch übrige Form aus Sibirien, @. Huttoni ist weniger ge- theilt, indem sie nur vier abgerundete Segmente besitzt, und in dieser Be- ziehung sich am meisten der lebenden Art nähert. Die ihr nächste indessen ist @. di- gitata aus den Juraschichten Spitzber- gens, welche, wenn auch von kleinerer Gestalt und mit dickerem Blattstiel versehen, mit der lebenden Art vereinigt werden könnte. Angeblich derselben Art angehörende Blätter von Scarbo- rough sind grösser. @. integriuscula ist offenbar das kleinere und weniger gelappte Blatt derselben Species und der Verfasser hat sich die unnöthige Mühe gemacht, fünf gehörig benannte und klassificirte Species aufzustellen, indem er damit deutlich zeigte, dass er sich keine hinreichende Anschauung von der Ausdehnung verschafft hat, in welcher die Blätter des lebenden Bau- mes sogar an einem und demselben Zweige abändern können. Seine Species sollten daher vermindert werden, da die ungemeine Artenzersplitterung einen Nachtheil darstellt und den Gebrauch des Werkes erschwert. Die dritte Gattung, Daiera, besitzt ein breiteres und mehr palmenähnliches Blatt, welches nahezu fünf Zoll Radius besitzt, und zunächst zwei Hauptlappen bildet, von denen sich jeder nochmals entweder einmal oder zweimal gabelt, so dass die letzten Abschnitte von gleich- mässiger Breite sind und je vier paral- lele Adern besitzen. Das Blatt ver- schmälert sich in den Blattstiel, der 140 bei den abgebildeten Exemplaren nicht erhalten war. Die Zweitheilung und Aderung verbinden sie hinreichend mit Ginkgo, und die Beständigkeit dieser Charaktere durch die gesammte Gruppe ist um so merkwürdiger, als man gar nicht vermuthet haben würde, dass sie einen morphologischen Werth besitzen. In der Kreidezeit wird eine Abnahme dieser Gruppe bemerklich. Baiera von den Komeschichten ist auf Spuren von verkümmerter Form, die man unter die Farne gestellt hat, beschränkt, wäh- rend Ginkgo in einer ebenfalls verküm- merten Species mit kleinen Blättern und kurzem dickemBlattstiel erscheint, die als Adiantum formosum beschrieben wurden, und durch Fragmente von den oberen Atane-Kreideschichten, dieunpassendmit dem Namen @. primordialis belegt wurden. In den arktischen Eocänschichten (Miocän Heer’s) ist blos Ginkgo, und das sehr spärlich, in Grönland ange- troffen worden. Diese Varietät gleicht so stark @. adiantoides der italienischen Miocänschichten, dass Heer beinahe sofort seinen Artnamen primordialis auf- gab, und sogar in Zweifel gerieth, ob nicht alle beide besser mit der lebenden Art vereinigt werden müssten. Die kleinen, in der baltischen Miocän- flora abgebildeten Fragmente sind un- sicher, und wir treffen sie einzig so weit südlich, wie in Italien, Süd-Frankreich und am Mississippi. Die angebliche Mississippi-Art ist inzwischen durch den Grafen von Saporta als ein Farn- kraut (eine Zygodium-Art) bestimmt worden, und andererseits werden die von Heer und von Ettingshausen hierher gerechneten Samen und Blätter aus englischen Eocänschichten ebenso wie die französischen, schweizerischen und österreichischen Spuren aus der- selben Zeit in Zweifel gezogen. Die sehr stark ausgeprägten und ungewöhnlichen Charaktere von Ginkgo, die sich auch auf die verwandten aus- gestorbenen Genera erstrecken, die Zu- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. rückerstreckung ihres Ursprungs bis in die Steinkohlenschichten, ihre ausser- ordentliche Entwickelung in der Miocän- zeit, ihre Fortdauer durch so viele Zeitalter scheint es wünschenswerth zu machen, dass man sie als besondere Untergruppe von den Taxineen trennt. In den Kreidezeiten beinahe ausgestor- ben und durch die tertiären Epochen nur in einer einzigen Species fortlebend, gleicht ihre heutige Existenz nur einem Ueberbleibsel. Ihre Heimath ist von Zeit zu Zeit in der arktischen Zone gewesen, doch ist es kaum bewiesen, wie Saporta sagt, dass sie wirklich von dort her- stammt. Das von Schimper abge- bildete Blatt aus. dem Oolith von Scar- borough ist weit grösser als irgend eins der von Spitzbergen abgebildeten, und weder das Laub noch die Frucht des nordischen fossilen Ginkgo scheint sich zu irgend einer Zeit demjenigen des in seiner jetzigen Heimath lebenden Baumes genähert zu haben. Er ist jetzt in den nördlichen Provinzen China’s heimisch und muss desshalb fähig sein, einem strengen Klima zu widerstehen ; doch scheinen die klimatischen Beding- ungen Westeuropa’s das Reifen der Früchte nicht in höhern Breiten als Südfrankreich zu begünstigen. Seine Vertheilung während der Ter- tiärschichten ist lehrreich und Sapor- ta’s Erklärung, dass er während der warmen eocänen und vor-eozänischen Zeiten im Norden existirte und von da quer durch Europa hinabstieg, als die Temperatur in den miocänen Zeiten abnahm, ist die einzige, welche den Thatsachen gerecht wird. Mit Heer anzunehmen, dass dieselbe Species gleich- zeitig und in derselben Höhe in Italien und Disko lebte, ist absurd und würde eine Gleichmässigkeit des Klima’s vor- aussetzen, wie sie keine natürlichen Ursachen in einer so späten geologischen Epoche hervorgebracht haben können. ‘ Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Verirrte Blätter. Hier ist der Asteines Phyllanthus, der als Unkraut in meinem Garten wächst. Die Aeste dieser Phyllanthus- Art stehen wagerecht vom Stamme ab und wagerecht breiten sich — bei Tage und im Schatten — die Blätter aus, abwechselnd rechts und links vom Aste, 141 so dass dieser das täuschende Ansehen eines gefiederten Blattes erhält. Bei dem vorliegenden Aste ist nun die eine Seite fast kahl; nur am Anfange und am Ende. stehen je zwei Blätter; die sieben mittleren Blätter haben sich nach der andern Seite herumgebogen und gleichzeitig so gedreht, dass ihre obere Fläche, die bei einer einfachen Wande- Ast eines Phyllanthus mit sieben verirrten Blättern, von oben gesehen; nach dem ge- trockneten Aste in natürlicher Grösse. rung durch 180° zur unteren werden würde, wieder nach oben sieht. Diese obere Fläche legt sich dicht an die untere Fläche der entsprechenden Blätter der anderen Seite an. — Wie kamen wohl die sieben Blätter in diese sonder- bare Lage? Beim Nahen der Nacht biegen sich die Blätter dieser Phyllanthus-Art nach unten (bei einer zweiten hiesigen Art nach oben), bis sie senkrecht nach abwärts sehen und gleichzeitig drehen sie sich so, dass die oberen Blattflächen der beiden Blattreihen einander zuge- wendet, dass also die unteren Blatt- flächen nach aussen gekehrt sind. Es ist dieselbe nächtliche Ruhelage, welche Pfeffer bei Phyllanthus Niruri beschrie- ben und Darwin von Cassia corymbosa abgebildet hat*. Von dieser senkrech- ten Nachtlage zur wagerechten Tages- stellung haben nun die Blätter gleich- TE Darwin, Das Bewegungsvermögen der Pflanzen. Deutsch von J. Victor Carus. S. 315, Fig. 154. weit, 9°, nach rechts und nach links, nach ihrer eigenen und nach der ent- gegengesetzten Seite; ja letzterer Weg scheint in gewisser Beziehung der be- quemere zu sein: die Blätter brauchen sich nicht zu drehen, sondern nur ein- fach empor zu steigen. So kommt es denn bisweilen vor, dass ein oder meh- rere Blätter einer Blattreihe, ja bisweilen fast alle, sich verirren und am Morgen nach der verkehrten Seite wandern. Und sind sie einmal den bequemen falschen Weg gegangen, so scheinen sie ihn nicht leicht wieder zu verlassen. An derselben Pflanze, von welcher der obige Ast stammt, sehe ich schon wäh- rend einer Reihe von Tagen dieselben vier Blätter eines Astes immer wieder auf der verkehrten Seite, trotzdem sie jeden Abend beim Schlafengehen den halben Weg zur richtigen Seite machen *. Wenn nun schon an demselben Aste, ® Heute (11. 1. 81) sind zwei der vier Blätter auf die richtige Seite zurückge- kehrt. 142 sei es auch nur als seltene Ausnahme, benachbarte Blätter in entgegengesetz- ter Richtung wandern, so kann es nicht Wunder nehmen, dass so oft bei ähn- lichen Arten die schlafenden Blätter eine verschiedene und nicht selten gerade entgegengesetzte Lage einnehmen. Man ist dadurch, — das scheinen mir die verirrten Blätter des Phyllanthus zu be- weisen, — keineswegs zu der Annahme gezwungen, dass solche Pflanzen unab- hängig von einander die Gewohnheit des Schlafens angenommen haben. Itajahy, 10. Januar 1881. Fritz Müller. Aptychen und Anaptychen. Nachdem wir schon neulich in dieser Zeitschrift (Bd. VII, S. 389) auf die Ansichten von Prof. Hermann v. Ihe- ring in Leipzig über den Stammbaum der Cephalopoden näher eingegangen waren, wollen wir, das dort Mitgetheilte voraussetzend, einen kurzen Auszug aus seiner neuen Arbeit über »die Aptychen als Beweismittel für die Dibranchiaten- Natur der Ammoniten« (Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Paläon- tologie 1881, 1. Bd. Heft I. S. 44 ff.) folgen lassen. Die Aptychen sind kalkige oder hornige Gebilde, von meist symmetrischer Form, deren beide Hälften dann den Schalen einer mehr oder weniger auf- geklappten Muschel gleichen, und dem Umstande, dass sie niemals zusammen- geklappt gefunden wurden, ihren Namen . Aptychen (d. h. nichtzusammenklappbar von a privativum und nrVoosıw zu- sammenklappen) verdanken. Man kennt sie schon aus primären Schichten, aber in manchen sekundären Schichten sind sie so häufig, dass dieselben als Apty- chenkalke u. s. w. bezeichnet werden. Gewisse gar nicht zusammenklappbare, überhaupt nicht zweitheilige, aber sonst ähnliche Kalkgebilde unterschied man Kleinere Mittheilungen und Journalschau. mit dem sprachlich interessanten Namen der Anaptychen. Ihre Deutung hat sehr merkwürdige Wandlungen durchgemacht. Seit den Zeiten des alten Scheuchzer, dem Walch und Germar beistimmten, hielt man sie für die Schalen fossiler Enten- muscheln und noch in Carl Vogt's Petrefaktenkunde kann man Restaura- tionen solcher angeblichen Lepaditen sehen, die der kürzlich im Kosmos (Bd. VII, S. 430) gegebenen Abbildung derselben ungefähr entsprechen. Oken hielt sie für Schalen von Sternwürmern (Sternaspis); mehrere andere Paläonto- logen für Muscheln, jaBarrande scheint aufihre Gestalt, die Annahme silurischer Ohiton-Arten begründet zu haben. Alle diese Annahmen gingen davon aus, dass man die Aptychen oft für sich in den Erdschichten findet, aber mit grosser Beständigkeit kommen sie sonst im Kör- per von Ammoniten vor, und zwar fast immer in der hier schematisch ange- deuteten Lage, unmittelbar unter der Schale liegend und deshalb besonders deutlich bei den meist von der Schale befreieten, gut erhaltenen Steinkernen. N Schematische Darstellung der Lage des Aptychus in der Ammonitenschale. Hermann von Meyer der dieser Ver- steinerung den ihr verbliebenen Namen gegeben hat, erkannte bereits diese, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. namentlich durch Leopold v. Buch her- vorgehobene regelmässige Beziehung zu den Ammoniten an, glaubte aber, dass es sich um Schalthiere handele, die von den Ammoniten verschlungen worden wären. Rüppelund Owen sahen später die Aptychen für Deckel des Cephalo- podengehäuses an, eine Meinung, die sich lange, namentlich in Bezug auf die Anaptychen gehalten hat, aber nicht stichhaltig erweist, da ihre Form selten auch nur annähernd zu einem solchen Zwecke passt. Man begann sie daher als Verkalkungen ‘innerer Organe, dem bekannten Rückenschulp der Dinten- fische (Os Sepiaes) vergleichbar anzu- sehen, und in neuerer Zeit hat sich die Meinung von Keferstein und Waagen am meisten Anhänger ver- schafft, nach welcher sie Deckel zweier grosser blättriger Drüsen (Nidamental- drüsen) sein sollten, die sich am Ge- schlechtsapparat der Weibchen von Nautilus und den Dekapoden finden, und den klebrigen Stoff absondern, durch welchen die Eier dieser Thiere umhüllt und zu den bekannten See- trauben vereinigt werden. Bei den ge- nannten lebenden Thieren haben jene Drüsen keine aptychenartige Bedeckung und es ist auch gar nicht abzusehen, warum sie, als vollkommen geschützt im Innern des Thieres liegende Organe, einer solchen benöthigen sollten, so dass, wie es scheint, nur die Rathlosig- keit, ein Analogon dieses Theiles im Körper lebender Cephalopoden zu finden, jene Annahme ermöglicht hat. An der Erfolglosigkeit der bisherigen - Erklärungsversuche trug wohl vorzugs- weise der Umstand die Schuld, dass man immer von der Voraussetzung aus- ging, es müsse das Ammonitenthier ebenso gebaut gewesen sein, wie Nau- tilus, und ein Tetrabranchiat gewesen sein, wie dieser. Allein wie schon an obiger Stelle mitgetheilt wurde, deuten dieneueren Untersuchungen vonBranco, Munier-Chalmas u. A. dahin, dass 143 sowohl Goniatiten als Ammoniten Di- branchiaten waren, wie die grosse Mehr- zahl der heute lebenden Cephalopoden, und Prof. v. Ihering ging deshalb unter dieser Voraussetzung von Neuem an die Aptychenfrage, indem er nach einem Analogon des Aptychus nicht mehr beim Nautilus, sondern bei den heute leben- den Dibranchiaten suchte. Er glaubt ein solches wie mitgetheilt, in dem be- sonders bei den Dekapoden wohl ent- wickelten Nackenknorpel gefunden zu haben, der gewissen Muskeln des Kopfes und Trichters zum Ansatze dient und in seinen Formen lebhaft an die Aptychen erinnert. Verfasser führt zunächst aus, dass wie schon früher Waagen und Neu- mayr gezeigt haben, ein Unterschied zwischen zweitheiligen Aptychen und einfachen Anaptychen nichtnachzuweisen ist, denn beide kommen an derselben Nackenstelle der Ammoniten vor, und ersetzen einander bei ganz nahe ver- wandten Gattungen. So besitzt die fossile Gattung Aegoceras einen soge- nannten hornigen, eintheiligen Anapty- chus und die nach Neumayr davon nicht scharf abzugrenzende Gattung Harpoceras einen Aptychus, der als zwei- theilig, dünn, kalkig, mit dicker Con- chyolinschicht versehen, beschrieben wird. Der Nackenknorpel der lebenden Dekapoden bietet nun in seinem ovalen, oft aber, wie bei vielen fossilen Arten, herzförmigen (Gesammtumriss schon äusserlich eine grosse Aehnlichkeit dar. Eine über den Nacken laufende Mittel- linie theilt ihn in zwei durch eine mehr oder weniger tiefe Furche getrennte Hälften, und auch hier könnte man ver- sucht sein, von einfachen und zweithei- ligen Nackenknorpeln zu reden, was aber freilich erst durch die Verkalkung der beiden Hälften bei den fossilen Formen zur Annahme zweier Schalenhälften füh- ren konnte. Vor Allem stimmt aber der mikroskopische Bau unter der Vor- aussetzung überein, dass bei den Apty- 144 chen eine nachträgliche Verkalkung aus- gefallener Gewebetheile zwischen dem eigentlichen Gerüst bei der Versteine- rung stattgefunden habe. Da wir das Wesentliche über diese mikroskopischen Verhältnisse schon an obenerwähnter Stelle mitgetheilt haben, so gehen wir hier nicht weiter darauf ein, und er- wähnen nur noch den wichtigen, aus der konstanten Lage des Aptychus zu ziehenden Schluss, dass wenn dieser, wie nunmehr sehr wahrscheinlich er- scheint, dem Nackenknorpel homolog ist, damit festgestellt wäre, dass die äussere oder convexe Seite der Ammo- nitenschale, wie man früher allgemein annahm, die dorsale ist, und nicht wie Suess in neuerer Zeit, von der ver- meintlichen Nautilus-Verwandtschaft aus- gehend, geschlossen hatte, die ventrale. Man kann sich daraus auch den Umstand erklären, dass oftmals, wenn die Schale der Ammoniten zerstört ist, der Aptychus erhalten bleibt, und dass andererseits so viele Aptychen ohne die dazu gehörigen Ammoniten ganze Lager ausmachen. An die durch die Challenger- und deutschen Expeditionen festgestell- ten Lösungsverhältnisse der kohlensäure- reicheren Tiefsee (vergl. Kosmos Bd. VIII, S. 140) anknüpfend, meint Fuchs, dass bei der Bildung jener Aptychenschichten die arragonithaltigen Schalen durch kohlensaures Wasser aufgelöst worden seien, während die aus fester Knorpel- substanz, mit eingelagertem Kalkspath bestehenden Aptychen erhalten worden seien. Was das Vorkommen der Aptychen in Verbindung mit den Gehäusen be- trifft, so hat man sie namentlich in Ammoniten gefunden, und zwar in kon- stanten Formen, z. B. ungetheilt als sogenannte Anaptychen bei den Unter- gattungen Arietites, Aegoceras und Amal- theus, in der gewöhnlichen zweitheiligen Form bei den meisten übrigen. Nur bei wenigen Untergattungen, wie z. B. Phylloceras, Lytoceras und Trachyceras, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. hat man bisher nach Waagen niemals Aptychen gefunden, und v. Ihering glaubt diese Thatsache mit dem Um- stande in Verbindung bringen zu sollen, dass dies Gattungen mit kurzer Haupt- kammer waren, bei denen der Nacken- knorpel wahrscheinlich mit dem Kopf. nicht in’s Gehäuse zurückgezogen wer- den konnte, und sich daher mit diesem nach dem Tode leicht ablöste. Die Länge der Wohnkammer variirt nach Suess zwischen !/» und 1'/» Spiral- umgängen, und es ist wohl nicht ohne Zusammenhang, dass sie bei den ohne Aptychen gefundenen Gattungen beson- ders kurz war. Ausser bei den Ammoniten sind aber, wie Barrande dargethan hat, Anapty- chen auch wiederholt bei Goniatiten gefunden worden. »Es ist das umso- mehr bemerkenswerth, als ja die Gonia- titen dem einfachen Verhalten ihrer Naht zufolge, wie auch zeitlich als Vor- gänger der Ammoniten erscheinen. Neu- mayr hat zuerst den Satz formulirt, dass jeder Ammonit im Verlauf seiner Entwickelung ein Goniatiten- und darauf ein Ceratitenstadium durchlaufe. Ist auch der Satz in dieser Fassung nach Branco nicht allgemein gültig, so hat doch auch den Untersuchungen von Branco zu Folge, die von Barrande vergebens in Frage gezogene nahe Be- ziehung zwischen Goniatiten, Ceratiten und Ammoniten ihre feste innere Be- gründung.« Es handelt sich hier meist um sogenannte hornige Anaptychen, aus denen sich durch die bestimmt in den Goniatiten wurzelnden Gattungen Arcestes und Amaltheus die zweitheiligen, ver- kalkten Aptychen der Ammoniten ent- wickelt haben könnten. Möglicherweise sind aber wie Professor v. Ihering meint, sogar die sogenannten silurischen Chiton-Schalen Barrande’s, Aptychen silurischer Dibranchiaten! Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Das Verhalten der Siphonal-Dute und die Descendenz der Cephalopoden. In seiner oben eitirten Arbeit über die Aptychen hat Prof. von Ihering auch eine Reihe für die Stammesge- schichte der Cephalopoden wichtige Be- trachtungen über die Verhältnisse des sogenannten Sipho rekapitulirt, die er früher schon mitgetheilt, hier aber er- weitert hat. Der Sipho ist bei Nautilus, wo man seine Verhältnisse genauer studiren kann, ein vom Rücken des in der vordersten Kammer wohnenden Thieres ausgehender gefässreicher, seh- niger Strang, welcher in der Mittelebene der Spirale verlaufend, sämmtliche Kam- merwände durchbohrt, und somit eine lebendige Verbindung zwischen allen Kammern herstellt, die wahrscheinlich dazu dient, die unbewohnten vor dem Verfall zu bewahren und vielleicht ihnen ausserdem Luft zuzuführen. Er ist bei den einzelnen älteren Cephalo- podenarten ganz oder theilweise von einer kalkigen Röhre (Siphonalscheide oder -Dute) umschlossen, die bei Nau- tilus von jeder Scheidewand aus nur ein Stückchen in die nächste Kammer hineinragt. Verfolst man das Verhalten dieser Siphonalduten bei den ausgestorbenen Verwandten des Nautilus, so zeigen sich bemerkenswerthe Unterschiede, in- dem sie bei vielen Gattungen, nament- lich bei den Vaginaten, nicht einfach vor der nächstältern Scheidewand en- den, sondern noch eine Strecke weit in deren Siphonaldute hineinragen. Das führt dann unmittelbar zu dem Ver- halten bei Endoceras, wo jede Sipho- naldute nach hinten zugespitzt und geschlossen endet, so dass alle diese kegelförmigen Siphonalduten wie ein Satz Tassen in einanderstecken. Der Sipho hat also bei Eindoceras nicht von der Wohnkammer aus, die sämmt- lichen dahinterbelegenen Luftkammern durchlaufen, sondern ist im Verlaufe 145 des Wachsthums immer weiter nach vorne gerückt, und hat bei jeder Wachs- thumsperiode je eine Siphonaldute aus- gebildet, zu der je eine Scheidewand gehörte. Die Ursache für das Vorrücken des Sipho liegt in dem Wachsthum der Schale, wobei beständig der Anheftungs- ring mit den Schalenmuskeln weiter nach vorne vorrückt. Bei Endoceras ist also der Sipho nicht wie sonst dauernd in der hintersten Siphonaldute befestigt gewesen, sondern er hat sich beim wei- .-teren Wachsthum jedesmal dort her- ausgelöst, indem er von dem Thiere nachgeschleift wurde, so dass immer eine neue hinten abgeschlossene Dute abgeschieden wurde. Zwischen diesem Verhalten bei Endoceras und dem der übrigen Orthoceratiten, wo der Sipho sämmtliche Kammern durchläuft, und die Siphonalduten von einer Scheide- wand zur andern sich erstrecken, liegt nun anscheinend eine grosse Kluft. Die- selbe lässt sich aber überbrücken, wenn man sich vorstellt, dass der Sipho beim weitern Wachsthum des Thieres nicht nachgezogen wurde, sondern selbst wei- terwuchs, und nach wie vor in einer der ältesten Siphonalduten befestigt blieb. Zur Erläuterung dieses Vorganges können die nachstehenden schematischen Zeichnungen dienen. Es ist dann ohne Weiteres klar, dass nur diejenige Si- phonaldute hinten zugespitzt und ge- schlossen enden kann, in welcher das hintere Ende des Sipho festsitzt, wäh- rend alle folgenden Siphonalduten hinten offen sein müssen, indem jede von ihnen nur soweit sich nach hinten erstrecken “ resp. bilden kann, als sich zwischen Schale und Sipho ein freier Raum befindet. Dass aber der Sipho von Endoceras wirklich das primitive Verhalten darstellt, wird nun durch gewisse Gründe sehr wahr- scheinlich gemacht. Sandberger und Hyatt haben fest- gestellt, dass die ersten Scheidewände von Nautilus und Goniatiten nicht vom Sipho durchbohrt werden, und dass bei Nautilus 146 Kleinere Mittheilungen und Journalschau. auch noch die zweite Scheidewand eine nach hinten blind endigende Dute bildet, die in der ersten sitzt, also ein Verhalten zeigt, wie es bei Endoceras sämmtliche Duten darbieten. Es scheint also, dass hier der Sipho des jungen Thieres an- fänglich noch nachgezogen wurde, dann aber sich an der Hinterwand dauernd befestigte. Bei Orthoceras duplex soll auch noch die dritte Scheidewand, eine solche geschlossene Siphonaldute bilden. Das Verhältniss scheint also so zu sein, dass das von den andern nur kurz durch- N) Schematische Darstellung der Siphonalduten terende des Thieres nicht nur gleich an- fangs und beim weitern Wachsthum im hintern Ende der Schale festhaften, son- dern auch an der einen Seitenwand an- liegen blieb, so konnte beim weitern Vorrücken des Thieres, die Bildung von Scheidewänden, nur an der andern Seite, resp. der einen Hälfte des Schalenum- fangs statthaben. Da trat dann jener ebenfalls schematisch abgebildeteFallein, der anscheinend bei Ascoceras vorliegt, dessen Luftkammern, nur je der einen Hälfte einer Luftkammer der andern Nau- laufene Stadium, bei Zindoceras zeitlebens bestehen blieb. Damit ist aber natür- lich nicht gefordert, dass die ältesten Cephalopoden alle Endoceras-ähnliche Si- phonalduten besessen haben müssten, da ja bei manchen Formen der Uebergang zum Festhalten des Sipho schon sehr früh eingetreten sein kann. In den vorausgehenden Betrachtun- gen ist auf die centrale oder excentrische Lage des Sipho keine Rücksicht genom- men. Stellt man sich aber auch dieses Verhältniss beachtend vor, dass das Hin- \ um bei Orthoceratiten, Endoceras und Ascoceras. tiliden entsprechen würde. Aus alledem scheint hervorzugehen, dass eben in den ältern silurischen Faunen, die ganze, später so typische Bildungsweise des Si- pho noch nicht völlig fixirt ist, und da- her finden sich dann Formen mit von Anbeginn an fixirtem Hinterende, nebst solchen, die es erst später in irgend einer Siphonaldute angelöthet besassen, und endlich solchen, die das Hinterende beim Verlassen der alten Wohnung stets nach sich schleiften. So kann es denn auch nicht weiter befremden, wenn wir Kleinere Mittheilungen und Journalschau. bereits in der zweiten silurischen Fauna den Sipho bei den meisten Gattungen typisch ausgebildet finden, neben For- men, welche wie Eindoceras und Ascoceras die tiefere Stufe repräsentiren. Denn wie gross auch morphologisch der Unter- schied erscheinen muss, physiologisch ist er ein minimaler, abhängig nur von der früher oder später erfolgten Fixirung des Hinterendes. Allerdings würde diese Annahme es immerhin wahrscheinlich machen, dass Endoceras-ähnliche Arten die Vorläufer der mit typischem Sipho versehenen Gattungen gewesen seien. Selbst Barrande erkennt an, dass die Vaginaten sich am meisten den Gastro- . poden annähern, weil sie einen Theil des Eingeweidesackes im weiten Sipho enthielten, und Scheidewandbildungen auch bei Gastropoden, z. B. Euomphalus vorkommen. »Wir würden daher, weil die Cepha- lopoden bereits bei ihrem ersten Er- scheinen in der zweiten silurischen Fauna mit zahlreichen Gattungen auf- treten, in der ersten silurischen Fauna solche einfach gekammerte Schalen an- zutreffen erwarten müssen. Diese sind nun in der That auch da, wenn auch bisher meist nicht als Cephalopoden, sondern als Pteropoden gedeutet. Be- kanntlich finden sich in allen silurischen Schichten, auch schon in der ersten silu- rischen Fauna, gekammerte Schalen, welche bald für Cephalopoden und bald für Pteropoden gehalten wurden. Gegen- wärtig ist besonders durch Barrande die letztere Ansicht die herrschende ge- worden. Sieht man sich aber nach den Gründen um, welche dazu führten, die ursprüngliche Auffassung dieser Formen als Cephalopoden zu verlassen, so sind dieselben keineswegs stichhaltig. So vor allem das Moment, welches zuerst für die Pteropodennatur mit Erfolg geltend gemacht wurde, nämlich die auffallende Dünne der Schalen, dem man hier ge- wiss ebensowenig entscheidenden Werth beimessen kann, wie bei Muscheln und 147 Schnecken. Ausserdem trifft die Angabe nicht einmal immer zu, da wie Bar- rande geltend macht, Hemiceras und Salterella eine dickere durch innere con- centrische Lagen verstärkte Schale be- sitzen. Für Barrande ist daher nicht dieser Umstand, sondern der Besitz des Sipho für die Cephalopoden entscheidend, während die Scheidewände der silurischen Pteropodenschalen nicht von einem Loch für den Sipho durchbohrt sind. Im Gegen- satze dazu seien die Septen der Cepha- lopoden immer von dem Loche für den Sipho durchbohrt und da das bei Conu- laria u. s. w. nicht der Fall sei, handle es sich nicht um Cephalopoden. Nun ist aber doch Endoceras in der gleichen Lage, undurchbohrte Scheidewände zu haben (und ebenso wie Endoceras zu Orthoceras verhält sich nach Barrande die Gattung Piloceras zu Cyrtoceras), so dass auch dieses Argument hinfällig wird. Dazu kommt, dass nach der pa- läozoischen Zeit keine Pteropoden bis zum Tertiär mehr vorkommen, und dass die Grössenverhältnisse der paläozoi- schen Gattungen zum Theil ganz ausser- ordentliche (über 20 Ctm.) sind, wo- durch sie sich ganz von den wirklichen Pteropoden entfernen. Wenn daher Agassiz, Geinitz, Sowerby, Hall, Salter, Dana u. A. die betreffenden Schalen für Cephalopodenschalen hielten, so wird man dies auf Grund des Be- merkten nur für richtig erklären können, während für die Zurechnung zu den Pteropoden nichts Stichhaltiges ange- führt werden kann. Wenn nun die in Rede stehenden Organismen die Vor- läufer und Zeitgenossen von Cephalo- poden waren, dann müssen sie auch als besondere Familie neben die Orthocera- titen u. s. w. eingereiht werden und Ihering schlägt deshalb vor, sie ihrer dünnen Schalen wegen als Leptocera- titen zusammenzufassen. Diese würden demnach die ältesten Cephalopoden sein, von denen sich einerseits als ein kleiner Seitenzweig die Tetrabranchiaten abge- 148 zweigt hätten, während die übrigen direkt zu den Dibranchiaten hinüberleiten, wo- mit dann Dana’s Ansicht acceptirt wäre, der die Leptoceratiten für Dibran- chiaten hält. Die Kammerung der Leptoceratiten bildet daher nicht nur keinen Grund gegen die Einreihung unter die Cepha- lopoden, sondern spricht vielmehr für dieselbe. Die Zahl der Scheidewände ist eine für die verschiedenen Arten wechselnde, sehr oft ist auch von den- selben überhaupt nichts erhalten. Wäh- rend in manchen Fällen nur eine oder einige solcher Scheidewände in der Spitze vorhanden sind, steigt deren Zahl in anderen Fällen auf 15—20, wie bei Hiyolithes elegans oder, wie bei Phrag- motheca bohemica, auf über fünfzig. Die Scheidewände sind nach hinten zu con- cav, was also wieder zu Gunsten des Vergleichs mit Endoceras spricht. Nach- dem von Ihering sich noch in Betreff der plötzlichen Aufsteigungen des heran- wachsenden Thieres mit Barrande'’s Ansichten hierüber auseinandergesetzt hat, schliesst er seine lichtvolle Dar- stellung mit folgender Betrachtung über den Ursprung der Cephalopoden, die wir wegen ihres grossen Interesses für die Descendenztheorie wörtlich wieder- geben: »Der Umstand, dass gerade in den älteren silurischen Schichten diese ein- facheren, den Anschluss an andere Mol- lusken vermittelnden Formen auftreten, spricht jedenfalls nicht gegen die Des- cendenztheorie. Bekanntlich hat Bar- rande in der Art des Auftretens der verschiedenen Typen von paläozoischen und zumal silurischen CGephalopoden einen starken Beweis gegen die Ab- stammungslehre geltend machen zu kön- nen geglaubt. Er stützt sich dabei vorzugsweise auf das gleichzeitige Auf- treten von Nautilus und Goniatites, welche doch beide, namentlich hinsicht- lich des Embryonalendes ein so ver- schiedenes Verhalten darbieten. Bar- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. rande geht dabei von der Voraus- setzung aus, dass der Nautilus uns das Bild der ältesten Cephalopoden schlecht- hin vor Augen führe, und dass Gonia- tites und die Ammoniten ebensowohl wie die Dibranchiaten vom Standpunkte der Descendenz aus, vom Nautilus müss- ten abgeleitet werden. Diese Voraus- setzungen aber haben sich, wie in dem Verlaufe unserer Betrachtungen sich ergeben hat, als irrige herausgestellt, womit denn auch die gegen die Des- cendenz geltend gemachten Einwände ihre Bedeutung verlieren. Sowie die Verhältnisse jetzt hinsichtlich der Auf- fassung der Ammoniten und Goniatiten ‚als Dibranchiaten liegen, existiren zwi- schen denselben und zwischen den von Barrande urgirten Thatsachen keiner- lei Widersprüche mehr. Weit davon entfernt, in den Verwandtschaftsbezieh- ungen der fossilen und lebenden Ce- phalopoden eine Schwierigkeit für die Durchführung der Descendenztheorie er- blicken zu können, zweifle ich vielmehr nicht daran, dass gerade sie im wei- tern Verlaufe der Forschungen als ein besonders instruktives Beispiel und Be- weismittel sich herausstellen werden. Man wird hierzu schon jetzt gedrängt, wenn man in grossen Zügen sich das Bild der Entwickelung der ganzen Klasse vor die Augen hält. Man erkennt dann, wie die eigenthümliche Kammerung und Sipho-Bildung derfossilen Cephalopoden- schalen in den ältesten Schichten noch nicht überall ihre typische Ausbildung aufweist, wie also erst nach verschie- denen Versuchen und Anläufen das bekannte typische Verhalten zur Norm wurde, wie dann späterhin die Tendenz zur Rückbildung der ganzen Schale hervortritt, wie durch einen in der On- togenie der lebenden Dekapoden sich noch jederzeit wiederholendem Einstül- pungs- und Verwachsungsprozess aus der äusseren, gekammerten Schale, eine innere rudimentäre wird, und wie end- lich die Schalenanlage auch da noch Kleinere Mittheilungen und Journalschan. andeutungsweise wiederholt wird, wo es, wie bei den Oktopoden zum voll- kommenen Schwunde der Schalen ge- kommen ist. Hält man dies zusammen mit der Thatsache, dass die einzige paläozoische Cephalopoden - Gattung, welche in der Lebewelt noch Repräsen- tanten besitzt, in anatomischer Hinsicht in vielen, wenn auch nicht in allen Beziehungen, auf einer sehr niedern, mor- phologischen Entwickelungsstufe steht, und in vielen Beziehungen ein Stadium . uns dauernd vor die Augen führt, wel- ches in der Embryologie der Dibran- chiaten noch wieder erscheint, so wird man im Allgemeinen gewiss keinen Grund haben, die Cephalopoden als eine für die Prüfung der Descendenzlehre ungünstige Klasse anzusehen. Denn wenn auch die Cephalopoden und zu- mal die Dibranchiaten zu den höchst entwickelten Geschöpfen unter den wir- bellosen Thieren zählen, so wäre es doch verfehlt, schon den paläozoischen Cephalopoden die Organisation der lebenden Dibranchiaten zuschreiben zu wollen. Das frühzeitige Auftreten der Cephalopoden würde nur dann als Be- weis gegen die Richtigkeit der Descen- denz geltend gemacht werden können, wenn man ein Recht hätte, schon den ältesten Cephalopoden die Organisation derjenigen lebenden Vertreter der Klasse zuzuschreiben, welche man mit Recht als die höchst entwickelten Geschöpfe unter den Wirbellosen zu betrachten pflegt. Da diese Voraussetzungennichtzu- treffen, davielmehrunsere lebendenhoch- organisirten Dibranchiaten nur als die Endglieder eines weitgehenden und lang- wierigen Umwandlungsprozesses erschei- nen, so kann die Phylogenie der Cepha- lopoden nur als ein zur Bestätigung und Befestigung der Descendenzlehre geeignetes Gebiet anerkannt werden.« Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX), 149 Bine Anpassung an das unregelmässige Auftreten der Wanderheuschrecken. In seinem neuesten Berichte über die natürlichen Feinde der Heuschrecken theilt der berühmte Entomolog der Ver- einigten Staaten Charles V. Riley fol- gende, dem American Entomologist ent- nommene Beobachtung mit, die auch für die Anhänger der Entwickelungslehre von allgemeinem Interesse sein dürfte. Die Larven des gestreiften Pflaster- käfers (Epicauta vittata) nähren sich von den Eiern einer Wanderheuschrecke (Caloptenus differentialis). Voneiner Anzahl dieser Larven nun, die mit diesen Eiern gefüttert und gross gezogen wurden, ent- wickelten sich mehrere im ersten, drei im zweiten und eine erst im dritten darauf folgenden Sommer zum fertigen Käfer, obgleich sie alle gleichzeitig aus- geschlüpft und genau denselben Beding- ungen ausgesetzt gewesen waren. Riley knüpft daran folgende treffende Bemer- kung: »Diese Unregelmässigkeit in der Ent- wickelung von Individuen macht sich bei manchen Insekten bemerkbar, die para- sitisch leben und deren Lebensunterhalt unsicher ist. Bei unseren Pflasterkäfern, dieauf Heuschreckeneier angewiesen sind, und besonders bei denen, die sich speciell von Eiern von Wanderheuschrecken näh- ren, ist es nicht schwer zu verstehen, wie diese Eigenthümlichkeit derjenigen Art, welche sie besitzt, sich vortheilhaft erweisen kann. Wanderheuschrecken treten in unregelmässigen Zwischenräu- men in einem besonderen Theile des Landes in unermesslichen Scharen auf, und bisweilen ist dieselbe Gegend eine Reihe von Jahren hindurch von ihnen vollständig frei. Die jungen Pflaster- käfer, die das nächstfolgende Jahr aus- schlüpfen, nachdem die Heuschrecken in zahlloser Menge erschienen sind, mögen häufig wenig odergarkeine Heuschrecken- eier zu erbeuten finden und die grosse ' Masse derselben würde folglich zu Grunde 11 150 gehen; während die Jungen solcher ab- weichenden Individuen, die erst 2, 3, oder noch mehr Jahre nach einem Heu- schreckeneinfall ihre Entwickelung vol- lenden, weit bessere Aussicht haben, geeignete Nahrung zu finden und so ihre Art fortzupflanzen. In diesen und den meisten anderen Fällen verzögerter Entwickelung, mit denen wir näher be- kannt sind, kann die ausnahmsweise Ver- zögerung der Art nützlich werden und wird ihr nützlich, indem sie ihr über ungünstige Perioden hinweshilft. Und wir können begreifen, wie durch die Er- haltung solcher begünstigten Individuen die Gewohnheit unregelmässiger Ent- wickelung bei der Art befestigt werden kann, sobald die Lebensbedingungen und Umstände es vortheilhaft machen.« (The rocky mountains locust. Further facts about the natural enemies of locusts. By Charles V. Riley, M.A., Ph.D. — Extracted from the Second Report of the United States Entomological Com- mission 1880. Chapter XIII.) Unfruchtbare Zwillinge bei Rindern. Im Repertorium für Thierheilkunde (XL. 1881, p. 1) theilt Hering seine Beobachtungen über eine merkwürdige Missbildung bei Rindern mit, die. viel- leicht, eben weil sie höchst seltsam er- scheint, Licht auf die Frage nach der Entstehung der Geschlechtsunterschiede (vergl. Kosmos Bd. IX, 8. 75) werfen kann. Es ist längst bekannt, dass wenn Kühe Zwillinge zur Welt bringen, welche verschiedenen Geschlechts sind, das eine der Neugeborenen, und zwar das an- scheinend weibliche Junge, meist eine mangelhafte Entwickelung der Fortpflan- zungsorgane zeigt. Die Züchter der ver- gangenen Jahrhunderte kannten bereits diese Eigenthümlichkeit der Gattung Rind, denn das Volk hatte in mehreren Ländern besondere Namen für dergleichen : missbildete Kälber; man nannte sie in England freemartin, in Frankreich taur, | Kleinere Mittheilungen und Journalschan. in Italien munghi, in Holland kweene, in Deutschland dagegen Zwitter, ein Name der nicht passend ist, da es sich nicht um die bei höheren Wirbelthieren überhaupt höchst seltene Vereinigung beider Geschlechter in einem Individuum, sondern um unvollkommene, in der Ent- wickelung stehen gebliebene weibliche Thiere handelt. Dies hat schon der ver- storbene Director der niederländischen Thierarzneischule A. Numan in seiner in den Jahren 1872—73 in Folge einer Preisaufgabe verfassten mit 23 lithogr. Tafeln illustrirten »Verhandelig over de onvruchtbare Runderen, bekennt under dem Naam van Kweenen« nachgewiesen, und Hering liefert dazu achtzehn wei- tere Beobachtungen, die mit Ausnahme von dreien die erwähnte Regel bestätigen, dass der weibliche Zwilling der miss- bildete und darum unfruchtbare sei. In dem einen Falle wo beide Zwillinge weib- lich waren, fanden sich die Geschlechts- organe beider normal entwickelt. Es ge- hört zu den Eigenthümlichkeiten dieser ohnedies schwer zu erklärenden Miss- bildungen, dass man keine einfachen Geburten kennt, die in dieser Weise missbildet sind. Weder Numan noch Hering haben solche beobachtet. Die Ursache ist im höchsten Grade dunkel, und man kann nur sagen, dass Rinder, vermuthlich in Folge ihrer unnatürlichen Lebensweise (Stallfütterung u. s. w.) über- haupt sehr zu Missbildungen neigen, wobei, wie es scheint, der männliche Zwilling (weil kräftiger?) stets die nor- male Entwickelung der Genitalien bei seiner Schwester hindert; leider werden solche Thiere, weil schwächer, stets bald der Schlachtbank überliefert und man weiss daher nicht, wie die weitere Ent- wickelung der Geschlechtsunterschiede ausfallen würde. Der germanische Typus. In der Februar-Sitzung der Berliner Anthropologischen Gesellschaft gab Vir- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. chow eine Erörterung der Frage, ob ein bestimmter einheitlicher Typus der germanischen Rasse bestehe und wo der- selbe zu suchen sei. In der letzten Zeit ist dies Thema vielfach angeregt, und es haben sich starke Zweifel an der Existenz eines solchen Typus eingestellt. Die bei- den hauptsächlichsten Bearbeiter, deren Resultate einander übrigens ziemlich dia- metral zuwiderlaufen, sind Lindenschmit und Prof. Kollmann, der General-Secretär der Deutschen Anthropologischen Gesell- schaft. Der Erstere suchtin der Einleitung seines grossen Werkes die entscheidenden Merkmale des germanischen Urtypus in - der alemannischen Periode und will diese zum Modulus der Beurtheilung aller übri- gen machen, Kollmann dagegen (Archiv für Anthropologie) erklärt, dass auch in jener Periode bereits kein einfacher Typus mehr nachweisbar sei; der reine meso- bis dolichocephale, von Lindenschmit und Ecker aufgestellte Typus betrage circa 43 pCt. aller Funde, der Rest sei mesocephal bis brachycephal. Solche gemischte Funde treffe man immer an, wenn man auch noch so weit als mög- lich zurückgeht. Der Vortragende be- stätigt dies mit Bezug auf belgische Höhlenfunde, deren eclatantestes Beispiel drei Schädel mit durchaus verschiedenem Typus aufweist. Lindenschmit wie Koll- mann stehen auf gleichemBoden in Bezug auf die Unveränderlichkeit der Typen, der letztere erklärt alle Veränderung aus Ver- mischung, und demnach gälte es, aus den Mischungen die ursprünglichen Ele- mente zu isoliren. Wir finden heute in Deutschland kaum einen Platz mit ein- heitlichem Typus, am wenigsten im Süden und Südwesten; die neuerdings so viel- fach angestellten Untersuchungen der Haar- und Hautfarbe, Schädelform u. s. w. bei Schulkindern zeigen dort weit mehr Mischung wie im Norden, wo, besonders in Schleswig-Holstein, Hinterpommern etec., der blonde Typus immer mehr überwiegt. Kollmann erklärt dieses Ueberwiegen durch die Coincidenz zweier blonden IH Rassen, der germanischen und slavischen, was insofern auffällt, als wir die Slaven eher für brünett anzusehen uns gewöhnt haben, während Kollmann eben ihren blonden Typus betont und als Unterschied nur die grauen Augen gegen die blauen der Germanen aufführt. Interessant hierzu ist der Bericht desIbrahim Jacuth, welcher die Böhmen als brünett und schwarzhaarig bezeichnet und wenig Blonde gefunden hat; aber freilich folgt weder hieraus, noch aus unseren Beob- achtungen über die Böhmen, Serben etec., dass nun alle Slaven brünett sein müssten; es scheinen eben im Norden alle Stämme zwei Schattirungen zu besitzen, so bei- spielsweise auch die Finnen, und es kann deshalb in Frage gestellt werden, ob der blonde Typus überhaupt als charakteristisch für nordische Völker anzusehen ist. Die grosse Anzahl blon- der Juden liefert einen weiteren Beitrag zu diesen Zweifeln, obschon auch hier die Vermischungsfrage als eine offene betrachtet werden könnte. Die osteo- logischen Untersuchungen haben uns nicht sehr gefördert; es stellt sich mit der dunklen Farbe immer Kurzköpfig- keit ein — aber nicht nur nach Süden, sondern ebenso nach Norden, während der hellen Farbe mehr Mesocephalie bis Dolichocephalie entspricht. Ganz der- selbe Gegensatz zeigt sich bei den Fran- zosen: es zerfallen nach neueren For- schungen die Kelten nach Nord und Süd in zwei ganz verschiedene Stämme, wo- mit die zur Zeit des Polybios noch be- stehende Unterscheidung der Gallier von den Galatern neues Leben erhält. Aber woher sind die Galater (Südfrankreich) gekommen? Unter den ihnen benach- barten Anwohnern desMittelmeeresfinden wir keine Brachycephalen. Der Vor- tragende erwähnte noch seiner Unter- suchungen über die Friesen, welche schon bei den ältesten Ueberresten sehr greif- bare Unterschiede ergaben, um dann die Frage: Welche Merkmale kennzeichnen den Urgermanen? dahin zu beantworten, ie® 152 dass wir durchaus nicht in der Lage | sind, dieselbe präcis zu erledigen; die Forschung liegt noch in den Anfängen, und wenn Carl Vogt’sDictum, die Preussen möchten sich nicht so sehr als Germanen aufspielen, da sie doch nur Slaven mit wenig germanischem Elemente versetzt wären, auch unbedingt falsch sei, da | nachweislich eine sehr starke germa- nische Einwanderung in die altpreussi- schen Länder, welche sogar Regionen mit rein germanischer Bewohnerschaft enthalten, stattgefunden hat, so seien doch andererseits die süddeutschen Ver- | hältnisse ebenfalls schwierig. Von den Kelten, welche die südliche Bevölkerung durchsetzen sollen, will Lindenschmit nichts wissen, aber es liegen doch recht bündige Zeugnisse für deren Existenz vor. Die Bayern sind wesentlich Brachy- cephalen, die Südfranzosen auch. Zum Schlusse wies Redner noch auf das lin- guistische Interesse der Frage mit der Bemerkung hin, dass die Familiennamen nichts für die Rassenzugehörigkeit ent- scheiden, da sie erst in einer sehr späten Periode entstanden sind. Krautartige Weinreben aus dem Sudan. In den durch die Reblaus verwüsteten Weindistrikten des südlichen Frankreich beabsichtigt man einen interessanten Versuch mit der Einführung krautartiger Weinreben aus dem Sudan zu machen. | Nach von dem französischen Reisenden Lecard bestätigten Beobachtungen rei- chen 90 Tage mit einer Wärme von 17° oder 100 Tage mit einem Mittel von 15° aus, um diese Reben ihre ge- | die er Kleinere Mittheilungen und Journalschau. sammte Vegetation vollenden zu lassen, und diese Bedingungen dürften vom Mai zum September im südlichen Frank- reich stets leicht erfüllt werden. Die Akklimatisationsfrage würde sich also leicht lösen, dagegen drängt sich ein Bedenken in der Frage auf, werden die Wurzeln derkrautartigen Rebe den Winter aushalten? L&card meint, dass esjeden- falls leicht sein würde, sie zu schützen, wie man ja durch Strohbedeckung an- dere krautartige Gewächse, wie z. B. die Artischocken schützt, und er versichert, dass diese Reben, welche im Sudan acht Monate Trockenheit und intensive Hitze überdauern, von einer grossen Wider- standsfähigkeit seien, so dass man, nach der Erfahrung, dass grosse Trockenheit ähnliche Wirkungen auf die Pflanzen übt, wie Kälte, sich über diesen Punkt nicht zu beunruhigen braucht. Die Ver- suche werden mit fünfzigtausend Samen- kernen, welche L&card von seiner Reise mitgebracht hat, angestellt werden, und nach zwei Jahren wird man wissen, wie es mit dieser neuen Einführung steht, Lecard hat fünf Varietäten beobachtet, nach sich selbst und seinen Freunden benannt hat: Vitis Lecardü mit lanzettlichen Blättern, wie der wilde Wein, Vitis Durandi (nach seinem Reise- begleiter) mit runden Blättern, Vitis Chantinii mit wolligen Blättern, Vitis Faidherbii, nach dem Eröffner des Sudan, und Vitis Hardii, nach seinem Lehrer. Unter ihnen trägt keine Varietät weisse Beeren, aber L&card hofft, dass sich solche Varietäten durch die Kultur leicht erzeugen werden. (Revue scienti- fique 1881. Nr. 4.) Litteratur und Kritik. Drei Werke über Entwickelungsgeschichte | der Geographie. 1. Geschichte der geographischen Entdeckungsreisen im Alter- thum und Mittelalter bis zu MagellansersterErdumsege- lung. VonJ. Löwenberg. Mit über hundert Textabbildungen und fünf Karten. Leipzig und Berlin. Otto Spamer, 1881. 458 S. in 8. 2 im Bwiven Bis. Geschichte der Nordpolfahrten von den ältestenZeiten bis auf die Ge- genwart. Von Friedrich von Hell- wald. Mit zahlreichen Illustrationen und Karten. 953 S. in gr. 8. Stutt- gart 1881. Verlag der J.G. Cotta’schen Buchhandlung. . Die geographische Erforschung des afrikanischen Kontinents von der ältesten Zeit bis auf unsre Tage. Ein Beitrag zur Geschichte der Erdkunde, von Dr. Philipp Pau- litschke. 2. vermehrte und ver- besserte Aufl. Wien, Brockhausen & Bräuer, 1880. 331 8. in gr. 8. Löwenberg’s Buch bietet eine ge- schickt gruppirte und anziehend geschrie- bene Darstellung der ersten durch Ent- deckungsreisen vermittelten Ausbildung der geographischen Kenntnisse von den ältesten Zeiten bis zu Magellan’s erster Erdumsegelung. Es hat einen eigenen Reiz in solcher Schilderung der Ent- wickelung einer Wissenschaft aus ihrer © dunkelsten, an Phantasiegebilden reichen Kindheitsepoche, durch das erste Auf- dämmern der richtigeren Erkenntniss, bis zur allmähligen Einsicht und völligen Beherrschung des Gebietes zu folgen ; erst auf diese Wege lernt man die be- treffende Disciplin wirklich lieben, und die von ihr errungenen Stufen würdigen und schätzen. Darum bildet dieses Buch, dessen reich durch Abbildungen illustrir- ter Text noch die grosse Epoche der Entdeckungen einschliesst, die beste Ein- leitung zu der von Fr. v. Hellwald und Richard Oberländer herausge- gebenen »Illustrirten Bibliothek der Län- der- und Völkerkunde«, die ein zweiter in ähnlicher Weise zusammenfassender Band über die Entdeckungsreisen von Magellan bis Cook zum Abschluss brin- gen wird. Da die Kenntniss dessen, was dieses Buch enthält, nicht nur einen un- erlässlichen Bestandtheil der allgemeinen Bildung ausmacht, sondern auch einen solchen, dessen Erwerbung in angeneh- mer Weise anregt, so darf das hübsch ausgestattete Buch ohne Zweifel auf zahl- reiche Leser rechnen. In ähnlicher Weise beginnt Hell- wald seine Geschichte der Nordpol- fahrten mit der Schilderung der Ah- nungen und Irrfahrten der ältesten For- scher und Reisenden; er lässt die nor- dische Welt gleichsam vor unsern Augen noch einmal entdeckt werden, und führt uns so von Jahrhundert zu Jahrhundert fortschreitend, unmerklich dem Pole im- 154 mer näher, immer tiefer in die Kunde der betreffenden Regionen, ihrer gefahr- vollen Seiten und ihrer den Geographen und den Naturforscher mächtig anzie- henden Natur ein. Natürlich konnte er in Folge seiner Beschränkung auf ein engeres Gebiet eingehender schildern, als der Verfasser des vorher erwähnten Buches, wir fühlen uns von Seite zu Seite heimischer in jenen unwirthlichen Regionen, wo so viele Fragen der Wissen- schaft ihrer Lösung entgegensehen dür- fen. Grade jetzt wo sich die Regierun- gen wiederum für eine grossartige Or- ganisation zur wissenschaftlichen Er- forschung des Nordpols vorbereiten, kommt diese mit wahrer Liebe und Hin- gebung bearbeitete Darstellung zur rech- ten Zeit, und wir dürfen ihr mit um so mehr Theilnahme eine weite Verbreitung wünschen, als auch gar manche Fragen der Weltentwickelung und des Auftretens der Organismen von der genauen geo- gnostischenundpaläontologischenDurch- forschung der Polarländer ihre Lösung erwarten. Alle diese Probleme, die phy- sikalischen, meteorologischen und biolo- gischen sind auch von Hellwald neben den rein geographischen Fragen in die- sem alles Nordpolwissen zusammenfas- senden Werke angedeutet; es ist ein rechtes Entdeckerbuch auch für den Leser, der aus den Ueberraschungen nicht herauskommt, und mit dem Be- kenntnisse endigt, dass gegen solche, von berufener Hand geschriebene that- sächlichen Berichte, die phantasievollsten »Naturwissenschaftlichen Romane« von Verne und Consorten langweilige Stüm- perarbeit bleiben. Wozu für solche Phan- tastereien schwärmen, wenn die Wirk- lichkeit packender und interessanter ist, als derartige, oft mehr als windige Luft- fahrten? Hellwald’s Buch ist, was seine Anziehungskraft wo möglich noch ver- mehrt, mit zahlreichen, sehr gelungenen Öriginalholzschnitten nach den mitge- brachten Aufnahmen derälterenund.neue- ren Nordpolreisenden reich geschmückt, Litteratur und Kritik. und ein über dreissig Seiten langes Re- gister macht dasselbe auch als Nach- schlagewerk sehr brauchbar. Mit gleicher Anerkennung können wir von dem Buche Paulitschke’s über die Erforschungsgeschichte Afrika’s be- richten, welches die zweite, sehr erwei- terte Auflage eines kleineren, mit ent- schiedenstem Beifalle von den Sachver- ständigen aufgenommenen Buches ist. Die Darstellung ist kürzer, und resumirt meist nur.die geographischen Ergebnisse, ohne die persönlichen Schicksale der Reisenden und ihre naturwissenschaft- lichen Entdeckungen ausführlicher zu berücksichtigen. In letzterer Beziehung finden sich sogar einige Irrthümer. Soz.B. wenn 8. 208 die Welwitschia mirabilis ein »Nadelbaum« genannt wird, aber das Werk will ja eben nur die Entwicke- lung unseres geographischen Wissens von dem schwarzen Welttheil schildern, und nach dieser Richtung macht es den Eindruck der grössten Zuverlässigkeit und Gründlichkeit. Auch hier erleichtert ein ausgiebiges Register den leichten Gebrauch der unbedingt werthvollen Arbeit. Neuere hotanische Literatur. 1. Lehrbuch der allgemeinen Bo- tanik mit Einschluss der Pflanzen- physiologie. Für den Gebrauch der Studirenden an Universitäten und Akademieen, sowie zum Selbstunter- richte bearbeitet. Von Professor Dr. J. Reinke in Göttingen. Mit 295 Original-Holzschnitten und einer Tafel in Farbendruck. 584 S. in 8. Berlin, Wiegandt, Hempel & Parey (Paul Parey), 1880. . Pflanzenphysiognomie. Bespre- chung der landschaftlich wichtigen Gewächse von Dr. Hermann Berge, Docent der Botanik am schweize- rischen Polytechnikum. Mit 328 in den Text gedruckten Holzschnitten. 228 S. in 8. Ebenda 1880. [So) Litteratur und Kritik. 3. Wanderungen durch die Pflan- zenwelt der Tropen. Von Dr. med. Robert Av&-Lallemant. Ferdinand Hirt. Königliche Universitäts- und Verlagsbuchhandle. in Breslau, 188 8. in 8. 1880. 4. Deutsche Dendrologie. Syste- ‚matische Uebersicht, Beschreibung, Kulturanweisung und Verwendung der in Deutschland ohne oder mit Decke aushaltenden Gehölze vonW.Lauche, Königlicher Garteninspektor u. s. w. 727 Seiten mit 283 Holzschnitten nach Zeichnungen des Verfassers. Berlin, Wiegand, Hempel & Parey, 1880. Bei der Abfassung seines Lehr- buchs der allgemeinen Botanik hat sich Prof. Reinke die Aufgabe ge- stellt, in einem handlichen Formate eine Uebersicht des gegenwärtigen Stand- punktes dieser Wissenschaft als Leit- faden für Lehrer und Lernende zu geben. Diese nicht leichte Aufgabe ist ihm, wie uns dünkt, besonders in Hinblick auf die nothwendige Beschränkung und Auswahl des Wichtigsten ganz meister- lich gelungen. »Stellen wir uns vor,« sagt er, »es würde ein Jahrtausend mit gleicher Energie auf dem Gebiete der Botanik fortgearbeitet wie gegenwärtig, so würde doch nach tausend Jahren ein Lehrbuch aus praktischen Rück- sichten keinen wesentlich grösseren Um- fang haben dürfen, als die jetzigen Lehrbücher ihn besitzen.« Das ist der von manchen berühmten Botanikern bei der Abfassung ihrer sonst ausgezeich- neten Lehrbücher übersehene prak- tische Gesichtspunkt, durch dessen Befolgung dem Studirenden die Gewinn- ung einer allgemeinen Uebersicht er- möglicht wird, indem er davor bewahrt bleibt, unter den unübersehbaren Ein- zelheiten den Ueberblick zu verlieren. Die Specialien werden ihm schon von selbst entgegen kommen, sobald er sich auf ein besonderes Forschungsgebiet begiebt. Wir glauben das Buch, in welchem der Verfasser in allen Abthei- 155 lungen eigene Untersuchungen verwer- thet hat, unsern Lesern auch zum Selbst- studium warm empfehlen zu sollen; die Abbildungen sind, wie die gesammte Ausstattung, sehr schön; die Farben- tafel stellt einige merkwürdige Fälle von Symbiose, d.h. dem für die Anpassungs- frage so höchst lehrreichen engsten Zu- sammenleben, oder Ineinanderleben ver- schiedener Organismen dar. Nr. 2 wendet sich mehr an die be- schauliche, ästhetisirende Betrachtung der Natur, und kann wie eine Ausfüh- rung der Skizze Alexander von Hum- boldt’s über die Physiognomie der Gewächse betrachtet werden. Dadurchjedoch, dass die Pflanzenformen überall mit Klima und Lebensbeding- ungen in Verbindung gebracht und da- von hergeleitet werden, wird auch dem Sinne des Forschers, der in das Wesen der Formen einzudringen sucht, Rech- nung getragen, so dass der mit zahl- reichen Abbildungen erläuterte Text, nicht nur den Anforderungen der Pflan- zenliebhaber, Gärtner und Künstler, sondern auch tiefergehenden Ansprüchen genügen wird. Einen gewissermassen ähnlichen Cha- rakter besitzt Ave-Lallemant’s Buch, eine sehr flott, jedoch mitunter etwas salopp geschriebene Pflanzenphysio- gnomie des tropischen Amerika. Es ist eine leichte und oft anziehende Schil- derung persönlicher Eindrücke, die an Lesbarkeit für den Deutschen sehr ge- wonnen haben würde, wenn der Ver- fasser nicht die veraltete, nur in Eng- land noch gebräuchliche Pflanzeneinthei- lung des älteren Decandolle angewendet hätte. Man merkt an solchen Ueber- schriften, wie »die Alliance der Cincho- nalen« und an den ohne ersichtlichen Grund inenglischer Sprache eingestreuten Pflanzenschilderungen nur zu sehr, dass Lindley’s »Vegetable Kingdom« den gesammten Canevas für die ornamen- talen Stickereien des Verfassers hergeben musste. Nur einmal (Seite 41) lehnt 156 er sich gegen Lindley’s Autorität auf, der eine seiner Schilderungen über das Herauswerfen von Pollinien bei Orchi- deen ungünstig kritisirt hatte. Dr. Ave- Lallemant glaubt offenbar, Lindley habe seine Beobachtung selbst bezweifelt, die aber für Lindley gewiss nicht neu war, derselbe wollte sicher nur die Bezeich- nung des Pollinium als Stamen tadeln. W.Lauche’s deutsche Dendro- logie, welche eine Beschreibung der in Deutschland mit oder ohne Decke aushal- tenden Holzgewächse in Wald und Park giebt, ist bei der Schwierigkeit über diese aus allen Welttheilen zusammen- geborgte Flora sichere Aufklärung zu finden, ein höchst verdienstliches Unter- nehmen, und darf allen, die sich in dieser Richtung belehren wollen, als ein ebenso zuverlässiges als reichhal- tiges Nachschlagewerk angelegentlichst empfohlen werden. Die zahlreichen, der Anschauung sehr willkommenen Abbil- dungen sind zwar nur den Umrissen nach hingeworfen, aber sehr charak- teristisch aufgefasst und auf den ersten Blick kenntlich. Die in dem Buche gezogene Grenze der bei uns im Freien aushaltenden Holzgewächse ist freilich eine willkürliche, aber für den Praktiker, da eine solche jedenfalls gezogen werden musste, die beste und wünschens- wertheste. Handbuch der vergleichenden Em- bryologie von Francis M. Bal- four. M. A. F.R. S. Mit Bewilli- gung des Verfassers aus dem Eng- lischen übersetzt von Professor Dr. B. Vetter. Erster Band. 580 S. mit 275 in den Text gedruckten Holz- schnitten. 8. Jena, Gustav Fischer (vormals Friedr. Mauke), 1880. Nach den Anregungen, welche Hux- ley, Fritz Müller und Ernst Haeckel vor 15—20 Jahren dem Studium der Entwickelungsgeschichte gegeben haben, indem sie die Beziehungen zwischen der individuellen und der generellen Litteratur und Kritik. 2 Entwickelung hervorhoben, ist dasselbe zu einem der wichtigsten Forschungs- gebiete nicht nur an sich und für die Morphologie, als auch besonders für die Genealogie, dem Hauptziel der Evo- lutionstheorie geworden. Aber dieses Gebiet umfasst ein wahres Labyrinth von Tnatsachen und Meinungen, denn jede Entwickelung hat ihre Sonderwege eingeschlagen, ist auf Ab- und Schlän- gelwege gedrängt worden, oder hat auch wohl einen Richtweg, die kürzeste Ver- bindung des Ausgangs- und Endpunktes der Entwickelung zu finden gewusst, kurz die Mannigfaltigkeit der beob- achteten Entwickelungsformen ist bereits jetzt eine ungeheure, und wenn es schon schwer genug ist, die definitiven For- men zu überblicken, so ist das Gebiet der werdenden Formen ein zehnfach vergrössertes. Einen sichern und un- trüglichen Ariadnefaden in diesem Wirr- sal der Formen zu erhalten, ist vor der Hand .nochnichtzu hoffen, dadas Gebäude eben noch im vollen Bau begriffen ist; um so nöthiger wurde es für die Arbeiter, eine allgemeine Uebersicht des bisher Geleisteten, eine Zusammenstellung des in unzähligen Zeitschriften und Mono- graphieen zerstreuten Materials mit ge- nauen Quellenangaben, kritischen Be- merkungen, Charakterisirung der all- gemeineren Gesichtspunkte und Hin- weisungen auf die noch zu lösenden Räthsel und Widersprüche, sowie Nach- weise der noch völlig dunklen Gebiete zu erhalten. Alles dies strebt das vor- liegende Werk an, und Herr Balfour vom Trinity College in Cambridge, der sich durch so viele eigene Untersuch- ungen auf diesem Gebiete ausgezeichnet hat, war gewiss der rechte Mann, die ungemein schwierige Aufgabe mit eben- soviel Umsicht als Unparteilichkeit durchzuführen. Der vorliegende erste Band des Werkes bringt nach einigen allgemeinen einleitenden Kapiteln über Ei- und Samenzelle, Reifung und Be- fruchtung des Eies, sowie über die Litteratur und Kritik. Furchungserscheinungen, die gesammte Embryologie der wirbellosen Thiere zum Abschluss. Auf Einzelheiten lässt sich bei einem so umfassenden Werke na- türlich nicht eingehen; wir können nur sagen, dass wir den Eindruck einer sichern, von vorgefassten Ideen freien Führung empfangen, und dass es für den Forscher auf diesem Gebiete sicher nichts Nützlicheres und Dankenswerthe- | res geben kann, als dieses Handbuch, welches getreu den jetzigen Zustand des positiven Wissens auf diesem Ge- biete darstellt. Bemerkungen über pro- blematische und streitige Punkte sind in Petitsatz dem Texte eingefügt, um je nach dem Zwecke des Studirenden nach Belieben vorläufig überschlagen oder beachtet zu werden. Die Abbil- dungen sind musterhaft klar und deut- lich entworfen; Uebersetzung und Aus- stattung lassen nichts zu wünschen übrig. Der zweite in Vorbereitung be- findliche Band, wird die vergleichende Embryologie der Wirbelthiere, die Ent- wickelung der einzelnen Organsysteme und einige Schlussfolgerungen enthalten. Wir hoffen unseren Lesern aus diesem Schlussbande schon im Voraus eine Probe bieten zu können. OÖdontornithes. A monograph of the extincted toothed birds of North America. With thirty- four Plates and forty woodceuts. By Othniel Charles Marsh, Professor of Palaeontologie in Yale College. Submitted to the chief of engineers and published by order of the secre- tary ofwar underauthority ofcongress. Washington: Government Printing Office 1880. Der vorliegende, prachtvoll ausge- stattete Folioband bildet die erste einer Reihe von Monographieen, welche der um die Erforschung der fossilen Fauna Nordamerika’s, und um die Förderung der Darwin’schen Theorie hochverdiente Verfasser Amerika’s fossilen Wirbel- 157 thieren zu widmen gedenkt. Nachdem er mehr als ein Jahrzehnt hindurch unter mancherlei Entbehrungen und Gefahren mit der Einsammlung eines ungeheuren Studienmaterials beschäftigt gewesen ist, und dabei nur über die wichtigsten Funde fortlaufende kürzere Notizen veröffent- licht hat, soll nun die eigentliche Ernte beginnen, d. h. die genaue systemati- sche Bearbeitung dieses unvergleich- lichen Materials. Um den Umfang dieser Arbeiten zu kennzeichnen, mag hier erwähnt werden, dass es sich um nicht weniger als in runder Zahl tausend neue Arten fossiler Wirbelthiere handelt, die seit 1368 auf dem Gebiete vom Missourifluss bis zum stillen Ozean in den Umgebungen des vierzigsten Parallelkreises gefunden wor- den sind, und wir vernehmen mit Staunen aus der Vorrede, in welcher ungeheuren Individuenzahl manche dieser Arten vorhanden sind. Von den in Europa fehlenden, durch Professor Marsh ent- deckten zahnlosen Flugeidechsen (Pter- anodontia),derenFlügelspannungzuweilen die Breite von 25 Fuss erreichte, be- wahrt das Yale-College-Museum Ueber- bleibsel von mehr als 600 Individuen, die Zahl der in Europa so spärlich ver- tretenen Mosasaurier desselben Museums erreicht gar die Ziffer von 1400 und ebenso finden sich dort Ueberreste von mehreren hundert Individuen der, wie letztere, meist kolossalen Atlantosaurier. Auch die Individuenzahl der ausgestor- benen Säugethiere, Dinoceraten, Pferde, ‚Nager, Beutler und Affen geht zum Theil in die Hunderte. Wir haben über diese wichtigen Funde, welche grösstentheils unter dem Schutz der Landesarmee in jenen von Indianern beunruhigten Distrikten ge- macht worden sind, nicht nur im zweiten Bande dieser Zeitschrift in mehreren grösseren Artikeln ausführliche Mitthei- lungen gebracht, sondern auch seither fortlaufende Berichte gegeben, so dass wir uns hier auf Wiedergabe einiger 158 besondern Punkte, die in unseren frü- heren Berichten über die fossilen Zahn- vögel deramerikanischenKreideschichten (vergl. Kosmos II, 8. 336— 40. V, 8. 389) nicht berührt worden sind, sowie die allgemeineren Schlüsse aus dieser her- vorragenden Publikation beschränken können. Die Zahl der Vogelarten, die auf in den amerikanischen Kreideschichten ge- fundenen Ueberresten basirt werden kön- nen, beträgt bereits gegen zwanzig, aber nur von Hesperornis- und Ichthyornis- Arten wurden vollständigere Skelette ge- funden, die eine genauere Bearbeitung ermöglichten. Das Skelet von Hesperornis regalis, ist, wie man aus der weiter hinten folgenden Restauration (Seite 161) er- sieht, bis auf die vordersten Phalangen der Füsse vollständig und seine Beschrei- bung nimmt in der vorliegenden Mono- eraphie 117 Quartseiten ein, während die Ichthyornis-Arten auf 56 Quartseiten geschildert werden. Wir beginnen mit einem Auszug der allgemeinen Schluss- folgerungen: »Bei der Vergleichung von Hesperornis und Ichthyornis als der typischen For- men der Ordnungen der Odontolcae und Odontotormae« sagt Marsh, ist der Kontrast in ihren Hauptcharakteren ebenso auffallend als unerwartet. Hes- perornis besass Zähne, die in eine fort- laufende Rinne eingepflanzt waren, — ein niedriger verallgemeinerter Charak- ter —, dazu indessen die stark differen- cirten sattelförmigen Wirbel. Ichthyornis besass andrerseits die primitiven bicon- caven Wirbel und doch den hoch spe- cialisirten Zug von Zähnen in getrenn- ten Gruben. Bessere Beispiele als diese können kaum gefunden werden, um eine durch die moderne Wissenschaft ans Licht gebrachte Thatsache zu erläutern, nämlich, dass ein Thier auf einer Seite seiner Charaktere eine grosse Entwicke- | lung erreichen kann, um zur selben Zeit andere niedere Charaktere des Ahnen- typus zu bewahren. Dies ist ein Fun- Litteratur und Kritik. damental-Prinzip der Evolutionstheorie, Die mehr oberflächlichen Charaktere des Flügelmangels und der starken Schwimm- Beine und -Füsse von Hesperornis sind ebenfalls in auffallendem Gegensatz zu den mächtigen Flügeln und schwachen Beinen und Füssen von Ichthyornis ..... »Es ist eine interessante Thatsache, dass die bisher bekannten Kreidevögel, einige zwanzig Species oder mehr, an- scheinend sämmtlich Wasservögel waren, welche vielleicht leichter in ma- rinen Ablagerungen erhalten werden, während der jurassische Archaeopteryx der einzige dieser Formation, ein wahrer Landvogel war. »Dieinjüngeren Schichten gefundenen Vögel gehören anscheinend alle modernen Typen an, und bieten daher wenig Punkte für eine nutzenbringende Vergleichung mit den Odontornithen. Die lebenden Vögel mit reptilischen Charakteren sind fast gänzlich auf den Typus der Ratitae oder Straussvögel begränzt. Diese sind offenbar die Ueberbleibsel einer sehr zahlreichen, einst weit über verschiedene Theile der Erde ausgebreiteten Gruppe; und auf die fossilen Formen dieser Vögel müssen wir daher unser Augenmerk rich- ten, um eventuellZwischentypen zwischen ihnen und den weniger specialisirten mesozoischen Vögeln zu finden. » Für jetzt wenigstens scheint es rath- sam, die Odontornithes als eine Unter- klasse zu betrachten, und sie nach den hier unten aufgezählten Charakteren in drei Ordnungen zu trennen. Diese Ord- nungen sind alle wohl charakterisirt, aber offenbar nicht alle von gleichem Range. Archaeoptery& ist klärlich viel weiter von Ichthyornis und Hesperornis als diese von einander entfernt. Die freien Mittelhandknochen und der lange Schwanz von Archaeoptery& sind jeden- falls bedeutsame Charaktere. Gegen- baur und Morse haben indessen gezeigt, dass junge Vögel von lebenden ' Arten getrennte Mittelhandknochen be- sitzen und dies trifft für alle diese Vögel Litteratur und Kritik. bis zu einem gewissen Alter zu. Daher ist dieser Charakter von geringerer Wich- tigkeit als das Vorhandensein wahrer Zähne, da diese bei keinerlei lebenden Vögeln weder in der Jugend noch spä- Unterklasse Ordnung: Gattung: Hesperornis MARsH Zähne: in Rinnen Untere Kinnladen: getrennt Wirbel: sattelförmig Flügel: rudimentär Mittelhandknochen: fehlend Brustbein: ohne Kiel Schwanz: kurz »Dass die drei ältesten Vögel so weit von einander differiren konnten, deutet ohne Frage auf ein hohes Alter für die Klasse hin. Archaeopteryx, Hesperornis und Ichthyornis sind alle drei wahre Vögel, aber die ihnen eignen Reptilien- Charaktere convergiren in der Richtung auf einen mehr verallgemeinerten Ty- pus. Es sind keine triasischen Vögel bekannt, und deshalb haben wir kein Licht über diese Stufe der Klassenent- wickelung. Sie werden indessen zweifellos gefunden werden, und wenn wir von jurassischen Säugethieren und Reptilen aus schliessen dürfen, werden die vogel- artigen Formen jener Periode schon Vögel sein, obgleich mit noch stärker repti- lischen Charakteren. Für die Urformen des Vogeltypus müssen wir entschieden auf paläozoische Schichten unser Augen- merk richten, und in der reichen Land- fauna unserer permischen Schichten in Amerika dürfen wir immerhin hoffen, die Ueberreste sowohl von Vögeln als von Säugethieren zu finden. * * In einer Mittheilung vom 18. März 1881 meldet Prof. Marsh (im Aprilheft des American Journal ofScience) den Fund der ersten jurassi- schen Vogelspuren in Amerika. Es handelt sich leider nur um Schädelreste, die in vielen Zügen denen der Straussvögel ähnlich sind. 159 ter, gefunden worden sind. Die Schwanz- länge ist vielleicht ein Charakter von mehr Werth, aber dieselbe wechselt so- gar bei neueren Vögeln. Odontornithes (Zahnvögel) Marsn. Odontoleae Marsu Odontotormae MArsm Saururae HAECKEL. Ichthyornis Marsh Archaeopteryx v. MEYER. in Gruben ? getrennt ? biconcav ? gross klein verwachsen getrennt mit Kiel ? kurz länger als der Körper. Von den Gattungen Archaeopteryz, Hesperornis und Ichthyornis besitzt jede gewisse verallgemeinerte Charaktere, die von den andern nicht getheilt werden. Diese Charaktere waren unzweifelhaft in einer früheren Form vereinigt, und diese Thatsache giebt uns einen Wink, von welcher Art die primitiveren Formen gewesen sein müssen, und lässt uns auf die hervorstechenden Züge dieses Ahnentypus schliessen. Wir müssen er- warten, in ihm die folgenden Charaktere vereinigt zu finden: Die Zähne in Rinnen. . Die Wirbel biconcav. Die Mittelhand- und Handwurzel- knochen frei. 4. Das Brustbein ohne Kiel. 5. Das Kreuzbein aus zwei Wirbeln zusammengesetzt. Die Beckenknochen getrennt. Den Schwanz länger als den Kör- per. 8. Die Mittelfuss- knochen frei. ww m ae und Fusswurzel- Diese Reste des Laopteryx getauften Vogels wurden in den sogenannten Atlantosaurus- Schichten des oberen Jura von Wyoming gefunden, und in der Matrix fand sich ausserdem ein vermuthlich zu dem Schädel gehöriger Zahn. 160 9. Vier oder mehr’ nach vorn ge- richtete Zehen. 10. Die Federn rudimentär oder un- vollkommen. Diese verschiedenen Charaktere mö- gen in der That in einem Thier ver- einigt gewesen sein, welches mehr Reptil als Vogel war, aber so eine Form würde mehr auf dem Wege zu den Vögeln als in der Richtung sowohl der Dino- saurier als der Flugeidechsen gewesen sein, da Federn nicht zu den Charak- teren dieser Gruppen gehörten. Mit dieser Ausnahme gehören alle die ge- nannten Charaktere den verallgemei- nerten Sauropsiden an, von welchen sowohl Vögel als die bekannten Dino- saurier wohl Abkömmlinge gewesen sein können. Ein wesentlicher Charakter bei diesem Ahnentypus würde ein freies Quadratbein sein, da dieses einen all- gemeinen Charakter der Vögel ausmacht, und nur theilweise bei den heute be- kannten Dinosauriern beibehalten ist. Die Vögel scheinen sich als ein einfacher Stamm abgezweigt zu haben, welcher schrittweise seine reptilischen Charaktere verlor, während er den Vogel- typus annahm, und in den lebenden Straussvögeln haben wir die Ueber- bleibsel dieser direkten Linie. Die geraden Abkömmlinge dieses Urstammes erhielten zweifellos früh Federn und warmes Blut, erlangten aber (wie noch zu zeigen ist) niemals die Fähigkeit zu fliegen. Die fliegenden Vögel trennten sich unzweifelhaft früh von dem Haupt- stamm der Vögel, vermuthlich in der Triaszeit, da wir in der darüber be- findlichen Formation den Archaeopteryx mit noch unvollkommener Flugfähigkeit haben. Diese Flugfähigkeit entsprang ver- muthlich unter den kleinen auf Bäumen lebenden Formen reptilischer Vögel. Dafür, wie das begonnen haben mag, haben wir einen Fingerzeig in dem Flug des Galeopithecus, der fliegenden Eich- hörnchen (‘Pteromys), der fliegenden Ei- Litteratur und Kritik. dechse (Draco) und dem fliegenden Baum- frosch (Rhacophorus). Bei den ursprüng- lichen Baumvögeln, welche von Zweig zu Zweig hüpften, konnten selbst ru- dimentäre Federn an den Vorderglied- maassen einen Vortheil ausmachen, da sie dahin zielen mussten, das Ab- wärtsfallen zu verlangsamen, oder die Kraft des Falles zu-brechen. Als die Federn wuchsen, musste der Körper wärmer und das Blut thätiger werden. Mit noch mehr Federn musste ver- mehrte Flugkraft eintreten, wie wir bei jungen Vögeln von heutzutage sehen. Eine grössere Lebhaftigkeit musste aus einer vervollkommneten Cirkulation her- vorgehen. Ein wahrer Vogel musste ohne Zweifel warmes Blut erfordern, brauchte aber nicht nothwendig heiss- blütig zu sein, wie die heutlebenden Vögel. Die kurzen Flügel und der buschige Schwanz waren für kurze Flüge von Baum zu Baum völlig ausreichend, und wenn der Körper, wie jetzt angenommen wird, im Wesentlichen nackt war, so haben wir in dieser jurassischen Form eine interessante Stufe in der Ent- wickelung der Vögel, bevor das volle Gefieder erlangt war. Ob Archaeopteryx der eigentlichen Carinaten-Linie ange- hört, kann für jetzt nicht entschieden werden, aber für Ichthyornis trifft dies zu, nur verrathen die biconcaven Wirbel des letztern augenscheinlich, dass diese Form einem frühen Auftrieb angehörte. Es ist wahrscheinlich, dass Hesperornis aus dem straussartigen Hauptstamm hervorging und keine Nachkommen hinterlassen hat.« In Bezug auf Hesperornis, den Pro- fessor Marsh zu den straussartigen Vögeln zählt, kommt er zu folgenden Schlüssen von allgemeinerem Interesse. »Es giebt für jetzt,« sagt er, »kei- nen Beweis, dass irgend einer von den straussartigen Vögeln oder ihren Ahnen jemals die Fähigkeit des Fluges be- sessen habe, obwohl dies allgemein an- Litteratur und Kritik. genommen wird. Der Fall ist noch entschiedener bei Hesperornis, da diese Gattung sowohl im Bau als in der . Zeit dem Ahnentypus viel näher stand. Der Mangel jeder Spur eines Kieles am Brustbein ist allein schon ein starker Beweis gegen die Flugfähigkeit; die eigenthümliche an Dinosaurier erinnernde Verbindung von Schulter- und Raben- bein, unähnlich derjenigen irgend eines | fliegenden Vogels oder Reptils, bestä- 161 tigen dies, und auch an anderem Zeug- niss nach derselben Richtung fehlt es nicht. Alle Carinaten zeigen indessen, so weit bekannt, durch ihre embryologische Entwickelung, dass sie durch das strauss- artige oder niedrigere Stadium hindurch- gegangen sind, und einige von ihnen, Tinamus zum Beispiel, behalten noch einen oder mehrere der betreffenden Charaktere bei. Es gab allerdings ver- Hesperornis regalis MARSH (restaurirt). schiedene neuerdings ausgestorbene flug- lose Vögel, welche nicht zum Straussen- typus gehören, aber in allen ihren wesentlichen Charakteren wahre Cari- naten waren. Der Dodo (Didus), Solitair (Pezophaps), Onemiornis und Notornis sind wohlbekannte Beispiele, aber alle diese zeigen in ihrem Schultergürtel nicht misszuverstehende Spuren der verlore- Ungefähr !/ıo der natitrl. Grösse. nen Flugfähigkeit. Die einmal erlangten zur Flugbewegung erforderlichen Cha- raktere würden niemals vollständig ver- loren gehen und dies allein scheint ein beweisendes Zeugniss zu liefern. Wenn solche verrätherische Anzeichen im Skelette fehlen, dürfen wir kühn irgend welche Annahme eines früheren Fluges verwerfen. 162 Litteratur und Kritik. Obgleich Hesperornis somit gleich sei- nen reptilischen Ahnen stets des Fluges unfähig gewesen ist, mögen seine vor- dern Gliedmaassen lange Zeit hindurch der Lokomotion eine beschränkte Hülfe geleistet haben. Ob aktiv in der Luft verwendet, wie die Schwingen des Strausses oder der jungen Schwimm- vögel, oder passiv wie die segelartigen Schwingen des Schwans, oder später als unvollkommene Ruder: sicher waren die Schwingen des Hesperornis nicht wohl geeignet, für das Untertauchen, und daher wurden sie allmählig gebrauch- los und verschwanden virtuell. Wir können unter den Gründen für den allmähligen Verlust der Flügel die That- sache setzen, dass sie zu schwach waren, um von erheblichem Nutzen unter dem Wasser zu sein, während sie durch ihre Stellung sehr den Widerstand, nament- lich bei einem rapiden Tauchen ver- mehrten. Um diesen Widerstand zu vermindern, müssen sie natürlich eng an die Seiten gelegt worden sein, und mussten von solcher Entwöhnung zur allmähligen Atrophie übergehen. Bei diesen grossen, so modifieirten Schwimmvögeln sehen wir uns einem interessanten Problem der thierischen Mechanik gegenüber. Die Schwingen können als gänzlich fehlend betrachtet werden, da der Ueberrest des Humerus eng der Seite angelegt war, wie bei Apteryx, wenn nicht gar ganz unter der Oberhaut verborgen, wie ein Schul- terknochen. Die Lokomotion wurde desshalb gänzlich vermittelst der dıin- teren Gliedmaassen vollbracht, eine Spe- cialisation, die hier bei lebenden, wie fossilen Wasservögeln zum ersten Mal beobachtet wurde. Diejenigen, welche einen Pinguin oder eine Lumme unter dem Wasser schwimmend gesehen haben, wissen, welch’ einen kräftigen Gebrauch solche Vögel dann von ihren Flügeln * Der Tte Sehwanzwirbel erreicht mit seinen Querfortsätzen eine Breite von 59 Milli- meter; der Ste und 9te von resp. 97 und machen, wie nutzlos diese Gliedmaassen auch auf dem Lande erscheinen mögen. Nicht allein leisten die Schwingen in diesen Fällen bei der Vorwärtsbewegung durch das Wasser Beistand, sondern sie sind von vielem Nutzen beim Steuern. Ein Pinguin vermag im schnellen unter- getauchten Fluge mit Hilfe seiner Schwin- gen kurz herumwenden. Hesperornis besass eine solche Hilfskraft nicht, aber die Beine und Füsse waren denjenigen des Pinguins für das Schwimmen und Tauchen weit überlegen, nicht blos in der Kraft, sondern auch in der voll- kommeneren mechanischen Anpassung. Dies war zweifellos der Hauptgrund, weshalb die hintern Gliedmaassen von Hesperornis solches Uebergewicht er- langten. Der (aus zwölf Wirbeln) bestehende Schwanz von Hesperornis war offenbar in seinem Wasserleben von grosser Brauch- barkeit. In der Wirbelzahl und Länge. übertrifft er beinahe diejenigen aller be- kannten Vögel und steht einzig da in seinen weitausgebreiteten Querfortsätzen und in seinem niedergedrückten hori- zontalen Pflugscharbein*. Dieser breite horizontale Schwanz erinnert an den- jenigen des Bibers und war ohne Zweifel beim Steuern und Tauchen von grosser Hülfe. Ob er gleich dem Biberschwanze nackt und der Federn beraubt, oder gleich dem Schwanze von Plotus mit langen steifen rectrices besetzt war, um wie ein Ruder zu wirken, kann für jetzt nicht mit Gewissheit entschieden werden, obgleich die letztere Ansicht wahrschein- licher erscheint. Dass Hesperornis mit Federn irgend welcher Art versehen war, können wir kaum bezweifeln. Die ihn umgebenden Verhältnisse waren dem Hesperornis offenbar für eine lange Periode sehr günstig. Anscheinend war während dieser Zeit oben in der Luft ein Mangel von Feinden und im 56 Millimeter, worauf sich der 10te und 12te soweit verjüngen, um die Kellen-Form zu vollenden. 5) Litteratur und Kritik. Wasser ein Ueberfluss an Nahrung vor- handen. Hesperornis war mehr als ein Ebenbürtiger für die gigantischen zahn- losen Flugeidechsen, welche über dem Wasser in so grossen Schwärmen einher- schwebten und die anderen Bewohner der Luft scheinen sämmtlich klein ge- wesen zu sein. Der Ocean, in welchem Hesperornis schwamm, wimmelte von Fischen mancherlei Art und so war eine grosse Abwechselung in der Nahrung vorhanden und mit geringer Anstrengung zu erhalten. In diesem Wasserparadiese gedieh Hesperornis, einzig gestört durch den schlangenartigen Mosasaurus, wel- cher sogar ohne Nachklang, wie wir an- nehmen dürfen, seine Verjagung, wenn nicht Austilgung veranlasste. « Nach dieser allgemeinen Beschrei- bung wollen wir nur noch auf einen einzelnen Punkt des anatomischen Baues mit einigen Worten näher eingehen, nämlich auf den Bau der Zähne, welche jaden Hauptcharakter dieser Vögelgruppe ausmachen, zumal weil dieselben vor kurzem in Deutschland verdächtigt wor- den sind, keine wahren Zähne gewesen zu sein (vergl. Kosmos IX, 8. 66). »Die Zähne von Hesperornis«, sagt Marsh, »sind wahre Zähne und in ihren entscheidenden Charakteren so wohl aus- geprägt, wie die irgend eines Reptils.... Sie waren oben und unten in eine fort- laufende Rinne eingepflanzt, ungefähr wie die von Ichthyosaurus .... Sie haben conisch zugespitzte Kronen mit glattem Schmelz und werden von derben Wur- zeln getragen. In der Gestalt von Krone und Basis gleichen sie aufs nächste den Zähnen der Mosasaurier. Die äusseren und inneren Oberflächen der Kronen werden durch scharfe Kämme ohne Säge- einschnitte geschieden. Die äussere Fläche ist beinahe eben, die innere stark convex. Die Kronen der Zähne sind hauptsächlich ausfestem Dentin gebildet, welches mit einer Schmelzschicht bedeckt ist. Die Markhöhle zeigte sich weit, und bei einem abgebildeten Exemplar 163 mit Caleit gefüllt. Die Kronenwände dieser Höhlung sind glatt und wohl ab- gesetzt. Die Wurzel besteht ausKnochen- Dentin. Die Schmelzlage nimmt von der Basis zur Spitze der Krone allmählig an Dicke zu.... Die Trennungslinie zwi- schen Schmelz und Dentin ist überall scharf abgesetzt. Die Emaille ist dicht und hart, doch lassen sich in den unter- suchten Stücken wegen vorgeschrittener Verkalkung die zusammensetzenden Fa- sern nicht mehr erkennen. Die äussere Oberfläche des Schmelzes ist fast glatt, nur mit leichten, nach der Spitze con- vergirenden Streifen versehen. Von Öe- "ment waren an den Kronenflächen keine Spuren vorhanden. Das Zahnbein oder Dentin, welches die Hauptmasse der Krone ausmacht, zeigt eine deutliche Struktur sowohl bei den senkrechten wie bei den Querdurch- schnitten. Es ist fest und dicht und die kalkführenden Röhrchen wohl er- kennbar. Nahe der Kronenbasis strahlen sie horizontal gegen den Rand, und auf dem Längsdurchschnitt erscheinen siefast gerade: ....; Im Dentin sind deutliche concentrische Wachsthunslinien erkenn- banzıası Die Zähne von Hesperornis wurden allmählig durch neue Zähne ersetzt, und dies fand auf eine Weise statt, die der- jenigen bei einigen Reptilien sehr ähn- lich war. Der «Keim des jungen Zahnes bildete sich auf der innern Seite der Wurzel des in Gebrauch befindlichen Zahnes, und wie er an Grösse zunahm, bildete sich in derselben eine Höhlung durch Absorption. Der alte Zahn wurde so unterminirt, und von dem neuen aus- getrieben, der seine Stelle einnahm, so dass die Zahl der Zähne dieselbe blieb.« Am Schluss seiner Betrachtung über die Zähne von Hesperornis sagt Marsh, dass sie den Zähnen von Mosasaurus soähnlich waren, dass sie deutlich einen genetischen Zusammenhang mit den Rep- tilien andeuten, ihnen ähnlicher, sogar als denen von Ichthyornis waren, bei 164 denen der Zahnwechsel etwas anders vor sich ging. Der Bau des Gehirns zeigte sowohl bei Hesperornis als bei Ichthyornis mit dem unserer Vögel verglichen, eine sehr niedere reptilienähnliche Stufe an, so dass auch bei den Vögeln die von Marsh hinsichtlich der Säugethiere aufgestellten Regeln über die Entwicke- lung des Gehirns in der Zeit vollkom- men in Geltung erscheinen. Diese Re- geln sagen uns bekanntlich, dass im Laufe der Zeit ein schrittweises Wachs- thum des Gehirns stattgefunden hat, welches sich hauptsächlich auf die bei- den Hemisphären des Grosshirns be- schränkte, während in den anderen Theilen, namentlich in den Riechlappen und im Kleinhirn ein Stillstand oder gar ein Rückschritt stattgefunden hat. Zum Schlusse dürfen wir nicht unter- lassen, dem unermüdlichen Forscher auf dem Gebiete der Vorwesenkunde unsere Bewunderung über diese Arbeit, in der jeder einzelne Knochen derausgegrabenen Skeletteseine ausführliche Erörterung ge- funden hat, auszudrücken, und die nord- amerikanische Regierung zu beglückwün- schen, dass sie ihre militärischen Kräfte in den Friedenzeiten zur Unterstützung so wichtiger Arbeiten verwendet, undebenso später die Mittel zu einer so würdigen Publikation der durch ihre Mithülfe gewonnenen Resultate bewilligt. Die Ausstattung ist eine geradezu pracht- volle, die zahlreichen Tafeln zum Theil in Doppelfolio-Format in wundervoller Litteratur und Kritik. Ausführung. Die nächste grössere Publi- kation vonProf. Marsh wird eine Mono- graphie über die Genealogie des Pferdes sein, auf welche wir wohl mit Recht, wie auf ein kanonisches Werk der Evo- lutions-Theorie unsere Blicke richten dürfen. R Metagenesis und Hypogenesis von Aurelia aurita. Ein Beitrag zur Entwickelungs-Geschichte und zur Teratologie der Medusen, von Ernst Haeckel. 36 8. in Fol. Mit zwei Tafeln in Farbendruck. Jena, Ver- lag von Gustav Fischer (vorm. Fried- rich Mauke), 1881. Ueber den für das Verständniss der abgekürzten Entwickelung und ihres Verhältnisses zum Generationswechsel hochwichtigen Inhalt dieser Schrift, hat der Verfasser in unserer Zeitschrift (Bd. IX, S. 29—44) ausführlich berich- tet, und wir begnügen uns deshalb hier auf das Erscheinen der Professor Ernst von Siebold zu seinem sieben- zigsten Geburtstage gewidmeten Ab- handlung kurz hinzuweisen. Dass so überraschende und lehrreiche Ergeb- nisse durch die Beobachtung der Ent- wickelungunserergewöhnlichstenKüsten- qualle gewonnen werden konnten, zeigt, wie wenig unsere Beobachtungs-Gelegen- heiten in dieser Richtung benutzt wer- den, und wie vielnoch an unsern Kü- sten in diesen Richtungen zu entdecken sein dürfte. , Ueber das Verhältniss des skeptischen Naturalismus zur modernen Naturwissenschaft, insbesondere zur Entwickelungstheorie. Von Professor Dr. Fritz Schultze. IH. Der Skepticismus Hume’s. Inhalt: 1) Einleitung: Rechtfertigung der Bezeichnung „skeptischer Naturalismus“. Hume’s Grundgedanke. Entwickelung desselben aus Locke und Berkeley. Die Skepsis richtet sich gegen den Rationalismus wie gegen den Empirismus. Die Erkenntniss des Causalnexus ist unmöglich. 2) Die Beweise Hume’s: Das Wesen der abstracten Begriffe nach Berkeley. Die repräsentativen Einzelvorstellungen. Die Einzelvorstellungen: Eindrücke und Gedanken. Zurückführung aller Vorstellungen auf Eindrücke. Wir erkennen nur Vor- stellungen, keine Dinge an sich. Die Vorstellungsverbindungen und ihre Gesetze: Aehn- lichkeit; Zusammenhang in Raum und Zeit; ursächliche Verknüpfung. Erkenntniss — causale Verknüpfung der Vorstellungen. Das Problem der Causalität. Causalität und logisches Denken. Causalität und Sinneswahrnehmung. Der Schluss vom post hoc auf das propter hoc. Der Begriff „Kraft“. Sein Ursprung. Die äusseren Eindrücke. Die inneren Ein- drücke. Das Wesen der „Kraft“. Der Wille im Verhältniss zu Körper und Seele. Das Wesen der Kraft — Causalität unbekannt. Der Causalitätssatz ein Gewohnheitsglaube. 3) Hume und die Eleaten: Die eleatischen Beweise gegen das Werden führen sich auf die Beweise Hume’'s gegen die Causalität zurück. Logische und sensualistische Fassung der Causalität. Idealisten und Realisten. Die Unmöglichkeit jeder Erkenntniss. Schema. 4) Anwendung der Hume’schen Skepsis auf die Entwickelungstheorie: Metaphysische Causalität (Gott und Welt). Psychologische Causalität (Seele und Körper). Mathematische, physikalische, chemische, mechanische Causalität. Die Entwickelungstheorie. Der Begriff der Entwickelung. Die Entstehung eines Individuums innerhalb einer und der- selben Art. Die Entstehung einer neuen Art. Die geologischen Schichten. Räumliches Getrenntsein und zeitliche Folge. Post hoc und propter hoc. Aehnlichkeit und Berührung in Raum und Zeit kein Beweis für innere Verwandtschaft und Abstammung. Die Embryo- logie. Aeussere Formen und inneres Wesen. Ontogenie und Phylogenie. Allgemeine Schwierigkeiten. Besondere Schwierigkeiten. Der Dogmatismus der Entwickelungstheorie verworfen, nicht die Theorie selbst. Hume’s Kritik trifft ausnahmslos alle menschlichen Theorien. Der Werth der Entwickelungstheorie anderen Theorien gegenüber. Ihre Trag- weite. Ihre Grenzen. Dualismus und Entwickelungslehre. Theismus und Darwinismus. 5) Hume und Kant: Der Widerspruch in Hume’s Skepsis. Das neue Problem. Ueber- gang des Skeptieismus zum Kriticismus in Kant. allem Angeborenen macht, der Deismus 1. Einleitung. Wir sind sicherlich wohl berechtigt, Locke’s Sensualismus, den Deismus, den Materialismus und den Phaenome- nalismus mit dem Gesammtnamen des skeptischen Naturalismus zu belegen. All’ diese Standpunkte tragen einen mehr negativen als positiven Charakter an sich. Wenn Locke tabula rasa mit Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX), Gott aus der Natur verbannt, der Ma- terialismus das Dasein Gottes überhaupt leugnet und der Phaenomenalismus die Existenz einer realen Welt an sich verneint, so haben wir es offenbar mit Naturauffassungen von stärkster skep- tischer, um nicht zu sagen, nihilistischer Färbung zu thun. Alle diese Stand- punkte, die doch die Möglichkeit 12 166 einer sicheren Causalerkennt- niss noch vorausgesetzt hatten, wer- den aber noch übertroffen durch David Hume’s skeptischen Naturalismus oder naturalistische Skepsis, welche die Möglichkeit einer jeden Causal- erkenntniss überhaupt leugnet. Dieser Skeptieismus bildet den haupt- sächlichsten Wendepunkt der ganzen neueren Philosophie. Wir müssen den- selben daher auch von allen Seiten beleuchten und wollen uns lieber dem Vorwurfe aussetzen, zu weitläufig ge- worden als unverständlich geblieben zu sein. Welches ist der Grundgedanke der Hume’schen Kritik? Alle Systeme der Philosophie wollten die Urcausalität der Dinge erforschen; von jeher war der Begriff der Causalität der Angelpunkt aller philosophischen Untersuchungen. Aber auf den Begriff der Causalität selbst haben diese ihr Augenmerk fast nie gerichtet; er war ihr logisches Werkzeug, welches sie auf Gott und die Welt anwendeten; aber ob dieses Werkzeug dazu wirklich tauglich war, hatten sie nicht gefragt. Hume’s Forsch- ung richtet sich jetzt auf den Begriff der Causalität selbst. Hume fragt nicht: was ist die Urcausalität der Dinge? Er fragt vielmehr: welche Be- wandtniss hat es mit dem Begriff der Causalität, der uns fortwährend antreibt, nach dem Urgrunde zu suchen? Woher stammt er? Welche Tragweite hat er? Das erschreckende Endergebniss seiner Untersuchungen ist aber die Einsicht in die absolute Unmöglichkeit einer jeden causalen Erkenntniss, in die un- verbesserliche Unbrauchbarkeit des Cau- salbegriffes zum Zweck sicheren Er- kennens. Weder vermittelst der sinn- lichen Wahrnehmung noch durch lo- eische Denkoperationen können wir irgendwelchen Causalzusammenhang er- kennen, und sei es der scheinbar völlig ‚klare und gewisse zwischen dem Feuer, auf welchem das Wasser siedet, und Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. diesem Wasser, welches durch das Feuer in Dampf verwandelt wird. Jeder Causalzusammenhang entzieht sich der menschlichen Erkenntniss völlig. So giebt es höchstens eine zweifelhafte Wahrscheinlichkeit, und der Skepticis- mus ist die einzige reife Frucht, welche vom Baume der Erkenntniss fällt. Dieser allen menschlichen Erkennt- nissdrang in das Innerste seines Herzens treffende Skepticismus entwickelt sich mit Nothwendigkeit aus dem Sensualis- mus Locke’s und Berkeley’s. Nach Locke war die Quelle aller Erkenntniss die Sinneswahrnehmung. Diese wird aber in uns durch die Eindrücke der äusseren Dinge auf unsere Sinnesorgane veranlasst. Die Wahrnehmungen sind Empfindungen in uns und als solche rein subjektiv. Genau besehen, nehmen wir also nur subjektive Empfindungen wahr. Diese verknüpfen sich in un- serem Geiste zu den verschiedensten Vorstellungen und deren Combinationen; es entsteht daraus die Vorstellungswelt, welche wir in uns tragen. Entspricht aber diese rein subjektive Vorstellungs- welt der objektiven Welt der Dinge? der subjektive, Vorstellwmas zusammenhang in mir dem ob- jektiven Dingzusammenhang ausser mir? In sehr vielen Fällen sehen wir deutlich, dass unser sub- jektiver Vorstellungszusammenhang dem objektiven Zusammenhang der Wirk- lichkeit nicht entspricht. Wir phanta- sieren in Poesie oder Prosa; unsere Gebilde, Theorien und Systeme, scheitern aber oft genug an der später gründ- licher erkannten Wirklichkeit. Nun glauben wir zwar ein sicheres Kri- terium zu haben, an dem wir genau erkennen können, ob unsere subjek- tive Vorstellungsverbindung der objek- tiven Dingverbindung gleichkommt. Wenn nämlich dieselbe subjektive Vor- stellungsverbindung immer und immer in gleicher Weise wiederkehrt, wenn wir immer wieder dieselben Erfahrungen Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. machen, dann nehmen wir schliesslich an, dass diese Vorstellungsverbindung sich mit dem objektiven Zusammenhang der Dinge decke. Ist aber dieses Kri- terium ein durchaus sicheres? Wir nehmen niemals die Dinge selbst, son- dern immer nur die Eindrücke wahr, welche sie in uns hervorrufen; ja, da das Objekt unserer Wahrnehmung einzig und allein die subjektive Empfindung ist, über welche wir nie hinausgelangen können, so können wir nicht einmal mit absoluter Sicherheit behaupten, dass diesen subjektiven Empfindungen in uns überhaupt Dinge ausser uns entspre- chen, ein Satz, den Berkeley über jeden Zweifel erhoben hatte. Wir wissen also nicht einmal sicher, dass Dinge an sich hinter dem Vorhang unserer Wahr- nehmung stecken, so sehr wir es auch gewohnheitsmässig glauben. Wenn wir aber die äusseren Dinge an und für sich niemals und unter keiner Bedingung wahrnehmen können, wenn unsere wahr- nehmbare Objekte immer nur unsere subjektiven Empfindungen sind, wie wollen wir wissen, ob unsere sub- Jektiven Wahrnehmungs- und Vor- stellungsverbindungen dem ob- Jeetiven Causalzusammenhang der äusseren Dinge entsprechen? Und kehrt auch diese Empfindungs- verbindung noch so häufig und stets in derselben Folge wieder, es bleiben doch immer nur subjektive Wie- derholungen subjektiver Vor- gänge. Wie will ich also mit zweifel- loser Sicherheit schliessen, dass sie die objektive Causalfolge der Dinge selbst anzeisten? Da alles Wahrnehmen ein rein subjektives ist, so haben wir mit- hin keine Sicherheit, dass unsere Wahr- nehmungen und Erfahrungen und die darauf gebauten Schlüsse den objektiven Causalzusammenhang in den Dingen selbst angeben. Wir glauben, dass es so sei. Ist aber Glauben ein sicheres Wissen und Erkennen ? Mit Nothwendigkeit ergiebt sich 167 also gerade aus dem reinen Empiris- mus heraus der Zweifel an der Mög- lichkeit einer Erkenntniss des wahren Causalzusammenhanges sogar der sinn- lichen Dinge unserer alltäglichen Er- fahrung. Wie wird sich aber die Un- sicherheit erst steigern müssen, wenn es sich um das Erkennen von Dingen handelt, welche gänzlich jenseits unserer Erfahrung liegen, um die Erkenntniss der letzten Ursachen aller Dinge. Ist der Skepticismus bereits dem sinn- lich Wahrnehmbaren und Erfahrbaren gegenüber gerechtfertigt, wie erst gegen- über der Dogmatik des Uebersinnlichen! Nicht bloss der Empirismus, auch der Dogmatismus wird hier hinsichtlich seiner Erkenntnissfähigskeit an einen Abgrund geführt, in welchem er versinken muss. Hume’s Skeptieismus ist also in glei- chem Maasse gegen beide vermeint- liche Erkenntnissquellen des Menschen gerichtet, sowohl gegen die aus den Sinnen als auch gegen die ausdem reinen Denken fliessende. Weder die eine noch die andere ver- mag uns über den Causalzusammen- hang der Dinge aufzuklären: Die Gau- salität ist also gänzlich uner- kennbar. Baco hatte die Erkenntniss gleich- gesetzt der Erfahrung, Locke der Wahr- nehmung. Erkenntniss ist begrün- detes Wissen. Begründetes Wissen also soll aus der Wahrnehmung kom- men. Begründetes Wissen ist dasjenige, in welchem die Ursächlichkeit klar er- kannt ist. Die Erkenntniss der Ur- sächlichkeit soll also aus der sinnlichen Wahrnehmung kommen. Und in der That hatte es vor Hume niemand be- zweifelt, und es ist bis heute die po- puläre Annahme, dass man den ursäch- lichen Zusammenhang der Dinge wahr- nehme, dass man sehe, höre, taste, dass dieses die Ursache, jenes die Wirkung sei. Wir sehen den Fluss und darüber den Nebel; wir sehen also, dass der Fluss die Ursache des DE 168 Nebels ist. Hume zeigt aber, dass die Annahme, man schöpfe die Erkenntniss der Causalität aus der sinnlichen Wahr- nehmung ein Irrthum ist, und insofern richtet sich sein Beweis gegen die Erkenntnissfähigkeit des Empiris- mus und Sensualismus. — Hume leistet aber noch mehr. Die Dogmatiker wie Descartes, Spinoza und Leibniz hatten in ihrem Rationalismus den causalen Zusammenhang der Dinge aus reinem Denken ganz unabhängig vom sinnlichen Wahrnehmen erkennen wollen. So hatte Spinoza die richtige Folge der Ideen im Geiste für das adaequate Correlat der richtigen Folge der Dinge in der Welt erklärt (ordo idearum idem est ac ordo rerum). Aehnlich hatte Leibniz dem Mikrokosmos der Monade die richtigen Vorstellungen vom Ma- krokosmos angeboren sein lassen. Aber Hume zeigt, dass auch durch reines, logisches Denken nie zu begreifen ist, wie etwas Ursache sei von einem an- deren. — Weder also durch sinnliche Wahrnehmung noch durch reines lo- eisches Denken kann das Wesen der Ursächlichkeit erkannt werden: eine dritte Quelle scheint überhaupt nicht zu bestehen; der causale Zusammen- hang der Dinge ist also in keiner Weise zu erkennen. Der Satz, auf welchem alle Wissenschaft ruht, dass alles seine Ursache habe, ist eine völlig ungewisse Behauptung; alle ver- meintliche Erkenntniss ist blosser Glaube, und weder Realismus noch Idealismus können uns mehr als die zweifelhafteste Wahrscheinlich- keit, doch niemals Wahrheit geben. Dies zu zeigen, sind Hume’s Beweise bestrebt. 9, Die Beweise Hume’s. Man pflest die Vorstellungen gewöhnlich einzutheilen in abstracte Allgemeinbegriffe und concrete Einzelvorstellungen. Das Mittel- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. alterschrieb nach dem Vorgange Platons und Aristoteles den Allgemeinbegriffen eine reale Existenz extra animam zu, aber schon der Nominalismus zeigte, dass sie nur in anima existirten. In diesem Sinne nominalistisch wurden die Abstracta von Descartes, Spinoza, Leib- niz, Baco und Locke gefasst. Erst Berkeley that hinsichtlich der Aufklä- rung der Natur der Allgemeinbegriffe einen weiteren entscheidenden Schritt. Er zeigte, dass eine dem Allgemein- begriff entsprechende Vorstellung auch nicht einmal in unserer Seele exi- stitt. Wer kann z. B. den Begriff Dreieck vorstellen, welches kein ein- ziges besonderes Dreieck und doch alle möglichen Dreiecke zugleich ist? »Falls irgend Jemand die Fähig- keit besitzt,« sagt Berkeley in seinen »>Abhandlungen über die Principien der menschlichen Erkenntniss«, »in seinem Geiste eine solche Dreiecksidee zu bil- den, wie sie hier beschrieben ist, so ist es vergeblich, sie ihm abdisputiren zu wollen; ich unternehme das nicht. Mein Wunsch geht nur dahin, der Leser möge sich vollständig und mit Gewiss- heit überzeugen, ob er eine solche Idee habe oder nicht. Und dies, denke ich, kann für niemanden eine schwer zu lösende Aufgabe sein. Was kann einem jeden leichter sein, als ein wenig in seinen eigenen Gedankenkreis hinein- zuschauen und zu erproben, ob er eine Idee, die der Beschreibung, welche hier von der allgemeinen Idee eines Dreiecks gegeben worden ist, entspreche, habe oder erlangen könne, die Idee eines Drei- ecks, welches weder schiefwinklig noch rechtwinklig, weder gleich- seitig, noch gleichschenklig, noch ungleichseitig, sondern dieses alles und zugleich auch nichts von diesem sei?« Was wir als abstracte Begriffe scheinbar vor- stellen, sind in Wahrheit stets nur Einzelvorstellungen, welche als Beispiel für die ganze Gruppe der unter Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. eine allgemeine Definition fallenden Vor- stellungen gebraucht werden, welche als Repräsentanten dieser Vorstel- lungen gelten: repräsentative Ein- zelvorstellungen. So machen wir uns an einem besonderen Dreieck von diesen genau bestimmten Winkeln und Seiten die Eigenschaften aller Dreiecke klar; dies bestimmte Dreieck repräsen- tirt alle Dreiecke. In Wahrheit giebt es in uns also nur Einzelvorstellungen. In die- sem Satze stimmt Hume ganz mit Berkeley überein. Diese Einzelvorstel- lungen zerfallen nun in sinnliche Anschauungen, welche sich durch - ihre grosse Deutlichkeit und Stärke auszeichnen und von Hume Ein- drücke (impressions) genannt werden, und in innere Phantasie- und Ge- dächtnissvorstellungen, blosse G@e- danken, die blasser und farbloser sind als jene. Alle scheinbar noch so weit von den sinnlichen Wahrnehmungen oder Eindrücken abliegenden Vor- stellungen führen sich in letzter Instanz doch stets auf diese als ihre Quelle zurück, sei es nun auf Wahrnehmungen unsererinneren Zustände (z. B. Schmerz), sei es auf Wahrnehmungen dessen, was wir die Aussenwelt nennen. Lässt sich eine Vorstellung nicht auf irgend einen sinnlichen Eindruck zurückführen, so ist dies der sicherste Beweis dafür, dass diese Vorstellung ein blosses Hirn- gespinnst ohne jede reale Grundlage ist. So sind mithin die Eindrücke oder die sinnlichen Wahrnehmungen (innere wie äussere) die eigentlichen Quellen alles Vorstellens. Woher aber diese Eindrücke? Sind sie durch äussere Dinge an sich veranlasst? Wenn Hume auch nicht der mystisch-supranaturalistischen An- sicht Berkeley’s ist, dass alle Ideen in’ uns unmittelbar durch Gott veranlasst werden . so stimmt er doch darin mit jenem überein, dass die sinnlichen Ein- 169 drücke rein subjectiv sind und über die Existenz äusserer Dinge an sich gar nichts aussagen. Nicht blos die secundären, sondern auch die primären Qualitäten der Dinge wie Zahl, Figur und Bewegung erkennen wir nur in rein subjectiver Weise. Wir wissen also nicht im geringsten, ob das An- sich der Dinge diesen unseren subjec- tiven Vorstellungen entspricht. Eine Erkenntniss der Dinge an sich, sei es der materiellen oder der immateriellen, giebt es nicht — in der Verkündung dieses Satzes greift Hume bereits Kant vor. Alle Erkenntniss erstreckt sich dem- nach nur auf rein subjective Vorstel- lungen und deren Verbindungen, auf welche letzteren jetzt das Augenmerk zu richten ist. Die Vorstellungen ver- knüpfen sich niemals regellos, sondern stets gesetzmässig, Hume stellt drei Gesetze der Vorstellungsverbind- ung (Associationsgesetze) auf. Die Vor- stellungen vereinigen sich nach ihrer Aehnlichkeit (das Gemälde erweckt die Vorstellung des Originals) oder nach ihrem Zusammenhang (contiguity) im Raum, (die Vorstellung England erweckt die des Meeres) oder der Zeit, (der Gedanke an Kant führt auf die Vorstellung des Zeitalters Friedrich’s des Grossen) oder endlich in dem Ver- hältniss von Ursache und Wirkung, (die Vorstellung der Wunde ruft die Vorstellung des Schmerzes wach). Nun ist es klar, dass alle Erkennt- niss in der Verbindung von Vor- stellungen besteht. Aber nicht jede beliebige Verbindung von Vor- stellungen ist gleich Erkenntniss. Es fragt sich, welche Vorstellungsver- bindung Erkenntniss giebt. Die Ver- bindung durch blosse Aehnlichkeit kann täuschen; ich glaube von ferne den Freund zu sehen, und es ist doch ein anderer. Die Aehnlichkeit ist also eine nur zufällige, nicht nothwen- dige Verbindung. Auch die Berührung 170 in Raum und Zeit giebt keine noth- wendige Ideenverbindung. Das Pferd des Darius wieherte an dem Ort, wo es gewohnt war, Hafer zu erhalten. Wäre die Verbindung zwischen diesem Ort und dem Wiehern eine schlechthin nothwendige, so müsste jedes Pferd hier wiehern, aber die Pferde seiner Begleiter schwiegen. So ist es mit der Zeit: zur selben Stunde vollbringen verschiedene sehr beliebig verschiedenes. Die wirklich allgemeingültige Erkennt- niss besteht also in einer Verknüpfung von Vorstellungen, die unter allen Um- ständen sich in gleicher Weise voll- zieht. Eine solche Verknüpfung exi- stirt aber nur da, wo zwei Vorstel- lungen zu einander in dem Verhältniss von Ursache und Wirkung stehen, wo, wenn die eine ist, stets auch die andere eintritt. Die noth- wendige Verbindung der Vorstellungen, worin allein Erkenntniss besteht, ist also nur die causale. Unsere wahre Erkenntniss hängt also durchaus von unserer richtigen und vollen Einsicht in den Zu- sammenhang von Ursache und Wirkung hinsichtlich der Vor- stellungen ab. Mithin die Frage: Giebt esErkenntniss? ist gleich- bedeutend mit der anderen Frage: Giebt es eine volle Einsicht in das Verhältniss von Ursache und Wirkung? Die Untersuchung Hume’s spitzt sich also auf das Pro- blem der CGausalität zu, und Hume zeigt nun, dass weder durch reines Denken a priori, noch durch Er- fahrung eine wirkliche Einsicht in das Wesen der Ursächlich- keit erlangt wird, vielmehr die Ueberzeugung von der Richtigkeit des Causalitätssatzes in allen Fällen ein blosser, aus Gewohnheit ent- standener Glaube ist. Wie ein A die Ursache sei von einem B, ist deshalb a priori durch reines Denken nicht einzusehen, weil Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Ursache und Wirkung ganz verschieden sind. Man mag das A noch so viel zergliedern, niemals entdeckt man darin das grundverschiedene B. Der Satz »das Feuer verbrennt den Menschen« setzt das Feuer als Ursache, den ver- brannten Menschen als Wirkung. Aber man zergliedere den Begriff »Feuer« noch so sehr, der Begriff »verbrannter Mensch« ist niemals darin zu entdecken. Und wenn ein Mensch das Feuer zum ersten Mal nur gesehen hätte, ohne mit ihm in unmittelbare Berührung ge- kommen zu sein, so würde seine auch noch so sorgfältige Zergliederung des gesehenen Feuers ihn doch niemals die Vorstellung, dass es den Menschen ver- brenne, entdecken lassen. Allein die wirkliche Berührung des Feuers etwa mit seiner Hand, also lediglich die Er- fahrung lehrte ihn den ursächlichen Zusammenhang zwischen Feuer und Menschenverbrennung kennen. Weil Ursache und Wirkung verschieden sind, so ist daher auch jede apriorische Aus- sage, dass ein Ding die und die bestimmte Wirkung haben werde, ohne dass man darüber oder über verwandte Dinge Erfahrung gesammelt hätte, ganz und gar willkürlich, und kein Vernünftiger wird derartige Aussagen wagen. Nur die Erfahrung also lehrt, ob dieses Ding A mit diesem Dinge B in ursächlicher Verbindung stehe. Die Erfahrung besteht nun aber in der sinnlichen Wahrnehmung. Wir nehmen die Ursächlichkeit also wohl wahr? Wenn eine Billardkugel gegen eine andere stösst und diese in Be- wegung setzt, so nehmen wir also wohl wahr, wie die Kraft der ersteren auf die letztere übergeht? Einen Kraft- übergang haben wir offenbar niemals wahrgenommen, sondern lediglich die Thatsache, dass nach der Berührung die andere Kugel sich bewegte. Was diese inneren bewegenden Kräfte seien, wie sie übertragen werden — wir wissen es nicht. In Wirklich- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. keit nehmen wir demnach stets nur die zeitliche Aufeinanderfolge (das post hoc) zweier Thatsachen wahr; die innere Kraft, die innere causale Nothwendigkeit (das propter hoc) entzieht sich der sinn- liehen Wahrnehmung. Doch schliessen wir auf die Existenz die- ser inneren Kraft aus dem Erfolg, aus den Thatsachen. Und so in allen Fällen, wo wir zwei Dinge unter dem Verhältniss von Ursache und Wirkung betrachten: stets nehmen wir nur eine zeitliche Folge wahr und schliessen auf einen inneren noth- wendigen Zusammenhang, d. h. auf eine Causalfolge Es fragt sich nun aber, ob dieser Schluss von un- zweifelhafter Sicherheit und Ge- wissheit ist? Das Setzen der nothwendigen Ver- bindung zwischen der Ursache A und der Wirkung B führt sich also darauf zurück, dass wir nach der wieder- holten Wahrnehmung einer zeit- lichen Aufeinanderfolge von A und B annehmen, es seiin A eine Kraft, durch welche in B die Wirkung hervor- gerufen werde. Um also eine völlig klare Einsicht in die nothwendige Verknüpfung von Ursache und Wirkung zu haben, müssten wir eine völlig klare Einsicht in das Wesen dessen besitzen, was wir Kraft nennen. Woraus schöpfen wir die Einsicht in das Wesen der Vorstellung »Kraft«? Aus der Wahrnehmung äusse- rer Gegenstände haben wir die Vor- stellung Kraft nicht geschöpft und können wir sie nicht schöpfen. Wenn eine Billardkugel auf eine andere trifft, und diese fortbewegt, so nehmen wir äusserlich die Thatsache der zwei Bewegungen und der Berührung wahr. Aber nehmen wir die innere Kraft der ersten Kugel war? Wir sehen nur, dass sie rollt, nicht aber das geheim- nissvolle Etwas, das sie rollen macht. Wir haben darüber nur Vermuthungen: 171 der Wilde meint, es sitze ein Geist in ihr; anders erklärt es der Mecha- niker oder lässt es ganz unerklärt und begnügt sich mit der Thatsache. Und nehmen wir wahr, wie dies ge- heimnissvolle Etwas auf die zweite Kugel übergeht? Kein Mensch hat diese Uebertragung jemals wahrgenommen, keiner gesehen, wie Atom auf Atom wirkt. Aus der Wahrnehmung äusserer Eindrücke ist die Vorstellung Kraft also nicht entstanden. Somit müssen wir unsere inneren Eindrücke unter- suchen. Die Vorstellung Kraft ist wohl aus der Beobachtung der Thätigkeiten in unserem Innern hervorgegangen ? Wir wollen unseren Arm erheben, und siehe, es geschieht! Wir wollen eine Reihe von Vorstellungen im Geiste durchlaufen, und dieselben erscheinen in ihm. In Folge dieses Einflusses un- seres Willens auf Körper und Seele werden wir uns der Thatsache bewusst, dass in uns eine Kraft oder Macht ist, welche als Ursache jene Wir- kungen hervorbrinst. Wir haben also die Vorstellung Kraft aus unseren eige- nen inneren Eindrücken gewonnen und übertragen sie von hier auf alle anderen Wesen. »Dieser Einfluss des Willens, « sagt Hume, (nach Ueberweg’s Ueber- setzung) >»ist uns durch das Selbst- bewusstsein bekannt. Davon bekommen wir den Begriff der Kraft oder der Wirk- samkeit, und wir sind sicher, dass wir selbst und alle vernünftigen Wesen Kraft besitzen. Diese Vorstellung ist deshalb eine durch Selbstbetrachtung gewonnene Vorstellung; sie entspringt aus der Betrachtung der Seelenthätigkeit und des Einflusses, welchen der Wille über die Glieder des Körpers und die Ver- mögen der Seele ausübt.« Aber wenn wir auch die Quelle, aus der die Vorstellung Kraft stammt, entdeckt haben, gewinnen wir damit schon eine wirkliche Einsicht erstens in das Wesen der Kraft, zweitens 172 in die Eigenthümlichkeit des Ueberganges der Kraft von einem A auf ein B, welches erstere wir Ur- sache, welches letztere wir Wirkung nennen, haben wir endlich drittens eine vollendete Einsicht in die Nothwen- digkeit dieser Verknüpfung? Keineswegs! Betrachten wir zuerst den Einfluss unseres Willens auf unseren Körper. Er ist eine Thatsache. Aber erstens, was wäre überhaupt geheimnissvoller, als wie die Seele auf den Körper wirkt? Wie ist es möglich, dass ein blosser Gedanke unseren stofflichen Arm in Bewegung setzt? »Könnten wir,s sagt Hume, >»durch einen leisen Wunsch Berge versetzen, oder die Gestirne in ihren Laufbahnen aufhalten, so wäre diese grosse Macht doch nicht ausser- ordentlicher und unbegreiflicher.« Was diese bewegende Kraft sei, wir wissen es nicht. Wäre sie uns bekannt, so hätten wir endlich das dunkle Band zwischen Geist und Körper entdeckt. Es ist zweitens Thatsache, dass nicht alle unsere Körpertheile dem Willen in gleichem Maasse unterworfen sind. »Weshalb,« sagt Hume, »hat der Wille Macht über die Zunge und die Finger, und nicht über das Herz und die Leber?« Wir wissen, weder warum im ersteren Falle die Macht vorhanden ist, noch warum sie im letzteren fehlt. Wir wissen auch in beiden Fällen nicht, was sie ist. Und wenn uns nun auch drittens die Anatomen die Verbind- ung der verschiedenen Organe mit den Centralorganen durch Nervenstränge aufweisen, ist uns das Wesen der Kraft, sei es in den Nerven, sei es in den Centralorganen, im geringsten bekannt? So sehr wir ihre Erfolge in den Be- wegungen unserer Glieder erfahren, dennoch sind wir uns des Wesens dieser Macht so wenig bewusst, dass im Gegentheil der ganze Verlauf zwi- schen der Entstehung eines Willenactes in uns und der endlichen Ausführung Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. desselben in einer Gliederbewegung sich unserem Bewusstsein und unserer Ein- sicht ganz und gar entzieht. »Die Seele,«e sagt Hume, >»will einen be- stimmten Erfolg; unmittelbar aber ent- steht ein anderer Erfolg, der uns un- bekannt und gänzlich von dem gewoll- ten verschieden ist ; dieser Erfolg bewirkt einen andern, ebenso unbekannten, bis endlich nach einer langen Reihe der verlangte Erfolg hervortritt.« Also dass auf unseren Willen Be- wegungen unserer Glieder erfolgen, die zeitliche Folge, das post hoc ist eine Erfahrung; aber was die bewirkende Macht, die Ursache sei, und wie sie wirke, ist uns ganz unbekannt, mithin auch die Einsicht in die nothwendige Ver- knüpfung zwischen Ursache und Wir- kung ist uns völlig verschlossen. Genau so verhält es sich aber in all’ den Fällen, wo unser Wille eine Wirkung auf unseren Geist und seine Vorstellungen ausübt. Wir wollen eine Vorstellung, und sie ist da. Woher sie entsteht, und wie, ist uns ebenso dunkel wie ihr eigenstes inneres Wesen an sich. Und warum ist die Macht unseres Willens über unsere Vorstellungen so beschränkt? Warum kommen sie manchmal gegen unseren Willen, und manchmal nicht trotz unseres Willens? und warum manchmalleichter, manchmal schwe- rer? Also: wenn wir auch thatsächlich erfahren, dass eines auf das andere folgt, und schliessen, dass eines aus dem anderen folgt, so ist doch dieser Schluss, welcher eine innere nothwen- dige Verknüpfung, d. h. das Verhältniss von Ursache und Wirkung zwischen A und B setzt, in keiner Weise ein auf wirklich vollendeter, klarer, deutlicher, innerer Einsicht be- ruhender, denn die wirkende Kraft nehmen wir in den äusseren Erschein- ungen niemals wahr, und wenn wir auch die Vorstellung Kraft aus unseren Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. inneren Vorgängen schöpfen, so haben wir hinsichtlich dieser doch immer nur eine Erfahrung zeitlich auf ein- ander folgender Vorgänge, doch niemals die Einsicht in das innere Wesen dessen, was wirkt, oder der wirkenden Kraft. Das Verhält- niss von Ursache und Wirkung, worauf alle unsere Erkenntniss sich stützt, ist mithin ein abso- lut unerkanntes und unerkenn- bares. Nie sehen wir wirklich ein, wie eines die Ursache des anderen sein könne. In Wahrheit können wir dem- nach allemal nur behaupten, dass in so und so viel bekannten Fällen die und die Erscheinungen stets einander gefolgt seien, doch niemals, dass sie für alle Zeiten nothwendig ver- knüpft seien, denn in das Wesen dieser inneren nothwendigen Verknüpfung man- gelt uns jegliche Einsicht. Mithin: wenn wir nicht einmal mit Sicher- heit die nothwendige Verknüpfung zweier Erscheinungen behaupten kön- nen, wie viel weniger sicher können wir den Satz, der durch Verall- gemeinerung aus vielen Einzelfällen abgeleitet ist, hinstellen, dass jedes Ding mit einem anderen in noth- wendiger Verknüpfung stehen müsse, oder anders ausgedrückt: dass alles seine Ursache haben müsse. Auf dieser Annahme aber, dass alles seine Ursache habe, und dass gleiche Ur- sachen stets die gleichen Wirkungen haben, stützt sich alle Wissenschaft und Erkenntnis. Wo bleibt da die geringste Sicherheit derselben ?— »Wenn jemand sagt:«, schreibt Hume, »Ich habe in allen früheren Fällen solche sinnliche Eigenschaften mit solchen verborgenen Kräften verbunden gefunden, und wenn je- mand sagt: Gleiche sinnliche Ei- genschaften werden immer mit gleichen verborgenen Kräften ver- bunden sein, so sagt er nicht das- selbe, und beide Sätze sind nicht iden- 173 tisch. Man erwidert: der eine ist von dem andern abgeleitet, aber man muss entgegnen, dass diese Ableitung nicht wahrgenommen und nicht bewiesen werden kann. Welcher Art ist sie also? Nennt man sie Erfahrung, so ist dies keine Lösung. Denn alle Exfahrungs- beweise ruhen auf der Grundlage, dass das Kommende dem Vergangenen glei- chen werde, und dass gleiche Kräfte mit gleichen sinnlichen Eigenschaften verbunden sein werden. Entsteht ein Verdacht, dass der Lauf der Natur sich ändern, und dass das Vergangene keine Regel für das Kommende sein werde, so wird alle Erfahrung nutzlos und dient zu keiner Folgerung oder Ab- leitung. Keine Erfahrung kann deshalb diese Gleichheit zwischen Kommendem und Vergangenem beweisen, denn alle Gründe stützen sich auf die Annahme dieser Gleichheit. Wenn auch der Lauf der Dinge bisher noch so regelmässig gewesen ist, so beweist dies für sich allein, und ohne einen besonderen Grund nicht, dass dies auch in Zukunft so sein werde. Man irrt, wenn man meint, die Natur der Dinge aus vergangenen Fällen erkannt zu haben. Ihre ver- borgene Natur und folglich alle ihre Wirkungen können sich ändern, ohne dass ihre sinnlichen Eigenschaften wech- seln. In einzelnen Fällen und bei ein- zelnen Dingen geschieht dies; weshalb kann es nicht immer und für alles geschehen? Welche Logik, welcher Be- weis spricht gegen diese Annahme? Man sagt: die Praxis widerlegt die Zweifel. Aber dies trifft nicht den Sinn der Frage. Als Handelnder bin ich in diesem Punkte ganz zufrieden- gestellt; aber als Philosoph mit etwas Wissbegierde, wo nicht Zweifelsucht, verlange ich nach dem Grunde dieser Ableitung. Kein Buch, kein Nach- denken hat bis jetzt die Schwierigkeit heben oder mich in einem so wichtigen Punkt zufrieden stellen können. Was kann ich besseres thun, als die Frage 174 dem Publikum vorlegen, obgleich ich wenig Hoffnung habe, sie gelöst zu "bekommen. Wir werden auf diese Weise wenigstens unserer Unwissenheit inne, wenn wir auch unser Wissen nicht vermehren. « Wenn also in Wahrheit nicht der geringste Beweis für den Satz der Cau- salität vorliegt, wie kommt es denn, dass die Menschen ihn doch in allen Fällen ohne weiteres als sicher hin- stellen und annehmen? Dies hat nach Hume keinen logischen, sondern nur einen psychologischen Grund. Wir erfahren z. B. wiederholt die zeitliche Folge der Bewegung einer Billardkugel, des Zusammenstosses mit einer andern und der nun beginnenden Bewegung der zweiten Kugel. Wenn diese Folge auch hunderttausendmal von uns er- fahren ist, wir haben keinen Grund, mit absoluter Sicherheit anzunehmen, dass es zum hunderttausend und ersten Male auch geschehen werde. Indessen weil jene drei Vorstellungen, soweit unsere Erfahrung reicht, stets mit ein- ander verbunden auftreten, so gewöh- nen wir uns daran, beim Eintreten der ersten Vorstellung auch die folgenden zu erwarten. Diese Gewöhnung wird in uns so stark, dass wir meinen, es könne gar nicht anders sein (was, wie bewiesen, eine blosse Ein- bildung ist), und aus dieser Gewöh- nung entspringt in uns der Glaube an die innere Nothwendigkeit dieser Verbindung. Und doch ist dieser Glaube haltlos, wie wir gezeigt haben. Dass aber der Grund dieses Glaubens die Gewöhnung ist, geht schon daraus her- vor, dass die Annahme der ursäch- lichen Verknüpfung zweier Erschein- ungen nie aus einem Falle, sondern stets erst aus vielen Fällen entsteht. Da nun alle Erkenntniss sich auf diesen Satz der Ursächlichkeit stützt, der sich als Glaubenssatz erweist, so ist aller vermeintlichen Erkenntniss von erfah- rungsmässigen Thatsachen nur der Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie, Charakter der Wahrscheinlichkeit zuzuschreiben; der sog. Erkenntniss aber, welche sich auf jenseits all’ unserer thatsächlichen Erfahrung liegende Gegenstände bezieht, kommt nicht einmal der Charakter der Wahrscheinlichkeit, geschwei- ge der Gewissheit zu. »Wenn man,« so lautet das berühmte Schlusswort der Hume’schen Abhandlung, »von solchen Grundsätzen erfüllt, die Bibliotheken durchsieht, welche Verwüstung müsste man darin anrichten? Nimmt man z.B. ein theologisches oder streng meta- physisches Werk in die Hand, so darf man nur fragen: Enthält es eine dem reinen Denken entstammende Untersuchung über Grösse und Zahl? Nein. Enthält es eine auf Erfahrung sich stützende Unter- suchung über Thatsachen und Dasein? Nein. Nun, so werfe man es in’s Feuer; denn es kann nur Spitz- findigkeiten und Blendwerk enthalten. « 9. Hume und die Kleaten: Causalität und Werden. Die Hume’schen Beweise bilden den Punkt, an welchem die Fortentwicke- lung des philosophischen Denkens in Kant anknüpft. Wir müssen sie des- halb in eine möglichst allseitige Be- leuchtung zu setzen suchen. Zu diesem Zwecke wollen wir hier auf eine der wichtigsten Gruppen unter den griechi- schen Naturphilosophen, die Eleaten, zurückweisen, da gerade diese Denker viele Vergleichungspunkte mit Hume darbieten. Die Eleaten hatten ihren Skepticismus gegen einen der bedeut- samsten Grundbegriffe des Denkens, gegen das Werden gerichtet, und da- mit alle in diesem Hauptbegriffe lie- genden Unterbegriffe wie das Entstehen und Vergehen, die Bewegung u. s. w. in Frage gestellt. Alle diese Begriffe, erklärten sie, seien sowohl logisch Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. » undenkbar, als auch sinnlich un- erfassbar; sie seien durch und durch widerspruchsvoll und existirten deshalb in Wirklichkeit auch gar nicht; ohne Widerspruch sei nur das wandellose, starre Sein zu denken, und dieses daher das einzig wahre Grundprineip der Welt und des Denkens. Der erste Widerspruch, den sie entwickelten, stellte die logische Unmöglichkeit im Begriff des Werdens klar. Wir haben diese eleatischen Beweise bereits früher (Kosmos, Bd. IL, S. 193 f.) ent- wickelt und beziehen uns jetzt darauf zurück. Offenbar ist dieser von den Eleaten aufgedeckte logische Wider- spruch kein anderer, als welchen Hume hinsichtlich der Causalität enthüllt, wie wir auch a. a. O. schon andeu- teten. Zwischen: Ursache A und Wir- kung B, indem die Wirkung aus der Ursache hervorgeht, giebt es eben die- sen Uebergangspunkt x, der gleichzeitig weder als Ursache noch als Wirkung, und doch sowohl als Ursache als auch als Wirkung gedacht werden muss, d. h. logisch ohne Widerspruch überhaupt nicht zu denken ist; es ist also aus reinem Denken schlecht- hin nicht einzusehen, wie eines die Ursache eines anderen werden kann. Ebenso wenig hilft uns die sinnliche Wahrnehmung. Das Werden selbst, die Entwickelung selbst nehmen wir nie wahr, sondern in jedem Falle immer nur das Gewordene, das Ergebniss der Entwickelung, die Differenz zwischen dem Zustand in einem späteren Zeitpunkte gegenüber dem Zustand in einem früheren. Und betrachtete ein Forscher auch mit dem feinsten Mikroskop die Säftebewegungen im Innern der Zelle, stets nimmt er nur das Resultat der verborgenen Werde- kräfte, die Bewegung im passiven Sinne des Bewegten, nicht die Be- wegung im activen Sinne des Be- wegenden wahr. Was die Eleaten hier vom Werden beweisen, ist dasselbe, “erste Ursache. 175 was Hume von Ursache und Wirkung zeigt. Das causale Werden in der Ursache nimmt keine Sinnesmacht wahr; wir schliessen erst, dass etwas Ur- sache ist, wenn die Wirkung als das Resultat bereits geworden ist. Die dritte Folgerung aus dem Eleatismus richtete sich gegen den sog. endlosen Regress. Zur Erklärung des Werdens oder der Entwickelung leitet man ein A aus einem B ab, das B aus C u. s. w. in infinitum rück- wärts. Aber im Verfolg dieses endlosen Rücklaufes von den Wirkungen zu den Ursachen erreicht man niemals eine Schon dadurch wird alle Erklärung mangelhaft und unvoll- ständig, denn der unerklärte An- fang bleibt offenbar als dunkler Posten, als unbekanntes x in der Rechnung stehen. Dazu kommt ja aber noch, dass (nach dem ersten und zweiten Beweis) auch hinsichtlich aller übri- sen Glieder der Kette das causale Verhältniss zwischen je zwei Nach- -bargliedern weder logisch ohne Wider- spruch denkbar, noch durch sinnliche Wahrnehmung erfassbar ist. Der end- lose Regress bleibt folglich die Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Causalität schuldig. Wagten wir aber viertens den oft gethanen kühnen Schritt, und schlössen wir den end- losen Regress ab, indem wir eine erste Ursache an seinen Anfang setzten, so hätten wir wohl den Mangel an einer solchen ersten Ursache ausgeglichen, nur aber, um in ganz neue Schwierig- keiten hineinzugerathen: die erste Ur- sache ist in ihrem ganzen Sein un- entstanden; also kann nichts Ent- standenes in ihr sein, also auch nichts Entstandenes aus ihr hervorgehen, d.h. nichts aus ihr entstehen. Ohne diesen logischen Widerspruch ist die erste Ursache nicht zu denken: die sinn- liche Wahrnehmung aber zeigt uns niemals eine erste Ursache, da alle Gegenstände der sinnlichen Wahrneh- 176 mung und Erfahrung aus ihnen vor- hergehenden Ursachen hervorgehen. Alle jene (a. a. O. von uns be- sprochenen) eleatischen Wider- sprüche in den Begriffen ıdes Werdens, der Entwickelung, der Bewegung u.s. f. führen sich mit- hin in letzter Instanz auf die Hume’schen Widersprüche im Be- griff derCausalität zurück. Denn Werden heisst doch so viel wie Ent- stehen und Vergehen. Alles Entstehen und Vergehen geht aus einer Ursache hervor. Die Ursächlichkeit ist also der Fundamentalbegriff des Werdens. Die treibende Kraft im Werden ist eben das, was wir Ursächlichkeit oder Cau- salität nennen. So ist es selbstver- ständlich, dass die Widersprüche im Werden nichts anderes sind, als die Widersprüche in der Causalität. Nun finden wir einerseits die logische Auffassung der Causalität, d. h. die Annahme, das Wesen des Causal- zusammenhanges werde durch logisches Denken erkannt, beiden Idealisten, wie Platon, Aristoteles, Descartes, Spinoza, Leibniz, Berkeley, Fichte, Schelling, Hegel u. a., anderer- seits die sensualistisch-empiri- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. sche Auffassung, d. h. die Annahme, das Wesen des Causalzusammen- hanges werde durch Sinneserfah- rung erkannt, bei den Realisten, wie Baco, Locke, und den meisten Naturforschern. Aber Hume beweist: Das Wesen des Causalzusam- menhanges ist weder durch lo- gisches Denken, noch durch Sinneserfahrungerkennbar. Es giebt also weder auf idealisti- schem noch auf realistischem Wege irgend welche Möglich- keit, irgend welchen Causal- zusammenhang in der Welt, auf welchem Gebiet, in welcher Wissenschaft esimmer sei, über- haupt zu erkennen. Alle Wis- senschaft ausnahmslos ist ein blosser Wahrscheinlichkeits- glaube, keine Wahrheitserkennt- niss. Ob z. B. Schöpfungstheorie oder Entwickelungstheorie angenommen wird, das eine bleibt so unbegreiflich wie das andere. Ehe wir aber die Trag- weite dieses zerschmetternden Ergeb- nisses an einigen Beispielen entwickeln, möge das folgende Schema dazu dienen, den inneren Gedankenzusammenhang an- schaulich und übersichtlich darzustellen: Das Werden der Eleaten. 18 Erster Widerspruch: Die logische Un- denkbarkeit des Werdens. Vierter Widerspruch: Die logische Undenkbarkeit der ersten Ursache. IT: Zweiter Widerspruch: Die sinnliche Unwahrnehmbarkeit des Werdens. — Dritter Widerspruch: Die Unzulänglichkeit der Erklärung durch den endlosen Regress. PREDIGER EEE en Werden — Entstehen und Vergehen —' Entstehen und Vergehen durch und aus etwas — Ursache und Wirkung — Causalität. Us PrSERr | Die Causalität Hume’s. Die logische Auffassung der Causalität bei den Idealisten. Hume gegen die Idealisten: Der Causalzusammenhang ist logisch un- erfasslich. A nn Die sensualistische | Auffassung “ der — Causalität bei den Realisten. , —— . Hume gegen die Realisten: Der Causalzusammenhang ist empirisch unerfasslich. Der Causalzusammenhang ist schlechthin unerkennbar. ' Alle Wissenschaft — Wahrscheinlichkeitsglaube. Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. 4, Anwendung der Hume’schen Skepsis auf die Entwickelungstheorie. Alle vermeintliche Erkenntniss er- weist sich nach Hume als blosse Be- hauptung ohne Gewissheit. Handle es sich um irgend welche Aussage über das Verhältniss von Gott und Welt, von Seele und Körper — keine kann ihre Richtigkeit beweisen. Weder durch lo- geisches Denken noch durch sinnliche Erfahrung kann das Verhältniss zwischen Gott und Welt begriffen werden. Sinnlich erfahrbar ist Gott nicht; setze ich ihn aber aus Gründen des Denkens als das | Immaterielle, die Welt als das Materielle, ‘so ist logisch nicht mehr zu fassen, wie diese beiden absolut entgegengesetzten in irgend einer Verbindung stehen kön- nen. Von Seele und Körper gilt dasselbe. Und fasse ich das Verhältniss der bei- den auch in monistischer Weise, be- greife ich trotzdem logisch oder sinnlich den Causalzusammenhang, durch welchen mein Wille meinen Arm, ein Gedanke meine Zunge in Bewegung setzt? Be- ereife ich, wie eine Bewegung von aussen eine Vorstellung in meinem Innern her- vorruft, wie Bewegung sich umsetzt in Empfindung, trotz aller Kenntniss der Nervenzellen, trotz aller zwischen den Gentralorganen und der Peripherie ent- deckten Leitungsbahnen? Begreife ich, wie im Nerven Molecül auf Molecül wirkt? wie der Nerv Leiter der in ihrem Wesen uns ganz unerklärten Empfindung ist? Selbst auf rein monistischem Standpunkt bleibt der innerste Causal- zusammenhang unerkannt und uner- kennbar. Sehen wir auf die als die klarste aller Wissenschaften gepriesene Mathe- matik. In ihr ist das »Unendlichkleine« die alles erklärende Causalität, denn jede Grösse be- und entsteht aus dem Unendlichkleinen. Das Unendlichkleine darf aber selbst nicht als Grösse ge- dacht werden, denn jede noch so kleine Grösse ist theilbar, das Unendlichkleine 177 aber nicht theilbar, also Nichtgrösse. Wie kann aber aus Nichtgrösse jemals Grösse be- und entstehen? Logisch ist das undenkbar; ‚sinnlich wahrnehmbar ist aber das Unendlichkleine nicht. Das mathematische Unendlichkleine findet seinphysikalischesund chemisches Correlat an dem Atom. Das Atom als Unendlichkleines ist Nichtgrösse, die Materie ist Grösse; wie kann die Grösse aus Nichtgrössen, die Materie also aus Atomen be- und entstehen ? Betreten wir das Gebiet der Me- chanik. Eine Kugel stösst auf eine andere und macht sie rollen. Wir sehen diese Vorgänge, dass sie sind, aber kennen wir das Wesen ihrer inneren treibenden Kraft? Wir nehmen wahr die Erscheinung, den inneren Causalzusammenhang denken wir hinzu, doch ohne dass uns dar- um der Begriff Kraft im geringsten begreiflich wäre, trotz allem, was wir im Ueberfluss von der Kraft der Gravi- tation, der Elektricität, des Magnetis- mus u. s. w. reden. All’ diese letzteren Specialbegriffe des Allgemeinbegriffs Kraft sind nur Ausdrücke für That- sachen, die wir in einheitliche Beziehung setzen, doch ohne dass wir irgendwie ihr wahrhaft inneres Wesen an sich kennten. Wir wissen wohl, was alles die sogenannte Electricität (d. h. »die unbekannte Kraft, wie sie zum Beispiel im Elektron sich fin- det<) bewirkt; welcher Physiker könnte uns sagen, was sie an sich ist? Theologische, psychologische, mathe- matische, physikalische, chemische, me- chanische Causalität — an sich ist keine derselben erkennbar. So kann es uns nicht Wunder neh- men, wenn sich von hier aus auch eine merkwürdige Kritik jeder Art Ent- wickelungstheorie ergiebt. Schon der Begriff der Entwickelung (— Wer- den) ist voll von den uns bekannten unlösbaren Widersprüchen. Ja, der wahre innere Causalzusammenhang des alltäg- 178 lichen Ereignisses, wie z. B. ein Mensch auseinem anderen Menschen entsteht, ist weder dem logischen Denken noch der sinnlichen Wahrnehmung klar und deut- lich. Kennen wir denn auch nur von weitem die geheimnissvollen »Kräfte«, die im Ei und Samen walten, ihr Wir- ken und Bewegen, wodurch diese kleine indifferenzirte Masse zu einem wunderbar differenzirten Organismus ausgestaltet wird? Wir erfahren, dass es so ge- schieht, doch nicht, wodurch es ge- schieht. Wir schliessen aus den Ent- wickelungserscheinungen, dass entspre- chende hervorbringende Kräfte im Ei und Samen vorhanden sein müssen, aber wer könnte sich diese Kräfte auch nur annähernd anschaulich vor- stellen? Und wird es hier nicht klar, dass, wenn wir sagen, in dem Ei und Samen müsse die »Kraft« dazu vor- handen sein, wir garnichts anderes sagen als lediglich: es müsse eine »Ursache« dazu da sein, dass wir also nur ein Wort anstatt eines Reale setzen, dass Kraft und Ursache identisch sind, dass wir eben deshalb auch alle Schwierig- keiten dieser Begriffe in den Kauf neh- men müssen, dass wir die Sache selbst aber nicht haben? Wir erkennen also nicht einmal den Causalzusammenhang da, wo innerhalb derselben Art das eine Individuum sich aus dem an- dern entwickelt. Wie aber muss sich erst die Schwierigkeit da steigern, wo es sich um die Entwickelung einer ganz neuen Art aus einer anderen Art handelt! Logisch ist nicht einzu- sehen, wie das Verschiedene aus dem Verschiedenen hervorgeht. Hat aber den Entwickelungsvorgang einer Art aus einer anderen jemals einer thatsächlich mit Sinnen wahrgenommen? Und wenn wir nun auch die Behauptung aufstellen, die Entwickelung gehe ganz allmählich durch unendlich kleine Unterschiede vor sich; wenn wir also auch die Abänderung dem Un- endlichkleinen, den Atomen, in die Werdeprocess Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. Schuhe schieben, ist es logisch be- greiflich, wie ein Atom oder eine Atom- gruppe eine abändernde Kraft auf ein anderes Atom oder eine andere Atom- gruppe überträgt? Oder hat diesen Vorgang der atomistischen Kraftüber- tragung jemals einer mit Sinnen er- schaut? Das Bewegte sehen wir, nicht das Bewegende. | Der Chemiker zeigt uns, dass aus neuen Mischungen neue Produkte her- vorgehen: er zeigt uns das Gewordene; er zeigt uns, dass unter gewissen: so und so beschaffenen Umständen dieses Werdeproduet in die Erscheinung tritt, und für die Praxis genügt dies ja auch völlig, aber jetzt handelt es sich um das absolut klare theoretische Durchdringen, und da zeigt sich, dass er uns das Werden selbst nicht ent- räthseln kann. Die Entwickelungs- theorie zeigt uns in Wahrheit auch nur eine Fülle von einander ähn- lichen Erscheinungen. Die innere Verwandtschaft, die Abstammung, den der allmählichen Ent- wickelung denkt siehinzu, schliesst sie hinzu. Sie zeigt uns in den ver- schiedenen Schichten der Erdrinde auf- einanderfolgende Thier- und Pflanzen- arten, die Auseinanderfolge schliesst sie hinzu. Die Thatsachen des Erd- archives gewähren nur ein post hoc, ja, genau betrachtet, der unmittel- baren, sinnlichen Anschauung und nacktthatsächlichen Er- fahrung nicht einmal ein zeit- liches post hoc, denn so verschieden- altrig auch die einzelnen Schichten von der Geologie bestimmt sein mögen, Jetzt liegen sie und also ihr organischer Inhalt für unsere sinnliche Anschauung und unmittelbare empirische Wahr- nehmung doch gleichzeitig mit und bei einander; die Erdschichten zeigen unmittelbar und unabhängig von unseren hinzugefügten Schlussfolgerungen also in Wirklichkeit nur ein räumliches Getrenntsein: dies allein ist der Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. nüchterne, nackte Thatbestand, auf den erst durch eine Reihe von Schluss- ketten das zeitliche post hoc von uns übertragen ist. Diesem also auch keinesweg in der unmittelbaren sinn- lichen Wahrnehmung, sondern erst schlussmässig angehängten zeit- lichen post hoc, fügt nun erst in zwei- ter Linie der Entwickelungstheoretiker das propter hoc hinzu. Denn die Schichten und ihre versteinerten orga- nischen Einschlüsse selbst zeigen uns doch nicht mehr den lebendigen Vorgang der continuirlichen Auseinanderfolge. Die blosse Aehnlichkeit oder Berührung (con- tiguity) in Raum und Zeit aber be- weist keineswegs unmittelbar die innere Verwandtschaft und Abstammung, also den causalen Zusammenhang. Ange- nommen aber der continuirliche, ent- wickelungsmässige Zusammenhang der verschiedenen Arten wäre unwiderleg- lich festgestellt, die Glieder der Kette des unendlichen Regresses wären fest in einander eingelenkt — hätten wir damit die Kenntniss und Erkenntniss der ersten Ursache? Das erste Glied würde uns ewig fehlen. Wenn aber die erste Entstehung, der Anfang der Entstehung dunkel ist, so bleibt jenes eine unaufgeklärte x in unserer Rechnung, von dem wir oben sprachen, stehen; in jedem besondern Glied der Entwickelungsreihe würde es wie ein unverscheuchbares und unenthüll- bares Gespenst erscheinen; ein dunkler Punkt würde in jeder, sonst noch so hellen Specialerkenntniss zurückbleiben, d. h. wir ständen wieder überall vor einem innersten Geheimnisse des Entwickelungsprocesses. Der Entwickelungstheoretiker weist auf die individuelle oder embryologische Entwickelung hin. Thatsache ist, dass hier nach einander intrauterine Erschein- ungen auftreten, welche mit verschie- denen thierischen Daseinsformen Aehn- lichkeit haben, und zwar im selben 179 Raum des Mutterleibes und am selben Objecte, also gewiss doch im innersten Causalzusammenhange. Und dennoch! Der Embryologe vermag auch hier uns stets nur eine zeitliche Folge von Erscheinungen zu zeigen, nie dieinnere Causalfolge. Weder sieht der lo- gische Verstand aus reinem Denken es klar und deutlich, frei von jedem Dunkel, ein, wodurch und wie aus der Zelle der Erzeugungsstunde mit Nothwendigkeit die Gestalt des dritten Monats hervorgeht, noch schaut ir- gend ein Sinn das umändernde Spiel der inneren verborgenen Kräfte. ‘ Die Produkte derselben, die verschie- denen fertigen Formen in den ver- schiedenen Stadien der Entwickelung bekommen wir zu sehen, aber auch nur im abgestorbenen Zustande, d. h. ledig ihrer inneren lebendigen Kräfte. Dass eine entwickelnde Kraft (— Ur- sache) da sein müsse, schliessen wir aus den Formveränderungen, aber wenn wir sagen: (und mehr können wir nicht sagen) es ist eine derartige Kraft, dass sie eben diese Formen her- vorbringt — was thun wir anders, als dass wir uns im nichtssagenden Cirkel herumdrehen? Die innere Entwicke- lung des Embryo gleicht also trotz aller Kenntnisse über die äussere Form des Embryo doch immer dem verschleierten Bilde von Sais. Wie unendlich dunkel wird aber zuguterletzt erst der causale Zusammen- hang, wenn wir diese ontogenetische Entwickelung nun mit jener phyloge- netischen in ursächliche Verbindung setzen! Hier werden uns zwei und doch in Wahrheit auch nur sehr entfernt ähnliche Erscheinungs- reihen vorgeführt; das empirisch Thatsächliche reicht eben nur so weit. Dass sie in causalem Zusam- menhange stehen, wird schliessend hinzugefügt, und diese die beiden Reihen verbindenden Schlüsse beziehen sich auf Thatsachen, welche vor Jahr- 180 millionen geschehen sein sollen und von keinem menschlichen Auge erschaut sind. Eine absolut zwin- gende logische Nothwendigkeit, von der Ontogenie auf die Phylogenie oder umgekehrt zu kommen, liegt nicht vor, denn wir könnten uns noch eine ganze Reihe anderer Hypothesen, als das sog. biogenetische Gesetz ist, zur Erklärung der Aehnlichkeit der beiden Reihen bilden; ja, wer hindert uns, einfach den Zufall dafür verantwortlich zu machen oder den Willen Gottes? beides wäre gleich dunkel und uner- klärlich. Die Thatsache der Aehnlich- keit der beiden Erscheinungsreihen giebt uns also höchstens einen Wahrschein- lichkeitsschluss auf ihren inneren causalen Zusammenhang an die Hand, um so mehr, als hier die Feuer- probe des Experimentes niemals . angestellt werden kann. Aber ein Wahr- scheinlichkeitsschluss hat doch nur den Werth einer Annahme, einer Hypothese, nicht den Werth eines sicheren Ge- setzes oder einer unumstösslichen Er- kenntniss. Und mit Sinnen endlich hat doch auch Niemand jemals den Causalzusammenhang zwischen Phylo- genie und Ontogenie geschaut. Das sind aber nur die allgemeinen Schwierigkeiten. Diese vermil- lionenfachen sich aber noch dadurch, dass bei jeder einzelnen Art und erst recht bei jedem einzelnen In- dividuum allemal eine Fülle von be- sonderen Umständen hinzutreten, unter denen sich die besondere Art oder das besondere Individuum ent- wickelt hat, und welche alle in Rech- nung gezogen werden müssen; welche aber, indem sie unendlich viele neue Causalzusammenhänge aufzulösen geben, damit auch die interne erkenntniss- theoretische Schwierigkeit ins Unend- liche potenziren. Klingt eine solche Kritik nicht wie ein völliges Ablehnen der Entwicke- lungstheorie ? wie ein Aufgeben der- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. selben? Sie mag so klingen, sie ist es nicht. Gerade der philosophische, kri- tische Anhänger der Entwickelungs- theorie darf sich am wenigsten über die erkenntnisstheoretischen Abgründe täuschen, welche ihm auch aus dieser Theorie entgegengähnen; er darf am wenigsten ein dogmatischer Anhänger der Lehre sein, wie denn dem echten Kritieisten überhaupt jeder Dogmatis- mus fern bleiben muss. Aber fällt nicht durch solche Kritik der Werth der Lehre dahin? Gewiss nicht! Die Kritik hat die Absicht, und vielleicht auch den Erfolg, dass man sich der Grenzen der Erkenntniss bewusst werde und bleibe; dass man sich wie- der klar mache, dass das Ding an sich, also die innerste Causalität und Werdekraft der Welt dem Menschen verborgen ist. Denn der Mensch ist ja selbst durch und durch und in jedem Augenblick ein Product des Werdens, niemals das Werden selbst; immer also steht das Werden hinter und über ihm, nie er hinter und über dem Werden; er ist stets gewordenes Object des Werdens, niemals das das Werden producirende Subject, d. h. das Werden selbst. Man erkennt klar nur, was man selbst völlig schafft; der Mensch schafft nicht das Werden, son- dern das Werden den Menschen. Somit muss das Werden in seinem inner- sten Wesen ihm auf ewig unbekannt bleiben, wenn er auch die Erzeugnisse des Werdens überall antrifft und daraus auf die Existenz des Werdens schliesst. Es mahnt aber zu vorsichtiger und wahrhaft kritischer Arbeit, wenn man sich bewusst bleibt, wie eng die Gren- zen unseres Erkennens gesteckt sind. Eine solche Kritik der Entwickelungs- theorie geben, heisst nicht sie aufheben, sondern sie nur von dogmatischen Be- hauptungen, welche zum Schaden der- selben sich doch bald als falsch er- weisen und dann auch gegen ihren eigentlichen Kern gerichtet werden, Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. befreien. Denn wenn ihr auch die auf- gezeigten Schwächen anhaften, so wird sie dadurch um nichts schlechter als irgend eine andere Theorie, weil ja die in dem Causalitätsbegriff liegenden Schwierigkeiten allen mensch- lichen Theorieen ausnahmslos und gleichmässig innewohnen, und in diesem Punkte alle Theorieen gleich stark und gleich schwach sind. Denn diese Schwächen und Fehler sind nicht Schwächen und Fehler irgend einer Theorie, sie sind Schwächen und Fehler des menschlichen Erkennensüber- haupt. Sowie wir nicht fliegen können wie die Vögel, so können wir auch die Dinge an sich nicht erkennen und zwar in keinem Fall, von keiner Theorie aus. Das ist ein Mangel aller mensch- lichen Natur, eben weil sie, um mit Spinoza zu reden, nur Modus ist; darin. sind alle Theorieen hinfällig. Darnach muss man also wohl die Tragweite des menschlichen Er- kennens überhaupt im Vergleich mit einer hypothetisch angenommenen absoluten Erkenntniss abwägen, aber ebendeshalb darf man danach nicht den Werth einer mensch- lichen Theorie im Vergleich mit einer andern menschlichen Theo- rie beurtheilen. Handelt es sich in diesem letzteren Sinne um die Würdigung der Entwicke- lungstheorie gegenüber der ganzen Masse der übrigen Theorieen von der Entstehung der Welterscheinungen, so lautet unser Urtheil dahin, dass unten. allenunsbekannten derartigen Theorieen, welche ja alle nur auf Wahrscheinlich- keit Anspruch machen können, keine einzige so sehr dem Bedürfniss nach wahrhaft empirisch-kritisch zu setzenden Causalzusammenhängen entspricht, als die Entwickelungstheorie. Darum hän- gen wir ihr als der wahrscheinlichsten Theorie an im vollen Bewusstsein ihrer Grenzen; sie kann uns nur em- pirische Erscheinungen in ursächlichen Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). 181 Zusammenhang setzen, soweit dies über- haupt möglich ist; über die Dinge an sich und den letzten Urgrund der Dinge, ob sie blosse Materie oder immateriell oder beides, ob sie Gott oder Welt, oder Gott und Welt seien u. s. w. — darüber kann uns die Entwickelungs- theorie so wenig eine bestimmte Aus- sage geben, wie irgend eine andere Theorie. Mithin ist es aber auch von Seiten der Entwickelungstheoretiker ein Missbrauch, und sie werden echte Dog- matiker, wenn sie sich zu unfehlbaren Richtern über die Dinge an sich auf- werfen wollen, wenn sie irgend eine “metaphysische Theorie, z. B. den Ma- terialismus als die allein selig machende proclamiren. Die rein kritisch-empirisch gefasste, lediglich auf die Erscheinungs- welt bezogene Entwickelungstheorie ist und bleibt die beste Hypothese über den Entstehungsgang der organischen Welt; über die letzten Gründe der Dinge sagt sie gar nichts aus. Gerade deshalb kann sie aber auch (und das ist ein entschiedener Vorzug) mit jedem nichteleatischen metaphysischen Systeme verbunden werden. Sie ist weder materialistisch noch spirituali- stisch; eben darum kann sie mit ma- terialistischen so gut wie mit spiritua- listischen Systemen in Verein treten. Vorausgesetzt, ich nähme den meta- physischen Dualismus zwischen Gott und Welt, ob nun im Theistischen oder Deistischen Sinne an — welch’ ein Widerspruch läge denn darin, wenn ich nun glaubte, dass Gott die Welt so ‘geschaffen habe, dass sich die Arten allmählich aus angelegten Keimen ent- wickeln. Man kann Theist und Dar- winist zugleich sein. Schlimm genug und zum Schaden der Ausbreitung der Entwickelungslehre, wenn viele ihrer Anhänger als Materialisten den Ma- terialismus für solidarisch verbunden mit der Entwickelungstheorie ausgegeben haben. Die innigste religiöse Gottes- verehrung, die den Schöpfer anbetet, 15 182 kann gleichwohl im vollsten Einklang mit Darwin’s Theorie stehen, denn wel- ches der erste Ursprung der Welt war, wissen wir alle nicht, und daher hat im Grunde jeder das Recht, diesen sich vorzustellen wie er will, wenn er nur anderen durch seine Vor- stellung und deren etwaige gemein- schädliche praktische Folgen nicht lästig fällt. 5. Hume und Kant. Hume’s Beweisführungen besitzen eine wahrhaft dämonische Gewalt, die jede eitle Einbildung, »wie wir’s so herrlich weit gebracht«, schmählich zer- schmettert. Und doch — auch dieser Achilles hat seine Ferse, und hat er mit seinen tödtlichen Pfeilen so viele andere getroffen, so kann die philo- sophische Nemesis auch ihm den kri- tischen Pfeil nicht ersparen. Hume willbeweisen, dass kein Causalzusammenhang sich beweisen lasse. Er will begründen, dass jede Begründung unbegründet sei. Er will den Causalbegriff als hin- fällig beweisen, und beweist doch in jedem Augenblick unter Voraus- setzung dieses Causalbegriffes. Die Causalität soll weder logisch denkbar noch sinnlich erfassbar sein: es ist doch also wohl nutzlos, nach dem Wesen der Causalität zu forschen, denn wir verstehen sie ja nicht; sie ist ein blosser Gewohnheitsglaube. Aber wun- derbar! so sehr beherrscht die Cau- Fritz Schultze, Naturalistische Skepsis und Entwickelungstheorie. salität selbst ihren Skeptiker Hume, dass, obwohl er die Erkennbarkeit jedes Causalzusammenhanges leugnet, er doch nach dem causalen Zusammenhange forscht, in und aus welchem dem Men- schen jener Glaube an die Causalität kam. So ist es doch etwas Selt- sames mit diesem Glauben, dass alles seine Ursache habe: während wir jeden andern Glauben abwerfen, nachdem wir seine Nichtigkeit erkannt haben — dieser Glaube beherrscht uns so, dass, selbst wenn wir die Richtigkeit der Hume’schen Beweise anerkennen, wir trotzdem immer wieder eigensinnig be- haupten: e pur si muove! und doch hat jedes seine Ursache. Auch Hume geht es nicht anders. Er will beweisen, die Causalität sei ein blosser Glaube ohne objektiven Grund, und doch sucht er den psychologischen Grund, woher dieser Glaube entstanden sei. So sehr er sich von der Causalität und ihren Ein- wirkungen losreissen will, immer wieder hält sie ihn in ihrem Bann gefangen. Das giebt denn doch zu denken — und das gab auch Kant zu den- ken. Wenn dieser scharfsinnigste Skep- tiker sich fortgesetzt wehrt gegen die Causalität und doch nicht loskommen kann von der Causalität, so muss sie wohl einen viel tieferen Grund in uns haben und auf einer viel tieferen Wurzel im menschlichen Wesen ruhen, als die der blossen psychischen Gewohnheit ist. Die Entdeckung dieser tieferen Wurzel blieb Immanuel Kant vorbehalten, und in ihm wurde damit aus dem Skep- ticismus der Kriticismus. Larvenformen, ihre Natur, Entstehung und Verwandtschafts-Beziehungen. Von F. M. Balfour, Professor am Trinity-College in Cambridge. (Mit 20 Holzschnitten.) Einleitende Bemerkungen. Die Thiere machen entweder 1. ihre ganze früheste Entwicklung im Ei oder innerhalb des mütterlichen Körpers durch und schlüpfen in einem Zustande aus, welcher dem ausgewachsenen nahe- zu gleich ist, oder aber 2. sie werden in einem Zustande geboren, der sich in höherem oder geringerem Grade vom vollendeten Thiere unterscheidet. Im ersteren Fall werden sie als Larven bezeichnet, bis sie annähernd die Cha- raktere des ausgewachsenen Thieres der betreffenden Species erreicht haben. Es gibt kaum eine Frage von grösserer Bedeutung für den Embryologen als die, welche die Natur der secundären Veränderungen betrifft, die im fötalen oder im Larvenzustande ablaufen; denn von der Beantwortung solcher Fragen hängt unsere Kenntniss von dem Um- fange ab, in welchem wir in der Ent- wicklung eine Urkunde über die Ge- schichte der Vorfahren zu finden er- warten dürfen. Die Principien, welche die Forterhaltung von Variationen re- gieren, die entweder im Larven- oder im fötalen Zustande vorkommen, sind dieselben wie für den ausgewachsenen Zustand. Die dem Ueberleben der Species günstigen Variationen haben eben so grosse Chancen sich fortzu- erhalten, mögen sie in welcher Periode des Lebens immer auftreten, bevor der Verlust des Fortpflanzungsvermögens eingetreten ist. Die mögliche Natur und Ausdehnung der secundären Ver- änderungen, welche in der Entwick- lungsgeschichte der Formen sich geltend gemacht haben, die sei es eine lange Larvenexistenz führen oder in nahezu vollkommenem Zustande geboren wer- den, wird in allererster Linie durch die Natur der günstigen Variationen be- stimmt, welche im einen oder anderen Falle vorkommen können. Wo die Entwicklung eine fötale ist, da können am leichtesten folgende gün- stige Variationen eintreten: 1. Abkürz- ungen und 2. eine Vermehrung in der Menge des für den Gebrauch des sich ent- wickelnden Embryos aufgehäuften Nah- rungsdotters. Abkürzungen kommen zu stande, weil eine directe Entwicklung stets einfacher und daher vortheilhafter 192 D 184 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. ist; und da der Fötus nicht gezwungen ist, vor seiner Geburt ein selbständiges Dasein zu führen, sondern in der Zwi- schenzeit durch Nahrungsdotter oder direct vom mütterlichen Körper ernährt wird, so sind auch keine physiologischen Ursachen vorhanden, welche zu ver- hindern vermöchten, dass die Charaktere jedes beliebigen Entwicklungsstadiums, die nur für eine freie Larve von functioneller Bedeutung wären, aus der Entwicklungsgeschichte verschwinden könnten. Alle äusseren Organe der Locomotion und der Ernährung werden aus diesem Grunde natürlich eine Ten- denz zum Verschwinden oder zur Re- duction in der fötalen Entwicklung zeigen, und eine kurze Ueberlegung macht es einleuchtend, dass auch die V.orfahren- stadien in der Entwicklung des Nerven- und Muskelsystems, der Sinnesorgane und des Verdauungssystems sehr leicht wegfallen oder modificirt werden können, wenn dadurch eine Vereinfachung des ganzen Processes erreichbar ist. Das Circulations- und das Excretionssystem dagegen werden nicht in gleichem Maasse beeinflusst werden, weil beide in der Regel schon während des fötalen Lebens in Thätigkeit sind. Die mechanischen Einflüsse des Nahrungsdotters sind sehr bedeutend und in meinem »Handbuch der Ver- eleichenden Embryologie«* finden sich zahlreiche Beispiele seines Einflusses. Sie machen sich vorzugsweise in den ersten Entwicklungsstadien, d. h. in Hinsicht auf die Form der Gastrula etc. geltend. Die günstigen Variationen, welche bei einer freien Larve vorkommen kön- nen, sind viel weniger eng begrenzt als diejenigen bei dem Fötus. Esfinden sich daher äusserst zahlreiche secun- däre Charaktere bei den Larven und es kann sogar Larven mit ausschliess- ® Deutsche Ausgabe, übersetzt von Prof. Dr. B. Vetter. Jena, Fischer. 1881. lich secundären Charakteren geben, wie z. B. diejenigen der Insecten. Trotzdem die Larven so sehr ge- neigt sind, secundäre Charaktere an- zunehmen, so liegt doch ein mächtiger entgegengesetzter Einfluss, welcher die Forterhaltung der Vorfahren-Charaktere erstrebt, darin, dass die Larven in jedem Stadium ihres Wachsthums durch die Nothwendigkeit gezwungen sind, min- destens diejenigen ÖOrgansysteme in funetionirendem Zustande zu erhalten, welche für ein freies und unabhängiges Dasein wesentlich sind. So kommt es denn, dass trotz der zahlreichen Ur- sachen, welche secundäre Veränderungen. an einer Larve hervorzubringen streben, doch die Wahrscheinlichkeit stets grösser erscheint, dass dieselbe ihre Vorfahren- geschichte in unverkürzter Form wieder- hole, als dies bei dem Embryo der Fall ist, welcher seine Entwicklung innerhalb des Eies durchläuft. Es sei ferner auf den Umstand hin- gewiesen, welcher die relative Erhaltung von Vorfahren-Charakteren durch die Larven begünstigt, dass sich ein secun- däres Larvenstadium in der Entwicklung nicht so leicht wiederholen wird wie ein Vorfahrenstadium, weil ja immer eine lebhafte Tendenz bestehen muss, das erstere, welches nur ein secundär eingeschobenes Glied in der Kette der Entwicklung darstellt, durch Rückkehr zum ursprünglichen Entwicklungstypus wieder ausfallen zu lassen. Die relativen Chancen der Vorfahren- geschichte, im Fötus oder in der Larve forterhalten zu werden, lassen sich kurz in folgenden Worten zusammenfassen: Es besteht eine grössere Wahr- scheinlichkeit, dass die Vorfahren- geschichte verloren gehe, bei Formen, die sich im Ei entwickeln, dagegen dass sie gewissermaassen maskirt werde, bei solchen, die als Larven ausschlüpfen.: Die Zeugnisse der lebenden Formen bestätigen unzweifelhaft die eben aus- gesprochenen, a priori gefolgerten Be- Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. trachtungen*. Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem Studium der Ent- wicklung der Echinodermen, Ne- mertinen, Mollusken, Crusta- ceen und Tunicaten. Die freien Larven der ersten vier Gruppen sind einander viel ähnlicher als die Embryo- nen, welche sich direct entwickeln, und da man nicht annehmen kann, diese Aehnlichkeit beruhe auf dem Umstande, dass die Larven durch ein Leben unter genau gleichen Bedingungen modificirt worden seien, so muss sie ihren Grund in der Forterhaltung gemeinsamer Vor- fahren-Charaktere haben. Was die Tunicaten betrifft, so behalten auch hier die freien Larven viel vollständiger als die Embryonen gewisse Charaktere, die, wie wir bestimmt wissen, ihren Vorfahren zukamen. Larventypen. Obgleich kein Grund zu der An- nahme vorhanden ist, dass sämmtliche Larvenformen vorälterlich sind, so er- scheint doch die Voraussetzung gerecht- fertigt, dass wenigstens eine gewisse Anzahl der bekannten Larventypen den Vorfahren der wichtigsten Stämme des Thierreichs gleichen müsse. Bevor wir die Ansprüche verschie- dener Larven auf eine solche Bedeu- tung im einzelnen untersuchen, müssen wir erst die Art der Variationen, welche bei Larvenformen am ehesten vorkom- men können, etwas ausführlicher be- sprechen. Es ist von vornherein wahrschein- lich, dass es zwei Arten von Larven- formen gibt, die- wir als primäre und secundäre unterscheiden können. Pri- * Es ist schon längst bekannt, dass sich Land- und Süsswasserformen viel häufiger ohne Metamorphose entwickeln, als marine Formen. Dies lässt sich wahrscheinlich durch den Umstand erklären, dass für eine Land- oder Süsswasserspecies nicht dieselbe Mög- lichkeit besteht, sich durch Vermittlung von freien Larven über ein weiteres Gebiet aus- zubreiten, und daher auch ein geringerer 185 märe Larvenformen sind mehr oder weniger abgeänderte Vorfahrengestalten, die sich in ununterbrochener Fortsetz- ung als freie Larven entwickelt haben, von der Zeit an, als sie noch die aus- gewachsene Form der Species repräsen- tirten; secundäre Larvenformen sind solche, die in die Ontogenie von Arten eingeführt worden sind, deren Junge ursprünglich mit allen Charakteren des erwachsenen Thieres ausschlüpften, die aber, sei es, weil sie den Nahrungs- dotter im Ei verloren oder sei es aus irgend einer anderen Ursache, in einer früheren Periode zum Ausschlüpfen ka- men. Solche secundäre Larvenformen können den primären Larvenformen in manchen Fällen gleichen, wo nämlich der Embryo die Vorfahren-Charaktere während seiner Entwicklung innerhalb des Eies noch beibehalten hat; in an- deren Fällen aber sind die ihnen eigen- thümlichen Charaktere wahrscheinlich ausschliesslich durch Anpassung ent- standen. Ueber die Ursachen, welche secundäre Veränderungen bei Larven hervorzurufen streben. — Die Art und Weise, in welcher die natürliche Zuchtwahl auf Larven ein- wirken kann, lässt sich, allerdings mehr oder weniger künstlich, in zwei Classen eintheilen. 1. Die Veränderungen in der Ent- wicklung, welche nothwendigerweise durch die Existenz eines Larvenstadiums erzeugt werden. 2. Die Anpassungsveränderungen einer Larve, die im gewöhnlichen Ver- lauf des Kampfes ums Dasein erworben werden. Vortheil in der Existenz solcher Larven liegt, während anderseits die Thatsache, dass die Larven leichter irgend. welchen Feinden zur Beute fallen als Eier, die entweder verborgen abgelegt oder vom mütterlichen Thier herum- getragen werden, es für eine Species sogar absolut unvortheilhaft machen kann, solche Larven zu besitzen. 186 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Die zur ersteren Gruppe gehörigen Veränderungen bestehen der Hauptsache nach in einer Verschiebung der Reihen- folge der Entwicklung bestimmter Or- gane. Man beobachtet in der Entwick- lung stetseine Tendenz, die Differenzirung der embryonalen Zellen zu bestimmten Geweben auf ein so spätes Stadium hinauszuschieben als immer möglich. Dies geschieht, um zu ermöglichen, dass die Formveränderungen, welche ein jedes Organ durchmacht, indem es selbst in abgekürzter Weise seine phylogenetische Geschichte wiederholt, sich mit dem geringsten Aufwand an lebendiger Kraft vollziehen können. Vermöge dieser Ten- denz kommt es dahin, dass, wenn ein Organismus als Larve auskriecht, viele seiner Organe sich noch in undifferen- zirtem Zustande befinden, obgleich bei der Vorfahrenform, welche durch diese Larve repräsentirt wird, natürlich alle Organe in voller Differenzirung vor- handen waren. Um jedoch die Larve in den Stand zu setzen, als selbstän- diger Organismus zu leben, müssen wenigstens gewisse Organgruppen, wie z.B. die Muskeln, die Nerven und das Verdauungssystem, histologisch differen- zit. sein.) Wird (die Zeit "des Aus- schlüpfens weiter zurückverlegt, so ist eine frühere Differenzirung gewisser Or- gane die nothwendige Folge davon und fast in allen Fällen verursacht dann die Existenz eines Larvenstadiums eine Verschiebung in der Reihenfolge der Entwicklung der Organe, indem die vollständige Differenzirung zahlreicher Gebilde im Verhältniss zu derjenigen des Muskel-, Nerven- und Verdauungs- systems verzögert erscheint. Die möglichen Veränderungen der zweiten Gruppe scheinen geradezu un- begrenzt zu sein. Es gibt, so viel ich ® Die Phosphorescenz zahlreicher Larven ist eine sehr merkwürdige Erscheinung. Man sollte meinen, dass die Phosphorescenz sie viel eher der Gefahr aussetzte, von den For- men, welche sich von ihnen ernähren, ver- sehen kann, absolut keinen Grund, warum sich nicht eine unbestimmte Anzahl von Organen bei Larven ent- wickeln könnte, um sie vor ihren Fein- den zu schützen, sie zum Wett- bewerb mit Larven anderer Species zu befähigen u. s. w. Die einzige Grenze einer solchen Entwicklung scheint in der kurzen Dauer des Larvenlebens zu liegen, welche nicht leicht verlängert werden kann, weil es unter sonst glei- chen Umständen um so besser für die Species ist, je rascher sie den Reife- zustand erreicht. Ein ganz oberflächlicher Ueberblick über die marinen Larven zeigt, dass den meisten von ihnen gewisse Eigen- thümlichkeiten gemeinsam sind, und es ist wichtig, zu bestimmen, inwiefern solche Eigenthümlichkeiten als auf An- passung beruhend angenommen werden dürfen. Beinah alle marinen Larven sind mit wohlentwickelten Locomo- tionsorganen und mit durchsichtigem Körper versehen. Diese beiden Cha- raktere sind aber gerade diejenigen, deren Besitz für solche Larven am be- deutungsvollsten ist. Die Fortbeweg- ungsorgane sind von Wichtigkeit, damit die Larven sich soweit als möglich zer- streuen und so das Verbreitungsgebiet der Species vergrössern können, und die Durchsichtigkeit ist höchst wichtig, um die Larven unsichtbar zu machen und sie dadurch viel weniger der Ge- fahr auszusetzen, von ihren zahlreichen Feinden erbeutet zu werden *®. Diese Betrachtungen, im Verein mit der Thatsache, dass beinah alle frei- schwimmenden Thiere, welche nicht irgend welche anderen besonderen Schutz- mittel besitzen, durchsichtig sind, schei- nen darzuthun, dass in jedem Falle die Durchsichtigkeit der Larven ein An- zehrt zu werden, und es ist in der That schwer einzusehen, was für einen Vortheil sie davon haben können. (Zus. d. Red. Eine Erklärung für das Leuchten vieler Larven zu geben, wurde Kosmos Bd. VII, S.479 versucht.) Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. passungscharakter ist, und ebenso ist wahrscheinlich, dass die Fortbewegungs- organe in vielen Fällen speciell ent- wickelt und nicht von den Vorfahren ererbt sind. Mancherlei dornenartige Fortsätze auf den Larven der Crustaceen und Teleostier sind gleichfalls Beispiele von secundär erworbenen Schutzorganen. Diese allgemeinen Betrachtungen ge- nügen, um eine Grundlage für die Dis- cussion der Charaktere der bekannten Larventypen zu liefern. Die folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung der wichtigsten Lar- venformen: Dicyemidae. mige Larve. Porifera. — a. Die Amphiblastula- Larve (Fig. 1), deren eine Körperhälfte bewimpert, die andere unbewimpert ist; b. die ovale, gleichförmig bewimperte Larve, die entweder solid ist oder die Form einer Blase besitzt. Coelenterata. — Die Planula (Fig. 2). Turbellaria. a. Die ‘ achtarmige Larve von Mütter (Fig. 8 und 9); b. die Larven von GöTTE und METScHNI- KOFF mit gewissen Pilidium-Charakteren. Nemertea. — Das Pilidium (Fig. 7). Trematoda. — Die Üercaria. Rotifera. — Dietrochosphärenartigen Larven von Brachionus (Fig. 3) und Lacinularia. Mollusca. — Die Trochosphärenlarve (Fig. 4) und die darauffolgende Veliger- larve (Fig. 5). Brachiopoda.— Die dreigliedrigeLarve mit postoralem Wimperkranz (Fig. 6). Bryozoa. Eine Larvenform mit einem einzigen Wimperkranz um den Mund und mit aboralem Wimperkranz oder Wimperscheibe (Fig. 15). Chaetopoda. — Verschiedene Larven- formen mit ähnlichen Charakteren wie die Trochosphäre der Mollusken, häufig auch mit besonderen queren Wimper- bändern. Sie werden als Atrochae, Mesotrochae, Telotrochae (Fig. 12. A und Die infusorienför- 187 Fig. 13), Polytrochae und Monotrochae (Fig. 12 B) unterschieden. Gephyreanuda. — Larvenformengleich denen der vorhergehendenGruppen. Eine ganz besonders charakteristische Larve ist die von Echiurus (Fig. 14). Gephyrea tubicola. Actinotrocha (Fig. 17) mit einem postoralen bewim- perten Kranze von Armen. Myriapoda. — Eine functionell sechs- füssige Larvenform ist allen Chilognathen gemeinsam. Insecta. — Verschiedene secundäre Larvenformen. Crustacea. — Der Nauplius und die Zoöa. Echinodermata. — Die Aurieularia (Fig. 10.A), die Bipinnaria (Fig. 10 B) und der Pluteus (Fig. 11) und die mit queren Wimperschnüren versehene Larve der Crinoiden. Die Auricularia, die Bi- pinnaria und der Pluteus lassen sich auf einen gemeinsamen Typus (Fig. 18c) zurückführen. Enteropneusta. — Tornaria (Fig. 16). Urochorda (Tunicata). — Die Kaul- quappen-ähnliche Larve. Ganoidea. — Eine Larve mit Saug- scheibe und Papillen vor dem Munde. Amphibia Anura. — Die Kaulquappe. Von den in dieser Liste aufgezählten Larvenformen besitzt eine gewisse An- zahl jedenfalls keinerlei Verwandtschafts- beziehungen zu Formen ausserhalb der Gruppe, zu welcher sie gehören. Dies gilt für die Larven der Myriapoden, der Crustaceen und der Chordaten. Ich will jedoch in dem vorliegenden Artikel nicht auf eine Discussion der Bedeutung dieser Formen eingehen. Es gibt ferner manche Larvenformen, von denen sich möglicherweise später herausstellen wird, dass sie eine grosse Bedeutung haben, auf die wir aber bei demgegenwärtigen Stande unserer Kennt- niss noch keine Folgerungen bauen kön- nen. Dahin gehören die infusorienförmige Larve der Dicyemidae und die Cercaria der Trematoden. 188 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Nemertinen, der Mollusken, der Bryo- zoen, der Brachiopoden, der Chaeto- poden, der Gephyreen, der Echinodermen und der Enteropneusten übrig. Schliessen wir diese und gewisse andere Fornien »aus, so bleiben zur Be- trachtung die Larven der Coelenteraten, der Turbellarien, der Rotiferen, der Big. dl. Awei-freie Entwicklungsstadien von Sycandra raphanus. (Nach SCHULZE.) A. Amphiblastulastadium. B. Stadium nach Beginn der Einstülpung der bewimperten Zellen. c.s. Furchungshöhle; ec. körnige Epiblastzellen; en. bewimperte Hypoblastzellen. Die Larven dieser Formen lassen | der Coelenteraten oder die Planula, sich in zwei Gruppen eintheilen. Die | die andere die Larven sämmtlicher eine Gruppe umschliesst blos die Larven | übrigen Formen. Fig. 2. .n Q 1 oO r Drei Larvenstadien von Eucope Polysiyla. (Nach KOowALEVSKY.) A. Blastosphärenstadium mit Hypoblastkugeln, welche in die centrale Höhlung hineinsprossen. B. Planulastadium mit solidem Hypoblast. C. Planulastadium mit Gastralhöhle. ep. Epiblast; hy. Hypoblast; al. Gastralhöhle. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Die Planula (Fig. 2) charakterisirt sich durch ihre grosse Einfachheit. Sie ist ein zweiblättriger Organismus mit einer vom Cylinder bis zum Ei variiren- den Form und gewöhnlich mit radiärer Symmetrie. So lange sie in freiem Zu- stande verbleibt, ist sie nicht einmal mit einem Munde versehen, und es ist noch ungewiss, ob man den Mangel eines Mundes als einen Vorfahrencharak- ter betrachten darf oder nicht. Höchst wahrscheinlich jedoch ist die Planula die Vorfahrenform der Coelenteraten. Die Larven beinah aller übrigen Gruppen stimmen, obgleich sie sich in eine Reihe sehr verschiedener Typen eintheilen lassen, doch im Besitz ge- wisser Charaktere mit einander über- ein”. Wir- finden eine mehr oder weniger kuppelförmige Rückenfläche und eine abgeplattete oder concave Ventral- fläche, welche die Mundöffnung enthält und sich gewöhnlich nach hinten bis zur Afteröffnung erstreckt, wenn eine solche vorhanden ist. Die dorsale Kuppel setzt sich über den Mund hinaus fort, um einen grossen präoralen Lappen zu bilden. In der Regel findet sich anfänglich eine gleichförmige Wimperbekleidung, in den späteren Larvenstadien aber entstehen fast immer bestimmte Bänder oder Kränze von langen Wimpern, durch welche die Fortbewegung ausgeführt wird. Diese Wimperkränze werden häufig in armförmige Fortsätze ausge- zogen. ; Der Darmcanal hat in den typischen Fällen die Form einer gekrümmten Röhre mit ventralwärts gewendeter Concavität, welche sich (wenn ein After vorhanden ist) aus drei Abschnitten zusammen- setzt, einem Oesophagus, einem Magen und einem Enddarm. Der Oesophagus und der Enddarm sind epiblastischen ®= Die Larve der Brachiopoden freilich besitzt die meisten der unten erwähnten Charaktere nicht. Gleichwohl ist sie wahr- 159 Ursprungs, während der Magen vom Hypoblast abstammt. Fig. 3. Embryo von Brachionus kurz vor dem Ausschlüpfen. (Nach SALENSKY.) m. Mund; ms. Kau-Apparat; an. After; Id. Sei- tendrüse; ov. Eierstock; t. Schwanz, d. h. Fuss; tr. Wimperscheibe; sg. oberes Schlund- sanglion. Fig. 4. Schematische Darstellung eines Em- bryos von Pleurobranchidium. (Nach LANKESTER.) f. Fuss; ot. Otocyste; m. Mund; v. Velum; ng. Ganglion; ry. Veberreste derDotterkugeln; shs. Schalendrüse; z. Darmeanal. scheinlich nur eine ausserordentlich differen- zirte Larvenform, welche doch zu dieser Gruppe gehört. 190 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Den genannten Charakteren kann noch hinzugefügt werden eine glasartige Durchsichtigkeit und das Vorhandensein eines ziemlich weiten, oft von contractilen Zellen durchzogenen Raumes zwischen dem Darmcanal und der Leibeswand. Ziehen wir die sehr tiefgehenden Unterschiede in Betracht, welche zwi- schen vielen dieser Larven bestehen, so möchte es wohl scheinen, als ob die eben aufgezählten Charaktere kaum ge- nügten, um eine Zusammenstellung der- selben zu rechtfertigen. Man darf je- doch nicht vergessen, dass meine Gründe hiefür ebenso sehr von dem Umstande abhängen, dass sie eine ganze Reihe ohne irgend erhebliche Unterbrechung darstellen, wie von der Existenz von Charakteren, welche ihnen allen ge- meinsam sind. Es ist ferner wohl zu beachten, dass die meisten der Eigen- thümlichkeiten, welche als allen diesen Larven gemeinsam aufgezählt „wurden, nicht solche secundäre Charaktere sind, wie sie (entsprechend den oben an- gestellten Betrachtungen) als Ergebniss des Umstandes erwartet werden dürften, dass die Larven nahezu gleichen Lebens- bedingungen unterworfen sind. Ihre Durchsichtigkeit ist ohne Zweifel ein solcher secundärer Charakter und es ist nicht unmöglich, dass auch das Vorhandensein von Wimperkränzen da- hin gehört, allein dennoch ist es wahr- scheinlicher, dass, wie ich annehme, diese Larven die Merkmale einer ge- wissen Vorfahrenform wiederholen und dass diese zu einer Zeit existirt haben mag, wo noch alle marinen Thiere frei- schwimmend waren, und dass sie dem entsprechend wenigstens mit einem Wimperkranze versehen war. je) S\ . Larven von Gephalophoren-Mollusken im Veliger-Stadium. (Nach GEGENBAUR.) A. und B. Früheres und späteres Stadium eines Gasteropoden. €. Ein Pteropode (Cymbulia). v. Velum; c. Schale; p. Fuss; op. Operculum; t. Tentakel. Die eingehende Betrachtung der Charaktere dieser Larven, wie sie unten folgt, unterstützt diese Ansicht. Diese grosse Ülasse von Larven kann, wie bereits erwähnt wurde, in eine Reihe von kleinen Untergruppen vertheilt werden. Diese Abtheilungen sind folgende: 1. Die Pilidium-Gruppe. Diese charakterisirt sich durch die Lage des Mundes nahe dem Centrum der ven- tralen Fläche und durch den Mangel eines Proktodaeums. Sie umfasst blos das Pilidium der Nemertinen (Fig. 7) und die verschiedenen Larven von ma- rinen Dendrocoelen (Fig. 8 und 9). An der Spitze des präoralen Lappens kann eine Epihlastverdickung vorhanden sein, von welcher (Fig. 19) manchmal ein contractiler Strang zum Oesophagus herabsteigt. 2. Die Echinodermen-Gruppe. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Diese Gruppe (Fig. 10, 11 und 18 C) ist ausgezeichnet durch den Besitz eines längs verlaufenden postoralen Wimper- Larve von Argiope. (Aus GEGENBAUR, nach KOWALEVSKY.) m. Mantel; b. Borsten; d. Archenteron. 197 kranzes, durch den Mangel von beson- deren Sinnesorganen in der präoralen Region und durch die Entwicklung der Leibeshöhle als Ausstülpung aus dem Darmeanal. Es sind die drei typischen Abtheilungen des Darmrohres vorhanden und ebenso ein mehr oder weniger ent- wickelter präoraler Lappen. Diese Gruppe umschliesst blos die Larven der Echinodermen. 3. Die Trochosphären-Gruppe. —- Diese Gruppe (Fig. 12, 13) ist cha- rakterisirt durch den Besitz eines prä- oralen Kranzes von langen Cilien, wäh- rend der davor gelegene Abschnitt einen grossen Theil des präoralen Lappens bildet. Der Mund öffnet sich unmittel- bar hinter dem präoralen Wimperkranz und sehr häufig findet sich parallel dem letzteren ein zweiter Kranz von kurzen Wimpern hinter dem Munde. Die Func- tion des Kranzes von kurzen Wimpern ist ernährender Natur, indem die Wim- Bıeat. Zwei Entwicklungsstadien von Pilidium. ae. Archenteron; oe. Oesophagus; st. Magen; am. (Nach MRTSCHNIKOFF.) Amnion; pr.d. Prostomialscheibe; p0o.d. Metastomialscheibe; c.s. Kopfsack. pern dazu dienen, dem Munde Nahrung | gur 12 A) und bei vielen Formen sind zuzuführen, während die Aufgabe des Hauptkranzes in der Fortbewegung liegt. Häufig findet sich auch ein perianaler Wimperbüschel oder Wimperkranz (Fi- zwischen dem präoralen und perianalen Kranze noch zwischenliegende Kränze entwickelt. Der präorale Lappen ist gewöhnlich 192 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. der Sitz einer besonderen Epiblast- verdickung, aus welcher das obere Schlundganglion des Erwachsenen her- vorgeht. Sehr häufig entwickeln sich auf diesem Lappen Sehorgane in Ver- bindung mit dem oberen Schlundganglion und nicht selten erstreckt sich ein con- tractiler Strang von hier nach dem Oesophagus herab. Der Darmcanal besteht aus den drei typischen Abtheilungen. Die Leibeshöhle entsteht nicht direct als Auswuchs aus dem Darmcanal, obgleich der Process, durch welchen sie sich entwickelt, höchst wahrscheinlich nur eine secundäre Modification der Bildung eines Paares von Darmausstülp- ungen ist. Paarige Excretionsorgane, welche sich sowohl nach aussen als in die Leibeshöhle öffnen, sind vorhanden. Dieser Larventypus findet sich bei den Rotiferen (Fig. 3) (wo er auch im ausgewachsenen Zustande fortdauert), den Chaetopoden und Mollusken (Fig. 4), den Gephyrea nuda (Fig. 14) und den Bryozoen (Fig. 15)*. 4. Tornaria. Diese Larve (Fig. 16) steht hinsichtlich der meisten ihrer Charaktere in der Mitte zwischen den Larven der Echinodermen (ganz besonders der Bipinnaria) und der Trochosphäre. Mit den ersteren stimmt sie überein im Besitz eines longitu- dinalen Wimperkranzes (der in einen präoralen und einen postoralen Kranz zerfällt) und in der Abstammung der Leibeshöhle und der Wassergefässhlase von Divertikeln des Darmcanals; der Trochosphäre dagegen gleicht sie durch das Vorhandensein von Sinnesorganen am präoralen Lappen, durch den Be- sitz eines perianalen Wimperkranzes und eines vom präoralen Lappen zum Oesophagus hinabziehenden eontractilen Stranges. * Eine ausführliche Besprechung des Baues der Bryozoenlarve siehe im „Hand- 5. Actinotrocha. Die merk- würdige Larve von Phoronis (Fig. 17), welche unter dem Namen Actinotrocha bekannt ist, zeichnet sich aus durch Fig. 8. Larve von Eurylepta auriculata, unmittelbar nach dem Ausschlüpfen, von der Seite gesehen. (Nach HALLEZ.) n. Mund. ine, 78). Müller’s Turbellarienlarve (wahr- von scheinlich von Thysanozoon), (Nach der ventralen Fläche gesehen. MÜLLER.) Der Wimperkranz ist durch die schwarze Linie angedeutet. m. Mund; .l. Oberlippe. das Vorhandensein 1. eines postoralen und fast längs verlaufenden Wimper- kranzes, der sich auf die Tentakel fort- setzt, und 2. eines perianalen Kranzes. buch der Vergleichenden Embryologie,“ I. Bd., deutsche Ausgabe, Seite 292 Aue Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung n. Verwandtschaftsbeziehungen. Sie ist mit einem präoralen Lappen und einem terminalen oder etwas dor- sal gelegenen After versehen. Fig. 10. A.LarveeinesHolothuroiden. B.Larve eines Seesterns. m. Mund; st. Magen; a. After; Z.e. primitive longitudinale ‚Wimperschnur; pr.c. präorale Wimperschnur. Fig. 11. Larve von Strongylocentrus. AGASSIZ.) m. Mund; a. After; 0. Oesophagus; d. Magen; (Nach c. Darmrohr; v‘. und v. Wimperwülste w. Wassergefässrohr; r. Kalkstäbchen. 6. Die Larve der Brachiopoda articulata (Fig. 6). Die Verwandtschaftsbeziehungen der eben charakterisirten sechs Larventypen sind Gegenstand zahlreicher Streit- fragen geworden und die folgenden Ver- muthungen über diese Dinge dürfen auch nur als Speculation hingenommen werden. Der Pilidium-Larventypus er- scheint in einigen wichtigen Hinsichten weniger hoch differenzirt als die Larven der fünf anderen Gruppen. Er ent- | | | 195 behrt in erster Linie eines Afters und es liegt kein Grund für die Annahme vor, dass der After hier durch rück- schreitende Veränderungen verloren ge- sangen sei. Nimmt man für den Augen- blick an, dass die Pilidiumlarve in der That den Vorfahrentypus der Larve vollkommener repräsentire als diejenigen der übrigen Gruppen, so haben wir uns zu fragen, was für Merkmale wir hie- durch der Vorfahrenform zuzuschreiben veranlasst werden, welche die Larve wiederholt. In erster Linie scheint diese Vor- fahrenform, von der Figur 18A eine ideale Darstellung gibt, einen kuppel- förmigen Körper mit abgeflachter oraler und gewölbter aboraler Fläche besessen zu haben. Ihre Symmetrie war radiär und im Centrum der abgeplatteten Oral- fläche lag der Mund, während sein äusserer Rand von einem Wimperkranze besetzt war. Der Uebergang einer Pi- lidium-ähnlichen Larve und daher auch, wie man annehmen darf, der von dieser Larve wiederholten Vorfahrenform in die wurmförmige bilaterale Platyel- minthenform erfolgt dadurch, dass die Larve sich in die Länge streckt und der Abschnitt zwischen dem Munde und dem einen Körperende zum präoralen Abschnitt wird, derjenige aber zwischen dem Mund und dem entgegengesetzten Ende sich zum Rumpf entwickelt, wäh- rend bei den höheren Formen am Ende des Rumpfes noch ein After zur Aus- bildung kommt. Wenn das richtig her gefordert haben, diese primitive Form eine sehr grosse Aehnlichkeit mit einem vereinfachten frei schwimmenden Coelenteraten (einer Meduse) hat und dass die Umwandlung einer solchen radiären in die bilaterale Form nicht durch Verlängerung der ab- oralen Fläche und die Bildung eines dort liegenden Afters, sondern durch die ungleiche Verlängerung der oralen Fläche zu stande gekommen: ist, indem ist, was wir bis- so ist klar, dass 194 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. ein vorderer Abschnitt den präoralen Lappen und ein hinterer Abschnitt den Rumpf bildete, während die aborale Fläche zur Rückenfläche wurde. \ PR Fig. 12. Zwei Chaetopodenlarven. (Nach GEGENBAUR.) 0. Mund; z. Darmcanal; «. After; v. präorale Wimperschnur; w. perianale Wimperschnur. I ÜZZERARRIR noron FEIREH NASININ x \ A / I Fig. 13. Polygordius-Larve. (Nach HATSCHEK.) m. Mund; sg. oberes Schlundganglion; nph. Nephridium; me.p. Mesoblaststreifen; an. After; ol. Magen. Diese Anschauung stimmt sehr gut überein mit den anatomischen Aehn- lichkeiten zwischen den Coelenteraten und den Turbellarien* und zeigt, wenn sie richtig ist, dass die ventrale und mediane Lage des Mundes bei vielen Turbellarien in der That die primi- tive ist. * Siehe „Handbuch der Vergleichenden Embryologie,“ Band I, Seite 172 und 184. | In Zusammenhang damit möchte ich auf die Ooleoplana Metschnikowei aufmerksam ma- | chen, eine von Kowalevsky beschriebene Form („Zoologischer Anzeiger“ Nr. 52, p. 140), welche in der That zwischen den Ötenophoren Die oben erwähnte Vermuthung in Betreff des Ueberganges aus der ra- diären in die bilaterale Form unter- scheidet sich durchaus von der meistens Fig. 14. g Larve von Echiurus. (Nach SALENSKY.) m. Mund; an. After; sg. oberes Schlund- ganglion (?). üblichen. LANKESTER”* z. B. gibt die folgende Darstellung von diesem Ueber- gang: »Es ist von verschiedenen Autoren, namentlich aber von Gegenbaur und Haeckel anerkannt worden, dass dem Zustande der bilateralen Symmetrie ein Zustand von radiärer Symmetrie in der Entwicklung des Thierreichs voraus- gegangen sein muss. Man kann sich wohl denken, dass die Diblastula ur- sprünglich absolut kugelförmig mit sphärischer Symmetrie gewesen sei. Die Entstehung eines Mundes führte noth- wendigerweise zur Feststellung einer Structuraxe, welche durch den Mund ging und rings um welche Axe der Körper radiär symmetrisch angeordnet war. Dieser Zustand wird mehr oder weniger vollkommen noch von vielen und den Turbellarien in der Mitte steht. Es scheint mir jedoch nicht genügender Grund vorhanden zu sein, um diese Form nicht ein- fach als ein kriechendes Ütenophor zu be- trachten. ** Quart. Journ. of Mier. Science, Vol. XVII28422293: Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Coelenteraten wiederholt und wird durch Rückbildung von höheren Formen (Echi- nodermen, manche Cirrhipeden, manche Tunicaten) wieder angenommen. Der nächste Schritt ist die Differenzirung einer oberen und einer unteren Fläche in Beziehung zu der horizontalen Lage mit vorn gelegenem Munde, welche der Organismus bei seiner Fortbewegung annahm. Mit der Differenzirung einer oberen und einer unteren Fläche haben sich nothwendigerweise auch eine rechte und eine linke Seite herausgebildet, welche einander gegenseitig ergänzen. Dadurch wird also der Organismus bi- lateral symmetrisch. Auch bei den Coelenteraten fehlt es nicht an An- deutungen dieser bilateralen Symmetrie, allein für alle höheren Thiergruppen bildet sie einen wesentlichen Charakter. Wahrscheinlich vollzog sich die Ent- wicklung eines Abschnittes vor und über dem Munde, welcher das Prosto- mium bildete, gleichen Schrittes mit der Entwicklung der bilateralen Sym- metrie. In den radiär symmetrischen Coelenteraten finden wir sehr häufig eine Reihe von Fortsätzen der Leibes- wandung odervonTentakeln, die gleich- mässig ausgebildet sind, d. h. radiär symmetrisch — rings um den Mund angeordnet, so dass der Mund am Ende der Hauptaxe des Körpers liegt — mit anderen Worten, der Organismus ist »telostomiat«. — Die spätere Grund- form, welche allen andern über den Coelenteraten stehenden Thieren ge- meinsam ist, wird erreicht durch Ver- schiebung dessen, was die Hauptaxe des Körpers bildete, so dass man die- selbe nun als die »enterische« Axe be- zeichnen könnte, während die neue Hauptaxe parallel mit der Ebene der Fortbewegung durch die Rückengegend des Körpers geht und schief zu der enterischen Axe verläuft. Nur einLappen oder ein Auswuchs von den bei den telostomiaten Organismen radiär ange- ordneten Gebilden persistirt nun weiter. 195 Dieser Lappen liegt dorsal über dem Munde und durch ihn läuft die neue Hauptaxe. Dieser Lappen ist das Pro- stomium -und alle die Organismen, welche in solcher Weise eine neue, schief zu der alten Hauptaxe verlaufende Axe entwickeln, kann man prostomiate Thiere nennen. « Fig. 15. Schema einer Bryozoen-Larve. m. Mund; «an. After; st. Magen; s. Wimper- scheibe. Fig. 16. Zwei Entwicklungsstadien von Tornaria. (Nach METSCHNIKOFF.) Die schwarzen Linien stellen die Wimper- schnüre dar. m. Mund; an. After; br. Kiemen- spalte; ht. Herz; c. Leibeshöhle zwischen der splanchnischen und der somatischen Mesoblast- schicht; w. sogenannte Wassergefässblase; v. kreisförmiges Blutgefäss. 196 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Es ergibt sich aus diesem Citat, dass angenommen wird, der aborale Theil des Körpers habe sich verlängert, um den Rumpf zu bilden, während der präorale Abschnitt auf einen der Ten- takel zurückzuführen sei. Bevor wir zu weiteren Betrachtun- gen über die Entstehung der Bilateralia, wie sie der Pilidium-Typus nahelegt, übergehen, müssen wir in eine ge- nauere Vergleichung zwischen unseren Larvenformen eintreten. Actinotrocha. (Nach METSCHNIKOFF.) m. Mund; an. After. Schon die oberflächlichste Betrach- tung der Charaktere dieser Formen macht uns zwei wichtige Züge bemerk- lich, in denen sie von einander ab- weichen, nämlich: 1. In dem Vorhandensein oder dem Mangel von Sinnesorganen auf dem präoralen Lappen. 2. Im Vorhandensein oder dem Man- gel von Auswüchsen aus dem Darm- canal, um die Leibeshöhle zu bilden. Die Larven der Echinodermen und (?) Actinotrocha entbehren der Sinnes- organe im präoralen Lappen, während die übrigen Larventypen mit solchen versehen sind. Darmdivertikel sind charakteristisch für die Larven der Echinodermen und für Tornaria. s Wenn die bereits gezogene Folge- rung, dass nämlich der Urtypus der sechs Larvengruppen von einem radiär gebauten Vorfahren abstamme, richtig ist, so scheint daraus zu folgen, dass auch das Nervensystem, insoweit es überhaupt schon differenzirt war, ur- sprünglich eine radiäre Form besass, und ebenso ist es wahrscheinlich zu- treffend, dass Darmdivertikel in Form von Radiärcanälen bestanden, von denen nur zwei den paarigen Divertikeln den Ursprung gegeben haben mögen, welche bei höheren Typen, wie den Echino- dermen, zur Leibeshöhle werden. Räumt man diese beiden Punkte ein, so er- geben sich ohne weiteres als fernere Schlüsse: 1. dass das Ganglion und die Sinnesorgane des präoralen Lappens secundäre Gebilde sind, die (vielleicht als Differenzirungen des ursprünglichen kreisförmigen Nervenrings) nach der Annahme einer bilateralen Form ent- standen; und 2. dass der Mangel dieser Organe bei den Larven der Echino- dermen und bei Actinotrocha (?) darauf hinweist, dass diese Larven insofern wenigstens noch ursprünglichere Cha- raktere behalten haben als Pilidium. Dasselbe gilt von den Darmdivertikeln. Wir haben somit genügende Andeutun- gen dafür, dass die Echinodermenlarven in zwei wichtigen Punkten von ursprüng- 'licherer Beschaffenheit sind als Pilidium. Aus den eben erwähnten Folgerun- gen in Bezug auf Pikdium und die Echinodermen ergeben sich allerdings einige nicht unerhebliche Schwierig- keiten und sie bieten Anlass zur Dis- cussion einiger anderer Punkte. In erster Linie ist bemerkenswerth, dass die obigen Speculationen es wahr- scheinlich machen, dass der Typus des Nervensystems, von welchem derjenige bei den ausgewachsenen Thieren der Echinodermen, Platyelminthen, Chaeto- poden, Mollusken etc. abgeleitet werden kann, ein circumoraler Ring war gleich ' demjenigen der Medusen, mit welchem Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. radiär angeordnete Sinnesorgane in Zu- sammenhang standen, und dass bei den Echinodermen diese Form des Nervensystems sich forterhalten hat, während sie bei den anderen Typen sich modificirte, indem im vor- 197 deren Körperabschnitt obere Schlund- ganglien und Sehorgane auftraten, wel- che in Folge der Annahme einer bila- teralen Symmetrie und der daraus ent- springenden Nothwendigkeit, dass die Sinnesorgane am Vorderende des Körpers B sz Fig ker Drei schematische Darstellungen der idealen Entwicklung verschie- dener Larvenformen. A. Ideale Vorfahren-Larvenform. B. Trochosphärenlarve. C. Echinodermenlarve. m. Mund; an. After; st. Magen; s.g. oberes Schlundganglion. Die schwarzen Linien stellen die Wimperschnüre dar. ihre Lage hatten, gebildet wurden. Wenn diese Anschauung richtig ist, so entsteht die Frage, inwieweit der hintere Abschnitt des Nervensystems der Bilateralia als von dem ursprünglichen radiären Ring ableitbar betrachtet werden darf. Aus einem circumoralen Nervenring kann, wenn er sich in die Länge streckt, ein Paar von Nervensträngen entstehen, die vorn und hinten in einander über- gehen — genau ein solches Nerven- system, wie es thatsächlich bei vielen Nemertinen* (den Enopla und Pelagone- mertes), bei Peripatus** und bei primi- tiven Molluskentypen (Chiton, Fissu- rella ete.) vorkommt. Von den seit- lichen Theilen dieses Ringes lässt sich der ventrale Nervenstrang der Chaeto- *® Siehe Hubrecht, „Zur Anat. und Phys. d. Nervensystems der Nemertinen“. Kon. Akad. d. Wet. Amsterdam; und „Re- searches on the Nervous-System of Nemer- Kosmos, V, Jahrgang (Bd. IX). poden und Arthropoden leicht ableiten. Es verdient ganz besonders in Zusam- menhang mit dem Nervensystem der Nemertinen und des Peripatus beachtet zu werden, dass die die beiden Nerven- stränge hinten verbindende Commissur auf der Dorsalseite des Darmes ge- iegen ist. Wie sich aber sofort bei einem Blicke auf unsere schematische Figur (Fig. 18) ergibt, ist dies die Lage, welche die Commissur zweifellos haben muss, wenn sie von einem Theile des Nervenrings abstammt, der ursprüng- lich mehr oder weniger dicht dem be- wimperten Rande des Körpers des an- genommenen radiären Vorfahren folgte. Die Thatsache, dass man diese An- ordnung des Nervensystems bei einem tines“, Quart. Journ. of Mier. Science. 1880. #=# Siehe Balfour, „On some Points in the Anat. of Peripatus capensis“. Quart. Journ. of Mier. Science, Vol. XIX, 1879. 14 198 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. so ursprünglichen Typus wie den Ne- mertinen vorfindet, scheint mir die hier vorgetragenen Ansichten wesentlich zu unterstützen; der Mangel oder die un- vollkommene Entwicklung der zwei Längsstämme bei den Turbellarien an- derseits mag wahrscheinlich darauf be- ruhen, dass in dieser Gruppe der hin- tere Theil des Nervenringes rückgebil- det wurde. * Es ist allerdings keineswegs sicher, dass diese Anordnung des Nervensystems, wie sie auch bei manchen Mollusken und bei Peripatus vorkommt, primitiver Natur ist, obgleich es wahrscheinlich so sein mag. Bei den Larven der Turbellarien ist die Entwicklung von Sinnesorganen im präoralen Abschnitt sehr deutlich (Fig. 9), aber viel weniger ersichtlich ist dies Rie. 19. > . . ” “ 0 D ” oO r * A. Pilidium mit ziemlich ausgebildetem Nemertinen. Nemertes in der Lage, welche er im Pilidium einnimmt. (Beide nach BÜTscHLı.) oe. Vesophagus; st. Magen; i. Darm; pr. Rüssel; I.p. Seitengrube; an. Amnion; n. Nervensystem. bei dem eigentlichen Pilidium. Hier (Fig. 19 A) findet sich eine Epiblast- verdickung in der Spitze der dorsalen Kuppel, die nach Analogie von Mitra- ria etc. (Fig. 20) der Verdickung im präoralen Lappen zu entsprechen scheint, B. Reifer Embryo von welche dem oberen Schlundganglion den Ursprung gibt; allein in Wirklichkeit geht ja dieser Theil der Larve offenbar nicht in die Bildung des jungen Nemer- tinen ein (Fig. 19). Die eigenthüm- liche Metamorphose, welche in der Ent- Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. wicklung des Nemertinen aus dem Pili- dium* Platz greift, könnte uns vielleicht schliesslich eine Erklärung dieser That- sachen liefern, allein für den Augen- blick bleibt sie noch als eine unerklär- liche Schwierigkeit bestehen. 199 Die Lage der Geissel bei Pilidium und des oberen Schlundganglions bei Mitraria (Fig. 20) legt uns eine andere Ansicht über die Entstehung des oberen Schlundganglions nahe, als wie sie oben wurde. Die Lage des angenommen Eig. 20! Zwei Entwicklungsstadien von Mitraria. . Mund; an. After; sg. oberes Schlundganglion; br. (Nach MRTSCHNIKOFF.) provisorische Borsten; pr.b. präorale Wimper schnur. Ganglions bei Mitraria entspricht näm- lich genau derjenigen des Gehörorgans bei den Ötenophoren, und es ist nicht unmöglich, dass die beiden Gebilde einen gemeinsamen Ursprung gehabt haben. Ist diese Ansicht richtig, so müssen wir annehmen, dass die Spitze des aboralen Lappens zum Centrum des präoralen Feldes bei Pilidium und den Trochosphärenlarvenformen geworden sei”*. Allerdings sind alle diese Fragen in Betreff des Nervensystems noch in gros- ses Dunkel gehüllt, und bevor nicht fernere Thatsachen an’s Licht gebracht sind, dürfen wir auch zu keinen bestimm- ten Folgerungen zu gelangen erwarten. * Siehe mein „Handbuch der Vergleichen- den Embryologie“, I. Band, S. 196. #® Dje gesonderte Entstehung des oberen Schlundganglions und der Bauchganglienkette Der Mangel von Sinnesorganen im präoralen Lappen der Echinodermen- larven, verbunden mit dem Bau des Nervensystems bei dem fertigen Thiere, weist auf die Annahme hin, dass das ausgewachsene Eehinoderm seine ra- diäre Symmetrie wirklich ererbt und nicht, wie man gewöhnlich annimmt, secundär erworben hat; und wird dies eingeräumt, so folgt daraus, dass auch die deutliche bilaterale Symmetrie der Echinodermenlarven ein secundärer Cha- rakter ist. Die bilaterale Symmetrie vieler Coe- lenteratenlarven (der Larve von Aegi- nopsis, von vielen Acraspeden, von bei den Chaetopoden (siehe Kleinenberg „Entwicklung von Lambrieus trapezoides‘ ‘) stimmt in sehr befriedigender Weise mit dieser Anschauung überein. 14* 200 PBalfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Actinia ete.), zusammengehalten mit der Thatsache, dass eine solche bilaterale Symmetrie offenbar für eine freischwim- mende Form von Vortheil ist, genügt vollständig, um zu zeigen, dass diese Annahme keineswegs ungereimt ist, während anderseits das Vorhandensein von nur zwei Darmdivertikeln bei den Echinodermenlarven durchaus mit dem Besitz eines einzigen Paares von peri- gastrischen Kammern in der jüngsten Actinia-Larve übereinstimmt, — obgleich zugegeben werden muss, dass die Ab- stammung des Wassergefässsystems vom linken Darmdivertikel nach dieser Auf- fassung nicht leicht zu begreifen ist. Eine Schwierigkeit für die obige Speculation erwächst uns aus dem Um- stande, dass der After der Echinodermen den bleibenden Blastoporus repräsentirt und früher als der Mund entsteht. Wenn diese Erscheinung irgend welche Be- deutung hat, so erscheint es schwierig, die Larve der Echinodermen und die- jenigen der übrigen Typen als irgend- wie mit einander verwandt anzusehen; allein wenn man sich den bereits in einem früheren Artikel über die Keim- blätter ausgesprochenen Ansichten in Bezug auf die geringe Bedeutung des Blastoporus anschliesst, so kann uns die Thatsache, dass der After mit dem Blastoporus zusammenfällt, keine wei- tere Schwierigkeit bereiten. Wie aus einem Blick auf die Figur 15C ersicht- lich ist, liegt der After auf der Dorsal- seite des Wimperkranzes. Diese Lage des Afters passt sehr gut zu der Auf- fassung, dass die Echinodermenlarve ursprünglich eine radiäre Symmetrie besass und dass ihr After auf der ab- oralen Spitze lag, während die gegen- wärtige terminale Lage des Afters mit der Verlängerung der Larve bei An- nahme einer bilateralen Symmetrie zu stande kam. Es sei noch bemerkt, dass die Un- klarheit, welche durch den Mangel einer Leibeshöhle bei den meisten ausgewach- senen Platyelminthen hervorgerufen wird und die ich bereits in einem Artikel über die Keimblätter besprochen habe, sich hier abermals geltend macht, und dass wir nothwendigerweise annehmen müssen, die Darmdivertikel seien ent- weder ursprünglich gleichwie bei den Echinodermen, so auch bei den Platyel- minthen vorhanden gewesen, seien je- doch nun aus der Ontogenie dieser Gruppe verschwunden, oder aber, die- selben hätten sich hier gar nicht vom Darmcanal abgeschnürt. Bis jetzt sind wir also zu dem Schluss gelangt, dass der Urtypus der sechs Larventypen eine radiäre Form war und dass demselben unter den lebenden Larven in der allgemeinen Form und in der Bildung des Darm- canals die Pilidium-Gruppe und in ge- wissen anderen Eigenthümlichkeiten die Echinodermenlarve am nächsten kommt. Der Rand der oralen Scheibe des Urtypus der Larven war wahrscheinlich mit einem Wimperkranze ausgestattet, von dem sich der Wimperkranz des Pilidium-Typus und der Echinodermen vermuthlicherweise ableitet. Der Wim- perkranz des Pilidium zeigt sehr wech- selnde Charaktere und hat keineswegs immer die Form eines geschlossenen Ringes. Bei dem eigentlichen Pili- dium (Fig. 19 A) ist es ein einfacher Kranz, welcher den Rand der oberen Scheibe umgibt. Bei Müuter’s Larve von Thysanozoon (Fig. 9) neigt er sich gegen die Axe der oralen Scheibe und könnte präoral genannt werden, wenn ein solcher Ausdruck überhaupt bei Abwesen- heit eines Afters gebraucht werden dürfte. Der Wimperkranz der Echinodermen liest gleichfalls schief zur Körperaxe und muss, weil er ventral vor dem After vörüberläuft, als postoraler Kranz bezeichnet werden. In nächster Linie haben wir sodann die Verwandtschaftsbeziehungen der übrigen Larventypen zu diesen beiden Formen in’s Auge zu fassen. Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. Der wichtigste unter sämmtlichen. Larventypen ist die Trochosphäre und dieser Typus ist zweifellos dem Pilidium näher verwandt als der Echinodermen- larve. Mitraria unter den Chaetopoden (Fig. 20) hat in der That die Form des Pilidium ziemlich getreu bewahrt und unterscheidet sich von diesem we- sentlich nur durch den Besitz eines Afters und von provisorischen Borsten; dasselbe gilt auch von Cyphonautes unter den Bryozoen. Die Existenz dieser beiden Formen scheint zu beweisen, dass der präorale Wimperkranz der Trochosphäre sehr wahrscheinlicherweise unmittelbar von dem circumoralen Wimperkranze des Pilidium abzuleiten ist, während die übrigen Wimperkränze oder Wimper- büschel der Trochosphäre einen secun- dären Ursprung haben. Die Larve der Brachiopoden (Fig. 6) ist ungeachtet ihres eigenthümlichen Charakters aller Wahrscheinlichkeit nach der Trochosphäre der Chaetopoden näher verwandt als irgend einem anderen Larventypus. Die wichtigste Ueberein- stimmung zwischen beiden scheint je- doch in dem gemeinsamen Besitz von provisorischen Borsten zu liegen. Die Echinodermenlarven unterschei- den sich von der Trochosphäre nicht allein in den bereits erwähnten Punkten, son- dern auch im Charakter ihrer Wimper- schnur. Diese ist longitudinal und postoral. Wie soeben erwähnt, ist Grund zu der Annahme vorhanden, dass die präorale Schnur der Trochosphäre und die postorale Schnur der Echinodermen- larve beide von einem Wimperkranze abstammen, welcher die ‘Mundscheibe des Urtypus dieser Larven umgab (siehe Fig. 7). Bei den Echinodermen muss sich der After an der dorsalen Seite dieses Kranzes, bei der Trochosphäre dagegen an der Ventralseite gebildet haben und so kam es zu der ab- weichenden Lage der beiden Kränze. Gegenbaur und Lankester haben 201 allerdings eine andere Ansicht über diese Kränze ausgesprochen, welche dahin geht, dass der präorale Kranz von dem Zerfall der einfachen Wimper- schnur der meisten Echinodermenlarven in die beiden Kränze herrühre, welche man bei Bipinnaria (siehe Fig. 10) findet. Es spricht allerdings manches für diese Entstehung des präoralen Kranzes und das Verhalten von Tor- naria trägt zur Stütze dieser Ansicht bei; allein die oben erwähnte Auffassung kommt mir doch wahrscheinlicher vor. Actinotrocha (Fig. 17) stimmt zweifel- los viel mehr mit den Echinodermen- larven als mit der Trochosphäre über- ein. Ihr Wimperkranz hat dieselbe Beschaffenheit und die Entstehung einer Reihe von Armen längs des Verlaufes des Wimperkranzes ist der Erscheinung sehr ähnlich, welche bei vielen Echino- dermen stattfindet. Ihre Verwandtschaft mit den Echinodermenlarven spricht sich ferner auch in dem Mangel von Sinnes- organen am präoralen Lappen aus. Tornaria (Fig. 16) lässt sich nicht bestimmt weder mit der Trochosphäre noch mit dem Echinodermenlarventypus vereinigen. Sie hat wichtige Merkmale mit diesen beiden Gruppen gemein und die Vermischung dieser Charaktere macht sie gerade zu einer sehr auffallenden und wohl differenzirten Larvenform. Phylogenetische Folgerungen. Endlich haben wir noch die phylo- genetischen Folgerungen, welche sich aus den oben vorgetragenen Ansichten ergeben, zu erörtern. Die Thatsache, dass alle Larven der über den Coelen- teraten stehenden Gruppen sich auf einen gemeinsamen Typus zurückführen lassen, weist darauf hin, dass alle hö- heren Gruppen von einer einzigen Stamm- form ausgegangen sind. Ziehen wir in Betracht, dass die Larven von verhältnissmässig nur we- nigen Gruppen sich forterhalten haben, so darf man aus dem Mangel von Larven 202 Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. keinen Rückschluss auf die Verwandt- schaftsverhältnisse machen, während anderseits das Vorhandensein einer gemeinsamen Larvenform bei zwei Grup- pen als Beweis für eine gemeinsame Abstammung betrachtet werden darf, obgleich daraus noch nicht nothwendig irgend welche nähere Verwandtschaft hervorgeht. Wir dürfen mit vollem Rechte an- nehmen, dass die Typen mit einer Trochosphärenlarve, nämlich die Roti- feren, die Mollusken, die Chaetopoden, die Gephyreen und die Bryozoei, von einer gemeinsamen Vorfahrenform ab- stammen, und ebenso ist es ziemlich sicher, dass diese Formen und die Pla- tyelminthen einen noch entfernteren gemeinsamen Vorfahren besassen. Auch eine allgemeine Verwandtschaft der Brachiopoden mit diesen Typen ist sehr wahrscheinlich. Alle diese Gruppen nun nebst jedem anderen Typus, für den sich eine nähere Beziehung zu diesen nachweisen lässt, stammen von einem bilateralen Vorfahren ab. Die Echino- dermen anderseits leiten sich wahr- scheinlich direct von einem radiären Vorfahren her und haben mehr oder weniger vollständig ihre radiäre Sym- metrie beibehalten. Inwiefern Actino- trocha* mit den Echinodermenlarven verwandt ist, lässt sich noch nicht be- stimmen. Ihre Charaktere sind mög- licherweise secundärer Natur, gleich denen der mesotrochen Chaetopoden- larven, sie können aber auch dar- auf beruhen, dass sie sich sehr früh von dem Stamme abgezweigt hat, wel- cher sämmtlichen über den Coelen- teraten stehenden Formen gemeinsam ist. Die Stellung von Tornaria ist noch weniger klar. Es ist schwer, angesichts ihrer eigenthümlichen Wassergefässblase mit Rückenporus dem Schlusse auszu- weichen, dass sie eine gewisse Ver- ® Es ist sehr wahrscheinlich, dass Pho- ronis keinerlei nähere Beziehungen zu den übrigen Gephyreen besitzt. wandtschaft mit den Echinodermenlarven besitzt. Eine solche Verwandtschaft nun würde entsprechend den in diesem Ar- tikel befolgten Anschauungen beweisen, dass ihre Beziehungen zu der Trocho- sphäre, so auffallend sie auch sein mögen, doch nur secundär und durch Anpassung entstanden sind. Aus dieser Annahme, falls sie berechtigt ist, würde dann folgen, dass die Echinodermen und Enteropneusten einen gemeinsamen entfernten Vorfahren besassen, ohne dass jedoch die beiden Gruppen in anderer Weise näher mit einander ver- wandt wären. Allgemeine Schlüsse und Zu- sammenfassung. — Indem wir von dem Nachweis der Thatsache ausgingen, dass die Larvenformen einer grossen Anzahl von ausserordentlich verschie- denen Typen, die über den Coelenteraten stehen, gewisse Merkmale mit einander gemein haben, wurde der Versuch unter- nommen, 1. die Charaktere des gemein- samen Urtypus aller dieser Larven und 2. die gegenseitigen Beziehungen der fraglichen Larvenformen zu einander zu bestimmen. Dieser Versuch stützte sich auf gewisse mehr oder weniger annehm- bare Voraussetzungen, deren Richtigkeit sich nur daran prüfen lässt, ob die daraus folgenden Resultate unter sich zusammenhängen und ob sie im stande sind, alle Thatsachen zu erklären. Die dabei erreichten Resultate lassen sich folgendermaassen zusammenfassen: 1. Die über den Coelenteraten ste- henden Larvenformen können in die Seite 190—193 aufgezählten sechs Grup- pen eingetheilt werden. 2. Der Urtypus aller dieser Gruppen war ein in gewissem Grade einer Me- duse ähnlicher Organismus mit radiärer Symmetrie. Der Mund desselben lag in der Mitte einer abgeplatteten Ven- tralläche. Die aborale Fläche war kuppelförmig. Rings um den Rand der oralen Fläche verlief ein Wimperkranz und wahrscheinlich auch ein Nervenring, Balfour, Larvenformen, ihre Natur, Entstehung u. Verwandtschaftsbeziehungen. der mit Sinnesorganen ausgestattet war. Der Darmcanal verlängerte sich in zwei oder mehrere Divertikel; ein After war nicht vorhanden. 3. Die bilateral-symmetrischen Typen gingen nun aus dieser Larvenform her- vor, indem die Larve eiförmig wurde und der vor dem Munde liegende Ab- schnitt einen präoralen Lappen, der hinter dem Munde liegende aber den Rumpf bildete. Die aborale Kuppel wurde zur Rückenfläche. Mit der Entstehung der bilateralen Symmetrie entwickelte sich der vorderste Abschnitt des Nervenringes zu den oberen Schlundganglien und den damit zusam- menhängenden Sehorganen. Die Leibes- höhle bildete sich aus zweien der ur- sprünglichen Darmdivertikel. Die gewöhnliche Ansicht, dass ra- diäre Formen durch Verlängerung der aboralen Kuppel zum Rumpfe bilateral geworden seien, ist wahrscheinlich un- richtig. 4. Pilidium ist diejenige Larvenform, welche die Charaktere des Urtypus der Larve im Laufe ihrer Umbildung in eine bilaterale Form am getreuesten repro- dueirt. 5. Die Trochosphäre ist eine schon vollständig differenzirte bilaterale Form, bei welcher ein After zur Ausbildung gelangt ist. Der präorale Wimperkranz der Trochosphäre leitet sich wahrschein- lich vom Wimperkranz des Pilidium ab, welcher selbst nichts weiter als der ursprüngliche Wimperkranz des Urtypus aller dieser Larvenformen ist. 6. Die Echinodermenlarven zeigen durch den Mangel eines Ganglions oder specieller Sinnesorgane im präoralen Lappen und durch den Besitz von Darm- divertikeln, aus denen die Leibeshöhle hervorgeht, dass sie gewisse Merkmale (des ursprünglichen Larventypus bewahrt haben, welche bei Pilidium verloren gegangen sind. Der Wimperkranz der Echinodermenlarven stammt wahrschein- lich direct von demjenigen des Urtypus 205 ab, indem an der dorsalen Seite des Kranzes ein After entstanden ist. Der- selbe lag ursprünglich jedenfalls auf der aboralen Spitze. Die ausgewachsenen Echinodermen haben wohl die radiäre Symmetrie der Formen, von denen sie abstammen, unverändert bewahrt, und ebenso leitet sich ihr Nervenring wahrscheinlich direct von demjenigen ihrer Vorfahren ab. Sie haben also nicht, wie man gewöhn- lich annimmt, ihre radiäre Symmetrie erst erworben. Die bilaterale Symme- trie ihrer Larven anderseits ist nach dieser Ansicht secundärer Natur, gleich derjenigen so vieler Coelenteraten- larven. 7. Die Punkte, in welchen Tornaria mit 1. der Trochosphäre und 2. den Echinodermenlarven übereinstimmt, be- ruhen wahrscheinlich in dem einen oder andern Falle auf Anpassung, und wäh- rend es nicht schwierig zu verstehen ist, dass die ersteren in der That auf Anpassung zurückzuführen sind, scheint der Besitz einer Wassergefässblase mit hückenporus eine wirkliche Verwandt- schaft mit den Echinodermenlarven wahr- scheinlich zu machen. 8. Es ist bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntniss nicht mög- lich, zu entscheiden, inwiefern die Aehn- lichkeiten zwischen Actinotrocha und den Echinodermenlarven auf Anpassung beruhen oder primärer Natur sind. Die Mehrzahl dieser Folgerungen ist zweifellos sehr speculativer Art, allein wenn sie auch nicht als ein Theil der Grundlagen der embryologischen Wissenschaft betrachtet werden können, so dienen sie doch nichtsdestoweniger dazu, den weiteren embryologischen Forschungen in wichtigen Fragen eine bestimmte Richtung zu geben. Eine ge- naue histologische Untersuchung der in diesem Artikel besprochenen Larven- formen würde höchst wahrscheinlich zu sehr werthvollen Resultaten führen. Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von Dr. Hermann Müller. Hunderte von Blumen der verschie- densten Formen und Anpassungsstufen, von den offenen, regelmässigen Pollen- blumen des Leberblümchens und Hain- windröschens bis zu den langröhrigen, honigreichen Hummel- und Schwärmer- blumen der Goldnessel und des Gais- blattes, entfalten Sommer für Sommer auch in den sterileren Gegenden Deutsch- lands ihre Reize, machen sich durch mannigfache Farben und Düfte bemerk- bar, bieten Blüthenstaub oder zugleich auch Honig feil und locken dadurch einen weiteren oder engeren Kreis ge- flügelter Besucher herbei, die ihnen als Entgelt für die Nahrungsspende den im Kampf ums Dasein entscheidenden Vor- theil einer Kreuzung mit getrennten Stöcken gewähren. Hunderte geflügelter Sechsfüssler, ebenso verschieden an körperlicher und geistiger Ausrüstung wie an Abstammung und Lebensgewohn- heit, suchen die feilgebotene Blumen- nahrung auszubeuten, wo und wie sie können, und machen sie sich in den verschiedensten Graden von Geschick- lichkeit und Eıfolge zu nutze. Kerfe und Blumen treten dabei in mannig- fachste Wechselwirkung und bieten nach beiden Seiten hin — selbst dem Be- wohner des norddeutschen Tieflandes — einen fast unerschöpflichen Reich- thum von Lebenserscheinungen dar, die der vollsten Aufmerksamkeit sowohl der Botaniker als der Entomologen wohl werth sind. *= H.Müller, Die Befruchtung der Blumen ‘ durch Insekten. Leipzig 1873. S. 28—58. Die Blumenwelt hat auch wirklich, seitDarwins bahnbrechender Entdeckung des Vortheils der Kreuzung, die ver- diente Beachtung gefunden und nicht nur immer zahlreichere Beobachter zu Einzeluntersuchungen von den neuen Gesichtspunkten aus angereizt, sondern auch umfassendere Bearbeitungen im Sinne der Entwickelungslehre erfahren. Von den Anpassungen der Insekten an die Entwickelung der Blumennahrung dagegen wurden bis jetzt nur die kör- perlichen Ausrüstungen einer ersten, auf die wesentlichsten Züge sich be- schränkenden Bearbeitung” unterworfen. Der stufenweise Fortschritt der Insek- ten zu immer höherer Plumenthätigkeit, der biologische Theil der Aufgabe, wurde als besonderer Forschungsgegenstand noch nicht einmal versuchsweise in An- griff genommen. Wohl finden sich in meinen beiden grösseren Blumenwerken** Tausende von Einzelbeobachtungen über die Thätigkeit der Insekten an den Blumen aufgespeichert. Aber bei An- stellung dieser Beobachtungen hatte ich in erster Linie immer nur als Ziel im Auge, die Anpassungen der Blumen an ihre Kreuzungsvermittler festzustellen, und nur zu diesem Zwecke wurden in jenen beiden Werken die gesammelten Insektenbeobachtungen verwerthet. Wenn nun eine ähnliche Fülle von Einzelbeobachtungen auch in Bezug auf alle einzelnen Züge im Benehmen der Blumengäste gesammelt, gesichtet und #® Dasselbe und „Alpenblumen“, Leip- zie 1881. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. von den verschiedensten Gesichtspunk- ten aus überblickt würde, sollte es dann nicht möglich sein, auch ein Verständ- niss jener flüchtigen Erscheinungen der Blumenthätigkeit der Insekten zu ge- winnen, die uns in ihrer endlosen Man- nigfaltiskeit zunächst als ein unfassbares Chaos von Räthseln entgegentreten? Ohne Zweifel können ja diese Lebens- erscheinungen seitens der Insekten nur einerseits durch ererbte Fähigkeiten, Gewohnheiten und Triebe, andererseits durch selbsterworbene Erfahrungen und Uebungen bedingt sein, und aus ein- gehenden biologischen Beobachtungen der Blumengäste wird sich gewiss in vielen Fällen mit Bestimmtheit erkennen lassen, wie viel von ihren Thätigkeiten sie der Ererbung (dem Instinkt), wie viel dagegen der eigenen Gewöhnung und der Verwerthung eigener Erfah- rungen verdanken. Gelänge es dann, mittelst zahlreicher derartiger Feststel- lungen, von den niedersten bis zu den höchsten Blumenleistungen der Insekten eineReihe von Abstufungennachzuweisen, derenjede ausder vorhergehenden begreif- bar wäre, so würden wir auch auf diesem Gebiete die complicirtesten Erscheinun- gen aus den einfachsten verstehen lernen. Mit solchen allgemeinen Andeutungen ist aber natürlich nicht viel gewonnen; sie können nicht einmal den anzustel- lenden Einzelbeobachtungen die Rich- tung anweisen. Um eine fruchtbare Bearbei- tung des neuen Forschungsge- bietes anzubahnen, ist es viel- mehr nöthig, die einzelnen ins Auge zu fassenden Zielpunkte so weitalsmöglichklarzulegen und die bereits vorliegenden Beobachtungen zur Beleuchtung derselben zu verwerthen. Diese Aufgabe habe ich in einer demnächst zu veröffentlichenden Arbeit zu lösen versucht, von der ich einzelne Abschnitte, die mir ein allgemeineres Interesse zu verdienen scheinen, hier mittheile. 205 Wie sollen wir es anfangen, um der Lösung des Räthsels, welches die Leist- ungen der hochintelligenten Bienen und Hummeln, der erstaunlich schnellen Schwärmer bei ihren Blumenbesuchen uns darbieten, näher zu treten? Um irgend welchen hoch complieirten Organismus verstehen zu'lernen, suchen wir ihn in seinem Werden zu erfassen, indem wir die individuelle Entwicke- lungsgeschichte, die Paläontologie und den Vergleich der jetzt noch auf ver- schiedener Entwickelungshöhe neben einander existirenden Organismen des- selben Verwandtschaftskreises zu Rathe ziehen. In Bezug auf die Entstehungs- geschichte derjenigen Fähigkeiten aber, die in den wunderbaren Leistungen hoch- begabtester Blumengäste zu Tage treten, nachdem sie kaum erst ihre Puppen- hülle verlassen haben, bleiben uns indivi- duelle Entwickelungsgeschichte und Pa- läontologie der Natur der Sache nach für ewig stumm. Als einziger Weg, dem Ziele, soweit es überhaupt mög- lich ist, näher zu kommen, bleibt uns also nur übrig, solche Blumenbesucher desselben Verwandtschaftskreises, die in Bezug auf ihre Tüchtigkeit in der Be- handlung der Blumen auf verschiedener Entwickelungshöhe stehen, vergleichend ins Auge zu fassen. Mit welchem Verwandtschaftskreise, mit welcher Insektenabtheilung sollen wir da den Anfang machen? Jedenfalls mit derjenigen, die uns die ausgiebigste Gelegenheit bietet, den ersten Ueber- gang zur Blumennahrung und die ersten Schritte der Vervollkommnung in Bezug auf Gewinnung derselben zu beobachten. Es kann keinen Augenblick zweifelhaft bleiben, dass dies die Käfer sind. - Geradflügler, Netzflügler und Wan- zen bieten uns nur die ersten Anfänge des Ueberganges zu regelmässigem Blu- menbesuche dar, ohne uns auch nur einen Schritt ‚weiter zu führen; das ge- sammte Beobachtungsmaterial, das sie | bis jetzt geliefert haben, ist überdies 206 viel zu spärlich, als dass wir darauf irgend wie fussen könnten. Fliegen, Bienen und Falter zeigen, wie in ihrer körperlichen Organisation, so auch in ihrer geistigen Tüchtigkeit, wohl viel höhere Anpassungen an die Gewinnung der Blumennahrung als die Käfer, lassen aber, wenigstens nach den bis jetzt vor- liegenden Beobachtungen, gerade die ersten Anfänge gewonnener Blumen- tüchtigkeit weniger deutlich. erkennen. In der Ordnung der Käfer dagegen sehen wir in sehr verschiedenen Familien mit verschiedenster vegetabilischer oder ani- malischer Kost gewisse Arten die Blu- mennahrung vollständig verschmähen, andere sie zufällig oder gelegentlich aufsuchen, noch andere sie ausschliess- lich benutzen und finden zwischen diesen verschiedenen Verhaltungsweisen die all- mählichsten Uebergänge; hier am ersten dürfen wir daher auch die ersten Wir- kungen andauernder Uebung im Blumen- ausbeuten und der Naturauslese der geschicktesten Blumenausbeuter zu er- kennen hoffen. Wir betrachten deshalb, soweit die von einem ganz anderen Ge- sichtspunkte aus angestellten Beobach- tungen es überhaupt gestatten, zuerst: 1. Die Blumenthätigkeit der Käfer. Erster Uebergang zur Blumen- nahrung. Mannigfache Käferarten, die gewohnt sind, kleine lebende Beute zu erjagen oder frische Pflanzentheile zu verzehren oder mit verwesenden thierischen oder pflanzlichen Stoffen sich zu beköstigen, treffen wir ausnahmsweise auch einmal auf Blumen. Die einen mögen auf ihren gewöhn- lichen Wanderungen zur Aufsuchung von Nahrung zufällig eben auch einmal dahin gelangt sein, andere vielleicht beim Versagen ihrer gewöhnlichen Nahrungs- quellen, durch Hunger zum Aufsuchen neuer angetrieben, ihren Weg zu den Blumen gefunden haben. Wie dem auch Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. sein mag, wenn wir, verwundert, nach jahrelangen eifrigen Beobachtungen zum erstenmale auch sie unter den Blumen- gästen anzutreffen, nun ihr Benehmen etwas näher ins Auge fassen, so finden wir durch dasselbe unsere sofortige Vermuthumg, dass wir es hier mit Neu- lingen in der Blumenarbeit zu thun haben, in der Regel in unzweideutiger Weise bestätigt. Von Fleischfressern habe ich z. B. Tachyporus-Arten, die sonst im Moose sich aufzuhalten pflegen, um da ver- muthlich, gleich anderen Staphylinen, kleiner lebender Beute nachzugehen, in vereinzelten Fällen auch auf Blüthen von Schirmpflanzen, Ranumeulus, Caltha und Potentilla angetroffen, nur in den ersten mit dem Kopf auf das völlig offen liegende Nektarium hinabgebückt, in den übrigen ohne Ausbeute. A- craspis 12punctata, die vermuthlich gleich anderen Coccinelliden von Blatt- laus- oder Schildlauslarven lebt, fand ich ausnahmsweise auch in den Blüthen von Ranunculus und Adonis vernalis; in den ersteren suchte sie nur vergeblich umher, an der letzteren Pflanze befanden sich 4 Stück in einer und derselben Blüthe, davon leckte eines an einer der Narben, die übrigen wanderten erfolg- los umher. Von Pflanzenfressern traf ich Dona- cia-Arten vereinzelt auf Blumen von Caltha und Nuphar, Helodes marginella in Paarung auf Blumen von Caltha, Galeruca nymphaeae in Ranumeulus-Blü- then, Baridius abrotani in den Blüthen von Reseda lutea, sämmtlich ohne Aus- beute. Anisotoma cinnamomea, die sonst, wie ihre Familiengenossen, in Pilzen lebt, traf ich auf den Alpen auf den Blüthenkörbehen zweier Compositen (Achilles atrata und Chrysanthemum al- pinum), ebenfalls ohne sie Nahrung ge- niessen zu sehen. Von Vertilgern ver- wesender Stoffe sah ich das Dünger liebende Cercyon haemarrhoum ein ein- zigesmal auf einer Umbelliferenblüthe, Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Cercyon anale auf einer Cruciferenblüthe. beide ebenfalls ohne Ausbeute. Es wäre leicht, die Zahl dieser Bei- spiele zu vervielfältigen, doch breche ich hier ab. Denn einerseits ist bei solchen Neulingen, deren Blumenthätig- keit sich auf einzelne zufällige Besuche beschränkt, von einem Erwerb irgend welcher Erfahrung oder Uebung in dieser Thätigkeit noch nichts zu’ erkennen; andererseits habe ich bereits an einer anderen Stelle, auf die ich hier nur zu verweisen brauche*, hinlänglich ein- gehend nachgewiesen, dass von zufäl- ligen ersten Blumenbesuchen mannig- facher Käfer der verschiedensten Lebens- weise die unmerklichsten Abstufungen, die uns bis zu blumensteten und bis zu einem gewissen Grade blumentüch- tigen Arten, Gattungen und selbst Fa- milien hinführen, noch jetzt vorhanden sind. Hier kommt es mehr darauf an, eine passende Auswahl solcher Beob- achtungen zusammenzustellen, die auf die Zähmung der wilden Sitten der Neulinge im Blumengeschäft und auf ihre Gewöhnung zu regelmässigerer, ihnen selbst und gewöhnlich auch den Blumen erspriesslicherer Thätigkeit einiges Licht werfen. Gewöhnung an ausschliesslichen Genuss von Honig und Blüthen- staub. Von den mannigfachen Käfern, wel- che noch heute neu zum Besuche der Blumen übergehen, treffen wir zwar die meisten, welche überhaupt Ausbeute erlangen, völlig offen liegenden Honig leckend, einige Pollen oder die ganzen Antheren verzehrend und nur einzelne Blattfresser, wie z. B. Phyllopertha hor- ticola, beliebige Blüthentheile abweidend. Wenn aber die ersten Blumen, wie in früheren Aufsätzen wahrscheinlich zu machen versucht wurde, aus honiglosen * H. Müller, Befruchtung der Blumen durch Insekten S. 30— 833. 207 Windblüthen hervorgegangen sind, so können die ursprünglichsten Blüthen- besucher zuerst nur durch den Genuss des Pollens oder der Antheren oder zarter Blüthentheile überhaupt zur Wie- derholung ihrer Besuche veranlasst wor- den sein und sich erst später, nachdem Absonderung freien Honigs als Blumen- eigenthümlichkeit sich ausgeprägt hatte, an Honiggenuss gewöhnt haben. Es lohnt deshalb wohl der Mühe, bei den heutigen Neulingen unter den Blumen- gästen nach solchen Thatsachen aus- zuschauen, die für eine allmählige Ab- änderung in der Benutzung der Blumen sprechen. Von den ursprünglich fleischfressen- den Käfern scheinen die Marienkäfer- chen (Coccinellidae), welche zu gelegent- licher Blummennahrung übergegangen sind, — blumenstet ist, soweit ich es zu beurtheilen vermag, noch keine ein- zige einheimische Art geworden — auf den Blumen ausschliesslich Honig zu lecken, so dass sie denselben also von vornherein nur als Freunde, in keiner Weise als Feinde gegenüber treten; denn an Blumen, deren Honig so offen liegt, dass sie ihn zu erlangen ver- mögen, können sie sich auch als Kreu- zungsvermittler nützlich machen. Von den Weichflüglern (Malacodermata) sehen wir die Telephorus-Arten, die ihrer ur- sprünglichen fleischfressenden Lebens- weise zum Theile noch treu geblieben sind, nicht nur den völlig offenen Honig der Schirmpflanzen und des Hornstrauchs (Cornus sanguinea) lecken und auf Blü- thenkörbehen der Compositen in ver- geblichem Abmühen nach Honig den Kopf tief in die Blumenglöckchen oder zwischen die Blüthen senken (z. B. Te- lephorus melanurus an Cirsium arvense, T. tristis an Taraxacum officinale), son- dern auch Blüthenstaub und die An- theren selbst verzehren und sogar an- dere zarte Blüthentheile abweiden (z.B. T. testaceus an Crataegus, T. rusticus an Rubus). Ganz ähnlich verhält sich die 208 ganze Gattung Malachius, die sogar mit Vorliebe, selbst von Windblüthen, An- theren abweidet und auch sonstige zarte blüthentheile nicht verschmäht. Und diese letztere Gattung enthält durchaus nur blumenstete Arten und hat daher höchst wahrscheinlich die Beschränkung auf Blumennahrung schon von ihren gemeinsamen Stammeltern ererbt. Es ergiebt sich daraus, dass ausschliess- liche Beschränkung auf Blumennahrung, wenn sie auch bereits seit zahllosen Generationen erblich geworden ist, kei- neswegs mit Nothwendigkeit zur Ab- gewöhnung den Blumen schädlicher Ge- wohnheiten, wie z. B. des Abweidens von Antheren, Blumenblättern u. s. w. führt, was sich vom Standpunkte der Selektionstheorie aus eigentlich ganz von selbst versteht und nur als unver- träglich mit teleologischen Anschauungen hier besonders hervorgehoben zu werden verdient. Andererseits ist es sehr wohl denk- bar, dass in vielen Fällen die über- wiegende Nährkraft des Pollens und der ausgezeichnete Wohlgeschmack des Nektars mit der Blumennahrung ver- trautere Kerfe zur Beschränkung auf diese beiden Nahrungsmittel geführt haben, und es scheint sogar in der- selben Abtheilung der Malacodermata die Gattung Dasytes ziemlich bestimmt dafür zu sprechen. Während nämlich andere Arten dieser Gattung, ebenso wie Malachius- und Telephorus-Arten, nicht bloss Honig und Blüthenstaub geniessen, sondern sehr häufig die gan- zen Antheren mit abfressen und bis- weilen auch Blumenblätter benagen (z. B. Dasytes flavipes an Geranium ro- bertianum), habe ich auf den Alpen die blumeneifrigste und häufigste Art, den Dasytes alpigradus Ksw., der mir auf nicht weniger als 48 verschiedenen Blumenarten in zahllosen Exemplaren begegnet ist, nur ein- oder höchstens zweimal (mit Bestimmtheit an Alsine verna, in zweifelhafter Weise an sSilene Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. acaulis) an den Staubbeuteln selbst fressen sehen; in allen übrigen Fällen begnügte er sich mit Pollen, Honig oder abwechselndem Genusse beider; nicht ein einzigesmal wurde er am Benagen anderer Blüthentheile angetroffen. Noch unzweideutiger scheinen mir von den Pflanzenfressern die blumen- besuchenden Blatthörner (Lamellicornia) für eine allmähliche Gewöhnung an sanftere Sitten zu sprechen. Sie sind zwar, so weit ich sie aus eigener An- schauung kenne, sämmtlich für die Blu- men von mehr oder weniger zweifel- haftem Werth, aber doch mit Unter- schied und stufenweisem Fortschritt zum Besseren: Die bekannten Blattfresser, der Maikäfer (Melolontha) und Junikäfer (Phyllopertha horticola) fressen, wenn sie einmal auf Rosen oder andere gross- hüllige Blumen gerathen, grosse Löcher in die Blumenblätter und weiden zudem rücksichtslos Staubgefässe und Stempel ab. Die blumensteten Hoplia- und Tri- chius-Arten dagegen sieht man zwar auch, und zwar nicht eben selten, in ähnlicher Weise verwüstend auf Blumen beschäftigt, aber doch sehr viel häu- figer friedlich Honig leckend, was bei Melolontha und Phyllopertha wohl nie- mals vorkommt. Der gewöhnliche Rosen- käfer (Cetonia aurata), der in Bezug auf Blumenstetigkeit zwischen den erste- ren und letzteren etwa in der Mitte stehen dürfte, frisst an Rosen, Eber- eschen, Hollunder und manchen anderen offenen Blumen mit derselben Rück- sichtslosigkeit wie Mai- und Junikäfer an allen zarten Blüthentheilen darauf los. Auch auf die würzig duftenden, ihren Honig in tiefer Röhre bergenden Falterblumen von Daphne striata und (Gymnadenia conopsea sah ich ihn aus dem Fluge direct sich niederlassen und ohne irgend welches Zögern mit dem Abweiden der Blüthenhülle beginnen. Trotzdem ist er für den angenehmeren Geschmack des Honigs durchaus nicht unempfindlich, sondern zieht ihn, wenn Hermann Müller, Die Entwickelung er die Wahl hat, den weniger süssen Blüthentheilen ganz entschieden vor. Auf den Blumen von Aronia rotundi- Jolia traf ich ihn z. B. wiederholt mit dem Munde am Nektarium, die Mund- theile in Bewegung, das Nektarium und die umgebenden Blüthentheile, die ich unmittelbar hinterher mit der Lupe untersuchte, unbenagt; er hatte sich also offenbar mit dem Lecken des Honios begnüst. In einem anderen Falle sah ich ihn freilich auf einer Blume der- selben Art auch Blüthentheile abweiden ; doch vermuthe ich jetzt, was ich leider damals zu untersuchen versäumt habe, dass diese Blume ihres Honigs bereits’ beraubt wär. An Berberis sah ich den Rosenkäfer, und zwar sehr wiederholt, immer nur mit dem Munde in der Blüthe; die Theile derselben ergaben sich jedes- mal als völlig unverletzt, auch hier musste er sich also, ohne Blüthentheile abzuweiden, mit dem Lecken des Honigs begnügt haben. Am unzweideutigsten zeigte er mir aber seine Bevorzugung des Honigs an den Blumen von Üon- vallaria Polygonatum. An diesen frisst er sich, vom Rande anfangend, geraden Wegs der Länge nach durch die lange Blumenglocke hindurch bis zu ihrem Grunde, wo der Honig absondernde Fruchtknoten sitzt, so dass er eine ganze Seite der Blumenkrone der Länge nach offen legt. Hat er dann endlich das Ovarium erreicht, so frisst er nur noch dessen honigreiches Gewebe und rührt die Blüthenhülle derselben Blume nicht mehr an. Dieselbe Art der Aus- beutung habe ich nicht einmal, zufällig, sondern in oftmaliger Wiederholung beobachtet, einmal sogar 3 in dieser Weise zerstörte Blüthen, an deren einer der Thäter noch sass, an demselben Blüthenstande angetroffen. Aus den mitgetheilten Thatsachen scheint mir unzweideutig hervorzugehen, dass die blumenbesuchenden Blatthör- ner mit der Stetigkeit ihres Blumen- besuches auch in der Unterscheidung der Blumenthätigkeit der Insekten. 209 der Blumenausbeute sich vervollkommnet haben, dass sie ursprünglich die zarten Blüthentheile ohne Unterschied abwei- deten, wie es Mai- und Junikäfer noch Jetzt thun, dass sie später aber die grössere Süssigkeit des Nektars schätzen und auf ihn als Ziel losgehen lernten, wie uns der Rosenkäfer an Convallaria Polygonatum zeigt, und dass sie dann nur noch solche Blumen abweiden, die ihnen zu spärlichen oder zu schwer zu- gänglichen Honig darbieten, bei freier Wahl dagegen den Honig entschieden bevorzugen, wofür Trichius und Hoplia zahlreiche Beispiele bieten. Ebenso scheint in der Abtheilung der Malacodermata, nach Dasytes alpi- gradus zu urtheilen, mit zunehmender Blumeneifrigkeit und -stetigkeit das Benagen der Antheren und anderer Blüthentheile hinter dem Verzehren des Pollens mehr und mehr zurückgetreten zu sein. Auch dies zum Vortheil der Blumen, da Pollenfresser immer auch Mund und Kopf mit Pollen behaften und denselben gelegentlich auf Narben anderer Stöcke übertragen, und da ferner auch die Blumen, trotz ihrer Pollenersparniss gegenüber den Wind- blüthlern, doch in der Regel noch einen hinreichenden Ueberfluss an Pollenkör- nern erzeugen, um ohne Schaden den grössten Theil derselben den Kreuzungs- vermittlern als Entgelt für ihren Liebes- dienst überlassen zu können. Uebrigens müssen wir uns hüten, das, was an einer Käferfamilie fest- gestellt ist, ohne Weiteres auch für andere als gültig zu betrachten. Denn bei der äusserst verschiedenen ursprüng- lichen Lebens- und Ernährungsweise der zur Blumennahrung übergegangenen Käfer ist es wohl kaum anders möglich, als dass sie selbst in ihren ersten und rohesten Blumenthätigkeiten in Ge- schicklichkeit und Neigung sich wesent- lich verschieden verhalten. 210 Bedingtheit der ersten Blumen- thätigkeit durch die ursprüng- liche Lebensweise. Zur Veranschaulichung dieses Unter- schiedes wollen wir uns vorläufig, bis weitere ausdrücklich auf diesen Punkt gerichtete Beobachtungen angestellt sind, auf ein einziges Beispiel beschränken. Die Knipskäfer (Elateridae) nähren sich als Larven grösstentheils von ab- gestorbenem, in Verwesung begriffenem Holze, Graswurzeln oder sonstigen vege- tabilischen Substanzen, nur ganz aus- nahmsweise von Fleischkost. Als fertige Insekten gehen zwar die meisten von ihnen neben Beibehaltung ihrer ur- sprünglichen Lebensweise mehr oder weniger häufig auch auf Blumen, um den Honig derselben zu lecken, Pollen zu fressen oder Antheren und andere zarte Gewebe abzunagen; viele sind so- gar blumenstet geworden, kein einziger aber lässt eine deutliche Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung er- kennen, und eine gewisse Langsamkeit, (lie sie von ihrer ursprünglichen Lebens- weise her mitgebracht haben, haftet allen, auch den blumensteten, noch an; mögen sie nun ihnen zugängliche Blu- mennahrung aufsuchen und ausbeuten oder auf ihnen verschlossenen Blumen vergebliche Anstrengungen machen. Den völlig offenen Honig der Schirm- pflanzen, des Hornstrauchs (Oornus san- guinea), des Zwerg-Wegdorns (Rhamnus pumila), der Saxifraga aizoides, des Galium verum, auch allenfalls den im Grunde einer flachen oder ein wenig tieferen Schale geborgenen, aber doch unter günstigen Umständen noch un- mittelbar sichtbaren Honig der Ramm- culus-Arten, der Rosifloren und selbst den einzelner besonders offenblüthiger Gruciferen wissen sie nämlich zwar auf- zufinden und auszubeuten; sie verweilen aber, wenn sie diese Blumen aufge- funden haben, meist ziemlich andauernd auf denselben, bald rastend, bald mit Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. dem Lecken des Honigs, dem Verzehren des Pollens oder dem Benagen der Antheren oder Blumenblätter beschäf- tigt. Obgleich sie daher hauptsächlich auf den genannten Blumen gefunden werden, sieht man sie doch auch nicht eben selten andere Blumen, die ihnen gar nichts bieten, nicht etwa nur flüchtig absuchen und wieder verlassen, sondern viele Minuten lang in ver- geblicher Abmühung probiren. So traf ich z. B. den blutrothen Corymbites haematodes und den erzglänzenden Dia- canthus aeneus wiederholt auf den Blü- thenkörbehen des Löwenzahn (Taraxa- cum), mit dem Kopfe tief zwischen die Blüthen gebohrt und in dieser Lage andauernd verweilend, ausser Stande, ihn in die honighaltigen Röhren der- selben einzudrängen, aber ebenso ausser Stande, sich der Vergeblichkeit ihres Versuches bewusst zu werden und zu einem neuen Ausfluge zu entschliessen. Den schönen Corymbites aulicus sah ich minutenlang ausbeutelos an den Blü- then von Berberis sitzen, ebenso andere Knipskäfer an den Blüthen von Nigri- tella, Gymnadenia, Sempervivum, Tri- ‚Folium, Genista und Plantayo. In bemerkenswerthem Gegensatze zu den Knipskäfern stehen nun in Bezug auf ihre ursprüngliche Lebensweise und eben- so in Bezug auf ihre Blumenthätigkeit die Marienkäfer (Coceinellidae). Denn ob- gleich die meisten derselben nicht bloss als Larven, sondern auch als fertige Insekten von thierischer Kost leben, indem sie sich als Blattlausvertilger nützlich machen, und obgleich selbst die wenigen, die man auf Blumen nach Honig gehen sieht, sich noch keines- wegs an den ausschliesslichen Genuss dieser Nahrung gewöhnt haben, so be- nehmen sie sich doch auf den Blumen durchweg behender, verlieren niemals soviel Zeit mit nutzlosem Festsitzen an einer ihnen unzugänglichen Honigquelle und kommen daher im ganzen weit rascher zum Ziele der Blumenausbeutung Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. als die Knipskäfer. Zwar lassen auch sie sich von den augenfälligen Blüthen- körbehen der Compositen zu vergeb- lichen Besuchen anlocken; man sieht sie aber nie mit dem Kopfe zwischen die Blüthen gebohrt nutzlos die Zeit vergeuden, sondern sehr bald unruhig weiter laufen. Selbst wenn sie, wie so oft auf den Blüthen von Erodium cieuta- rium, mit dem Blumenblatte, auf welches sie sich zur Honiggewinnung gestellt haben, zu Boden fallen, lassen sie sich dadurch nicht verblüffen, sondern laufen unverzüglich auf einen neuen Stock, auf eine neue Blüthe, wenn auch das- selbe Missgeschick sich bereits mehrere- male unmittelbar nach einander wieder- holt hat. Dass nicht auf den Blumen erworbene Uebung ihre grössere Be- hendiekeit und Gewandtheit beim Aus- beuten der Blumen bedingen kann, liegst klar zu Tage, da sie grössere Neulinge und weniger blumenstet sind als ein grosser Theil der Elateriden. Nur in ihrer ursprünglichen Lebens- weise und in den bei dieser erworbenen Fähigkeiten und Gewohnheiten kann also der Unterschied ihres Benehmens seinen Grund haben. Als Blattlaus- jäger laufen sie eben zum Aufsuchen ihrer Beute unruhig von einem Pflanzen- stengel zum andern, während die Pflan- zenstoffe nagenden Elateriden viele Mi- nuten lang an derselben Stelle festzu- hocken gewohnt sind. Behbendiskeit aufden Blumen durch andauernde Uebung der- selben Blumenarbeit. Erblich- werden dieser Behendigkeit. Zeigt uns der Vergleich der Cocei- nelliden mit den Elateriden, wie beim Uebergange zur Blumennahrung aus- schliesslich die von der ursprünglichen Lebensweise her mitgebrachten Fähig- keiten, Neigungen und Gewohnheiten über das Benehmen beim Aufsuchen und Ausbeuten der Blumennahrung ent- scheiden, so lässt uns dagegen ein Ver- 211 gleich der Cerambyciden (Bockkäfer) mit den Elateriden oder auch unter sich die ersten Anpassungen sowohl der Thätigkeit als der Organisation an die Gewinnung der Blumennahrung deut- lich erkennen. Denn wie bei den Elateriden, so nähren sich auch bei den Cerambyeiden die Larven fast aus- schliesslich von verwesenden Pflanzen- stoffen, meist von abgestorbenem oder im Absterben begriffenen Holze. Das- selbe ist offenbar die ursprüngliche Lebensweise der fertigen Käfer; sehr viele sind derselben ganz oder theil- weise treu geblieben, und haben auch in der Behendiekeit der Bewegungen selbst vor den nicht blumensteten Ela- teriden nichts voraus. Wenn solche Arten zufällige auf Blumen kommen, deren Honig zu lecken ihnen nicht ge- linst, so benehmen sie sich ebenso langsam und unentschlossen wie in sleichem Falle Elateriden. FBhagium mordax sitzt z. B. an Berberis-Blüthen ebenso rathlos wie Corymbites aulieus. Anders diejenigen Bockkäfer, die wir mit dem Namen »Blumenböcke« aus- zeichnen, deren artenreiche Geschlechter durchaus blumenstet und durch nach vorn gerichteten und verlängerten Kopf, verschmälertes Halsschild und langbe- haarte Unterkiefer bereits zur Erlangung ein wenig tiefer geborgenen Honigs be- fähiet sind (Pachyta, Leptura, Stran- galia u. a.). Ueber den Kreis der auch von den Elateriden ausgebeuteten Blu- men gehen zwar nur die fortgeschrit- tensten dieser Blumenböcke etwas hin- -aus, indem sie auch völlig versteckten und einige Millimeter tief geborgenen Honig ausbeuten; sie alle aber bewegen sich auf den Blumen unvergleichlich rascher und gewandter als die Elateri- den und als ihre eigenen nicht blumen- steten Familiengenossen — und zwar nicht nur beim Ausbeuten der ihnen zugänglichen, sondern auch beim ver- geblichen Probiren der ihnen unzu- eänglichen Honig- oder Pollenquellen, 212 so dass es selbst für jeden der ein- zelnen Arten und ihrer Lebensweise Un- kundigen ein Leichtes sein würde, an der blossen Behendigkeit der Bewegung auf den Blumen die eigentlichen Blumen- böcke, die seit zahllosen Generationen immer nur der Blumennahrung nach- gegangen sind, von den Neulingen und Unsteten im Blumenbesuche zu unter- scheiden. Millionenfach wiederholte Uebung hat ihnen in der Bemeisterung derjenigen Blumen, denen ihre An- passung entspricht, eine Raschheit und Sicherheit verliehen, die sich nun von Generation zu Generation forterbt und auch die Raschheit ihrer vergeblichen Bewegungen an Blumen höherer An- passungsstufen beeinflusst. Auf Blumen mit offenem oder wenig tief geborgenem Honig, der durch einfaches Vorstrecken oder Hinabsenken des Kopfes erreichbar ist, ebenso auf Blumen mit ihnen leicht erreichbaren Staubgefässen benehmen sie sich daher behend und geschickt, werden rasch mit der Ausbeute fertig und sind flugs auf dem Wege zu einer anderen Blume. Auch ihre persönliche Sicherheit wissen blumenstete Käfer auf den ihnen geläufigen Blumen sehr gut zu wahren, wogegen Neulinge bei der ihnen ungewohnten Blumenarbeit sich in der Regel leicht ergreifenlassen. Khagium mordax konnte ich von Berberis, Cetonia aurata von Convallaria Polygonatum in deren Blumenröhre sie sich hineinfrass, leicht mit den Fingern nehmen. Wie ge- wandt entwischen dagegen die Glieder der blumensteten Mordelliden-Familie, indem sie sich fallen lassen und rasch hin- und herschnicken; wie rasch heben die Blumenböcke ihre Flügeldecken und fliegen auf und davon, wenn man sie auf dem Blüthenschirm einer Umbel- lifere mit den Fingern fassen will! Aber auch sie hat die Uebung aus- schliesslich zur leichten Ausführung der von ihnen geübten Thätigkeiten befä- higt. Neben der dadurch gewonnenen Behendigkeit und Geschicklichkeit auf Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. der einen Seite zeigen sie. gleichzeitig eine vollständige Unbeholfenhest ın zllennıchte durch vieltausendfacheUebung ge- läufig gewordenen Thätigkeiten. Haben sie sich von einer Blume an- locken lassen, deren Staubgefässe ihnen in die Augen leuchten, ohne ihnen er- reichbar zu sein, oder in deren honig- führende Röhre sie zwar etwas ein- dringen können, ohne jedoch den Honig zu erreichen, so machen sie zahlreiche vergebliche Anstrengungen, ohne sich von der Erfolglosigkeit derselben zu über- zeugen und bieten uns so, namentlich in dem ersteren dieser beiden Fälle, das ko- mische Schauspiel einer ebenso unbehülf- lichen als lebhaften Geschäftigkeit dar. Wir kommen z.B. an einem sonni- gen Sommermorgen an einen mit Bro- mus mollis und Erodium eicutarium be- wachsenen Abhang, an welchem 4 oder 5 Exemplare der für einen Blumenbock keineswegs besonders dummen Leptura livida nach Blumennahrung ausspähend umherfliegen. KErodium bietet ihnen Honig und Blüthenstaub in reichlicher Menge dar — auch den Honig leicht erreichbar; denn selbst das gewöhnliche Marienkäferchen (Coceinella 7punctata), welches laufend die Stöcke absucht und so auch die nur durch eine Haarreihe überdeckten glänzenden Honigtröpfchen des Erodium auffindet, macht sich die- selben zu nutze. Unsere Bockkäfer aber, die in der Luft schwebend aus einiger Entfernung nach Blumen aus- spähen, scheinen für das Roth noch kein Auge zu haben; jedenfalls fühlen sie sich weit stärker durch das Gelb der an dünnen Fäden aus der Gras- blüthe hängenden Staubgefässe des Bromus angezogen als durch das Roth der Blumenblätter und des Pollens von Erodium. Denn die ergiebige Nahrungs- quelle völlig unberücksichtigt lassend, fliegen sie nach längerem Schweben an eine der blühenden Grasähren an, laufen Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. eilig an dem Blüthenstande auf und ab, bisweilen die Mundtheile bewegend, als ob die ihnen vor Augen hängenden aber unerreichbaren Antheren ihre Ess- lust lebendig gemacht hätten, laufen fast alle Aehrchen desselben Blüthen- standes ab, ohne etwas zu erreichen, und wiederholen dann, auf einen an- deren Stock überfliegend, an diesem dieselbe erfolglose Arbeit. Es ist eine bei verschiedenen Blu- mengästen, selbst bei so hochbegabten wie Bienen und Hummeln, nicht selten zu beobachtende Erscheinung, dass sie nach mehrfachen vergeblichen Anstreng- ungen zur Erlangung der Blumenaus- beute inne halten und ihre Mundtheile ausrecken und putzen, gerade als wenn ihr Handwerkszeug an der Erfolglosig- keit ihrer Arbeit schuld wäre. So sah ich auch einen unserer Blumenkäfer vor dem Ueberfliegen auf einen anderen Stock sich Fühler und Mundtheile mit den beiden Vorderbeinen putzen, welche letzteren er abwechselnd gebrauchte. Kein einziger der Blumenböcke verfiel aber darauf, statt des unergiebigen Grases die ausbeutereiche Blume in Angriff zu nehmen. Verschiedene Wirkung der Em- pfindungs- und Wahrnehmungs- triebe. Dieselbe Zeptura livida, die wir so- eben in erfolgloser Geschäftigkeit rast- los umherlaufen sahen, als sie dem Wahrnehmungstriebe folgte, den der Anblick der ihr unerreichbaren gelb gefärbten Antheren immer von Neuem in ihr erweckte, benimmt sich ganz anders, wenn sich zum Anblick des Erstrebten eine Berührung mit demsel- ben, zum Wahrnehmungstrieb ein mäch- tiger wirkender Empfindungstrieb* ge- sell. Am gemeinen Hornkraut (Ce- rastium arvense) steckt sie den Kopf in * Vergl. G. H. Schneider, der thierische Wille. Abschnitt V. Kosmos, V. Jahrgang (Bd, IX). 213 die Blüthe, ohne jedoch den Honig zu erreichen. Nach mehrfachen vergeb- lichen Bemühungen zieht sie sich wieder etwas zurück, bekommt dabei zufällig eine schon entleerte Anthere an den Mund und knabbert nun einige Zeit an dieser, die ihr jedoch keinen Pollen darbietet. Dann steckt sie wieder den Kopf so tief als möglich in die Blüthe, kommt aber wieder nicht bis zum Honig ; trotzdem bleibt sie viele Secunden lang in dieser Stellung. Der Empfindungs- trieb, der durch die Berührung der Anthere mit dem Munde augenblicklich geweckt wird, überwiegt also sofort den durch das Sehen der Blüthenhöhle ge- weckten Wahrnehmungstrieb. Die Blü- thenhöhle wird vergessen, bis die be- rührte Anthere benagt ist; dann erst kommt der Wahrnehmungstrieb wieder zur Geltung. Das andauernde Verweilen im Grunde der Cerastium-Blüthe, im Gegensatze zu dem fortwährenden Um- herlaufen an Bromus mollis, findet, wie mir scheint, ebenfalls seine natürliche Erklärung in der Berührung des nach unten drängenden Kopfes mit der Blu- menwand. Denn eine solche Berührung ist unzählige Male mit dem Genusse geborgenen Honigs, also mit einer leb- haften Lustempfindung combinirtgewesen und hat desshalb gewiss einen kräf- tigeren Trieb erzeugt, als das in dem vorhin beschriebenen Falle wirksame Wahrnehmen der Antheren aus der Ent- fernung. Um so schmerzlicher ist aber gewiss nun auch die Enttäuschung. - Wer indess meinen sollte, dass _ die Blumenbockkäfer, durch eine einmalige solche Enttäuschung gewitzigt, nun das weitere Besuchen derselben, sie nur vexirenden Blumenart vermieden, würde sich in einer grossen Täuschung be- finden. Obwohl durch millionenfache Uebung ihrer Ahnen zur leichten Aus- führung der geübten Blumenthätigkeiten befähigt, zeigen sie, wie wir soeben gesehen haben, eine staunenswerthe Un- beholfenheit in der Ausführung aller 15 214 nicht geübten Thätigkeiten und nicht minder, wie wir jetzt noch deutlicher sehen werden, eine ausserordentliche Langsamkeit im Gewinnen irgend einer eigenen Blumen-Erfahrung. Dafür folgender Beleg: Die Blumen unserer gewöhnlichen Orchis-Arten (morio, mascula, latifolia, maculata) enthalten bekanntlich in dem hohlen Sporne ihrer Unterlippe keine Spur frei abgesonderten Honigs. Das Einzige, was von den ihnen als Kreuzungsvermittler dienenden Hummeln, Bienen und langrüsseligen Fliegen aufgesucht wird, ist vielmehr der in dem lockeren Zellgewebe der Spornwandung eingeschlossene Saft, der erbohrt werden muss und von den Rüs- seln der genannten Insekten thatsäch- lich erbohrt wird, allen unseren Käfern aber, wenn sie nicht den Sporn ab- weiden, durchaus unzugänglich ist. Für einen Bockkäfer ist daher das Hinein- stecken des Kopfes in den Sporneingang einer Orchis-Blume völlig ausbeutelos; denn die Staubkölbchen, die er beim Zurückziehen des Kopfes, demselben aufgekittet, mit aus der Blüthe nimmt, vermag er sich nicht als Nahrung zu nutze zu machen, wenn sie ihm auch un- mittelbar über dem Munde sitzen. Trotz- dem wiederholen selbst ausgeprägte Blumenböcke die völlig nutzlose An- strengung, aus dem Orchis-Sporn Nah- rung zu gewinnen, wenn sie einmal damit den Anfang gemacht haben, mit grosser Hartnäckigkeit immer wieder von Neuem. Ein Herr Girard fing z. B., wie uns Ch. Darwin (Orchideen 2. Aufl. p. 14, Anm.) mittheilt, eine Strangalia atra mit einem ganzen Büschel von Staubkölbehen der Orchis maculata am Munde, und Dr. G. Leimbach fand, wie er mir brieflich mittheilte, einen nicht näher bestimmten schwarzen Bockkäfer, der über 30 Pollinien derselben Orchis- Art am Kopfe trug! Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Aehnliches Verhalten auf gleicher Anpassungsstufe stehender Blu- menkäfer. An den Blumenböcken haben wir die erste Vervollkommnungsstufe kennen gelernt, die von Blumengästen durch eine zahllose Generationen hindurch fortgesetzte und erblich gewordene Ueb- ung derselben Thätigkeiten, unterstützt von einem gewissen Grade körperlicher Anpassungen, erreicht wird. Wir haben gesehen, dass sie sich auf denjenigen Blumen, die ihrer Anpassungsstufe ent- sprechen und durch einfaches Vorstrecken oder Abwärtsbewegen des Kopfes er- reichbaren Honig oder leicht erreich- bare Antheren darbieten, durchaus ge- schickt und behend benehmen, dass sie die gewonnene Raschheit ihrer Beweg- ungen auch auf solchen Blumen be- thätigen, die über ihre Anpassungsstufe hinausgehen, so lange nur gesehene Nahrungsquellen einen Wahrnehmungs- trieb in ihnen erwecken, dass sie da- gegen mächtiger gepackt und an die- selbe Stelle gefesselt werden, sobald eine ebensolche Berührung des Mundes oder Kopfes, wie sie mit dem Nahrungs- genusse combinirt zu sein pflegt, einen auf Nahrungsgewinnung gerichteten Em- pfindungstrieb in ihnen rege macht. Ich will nun an einem einzigen Bei- spiele zu zeigen versuchen, dass andere Käferfamilien, die mit den Blumenböcken auf gleicher Uebungs- und Anpassungs- höhe stehen, sich ganz ebenso verhal- ten. Die Familie der Oedemeriden hat mir dazu geeignete Thatsachen zu be- obachten gestattet. Blumenstet gleich den besprochenen Cerambyciden sind die Oedemeriden auch ebenso wie diese durch hinter den Augen halsförmig ein- geschnürten, nach vorn gerichteten und verlängerten Kopf zum Erlangen einige Millimeter tief geborgenen Honigs be- fähigt, auch gleich den Blumenböcken dem Pollengenusse nicht weniger als dem Honiglecken ergeben. Sie gewinnen Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. daher, ebenso’ wie diese, nicht bloss den völlig offen liegenden Honig der Schirmpflanzen, sondern auch den theil- weise oder ganz geborgenen von Rosi- floren, Sedum- und Ranunculus-Arten und selbst von einzelnen Cruciferen und verzehren in anderen Blumen, z. B. der Winden, der Compositen u. a., den offen dargebotenen Pollen; sie stehen also, was die Anpassungen sowohl ihrer Thätigkeiten als ihres Körperbaues an die Gewinnung der Blumennahrung be- trifft, auf derselben Entwickelungshöhe mit den Blumenböcken. Ebenso bieten sie aber auch beim Ausbeuten der eben genannten, ihrer Anpassungsstufe ent- sprechenden Blumen ganz dieselbe Be- hendigkeit und Geschicklichkeit der Bewegungen dar und verfahren nicht minder rasch beim vergeblichen Er- streben bloss gesehener, nicht auch berührter Antheren. In Blumen dagegen, die den Honig im Grunde einer län- geren Röhre beherbergen, sieht man sie den Kopf in den Blütheneingang stecken, in dieser Lage — völlig ausbeutelos — längere Zeit verweilen und dasselbe an einer Anzahl von Blüthen wieder- holen, wie ich z. B. in Bezug auf Oede- mera podagrariae an Dianthus Carthu- sianorum beobachtete. In augenfälligster Weise stellte sich mir aber die verschieden kräftige Wir- kung des Empfindungs- und Wahrneh- mungstriebes an Oedemera virescens dar, als sie die Nachtfalterblumen der Aspe- rula taurina in Angriff nahm, die ihren Honig im Grunde einer etwa 10 mm langen, engen Röhre bergen und ihre Antheren auf langen schwankendenStaub- fäden aus der Blüthe weit hervorragen lassen. (Vgl. H. Müller, Alpenblumen S. 392.) Viele Minuten lang ist dieser Käfer auf den Blüthenständen dieser Pflanze bemüht, Ausbeute zu gewinnen, ohne irgend welchen Erfolg, aber mit folgendem merkwürdigen Gegensatze in der Behendigkeit seiner Bewegungen: Bald sucht er die aus einiger Ent- 215 fernung gesehenen Antheren zu erlangen, um deren Pollen zu verzehren, fasst zu diesem Ende die weit aus der Blüthe hervorragenden Staubfäden mit den Vorderfüssen und biegt sie zu sich hin. Sie sind ihm aber zu lang, und die Staubbeutel gehen an seinem Munde vorüber. Er wiederholt sofort an einem anderen Staubfaden denselben Versuch — mit demselben Misserfolg. Diese ganze Arbeit, ebenso wie ihr Aufgeben und ihre Wiederholung, wird von ihm mit emsigster Geschäftigkeit vollzogen. Bald sucht er auf demselben Blüthen- stande nach Honig, und es gelingt ihm wohl einmal, mit dem Munde an den Eingang einer der engen Blumen- röhren zu kommen; da steckt er dann den Kopf so tief als möglich hinein “und verweilt so, in derselben Weise, wie sonst beim Honigsaugen be- müht, obgleich ebenso ausbeutelos, wie beim Erstreben der Antheren, in derselben Lage viele Sekunden. Dicht daneben blüht Ranunculus repens. Auf seinen Blumen ist ein glücklicheres Exemplar derselben Käferart beschäftigt. Es bietet uns weder das komisch un- behülfliche Abarbeiten an den Antheren, noch das vergebliche Festhocken in den Nektarzugängen, sondern nur ein Bild vollendeter Geschicklichkeit dar. Denn behende eilt es von Honigschuppe zu Honigschuppe;; mit nie fehlender Sicher- heit steckt es hinter jede den verschmä- lerten Kopf, um das flach geborgene Nektartröpfchen zu lecken, und beutet so rasch und ohne eine einzige linkische Be- wegung die ganze Ranunculus-Blüthe aus. So zeigt uns dieselbe Käferart in grösster Deutlichkeit einerseits den Un- terschied der Behandlung von ihrer Anpassungsstufe entsprechenden und sie weit überschreitenden Blumen, anderer- seitsbeim Behandeln der letzteren die ver- schiedene Wirkung des Wahrnehmungs- triebes, den das Erblicken der Antheren und des Empfindungstriebes, den das Be- rühren der honigführenden Röhre erweckt. 192 Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer. Von Dr. Fligier. Die Frage nach den ursprünglichen Sitzen der Arier ist bis jetzt keines- wegs in so ernster Weise behandelt worden, wie sie es verdient. Conser- vative Gelehrte haben nach Asien die Ursitze der Arier verlegt, wohl nur aus dem Grunde, weil auch die bibli- sche Tradition nach Asien die Ursitze der Menschheit verlegt; denn alle wissen- schaftlichen Gründe sprechen gegen eine solche Annahme. Aus geographischen Gründen hat bereits Latham in seinem Werke: the native races ofthe Russian empire, 1854, sich gegen eine solche Annahme erklärt. Der verstorbene Sprachforscher Pictet in Genf hat hierauf die Ursitze der Arier nach dem südlichen Russ- land versetzt. Er hat darauf hingewiesen, dass die Arier gemeinsame Worte für Schnee und Winter besassen, die ande- ren Jahreszeiten verschieden benannten und dass daher in ihrem Ursitze kalte Monate mit heissen wechselten. Die Arier kannten in ihrer Urheimath Bären, Wölfe, Ottern; dagegen waren ihnen südliche Thiere wie Löwen und Tiger unbekannt. Man kann daraus mit Bestimmtheit schliessen, dass die Ursitze der Arier in nördlicheren Ge- genden gelegen haben. Es lag auf der Hand, dass nur die Benennungen von Thieren und Pflanzen bei einzelnen arischen Stämmen für die Feststellung der Heimath der Arier entscheidend sein können. Es war daher von grosser Wichtig- keit, dass Sprachforscher von der Be- deutung eines Th. Benfey (in der Einleitung zu Fick’s Wörterbuch) und Fr. Müller (Allgem. Ethnographie, Wien 1879. 2. Aufl.) sich für das süd- liche Russland als Heimath der Arier ausgesprochen haben. Professor Tomaschek in Graz sagt in der Recension der »Arier« von Poesche: Was die Frage der ältesten Heimath der Arier betrifft, so hat un- zweifelhaft Benfey das Richtigere ge- troffen, der das südlich von dem wald- reichen Wolgagürtel sich ausdehnende Acker- und Steppengebiet den noma- dischen und doch auch ackerbautrei- benden Ariern zuweist. Ich ge- traue mich aus der Sprache der Mor- dwa’s an der mittleren Wolga den Nachweis zu liefern, dass unmittelbar an den südlichen Grenzmarken dieser finnischen Völkerschaft die reinsten Arier, zumal die Litauer und der Sanskrit sprechende Stamm ihre Heimath gehabt haben müssen; doch mag sich das arische Terrain auch weiter nach West und Ost erstreckt haben: nach Westen bis zu dem Kar- pathenwall, den alsbald die Kelten, so wie die nachmaligen Illyrier, Ita- ler und Graeken zu überschreiten Fligier, Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer. versuchten — nach Osten hin, entlang den zahlreichen Binnensümpfen, bis zum Ural, an dessen Stromadern sich die nomadische Welt der Ostarier nach Innerasien ergoss.. Der Kaukasus mit seiner allophylen, dicht geschlossenen Be- völkerungsmasse waren zu einem Durch- gangsgebiet weniger geeignet. Im Nor- den aber sassen die blonden Finnen, namentlich die Budinen oder »Was- serleute« *, die uns Herodot so treffend schildert, dass Niemand in ihnen die heutigen Wotjäken und Syrjänen verkennen kann. Ich bemerke dazu, dass überhaupt die Sprachen des ural-altaischen Stam- ‘mes für den Ursitz der Arier in Eu- ropa den evidenten Beweis liefern. Boller (Fin. Spr. 20) vermuthet in syrjänisch »syr«, magyarisch »ser«, ce- remissisch »sra«, das Bier als eine Entlehnung von sanskrit »sura« be- rauschendes Getränk. An sanskrit pita »Fichtenart« erinnert vielleicht finnisch »petäjä« Tanne. Uralt sind die Be- ziehungen der Germanen zu den fin- nischen Völkern. Zu einer Zeit, in welcher sich das nordische und goti- sche vom germanischen Zweige noch nicht losgelöst haben, waren die Ger- manen die nächsten Nachbarn der Finnen**. Noch heute finden sich nach Prof. Bogdanow dolichokephale Schädel vom bekannten germanischen Reihen- gräbertypus in den Kurhanen bei Mos- kau. Nicht minder zahlreich finden sich in den finnischen Sprachen Entlehnungen aus dem Lettischen; ein Beweis, dass die Letten uralte Nachbarn der Fin- nen gewesen sind. Sehr auffallend sind im Finnischen Entlehnungen aus den classischen Spra- chen (man vergl. perm »pors«, veps, »porzas« das Schwein, gr. nooxog, lat. * Zeitschrift für österr. Gymn. 1879, p- 862. ** Bei Diefenbach, Völkerkunde Ost- 217 porcus, finn. kapris »Bock>, lat. caper, finn. paimen »Hirt«, gr. noumv, finn. kampura »gekrümmt«, gr. xaurvkog, finn. tuoni, lappisch tuona »Tod«, finn. tuonela »Unterwelt«, gr. Yavarog u. a.). Mit den weiteren Entlehnungen aus den classischen Sprachen in den finnischen Dialekten beschäftigt sich ein bewährter Forscher, dem ich nicht vorgreifen will. Von Osteuropa, der Heimath aller Arier, kamen die Hellenen. Zum Theil als Hirten, zum Theil als No- maden haben Hellenen und Italiker nach erfolgter Trennung von den übrigen Ariern lange neben einander gewohnt. Dies geht unzweifelhaft aus ihren Spra- “chen hervor (vergl. «08 — aro, doargov — aratıum, TaÜoog — taurus, oig — ovis, ode — sus u. a.). In der panno- nischen Ebene mag die Trennung dieser beiden Stämme erfolgt sein. Die Hel- lenen haben von Norden kommend, in einzelnen Stämmen als Jonier, Aeoler, Dorer die pelasgischen und lelegischen Urbewohner unterworfen (man vergl. darüber meinen Aufsatz > die Urbevölkerung Griechenlands in der »Gaea« 1880«). Die Italiker gingen über die Alpen und liessen sich in der Ebene des Po nieder. Helbig’s Scharf- sinn ist es gelungen, auf Grund zahl- reicher archaeologischer Zeugnisse das allmälige Vordringen der Italiker in der Apenninenhalbinsel nachzuweisen. Ihre ersten Niederlassungen waren die Pfahlbauten der oberitalienischen Seen, ihre zweite Heimath die bekannten Terramare Emilia’s. Während die Illy- rier, Hellenen, Italiker und Kelten gegen Westen zogen, blieben die Erä- nier noch einige Zeit Nachbarn der ural-altaischen Völker. Magyarisch Isten »Gott« erinnert an persisch Yezdän und magyarisch Armany, der böse Geist an den bösen iranischen europas, 1880 II, p. 219—240. Thomsen, Einfluss der germanischen Sprachen auf die finnischen. 1870. Halle. 218 Ahriman* Weitere iranische Ent- lehnungen fanden sich bei Diefenbach l. c. II. p. 238. Gleich wie die Inder durch Vermischung mit den dunklen Drawida ihren arischen Typus meistens allmälig einbüssten, sind die asiatischen Eränier keineswegs mehr reine Arier. Die Osseten im Kaukasus, Nachkom- men der in Europa zurückgebliebenen Eränier, sind im Gegensatz zu den Persern vorwiegend blond. Blond waren auch nach Ammianus Marcel- linus die Sarmaten, ihre Vorfahren. Ujfälvy** hat unlängst in Central- asien die Entdeckung gemacht, dass die iranischen Galca’s die Nachkommen der alten Saken, im Gegensatze zu den Persern meist blond oder rothhaarig, helläugig und entschieden brachykephal sind. Bekanntlich sind die Perser durchweg schwarzhaariger, wie ich es einer privaten Mittheilung des Herrn Dr. Polack, ehemaligen persischen Leib- arztes, entnehme, und durchweg dolicho- kephal. Iranier wie Galcas und OÖsseten sind somit gleich den Slawen brachykephal und von heller Complexion, während die asiatischen Iranier durch Vermischung mit Asiaten ihren ur- sprünglichen Typus vielfach eingebüsst haben. Die Meder sind nach den neuesten Forschungen Oppert’s*** nur iranisirt worden und waren ursprüng- lich mit den Akkad oder Sumir, der Urbevölkerung Mesopotamiens, verwandt. Dass die kuschitische Bevölkerung S u- sianas weiter nach Osten gereicht hat, ist nur zu wahrscheinlich. Ganze Stämme mögen in Asien die iranische Sprache angenommen haben. Dass die Galcas und die Inder aus Europa nach Asien ‚ gewandert sind, kann man auch daraus schliessen, dass die europäische Weiss- birke zu den gemeinsamen Baumnamen gehört(vergl. wakhi »furz«,sighni»brug«, * Helbig, die Italiker in der Poebene. Leipzig, 1879. ** Ujfalvy. Le Kohistan, le Ferghanah et Kouldja. Paris, 1878. Fligier, Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer. sanskrit »bhurga«, ossetisch »barse« Birke). Professor Tomaschek sagt in seiner so eben citirten gehalt- vollen Schrift: Für uns steht es fest, dass, bevor Hunno-Bulgaren und andere türkische Stämme aus Turkistan nach dem Westen gezogen waren und sich zwischen dieUgro-Finnen und die Eränier als mächtiger, nicht mehr ver- rückbarer Keil eingeschoben hatten, eränische oder den Eräniern nahe stehende Stämme nicht nur im Du-ab, sondern auch an der Nordseite des Pontus und Kaukasus, in den Wolga- steppen und im südlichen Ural weithin verbreitet waren, und dass zwischen diesen Eräniern und den Ugro- Finnen mannigfache Wechselbeziehun- gen bestanden haben. Als Resultat sprachlicher, anthropo- logischer und archaeologischer Forsch- ungen ist anzusehen, dass Inder und Iranier längere Zeit in Osteuropa oder nordwestlichem Asien neben einander gewohnt haben. Den Indern folgten nach Asien die Iranier. Dass dies verhältnissmässig erst später geschehen ist, beweist der Umstand, dass sie den älteren Keilinschriften Babyloniens gänzlich unbekannt sind und erst im 9. Jahrhundert von den assyrischen Keilinschriften genannt werden. Eine zweite arische Einwanderung nach Asien erfolgte über den Hellespont. Die Ar- menier, Phryger, Lyder, sprachlich am nächsten den Iraniern stehend, folgten einander und drängten die Kaukasischen Autochthonen in die Berg- schluchten des Kaukasus zurück. Kör- perlich mögen die arischen Klein- asiaten von den Kaukasiern und Semiten vielfach beeinflusst worden sein. Die Armenier zeigen jetzt mei- stens semitische Typen. Mit den Phry- gern nahe verwandt war das zahlreiche #** Oppert. Le peuple et la langue des Medes. Paris, 1879. + Tomaschek. Centralasiatische Studien. (Wiener Akad. d. Wiss.) 1880. Fligier, Europa, die Heimath der Arier oder Indoeuropäer. Volk der Thraker, aus denen sich im Laufe der Zeiten die heutigen Rumä- nen entwickelt haben. Ihnen fiel die Osthälfte der Balkanhalbinsel zu. Die nächsten Nachbarn der Iranier im südlichen Europa waren die Slawen. Dafür spricht nicht nur Brachykephalie und helle Complexion bei Slawen und reinen Iraniern wie Galca und Osseten, sondern auch eine ganze Reihe sprachlicher Erscheinungen, die bei Johannes Schmidt »Verwandt- schaftsverhältnisse der Indogermanen 1872« zusammengestellt sind. Weiter nördlich wohnten die Letten, welche, wie Diefenbach sehr treffend zeigt, von den Slawen durch weitere Räume längere Zeit getrennt gewesen sein mussten. Am weitesten gegen Norden wohn- ten die Germanen als Nachbarn der Finnen, wofür die Sprache der Fin- nen den unwiderleglichen Beweis liefert. Als die am meisten gegen Norden vor- geschobenen Arier sind sie zugleich das blondeste Volk unter allen Ariern. Nicht minder blond sind die einst noch weiter nördlich wohnenden Letten. Blond sind vorwiegend die Russen, auch bei den Polen Galiziens über- wiegt nach den statistischen Aufzeich- nungen der Krakauer Akademie der Wissenschaften die Zahl der Blonden. Der Typus der Südslawen ist durch die Illyrier (Albanesen) und Thraker (Rumänen) vielfach beeinflusst worden; bei ihnen herrscht der dunkle Typus vor. Unter den Westariern haben sich am frühesten die Illyrier abgezweigt und besetzten die Westhälfte der Bal- kanhalbinsel und beinahe die ganze Appenninenhalbinsel. Ihr alter Name ist in den Namen Japygier (in Unter- italien), Japoden (in Liburnien), La- pithen (am Olympos) und in dem mo- dernen Namen Ljape in Albanien er- halten. Unter dem Namen Japhet werden sie von der phönizischen Ueber- lieferung, die uns in der mosaischen 219 Völkertafel erhalten ist, als die ältesten Arier erwähnt. Ihr zweiter National- name war Tyrrhener oder Tyrsener, der noch in der albanischen Landschaft Tirana sich erhalten hat. Auf den ägyptischen Denkmälern heissen sie Tuirsa (d. h. Tyrsener). Sie waren ursprünglich arme, culturlose Hirten, oder, wie die Tuirsa, gefürchtete See- räuber. Von den Oenotrern und Peuketiern Unteritaliens, an deren illyrischer Abstammung nach den Unter- suchungen Helbig’s (in: Hermes, 1876) Niemand zweifelt, sagt Pausanias VIII, 3, dass sie älter sind, als die Einführung des Ackerbaues. Auf der Balkanhalbinsel wurden sie von den Hellenen gegen Nordwesten zurück- gedrängt. Auf der Apenninenhalbinsel wurden sie allmälig von den Italikern unterworfen, denen bereits, wie dies aus Helbig’s Arbeit hervorgeht, Bronze bekannt war. Bronzeschwerter siegten über Steinmesser. Als der vierte arische Stamm erschienen im Westen die Kel- ten. Sie besetzten unter dem Namen der Bojer Böhmen und Mähren, als Noriker oder Taurisker sassen sie in den heutigen süddanubischen Pro- vinzen Oesterreichs. Ihnen fiel auch das südwestliche Deutschland zu. Im eigentlichen Gallien erschienen sie erst spät, wie dies aus den Forschungen Müllenhoff’s über Avienus hervor- geht. Das Vordringen der Germanen können wir schon an der Hand histo- rischer Nachrichten und der zahlreichen Steinkisten und Kurhanengräber Mos- kau’s, Litauens, Volhyniens, Podoliens und Ostgaliziens verfolgen, die inneuester Zeit Dank der unermüdeten Thätigkeit der anthropologischen Commission der Krakauer Akademie der Wissenschaften näher bekannt geworden sind. Die Wanderungen der Slawen gehören einer noch späteren Epoche an. Die archaeo- logischen Forschungen über das Vor- dringen der Slawen sind aber bis jetzt bei weitem nicht zum Abschlusse ge- langt. Osteuropa ist somit eine wahre va- gina gentium — die Heimath sämmt- licher arischer Stämme. Wir haben schon gesehen, dass sprachliche Einheit der Arier keines- wegs eine anthropologische Einheit ist. Abgesehen davon, dass die asiatischen Arier ihren arischen Typus zum Theil eingebüsst haben, finden wir unter den europäischen Ariern zwei ganz ge- sonderte Typen. Vorwiegend dolicho- kephal waren die Hellenen (obwohl stark mit brachykephalen Stämmen ge- mischt), die Japygier (nach Nicolucei), wie denn noch heute die unteritalische Bevölkerung nach Calori dolichoke- phal ist, die Kymren (Nordfrankreich, Wales, Irland) im Sinne Broca’s, die Letten und besonders die Germa- nen (noch jetzt die Scandinavier). Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Mesokephal sind nach Virchow unter den Germanen die Friesen und Thüringer und vielfach die Letten. Brachykephal sind die Iranier (Galea), der zahlreiche slawische Stamm, die Kelten im Sinne Broca’s, die Nordalbanesen oder Geghen (nach Virchow), die Italiker (Mante- gazza) und die Thrako-Rumänen (nach Kopernicks und Weissbach). Die Frage, welcher von diesen beiden Typen der ursprüngliche ist, wird wohl die Anthropologie niemals lösen. Thatsache ist es, dass der sprach- lichen Einheit der Arier die anthro- pologische Verschiedenheit entgegen ge- setzt werden muss. * Zbier triadomosci do antropologis Kra- jowej. Krakau 1877—1880. 4 Bände. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Der Einfluss der Gezeiten - Reibung auf die Entwickelung des Sonnensystems. Wie unsern Lesern aus früheren Mittheilungen* bekannt ist, hat G. H. Darwin in London die von Kant inaugurirten Studien über den Einfluss der Ebbe und Fluth auf die Erdbewe- gung in bedeutend erweitertem Umfange wieder aufgenommen, und namentlich auch den Einfluss desselben Agens auf die übrigen Himmelskörper seit ihren frühesten Zuständen in Betracht gezogen. Dem zweiten Theile einer Arbeit, welche G. H. Darwin am 20. Januar 1881 der Royal-Society vorlegte, entnehmen wir nach einem von dem Autor selbst * Vergl. Kosmos VII, 8. 379. gegebenen Referat in der Nature (Nr.591) folgende Einzelheiten. »Die vorausgegangenen Arbeiten handelten von den Wirkungen, welche die Gezeiten-Reibung auf die Bewegungen der Erde und des Mondes geübt haben muss, unter der Voraussetzung, dass Zeit genug verstrichen sei, um dieser Ursache ihre volle Wirkung zu geben. Es schien dabei, dass wir auf diese Weise im Stande seien, die verschie- denen Bewegungselemente der beiden Körper in einer Weise zu kombiniren, die zu merkwürdig ist, um das Produkt eines Zufalls zu sein. Der zweite Theil der vorliegenden Arbeit enthält eine Diskussion des An- theils, welchen dasselbe Agens in der Entwickelung des Sonnen-Systems im Kleinere Mittheilungen und Journalschan. 221 Ganzen, wie seiner einzelnen Theile | nicht möglich, die Satelliten in derselben gespielt haben mag. Es wird zunächst erwiesen, dass die Erweiterung der Planetenbahnen, welche von der Rückwirkung der durch die Planeten auf der Sonne erzeugten Ge- zeitenreibung herrührt, sehr langsam sein muss, verglichen mit derjenigen, welche durch die von der Sonne auf den Planeten erzeugten Gezeiten-Reibung veranlasst wurde. Daher würde es viel eher annähernd correkt sein, die Sonne als einen starren Körper und die Pla- neten allein als der Gezeiten-Reibung unterworfen zu betrachten, als umge- kehrt. Es erschien aber nicht dien- lich, eine numerische Lösung des auf das Sonnensystem als Ganzes angewen- deten Problems zu versuchen. Der Effekt der Gezeiten - Reibung geht dahin, das Rotations-Moment des durch die Gezeiten gestörten Körpers in ein Umlaufs-Moment des sie veran- lassenden Körpers zu verwandeln. Des- halb wird eine numerische Schätzung des Winkel-Moments der verschiedenen Theile des Sonnensystems die Mittel liefern, eine Idee von dem Umfange der in den Bahnen der einzelnen Planeten und Satelliten, durch Gezeiten-Reibung hervorgebrachten Aenderung zu geben. Eine solche Schätzung ist demzufolge in dieser Abhandlung, mit soviel Ge- nauigkeit, als die Daten gestatten, ge- macht worden. Aus den so gefundenen numerischen Werthen ist geschlossen worden, dass die Bahnen der Planeten um die Sonne kaum eine merkbare Erweiterung durch die Wirkungen der Gezeiten-Reibung seit der Zeit, wo diese Körper zuerst eine gesonderte Existenz erreicht hatten, erfahren haben können. Wenn man sich zu den einzelnen Untersystemen wendet, so ist es mög- lich, dass die Bahnen der Satelliten des Mars, Jupiter und Saturn um ihre Planeten sich beträchtlich erweitert haben mögen, aber es ist sicherlich Weise wie dies in den früheren Ab- handlungen für den Erdmond geschehen ist, bis zu einem Uranfang fast an die gegenwärtige Oberfläche ihrer Planeten rückwärts zu verfolgen. Die in der Abhandlung mitgetheil- ten numerischen Werthe zeigen einen so ausgesprochenen Gegensatz zwischen dem Fall der Erde mit ihrem Monde und demjenigen der andern Planeten mit ihren Satelliten, dass a priori als wahrscheinlich geschlossen werden kann, die modi der Entwickelung seien be- trächtlich verschieden gewesen ..... Es muss angenommen werden, dass noch irgend eine andere bedeutende Ursache zu Aenderungen ausser der Gezeiten-Reibung bei der Entwickelung des Sonnensystems und der planetari- schen Untersysteme betheiligt gewesen ist. Der Nebularhypothese von Laplace zufolge, ist die Verdichtung der Him- melskörper jene Ursache gewesen. Unter Annahme dieser Hypothese, geht der Verfasser dann dazu über, die Art zu betrachten, in welcher Zusammenziehung und Gezeiten-Reibung wahrscheinlich zusammengewirkt haben mögen. Eine numerische Vergleichung zeigt, dass trotz des höheren Alters, welches die Nebular-Theorie den äussern Pla- neten zutheilt, die Wirkungen der solaren Gezeiten-Reibung auf die Verminderung der planetarischen Rotation dennoch aller Wahrscheinlichkeit nach für die entfernteren Planeten beträchtlich ge- ringer gewesen sein muss, als für die näheren. Es ist indessen bemerkens- werth, dass die den Verzögerungsmodus der Mars-Rotation durch die solare Gezeiten -Reibung ausdrückende Zahl, nahezu dieselbe ist, wie die entspre- chende Zahl für die Erde, trotz des grössern Abstandes des Mars von der Sonne. Dieses Ergebniss ist bemerkens- werth in Verbindung mit der Thatsache, dass der innere Marsmond in einer viel kürzeren Zeitperiode umläuft, als seine 222 eigene Rotation beträgt; denn es wird (wie in einer früheren Abhandlung ge- schlossen wurde) die solarische Gezeiten- Reibung hinreichend gewesen sein, die planetarische Rotation zu reduciren, ohne die Umlaufsbewegung des Satel- liten direkt zu beeinflussen. Es wird darauf gezeigt, dass die solarische Gezeiten-Reibung wahrschein- lich eine gewichtigere Veränderungs- Ursache war, zu einer Zeit, wo die Planeten weniger verdichtet waren, als sie jetzt sind. Somit können wir die jetzige Wirkungsweise der solarischen Gezeiten-Reibung nicht als Massstab derjenigen nehmen, welche in aller Ver- gangenheit wirksam gewesen ist. Auch wird gezeigt, dass wenn eine planetarische Masse einen grossen Satel- liten erzeugt, die planetarische Rotation nach dem Wechsel rapider vermindert wird, als vorher; nichts destoweniger wirkt die Erzeugung eines solchen Satel- liten erhaltend auf das Kraftmoment, welches dem planetarischen Untersystem innewohnt. Dieser Schluss wird durch die vergleichsweise langsame Rotation der Erde, und durch den grossen Be- trag an Winkelmoment, welcher in dem System von Mond und Erde vorhanden ist, illustrirt. Eine Untersuchung der Art, in wel- cher die Differenz der Abstände der verschiedenen Planeten von der Sonne die Wirkung der Gezeiten-Reibung be- einflusst haben mag, leitet zu einer Ursache für die beobachtete Verthei- lung der Satelliten im Sonnensystem. Der Nebular-Hypothese zufolge zieht sich eine planetarische Masse zusammen, und rotirt in dem Grade, wie sie sich zusammenzieht, schneller. Die Schnellig- keit der Umdrehung veranlasst ihre Form unbeständig zu werden, oder vielleicht, was wahrscheinlicher erscheint, löst sich allmälig ein Aequatorialgürtel davon ab; es ist unwesentlich, was von beiden Möglichkeiten thatsächlich stattfindet. In jedem Falle gestattet die Ablösung ’ Kleinere Mittheilungen und Journalschau. jenes Theils der Masse, welcher vor der Aenderung das grösste Winkelmoment besass, dem Centraltheile wieder eine planetarische Gestalt anzunehmen. Die ZusammenziehungundRotationszunahme schreiten unaufhörlich vorwärts, bis ein anderer Theil losgelöst wird und so fort. So kehrt dort in Zwischenräumen eine Reihe von Epochen der Nichtstabi- lität und des abnormen Wechsels wieder. Nun muss die Gezeiten-Reibung den Schritt der von der Zusammenziehung herrührenden Rotationszunahme mässi- gen, und wenn daher Gezeiten-Reibung und Zusammenziehung gemeinsam in Wirkung sind, müssen die Epochen der Nichtstabilität seltener wiederkehren, als wenn die Zusammenziehung allein wirkte. Wenn die Verlangsamung durch die Gezeiten gross genug ist, wird der von der Zusammenziehung herrührenden Ro- tationszunahme so weit entgegengewirkt, um niemals eine Epoche von Nicht- stabilität eintreten zu lassen. Die Grösse der Gezeiten-Reibung nimmt nun schnell ab, wenn wir uns von der Sonne entfernen und desshalb stehen diese Betrachtungen im Einklange mit dem, was wir im Sonnensystem beobachten. Denn Merkur und Venus haben keine Satelliten, und es ist ein progressives Wachsthum in der Zahl der Satelliten vorhanden, wie wir uns von der Sonne entfernen. Mag dies nun die wahre Ursache der beobachteten Vertheilung der Satel- liten unter den Planeten sein, oder nicht, so ist es doch merkwürdig, dass dieselbe Ursache auch eine Erklärung liefert für diejenige Differenz zwischen der Erde mit dem Monde und den an- deren Planeten mit ihren Satelliten, welche der Gezeiten-Reibung gestattet hat, das Hauptagens der Veränderung bei den ersteren, aber nicht bei den letzteren zu sein. In dem Falle der sich zusammen- ziehenden Erdmasse müssen wir anneh- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. men, dass hier eine lange Zeit ein an- näherndes Gleichgewicht zwischen der durch die solarische Gezeiten-Reibung bewirkten Verzögerung und der durch die Zusammenziehung bewirkten Be- schleunigung vorhanden war, und dass eine Epoche von Nichtstabilität erst eintreten konnte, als die planetarische Masse sich nahezu auf ihre jetzigen Dimensionen zusammengezogen hatte. Wenn die Zusammenziehung der planetarischen Masse vor der Genesis des Satelliten nahezu vollendet ist, so wird eine von der vereinten Wirkung der Sonne und des Satelliten bewirkte Gezeiten-Reibung künftig die grosse Ur- sache der Veränderung in dem System sein, und so wird die Hypothese, dass sie die alleinige Ursache der Aenderung ist, eine annähernd genaue Erklärung für die Bewegung des Planeten und Satelliten zu jeder folgenden Zeit geben. In’ den früheren Arbeiten dieser Reihe ist gezeigt worden, dass diese Bedingung bei der Erde und dem Monde erfüllt wird. Die Abhandlung schliesst mit einer kurzen Recapitulation derjenigen That- sachen im Sonnen-System, welche einer Erklärung durch die Gezeiten-Wirkung zugänglich sind. Diese Untersuchungs- Reihe liefert keine Gründe für eine Ver- werfung der Nebular-Hypothese, aber während sie Beweise zu Gunsten der Hauptzüge dieser Theorie beibringt, führt sie Modificationen von beträcht- licher Tragweite ein. Die Gezeiten-Reibung ist eine Ver- änderungsursache, auf welche Laplace’s Theorie keine Rücksicht nahm*, und obgleich die Wirksamkeit jener Ursache als hauptsächlich einer späteren Periode, als die in der Nebularhypothese erör- terten Ereignisse angehörend betrachtet werden muss, so ist ihr Einfluss doch * Anm. der Red. Laplace hat die verlangsamende Wirkung der Gezeiten-Rei- bung übersehen, trotzdem sie Kant lange vor ihm ausführlich erörtert hatte. In neuerer 223 von grosser und in einem Falle sogar von überwiegender Tragweite für die Bestimmung desgegenwärtigenZustandes der Planeten und ihrer Satelliten ge- wesen.« Die Verbreitung des Alkohols in der Natur. Der Chemiker A. Müntz hat in einer früheren Arbeit gezeigt, dass man vermittelst der sehr bekannten Reaktion, welche in einer Umwandlung des Alko- hols inJodoform besteht, äusserst geringe Spuren von Alkohol nachweisen kann. Diese Reaktion kann somit den empfind- lichsten der Mineralchemie verglichen werden. Ihre ausserordentliche Empfind- lichkeit hat den Genannten veranlasst, diese Untersuchungsmethode auf das Studium der Verbreitung des Alkohols in der Natur anzuwenden. Im frischen Schnee- und Regenwasser lassen sich, wenn es schnell aufgefangen und ab- destillirt wird, ebensowohl Alkoholspuren nachweisen, als wenn es einige Stunden gestanden hat. Da der Alkohol im Regenwasser vorhanden ist, muss man seine Gegenwart im Dampfzustande in der Luft zugestehen, und es scheint, dass dieser Körper, wenigstens zum Theil, den Kohlenwasserstoff- Antheil darstellt, welchen die Untersuchungen von De Saussure und Boussin- gault in der Luft anzeigten. Berthe- lot hat unter dem Einflusse verschie- denartiger Fermente sehr verschiedene Substanzen Alkohol bilden sehen. Man kann also in Folge der Verwesung der organischen Materie, eine fortwährende Alkoholproduktion in der Natur anneh- men. Wenn diese Deutung richtig ist, muss man diesen Körper auch in er- kennbaren Verhältnissen im Boden er- warten und der Versuch bestätigte diese Zeit hatte sie auch Robert Mayer von Heilbronn zum Gegenstand eingehender Unter- suchungen gemacht. Vergl. Kosmos VI, S. 379, 224 Voraussetzung durchaus (Revue Scien- tifique 19. März 1881, p. 379). Das Vermögen der Pflanzen ihre Blätter senkrecht zum einfallenden Lichte zu stellen bildete den Gegenstand eines Vortrages, welchen Francis Darwin kürzlich in einer Sitzung der Linne’schen Gesell- schaft zu London hielt, und von welchem wir hier einen in W. 8. Dallas’ Po- pular Science Review (January 1881) erschienenen Auszug wiedergeben wollen: Das Verhalten der Blätter in Be- zug zum Lichte kann durch die Cotyle- donen eines Rettig-Sämlings erläutert werden. Wenn derselbe von obenher beleuchtet wird, werden die Cotyle- donen horizontal ausgebreitet, und be- finden sich dann rechtwinklig zur Rich- tung des auffallenden Lichtes. Wenn der Sämling dann an ein Fenster ge- stellt wird, so dass er schräg von oben beleuchtet wird, und wenn das Stämm- chen (Hypokotyl) verhindert wird, sich zu beugen, werden die Cotyledonen sich selbst den veränderten Bedingungen durch Bewegungen in einer vertikalen Ebene anpassen. Das dem Lichte zu- gekehrte Samenblättchen wird sich sen- ken, während das andere sich heben wird, und so werden beide wiederum einen rechten Winkel mit dem einfal- lenden Lichte bilden. Zwei Theorieen sind aufgestellt wor- den, um diese Eigenschaften der Blätter zu erklären. Die erste ist diejenige von Frank*, welche den Blättern und an- deren Organen eine specifische Empfind- lichkeit gegen das Licht zuschreibt, welche als »Transversal - Heliotropis- mus« oder Diatropismus** bezeichnet wurde. Genau wie ein gewöhnlicher * Die natürliche wagerechte Richtung von Pflanzentheilen. 18%70. #® Darwin, Das Bewegungsvermögen der Pflanzen, Deutsch von J. Vietor Carus, 1881, pag. 374. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. heliotropischer Zweig eine innere Ten- denz besitzt, sich zum einfallenden Licht parallel zu stellen, so hat ein diahelio- tropisches Organ eine innewohnende Tendenz, sich im rechten Winkel gegen die Richtung des Lichtes zu stellen. Die beiden Organklassen unterscheiden sich von einander genau so, wie krie- chende Rhizome von gewöhnlichen Sten- geln, die Rhizome streben sich hori- zontal unter der Erde auszubreiten, während die Stengel über der Erde senkrecht aufwärts wachsen ***. Eine andere Theorie ist durch De Vriesf aufgestellt worden, dessen An- sichten von Sachsff mit Zusätzen oder Modifikationenangenommen wordensind. Nach diesen Ansichten ist die Annahme einer besonderen Art von Heliotropis- mus unnöthig, da die Erscheinungen aus dem gewöhnlichen Zusammenwirken von Heliotropismus und Geotropismus herzuleiten seien. So ist es in dem Falle des von oben beleuchteten Rettig- Sämling’s, wenn die Cotyledonen aphe- liotropisch (d. h. negativ heliotropisch) und apogeotropisch (d. i. negativ geo- tropisch) sind, möglich, dass sie durch diese einander entgegengesetzten Streb- ungen im Gleichgewicht erhalten werden können. Die Tendenz, sich von einem senkrechten Lichte wegzubewegen, wird die Cotyledonen abwärts zur Erde krüm- men, und der Apogeotropismus, d. h. die Tendenz, sich vom Erd-Mittelpunkte fortzubewegen, könnten einander genau das Gleichgewicht halten, so dass die CGotyledonen horizontal bleiben. Ausser den verschiedenen geotropischen und heliotropischen Tendenzen gibt es an- dere Wachsthums-Arten, welche in die Kräfte-Combination eintreten mögen. In einigen Fällen ist ein natürliches Uebergewicht von Längsspannung der #** Elfving, in Sachs’ Arbeiten des Würz- burger botanischen Institutes 1879. + Sachs’ Arbeiten I, 1872. +r Sachs’ Arbeiten II, 1879, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. obern Seite des Blattstiels entlang vor- handen, so dass in Folge von in der Pflanze auftretenden Impulsen, eine Tendenz zur Abwärtskrümmung für das Blatt vorhanden ist, welche Epinastie genannt wird, die entgegengesetzte Ten- denz wird als Hyponastie bezeichnet. Nach den Theorieen von De Vries und Sachs kann die Epinastie durch Heliotropismus und Geotropismus, die Hyponastie durch Apheliotropismus und Apogeotropismus aufgewogen werden, und alle diese entgegengesetzten Kräfte können sich zur Herbeiführung eines Gleichgewichts kombiniren. Die Aufgabe der vorliegenden Ab- handlung ist nun, den relativen Werth der beiden beschriebenen Theorieen von Frank und De Vries-Sachs zu unter- suchen. Die angewandte Methode bestand darin, die zu beobachtenden Pflanzen an eine horizontale Spindel, die durch ein Uhrwerk in langsamer Rotation erhalten wurde, zu befestigen. Dieses Klinostat genannte Instrument ist von Sachs zur Beobachtung des gewöhnlichen He- liotropismus angewendet worden. Das Licht wurde parallel zur Rotations- Achse zugelassen und die Pflanzen wur- den so einer beständigen seitlichen Beleuchtung unterworfen, während sie von dem störenden Einflusse der Gra- vitation befreit sind, denn in Folge ihrer beständigen langsamen Rotation ist kein Grund vorhanden, warum sie durch die Gravitation mehr nach der einen Richtung als nach einer andern gebeugt werden sollten*. Nach dem- selben Princip ist das Verhalten der sich zu dem einfallenden Lichte hori- zontal stellenden Blätter studirt worden. Wenn eine Pflanze mit horizontal aus- gebreiteten Blättern, die von obenher beleuchtet worden war, auf einer lang- sam sich drehenden Welle so befestigt wird, dass die Achse der Pflanze der * Sachs’ Arbeiten II, 1879. 225 Drehungsachse und der Richtung des einfallenden Lichtes parallel ist, werden wir ein Mittel haben, die oben erwähn- ten, einander gegenüberstehenden Theo- rieen zu prüfen. Die Pflanzenblätter werden noch von Licht erleuchtet, wel- ches sie unter rechtem Winkel trifft, sie müssen daher, wenn Frank’s Theorie die Richtige ist, in dieser Stellung ver- bleiben. Aber wenn die Ansichten von De Vries und Sachs richtig sind, müssen die Blätter, nachdem die Wir- kung der Schwerkraft, also einer der Kräfte, die sie im horizontalen Gleich- gewicht hielten, ausser Wirkung gesetzt ist, nicht mehr im Stande sein, unter rechtem Winkel zum einfallenden Lichte zu verharren. Es wurde eine beträcht- liche Anzahl von Versuchen mit der Feigwurz (Ranunculus Ficaria) ange- stellt, deren Resultate entschieden zu Gunsten der Frank’schen Ansichten ausfielen. Die Blätter der Feigwurz sind zu- weilen äusserst epinastisch, so dass sie gegen den Boden drücken, und wenn eine Pflanze herausgegraben wird, ge- schieht es oft, dass die von dem Wider- stande des Bodens befreieten Blätter sich beinahe senkrecht abwärts krüm- men. Wenn solch’ eine Pflanze in der oben beschriebenen Stellung auf dem Klinostaten befestigt wird, werden sich die Blätter vom Lichte weg wenden, so dass wenn die Blätter apheliotro- pisch wären, wie nach De Vries’ Theo- rie erwartet werden müsste, dieselben von dem Fenster abgewendet bleiben müssten. Aber dies ist nicht der Fall, sie bewegen sich vorwärts, bis sie im nahezu rechten Winkel zum Lichte stehen und kommen dann zur Ruhe. Wenn dagegen eine Feigwurz in’s Dunkle gestellt wird, erheben sich ihre Blätter, bis sie stark über den Horizont ge- neigt sind; wenn die Pflanze dann auf den Klinostaten gebracht wird, dann passen sich die Blätter, welche jetzt natürlich gegen das Licht geneigt sind, 226 von selbst der neuen Lage an, und krümmen sich rückwärts, bis sie im rechten Winkel gegen das Licht stehen. Mithin können die Blätter weder helio- tropisch noch apheliotropisch genannt werden; wir sind zu glauben gezwungen, dass sie unter dem Einflusse des Lichtes fähig sind, sich in jeder Richtung zu bewegen, welche erforderlich ist, sie in rechtwinklige Stellung zum Lichte zu bringen. Die übrigen Experimente mit R. Ficaria, deren Einzelnheiten wir übergehen, leiteten zu demselben all- gemeinen Ergebnisse. Ausser einigen Beobachtungen an Vicia, Cucurbita und Plantago, wurde eine Reihe von Ver- suchen mit Kirschsämlingen angestellt und diese führten zu etwas verschie- denen Ergebnissen. Eine in freier Luft wachsende Kirschpflanze, hält ihre Blät- ter nahezu horizontal, und wenn sie wie oben beschrieben, auf den Klino- staten gebracht wird, sind die Blätter ausser Stande, sich im rechten Winkel zum Lichte zu halten, krümmen sich vielmehr abwärts, bis sie mit dem Stämmchen parallel werden. Die Blatt- stielchen sind erweislich nicht aphelio- tropisch, sondern stark epinastisch, so dass sie in der beschriebenen Weise sich bewegen, wenn der entgegenwir- kende Apogeotropismus ausser Wirkung gesetzt ist. Es ist daher klar, dass die horizon- tale Stellung der Blätter normal wach- sender Kirschsämlinge hauptsächlich von dem Gleichgewicht zwischen Epinastie und Apogeotropismus in Einklang mit den Ansichten von De Vries und Sachs abhängen muss. Aber da diese Kräfte offenbar nicht das Vermögen erzeugen können, sich selbst der Rich- tung des einfallenden Lichtes anzu- passen, wie es die Kirsche besitzt, so müssen wir annehmen, dass eine Art von Heliotropismus dabei in Mitwirkung tritt. Die Ansicht, zu der die erwähn- ten Untersuchungen mit höchster Wahr- scheinlichkeit führen, ist, dass Diahelio- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. .tropismus (Transversal -Heliotropismus) den bei der Sache hauptsächlich wir- kenden Einfluss darstellt. Bei der Feig- wurz haben wir gesehen, dass die Licht- empfindlichkeit stark genug ist, die Stel- lung der Blätter zu bestimmen, obgleich . das natürliche Gleichgewicht durch Auf- hebung der Wirkung der Schwerkraft gestört ist. Es erscheint wahrschein- lich, dass ein wesentlich ähnlicher Stand der Dinge für den Fall der Kirsche gilt. Wenn die Pflanze im normalen Wachsthum ist, bleibt es der Epinastie und dem Apogeotropismus überlassen, ein annäherndes Gleichgewicht zu er- zeugen, während das Endresultat durch den Reiz des Lichtes bestimmt wird; aber wenn das Gleichgewicht durch die Stellung der Pflanze auf den Klino- staten gestört wird, ist der Lichtreiz nicht mehr stark genug, um einen Gleichgewichtszustand hervorzubringen. Diese Ansicht ist dieselbe, wie sie im »Bewegungsvermögen der Pflanzen« ge- geben wurde, und steht im Einklange mit dem dort dargelegten Grundsatz, dass die hauptsächlichsten Bewegungen der Pflanzen von Modifikationen der circumnutirenden Bewegungen herrüh- ren.« In derselben Sitzung der Linne’schen Gesellschaft las Francis Darwin eine Arbeit über Die Theorie des Wachsthums von Pflanzen- abschnitten, über welche wir derselben Quelle fol- genden Auszug entnehmen. Wenn ein Abschnitt, z. B. ein Stück von einem Weidenzweige, in für das Wachsthum günstige Umstände gebracht worden ist, erzeugt er an seinem untern Ende Wurzeln, während die Knospen an sei- nem obern Ende zu Zweigen auswach- sen. Die Experimente Vöchtings* über das Wachsthum von Zweigschnitten wur- * Organbildung im Pflanzenreich. Bonn 1878. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. den so angestellt, dass Stücke von Aesten, Zweigen u. Ss. w. in weiten dunklen Krügen aufgehängt wurden, deren Luft beständig durch nasses Filtrirpapier feucht erhalten wurde. Vöchting fand als allgemeines Ergebniss, dass eine starke Tendenz der Wurzeln vor- handen ist, an dem basalen Ende, d.h. dem der Mutterpflanze nächsten Schnitte aufzutreten, gleichviel ob der Abschnitt mit seiner Spitze nach oben, oder nach unten in das Glasgefäss gehängt wurde. Vöchting glaubt, dass das Wachsthum der Wurzeln an der Basis, und der Zweige an der Spitze eines Abschnitts hauptsächlich durch eine innewohnende ererbte Wachsthumtendenz bedingt wird. Wenn das Messer einen Zweig in zwei Abschnitte theilt, trennt er eine Masse von identisch gebauten Zellen in zwei Theile, von denen der eine einen Theil der Spitze des untern und der andere einen Theil der Basis des obern Setz- lings abgiebt. Und unter annähernd gleichen Umständen würde sich ein Theil dieser Zellen zu Wurzeln, der andere zu Adventivknospen entwickeln. Es ist Vöchting’s Ansicht, dass die mor- phologische Stellung dieser Zellgruppen, die Thatsache, dass die eine die Basis, die andere die Spitze eines Setzlings bildet, hauptsächlich den Gang ihrer nachfolgenden Entwickelung bestimmt. Die Idee kann, populär ausgedrückt, so wiedergegeben werden, dass man sagt, jeder der Abschnitte, in welche ein Zweig getheilt wurde, sei im Stande, seine Basis von seiner Spitze zu unter-_ scheiden, und könne sagen, wo er das Wachsthum von Wurzeln und Knospen vorzunehmen habe, vermittelst eines von den äussern Kräften (Gravitation und Licht) unabhängigen innern An- triebes. Die Theorie, welche Sachs in sei- ner Abhandlung über Stoff und Form der Pflanzenorgane (Arbeiten u. s. w. 1880, p. 452) aufgestellt hat, ist der- jenigen Vöchting’s völlig entgegen- 227 gesetzt. Sachs meint, dass Vöchting’s »morphologische Kraft« nicht eine erb- liche Tendenz, sondern eine durch die Wirkung äusserer Kräfte während des Wachsthums der bildenden Zellen er- zeugte Tendenz sei. Somit glaubt Sachs, dass die Schwerkraft, indem sie auf die sich entwickelnden Zellen eines Organs einwirkt, darin eine Prä- disposition oder einen fortdauernden Trieb erzeugt, der sich in den Folgen ausprägt, welche Vöchting einem erb- lichen Vermögen zuschreibt. Die Art und Weise, in welcher Sachs die Schwer- kraft wirkend ansieht, ist nicht nur an sich, sondern auch als Modifikation einer Theorie Du Hamel’s interessant. Es wird angenommen, dass eine stoff- liche Verschiedenheit nothwendig die Formverschiedenheit begleitet und dass dementsprechend die Stoffe, aus denen die Wurzeln gebildet werden, chemisch verschieden seien, von denen, welche die Zweige versorgen. Sachs’ Theorie nimmt an, dass das Wachsthum von Wurzeln und Knospen an bestimmter Stelle, durch die Vertheilung der Wur- zeln- und Zweig-bildenden Stoffe be- stimmt wird, und dass die Vertheilung dieser Stoffe durch die Schwerkraft regulirt wird. Das Wurzelmaterial ist in gewissem Sinne geotropisch und fliesst niederwärts, während das Zweigmaterial die entgegengesetzte Tendenz besitzt. Aber es wird nicht angenommen, dass diese Bildungsstoffe einfach geotropisch und apogeotropisch seien; die Tendenz des Wurzelstoffs, zur Basis eines Zwei- ges zu fliessen, wird ebenso ausgeführt, wenn der Zweig in einen abwärts hän- genden Steckling verwandelt ist, so dass der Wurzelstoff aufwärts zur Basis des Setzlings strömen muss, weil jenes Ende ursprünglich niederwärts stünde und umgekehrt bei dem Zweigbildungsstoff. Die Beobachtungen an der Brom- beere (Rubus fruticosus), welche den Gegenstand der vorliegenden Abhand- lung ausmachen, wurden mit der Ab- 228 sicht ausgeführt, für einen besonderen Fall zu entscheiden, ob das Wachsthum durch eine morphologische Kraft, oder durch die Nachwirkung der Gravitation bestimmt werde. Die langen, unfruchtbaren Schöss- linge der Brombeere sind dafür bekannt, an ihren Enden leicht Wurzeln zu treiben. Die Endknospe wird so während des Winters beschützt und der in dem keu- lenartig verdickten Ende des Zweiges enthaltene Nahrungsvorrath der Zweige bildet eine Triebstelle für neues Wachs- thum im Frühjahr. Gewöhnlich wachsen die langen hängenden Zweige senkrecht abwärts, um den Boden zu erreichen und Wurzeln zu bilden. Es könnte desshalb angenommen werden, dass die Schwerkraft ihr Wachsthum an dem untern Ende des Zweiges bedingt, gerade wie an einem Steckling von einem aufrechten Weidenzweige, woselbst die Wurzeln da wachsen, wo früher das untere Ende war. Aber unter ge- wissen Umständen an Brombeeren an- gestellte Beobachtungen zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Wenn Brom- beeren an einem steilen Abhang wachsen, wächst die Mehrzahl wie sonst abwärts, oder sie wuchern mehr oder weniger horizontal längs des Hangs und end- lich wenden sie sich niederwärts. Aber eine gewisse Anzahl von Zweigen wächst bergan, und einige von diesen bilden Wurzeln an ihrer Spitze. Wenn wir daher an demselben Pflanzen-Individuum einige Zweige an dem physikalisch niedrigeren, und andere an dem obern Ende Wurzeln bilden sehen, so wer- den wir sicher sein, dass die Ver- theilung des Wurzelwachsthums bei der Brombeere nicht durch Schwerkraft oder ihre Nachwirkung bestimmt wird. Wir müssen annehmen, dass da ein mor- phologischer Impuls leitend ist, welcher auf die Erzeugung von Wurzeln an der Zweigspitze hinwirkt, ob nun ihr Wachs- thum auf- oder abwärts gewesen ist. Um alle Zweifel zu beseitigen, wurde Kleinere Mittheilungen und Journalsc han. ein Brombeerzweig mit der Spitze auf- wärts an einem senkrechten Stab fest- gebunden, und letztere mit feuchtem Moose und wasserdichtem Zeuge um- geben; unter diesen Umständen ent- wickelte sich ein üppiges Wurzelwachs- thum am Zweigende. Dieses Ergebniss zeigt mit den Beobachtungen von an steilen Abhängen wachsenden Brom- beeren verbunden, endgiltig, dass ein innerer Antrieb oder eine morpholo- gische Kraft den Wurzelausschlag bei der Brombeere regelt. Wenn ein Steckling von einer Brom- beere gemacht wird, so besteht das einzige Wachsthum, welches stattfindet, in der Entwickelung der Achselknospen an der Spitze des Stecklings.. Unter gewissen Umständen nehmen diese Seiten- schosse eine wurzelbildende Thätigkeit auf. Sie erscheinen im Wachsthum gehindert; wenn sie 10—12 Mm. in der Länge und 3—4 Mm. oder mehr in der Breite erreicht haben, nehmen sie eine eigenthümliche keulenartige Form an, indem sie an der Spitze dicker als an der Basis, und mit rudimentären schuppenartigen Blättern versehen sind, zwischen welchen eine Anzahl von ver- hältnissmässig grossen Wurzeln ent- springt. Um zu entscheiden, ob die Produktion dieser wurzelerzeugenden Schösslinge durch Gravitation oder durch eine morphologische Kraft bestimmt wird, wurden Stecklinge von Zweigen gemacht, deren Wachsthumsrichtung über den Horizont ging. Solche Steck- linge wurden mit der Spitze nach oben aufgehängt, und es ergab sich, dass die meisten Spitzenknospen unter diesen Umständen im Stande waren, sich zu dem wurzelerzeugenden Zweigtypus zu entwickeln. Aehnliche wurzelnde Seiten- schosse werden durch Stecklinge erzeugt, welche unter dem Horizonte gewachsen sind, und es ist demnach klar, dass Gravitation bei dieser Art von Wurzel- erzeugung nicht die bestimmende Ur- sache ist. Wenn das Ende eines Zwei- + Kleinere Mittheilungen und Journalschaun. ges beschädigt wird, wie oft geschieht, wenn ein Brombeerstrauch in der Nähe eines Fusspfades wächst, bringt die oberste Achselknospe, oder mehrere der- selben, Zweige hervor, welche anstatt des Hauptzweiges Wurzeln schlagen. Entweder wird dabei ein gewöhnlicher Zweig erzeugt, welcher nach einem ge- wissen Zeitverlauf an seiner Spitze Wurzeln erzeugt, oder es werden unter gewissen Umständen die verkümmerten, keulenförmigen, wurzelerzeugenden Sei- tenschosse entwickelt, deren ganze Bild- ung zur Wurzelerzeugung bestimmt er- scheint. Es ist daher klar, dass die Pro- duktion solcher Schosse bei Stecklingen derselbe Prozess ist, welcher im Natur- zustande bei verletzten Zweigen ein- tritt, ein Vorgang, welcher den Zweig befähigt, die Funktion auszuüben, dessen normale Vollbringung abgeschnitten war. Und diese Thatsache befähigt uns zu erkennen, in wiefern ein morphologischer Wachsthums-Impuls besser für die all- fälligen Erfordernisse geeignet ist, als irgend eine mögliche Abhängigkeit von der Gravitation als leitenden Kraft. Wenn das Zweigende beschädigt ist, so ist es klar, dass wenn ein Zweig zur Weiterführung seiner Funktion ent- wickelt werden soll, dieser die beste Aussicht auf Erfolg haben wird, wenn er von der bereits vor ihrer Beschädig- ung gewonnenen Position der Spitze hervortritt. Deshalb wird die Knospe, welche der beschädigten Spitze am nächsten steht, am geeignetsten sein, zu einem neuen Zweige entwickelt zu werden. Und dies ist dasselbe, als wenn man sagt, die Stelle, wo die neue Ent- wickelung stattfinden soll, sei morpho- logisch und nicht durch Gravitation bestimmt. So ist das Verhalten der Steck- linge beiderBrombeere eineWiederholung des normalen Restaurationsprozesses einergestörtenPflanzen-Funktion; in wie- fern dies bei andern Pflanzen ebenso ist, muss für jetzt unentschieden bleiben. Kosmos, V. Jahrgang (Bd, IX), 2) Die Arthropoden. 229 Die Embryologie der Lungenschnecken hatte, obwohl sie bereits durch eine grosse Anzahl von Autoren (Lacaze- Duthiers, Ray-Lankester, v. Ihe- ring, Bobretzky u. a.) studirt worden war, immer noch Lücken über einige Punkte gelassen, welche Hermann Fol durch eine sehr sorgfältige Arbeit aus- zufüllen gesucht hat. Wir wollen hier nur die Schlüsse wiedergeben, die er aus seinen Beobachtungen hinsichtlich der Analogieen der Mollusken mit den Würmern gezogen hat. Nach Fol’s Ansicht lassen sich die Larven der - Mollusken einzig dem Kopfstücke der Anneliden-Larven oder einem vollstän- digen Räderthier vergleichen. Die Mol- lusken sind nicht segmentirte Thiere, deren Segmente nachträglich wieder mit einander verschmolzen wären, son- dern Thiere, welche einfach bleiben, und nicht einmal ein Rudiment des Metameren-Sprosses der Anneliden dar- bieten; während Rabl eine Analogie zwischen den sehr jungen Schnecken- larven und einem Wurm mit drei Me- tameren-Larven zu finden glaubte. Am Schlusse seiner Arbeitmacht Fol darauf aufmerksam, wie sehr alle neuern Unter- suchungen zu Gunsten einer Wieder- herstellung der Würmer-Klasse Linne’s sprechen. Er glaubt, dass das All- gemein-Resultat der neueren embryo- genetischen Studien dahin geht, unter den Thieren drei grosse Abtheilungen aufzustellen: 1) die Würmer, Bryozoen, Brachiopoden, Mollusken, Echinodermen. 3) Die Chordo- nier (Tunikaten und Vertebraten). (Ar- chives de Zoologie experimentale 1880, I und II.) Das Geruchsorgan der Insekten ist der Gegenstand mehrerer neuerer histologischen und physiologischen Stu- dien von Gustav Hauser in Erlangen geweseir, welche gezeigt haben, dass 16 230 der Sitz desselben in den Antennen liest. Wir wollen hier zunächst einige Experimente davon wiedergeben. Es wurden mit Terpentinöl oder Essigsäure befeuchtete Glasstäbchen nach einander einer grossen Anzahl von Insekten senähert. Dieselben offenbarten sehr deutlich, dass sie diese scharfriechenden Stoffe wahrnahmen, denn sie bewegten ihre Antennen und kehrten plötzlich um. Nachdem ihnen jedoch die An- tennen weggeschnitten worden waren, gaben dieselben Insekten kein Zeichen irgend einer Sinnesempfindung, wenn man sie auch in die unmittelbare Nähe des Terpentins oder der Essigsäure brachte. Ebenso wurden Fliegen, denen man das dritte Glied ihrer Antennen weggeschnitten hatte, nicht mehr von dem faulen Fleisch angezogen, welches vorher eine grosse Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatte; sie flogen wie vor- her umher, aber sie witterten das Fleisch nicht mehr aus einiger Entfernung. Ebenso wirkte eine Umhüllung der An- tennen mit einem dünnen Ueberzug von Paraffin. Die histologische Untersuchung führte zu folgenden Schlüssen: »Das Geruchsorgan besteht bei den Insekten, d. h. den sämmtlichen Orthoptern, Pseu- doneuroptern, Diptern und Hymenoptern, ferner bei einem grossen Theile der Lepidoptern, Neuroptern und Coleoptern l. aus einem starken, vom Gehirn- ganglion entspringenden Nerv, welcher in den Antennen dieser Thiere verläuft. 2. Aus einem percipirenden Endapparat, welcher ausHypodermis hervorgegangene Stäbchenzellen darstellt, mit welchen die Fasern jener Nerven in Verbindung treten. 3. Aus.einem Stütz- oder Hilfs- apparat, welcher durch mit seröser Flüssigkeit gefüllte Gruben oder Kegel, die als einfache Ausstülpungen der Epidermis zu betrachten sind, gebildet wird.< Dabei konnte konstatirt werden, dass das Organ am höchsten bei den- Jenigen Insekten entwickelt ist, welche es zur Aufsuchung ihrer Nahrung ge- | brauchen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die höchsten Zahlen der Geruch-Gruben und Kegel finden sich bei Wespen und Bienen; so hat die Honigbiene 14000—15000 Gruben und ca. 200 Kegel an jeder Fühlergeissel, die Blattwespen dagegen viel weniger. Ebenso haben die Fleisch- und Koth- fliegen 60— 150 Geruchsgruben an jedem Fühler, während bei den auf Pflanzen lebenden Fliegen (Trypetinen u. s. w.) nur 2—5 Gruben auf jeden Fühler kommen. In der Regel haben auch die Männchen stärker entwickelte Geruchs- organe als die Weibchen. (Zeitschrift f. wissenschaftl. Zoologie Bd. XXXIV. S. 367. 1880.) Ein Uehergangsglied von den Amphibien zu den Reptilien glaubt Prof. Cope in seiner Gattung Öricotus gefunden zu haben, die er auf Ueberresten begründet hat, welche aus einem zur triasischen oder permischen Epoche gehörigen Schieferthon von Ili- nois stammen. Die Gattung weicht von dem Reste der Stegocephalen oder La- byrinthodonten durch die vollständige Entwickelung der Wirbel-Centra und Zwischen-Öentra ab, welche beide Wir- belkörper bilden, und paarweise einzelne Rückenmarks-Bögen tragen. Kein der- artiger Charakter ist in den anerkannten Abtheilungen der Stegocephali gefunden worden, und Cope erhebt die Gattung zum Typus einer besondern Abtheilung, die er, wie folgt, definirt: »Centra und Intercentra gleichmässig als Wirbel- körper entwickelt. Ein einzelner Rücken- marks-Bogen wird von jedem von ihnen getragen, so dass ein doppelter Körper entsteht. Die Hinterhaupts - Wirbel- Einlenkung pfannenartig (cuplike), in- dem das Hinterhaupt mit dem ersten Wirbel durch ein ungetheiltes scheiben- förmiges Zwischencentrum verbunden ist.< So setzt sich die Eigenthümlich- keit der Wirbelsäule in die Einlenkung Kleinere Mittheilungen und Journalschau. des Schädels fort, und an Stelle des complieirten Atlas-Wirbel der Ganoce- phalen, ist da ein einfacher Körper vorhanden, welcher den Hinterhaupt- Höcker mit dem Wirbel verbindet. In aller Wahrscheinlichkeit stellt dieser einzelne Körper, den einzelnen Hin- terhaupts-Höcker des Reptil- Schädels vor, ein Skelettheil, der bei der Eidechse noch knorplig bleibt, nach- dem das Basioceipital bereits verknö- chert ist, und der ein besonderes Ele- ment darstellt. Der Bau von Cricotus zeigt, dass es ein ursprüngliches Inter- centrum ist. »Wir haben nun,« sagt Prof. Cope, >»die letzte Schwierigkeit von dem Wege der Annahme, dass die Reptilien Abkömmlinge der Amphibien seien, hinweg geräumt, nämlich den Unterschied in der Anlenkung des Schä- dels an die Wirbelsäule. Aber die ersteren sind nicht Abkömnlinge der Labyrinthodonten, wie gefolgert worden ist, noch der Ganocephalen, sondern der Embolomeren, wie ich die neue Ordnung oder Unterordnung nenne. Die Ordnung, welche ihr am nächsten steht, sind vielleicht die Theromorphen, welche so manche Amphibien-Charaktere, dar- unter die Zwischencentra darbieten.« Das von Fritsch aus der permischen Gaskohle von Böhmen beschriebene Genus Diplovertobron wird von Gope als vermuthlich zu derselben Gruppe wie Üricotus gehörig betrachtet. (The American Naturalist. August 1880.) Die Menschen-Reste der Schipka-Höhle. Auf der letzten Versammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft zu Berlin (August 1880) wies Professor Schaaffhausen aus Bonn auf den seltsamen »Zufall« hin, dass gerade ihm immer wieder Reste fossiler Menschen mit ausgesprochen thierischen Charak- teren zu Gesichte kommen, während andere Gelehrte dergleichen immer nur 231 für krankhafte Deformationen u. s. w. erklären wollen. In einer Sitzung der niederrheinischen Gesellschaft für Natur- kunde zu Bonn (6. Dezember 1880) war Professor Schaaffhausen schon wieder in der Lage, einen solchen Fall konstatiren zu können, und es scheint daraus immer deutlicher hervorzugehen, dass gewisse andere Anthropologen, die ebenso häufig fossile Menschenreste zu untersuchen in der Lage sind, diese thierische Kennzeichen entweder nicht sehen wollen, oder nicht zu erkennen im Stande sind. Es handelt sich diesmal um Menschenreste, die von Professor Maschke in der Schipka- höhle unweit Stramberg in Mähren ent- deckt worden sind. Mit ihnen wurden Ueberreste von Bos, Ursus, Kilephas, Rhinoceros, Leo und Hyaena gefunden, ausserdem roh behauene Werkzeuge von Quarzit, Basalt und Feuerstein, sowie einige Schneidezähne von Ursus, welche auf beiden Seiten am Beginne der Krone Einschnitte zeigten, vielleicht weil man noch nicht verstand, ein Loch durch die Wurzel zu bohren. Verkohlte Thier- knochen wurden in zahlreichen kleinen Bruchstücken daneben gefunden. Ein vereinzelter menschlicher Ueberrest wurde an einer beschützten Stelle an der Wand eines Seitenganges der Höhle in der Nähe einer Feuerstelle gefunden. Es war das Fragment eines Unterkiefers von Asche und kalkiger Kittmasse um- hüllt. Dieselbe Lage enthielt Mammuth- überreste und Steinwerkzeuge. Von dem Kiefer ist blos der Vordertheil mit Schneidezähnen, einem Eckzahn und den beiden Prämolaren auf der rechten Seite erhalten. Die letzteren drei Zähne waren in der Kinnlade noch unentwickelt, aber sichtbar, weil die Vorderwand der Kinn- lade fehlt. Die Grösse und Dicke der Kinnlade ist in erster Linie bemerkens- werth. Die Zahnentwickelung entspricht dem ersten Lebensjahre, aber der Kiefer und die Zähne sind so gross, wie die eines Erwachsenen. Wie es beim Men- 16 7 232 schen die Regel ist, scheint der erste falsche Backenzahn dem Durchbruch am nächsten, ihm folgt zunächst der Eck- zahn dann der zweite Prämolar. Die Höhe des Kiefers misst in der Fugen- linie bis zum Alveolarrande 30 mm, bis zum Ende der Schneidezähne 39 mm. (In dem Kiefer eines sieben Jahre alten Kindes betragen die entsprechenden Maasse 23 mm und 30 mm; bei einem neun Jahre alten Mädchen 24 mm und 33 mm; bei einem zwölfjährigen Kna- ben 22 mm und 31 mm. Die Kiefer von acht Erwachsenen maassen bis zum Alveolarrande im Mittel 31 mm.) Das Kiefer-Fragment ist an seinem untern Rande in der Fugenlinie 14 mm dick, unter dem Eckzahn beträgt die Dicke 15 mm. (Bei einem gewöhnlichen aus- gewachsenen Kiefer beträgt die Dicke in der Fugenlinie ungefähr 11 mm.) Wenn nunmehr die schneidende Ober- fläche der Vorderzähne horizontal ge- stellt wird, so weicht der untere Theil des prognathen Kiefers so weit zurück, dass man das Kinn als eine Hervor- ragung vermisst. Eine Senkrechte von dem vordern Alveolarrande fällt 4—5 mm vor dem untern Rande des Kiefers. hintere Oberfläche der Fuge ist schief ge- stellt, wie esin einem hohen Grade bei den Anthropoiden, und in einem geringeren Grade bei wilden Rassen vorkömmt, aber auch schon früher bei fossilen menschlichen Ueberresten beobachtet worden ist, wie bei dem Kiefer von La Naulette, mit welchem dieser Kiefer von der Schipka-Höhle viele Aehnlich- keit besitzt. Die Form der Schneide- zähne ist dem dicken prognathen Kiefer angepasst, der breiteste Theil der Wur- zel misst von vorn nach hinten $!/s mm, während das gewöhnliche Maass hier- von 6 mm beträgt. Ferner sind die Zähne auf der Vorderseite convex ge- krümmt. Die Krümmung entspricht einem Radius von 27 mm. Der innere Kinnstachel (spina mentalis interna) fehlt, und an seiner Stelle befindet sich, wie Die | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. bei den Anthropoiden eine Höhlung, an deren untern Rande eine Uneben- heit leicht gefühlt werden kann. Die Hervorragungen zur Anheftung der Mus- culi digastrieci sind wohl markirt und lassen auf eine entsprechend starke Ent- wickelung ihrer Antagonisten, der Kau- muskeln schliessen. Alle diese Kenn- zeichen wurden auch, nur noch mehr entwickelt an dem Kiefer von La Nau- lette beobachtet. Es ist wahrscheinlich, dass der Kiefer der Schipka-Höhle auch die pithekoide Eigenthümlichkeit besass, dass seine Zahnlinie nicht horizontal war, sondern von den Prämolaren zu den Schneidezähnen aufstieg, und die letzteren waren höher nach vorn als an den Seiten, weil die Schneidefläche der äussern Schneidezähne sich nach aussen schief senkt. Die Grösse der Eckzähne ist bemerkenswerth, sofern ihre emaillirte Krone 13,5 mm lang ist. (Bei dem fossilen Unterkiefer von Uelde überragten die Eckzähne die Prämo- laren um ca. 3,5 mm. Zufolge der Messung an zehn Schädeln erwachsener Europäer mit kaum abgenutzten Zähnen, war die Krone des Eckzahns 11,5 mm lang. Nur ein einziges Mal unter mehr als 50 Schädeln, wurde sie 14 mm lang gefunden.) Es kann nicht wohl angenommen werden, dass dieser in der Zahnung gefundene Kiefer einem Indi- viduum von Riesengrösse angehörte, da bei solchen Individuen das excessive Wachsthum nach Langer erst gegen das neunte oder zehnte Lebensjahr be- ginnt. Die Annahme, dass irgend eine pathologische Ursache die Entwickelung der drei Zähne, welche noch in der Kinnlade verharrten, gehindert habe, erscheint völlig grundlos. Ebenso wenig können wir annehmen, dass in den prä- historischen Zeiten die Zahnentwickelung verzögert war, und dass der Zahn- wechsel in einem spätern Alter statt- fand, da vielmehr eine schnellere Ent- wickelung einer niedrigeren Organisation entspricht. (Alle Säugethiere kommen Kleinere Mittheilungen und Journalschau. mit Zähnen zur Welt, und der Orang wechselt seine Zähne früher als der Mensch.) Die Gestalt des Kiefervorder- theils darf indessen schon an sich selbst als affenartig angesehen werden, und es ist um so mehr Grund dazu, als noch andere pithekoide Charaktere vor- handen sind. Den Anblick des grau- gelben Knochen mit kleinen dunklen verzweigten Flecken darauf, trifft man häufig bei Höhlenknochen. Die Emaille der Zähne ist völlig gleich derjenigen der quaternären Höhlenthiere, sie zeigt Längsrisse mit dunkler Infiltration, wäh- rend in deren Nähe bläuliche und an einigen Stellen gelbliche Flecken auf- treten. Die Kelten in Hallstadt. In Nr. 2 und 3 des 11. Bandes von Issler’s Neuen deutschen Alpen- zeitung findet sich ein Aufsatz von Dr. Arth. Simony, über das Hallstädter Heidengebirge und seine Entstehung, dem der folgende Auszug entnommen ist: Die Spuren der Thätigkeit, welche die Kelten zurückgelassen, die aus dem Salzberge über Hallstadt im Salzkammer- gut in der Umgebung des Rudolfthurmes neben den Gräbern ihrer Vorfahren und Genossen das kostbare Salz der Erde entnahmen und tief in die Eingeweide des Berges ihre Stollen und Schachte trieben, um den gewonnenen Salzkern zu Tage fördern zu können, sind un- gemein interessant, und ihre Zahl ist in der letzten Zeit beträchtlich ver- mehrt worden. Man kannte seit ge- raumer Frist schon das sogenannte »Heidengebirge«, einen salzarmen Thon oder ausgelaugtes Haselgebirge, welches als Einschlüsse Fetzen Tuch, Holzspäne, Stückchen Kohle, Lederstreifen und manchmal tüchtige Balken in sich birgt, ausserdem aber oft auch Taggesteine in Form der charakteristisch geritzten und polirten, meist aber nur schwach ‘ Heidengebirge 233 gerundeten Gletschergeschiebe enthält, wie man sie noch jetzt leicht im Boden der am Fuss des Plassensteins liegenden Dammwiese findet. Interessanter ist noch das allerdings sehr spärliche Vor- kommen von keltischen Ueberresten im Ritschner Sinkwerk, dem Fundorte grün gefärbten Steinsalzes. Hier sind zwei Bronzeäxte, sogenannte »Kelten«, mit- ten im Steinsalz eingebettet gefunden worden, durch deren Patina in der ganzen angrenzenden Region das kör- nige weisse Salz grün gefärbt erscheint. Durch dieses Vorkommen wird die Zeit des Bergbetriebes, als dessen Rest das erscheint, bestimmbar und identificirt sich mit der Broncezeit, als die Kelten in Hallstadt sich nieder- liessen und die grosse Grabstätte auf der Thurmebene anlegten. Holzsplitter sowohl als Glacial-Geschiebe fanden sich dann auch in der Rosa- und Lang- steiner-Kehre übereinander, das Jahr 1879 aber brachte eine neue Fundstelle von Heidengebirge zum Vorschein, wie in solcher Ausdehnung und Mächtigkeit noch nie geschehen. Bei der Ent- leerung und Ausarbeitung der Apolda- Wehre stiessen nämlich die Arbeiter in der Hinterwand des riesigen Hohlraums auf eine ungewöhnlich grosse Menge der bekannten Späne und Fackelreste und bei sorgfältigem weiteren Vorgehen fand man zwei mittels eines höchst geschmackvollen und festen Bastnetzes zusammengefasste Spanfackeln(Bucheln), deren eine noch fast unbenutzt war, ferner Fackeln, die, wie jetzt noch üb- lich, durch Holzreifchen zusammengehal- ten waren. Dann traf man auf starke Balken von ziemlicher Länge, die als Werkhölzer zugehauen waren, auf eine Art hölzerner Spitzhaue, die einen ziem- lich langen Griff zeigte, auf Mengen von Taggestein und schliesslich auf zwei lederne Tragkörbe, die aus röthlich grauem, glatthaarigem, ungegerbtem Felle gefertigt sind und mittels durch- gezogener, dünner, aber fast 1 Ctm. 234 breiter Riemcehen fest über ein Gestell aus leichten, schwach gebogenen Holz- stäbchen gespannt waren. Ihre Höhe beträgt fast 1 M., der obere grösste Durchmesser 35, der des hölzernen Bo- dens 15 Ctm. Die Tragriemen sind aus einem andern Felle, vielleicht aus Hirschleder, während der Ueberzug des Korbgestelles eher wie ein Elenvliess aussieht, und sie sind weich und noch sehr gut erhalten. Trefflich ist die Ar- beit und der Glanz der Haare hat durch tausendjährige Einsalzung nicht ver- loren. Die Lage der massenhaft zu einem riesig hohen Haufen angethürm- ten alten Balken von 21/e—3!/2 M. Länge, die rund und hie und an den Enden zugespitzt sind, ist eigenthüm- lich, und unten und aussen um sie liegen Taggesteine, darunter Blöcke bis zu einem Kubikmeter Inhalt, die sämmt- lich Kennzeichen des Glacialschuttes tragen, eine ausgezeichnete Politur haben und deren Magnesia-Gehalt mit Sicherheit auf die dolomitischen Kalke des Plassensteins hinweist. Offenbar sind sie ziemlich senkrecht oder auf sehr steilem Wege hier herein gelangt, was für den Keltenschacht, der wohl eine Art schraubenfömiger Einfahrt, aus jenen Balken gebildet, gehabt haben mag, eine Tiefe von etwa 250 M. er- giebt. Durch einen Einbruch von Wasser und Geröll dürfte die Wendeltreppe zertrümmert worden sein und die Hölzer häuften sich unten in der durch zu- führende Stollen bewirkten Ausweitung radiär, wie bei einem Kohlenweiler lie- gend, an. Dass die Kelten die Ur- heber dieses Trümmerwerks waren, folgert Dr. Simony, abgesehen von den beiden Tragkörben, aus der hölzernen Berghaue; denn sowohl römische, als altdeutsche oder mittelalterliche Berg- arbeiter hätten eisernes Gezähe zurück- gelassen, während die Kelten dieses Metall nur sehr spärlich im Besitz hat- ten und allenfalls zu Schwertern, Mes- sern oder Scheerenzangen, aber nicht | Kleinere Mittheilungen und Journalschau. zu solch rohem Gebrauch verwendeten. Auch die massenhaften Fackelspäne sprechen für solch hohes Alter des Baues, da man sonst wohl die eine oder andere Grubenlampe gefunden haben möchte, wenn Römer oder Deutsche hier ihr Wesen trieben. Das ganze Holz ist, übrigens durch Imprägnirung mit un- organischen Substanzen versteint. Kaum 50 Schritte von der Rück- front des Stollenhauses Maria Theresia sind keltische Bauten von grossem In- teresse aufgedeckt worden, die nur leider durch den fortwährend nach- rollenden Glacialschutt wieder theilweise begraben wurden. Eine grosse Menge derselben scheint noch der Eröffnung zu harren. Die bedeutendste derselben ist eine aus gleich langen Balken, die an den Enden zugehauen und im Viereck gelegt, durch starke Holznägel zusam- mengehalten sind, aufgeführte Baulich- keit von im Innern quadratischer Form und etwa 20 Quadratmetern Inhalt; sie ist mit Glacialschutt ausgefüllt und besitzt einen gedielten Balkenboden, der direkt auf dem dort zu Tage tre- tenden Gipsfelsen aufliest. Als man die- sen Raum seines Inhaltes entledigte, fand man darin massenhaft Knochenstücke, einen Schädel, wahrscheinlich den einer Hirschkuh, einigeunbedeutende Schmuck- gegenstände, eine Nadel, einen »Kelt«, einen Quirl, zahlreiche, meist zerbro- chene Wildschweinhauer und andere Zähne, endlich unglasirte Topfscherben. In der Mitte des übrigens von Glacial- schutt erfüllten Raumes erhob sich eine aus verschrägten Klötzen zusammen- gestellte Vorrichtung, von unklarer Be- stimmung. Der Zugang konnte nur von oben stattfinden. Die Broncesachen sind statt der Patina mit Kupfer-Indigo überzogen, sicherlich in Folge eingetre- tener Reduktionen. Der Quirl (Sprud- ler) soll aus Horn gefertigt sein. Die Topfscherben zeigen keine oder nur einfache Ornamente, der Thon dazu war sandig und schlecht geschlämmt; De Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 235 in einem derselben waren halbverkohlte Reste von Gerstenkörnern, die durch ir- gend ein Bindemittel zusammengebacken sind. Nur zwei Bruchstücke der Gefässe waren glasirt, darunter ein Henkel von beträchtlicher Grösse. Die zahlreichen Knochen sind meist nur Röhrenknochen grösserer Säugethiere ; alle erscheinen zertrümmert und die Markhöhle oft wie ausgeschabt. Nirgend ist an ihnen die aus vielfach verwebten Knochenbälk- chen gebildete Schicht vorhanden, wel- che die Markhöhle auskleidet; dafür sieht man deutlich die Spuren von spitzigen Instrumenten, mit denen der Inhalt des Knochens ausgekratzt wurde. Sonst giebt es noch Fuss- und Hand- wurzelknochen, Rippen, einzelne Bruch- stücke von Schädelknochen oder Wir- beln. Menschenknochen konnte Dr. Si- mony keinen einzigen unzweifelhaften auffinden, dafür um so mehr Wild- schwein- und Hirschreste, namentlich Zähne, aber alle ungefasst und brüchig, als wenn selbe im Feuer gelegen wären — eine Eigenthümlichkeit aller Gebeine an jenem Orte. Dieser Bau lag unter Wiesenboden mit starker Humusbeigabe, darunter folgte sandiges Geröll, !/g Meter mäch- tig, dann einzelne Glacialgeschiebe grösserer Gattung in einer Schicht Gla- cialschutt von gleicher Stärke, weiter eine eben so dicke, ganz schwarzgraue Schicht aus fein zerbrochener Holzkohle, Knochensplittern, Topfscherben, ver- glühten Kalksteinen, einzelnen Zähnen und etwas Lehm zusammengesetzt, die jedoch nicht über die ganze Breite der Hütte reichte; darunter lagen endlich die Massen Glacialschutt, welche die ganze Hütte ausfüllten, dann der Boden der Hütte und auf diesem die oben erwähnten Broncen mit dem Quirl, end- lich der Gips, der in grauen, schiefrigen Blöcken zu Tage tritt. Der Verfasser hält seine Ansicht, dass hier ein kel- tischer Bau vorliege, mit guten Gründen aufrecht und macht es sehr wahrschein- lich, dass dies eine gemeinsame Koch- stätte für die Bergarbeiter gewesen sei, wofür besonders die Masse aufgebro- chener und ausgeschabter Markknochen spricht und die Menge der Schweins- hauer. Der Unterbau, aus festen Stäm- men im Viereck ausgeführt, enthielt dann Vorräthe von Gegenständen, die in der Kühle aufbewahrt werden muss- ten, und das aus vier Holzblöcken sehr massiv aufgeführte Gerüst war vielleicht zu einer Fleischbank oder einem soliden Tisch bestimmt. Der Zugang wurde von oben, vielleicht mit einer kurzen Leiter bewerkstelligt. Die Zerstörung dürfte dann durch Losbrechen einer Muhre aus Glacialschutt vom Plassen- stein her erfolgt sein, wobei die Mauer des Kochraums nur ganz kurze Zeit aushielt, bis durch die im Boden des Obergemachs gelegene Eingangsöffnung in die unten liegende Vorrathskammer diese mit Schutt und Schlamm erfüllt war; dann stürzte sie zusammen, die Kohlen des Heerdes bedeckend und sie so vo® dem Weggeschwemmtwerden schützend. Diese Katastrophe muss gewaltige Dimensionen gehabt haben, wenn sie solche Riesenblöcke von Tag- -gestein, wie sie inmitten des Heiden- gebirgs liegen, in Bewegung setzen konnte; aber das Vorrücken dieser Mas- sen wird so langsam erfolgt sein, dass die Bergarbeiter die drohende Gefahr zeitig genug merkten oder erfuhren, und sonach aus dem Berge eilen konnten, freilich nicht, ohne das eine und andere von ihren Geräthen zurückzulassen. Als dann der nächste Tag wieder Licht und Ruhe brachte, lag an der Stelle eines lieblich grünenden Alpenthalbodens eine graugelbe Schuttmasse, aus der hie und da zerbrochene und entwurzelte Bäume oder Stücke losgerissenen Rasens her- vorstanden; die Hütten der Bergarbeiter waren verschüttet, die Eingänge der Schachte und Stollen in Schlamm und Trümmer begraben und jede Hoffnung verloren, wieder in das Salzbergwerk ‘236 zu dringen. Muthlos zogen die Kelten ab, um sich andere Stätten ihres Ge- werbfleisses aufzusuchen. Erst nach einem Jahrtausend wagten die späteren Bewohner Hallstadts hier wieder ein Salzbergwerk anzulegen ; dem Forscher- trieb der Gegenwart aber blieb es vor- behalten, uns wieder einen gesicherten Einblick in jene frühe Vorzeit an der Hand unumstösslich erscheinender That- sachen zu erschliessen. Die Erhlichkeit gewisser Verstümmelungen ist im vergangenen Jahre durch Mas- sin studirt worden, indem er verschie- denen männlichen und weiblichen Ka- ninchen die Milz wegnahm, und sie nach der Heilung unter einander paarte. Litteratur F. Delpino. Beiträge zur Ent- wickelungsgeschichte des Pflanzenreichs. I. Smilaceen.* Die Wissenschaft von den Pflanzen, so beginnt der Verfasser, ist heute in einer vollständigen Umwandlung begrif- fen. Im Lichte der Entwickelungslehre verwandeln sich die Paläontologie und Pflanzengeographie in eine Entwicke- lungsgeschichte des Pflanzenreichs, die Systematik in eine £rforschung des ge- nealogischen Stammbaums der Pflanzen; Sache der Biologie aber ist es, die An- passungen der Organe an die äusseren Einwirkungen nachzuweisen und damit für die Verzweigungen des Stammbau- mes die bedingenden Ursachen aufzu- decken. Die genealogische Forschung kann zwar, wie jede historische Forsch- * Federico Delpino, Contribuzione alla storia dello sviluppo del regno vegetale. Litteratur und Kritik. Wenn -man das Gewicht der Milz mit dem Totalgewicht des Körpers bei den Kaninchen vergleicht, so beträgt das Gewicht der ersteren im Mittel 0,1028, wenn man das letztere — 100 setzt. Bei den Lapins der ersteren Generation war nun die Milz zwar nicht verschwun- den, aber stark verkleinert, sie hatte unter demselben Verhältniss nur noch ein Gewicht von 0,0549, während es bei normalen Kaninchen niemals unter 0,0645 sinkt. Die Hoffnung, dass die Milzabnahme in der zweiten Generation noch weiter gehen würde, hat sich in- dessen nicht bestätigt, das Gewichts- verhältniss sank nicht tiefer als bei den Individuen der ersten Generation. (Bullet. de l’Academ. royale de Belgique t. XIV. p. 772. 1880.) und Kritik. ung, niemals aufExperimentesichstützen, niemals die ganze Wahrheit, niemals eine lückenlose Vollständigkeit erlangen; das unendliche Gebäude einer Pflanzen- Entwickelungsgeschichte wird daher nie in seiner ganzen Grossartigkeit vollendet werden können; aber sein Grundriss und Plan sind bereits bekannt und aufge- zeichnet und nicht wenige seiner Theile sind bereits jetzt einem wenigstens frag- mentarischen Aufbaue zugänglich. Diesen ebenso vorsichtigen als muthi- gen Worten gegenüber muss es uns einigermaassen befremden, Delpino nun mit einemmale die Forderung aufstellen zu sehen, die genealogische Forschung auf Arten, Gattungen, Familien und Gruppen von Familien zu beschränken und jede Spekulation über höhere syste- I Smilacee. Genova 1880. (Atti della R. Uni- versita di Genovo. Vol. IV. Parte 1.) Litteratur und Kritik. matische Abtheilungen als gänzlich aus- sichtslos zu unterlassen, weil mit dem Abstande der organischen Wesen die Schwierigkeit der genealogischen Forsch- ung stufenweise sich steigern und die Sicherheit der genealogischen Forschung daher gleicherweise abnehme. Wir müssen die Richtigkeit sowohl der vorausgesetzten Thatsache als der daraus gezogenen Folgerung in Zweifel ziehen. Denn angenommen, die von Delpino behauptete stufenweise Steige- rung der Schwierigkeit genealogischer Forschung fände wirklich allgemein statt: was würde daraus folgen? Doch nur, dass wir mit genealogischen Schlüssen um so vorsichtiger sein müssten, je weiter die zu vergleichenden organischen Wesen von einander abstehen, aber nun und nimmer, dass wir der genea- logischen Forschung an einer bestimm- ten Linie ein Halt zuzurufen hätten. Die Grenzlinie könnte ja in jedem Falle nur eine ganz willkürliche sein, da die umfassendsten systematischen Abthei- lungen mit den engsten durch Zwischen- glieder so untrennbar verknüpft sind, dass die Abgrenzung der Begriffe Art, Gattung, Familie etc. selbst ganz Sache der Willkür ist. Die vorausgesetzte Thatsache ist aber gar nicht einmal begründet. In vielen Fällen lässt sich vielmehr weit leichter und sicherer der verwandtschaftliche Zusammenhang der Hauptzweige ermitteln als derjenige der feineren Verzweigungen. Ueber die Ab- stammung der Vögel von Reptilien sind wir z. B. durch einige wenige paläon- tologische Funde genauer und sicherer_ orientirt worden, als über die Verwandt- schaft der Vogel-Gattungen und Fami- lien unter sich durch zahllose mühsame Vergleiche. Die Willkürlichkeit der Delpino’schen Grenzforderung wird auch dadurch nicht gemildert, sondern nur in ein grelleres Licht gestellt, dass er einerseits z. B. die Versuche, die Ur- sprungs-Einheit der Moose und Farne, 237 nachzuweisen als »unfruchtbare Hypo- thesen« und »gefährliche Uebertreib- ungen« bezeichnet, dagegen anderer- seits die Blutsverwandtschaft (consan- guineitä) aller Gymnospermen unter sich, aller Angiospermen unter sich als absolut feststehende Wahrheiten hin- stellt, mit den Worten: »Diese Bluts- verwandtschaft leugnen, heisst das Licht der Sonne leugnen.« Nach unserer Auffassung kann es sich bei Stammbaum - Untersuchungen im Thier- oder Pflanzenreich immer nur um eine grössere oder geringere Wahr- scheinlichkeit, nie um absolute Gewiss- heit handeln. In jedem Falle haben wir uns daher der Bedingtheit unserer Erkenntniss bewusst zu bleiben, und zur Aufstellung eines Gegensatzes zwi- schen unfruchtbaren Hypothesen bei der Beschäftigung mit Stammbäumen grösse- rer systematischer Abtheilungen und un- zweifelhaften Wahrheiten bei der Be- arbeitung kleinerer liegt nicht die aller- mindeste Berechtigung vor. Auch nicht einmal eine subjektive für Delpino. Denn obgleich das eigentliche Thema _ sei- ner vorliegenden Arbeit ganz innerhalb der von ihm willkürlich festgesetzten Grenzen liegt, schreitet er in einer An- merkung (S. 51) ohne Weiteres über dieselben hinweg und stellt die Mono- kotylen als Abzweigung der Dikotylen und andrerseits Farne, Gymnospermen, Diko- tylenund Monokotylen als die natürliche Aufeinanderfolge der höheren Pflanzen hin, und zwar diess nicht etwa, wie er consequenter Weise thun müsste, als unfruchtbare Hypothese und gefährliche Uebertreibung, sondern als unzweifel- hafte Gewissheit. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt nicht sowohl in der Bei- bringung von Thatsachen, die vielmehr grösstentheils Alph. de Candolle’s Mono- graphie der Smilaceen* entlehnt sind, * Alph. de Candolle.. Monographiae der Gymnospermen und Angiospermen | phanerogamarum. Vol. I. Smilaceae. 1878, 238 als in der Aufstellung allgemeiner bio- logischer Gesichtspunkte, die bei genea- logischen Forschungen zur Orientirung dienen können. Gerade diese aber ver- leihen Delpino’s monographischer Arbeit eine weit über ihr enges Gebiet hinaus- reichende Bedeutung und veranlassen uns, sowohl die wichtigsten uns annehm- bar erscheinenden* Aufstellungen des Verfassers in gedrängter Darstellung hier vorzuführen, als einige seiner anfecht- baren Behauptungen etwas näher zu erörtern. DerersteAbschnitt (S. 13—47) behandelt die Biologie der Smila- ceen und bespricht 1. als auf vegeta- tive Funktionen (Erhaltung des Indi- viduums, Ref.) bezügliche Anpassungen a) die Kletterstützen (Fulgri), b) die Stacheln, c) die extrafloralen Nektarien der Smilaceen, 2. als auf die Fortpflan- zung bezügliche, a) die Vertheilung der Geschlechter, b) die Blütheneinrichtung, 3. als auf die Aussäung (Erhaltung der Nachkommenschaft, Ref.) bezüg- liche, die Beeren. Ueber die Gewohnheit des Kletterns bei den Pflanzen gibt Delpino einen so einfachen und klaren Ueberblick, dass derselbe wohl hier mitgetheilt zu werden verdient: Kletterpflanzen finden sich unter den Phanerogamen sehr zahlreich. Der Vortheil, den sie von ihrer eigenthüm- lichen Gewohnheit. haben, besteht darin, dass sie sich zu beträchtlichen Höhen erheben und grössere Licht- und Luft- mengen gewinnen, ohne selbst kräftige Holzstämme entwickeln zu müssen, dass sie also ein Maximum der Wirkung mit einem Minimum von Sto#f und physiologischer Arbeit erreichen. Sie erlangen diesen Vortheil, indem sie sich Stützen, die sich ihnen in ihrer Um- gebung darbieten, zu nutze machen. Sind diese Stützen dünn und umwind- bar, so umwinden sie dieselben, ent- weder mit dem ganzen Stengel (Winden) Litteratur und Kritik. oder mit Ranken (Weinstock). Sind dagegen die Stützen dick und nicht umwindbar (Felswände, Mauern, dicke Baumstämme), so heften sie sich an dieselben an mittelst Haftscheiben, die sie entweder am Ende von Ranken (Ampelopsis) oder von Adventivwurzeln (Epheu) entwickeln. Bestehen endlich die Stützen aus dichtem Pflanzenwuchs ‚(Hecken oder Gebüsch), so halten sie sich an denselben mittelst zurückge- krümmter Haare oder Stacheln (Galium Aparine). Die an gewissen Oertlichkeiten sehr nützliche Gewohnheit des Kletterns kann aber natürlich an anderen, z. B. auf offenem Felde, in der Wüste oder am Meeresstrande, völlig nutzlos werden, und für Kletterpflanzen kann es an solchen Stellen von Vortheil sein, an- dere Gewohnheiten anzunehmen und die mit dem Klettern zusammenhängenden Eigenthümlichkeiten wieder zu verlieren. So hat im Geschlechte der Winden Convolvulus cantabrica die ererbte Eigen- thümlichkeit, sich mit einfachem, schlan- kem Stengel um dünne Stützen zu win- den, wieder eingebüsst und entwickelt statt dessen einen sehr ästigen, wider- standsfähigen Stamm mit geradlinigen Aesten. In allen Familien oder Gat- tungen nun, wo, wie bei Con- volvulus, die weitüberwiegende Mehrzahl der Arten klettert, werden wir vereinzelte nicht kletternde Arten als Abkömm- Iinge kletternder berrsehuen müssen, die eine bereits erlangte An- passung wieder verloren haben (negativer Neomorphismus D.); in denjenigen Familien oder Gattungen da- gegen, wo die‘ .weit uberwiıe- gende Mehrzahlder Arten nicht klettern, (z. B. Polyyonum) werden vereinzelte kletternde Arten (z. B. Polygonum Convolvulus) als Ab- kömmlinge nicht kletternder zu betrachten sein, welche den Litteratur Vortheil des Kletterns durch selbstän- dige Anpassung (positiven Neomorphis- mus D.) erworben haben. Aber noch ein anderer Gesichtspunkt bietet sich uns dar, von dem aus wir uns über den neueren oder älteren Ur- sprung von Kletterpflanzen orientiren können. Auch im Gebiete der Kletter- pflanzen kommen Erscheinungen vor, die uns nöthigen, bei den Pflanzen so gut wie bei den Thieren einen wahren Instinkt anzunehmen. In der Familie der Asclepiadeen z. B., deren überwie- gende Mehrzahl aus Kletterpflanzen be- steht, ist Vincetoxicum offieinale nicht kletternd; aber an manchen Exemplaren werden einzelne Zweige angetroffen, die sich um einander wickeln, offenbar nur in Folge der Fortwirkung einer inzwi- schen nutzlos gewordenen ererbten Ge- wohnheit. In keiner Familie ist der Kletter- instinkt ausgeprägter und tritt mannig- faltiger zu Tage als bei den Bignonia- ceen; bei verschiedenen Gliedern dieser Familie werden die verschiedenen oben aufgeführten Arten des Kletterns, mit Ausnahme der letzten, durch Wider- haken, sämmtlich angetroffen. Eine der- selben aber, eine Pithecoctenium - Art, zeigt, nach Delpino’s Beobachtung, eine wunderbare Vergesellschaftung fast aller jener Kletterweisen. Wo sie sich an eine Felswand oder Mauer stützt, ent- wickelt sie aus den Stengelknoten eine aus Büscheln von Adventivwurzeln ge- bildete Haftfläche. An der Spitze der Schösslinge verwandeln sich die äusser- sten Blättchen der Fiederblätter in Ran- ken, die eine dünne Stütze umwinden, wenn sich ihnen eine darbietet, die da- gegen an ihren Enden Haftscheiben ent- wickeln, wenn sie an die Oberfläche einer Wand stossen. Hier haben wir das unzweideutigste Beispiel eines wah- ren Instinktes, der sich auf mehrere Arten äussert. Welche Nutzanwendung lässt sich nun aus dieser allgemeinen Betrachtung und Kritik. 239 Lu auf die Smilaceen machen? Abgesehen von vereinzelten Smilaxarten mit ranken- losen Blättern sind sämmtliche Smilaceen kletternd; ihr Kletterinstinkt äussert sich auf zweierlei Art, bei der als ur- sprünglichste Smilaceenform zu betrach- tenden Gattung Rhipogonum durch Ad- ventivwurzeln, beiallenübrigenSmilaceen durch Ranken. Nur die untersten und obersten Blätter der rankenden Smilaceen sind rankenlos, alle übrigen entwickeln gegen die Basis des Blattstiels hin, dichtüberderligulaartigenVerbreiterung, mit welcher das Blatt den Stengel um- fasst, eine einfache, nicht lange, zurück- gekrümmte, an der Spitze verhärtete Ranke. Ueber den morphologischen Werth dieser Ranken haben die bis- herigen Autoren geschwankt, ob sie als umgewandelte Nebenblättchen (die jedoch ausserdem vorhanden sind!) oder als seitliche Blattsegmente oder Blätt- chen aufzufassen seien. Bevor aber diese Frage zur Erörte- rung kommen kann, müsste entschieden sein, ob sie überhaupt umgewandelte (metamorphe) oder nicht vielleicht viel- mehr neugebildete (automorphe) Organe sind. »Automorphe Organe ent- stehen und verschwinden ohne Uebergänge. Sie entstehen ex abrupto an der Stelle, wo ihre Funktion erforderlich ist, sie verschwinden ex abrupto, wo ihre Funktion nicht mehr statt findet und nicht mehr motivirt ist.« (Beleg: die vollständige Ranken- losigkeit der obersten und untersten Blätter der Smilaceen!) Metamorphe Organe verschwinden, da sie älteren Ursprungs sind, nur langsam und stufen- weise, sie abortiren. Für die Neubil- dung der Smilaceenranken spricht, dass weder in der Abtheilung der Coronariae, zu der die Smilaceen gehören, noch in der muthmasslichen Stammform der Smilaceen, der Gattung Rhipogonum, gelappte oder getheilte Blätter vorkom- men, dass also auch von einer Umwand- 240 lung seitlicher Blattabschnitte oder Blättchen hier nicht wohl die Rede sein kann, dass ferner von einem allmähligen Verkümmern bei den Ranken der Smila- ceen nie etwas bemerkt worden ist, dass endlich auch von einem Rückfall derselben in blattartige Verbreiterung keine einzige Beobachtung vorliegt. Trotz ihrer bestimmten Zahl und Stel- lung und der Betheiligung von Gefäss- bündeln an ihrer Bildung, die eher für ihre metamorphe Natur sprechen wür- den, dürften daher die Ranken der Smilaceen als neugebildete Organe zu betrachten sein. Ohne gegen die Ergebnisse, zu denen Delpino schliesslich gelangt, etwas ein- wenden zu wollen, haben wir doch gegen zwei Punkte dieser seiner Beweisführung grundsätzliche Einwendungen zu erhe- ben. Es erscheint uns durchaus un- statthaft, vereinzelte Arten, die sich durch das Vorhandensein oder Fehlen gewisser Eigenthümlichkeiten vor allen übrigen Arten derselben Gattung oder Familie auszeichnen, deshalb als einer Stammart von der jetzt vorherrschenden Form näherstehend zu betrachten. Denn es gibt ebensowohl Fälle, wo von einer mehr oder weniger umfassenden Abthei- lung des Thier- oder Pflanzenreichs nur ganz vereinzelte Arten gewisse Eigen- thümlichkeiten der Stammeltern bewahrt haben, über die alle übrigen in ihrer Weiterentwickelung längst hinausge- schritten sind (wie dies z. B. im Thier- reiche unter den Säugethieren zitzen- lose nur noch in der kleinen Gruppe der Schnabelthiere vorkommen, oder wie im Pflanzenreiche unter allen un- seren Gentiana-Arten nur noch Gentiana hutea offene Blüthen mit allgemein zu- gänglichem Honig behalten hat), als entgegengesetzte, wo nur einzelne Arten sich durch selbständig erworbene An- passungen sich vor allen übrigen aus- * Vgl. G. Jaeger, Die ÖOrgananfänge. Kosmos Bd. II, S. 26 ff. und in Bezug auf Nektarien H, Müller, Einige thatsächliche Litteratur und Kritik. zeichnen (wie z. B. unter den Beutel- thieren die Flugbeutler durch ihre Flug- haut, unter den Gentiana-Arten Gen- tiana bavarica und verna durch ihren tief geborgenen, nur langrüsseligen Schwärmern zugänglichen Honig). Ob der eine oder andere Fall vorliegt, lässt sich oft durch den Vergleich der ver- schiedenen Entwickelungshöhe, durch das Vorkommen rudimentärer Organe, durch den Verlauf der individuellen Ent- wickelung oder durch den paläontolo- gischen Befund, niemals aber durch die blosse Majorität der jetzt lebenden Arten entscheiden. Delpino selbst ist übrigens weit entfernt, an die von ihm aufgestellte Regel in der Praxis sich gebunden zu erachten. Er erklärt z. B. die sehr artenarme zwitterblüthige Smilaceen- Gattung Rhipogonum für die Stammform dieser Familie, während sie doch, wenn die Majorität der jetzt lebenden Arten das über die Ursprünglichkeit Entschei- dende wäre, neueren Ursprungs sein müsste, als alle übrigen Smilaceen, da diese sämmtlich diöcisch sind. Ein zweiter Punkt, in dem wir der Delpino’schen Auffassung grundsätzlich entgegentreten müssen, ist das angeb- liche ursplötzliche Entstehen und Ver- schwinden »automorpher« Organe. Auch hier macht die Natur keinen Sprung, sondern immer und überall wird ein neuer Lebensdienst zunächst von bereits vorhandenen Theilen des Organismus übernommen, die sich dann erst, sei es in Folge der Wirkung des Gebrauchs, sei es durch Naturauslese der passend- sten Abänderungen, stufenweise und all- mählich der nöthigen Leistung besser entsprechend ausbilden und unter Um- ständen zu selbständigen Organen ent- wickeln können *. Zwischen Theilen eines bereits vor- handenen Organes, die ohne besondere und theoretische Bemerkungen. Jahrb. f. wissenschaftl. Bot. Bd. XII. Litteratur und Kritik. Umbildung einen neuen Lebensdienst übernommen haben (epimorphen Orga- nen Delpino’s), Organtheilen, die in Anpassung an eine besondere Funktion sich zu selbständiger Form heraus- gebildet haben (automorphen Organen D.’s) und ganzen Organen, die zu einem neuen Lebensdienste übergegangen und in Anpassung an denselben umgebildet sind (metamorphen Organen D.’s), ist daher nirgends eine scharfe Grenze zu ziehen. Nur das dürfte als von vorn- herein höchst wahrscheinlich anzuerken- nen sein, dass jede organische Bildung sich im Ganzen um so treuer vererbt, eine je grössere Zahl von Generationen hindurch sie bereits unverändert ver- erbt worden ist. Von den übrigen biologischen Be- merkungen Delpino’s heben wir als be- sonders interessant noch die folgenden hervor: Bei den meisten Smilaceen findet sich an den jüngsten, in Entwickelung begriffenen Blättern, deren Blattfläche noch ganz klein ist, ein Nektarium (bei den von D. beobachteten Arten als zugespitzt eiförmiger Knopf von dunkelgrüner Farbe), dessen Oberfläche zahlreiche Zuckertröpfchen absondert. Durch dieselben werden verschiedene Ameisen angelockt, die dem jungen Zweige so lange als Leibgarde dienen, bis seine Stacheln hinreichend erhärtet sind, um die Nektarien in ihrem Lebens- dienste — als Schutzmittel gegen Ab- geweidetwerden — abzulösen. Eine ähnliche Ablösung zweier Schutzmittel derselben Art, einer Ameisen-Schildwache. und eines Stechorgans, hat D. denn auch bei gewissen Asparagus-Arten ent- deckt, deren schuppenförmige Primor- dialblätter ein zurückgekrümmtes Horn entwickeln, das erst als Nektarium fun- girt und sich dann in einen kräftigen Dorn verwandelt. Bei der Besprechung der Zweihäusig- keit und‘ geringen Augenfälligkeit der Blüthenstände vieler Smilaceen erklärt 241 es D. für eine allgemeine Thatsache, dass zweigeschlechtige Blumen, wenn sie zur Eingeschlechtigkeit und Zwei- häusigkeit übergehen, niemals ihre Au- genfälligkeit steigern, wohl aber oft be- deutend vermindern, und findet die Erklärung dafür in dem Umstande, dass dieser Uebergang nur bei überreichlichem Insektenbesuche stattfinden könne. Als Haupt-Anlockungsmittel müsse in diesem Falle etwäs anderes als Augenfälligkeit, vielleicht ein der menschlichen Nase nicht wahrnehmbarer Geruch dienen. Wir können weder die Allgemeinheit der behaupteten Thatsache, noch die Stichhaltigkeit der Erklärung zugeben. Was die Erklärung betrifft, so wäre, falls die behauptete Thatsache allge- mein richtig wäre, doch gerade der trotz verminderter Augenfälligkeit ge- steigerte Insektenbesuch das Räthsel- hafte, der Erklärung Bedürftige. Durch die Annahme eines für uns niemals erkennbaren oder nachweisbaren An- lockungsmittels würde aber statt des ersten Räthsels nur ein zweites gesetzt. Die behauptete Thatsache selbst findet aber gar nicht allgemein, sondern nur in einzelnen Fällen statt, die auch ein- zeln beurtheilt sein wollen. Die von D. angeführten Beispiele sind zum grossen Theile nicht zutreffend. Die diöcischen Lychnis-Arten diurna und vespertina sind nicht unscheinbarer, sondern eher augen- fälliger als die zwitterblüthigen los cueuli und flos Jovis, Petasites albus ist augenfälliger als Tussilago farfara. Valeriana dioica ist zwar in der That weniger augenfällig als V. tripteris; aber letztere ist nicht, wie D. voraus- setzt und wie man nach den Floren von Koch u. a. schliessen müsste, zwitterblüthig, sondern diöcisch (vgl. H. Müller, Alpenblumen $. 472). Von allen von D. angeführten Beispielen, die dem Ref. näher bekannt sind, ist nur Ribes alpinum zutreffend; bei die- sem aber erklärt sich der überreich- liche Insektenzutritt wohl genugsam 242 aus der reichlichen Menge völlig offen dargebotenen Honigs. Treffend erscheint uns dagegen die Erklärung der Thatsache, dass die weib- lichen Blüthenstände von Smilax kräf- tiger und compakter sind als die männ- lichen, dass ebenso bei den krautigen Diöcisten Cannabis, Mercurialis, Lychnis diurna und vespertina die männlichen Individuen schlankere Statur, verlän- gertere Internodien und schmalere Blät- ter haben als die weiblichen. Die weib- lichen Blüthenstände haben eben, wie D. mit Recht hervorhebt, nach dem Verblühen noch Früchte hervorzubringen und bedürfen daher grösserer Haltbar- keit und reichlicheren Nahrungszufluss als die männlichen. Bei diöcischen Bäumen findet ein solcher Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Individuen nicht statt, da sie den über- wiegenden Theil des Nahrungsstoffes auf ungeschlechtlich erzeugte Knospen ver- wenden. DerzweiteAbschnitt (8.47—79) behandelt die Genealogie der Smi- laceen. Genealogische Forschungen, sagt D., müssen sich auf die That- sachen der Morphologie, der Paläonto- logie und der Geographie stützen. Der oberste Entscheidungsgrund muss aber immer der morphologische bleiben. »Die andern beiden dürfen in keinem Falle gegen ihn erhoben werden. Sie haben nur Werth, wenn sie mit ihm übereinstimmen.« Nach irgend welcher Begründung dieser so absprechend hingestellten Behauptung sehen wir uns aber vergeblich um. Wir halten sie in der That für gründlich verkehrt. - Denn die Ergebnisse der Pa- läontologie, die unter günstigen Um- ständen absolut zuverlässig und für sich allein ausreichend sind, um die ge- schichtliche Aufeinanderfolge einer Or- ganismenreihe zu enthüllen, würden absolut werthlos sein, wenn D. recht hätte. Oder wer wollte auf das Ja eines Zeugen, der überhaupt nur Ja Litteratur und Kritik. sagen darf, wohl irgend etwas geben! In der That erscheinen uns die genea- logischen Forschungsbegriffe D.’s als durch seine zu geringe Beachtung des genealogischen Befundes bedeutend zu ihrem Nachtheile beeinflusst. Hätte er z. B. die grosse Verbreitung der Amen- taceen in den Kreideschichten berück- sichtigt, so würde er schwerlich zu der (S. 71 ausgesprochenen) Ansicht ge- langt sein, dass die windblüthigen Amen- taceen von insektenblüthigen Urformen abstammen. Es ist jedoch hier nicht der Raum, auf die mannigfachen, zum Theil sehr schwach begründeten genea- logischen Aufstellungen dieses Abschnit- tes einzugehen. Wir beschränken uns vielmehr darauf, die direkt auf die Smilaceen bezüglichen Ansichten Delpi- no’s in gedrängtester Kürze hier wieder zu geben. Während die Dikotylenfamilien, sagt D., weder jetzt, noch wahrscheinlich je auf eine einzige oder auch auf mehrere natürliche Gruppen zurückführbar sind, stellen dagegen die Monokotylen einen von den Dikotylen abgezweigten, ein- zigen Complex von Familien dar, die sich alle trefflich auf eine und die- selbe Blüthen-Grundform zurückführen lassen, nämlich auf die einfachste Blü- thenform, die bei den Monokotylen über- haupt vorkommt, und die uns mehrere Liliaceen darbieten, d. h. auf die regel- mässige, aus 5 dreigliedrigen Blatt- kreisen bestehende, mit freien Kelch- blättern, Blumenblättern, äussern und innern Staubgefässen und verwachsenen Fruchtblättern. Auf diese Blüthenform lassen sich alle, auch die abweichend- sten Monokotylen durch noch jetzt exi- stirende Zwischenstufen zurückführen: Lemma durch die Vermittlung von Pistia, Ambrosinia und Acorus, die Orchideen vermittelst der Marantaceen, Zingibera- ceen und Musaceen, die Gentrolepideen durch die Restiaceen und Commelyna- ceen u. s. w. Mit dieser Urform stimmt auch die muthmassliche Stammform der Litteratur und Kritik. Smilaceen, Rhipogomum, fast vollständig überein, bis auf den kleinen Unterschied, dass die Trennung der Fruchtblätter sich unter die Gegend der Narbe hinab — auch auf einen Theil des Griffels fortgesetzt hat; Coibanthus und Eu- smilax weichen durch die Trennung der Geschlechter und Spaltung des Griffels davon ab, Pleiosmilax ausserdem durch unbestimmte Vervielfältigung der Staub- gefässe; am meisten aber entfernt sich I. Zwitterblüthen, auf dem Griffel a in traubenförmige, verlängerte Trugdolden geordnet. 243 von der Grundform Feterosmilax, indem zur Trennung der Geschlechter und völligen Spaltung des Pistills noch Weg- fall eines Blattkreises der Blüthenhüll- blätter und eines Kreises der Staub- gefässe, sowie Verwachsung der Kelch- blätter und Verwachsung der Staub- gefässe (Monadelphie) hinzutritt. Del- pino gelangt hiernach zu folgender, der de Candolle’schen fast entgegengesetzter Anordnung der Smilaceen : Narben Blätter anlänies, Erste Gattung: Rhipogomun. II. Zweihäusige Blüthen, in doldenförmige zusammengezogene Trugdolden ge- ordnet. Narben von der Spitze bis zur Basis getrennt. Blätter ranken- pravend. 01 4... ROBERT: Zweite Galtime: Smilax. A. nike il Kelchblätter nach innen gekrümmt. Coilanthus. B: » » » » aussen » 1. Staubgefässe zahlreich bis zu 18. . . Pleiosmila«. Stauhoefä j6, frei. Kelch und one Sorheinden Eusmilax. aubgefässe |. ü : Pe 3, monadelphisch. Blumenkrone verkümmert Heterosmilax. Mit Recht bringt D. gegen Alph. de Candolle zur Geltung, dass die ge- ringe Zahl der Blüthentheile bei He- terosmilax nicht ein Zeichen ursprüng- licher Einfachheit, sondern nachträg- licher Vereinfachung ist, dass daher diese Gattung nicht als die ursprüng- lichste, sondern als die äusserste Ab- zweigung der Smilaceenfamilie betrach- tet werden muss. Der dritte und letzte Abschnitt der Arbeit behandelt die geographische Ver- theilung der sehr zahlreichen und über alle wärmeren Länder der. Erde ver- breiteten jetzt lebenden Smilaceenarten und sucht dieselbe in ihrem geschicht- lichen Zusammenhange zu erklären. Zu einem kurzen Auszuge ist indessen die- ser Abschnitt nicht angethan und zu einer ausführlichen Mittheilung wegen der Unsicherheit seiner Ergebnisse wenig geeignet Hermann Müller. Das Bewegungsvermögen der Pflanzen von Charles Darwin mit Unterstützung von Francis Dar- win. Aus dem Englischen von J.V. Carus. 506 8. in 8. Mit 196 Holz- schnitten. Stuttgart, E. Schweizer- bart’sche Verlagshandlung (E. Koch). 1881. Da über den Inhalt dieses auf sei- nem Gebiete wiederum grundlegenden Werkes in unserer Zeitschrift bereits beim Erscheinen der englischen Ausgabe von berufener Hand eine eingehende Analyse veröffentlicht worden ist, so handelt es sich für heute nur darum, unsern Lesern die Vollendung der deut- -schen Ausgabe anzuzeigen. Für die Abon- nenten der Gesammt-Ausgabe ist das- selbe auch als Lieferung 86—92 (Bd. XIII) zu beziehen. Wie wir hö- ren, ist bereits ein neues Werk des unermüdlichen Forschersin Vorbereitung, welches über die Lebensgewohnheiten der Regenwürmer und deren Wichtig- keit für die Bereitung des Pflanzen- humus handelt. 244 Nene Schriften zur kosmischen Physik. 1. Von den Umwälzungen im Weltall. Von Rudolph Falb. 288 Seiten mit 95 Abbildungen. Wien, Pest, Leipzig. A. Hartleben’s Verlag, 1881. 2. Die Nachbarwelten als gegen- seitige Gestalter. EinHandbuch für Lehrer und Gebildete von Prof. Dr. G. Heinrich Schmick. 77S. in gr.8., Leipzig1880. Alwin Georgi. Die Veränderlichkeit des Klima’s und ihre Ursachen, von Dr. Franz v. Czerny, Professor der Erdkunde an der Universität Krakau. 100 8. in 8. Wien, Pest, Leipzig, Hartleben, 1881. 4. »Praiktische Anlertung, zur Beobachtung der Polarlichter und der magnetischen Erschei- nungen in hohen Breiten, von Carl Weyprecht, Schiffslieutenant. 488. in8. Wien, MoritzPerles, 1581, Wir beginnen unsere Besprechung mit dem Falb’schen Werke, weil das- selbe bis zu den ersten Anfängen des Werdens im Weltall zurückgreift. In seinem ersten Buche, betitelt >»In den Regionen der Sterne« giebt der Heraus- geber des »Sirius« einen Abriss der Ent- wickelungsprozesse im Weltall, wobei er namentlich bei den Gestalten der Nebelflecke und der Anordnung der Ge- stirnsystemelängereZeitverweilt. Neu ist darin die Zeichnung unsres Weltsystems in einer, dem Saturn mit seinem Ringe ähnlichen Anordnung. Das eigentliche, nahezu kugliche Sternsysttem — in dessen Mitte sich der grosse Orion- Nebel befinden soll, — würde durch die beiden Milchstrassen-Ringe in ähn- licher Weise, nur in grösserer Entfer- nung umgürtet, wie der Saturn von seinem bekanntlich ebenfalls in mehrere Zonen zerfallenden Ringe. Dieser aus den öffentlichen Vorträgen des Ver- fassers hervorgegangene Theil ist in- dessen nur wie eine Art Einleitung zu [SS Litteratur und Kritik. dem eigentlichen Thema, der Einwir- kung von Sonne und Mond auf die Erde, zu betrachten. In dem kürzeren zweiten Abschnitt: »Im Reiche der Wolken«, werden vor- nämlich diese Einwirkungen auf die Atmosphäre betrachtet. Die Anziehungs- kraft von Sonne und Mond soll Druck- verminderungen in der Atmosphäre her- vorrufen, die bei günstigen Constella- tionen so stark werden, dass sie nicht nur stärkeres Aufsteigen der wärmeren Luftschichten in den Aequatorial-Gegen- den, sondern auch Unwetter aller Art erzeugen und den Ausbruch von Erd- beben begünstigen, in denen das flüssige Erdinnere dadurch in den Spalten der Erde emporsteigt und dort Dampfexplo- sionen zu Wege bringt. Etwa vier- tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung wären diese Einwirkungen der Sonne- in den Perihelzeiten so stark ge- worden, dass damals ungeheure Dunst- mengen vom Aequator nach den höhern Breiten befördert worden seien, und dort die Sintfluth erzeugt hätten, welche nach circa 4000 Jahren wiederkehren würde. Im dritten und letzten Buche: »In den Tiefen der Erde«, geht der Ver- fasser näher auf seine Erdbebentheorie ein, nach welcher bekanntlich die Erd- beben als combinirte Folgen der An- ziehung von Sonne und Mond auf die Atmosphäre und das flüssige Erdinnere dargestellt werden, weshalb sowohl ge- wisse Zeiten des Jahres als auch ge- wisse Stellungsverhältnisse von Sonne und Mond als besonders günstig für die Erzeugung von Erdbeben bezeichnet werden. Demgemäss falle das Maximum auf den Jahreswechsel (grösste Sonnen- nähe), das Minimum in die Mitte des Jahres. Andere kräftige Einwirkungen von Sonne und Mond fänden statt an Neu- und Vollmondtagen und besonders, wenn zugleich eine Finsterniss statt- findet, weil dann die beiden Weltkörper nahezu in derselben Richtung wirken. Ebenso seien die Aequatorstände von Litteratur und Kritik. Sonne und Mond verhängnissvoll, be- sonders wenn mehrere dieser Combi- nationen zusammenwirkten. Aus den an- geführten Gründen sollen derartige Com- binationen besonders verhängnissvoll im Januar, gegen den 1. April und 1. Okto- ber sowie im Dezember sein, und es wird eine ausführliche Erdbebenstatistik angeführt, welche diese Sätze, und die darauf begründete Erdbebenprognose, durch welche sich der Verfasser in wei- tern Kreisen bekannt gemacht hat, be- stätigen sollen. In einem Anhange wird dann noch das Sismobathometer — ein neues Instrument zur Bestimmung der Tiefe, der Fortpflanzungs-Geschwindigkeit, der Stärke, der Eintrittszeit und der Zahl der Erdstösse — erörtert. Referent, welcher glaubt, dass in den Falb’schen Ansichten ein gesunder Kern liest, kann das Erscheinen dieses Buches nur beklagen, weil es seiner Ueberzeugung nach, der Sache nur scha- den kann. Es wimmelt von dogmatischen Behauptungen und Flüchtigkeitsfehlern, die den Gegnern zu willkommnen An- griffspunkten dienen können, um die Mängel der Methode des Verfassers zu erweisen. Was soll man von einer Un- fehlbarkeit sagen, welche (8. 230) die von so vielen sorgfältigen Beobachtern angenommene Schrumpfungs- oder Fal- tungstheorie der Erdrinde ohne weitern Beweis als »auf einem groben, physi- kalisch-geologischenSchnitzerberuhend« abfertigt, und dabei solche — Flüchtig- keiten unterlaufen lässt, wie die Ver- bindung von Kohlenstoff und Wasser zu Kohlenwasserstoff (S. 67) oder die Zeile: »Wenn Wasserstoff und Sauerstoff verbunden wird, entwickelt sich das sogenannte Knallgas mit plötz- licher und bedeutender Wärmeentwicke- lung ....« (8. 77) oder die Sätze: »Daher kommt nur ein kleiner Theil des Wassers, welches als Regen in den Boden dringt, als Quelle wieder an die Oberfläche. Der grösste Theil ist blei- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). des Oberflächen - Mittelpunktes, \ 245 bend im Innern gebunden.« (8. 79.) Wenn das wahr wäre, würden wir in spätestens zehn Jahren aufgetrocknet sein, wie der Mond. Die Zöllner’schen Petroleum-Kometen gelten hier bereits als Thatsachen! Da wir, wie gesagt, in den Falb’schen Ansichten einen sehr der genaueren Prüfung würdigen Anlauf zu einer Lösung eines bisher nichts weniger als » vollkom- men gelösten« Problems zu gewahren glauben, so müssen wir es doppelt be- dauern, dass der Verfasser seinen mehr- jährigen Aufenthalt am Fusse der Anden, statt zu sorgfältiger Untersuchung der an seinen Namensich knüpfenden Theorie, zu Studien über die »Ursprache« und zur Abfassung derartiger Bücher ver- loren hat. In Nr. 2 tritt uns eine erfreulichere litterarische Leistungentgegen. Professor Schmick hat darin eine kurze und ge- drängte Uebersicht seiner in sieben grösseren Werken entwickelten Ansich- ten über die »säkulare Umsetzung der Meere« gegeben, die ungemein geeignet ist, uns mit der jedenfalls beachtens- werthen Theorie Schmick’s bekannt zu machen. Je mehr sich die Ansicht be- festigt, dass die Continente im Wesent- lichen immer ihre jetzige Lage einge- nommen haben, und doch so zahlreichen Ueberfluthungenund klimatischen Gegen- sätzen unterlegen sind, wie sie uns die geologischen Untersuchungen und na- mentlich die Studien über die soge- nannte Eiszeit beweisen, um so nöthiger wird es für uns, die kosmischen Ursa- chen dieser Veränderungen in’s Auge zu fassen. Nach einer eingehenden Ein- leitung und Kritik der einschlägigen Theorien vonAdhe&mar und Croll, als derjenigen, welche am meisten Beach- tung gefunden haben, erläutert der Ver- fasser seine eigene Theorie, die bekannt- lich darin gipfelt, dass abwechselnd 10500 Jahre hindurch die Sonnenan- ziehung den Nord- oder Südpol der Erde 17 246 begünstigt, und deshalb die flüssigen Stoffe innerhalb und oberhalb der festen Erdmasse dorthin häuft, wobei eine Verschiebung des Erdschwerpunktes in’s Spiel kommt, welche gegenwärtig die innern und äussern Flüssigkeiten nach dem Südpole zieht. Gegenwärtig und noch für längere Zeit steigen die Nord- polargebiete aus dem Meere, die Süd- polargebiete werden überfluthet. Alle zehntausend Jahre kehrt sich durch den Wechsel der Excentrieität der Erdbahn zu Gunsten des andern Poles das Ver- hältniss um, und dadurch wird die Ver- theilung der Meere eine entgegengesetzte, Festland wird zur See, See zu Festland, die Klimate ändern sich, Thiere und Pflanzen werden zu Wanderungen ge- zwungen, welche ihrer Umgestaltung und Formvermehrung überaus förderlich sind, so dass dadurch die Lücken der Formen- zahl, welche das durch die gleichen Verhältnisse herbeigeführte Aussterben einzelner Arten bewirkt, mehr als ge- füllt werden. Wir können die Schmick’- sche Theorie vorläufig noch nicht, wie es einige begeisterte Anhänger derselben bereits vor Jahren gethan haben, mit den Kepler’schen und Newton’schen Ent- deckungen auf eine Stufe stellen, wir theilen namentlich seine Ansichten über die Gebirge nicht, und sind dessen eingedenk, dass die Tiefseeforschungen der Challenger-Expedition am Südpol nicht die dort vermutheten grösseren Meerestiefen gefunden haben, gleich- wohl: müssen wir die Theorie als eine wohl durchdachte bezeichnen, und em- pfehlen das vorliegende Buch nicht nur als ein bequemes Orientirungs- mittel über dieselbe, sondern auch als den neuesten Standpunkt dezselben darlegend. Während sich die beiden vorgenann- ten Werke vorwiegend mit Aufstellung und Unterstützung besonderer Theorien über die Ursachen der klimatischen und mechanischen Veränderungen aufunsrem Litteratur und Kritik. Erdball beschäftigen, liefert Nr. 3 eine zusammenfassende, kritische Darstellung der über die Veränderungen des Erd- klima’s aufgestellten Theorien. Dieselbe zeichnet sich durch Reichhaltigkeit und Objektivität sehr vortheilhaft aus, und gewährt eine ebenso anregende als be- lehrende Lektüre. Der Verfasser hat die Darlegung so angeordnet, dass er zunächst die Veränderlichkeit des Klima’s in den historischen Zeiten betrachtet, und erst in einem zweiten kürzeren Ab- schnitt auf die Veränderungen in den geologischen Zeiten eingeht. Diese An- ordnung bietet den Vortheil, dass die Diskussion von den bekannteren zu den unbekannteren Thatsachen fortschreitet. . In dem ersteren Theile ist besonders die sehr eingehende Darstellung der An- sichten über den Einfluss der Sonnen- flecken-Periode auf Klima und Wetter von grossem Interesse. Bekanntlich haben sich in neuerer Zeit besonders englische Astronomen und Physiker auf dieses Thema geworfen und einen Zu- sammenhang der solaren Erscheinung mit allen möglichen irdischen Vorgängen zu finden geglaubt. Die Sonnenflecken- Minima sollen nicht nur niedrigere Tem- peratur, Regenverminderung, Boden- unfruchtbarkeit, Hungersnoth, Heu- schreckenzüge, Welthandelskrisen, Ko- meten- und Weinarmuth, sondern auch Erdbeben und verwandte irdische Reak- tionen verschulden. Ebenso eingehend wird der klimatische Einfluss der perio- dischen Veränderungen der Erdentfer- nung von der Sonne, der Erhebungen und Senkungen des Bodens, der Ver- theilung von Festland und Gewässer, und der Einfluss der vom Menschen bewirkten Veränderungen (Verminderung der Wälder u. s. w.) betrachtet. Hin- sichtlich der vorzeitlichen Veränderungen ist der Verfasser den kosmischen Theo- rien von Adh&mar, Croll, Schmick und anderen nicht eben günstig ge- stimmt, und hält hinsichtlich der so- | genannten Eiszeiten, die Campbell’sche Litteratur und Kritik. Hypothese *, nach welcher dieselben keine universellen, sondern nur lokale Er- scheinungen gewesen wären, für ange- messener. Wie dem auch sein mag, jedenfalls verdient die fleissige, unge- mein umsichtige und reichhaltige Arbeit die Aufmerksamkeit aller Derjenigen, welche diesem wichtigen Thema ihr Interesse zuwenden. Nr. 4 ist ein Vermächtniss des für die Wissenschaft im Allgemeinen und für die Polarforschung im Besondern zu früh ver- storbenen Carl Weyprecht, des Führers der zweiten österr.-ungarischen Nord- polexpedition. dabei gewonnenen Erfahrungen, will es dem Nachfolger auf diesem Forschungs- gebiete der Wege ebenen, und ihn von vornherein mit den die Beobachtung er- leichternden Kunstgriffen bekannt ma- chen, die sich der Neuling sonst erst durch längere Ausdauer zu eigen machen würde. Die Magnetnadel zeigt in jenen hohen Breiten nämlich eine solche Un- ruhe, dass einer schnellen und sichern Beobachtung eigenthümliche Schwierig- keiten entgegenstehen. Die Anleitung ist in besonderem Hinblick auf das be- vorstehende internationale Vorgehen zur Erforschung der physikalischen Geo- graphie des Nordpols verfasst, und wir müssen es als einen glücklichen Um- stand für die Wissenschaft betrachten, dass der Verfasser seine Erfahrungen noch kurz vor seinem Hingange ver- öffentlichen konnte. Dr. L. Rabenhorst’s Kryptoga- | men-Flora von Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Erster Band. Pilze von Dr. G. Winter, Dozent der Botanik inZürich. Leipzig, Ed. Kummer 1881. Lief. 1 und 2. Rabenhorst’s Kryptogamen-Flora gilt als ein klassisches Werk, welchem auf dem betreffenden Gebiete nichts Eben- * Vergl. Kosmos Bd. V, S. 294. Unter Verwerthung der 247 bürtiges gegenübergestellt werden kann. Die Verlagshandlung erwirbt sich daher ein wirkliches Verdienst, indem sie nach dem jüngst erfolgten Tode des Verfas- sers, eine durchaus neu bearbeitete Auflage veranstaltet, wobei die Bear- beitung der einzelnen Abtheilungen in berufene Hände gelegt ist. Es werden beispielsweise die Meeresalgen von Ferd. Hauck in Triest, die Süsswasseralgen von Paul Richter-Leipzig, die Diato- maceen von A. Grunow in Berndorf bei Wien, die Laub- und Lebermoose von G. Limpricht in Breslau bear- beitet werden. Zunächst sollen die Pilze in zehn Lieferungen erscheinen, und die beiden vorliegenden Lieferungen, welche ausser einigen einleitenden Kapi- teln über die Grundzüge der Morpho- logie und Physiologie, und das Einsam- meln der Pilze, einen kurzen Ueberblick des Systems und die Klassen der Schizo- myceten, Saccharomyceten, nebst einem grossen Theil der Basidiomyceten ent- halten, zeigen hinlänglich, dass der Verfasser den neuesten Standpunkt der Mycologie einnimmt und mit grosser Sorgfalt das unendliche Material zu sichten versteht. Zahlreiche gute und charakteristischeAbbildungen vonHaupt- vertretern der einzelnen Gattungen kom- men der Anschauung zu Hülfe, so dass auch dem Bedürfnisse des Anfängers Rechnung getragen wird. Das gedie- gene Unternehmen verdient die regste Betheiligung von Seiten des botanischen Publikums, die ihm, da es ohne Üon- kurrenz dasteht, auch sicher nicht feh- len wird. Zwangsmässige Lichtempfind- ungen durch Schall und ver- wandte Erscheinungen auf dem Gebiete der andern Sin- nesempfindungen von Eugen Bleuler und Karl Lehmann, Candidaten der Medizin in Zürich. 96 S. in 9. Leipzig, Fues’ Verlag (R. Reisland), 1881. 248 Die vorliegende Abhandlung beschäf- tigt sich mit jenen Nebenempfindungen, die bei vielen Personen im Bereiche des einen Sinnes durch Erregungen eines anderen erzeugt werden, wie wenn z.B. Klänge farbig, Farben kühl oder warm u. s. w. empfunden werden. Sehr viele Menschen (und z. B. auch Referent) sind gewohnt, den Vokalen, andere den Tonhöhen, oder den Klangfarben der ver- schiedenen Instrumente, wirkliche Far- ben und auch wohl Formen beizulegen. Referent empfindet seit seiner Kindheit (und wie er hier sieht, sehr abweichend von den meisten anderen Personen) mit der grössten Constanz a weiss, e schwarz, i gelb, o rothbraun und u blaugrün. Demselben anscheinend sehr verwickel- ten Gebiete haben in neuerer Zeit Nussbaumer und Fechner ihre Aufmerksamkeit zugewendet, aber ob es sich dabei lediglich um eingewurzelte willkürliche Ideen-Assoziationen oder um eine Folge normaler psychophysischer Gesetze, oder aber, wie Prof. Beneke glaubt, um Psychosen handelt, muss vorerst dahingestellt bleiben. Die Ver- fasser leiten aus ihren vergleichenden Studien folgende allgemeine Sätze ab: 1. Helle Photismen (Lichtempfindun- gen) werden erweckt durch: hohe Schall- qualitäten, starke Schmerzen, scharf begrenzte Tastempfindungen, kleine und spitze Formen. Dunkle Photismen durch das Umgekehrte. 2. Hohe Phonismen (Schallempfindungen) werden erweckt: durch helles Licht, scharfe Begrenzung, kleine und. spitze Formen. Tiefe Pho- nismen durch das Umgekehrte. 3. Kleine und spitze Photismen, wie überhaupt solche mit scharfbegrenzten Formen werden durch hohe Schallempfindungen erzeugt. 4. Roth, Gelb und Braun sind häufige Photismenfarben; Violett und Grün sind selten, Blau steht der Häufig- keit nach in der Mitte. 5. Durchgehende Litteratur und Kritik. Uebereinstimmung der Einzelnangaben verschiedener Personen kommt nicht vor. 6. Unangenehme primäre Empfind- ungen können angenehme Secundär- Empfindungen erwecken und umgekehrt. 7. Die Sekundär-Empfindungen werden durch psychische Vorgänge kaum mehr beeinflusst, als die primären Empfind- ungen, im übrigen sind sie unveränder- lich. 8. Die Anlage zu Sekundär-Em- pfindungen ist erblich. 9. Spuren der Sekundär-Empfindungen sind sehr ver- breitet. Ausgebildetere Secundär-Em- pfindungen konnten wir bei '/s aller aus- gefragten Personen konstatiren. 10. Bei psychopathisch belasteten Personen fin- den sich Secundär-Empfindungen nicht häufiger als bei normalen. Botanische Mikrochemie. Eine Anleitung zu phytohistologischen Un- tersuchungen zum Gebrauch für Stu- dirende von V. A. Poulsen. Aus dem Dänischen unter Mitwirkung des Verfassers übersetzt von Carl Müller. Cassel, Theodor Fischer, 1881. Das vorliegende kleine Buch macht uns in übersichtlicher Zusammenstellung mit den wichtigsten Reagentien bekannt, die bei der mikroskopischen Unter- suchung von Pflanzentheilen ihre che- mische Zusammensetzung und physische Struktur leichter erkennbar machen. Der erste Abschnitt behandelt die Che- mikalien selbst, der zweite die betreffen- den Pflanzenstoffe und Reaktionen auf dieselben. Wie der Uebersetzer mit Recht hervorhebt, sollte dem Buche »ein Plätzchen in den Schubladen der Arbeitstische botanischer Laboratorien eingeräumt werden, damit es dem Ar- beitenden zu jeder Zeit zur Hand ist, ohne dass der Gang einer Untersuchung durch ein Nachschlagen in der weit verstreuten Literatur der botanischen Mikrochemieunterbrochen werden muss. « Ideologismus und Idealismus. Von B. Carneri. Es beruht offenbar auf einem Natur- gesetz, dass der menschliche Fortschritt immer zwischen Extremen sich bewegt. Wenigstens hat es ganz den Anschein, als könnte er allein dadurch zu Stande ‘kommen, dass seine Bewegung bald zu sehr nach rechts, bald zu sehr nach links abweicht. Es liesse dies damit sich erklären, dass das jeweilige Zu- sehr eine Kraft auslöst, die nach der entgegengesetzten Richtung zurück- schnellt, was nicht so undenkbar ist, als es auf den ersten Blick sich aus- nimmt, insofern die Extreme sich be- rühren, mithin die Wirkung in der Ur- sache enthalten wäre. Jedes Zusehr würde alsdann einfach der Punkt sein, auf welchem die Kraft der Einen Rich- tung sich erschöpft, und die Kraft der Richtung nach dem andern Zusehr sich entfesselt — eine Bewegungsform in die andere übergeht. Wir hätten es sonach mit einer naturgesetzlichen Ent- faltung der Macht zu thun, die im Satz des Widerspruchs liegt; und da dieser auf dem Identitätsprincip beruht, so ergäbe sich damit unter Einem die Er- klärung der schliesslichen Beharrlichkeit des Fortschritts. Gegen diese Erklä- rung könnte mit Recht nur seitens Jener Einsprache erhoben werden, die um eine Macht wissen, welche den Fortschritt un- unterbrochen auf der geraden Linie zu Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). erhalten vermag. Wir sind nicht so glücklich, eine derartige Macht zu ken- nen, halten uns daher für ebenso be- rechtigt, bei unserer Anschauung zu beharren, und dies umsomehr, als der Fortschritt thatsächlich der von uns gekennzeichneten Bewegungsweise folgt. Allerdings kann man uns einwenden, es liege eine Verwirrung in unserem Be- griff des Fortschritts, und dass wir auch Manches, das unsern eigenen Zielen widerstreitet, alsFortschrittgelten lassen. Das Erstere ist möglich, das Letztere geben wir unbedingt zu. Wir haben im Laufe der Jahre uns überzeugt, dass nicht nur in vielen Fällen die Möglich- keit des Fortschritts an Rückschritte gebunden ist, die es aber nur scheinbar sind, weil der Fortschritt ein falscher gewesen war; sondern dass auch manchem Fortschritt eine hohe Be- deutung zukam, der uns im Anbe- ginn als ein sehr unbedeutender, wo nicht gar als etwas Verfehltes erschei- nen wollte. Die Schwierigkeit, den Werth des Neuen, zumal anlangend seine Folgen, richtig zu beurtheilen, ist es, was die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehre zur Grundbedingung eines intel- ligenten Staatswesens macht. Diese Freiheit führt, wie wir bereits hervor- gehoben haben, auch zum Extrem, aber 18 250 trotzdem oder vielmehr gerade dadurch schliesslich immer vorwärts. Betrachten wir die Philosophie als das, was sie zu sein hat, als die Grund- lage aller Wissenschaft; so ergiebt sich der Realidealismus als die richtige Mitte und damit als die Richtung durch die sie allein allen berechtigten Anfor- derungen der Forschung genügt. Die beiden extremen Richtungen, als deren Resultirende der Realidealismus sich darstellt, sind der Materialismus oder naive Realismus, und der Ideo- logismus oder naive Idealismus. Vor nicht gar langer Zeit war die mate- rialistische Richtung die vorherr- schende, und der naive Realismus, dessen untrügliches Kennzeichen es ist, alles wissen zu wollen, that in einer Weise sich breit, die naturgemäss eine idea- listische Reactionhervorrufen musste. Allein im Wesen der Reaction liegt es — wir haben dies weiter oben uns zu erklären versucht — dem andern Ex- trem zuzutreiben: Die Naivetät ist der Berührungspunkt, der Materialismus schlägt in den Spiritualismus um, der bis zum Spiritismus sich versteigt, wel- cher ebenfalls Dinge wissen will, die es für den menschlichen Verstand nicht giebt; während andrerseits eine geäng- stigte Bescheidenheit sich beeilt, selbst im Bereich der Erfahrung dem Forscher- geist Gränzen abzustecken. Man braucht nur die Scene zu ändern, und bei po- litischen Reactionen erfreut man sich desselben Schauspiels. Selbstverständlich legt in solchen Zeiten der Idealismus strenger Obser- vanz die Hände nicht in den Schooss. Wir verstehen unter diesem den Ideo- logismus, das richtige andere Extrem des Materialismus. Der Spiritua- lismus ist eigentlich nur eine Abart davon und verhältnissmässig modern. Er verhält sich zu ihm, wie zur Tyrannis der Absolutismus. Wie von alters Demo- kratie und Tyrannis als die Extreme sich gegenüberstehen: so treten, seit es B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. Philosophie giebt, Materialismus und Ideologismus sich entgegen. Beide er- klären den Krieg allem, was nicht ihre Farbe trägt: da aber jeder im andern das Extreme durchschaut, und ihm nur eine flüchtigere Lebensfähigkeit zu- schreibt; so erkennen beide den Real- idealismus als ihren gefährlichern Feind. Und so sehen wir jetzt wieder gegen diesen den Vollblutidealismus, der aber strenggenommen der blutlose Idea- lismus ist, mit allen Waffengattungen des höhern Kriticismus zu Felde ziehen. Die Taktik ist eine glücklich gewählte; denn der Realidealismus ist der Hort alles dessen was richtig ist am Mate- rialismus, oder was dasselbe ist, der richtige Materialismus ist Realidealismus. Werden hier die Principien überwunden, so sind beide Feinde besiegt. Es ist nicht unsere Absicht, gegen die Schrift, die uns da in erster Linie vorschwebt (der Realismus der modernen Naturwissenschaft im Lichte der von BERKELEY und Kant angebahnten Er- kenntnisskritik, von Dr. Anton v. LECLAIR, Prag, Tempsky 1879) zu polemisiren. Rein philosophische Details gehören nicht in die Spalten dieser Zeitschrift. Wir werden nur anknüpfen an diese Schrift, weil in ihr alles, was gegen den Realis- mus sich sagen lässt und noch etwas darüber, zusammengetragen ist, und sie uns dadurch eine ganz ausgezeichnete Gelegenheit giebt, gegen derartige Aus- führungen durch einfache Darlegung unserer Grundsätze Stellung zu nehmen. Wünscht der geehrte Verfasser etwas Näheres, so möge er angeben, inwie- fern seine Anschauungen über den »vul- gären Körperglauben< auch hier An- wendung finden, und wir werden mit Vergnügen auf seine Erörterungen näher eingehen. Hier ist er uns nur der Repräsentant einer ganzen Reihe von Idealisten. Wie seine Belesenheit — die Citate machen zwei Drittel des Buches aus — ist auch sein Geist ein ungewöhnlicher. Ebenso sind seine Ab- B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. sichten gewiss die besten; denn er kämpft im Dienste »der Befreiung der Culturwelt von der sterilen und ethisch nicht unbedenklichen Einseitigkeit des Materialismus einerseits, von der ver- blendenden und vielfach lähmenden Zaubermacht des religiösen Fanatismus und superstitiöser Vorstellungen an- dererseits« (a. a. O. S. 72). Allein wir vermögen nicht einzusehen, wieso diese Gefahren und gar die letzteren aus der blossen Annahme eines den Erscheinungen zum Grunde liegenden Stoffs erwachsen mögen ? Dies zu er- klären unterlässt der. Verfasser, wie er auch zwar wiederholt versichert, aber ohne es uns begreiflich zu machen, dass die Naturwissenschaften ohne die Annahme einer Materialität nach wie vor in ihren Arbeiten fortfahren können. Nur seine Besorgnisse sind uns ver- ständlich. Ihre Hauptquelle entspringt einer Verwechselung der Kanr’schen Ausdrücke: transscendent und trans- scendental. In der Annahme einer Ma- terie erblickt er die Annahme einer transscendenten Welt. dGewiss ist alles, was wir einen Gegenstand unserer Wahrnehmung nennen, ein Com- plex von Empfindungen; allein damit dieser Complex zu Stande komme, ist ausser uns noch etwas nothwendig, über dessen eigentliche Natur uns zwar nichts bekannt ist, aus dessen Wechselwirkung mit uns aber jener Empfindungscomplex erst hervorgeht. Befindet sich irgendwo ein Sessel, so entsteht jedem Sehen- den, der sich ihm nähert, der Complex von Empfindungen, den wir Sessel nennen. Wird der Sessel entfernt, so kann uns allerdings auf demselben Punkte im Wege der Ideenassociation eine je- nem Complex von Empfindungen ent- sprechende Vorstellung entstehen; aber wir und mit uns alle Sehenden könnten da unzählige Male vorübergehen, ohne dass dies der Fall sei. Wollte Einer, die Vorstellung mit der Erscheinung verwechselnd, auf den blos vorgestellten 251 Sessel sich niederlassen, so würde er die Bekanntschaft eines Empfindungs- complexes machen, der von der blossen Vorstellung auffallend sich unterscheidet, und zwar gerade durch das Fühlen dessen, was die eigentliche Erscheinung bedingt. Was wir an der Wahrnehm- ung eines Sessels Materie nennen, ist das, was auf einem bestimmten Punkte des Raumes das nothwendige Zustande- kommen dieses bestimmten Empfindungs- complexes ermöglicht. Ueber das, was diese Möglichkeit ausmacht, können wir nichts wissen; jedoch dass diese Möglichkeit gegeben sein müsse, und zwar räumlich, wie wir selbst, daher nicht als transscendent, gehört zu un- serer Erfahrung. Dieses ist auch die Anschauung Kanr’s und er sagt es oft und klar, dass gerade dadurch sein Idealismus vom Idealismus BERKELEY's sich un- terscheidet, indem dieser das Materielle an den Gegenständen vollständig leug- net, und sie zwar nebeneinander aber ausschliesslich in unserem Be- wusstsein bestehen lässt. Kant und Berkenry haben durchaus nicht den- selben Idealismus vertreten, und folg- lich auch durchaus nicht dieselbe Er- kenntnisskritik angebahnt, wie man da plötzlich glauben machen möchte. Es ist nicht möglich, entschiedener, als es Kant thut, gegen den Idealismus zu protestiren, derihm schon im Jahre 1782 von einem Kritiker zugeschrieben wurde. Wir thun am besten, wenn wir ihn selbst reden lassen. Er sagt: »Der Satz aller echten Idealisten, von der eleatischen Schule an bis zum Bi- schof BERKELEY, ist in dieser Formel enthalten: Alle Erkenntniss durch Sinne und Erfahrung ist nichts als lauter Schein, und nur in den Ideen des reinen Verstandesundder Vernunftist Wahrheit. — Der Grundsatz, der meinen Idealis- mus durchgängig regiert und bestimmt, ist dagegen: Alle Erkenntniss von Din- gen aus blossem reinem Verstande oder 18 * 252 reiner Vernunft, ist nichts als lauter Schein, und nur in der Erfahrung ist Wahrheit. — (Prolegomena, Frankfurt und Leipzig 1794, 8. 205. Ep. HARTEN- sTEIN S. 121.) Nur die Weise der Er- scheinung richtet sich nach unseren Begriffen, respective nach der Con- struction unserer Sinne; dass die Er- scheinung Realität habe, ist von BER- KELEY, aber nicht von Kant bestrit- ten worden. Allein BERKELEY hat eine geistige Substanz angenommen; und dies mit gutem Grunde: nicht bloss, weil dies der Kernpunkt seiner ganzen Weltanschauung war, auf dem seine Vernichtung der Körperwelt hin- zielte; sondern weil überhaupt seine Weltanschauung nur dadurch einen Halt, um nicht zu sagen, einen Sinn gewann. Er gehört zu den liebenswürdigsten Denkern, und die Ueberzeugung, die aus jedem seiner Worte spricht, im Verein mit der geistvollen Behandlung des Gegenstandes lässt die abstracteste der Weltanschauungen als einen Sieg über die Abstraction erscheinen. Nichts ist uns begreiflicher, als der tiefe und bleibende Eindruck, den er hervor- gerufen hat; denn mit wahrer Meister- schaft hat er seinen Standpunkt ver- treten, und sein Standpunkt ist ein berechtigter. Allein berechtigt ist er nur in sei- ner Ganzheit, und wir können es nur als eine seltsame Unklarheit bezeichnen, die um so seltsamer sich ausnimmt gegenüber der Verächtlichkeit, mit der LecLAIR alles, was nicht zu seinem Idealismus gehört, behandelt, dass dieser Kritiker meint, BERKELEY’s Idealismus habe noch einen Sinn, wenn man daran den positiven Theil streicht, und nur den negativen gelten lässt. Er sagt: >Aus der Thatsache, dass beispielsweise R. MAyEer in verdienter Anerkennung seiner epochemachenden Leistungen und ohne Rücksicht auf den eigenthümlichen Hintergrund seines wissenschaftlichen Denkens allenthalben den Grossgeistern B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. der neuesten Entwickelungsphase der »exakten Naturforschungbeigezählt wird, leiten wir für uns das Recht ab, in analoger Weise BErkELEY’s kritische Analyse des gemeinen und naturwissen- schaftlichen Körperglaubens in streng- ster Sonderung von seinen theo- logisch-dogmatischen Aufstel- lungen zu würdigen, und als histo- risches Vorspiel, als Vorstufe zum voll- endeten, in sich consequenten Kantianismus zu betrachten« (a. a. 0. S. 246). Dass BERKELEY, was er für die Materie geltend gemacht, nicht ausgedehnt hat über jegliche Er- kenntniss, wird da als eine »Halbheit« bezeichnet ähnlich der, welche R. MAYER zum Vorwurf gemacht werden kann. Der Ausdruck Halbheit sagt uns klar, wie gänzlich dem geehrten Verfasser das Unpassende einer Zusammenstellung dieser beiden Männer entgeht. Der Erstere hat uns eine Weltanschau- ung, der letztere ein Gesetz hinter- lassen. Zwischen Mayrr’s Wärme- äquivalent und den Anschauungen, die er betreffs der Schöpfung oder des Christenthums haben mochte, besteht kein Zusammenhang: er hätte zu kei- nen, aber auch zu zehn Göttern sich bekennen können, sein Gesetz steht fest, und wird stehen, so lang die Welt steht. Was wäre dagegen aus BErRKELEY’s Weltanschauung geworden, wenn er, wie die Materie, auch den Geist wegkritisirt hätte? Nichts wäre ihm übrig geblieben, und aus dem Nichts macht man nicht nur keine Welt, sondern auch keine Weltanschauung. Gewiss gelten alle Argumente, die BER- KELEY gegen die Annahme einer kör- perlichen Substanz vorgebracht hat, ebenso gegen die Annahme einer gei- stigen Substanz. Aber das ist es eben, was BERKELEY’s Buch so reizend macht, dass man es sieht, wie er in seiner eigenen Schlinge sich fängt, und seiner Abstractionsflucht zum Trotz, gezwungen ist, eine Substanz anzuneh- B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. men. Transscendenz kann ihm keine zum Vorwurfe gemacht werden: sein System ist ein geistig monistisches. Er konnte gar nicht aus einer Körperwelt in eine Geisterwelt hinübersteigen, so- bald es die Körperwelt nicht mehr gab. Er bedurfte auch dessen nicht, denn er befand sich mitten in der Geister- welt. Darum ist Konsequenz in seiner Weltanschauung, und haben wir sie eine berechtigte genannt. Durch die Annahme seiner geistigen Substanz war die Annahme einer körperlichen Sub- stanz gerade so ausgeschlossen, wie durch unsere Annahme eines Stoffes, der den Körpern und Kräften zum Grunde liegt, die Annahme einer geistigen Sub- stanz ausgeschlossen ist. Ihm war es aber nur um seine Geisterwelt zu thun, und er hat sie sich erkauft um den Preis der materiellen Welt. Eine »kleine Zahl Auserwählter« wie LecvAır die modernen Idealisten nennt (a. a. O0. S. 72), kommt uns nun mit dem Ansinnen, die materielle Welt auf- zugeben. Da ist es doch nichts als billig, wenn wir fragen, was uns dafür geboten wird? Aber man braucht nur diese Frage zu stellen, um die Gefahr zu sehen, die uns da droht. Man kann dafür nur entweder gar nichts uns bieten, was denn doch gar zu wenig sein würde, oder eine Geisterwelt & la BERKELEY, der man allerdings für die Noth den theologischen Charakter ab- streifen könnte, die aber darum doch nicht minder eine Geisterwelt a la BEr- KELEY wäre. Da gestehen wir unum- wunden, dass wir bei der theologischen Geisterwelt BERKELEY’s wenigstens wüss- ten, woran wir wären; während wir mit einer Geisterwelt solcher Dogmatiker — der Dogmatismus käme da erst recht zur vollen Blüthe — nichts anzufangen wüssten. Dass sie mit BERKELEY in ein unbekanntes Reich hinübertreiben, mag auch unsern » Auserwählten«, wenn- gleich nicht mit Klarheit, vorgeschwebt haben. Darum muss Kant aus der 253 Klemme helfen, und zu diesem Zweck im Handumdrehen zu einem Schüler BERKELEY’S umgewandelt werden, woran gewiss nie gedacht worden wäre bei einer klaren Beurtheilung der Sache. Kant hat sein Verhältniss zu Ber- KELEY in den zwei von uns angeführten Sätzen mit einer Bestimmtheit präci- sirt, die nichts zu wünschen lässt; und das Recht, dies zu thun, steht gewiss niemand so sehr zu, als ihm selbst. Wir kennen daher einen Idealismus und Kriticismus BERKEKEY’sS und einen Idea- lismus und Kriticismus Kanr’s; aber wir kennen keine von BERKELEY und Kant angebahnte Erkenntniss- kritik. Idealisten waren beide, und Kritiker waren beide; allein ihr Idea- lismus war ein grundverschiedener, und ihr Kriticismus hat zu entgegengesetz- ten Resultaten geführt. Was uns dem- nach als von beiden angebahnt vor- gelegt wird, hat erst angebahnt zu werden auf Grund eines Compromisses, das hinter beider Rücken Andere in ihrem Namen schliessen. Wir lieben die gewöhnlichen Compromisse nicht; wie sollten wir erst einem solchen Ge- schmack abgewinnen? Wir folgen darin einer alten Erfahrung, und bleiben bei der Erfahrung, als dem Sichersten auf Erden, denn >nur in der Erfahrung ist Wahrheit«. Dabei liegt uns nichts ferner, denn auf eine förmliche Gewissheit zu pochen. Wir wissen ganz gut, wie viel daran Täuschung ist. Aber nicht alles daran ist Täuschung — wenigstens für uns Menschen — und wir haben nie nach einer andern Erfahrung ge- strebt, als nach der dem Menschen zu- gänglichen. Wir brauchen gar nicht mit einer Untersuchung der Natur der Dinge zu beginnen. Unser Bewusstsein sagt uns, dass uns selbst etwas Reelles zu Grunde liegen müsse, das reell bliebe, selbst wenn das, was uns zum Bewusstsein kommt, nur ein Traum wäre; denn, damit ein Traum geträumt 254 werde, hat jemand da zu sein, der ihn träumt. Was es mit dem irdischen Dasein in letzter Analyse für eine Be- wandtniss habe, mag uns wenig küm- mern, weil wir damit nichts zu thun haben, insofern bei unserem Verkehr mit der übrigen Welt das Ansich der Dinge sowenig je in den Vordergrund tritt, als das Ansich unserer Persönlich- keit. Wir haben daher gar keinen Grund, unserer Persönlichkeit eine andere Rea- lität, als dem ersten besten andern Dinge zuzuschreiben, oder was dasselbe ist, die übrigen Dinge als aus anderem Stoff, denn uns selbst, gebildet zu be- trachten. Was wir unter Stoff ver- stehen? Alles und nichts: nichts, inso- fern wir über das Ansich nichts wissen ; alles, insofern wir damit dasjenige be- zeichnen, durch das für uns — weiter lassen wir uns eben nicht ein — die Dinge, unser Ich mit inbegriffen, Wirk- lichkeit haben. Gerade weil wir wissen, dass unsere Wahrnehmungen als Vor- stellungen zu Stande kommen, wissen wir genau den Unterschied zwischen Vorhandenem und blos Eingebildetem, und inwieweit auf unsere Eindrücke ein Verlass ist, selbstverständlich für unsere irdischen Zwecke. Wir können uns z. B. mit täuschendster Lebhaftigkeit ein bezauberndes Weib als gegenwärtig vorstellen, und in der Selbsttäuschung so weit gehen, dass wir über dem Zauber den Verstand verlieren. Selbst in diesem Fall ist Stoff da, nämlich der Stoff zum Wahnsinn. Diesen Fall aber lehrt uns die Erfahrung genau unter- scheiden von jenem, in welchen wir ein Weib aus leibhaftigem Stoff vor uns haben, mit dem wir unser Leben theilen, und wahrhaft glücklich sind, so glück- lich, dass wir nicht im Stande wären, eine einzige Stunde dieses Glückes zu opfern, um über das eigentliche Sein in’s Klare zu kommen. Diesen Stoff hat selbst BERKELEY nicht verschmäht. BERKELEY hat vollkommen Recht, wenn er sagt, dass es keine Wahr- B. Carneri, Ideologismus. und Idealismus. nehmung giebt, denn die in uns als Vorstellung zu Stande kommt. Allein ebenso Unrecht hat er, nicht zugleich hervorzuheben, dass keine Wahrnehm- ung zu Stande kommt, bei der unserer Vorstellung nicht eine äussere Erschein- ung entspricht. Beides ist unzertrenn- lich, aber beidem, der Erscheinung nicht weniger, als unserer Vorstellung, liegt einDrittes, einGemeinsameszum Grunde, von dem uns unsere Erfahrung sagt, dass es Allem zum Grunde liegt, und, insoweit es ein Dasein giebt, vor un- sern Wahrnehmungen und den sie her- vorrufenden Erscheinungen da war. Wir können uns einen ganz klaren Begriff machen von Entwickelungsstadien unse- res Erdballs, in welchen es noch keinen Menschen, kein Thier, keine bewusste Empfindung gab. Ohne es zu bemer- ken, persiflirt sich unser Idealist ganz köstlich selbst, wenn er (a. a. 0.8.60) als eine Erschleichung es bezeich- net, dass bei einem geologischen oder paläontologischen Atlas alle Objecte mit demselben Ausstattungsmaterial von Licht und Farbe u. s. w. dargestellt sind, in welchem der jetzige Mensch die Dinge wahrnimmt. Wir wären be- gierig, einen Atlas zu sehen, der nach seinen Grundsätzen ausgeführt und uns sichtbar wäre. Es ist uns dies so un- denkbar, wie ein experimentirender Na- turforscher, der von der Stofflosigkeit der Welt überzeugt ist. Die Materie hat ihr Recht, es ist so heilig, als das Recht des Geistes, und man kann es nicht verkennen, ohne gegen den Geist sich zu versündigen, dessen böseste Strafe die Lächerlichkeit ist. Der ge- stirnte Himmel ist der gestirnte Himmel auch während ich schlafe, und ihn nicht sehe. Aber nicht blos, weil Andere wachen, die ihn sehen, denn er würde es auch sein, wenn die umnachtete Hälfte der Erde ‘immer so dicht um- wölkt wäre, dass auch die Wachenden ihn nicht sehen könnten. Und so war er der gestirnte Himmel, auch da es B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. noch gar keine Menschen gab. Was ich unter dem gestirnten Himmel zu verstehen habe, weiss ich ganz gut, ohne meine Zuflucht zu nehmen zu der nach LecuAır unerlässlichen Fiction einesmenschlichen Gattungsbewusstseins für das, als »an keinen physischen Leib gebunden« es weder Leben noch Tod giebt. Ich muss sogar von dieser Fiction abstrahiren können, soll nicht mir, wie dem Bischof BERKELEY, der gestirnte Himmel zu einem blossen Schein werden. Die Erscheinungen sind nicht hlosser Schein; sie sind ein inhaltvoller Schein, und nur Schein, insoweit sie mir erscheinen. list sich dagegen sträuben mag, er kann selber nicht total abstrahiren von der Stofflichkeit. Die Worte: »an keinen physischen Leib gebunden,«e — sind von ihm (a. a. O. S. 58) und wenn anders er damit etwas sagen will, so sagt er damit von der Wahrnehmung etwas aus, das der leiblosen Wahr- nehmung nicht zukommt. Von der Welt, die dem Auftreten des Menschen vor- hergegangen ist, machen wir uns einen falschen Begriff; wenn wir sie als in, Widerspruch stehend mit der jetzigen auffassen. Man kann streiten über die Fassung des Begriffs, Stoff oder Sub- stanz; aber darüber ist längst nicht mehr Streit, dass die Elemente der Materie, und was wir ihre Atome nennen, für uns Menschen unzer- störbar sind, wie die von ihnen un- zertrennliche Kraft. Dieser Realismus steht fest; er ist eine mit unserm Be- wusstsein identische Gewissheit, und als diese uns viel zu werthvoll, als dass wir ihn könnten hingeben für einen Idealismus, der in einem unglückseligen Schwanken zwischen Gott und Nichts einem Logiker gleicht, der, um seine formalen Abstractionen rein sich zu bewahren, die gesammte Sprache in die Rumpelkammer des »vulgären Körper- glaubens« werfen wollte. Was BERKELEY nicht gelungen ist, könnte seinen Epi- Wie sehr unser Idea- - \ 255 gonen gelingen: alle Abstraction zu etwas Widersinnigem zu stempeln. Wir begreifen vollkommen den Stand- punkt LecvA1R’s, so lang es ausschliess- lich um allgemeine Grundsätze sich handelt, und um Berichtigung des nai- ven Realismus, dem die wahre Ge- wissheit die rein sinnliche ist. Dieser Standpunkt ist gerade so verfehlt, als die Aufstellung einer, der äussern Erfahrung ganz entgegengesetzten in- nern Erfahrung, die in ihrem Gebiete zu absolutem Wissen gelangen will. Bei beiden haben wir es mit einem Complex von Empfindungen zu thun, der jedoch in dem erstern Falle direct, in dem letztern indirect uns zum Bewusstsein kommt. Hier hat der Kri- ticismus seines Amtes zu walten. Aber so wenig wir die Materie als etwas trans- scendentes betrachten können, ebenso wenig vermögen wir eine positive Wis- senschaft zu denken, welcher bei ihren Forschungen die Materie als ein blosser Schein gelten sollte. Dass das im Uni- versum wirkende Quantum an Stoff weder vermehrt, noch vermindert werden kann, ist ein Grundsatz, zu dem alle echte Wissenschaft führt, und der un- möglich ablenkt von der Annahme einer Stofflichkeit der Welt. In einer Zeit, welche den Weltäther als eine aus Atomen bestehende Materie demonstrirt; in einer Zeit, welche die Gleichung zwischen Wärme und Bewegung auf- löst, weil ihr die Kraft zu einem mess- baren Object geworden ist; in einer Zeit, welche die Spectralanalyse in die Lage versetzt, die Elemente anderer Gestirne zu untersuchen: ist es mehr als gewagt, die Materie behandeln zu wollen, wie es BERKELEY gethan, zu dessen Zeit die Fixsterne — Section CVI. seiner Principien der menschlichen Er- kenntniss — als ausserhalb der Gravi- tation liegend betrachtet werden konn- ten. Wir können nicht nur keine po- sitive Wissenschaft mehr denken, welcher die Materie nicht gilt als das 256 schlechtweg Reelle: wir können auch keinen philosophischen Kriticismus mehr denken, der nicht eben dieses Reelle zu seinem Fundament hätte. Der ‚ Zweck des Kriticismus ist es, die sinn- liche Auffassung zu läutern, und die Erkenntniss zu der Stufe zu erheben, von welcher aus der Mensch sich klar wird, dass es für ihn weder ein Dies- seits noch ein Jenseits und nur das Eine Weltganze giebt. Der Kriti- cismus lehrt uns, dass es die Kräfte des Menschen übersteigt, das Ansich- sein der Dinge zu erforschen; aber damit sagte er uns nicht, dass die Dinge Hirngespinnste seien, sondern dass wir Hirngespinnsten nachjagen, wenn wir über den Kreis dessen, was unsere Erfahrung bildet und logisch aus ihr abzuleiten ist, hinausstreben. Er gestattet uns Hypothesen zu bilden, um die Gegenstände unserer Erfahrung in Zusammenhang zu bringen, aber in- dem er uns darthut, dass dieser Zu- sammenhang für uns keiner, folglich zwecklos ist, wenn unsere Hypothesen Fähigkeiten statuiren, die mit unserer Erfahrung in Widerspruch stehen. Da- mit allein ist die Bahn in jedes trans- scendente, d. h. die Erfahrung über- steigende Gebiet auf immer verrammelt. Was wir das Ansich der Dinge nen- nen, ist nicht das sogenannte Ding an sich, das erst aus den Dingen an sich abgezogen wäre. Es ist die Sub- stanz oder der Stoff in einer solchen Einfachheit, dass an eine weitere Zer- legung, an ein Zurückführen auf ein noch Einfacheres, folglich an ein näheres Bestimmen nicht zu denken ist. Es ist daher nichts die Materie Uebersteigendes, sondern erst recht die Materie in ihrer Kraft. Wir sehen unsern verehrten Gegner lächeln, und lesen in seinem Lächeln die Frage: Wo ist bei einem solchen Materialismus noch Raum für den Idealismus? — Raum genug, um vom eigentlichen Materialismus ihn zu B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. unterscheiden. Der Materialismus über- sieht bei den Erscheinungen gerade so das ideelle Moment, wie BERKELEY und die ihm folgen, das materielle Moment übersehen. Unser Idealismus hält das ideelle Moment fest, ohne die Wichtigkeit des reellen Moments zu unterschätzen. Beide erachtet er als gleich nothwen- dig zum DBegreifen der Erscheinungs- welt. Das reelle Moment der Welt ist der feste Boden, auf welchem er im Reich der Ideen sich bewegt, ohne in haltlose Höhen sich zu verlieren, oder Gefahr zu laufen, in grundlose Tiefen zu versinken. Das Geistige, wie unser Idealismus es fasst, bedarf nicht nur keiner andern Welt, es kann vielmehr nur in dieser Welt zur Erschein- ung kommen. Es ist die Blüthe der Körperwelt, und wie diese, den Gesetzen der Entwickelung folgend, beschliesst in sich seine Frucht einen fortbildungs- fähigen Samen. Und dieser Same bil- det sich fort allein in der Körperwelt, und allein aus ihrem Schoosse treiben die Erscheinungen des Guten, Schö- nen und Wahren lebenskräftig empor. Thatsächlich ist es den Geistern BEr- KELEY's auch nicht anders ergangen. Man mag wie immer das Leben sich erklären, von der Körperlichkeit ist es unzertrennlich; und sollen die Ideen nicht leere Schatten sein, so haben sie zu leben das Leben dieser Welt. Ist auch Realidealismus die richtige Be- zeichnung unseres Idealismus, so ist er darum nicht minder echt: er ist eben der leibhaftige Idealismns. Seine Ideen zünden, weil ihre Wärme iden- tisch ist mit der allgemeinen Bewegung; seine Ideen sind fruchtbar, weil ihr Werden identisch ist mit der allgemei- nen Entstehung; seine Ideen erklären, weil ihr Zusammenhang identisch ist mit dem Process aller Naturentwicke- lung. Alle Denker, welchen die Welt eine bahnbrechende Idee verdankt, wa- ren Realidealisten, und mochten sie noch so sehr überzeugt sein, unter die B. Carneri, Ideologismus und Idealismus. starrsten Materialisten, oder’ unter die starrsten Idealisten zu gehören. Der Materialismus ist rein analytischer Natur, und der Ideologismus — gleich BERKELEY sind alle, die ihm folgen, keine Idealisten, sondern Ideologen — der Ideologismus möchte synthetisch sein, aber auf dem Weg dahin wirft er das dazu erforderliche Material von sich: wahrhaft synthetisch ist allein der richtige Idealismus. Alle Na- turgesetze sind uns zuerst klar gewor- den auf dem synthetischen Wege der Ideen. Die Idee war es, die den Heroen der Wissenschaft das Selbstvertrauen gab, das es ihnen ermöglichte, durch Jahre und Jahre unverdrossen zu for- schen, bis ihr ungebrochener Muth das Ziel erreichte — die erfahrungsmässige Bestätigung ihrer Idee; denn der rich- tige Idealismus anerkennt nicht nur die Realität der Körperwelt, er sucht und findet die endgiltige Bekräftigung oder Ablehnung seiner Theorieen allein in der Körperwelt. 257 Hier muss unser geehrter Gegner uns zugeben, dass wir ihm mit keiner Halbheit entgegentreten, und dass wir ihm nur entgegentreten, damit er uns die Hand reichen könne. Er nennt die Zahl der »Auserwählten«, die zu ihm halten, eine »verschwindend kleine«. Es freut uns, dies glauben zu. können. Er bezeichnet aber auch diese Aus- erwählten als »leidenschaftslos«. Nach dem Feuereifer zu urtheilen, von dem die Probe spricht, die uns da geboten wurde, können wir dies weniger glauben; dennoch freut uns auch das. Diese Leidenschaftlichkeit hat ihren Grund im unvermeidlichen Stoff, und was uns daran freut, entspringt keinem rechthaberischen Motiv; wir freuen uns doppelt: über die Wärme der Darstellung, die Zeugniss giebt von der Wahrhaftigkeit der Gesinnung, und über das concrete Element, das mit dem Boden, auf welchem wir stehen, die Verbindung herstellt. Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von Dr. Hermann Muller. An den im vorigen Aufsatze betrach- teten Käfern haben wir den ersten Ueber- gang zur Blumennahrung und die ersten Schritte der Anpassung an die Gewin- nung derselben uns zu veranschaulichen gesucht. Eine erblich gewordene Be- hendigkeit der Bewegungen, die sie zu rascher Ausbeutung offenen oder flach geborgenen Honigs und leicht zugäng- lichen Pollens befähigte, waren dieäusser- sten Leistungen, zu welchen wir ein- heimische Käfer sich erheben sahen. Um weitere Schritte der Vervollkomm- nung kennen zu lernen, die bis zur Meisterschaft der Honigbienen und Hum- meln geführt haben, müssen wir den- Jenigen Zweig des Insektenstammes, dem diese angehören, die Hautflügler oder Hymenopteren, ins Auge fassen. Auf den niederen Entwickelungs- stufen der Hautflügler, die wir, im Ge- gensatze zu den Bienen, unter dem Na- men Wespen zusammenfassen, hat sich in der Brutversorgung, auch ehe zu derselben Pollen und Honig Verwendung fanden, von Familie zu Familie eine Umwandlung vollzogen, die mittelbar auch auf die Blumentüchtigkeit der be- treffenden Wespen von bedeutendem Einfluss gewesen ist. Diese niederen Entwickelungsstufen, von welchen aus 11. die Bienen ihre höhere Stufe erst er- reicht haben, müssen deshalb den näch- sten Gegenstand unsrer Aufmerksamkeit bilden. 2, Die Blumenthätigkeit der Wespen. a. Vervollkommnung der Blumen- thätigkeit durch die bei der Brut- versorgung gewonnene Uebung im Umhersuchen. (Vergleich der Blattwespen und Schlupf- wespen.) Auf der tiefsten Stufe der Brutver- sorgung stehen von den heutigen Wes- pen die pflanzenanbohrenden Familien der Blattwespen, Holzwespen und Gall- wespen, die sich auch durch ihre Or- ganisation als die ursprünglichsten zu erkennen geben. Alle drei pflegen be- hufs ihrer Brutversorgung nur eine Pflanze derselben Art, von der sie selbst während ihrer Ausbildung sich ernährt haben, mit ihrem Legebohrer anzuboh- ren und in den Bohrgäng ein Ei hin- einzuschieben. Damit ist ihr ganzes Brutversorgungsgeschäft vollendet. Denn die aus dem Ei schlüpfende Larve be- findet sich dann sogleich unmittelbar in oder auf der Nahrung, die ihr bis zur Verpuppung genügt. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von diesen drei Familien scheint den Holzwespen die Blumennahrung völlig fremd geblieben zu sein. Die Blattwespen gehen, ähnlich den Käfern, zum Theil gar nicht, zum Theil nur zufällig oder gelegentlich, zum Theil aber auch regelmässig und eifrig auf Blumen. Manche der blumenauf- suchenden Blattwespen scheinen hier nur der Fliegenjagd nachzugehen; viele aber lecken begierig Blumenhonig; ei- nige, z. B. Cephus, fressen auch Pollen. An Blumentüchtigkeit aber stehen alle, auch die blumeneifrigsten Blattwespen hinter den fortgeschrittensten Blumen- käfern, die wir im vorigen Aufsatze kennen gelernt haben, noch erheblich zurück. Die meisten wissen nur völlig offen liegenden oder doch unmittelbar sichtbaren Honig zuerlangen. Diehöchste Blumenleistung, zu der sich einige ver- steigen, ist das Gewinnen zwar völlig versteckten, aber doch durch einfaches Abwärtsbewegen des Mundes erreich- baren Honigs. Die meisten sitzen ruhig oder bewegen sich träge auf den Blu- men, deren Nektarien sie ablecken; nur einige der blumenstetesten und eifrig- sten haben auch eine gesteigerte Rasch- heit der Bewegung auf den Blumen er- langt. So fand ich z. B. Tenthredo notha Kr. höchst zahlreich auf den Blüthen- ständen von Nasturtium amphibium, ge- schäftig von Blüthe zu Blüthe schreitend und fliegend und immer sogleich den Mund in den Grund der Blüthe senkend. Aber dieselbe oder eine nahe verwandte Art sah ich auf den Blüthenkörbchen von Taraxacum officinale mit dem Kopfe sich tief zwischen die Blüthen wühlen und so, gleich einem dummen Elate- riden, andauernd verharren. An so fort- geschrittene Blumenkäfer, wie z. B. Strangalia attenuata, die behend und er- * Die nachfolgenden genealogischen Be- trachtungen wurden bereits vor mehreren Jahren in der Eichstädter Bienenzeitung von mir veröffentlicht. Ich bin von competenter Seite mehrfach getadelt worden, dass ich die- 259 folgreich auch aus den 4—6 mm langen Blumenröhren von Scabiosa arvensis den Honig gewinnt, reicht keine einzige der Blattwespen auch nur annähernd heran. Von den Gallwespen gehen die der ursprünglichen Lebensweise treu ge- bliebenen, Pflanzen anbohrenden und Gallen erzeugenden gar nicht auf Blu- men; nur eine besondere Abzweigung dieser Familie sucht völlig offen liegen- den Blumenhonig auf. Dieser Familien- zweig ist zugleich durch die Annahme einer neuen Brutversorgungsgewohnheit für das Verständniss der Weiterent- wickelung des Hymenopterenstammes .von höchster Wichtigkeit. Wir haben uns deshalb hier zunächst seine Be- ziehung zu den übrigen Wespenfamilien zu vergegenwärtigen *. »Während die meisten Gallwespen, ebenso wie auch einige Blattwespen, in dem von ihnen angebohrten und mit einem Ei belegten Pflanzentheile, welcher noch jung und in vollster Entwickelung begriffen ist, eine monströse Wucherung des Zellgewebes, die Bildung einer so- genannten Galle, verursachen, in deren Inneren ihre Larven sich grossfressen, haben dagegen einige Gallwespen diese Lebensgewohnheit in sehr merkwürdiger Weise dahin abgeändert, dass sie ihre Eier auf andere Insekten ablegen, in deren Innern alsdann ihre Larven schma- rotzen. Dieser Uebergang vom Pflanzen- anbohren zum Insektenanbohren, also, was das Auffüttern der Larven betrifft, von vegetabilischer zu animalischer Kost, musste für die Entwickelung neuer Wes- penformen von bahnbrechender Bedeut- ung werden. Denn mit der Eröffnung dieses neuen Ernährungsgebietes war natürlich der Vervielfältigung der an- bohrenden Wespen ein unabsehbar wei- ter Spielraum gegeben, da es ja viele Tausende von Insektenarten gab, deren ‚selben in einem so wenig allgemein zugäng- lichen Blatte niedergelegt habe, und finde mich dadurch veranlasst, sie ihrem wesent- lichsten Inhalte nach hier zu wiederholen. 260 jede besondere Anpassungen der an- bohrenden Wespe erforderte. Die er- staunliche Artenzahl und die Mannig- faltigkeit der Grösse, Körperform, Boh- rerlänge u. s. w. der Schlupfwespen, welche sich durch die bezeichnete Ab- änderung der Lebensweise aus der Fa- milie der Gallwespen hervor entwickelt haben, und in einigen ihrer Familien- zweige, namentlich dem der Chaleididen, die nahe Blutsverwandtschaft mit den Gallwespen noch deutlich erkennen las- sen, liefert für die bahnbrechende Be- deutung des Ueberganges der Gallwes- pen zum Insektenanbohren den thatsäch- lichen Beleg. In der That scheint keine einzige Insektenfamilie von den Angriffen der Schlupfwespen ganz verschont ge- blieben zu sein, weder die hartschaligen Käfer, noch die mit gefährlichem Gift- stachel versehenen Wespen, weder die tief im Holze versteckt sitzenden Cer- ambycidenlarven, noch die im Wasser lebenden Larven der Phryganiden. Es hat aber der Uebergang der pflanzenanbohrenden WespenzurFleisch- nahrung, d. h. zum Anbohren lebender Insekten, nicht nur zur Ausbildung vie- ler Tausende neuer Wespenformen ge- führt, sondern auch eine grössere Com- plicirtheit der für die Versorgung der Brut auszuführenden Thätigkeiten und dadurch eine Steigerung der geistigen Befähigung veranlasst,« die nicht ver- fehlen konnte, auch auf die Blumen- tüchtigkeit des Wespenstammes für alle Zukunft einen vervollkommnenden Einfluss zu üben. >Denn das Aufsuchen und Beschlei- chen bestimmter anzubohrender lebender Insektenarten erfordert augenscheinlich viel grössere Umsicht und Ausdauer, als das Aufsuchen der bestimmten Pflan- zenart, auf welcher das suchende In- dividuum von Anfang an gelebt hat. Der Unterschied zwischen der geistigen Arbeit, welche beiderlei Lebensthätig- keiten erfordern, ist sogar so gross, dass wir mit Sicherheit annehmen kön- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. nen, der Uebergang von der Gallwespen- zur Schlupfwespenlebensweise kann nicht sprungweise, mit einem Male erfolgt sein; vielmehr muss sich die Unter- scheidungsfähigkeit und die Ausdauer im Umhersuchen von den echten Gall- wespen bis zu den ausgeprägten Schlupf- wespen allmählich gesteigert haben. In der That ist uns noch ein kleiner Fa- milienzweig der Gallwespen erhalten ge- blieben, welcher zwischen den gallen- erzeugenden und den insektenanbohren- den Gallwespen mitten inne steht, der Familienzweig der Inquilinen (Gattung Symergus), welche ihre Eier in die Gal- len der eigentlichen Gallwespen ablegen. Offenbar erfordert aber das Auffinden mit bestimmten Gallen behafteter In- dividuen einer bestimmten Pflanzenart mehr Umsicht und Ausdauer im Um- hersuchen, als das Auffinden beliebiger Individuen derselben Pflanzenart, wenn- gleich es noch immer erheblich leichter ist als das Auffinden und Beschleichen einer bestimmten anzubohrenden Insek- tenart. Der kleine Familienzweig der Inquilinen liefert somit einen thatsäch- lichen Beleg, dass die Umsicht und Ausdauer im Umhersuchen, durch welche sich die Schlupfwespen vor den pflanzen- anbohrenden Wespen so auffallend aus- zeichnen, allmählich erworbene Vorzüge sind. | Um sich eine lebendige Vorstellung zu verschaffen von der erheblichen Stei- gerung der geistigen Befähigung, welche sich bei den wespenartigen Insekten durch die Eröffnung eines neuen, zwar unerschöpflich reichen, aber auch die mannigfachsten Schwierigkeiten darbie- tenden Ernährungsgebietes allmählich vollzogen hat, braucht man nur in freier Natur die träge, fliegenähnliche Be- wegungsweise einer Blattwespe mit dem vor- und umsichtigen Umherfliegen und dem ausdauernden Umhersuchen einer Schlupfwespe zu vergleichen.« Und fast noch auffallender ist der Unterschied in der Blumenthätigkeit beider. Die Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. 261 Blattwespen fliegen plump auf, im Ver- gleich zu dem leichten und behenden Anschweben der Ichneumoniden. Von den Blattwespen sind auch die blumen- tüchtigsten, wenn sie den Kopf zwischen Blumen gesteckt haben, von dem da- durch geweckten Empfindungstriebe so befangen, dass sie sich ohne Weiteres ergreifen lassen; selbst auf den völlig offenen Blüthen der Schirmpflanzen kann man die meisten ziemlich leicht mit den Fingern fassen. Die Ichneumoniden da- gegen benehmen sich nicht nur bei ihren Jagdausflügen sehr vorsichtig, in- dem sie z. B. den Geweben der Spinnen sorgfältig ausweichen*, sondern lassen auch beim Aufsuchen des Blumenhonigs ihre persönliche Sicherheit nie aus den Augen. Sie zwängen sich nicht mit dem Kopfe zwischen Blüthen hinein, so dass sie jede Umschau verlieren, wie 2.B. Tenthredo notha (?) zwischen den Blü- then von Taraxacum offieinale thut. Wenn sie einmal in etwas tiefere offene Blumenbecher sich hineinwagen, so ge- schieht es mit beständiger Aufmerksam- keit auf etwa nahende Gefahr. So sah ich z. B. (30./6. 76) einen etwa 5 mm langen Ichneumoniden auf einem Blumen- becher von Cerastium arvense landen, behend bis in den Grund der Blüthe vordringen und da von einem der fünf Nektartröpfchen lecken. Ich näherte vorsichtig Daumen und Zeigefinger der rechten Hand dieser Blüthe, als wenn ich sie pflücken oder die Schlupfwespe fangen wollte; augenblicklich zog sich dieselbe einige Schritte aus dem Grunde des Bechers nach dem Eingange des- selben zu zurück, bereit wegzufliegen, sobald eine grössere Annäherung der Gefahr erfolgen würde. Ich entfernte die Finger, und sie ging wieder ein paar Schritte vor, so dass sie wieder mit dem Munde ein Nektartröpfchen erreichte. Ich näherte den Finger noch ‚weiter, und sie flog augenblicklich weg. *® Kosmos Bd. VI, S. 123. Ferner werden dieBlattwespen immer nur von augenfälligen Blumenflächen angelockt, besonders von den weissen und grell gelben der Umbelliferen und Compositen, der Rosifloren, der Ranun- culus, Trollius u. dgl., sehr viel seltener von den rothen und blauen der Epilo- bien, Geranien und Phyteumaarten, wohl niemals von den grünlich-gelben und gelblich-grünen von Adoxa, Ruta, Rhammus, Sibbaldia, Alchemilla, die von den Schlupfwespen nicht minder häufig als grell-gelbe und weisse besucht wer- den. Die Schlupfwespen wissen über- haupt leicht und mit grösster Sicherheit “auch die am wenigsten in die Augen fallenden Blumen aufzufinden, wennihnen von denselben nur unmittelbar sicht- bares Nass entgegenglänzt. Die im Wal- desschatten wachsende, grün blühende Listera ovata liefert dafür den besten Beleg. Obgleich eine unserer unschein- barsten Blumen wird sie bei günstigem Wetter von zahlreichen Schlupfwespen so regelmässig und emsig ausgebeutet, dass nur wenige ihrer Blüthen unge- kreuzt bleiben, während man niemals auch nur eine einzige Blattwespe an diesen Blumen findet. Auch die von den Raubhummeln (Bombus mastrucatus und terrestris) in den honigführendeu Grund langer Blumenröhren gebissenen oder gebohrten Löcher entgehen dem Spürauge der Schlupfwespen nicht; an Convallaria Polygonatum sah ich z. B. einen kleinen Ichneumoniden vorsichtig in ein solches hireinschlüpfen, um die Ueberreste des von B. mastrucatus ge- -waltsam erbrochenen Nektars zu naschen!: Auch an den 4—5 mm langen Blu- menröhren der Mentha aquatica krochen vor meinen Augen verschiedene Ichneu- monidenarten mit grosser Behendigkeit ein und aus; noch häufiger fand ich Ichneumoniden in den blassgelben, schwärzlich blau punktirten Blumen- glocken der Gentiana punctata, nicht selten 2 oder 3 in derselben Blüthe, und zwar mit dem Munde an den Saft- 262 löchern. Eine Blattwespe habe ich nie- mals eine dieser etwas höheren Blumen- leistungen ausführen sehen. Woher rührt dieser auffallende Unter- schied im Verhalten der beiden genann- ten Wespenfamilien zu den Blumen ? Haben die Schlupfwespen vielleicht Blu- menstetigkeit von ihren pflanzenanboh- renden Stammeltern ererbt und deren schwache Anfänge von Blumentüchtig- keit weiter ausgebildet? Ganz gewiss nicht! Denn ihr Körperbau und ihre Lebensweise weisen nicht auf Blatt- wespen als ihre Stammeltern hin, von denen ja manche blumenstet und, in beschränktem Sinne, blumentüchtig sind, sondern auf Gallwespen. Von diesen aber werden nur die bereits insekten- anbohrenden bisweilen auf Blumen ge- funden, und zwar nur auf Blumen mit völlig offen liegendem Honig. Auch spricht bei den Schlupfwespen der Man- gel irgend welcher Anpassung an die Gewinnung selbst wenig tief geborgenen Honigs, obwohl sie blumenstet zu sein scheinen, entschieden gegen die An- nahme, dass sie besonderer Uebung im Ausführen von Blumenarbeit ihre ge- steigerte Blumentüchtigkeit verdanken. Vielmehr sind es offenbar nur eine viel höhere Unterscheidungsfähigkeit, Vor- sicht und Umsicht im Hineinkriechen und mit derselben zusammenhängende Gewandtheit und Sicherheit der Beweg- ungen, durch die sie sich bei ihren Blumenbesuchen vor den Blattwespen auszeichnen, also gerade diejenigen Fä- higkeiten, die sie bei dem Erlernen und Einüben ihrer neuen Brutversorgungs- art erlangen mussten und thatsächlich erlangt haben. Diese zwar nicht durch Blumenar- beit gewonnene, aber ihr zu gute kom- mende Steigerung der körperlichen und geistigen Befähigung verdient hier um *® Das ist von J. H. Fabre nachgewie- sen und in seinem Werkchen „Souvenirs ento- mologiques Paris 157% recht anziehend be- schrieben worden. In diesem auch in deutscher Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. so mehr unsere vollste Beachtung, als sie sich durch Vererbung auf die höher entwickelten Zweige des Hymenopteren- stammes übertragen hat, und als aus ihr_heraus, theils durch weitere Abän- derungen der Brutversorgung, theils und hauptsächlich aber durch gesteigerte Uebung in der Blumenarbeit und ver- schärfte Naturauslese der blumentüch- tigsten Rassen, schliesslich die höchsten Blumenleistungen der Hummeln und Ho- nigbienen sich entwickelt haben. b. Weitere Steigerung derBlumen- tüchtigkeit durch die beiderBrut- versorgung gewonnene Uebung im Höhlengraben. (Vergleich der Schlupfwespen und Grab- wespen.) In Körperbau wie in Lebensweise schliessen sich an die eigentlichen Schlupf- wespen (Ichneumonidae) die Grabwespen (Sphegidae = Fossores LATr.) am näch- sten an und geben sich in beiderlei Be- ziehung als eine höhere Entwickelungs- stufe desselben Verwandtschaftskreises zu erkennen. Ihr Legebohrer ist zu ei- nem giftführenden Stachel umgewandelt, dessen sie sich mit Erfolg zur Lahm- legung des zur Ernährung ihrer Brut ausersehenen Beutethiers und zur Zu- rückweisung feindlicher Angriffe zu be- dienen wissen. Im Erjagen lebender Beute stimmen sie mit den Schlupfwes- pen überein, im übrigen aber gehen sie in ihrer Brutversorgung weit über die- selben hinaus; denn sie begnügen sich nicht damit, das Beutethier mit einem Ei zu belegen, sondern sie lähmen es durch geschickt in die Ganglien bei- gebrachte Dolchstiche, * schleppen es, oft aus weiten Entfernungen, in eine vorher zu diesem Zwecke angefertigte Höhle, behaften es da mit einem Ei, Uebersetzung erschienenen Werkchen wird der Leser überhaupt manche lebensfrische und fesselnde Schilderung biologischer Vor- gänge, besonders aus dem Leben der Grab- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. verschliessen die Höhle wieder und ver- wischen sorgfältig jede äussere Spur der- selben. Während also bei den Schlupf- wespen mit dem Aufsuchen, Anbohren und Belegen des Beutethiers mit einem Ei das ganze Brutversorgungsgeschäft beendet ist, folgt auf dieselben Thätigkei- ten bei den Grabwespen noch eine lange Reihe auf dasselbe Ziel der Brutver- sorgung gerichteter zweckmässigerHand- lungen, die durch verschiedene auf dem Rückwege nach ihrer Höhle sich dar- bietende Hindernisse in mannigfachster Weise die Umsicht des Thieres heraus- fordern und oft ununterbrochen noch weit über eine Stunde dauern. Mag man nun diese viel weitergehende Arbeit zum Besten der Nachkommen lediglich als Produkt blinder Naturaus- lese, oder, wozu ich nach dem Eindrucke meiner eigenen Beobachtungen* viel ge- neigter bin, als ursprünglich mit dem Bewusstsein des Zweckes der Brutsiche- rung ausgeführt und allmählich grossen- theils erblich und instinktiv geworden auffassen, in jedem Falle spricht sich in denselben eine gesteigerte Lebens- energie und geistige Befähigung aus, durch welche die Grabwespen die ganze Familie der Schlupfwespen, aus der sie anscheinend hervorgegangen sind, er- heblich überragen. Soweit nun dieselben Fähigkeiten, die bei der Vervollkomm- nung der Brutversorgung erworben wor- den sind, auch bei der Gewinnung der Blumennahrung Verwendung finden kön- nen, müssen wir auch eine Steigerung der Blumenthätigkeit der Grabwespen über die Schlupfwespen hinaus erwarten. Worin aber können hier die nach beiden Seiten hin verwendbaren neu er- worbenen Fähigkeiten bestehen? In der Unterscheidungsfähigkeit und Geschick- wespen, finden, obgleich der Verfasser zur Entwickelungslehre eine mehr als naive Stel- lung einnimmt. Eine einzige irrige aufge- fasste und irrig gedeutete entomologische Be- obachtung Erasmus Darwin’s wird von ihm in einem besonderen Kapitel mit der Ueberschrift „Les hautes theories“ in selbst- | 265 lichkeit im Umhersuchen sind schon die Ichneumoniden Meister, und diese Mei- sterschaft haben ohne Zweifel die Grab- wespen von ihren Stammeltern her er- erbt. Ihre abgeänderte Lebensweise er- fordert in dieser Beziehung, was das Auffinden des Beutethieres betrifft, keine höhere Leistung. Um aber mit Beute beladen die vorher gegrabene Bruthöhle wieder aufzufinden, von der sie sich bei ihrer Jagd auf allerlei Kreuz- und Quer- wegen oft weite Strecken entfernt hat, ist die Grabwespe genöthigt, auch beim Schleppen der Beute fortwährend um- herzuspähen, nach Zurücklegung einer Strecke die Beute abzulegen (das thut sie zu leichterem Wiederfinden oft auf den Gipfel eines Grasbüschels, den sie dann, um sein Bild sich einzuprägen, rings umläuft) und nach verschiedenen Richtungen eine Strecke weit laufend umherzuspüren, dann die Beute wieder aufzunehmen, in gleicher oder verän- derter Richtung weiter zu schleppen und dies abwechselnde Schleppen und Um- hersuchen zu wiederholen, bis sie end- lich ihr Ziel erreicht hat. Die Wespen müssten weiterer Entwickelung völlig unfähig gewesen sein, wenn nicht diese stete neue, zur Schlupfwespenthätigkeit noch hinzukommende Uebung im Um- herspähen und raschen Auffassen ihre Fähigkeit in dieser Hinsicht ausser- ordentlich gesteigert, wenn nicht Natur- auslese durch Begünstigung der fähig- sten im Kampfe um’s Dasein eine den Schlupfwespen weit überlegene Rasse ge- züchtet haben sollte — eine Wirkung, die um so unausbleiblicher war, als die neu hinzukommenden Arbeiten des Gra- bens einer Höhle, des Einbringens der Beute in dieselbe, des Wiederverschlies- sens und Wegputzens jeder äusseren gefälliger Breite zurückgewiesen, um darauf hin „die heutzutage herrschenden hohen Theo- rien“ kurzweg für lächerlich zu erklären. * H. Müller. Wie hat die Honigbiene ihre geistige Befähigung erlangt? Eichstädter Bienenzeitung 1875. Nr. 14. 264 Spur für sich allein vielmal mehr Zeit in Anspruch nehmen, als die ganze Brut- versorgungsarbeit der Schlupfwespen, und deshalb, bei unveränderter Lebens- dauer, unablässig zu rastloser Eile drän- gen. Wenn daher wirklich die Stamm- eltern der Grabwespen in der Schärfe der Unterscheidung und der Sicherheit des Auffindens ihrer Beutethiere schon voll- endete Meister gewesen sind, so dass in dieser Beziehung eine wesentliche Steigerung durch den Uebergang zum Graben von Bruthöhlen nicht mehr hat bewirkt werden können, so muss der- selbe doch die Raschheit aller Beweg- ungen ungemein gesteigert haben. Die direkte Beobachtung lässt über die Thatsächlichkeit dieser Wirkung nicht den mindesten Zweifel. Gewandt und behend benimmt sich auch die vorsich- tig schwebend umhersuchende Schlupf- wespe; aber rastlos weiter stürmend, bald rechts, bald links gewendet, halb fliegend, halb laufend, zieht die Grab- wespe (z. B. Pompilus viaticus) auf die Jagd; in unermüdlicher Hast läuft sie, die erbeutete Spinne schleppend, rück- wärts, Abhänge hinauf und hinab, rennt, nach Ablegen der Spinne, um sich ihre Lage genau zu merken, fünf-, sechsmal nach verschiedenen Richtungen von ihr weg und wieder zurück, fliegt und läuft dann, nach der verlorenen Höhle um- hersuchend, weit weg; selbst wenn sie vorübergehend rastet, sieht man ihre Flügel und Fühler wie von fieberhafter Aufregung erzittern. Dieses Bild der Unruhe neben der Ruhe der Schlupf- wespe verräth auf den ersten Blick die kolossale Steigerung der Lebensenergie und der Raschheit aller Bewegungen, die sich im Wespenstamme durch den Uebergang zur Grabwespen-Lebensweise vollzogen hat. Dieselbe den Schlupfwespen weit überlegene Raschheit der Bewegungen lassen die Grabwespen auch bei ihrer Blumenthätigkeit erkennen, und wer mit Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. der Uhr in der Hand verfolgte, wie viel Blumen einer Art in bestimmter Zeit von einer Schlupfwespe und wie viele derselben Art in derselben Zeit von einer Grabwespe besucht und ausge- beutet werden, würde gewiss einen er- heblichen Unterschied finden. Noch weit wichtiger für die Steige- rung der Blumentüchtigkeit des Wes- penstammes ist es aber unstreitig ge- wesen, dass die Grabwespen das Höhlen- graben gelernt und von Generation zu Generation weiter geübt haben, bis es instinktmässig ausgeführt und stetig vererbt wurde. Denn indem es ihnen zur anderen Natur geworden ist, bei ihren Streifzügen in allemöglichen Höhlen, an denen sie vorbeikommen, hinein zu gucken oder hinein zu kriechen und beim Anfertigen der eigenen Bruthöhlen mit Kopf und Vorderbeinen zwischen eng an einander liegenden Bodentheil- chen sich hineinzuzwängen, haben sei die den übrigen Blumengästen meist abgehende Fähigkeit und Neigung er- langt, zur Gewinnung von Blumennah- rung auch in Blumenhöhlen hinein zu kriechen und auch eng zusammenschlies- sende Blüthentheile auseinander zu zwängen. Welchen Einfluss sie dadurch auf die Züchtung besonderer Blumen- formen erlangt haben, wurde bereits in einem früheren Aufsatze (Kosmos Bd. II. S. 482 ff.) näher erörtert. Dagegen bleibt der thatsächliche Nachweis, dass wirklich durch das Erlernen des Höhlen- grabens die Blumentüchtigkeit der Grab- wespen gesteigert worden ist, hier noch beizubringen. Die als gemeinstes Unkraut über unsere Hecken emporkletternde Zaun- rübe, Bryonia dioica, birgt in den ge- trennten Blüthen beiderlei Geschlechts den Honig im Grunde einer halbkuge- ligen Schale, über welcher die aus- gebreiteten Befruchtungsorgane nebst Haaren der Corolle und der Staubfäden- wurzeln einen so dichten Verschluss bilden, dass ein Wespenkopf nur, in- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. dem er sich gewaltsam dazwischen hin- durchdrängt, den Zutritt zum Honig erlangen kann. Grabwespen (Gorytes mystaceus, Ammophila sabulosa) leisten diese Arbeit rasch und erfolgreich, Schlupfwespen niemals. Bei Reseda wird der Honig von der hinteren Fläche einer hinter den Staub- gefässen senkrecht aufsteigenden vier- eckigen Platte (Erweiterung des Blüthen- bodens) abgesondert und von den ver- breiterten Nägeln der oberen und mitt- leren Blumenblätter, die sich der Hin- terseite dieser Platte dicht anlegen, schützend umschlossen. Es ist also auch hier ein gewaltsames Auseinanderzwän-- gen dicht zusammenschliessender Blü- thentheile erforderlich, um den voll- ständig versteckten Honig zu gewinnen. Auch dies leisten gewisse Grabwespen (ganz besonders Cercerisarten), und zwar ungemein häufig, sehr rasch und mit vollendeter Sicherheit aller Bewegungen. Ichneumoniden dagegen, die sich ab und zu auch auf Resedablüthen ein- finden, versuchen immer nur vergeblich, zum Honig zu gelangen. Ebenso wird der in ganz ähnlicher Weise geborgen liegende Honig von Allium rotundum niemals von Ichneumoniden, dagegen häufig von Grabwespen (Üerceris) aus- gebeutet, die ohne Zögern den Kopf in das enge Honigversteck hineindrän- gen. Dasselbe gilt von den einfachsten Papilionaceenblumen (Mellotus, Trifo- lium fragiferum u. a.), die zur Erlang- ung des Honigs, ebenso wie die höher entwickelten Glieder dieser Familie, ein Auseinanderzwängen der Fahne und der mit dem Schiffchen vereinigten Flügel erfordern. Auf welche Ursache sind diese höheren Blumenleistungen der Grabwespen zu- rückzuführen ? An Blumenstetigkeit ste- hen die Schlupfwespen den Grabwespen mindestens gleich. Denn sie ernähren sich im fertigen Zustande, so weit mir bekannt ist, ausschliesslich von offen liegendem Blumenhonig, wogegen die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). \ 265 % Grabwespen auch für sich selbst die Fleischnahrung, mit der sie ihre Brut beköstigen, nicht verschmähen. (Noch heute, am 15. Mai 1881, sah ich einen Pompilus viatieus nach langem vergeb- lichem Umherstreifen eine Spinne erbeu- ten, die zu klein war, eine Larve da- mit zu versorgen. Statt sie durch einen Stich zu lähmen und in die Höhle zu schleppen, zermalmte die Grabwespe das Kopfbruststück derselben mit ihren Fress- zangen und genoss den herausgequetsch- ten Fleischbrei selbst!) Also auch hier ist es gewiss nicht grössere Uebung in der Blumenarbeit, welche die Grab- wespen zu den eben angeführten gestei- gerten Blumenleistungen befähigt, son- dern lediglich ihre beider Brutversorgung gewonnene Fertigkeit im Höhlengraben, die mittelbar vervollkommnend auf die Blumentüchtigkeit zurückwirkt. Von dem Genuss des Honigs der- jenigen Blumen, die kein Auseinander- zwängen fest zusammen schliessender Theile, sondern nar ein Hineinkriechen in Höhlen erfordern, sind zwar auch die Schlupfwespen keineswegs ganz aus- geschlossen. Wir sahen ja, gelegent- lich und mit grosser Vorsicht, auch Ichneumoniden in die Blumenhöhle von Cerastium arvense und in die gewaltsam offen gebrochene Blumenröhre von (on- vallaria Polygonatum hinein schlüpfen. Auch in die 4—5 mm langen, am Ein- sange 2 mm weiten Blumenröhren von Mentha aquatica habe ich Schlupfwespen behend hineinkriechen sehen. Was aber in dieser Beziehung Schlupfwespen nur ausnahmsweise, als äusserstes Wagniss, unternehmen, ist den Grabwespen, in Folge ihrer veränderten Brutversorgung, eine ganz geläufige Beschäftigung ge- worden. Die röhrigen Blumen von Vero- nica spicata und manchen kurzröhrigen Lippenblumen, wie Thymus Serpyllum und vulgaris, Mentha silvestris, Salvia sil- vestris, werden von Grabwespen sehr ge- wöhnlich und für beide Theile erfolg- reich besucht. 19 266 Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Da die Grabwespen ihre Bruthöhlen | in den Sand gegrabene Loch einer vielfach in das Mark dürrer Zweige oder Stengel graben, besonders häufig z. B. in das dürrer Brombeerstengel, in die sie sich von dem nach unten gebogenen Ende her hineinwühlen und später regel- mässig einschlüpfen, so haben sie ausser dem Sichhineinzwängen zwischen dicht zusammenschliessende Theile und dem Hineinkriechen in wagrechte oder ab- wärts gehende Höhlen bei ihrer Brut- versorgung auch gelernt, sich von unten an einen schmalen herabhängenden Kör- per anzuklammern und von unten her in eine Höhle desselben den Kopf hin- einzustecken oder ganz hineinzukriechen. Auch diese bei der Brutversorgung er- worbene Fähigkeit der Grabwespen ist bei der Aufsuchung der Blumennahrung verwerthbar und wird von ihnen ver- werthet, wo es sich um Ausbeutung senkrecht herabhängender Blumenglöck- chen handelt (z. B. von Ammophila sa- bulosa an Symphoricarpus racemosa). Die in einem früheren Aufsatze (Kosmos Bd. II, S. 476—499) nach- gewiesene Befähigung der Grabwespen als selbständige Blumenzüchter aufzu- treten und Blumenformen, wie die ein- facheren der Papilionaceen, Labiaten, Ericaceen zur Ausbildung zu bringen, ist also nicht auf eine ganz besondere Uebung derselben im Bearbeiten aus- zubeutender Blumen zurückzuführen ; sie ist ihnen vielmehr als Frucht des bei der Brutversorgung erlernten Höh- lengrabens nebenbei zugefallen. Das Erlernen des Höhlengrabens ist mithin ein unabsehbar folgenschwerer Schritt gewesen. Als Stammeltern aller übrigen höhlengrabenden Hymenopteren haben die Grabwespen nicht nur deren Brut- versorgungsweise — wie später gezeigt werden wird, bis zu den Hummeln und Honigbienen hinauf — in erster Linie bestimmt; sondern auch die Entwicke- lung des Formenreichthums der Blumen- welt und der Blumentüchtigkeit des Wespenstammes lässt sich bis auf das Wespe, die ihre Nachkommenschaft zu sichern suchte, zurückführen. Diese letzteren Folgen des Höhlengrabens ha- ben allerdings, sowohl für die Blumen- welt als für den Wespenstamm, erst nach dem Uebergange des letzteren zur Bienenlebensweise zur vollen Entfaltung gelangen können; aber ihre Anfänge nach beiden Seiten hin zeigen sich schon auf der Entwickelungshöhe der Grab- wespen. Auf Seiten der Blumen näm- lich sind die Vorstufen vieler späteren Bienenblumen, wie z. B. der Labiaten und Papilionaceen, höchst wahrschein- lich schon von den Grabwespen gezüch- tet worden; auf Seiten dieser aber finden wir bei den fortgeschrittensten und blu- mentüchtigsten schon eine erhebliche Streckung der Zunge und damit eine Befähigung, auch etwas tiefer gebor- genen Honig zu erreichen. c. Steigerung der Blumentüchtig- keit mit der Körpergrösse. Am fortgeschrittensten in Bezug auf Eifer und Tüchtigkeit in der Ausbeu- tung der Blumen und ebenso in Bezug auf Zungenlänge sind merkwürdiger Weise gerade die auch an Körpergrösse hervorragendsten unserer Grabwespen, die Arten der drei nächstverwandten Gattungen Ammophila, Psammophila, Mis- cus, und die an Körpergrösse und Ge- schwindigkeit der Bewegungen alle übri- gen einheimischen Grabwespen über- treffende Bbembex rostrata. Bei den drei ersten überragt die ausgestreckte Zunge den Kopf bereits um 4 mm, und sie vermögen, wie ich an Ammophila sabu- losa gesehen habe, Bryonia, Melilotus und Thymus mit Leichtigkeit auszubeu- ten. Bei der noch massigeren Bembex rostrata hat sich die Vorstreckbarkeit der Zunge auf 7 mm, die Blumen- tüchtigkeit bis zur Ausbeutung der Blu- men von Medicago sativa und Scabiosa arvensis, für welche letztere ihre Zungen- länge gerade ausreicht, gesteigert. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Ist dieses Zusammentreffen einer Steigerung der Körpergrösse und zu- gleich der (nicht bloss absoluten, son- dern auch relativen) Zungenlänge ein zufälliges oder nothwendiges ? Bei Insekten, die sich, wie die Grab- wespen, im fertigen Zustande sehr über- wiegend mit Blumenhonig beköstigen, und denen, wie den Grabwespen, von Haus aus nur flache, wenig ergiebige Nektarien zugänglich sind, muss sich, bei relativ gleichem Kraftverbrauch für die Brutversorgung, nothwendigerweise in gleichem Verhältniss mit der Körper- masse entweder die Zahl der Blumen- besuche oder der Honigreichthum der ausgebeuteten Blumen steigern. Da nun eine Steigerung der Zahl der Blumen- besuche, bei der durch die langwierige Brutversorgung ohnehin schon sehr be- drängten Zeit der Grabwespen nur inner- halb ziemlich enger Grenzen möglich ist, so konnte, bei unveränderter Er- nährungsweise, eine weitere Steigerung der Körpermasse durchaus nur mit gleich- zeitiger Steigerung der Befähigung zur Ausbeutung reicher fliessender, d. h. tieferer Honigquellen, also mit gleich- zeitiger Steigerung der Zungenlänge stattfinden. Je kürzer und gedrungener dabei die Körperform, um so stärker muss natürlich die Zunge relativ ge- streckt erscheinen; bei Bembex daher weit stärker als bei Ammophia und Genossen. Das Zusammentreffen einer Steige- rung der Körpermasse und der rela- tiven Zungenlänge ist also kein zufäl- liges, sondern ein in ursächlichem Zu- sammenhange stehendes, nothwendiges. Selbstverständlich besteht aber eine Wechselwirkung nur zwischen den Grab- wespen und Blumen desselben Gebietes. Nur innerhalb desselben Gebietes kann also auch von einem nothwendigen Zu- sammenhange zwischen der Körpergrösse und der durch gesteigerte Zungenlänge erlangten Befähigung, tiefere, honig- reichere Nektarien auszubeuten, die 267 Rede sein. In einem Gebiete, welches offene Nektarien von bedeutendemHonig- reichthum (wie z. B. Poinsettia- und Asclepias-Arten) in Menge darbietet, müssen natürlich Graswespen mit ge- ringerer Zungenlänge eine beträcht- lichere Körpergrösse erreichen können als bei uns. Es ist daher sehr wohl begreiflich, und steht mit unserer Schluss- folgerung nur in vollem Einklange, dass z. B. eine soeben von mir zergliederte südbrasilianische Sphexart von 32 mm Körperlänge und unsere Bembex rostrata erheblich übertreffender Körpermasse eine noch etwas weniger gestreckte Zunge besitzt als diese. Selbst innerhalb desselben Gebietes kann die aufgestellte Regel eine aus- nahmslose Geltung nicht beanspruchen. Denn einerseits können sehr wohl Grab- wespen durch reichlichere Benutzung von Fleischnahrung für ihre eigene Be- köstigung die sonst für ihre Körper- masse erforderliche Zungenlänge ent- behrlich gemacht haben. Andererseits können aus anderen Bezirken eingebür- gerte Grabwespen eine grössere Zungen- länge, als sie in ihrem gegenwärtigen Bezirke für ihre Körpergrösse durchaus erforderlich ist, von Generation zu Ge- neration weiter vererben. d. Rückschritte in der Blumen- tüchtigkeit durch Verlust der Flügel und durch Zersplitterung der Nahrungserwerbs-Thätigkeit auf verschiedenartige Bezugs- quellen. (Ameisen.) Die Familie der Grabwespen scheint der gemeinsame Ausgangspunkt der übrigen höhlengrabenden Hymenopteren- familien gewesen zu sein, der Ameisen, der Faltenwespen oder eigentlichen Wespen und der Blumenwespen oder Bienen. Auf dem Gipfel ihrer Ent- wickelung sind alle drei zur Staaten- bildung gelangt und schon dadurch weit über die Grabwespen hinaus fortge- schritten. 19* 268 Von den Ameisen kennen wir, ab- gesehen von vereinzelten Arten, die sich als Gäste in den Nestern anderer vor- finden, nur staatenbildende mit zur Paarungszeit geflügelten Männchen und Weibchen und stets flügellosen Arbei- tern (verkümmerten Weibchen). Mutilla und verwandte Grabwespengattungen mit geflügelten Männchen und flügel- losen Weibchen schliessen sich aber, wie schon LATREILLE mit Recht betont hat, so nahe an die Ameisen an, dass an dem engen verwandtschaftlichen Zu- sammenhang beider nicht gezweifelt werden kann. Zwischen die staaten- bildenden Faltenwespen und die stamm- elterlichen Grabwespen schalten. sich, die Kluft völlig ausfüllend, zahlreiche Geschlechter einzeln lebender Falten- wespen ein. Und noch viel mannig- faltigere Abstufungen einzeln lebender Bienen führen von den Grabwespen auf- wärts bis zu den staatenbildenden Hum- meln und Honigbienen. Von der Brutversorgungsweise ihrer Ahnen sind alle drei aus dem gemein- samen Stamme der Grabwespen her- vorgegangenen Familien in eigenthüm- licher Weise abgewichen und je nach ihrer Richtung hat diese Abweichung hemmend oder fördernd auch auf die Blumentüchtigkeit der betreffenden Wes- pen zurückgewirkt. Die Ameisen haben schon auf den niederen Entwickelungsstufen der Staa- tenbildung, die unsere einheimischen Arten zeigen*, die Gewohnheit, jeden einzelnen Nachkommen mit dem für die Entwickelungszeit ausreichenden Mund- vorrath in eine Zelle einzuschliessen, gänzlich aufgegeben. Sie betreiben die Jugenderziehung als Staatsangelegenheit im Grossen und Ganzen. Die dienende Gesellschaftsklasse hegt und pflegt die Maden, trägt sie nach Bedarf näher * Von den höheren Anpassungsstufen der tropischen und subtropischen Zone, wie sie z. B. die Blattschneiderameisen und Raub- ameisen Brasiliens und die Getreide bauenden Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. an die Sonne oder in tiefer gelegene Kammern und füttert sie mit dem aus näherer oder fernerer Umgegend herbei- geschleppten Proviant, bis sie ausge- wachsen sind und sich in seidenartige Puppenhüllen einspinnen. Bestände dieser Proviant ausschliess- lich oder wenigstens zum grössten Theile aus Blumennahrung, so hätte diese massenhafte Brutaufziehung wohl kaum verfehlen können, die Tüchtigkeit der Ameisen im Ausbeuten der Blumen, (wenn auch deshalb noch nicht ihre Brauchbarkeit als Kreuzungsvermittler) erheblich zu steigern. Die Ameisen grei- fen aber, um ihren hohen Nahrungsbe- darf zu decken, zu den verschiedensten anderen Nahrungsquellen, mögen diese ihnen nun Fleisch oder pflanzliche Ei- weissstoffe*, vegetabilische oder ani- malische Kohlenhydrate (wie z. B. den Zuckersaft der Blattläuse) liefern. Und diese Zersplitterung der auf den Nah- rungserwerb gerichteten Arbeit, dieihnen auf die Blumen meist nur einen unbe- deutenden Theil ihrer Zeit und Auf- merksamkeit zu verwenden gestat- tet, hat natürlich auf ihre Blumen- tüchtigkeit nur hemmend zurückwirken können. Einen ziemlich hohen Grad von Fin- digkeit besitzen sie zwar, und die von den Grabwespen ererbte und in ihrem eigenen Haushalte bethätigte Fähigkeit, sich in Höhlen und zwischen eng zu- sammenliegende Theile einzudrängen, bringen sie natürlich auch, wenn sie dem Blüthennektar nachgehen, in An- wendung. Ich fand z. B. auf den Alpen Ameisen zahlreich in den Blumenröhren von Rhododendron bis zum Nektarium vordringend ; in den Blumenglocken der Campanula-Arten (barbata, thyrsoidea), in jüngeren Blüthen vergeblich suchend, in älteren, bei denen die Saftdecken Ameisen von Texas darbieten, sehen wir hier füglich ganz ab. ® Fritz Müller, die Imbauba und ihre Beschützer. Kosmos Bd. VIII, S. 109 ft. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. bereits auseinandergetreten waren, Ho- nig leckend; in zahlreichen Blumen- glocken der Gentiana punctata die mei- sten Saftlöcher besetzt haltend. Bei uns in der Ebene drängen sich Ameisen durch die geschlossenen Blumenthüren von Linaria vulgaris ein und kriechen bis in den Honig führenden Sporn. Auch eine gewisse Beständigkeit im Ausbeuten einmal aufgefundener Honig- quellen ist ihnen eigen, sogar in höhe- rem Grade als vielen Grabwespen, und macht sie unter günstigen Umständen zu andauernden, ja selbst zu hartnäckig andauernden Blumenbesuchern. Gewisse honigreiche und gegen ihren Zutritt nicht geschützte Blüthenstände von Saxifragen (Saxifraga aizoides) und Umbelliferen (Peucedanum Ostruthium) fand ich z. B. an einzelnen Orten fortwährend von Hunderten von Ameisen besetzt. Aber im Vergleich .zur gesammten Nahrungs- versorgung des Ameisenstaates bleibt selbst eine solche hartnäckige Blumen- arbeit zahlreicher Ameisen doch immer nur unbedeutend, und eine grössere Ausdehnung kann sie schon deshalb nicht annehmen, weil die meisten honig- reichen Blumen gegen den ihnen nach- theiligen Besuch der Ameisen mit beson- deren Schutzvorrichtungen ausgerüstet sind. Auch eine Arbeitstheilung zwischen Blumenhonig sammelnden und anderen Proviant eintragenden Personen findet wenigstens bei unseren Ameisen nicht statt. Ihre gelegentliche Blumenarbeit wird daher kaum irgend wie steigernd auf ihre Blumentüchtigkeit haben ein- wirken können. 3 Ausser der Zersplitterung ihres Er- nährungstriebes wirkt überdies die Flü- gellosigkeit- der allein auf Nahrungs- erwerb ausgehenden Arbeiter in hohem Grade hemmend auf die Blumenleist- ungen der Ameisen ein und hindert sie an irgend welchen bedeutenden Fort- schritten auf diesem Gebiete. Man braucht nur die Blumenthätigkeit einer Hummel mit der einer Ameise zu ver- 269 gleichen, um sich die Grösse dieses Hindernisses klar zu machen. Die frei umherfliegende Hummel hat nach dem Verlassen einer Blume, die sie ihres Honigs entleert hat, in der Regel nach einigen Secunden eine an- dere derselben Art aufgefunden. Daher ist es ihr häufig vortheilhafter, den grössten Theil des Honigvorraths in vollen Zügen zu saugen und rasch weiter zu fliegen, als mit der Aussaugung des spärlichen Restes die Zeit zu verlieren. In der That sieht man ja an den von Bombus terrestris (und auf den Alpen von B. mastrucatus) gewaltsam erbroche- nen und ihres Honigs beraubten lang- röhrigen Blumen oft wenige Minuten darauf Wespen. oder kurzrüsselige Bie- nen beschäftigt, durch die eingebroche- nen Löcher Nachlese zu halten — ein Beweis, dass die eiligst von Blume zu Blume weiter stürmende Hummel einen Theil des Honigs im Stiche gelassen hat. — Die zu Fuss laufende Ameise dagegen hat nach dem Verlassen des einen Nek- tariums durchschnittlich einen unver- hältnissmässig grossen Zeitaufwand nö- thig, um das folgende zu erlangen; denn es fehlt ihr nicht bloss die rasche Orts- bewegung der Hummel gerade durch die Luft hindurch, sondern auch die Uebersicht über verschiedene Blumen desselben Stockes, über verschiedene Stöcke desselben Standortes, welche die Hummel, frei in der Luft schwebend, augenblicklich gewinnt. Zweigauf, zweig- ab, stengelauf, stengelab muss die Ameise umherlaufen, bis sie ihr gutes Glück zu einer neuen Blüthe oder zu einem neuen Blüthenstande leitet. Es ist daher nur die natürliche Folge ihrer Flügellosigkeit, dass die Ameisen sich gewöhnt haben, sich an einer einmal aufgefundenen Honigquelle hartnäckig festzusetzen und sie gründlichst auszu- beuten. Dieses Festhocken an demselben Nektarium musste aber, auch abgesehen von der Zersplitterung ihrer Brutver- sorgungsarbeit, der Erlangung irgend 270 welcher Behendigkeit und Gewandtheit | e in der Gewinnung von Blumennahrung direkt entgegenwirken. Beide Umstände zusammengenommen machen uns hinreichend verständlich, dass trotz ihrer Staatenbildung und des durch dieselbe hochgesteigerten Nah- rungsbedürfnisses und trotz ihrer ver- hältnissmässig hohen geistigen Befähi- gung die Ameisen weder eine körper- liche Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung noch eine Steigerung ihrer Blumentüchtigkeit erlangt haben, und dass auch die Blumenwelt keine Spur von Anpassung an Kreuzungsver- mittelung durch Ameisen, sondern nur zahlreiche Schutzvorrichtungen gegen dieselben * erkennen lässt. Allerdings sind die kleinen grünlichen Blüthen eines zur Familie der Kaffee- gewächse gehörigen südafrikanischen Strauches als der Kreuzungsvermittelung der Ameisen angepasst beschrieben wor- den**; aber diese Beschreibung selbst stützt nur die hier begründete Behaup- tung. Die Staubgefässe dieses Strauches springen nämlich schon in der Knospe auf und bedecken die Narbe mit Pollen. Sobald dann die Blüthen sich öffnen, beginnen die Ameisen, welche dieselben in grösster Menge besuchen, die Haare auszureissen, welche die Blumenkronen- röhre auskleiden, und oft auch die Staubgsefässe abzubeissen, um sich den Weg zu dem im Grunde der Röhre ent- haltenen Honig zu bahnen. Dabei stützen sie sich oft mit den Hinterbeinen auf den pollenbedeckten Griffel, den sie his- weilen ebenfalls abbeissen. Deutlicher kann die Unbrauchbarkeit der Ameisen zur Kreuzungsvermittelung und überdies die Gründlichkeit, mit welcher sie bei ihrer Blumenausbeutung zu Werke zu gehen pflegen, doch wohl kaum jemals zu Tage treten. * Kerner, Schutzmittel der Blüthen gegen unberufene Gäste. Wien, 1876. ** Evans, Nature Vol. XIH p. 427. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Vortheilhafter Einfluss der Staatenbildung auf die Blumen- tüchtigkeit. (Faltenwespen.) Innerhalb derGrabwespenfamilie hat, wie wir sahen, die Zunahme der Kör- permasse den Nahrungsbedarf und da- durch die Blumenthätigkeit und Blumen- tüchtigkeit gesteigert. Von den aus dem Grabwespenstamme hervorgegange- nen Familien sind dann die Ameisen, wie so eben gezeigt wurde, durch Zer- splitterung des Nahrungstriebes auf ver- schiedene Bezugsquellen und durch Flügellosigkeit der Arbeiter auf eine niedere Stufe der Blumentüchtigkeit hinabgesunken. Bei den Faltenwespen und Bienen dagegen hat eine weitere Steigerung des Blumennahrungsbedarfs und damit der Blumentüchtigkeit statt- sefunden, was für die Faltenwespen jetzt nachgewiesen werden soll. Die einzeln lebenden Faltenwespen gleichen grösstentheils ihren muthmass- lichen Stammeltern, den Grabwespen, im Graben einer Bruthöhle, im Erbeuten lebender Insekten oder Spinnen, im Lähmen derselben durch Dolchstiche in die Nervenknoten, in der Einbringung der gelähmten Beute in die Höhle, in ihrer Belegung mit einem Ei, endlich in dem Verschliessen der Höhle und dem Verwischen jeder äusseren Spur — also in allen Einzelheiten der Brutver- sorgung. Ebenso beschränken sich viele von ihnen zu ihrer eigenen Beköstigung, gleich den Grabwespen, fast ganz auf Blumennahrung und stehen daher auch in Bezug auf Blumentüchtigkeit mit diesen auf gleicher Stufe. In der That sind es zum grossen Theile dieselben Blumen und im übrigen wenigstens meist Blumen derselben Anpassungs- stufen, auf denen wir einerseits die Grabwespen, andererseits die einzeln lebenden Faltenwespen mit Honigaus- beute beschäftigt finden. Beide lecken vorwiegend völlig offen liegenden Honig, wissen aber auch die durch Haare ge- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. deckten Nektartröpfchen von Malva und Geranium auszubeuten, die eng zusam- menschliessenden Blüthentheile von Ke- seda, Bryonia u. dgl. auseinander zu zwängen, in die Blumenröhren von Va- leriana, Gypsophila, Echium, Scabiosa u. a. einzudrängen und deren Honig zu er- langen. An der unbewussten Blumenzüch- tung der ersten und einfachsten La- biaten-, Papilionaceen- und anderer Blumenformen, die später die Bienen für sich in Anspruch genommen und weiter gezüchtet haben*, mögen daher neben Grabwespen recht wohl auch einzeln lebende Faltenwespen betheiligt gewesensein. Eigenthümliche Züchtungs- produkte der letzteren hat unsere Blu- menwelt nicht aufzuweisen. Mit oder wahrscheinlich vor dem Uebergang zur Staatenbildung** ist aber von den Faltenwespen (ebenso wie von den Ameisen) die ererbte Brut- versorgungsweise verlassen und statt der lebenden Fleischnahrung für die Larven gemischte Kost, statt des Ein- schliessens des Eies nebst dem ganzen für die Larve nöthigen Mundvorrath in eine Zelle das Auffüttern der Larve ein- geführt worden. Auch sich selbst be- köstigen die staatenbildenden Falten- wespen in noch etwas höherem Grade, als die Grabwespen thun, mit gemischter Nahrung, indem sie statt des Blumen- honigs auch den süssen Saft der Früchte, neben der vegetabilischen Kost auch erbeutete Insekten geniessen. Zwei Um- stände aber wirken steigernd auf ihren Nahrungshbedarf und damit, trotz der gemischten Kost, auch auf ihre Blumen- thätigkeit ein: einerseits ihre Körper- masse — unsere staatenbildenden sind zugleich unsere grössten Faltenwespen, — andererseits die Staatenbildung, die von einer Massenauffütterung der Nach- * Die Insekten als unbewusste Blumen- züchter III. (Kosmos Bd. IH, S. 476—499.) #* Anwendung der Darwin’schen Lehre 271 kommen und Zunahme ihrer Zahl in geometrischem Verhältnisse begleitet ist. Unsere Vespa-Arten sind daher (mit Ausnahme der Hornisse) ebenso eifrige Blumengäste als Fliegenjäger und Ver- tilger süsser Früchte und zeichnen sich vor den einzeln lebenden Faltenwespen (Odynerus, Eumenes) bei ihren Blumen- besuchen ebenso sehr durch stürmi- scheren Flug und raschere Bewegung hei der Blumenarbeit, als durch ent- schiedene Bevorzugung reicher Honig- quellen aus. Nur die Männchen, die ja keine Brut zu versorgen, sondern nur sich selbst zu beköstigen haben, sieht man auf den Blüthenschirmen der Umbelli- feren in aller Gemächlichkeit sich an der flachen Honigschicht ergötzen ; die fruchtbaren und unfruchtbaren Weib- chen sind auf denselben Blüthenschirmen und ebenso auf den dicht gedrängten Blüthen von Saxifraga aizoides in rast- losem Umherschreiten und Honigauf- lecken begriffen. Noch weit lieber aber beuten sie, wenn sie es haben können, in raschen vollen Zügen eine ganze nektargefüllte Schale auf einmal aus. Werden ihnen solche von den Blumen dargeboten, so sind sie deren eifrigste Gäste, die unermüdlich von Blume zu Blume fliegen und, wenn nur Narbe und Pollen die dazu geeignete Lage haben, fortwährend Kreuzung vermit- teln. Kein Wunder also, dass sie trotz der Zersplitterungihres Nahrungserwerbs einigen blumenzüchtenden Einfluss haben gewinnen können. Die Steinmispel(COotoneaster vulgaris”) bewohnt in den Alpen vielfach dieselben Felsen, an denen eine Steinwespe, Po- listes biglumis, ihre gestielte, hüllenlose Brutwabe anheftet, und ihre Blüthen, deren Kelchschale sich mit Nektar füllt, während die Blumenblätter sich über auf Bienen. (Verhdl. des naturh. Vereins für preuss. Rheinl. u. Westf. 1872. S. 34.) * H. Müller, Alpenblumen S. 214. 272 derselben schützend und zahlreiche Gäste ausschliessend zusammenwölben, fand ich ausschliesslich von der genannten Steinwespe besucht, deren Kopf in die kugelige Blumenhöhle hineinpasst, als wenn für ihn das Maass derselben ge- nommen wäre. Aehnlich verhält sich Rubus sawatilis*. Epipactis latifolia, die Scrophularia- Arten, Lonicera alpigena bieten in ihren Blumen, die sich überdies durch eine sonst ungewöhnliche, grünliche, braun- roth überlaufene Farbe und (wenigstens bei Scerophularia) eigenthümlichen Ge- ruch auszeichnen, weit geöffnete, nek- targefüllte Schalen dar, die weit genug sind, die Köpfe unserer Vespa-Arten (ausser V. Crabro) aufzunehmen, und von denselben emsig und mit Ausdauer besucht werden. Nicht minder eifrig entleeren dieselben Wespen die nach unten gerichteten Glöckchen der Schnee- beeren (Symphoricarpus racemosa), die ebenso honigreich, ebenso bequem ihren grossen, kurzzungigen Köpfen angepasst sind. Was liegt also näher, als die genannten Blumeneigenthümlichkeiten der unbewussten Züchtung der- genann- ten Kreuzungsvermittler zuzuschreiben ? Und zwar nur dieser, d. h. der staaten- bildenden Wespen mit Ausschluss der Hornisse. Denn die einzeln lebenden Wespen sind zu wenig blumeneifrig, als dass sie blumenzüchtend hätten wirken können; überdies beweist der gewalt- same Einbruch, den Odynerus-Arten an den Blumenglöckchen der Schneebeere verüben, dass sie wenigstens an der Züchtung dieser Wespenblumen keinen Antheil haben können. Die Hornisse dagegen sind zu gross und nahrungs- bedürftig, als dass sie überhaupt auf unseren Blumen ihre Rechnung finden könnten; die flache Honigschicht offener Nektarien ist ihnen zu unergiebig, die * Daselbst S. 215. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Nektarschalen unserer Wespenblumen sind ihnen zu klein. Sie verzichten da- her fast gänzlich auf Blumenbesuch und Blumennahrung; nur ein einziges Mal spät im Herbst, als ihre Lebenszeit sich schon zu Ende neigte (13. Okt. 1875), habe ich einzelne Hornissen auf Blü- thenschirmen des Epheu angetroffen. Obgleich hiernach als Blumenzüchter die staatenbildenden Faltenwespen nicht ganz erfolglos gewesen zu sein schei- nen, so haben sie selbst doch in ihren einheimischen Arten keinerlei Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung erlangt. Die tropische und subtropische Zone aber, in der ja überhaupt die gegenseitigen Anpassungen der Orga- nismen viel weiter gediehen sind, als auf unserem in seiner Bewohnerschaft durch Glacialperioden so mächtig ge- stört gewesenen Erdtheile, hat, nach der Entdeckung meines Bruders, Frırz Mür- LER, auch unter den staatenbildenden Faltenwespen eine Anpassung an die Gewinnung der Blumennahrung auf- zuweisen, wenn auch nur, in dem frü- her** von mir erörterten Sinne, eine ne- gative. Die Mondscheinwespe Südbrasiliens (Apoica pallida Lee.) nämlich, die, wie unsere Polistes-Arten, eine einzige hüllen- lose Brutwabe baut, aber nur des Nachts dem Blumenhonige nachgeht, während sie bei Tage still im Neste sitzt, ist mit Ausnahme des Kopfes und der Vor- derbrust oberseits weisslichgelb gefärbt und erscheint bei Mondschein ebenso weiss, wie die meisten Nachtblumen, die sie besucht. Wenn sie daher bis zur Mittelbrust in einer Nachtblume steckt, so ist sie schon aus geringer Entfernung unsichtbar und dadurch vor der Gefahr, während ihrer Blumenarbeit von Feinden bemerkt und erbeutet zu werden, geschützt. #2 Kosmos Bd. VI, S. 30. Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Von Dre. E. Huth. (Hierzu Tafel I. II.) Die Anpassungen der Pflanzen an das Thierreich lassen sich in vier Grup- pen theilen: 1. diejenigen, welche die Fremdbefruchtung (Kreuzung) der Blü- then, besonders vermittelst der Insec- ten bewirken, 2. diejenigen, welche die Aussaeung (Verbreitung des Samens) durch Thiere begünstigen, 3. die Schutz- mittel der Pflanzen, welche im Kampfe mit der Thierwelt entstanden sind, 4. diejenigen Anpassungen, durch wel- che gewisse Pflanzen auf Kosten der Thiere zu leben im Stande sind. Alle diese Anpassungen sind schon behandelt worden, allerdings in einer sehr ungleichen Weise. Während näm- lich die erste Gruppe derselben schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts von SPRENGEL, allerdings von seinem teleo- logischen Standpunkte aus behandelt wurde und besonders seit den neueren Arbeiten von DaArwın, HiILDERRAND, Deupıso und der Brüder HERMANN und Frırz MÜLLER schon eine bedeutende Literatur besitzt, deren genauer Kata- log sich in Hermann MüLtLEr’s Be- fruchtung der Blumen findet, ist die zweite Gruppe meines Wissens nach im Zusammenhange erst einmal, und zwar von HıLpEgrAnn* behandelt * Die Verbreitungsmittel der Pflanzen. Leipzig 1873. worden. Wieder etwas genauer ist die dritte Gruppe beleuchtet worden, und zwar, soweit esden SchutzderBlätter und Blüthen gegen unberufene Gäste, durch Gifte, ätherische Oele, unangenehme Gerüche, klebrige Drüsen, Stacheln und Dornen, Leimringe und Wasserbecken be- trifft, schon im vorigen Jahrhundert durch ErAsmus DARWIN, sowie in neuerer Zeit durch Kerner und Kuntze. Von den Anpassungen der vierten Gruppe, welche sich in diejenigen der fleischverdauen- den Pflanzen und in diejenigen der auf oder in Thieren parasitisch lebenden Pflanzen theilen lässt, sind die ersteren vornehmlich von Darwın eingehender dargestellt, während die historische Ent- wickelung der Idee und die Litteratur- angaben von DrUDE in der TREwENDT'- schen »Encyelopädie der Naturwissen- schaften« zusammengestellt worden sind. Die Anpassungen der in Thieren para- sitisch lebenden niedern Pflanzen hat uns am eingehendsten NÄseELı in meh- reren besonderen Werken geschildert. In der vorliegenden Arbeit ist es nun meine Absicht, die bisher am dürf- tigsten bedachte Gruppe, also die der Aussaeungsvorrichtungen näher zu be- trachten, indem ich auf dem von Hınpe- BRAND betretenen Wege fortschreite und besonders das hervorhebe, was wir in den »Verbreitungsmitteln der Pflanzen « 274 des genannten Forschers noch nicht finden. Derselbe hat nämlich zwar die hierher gehörigen Pflanzen in morpho- logischer Beziehung genauer behandelt, jedoch auf die in Frage tretenden Thiere, sowie auf die bisher gemachten directen Beobachtungen über Samenverschlepp- ung keine oder doch nur sehr geringe Rücksicht genommen. Nach zwei Richtungen haben sich die Pllanzen der Aussaeung durch Thiere angepasst, nämlich durch Ausbildung a) von Klettorganen und Kleb- vorrichtungen; b) von Kern- oder Steinfrüchten. Was zunächst a. die Klett- und Haftorgane betrifft, so weissauch jeder Laie, dass sich, wenn er im Herbste durchs Gebüsch seinen Weg nimmt, seinen Kleidern die- ser oder jener Pflanzensame anhaftet, der oft nur mit grosser Mühe zu ent- fernen ist. Der Volksmund und der Bo- taniker haben deshalb auch nicht er- mangelt, diese Eigenschaften der Pflan- zen in der Nomenclatur zu verwerthen. Der Name »Klette« selbst, sowie die- jJenigen der Spitzklette oder Bettler- laus(Xanthium strumarium)*, der» Wald- klette« (Circaea), der »Wollkletten« (Früchte besonders von Medicago his- pida und M. arabica), »Klebkraut« (Ga- lium Aparine), bei den Alten nach Puı- xıus Menschenfreund (Philanthropos) ge- nannt, ferner »Priesterlaus«, welcher nach AscHErson in der Priegnitz für die Samen von Bidens üblich ist, und der sich in einer nicht gut wiederzugebenden Form schon 1717 im Vademecum bota- nicum des JOHRENIUS findet, sowie die botanischen Gattungsnamen Harpagophy- ton und Scorpiurus, und die Species- namen von KEchinospermum, Lappula, Bartramia Lappago, Valerianella hamata und vielen Anderen legen hiervon Zeug- niss ab. *® Bei Bauhin kommt als der altfranzö- sische Name dieser Pflanze die Benennung Petit Gletteron (heute Glouteron) vor, wobei Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Trotzdem aber, wie wir hier sehen, das Volk und die Männer der Wissen- schaft von diesen Klettvorrichtungen der Pflanzen seit langer Zeit Notiz ge- nommen haben, so stehen wir dennoch, wo es sich um directe Beobachtungen handelt, die auf Verschleppung der Samen nach dieser Richtung hin ge- macht sind, auf einem Gebiete, auf welchem wir das Material aus lauter einzelnen, meist nur gelegentlichen Be- merkungen der Beobachter zusammen- suchen müssen. Es ist daher natür- lich, dass die Zusammenstellung der mir bis jetzt bekannt gewordenen darauf bezüglichen Beobachtungen noch eine dürftige sein muss, doch bin ich über- zeugt, dass dieselben sich bald be- deutend vermehren würden, sobald sich (las Interesse der Botaniker mehrfach darauf gerichtet hat. Am bekanntesten ist natürlich die Verschleppung einiger heimischen Pflan- zen, die besonders der Mensch mit seinen Wollkleidern, mit ihm aber auch sein Freund, der durch Feld und Gebüsch streifende Hund, vornehmlich der kraus- haarige Pudel bewirkt. Die wichtigsten der bei uns auf diese Weise verbrei- teten Pflanzen sind zunächst die Zappa- Arten, welche ihrer haftenden Eigen- schaften wegen xar £8oynv «Kletten« genannt worden sind und deren Zähig- keit beim Festsitzen aus der Jugend Jedem erinnerlich sein wird, dem ein Spielkamerad dieselben gelegentlich in die Haare geworfen. DEAKIN sagt in seiner Florula of the Colosseum of Rome (London 1855) von ihnen: »Es scheint, als ob die in die fest einschliessenden harten Blättchen des Hüllkelches ein- gehüllten Samen niemals herauskommen könnten; aber die Natur hat vermittelst der starken Haken am Ende der Hüll- blättchen dafür gesorgt, dass sie an Thieren u. s. w. so fest kleben und offenbar Zusammenhang mit dem deutschen Worte Klette vorhanden ist. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. haften, dass es, um sie wieder zu ent- fernen, ‘nöthig ist, den Hüllkelch in Stücke zu zerreissen, wodurch dann den Samen Gelegenheit gegeben wird, herauszufallen und sich auszusäen.« Wie sehr DEAKIN hierin Recht hat, davon kann man sich leicht durch das Ex- periment' überzeugen, dass man einem Pudel Kletten oben atıf dem Rücken ansetzt. Er wird nicht eher ruhen, als bis er durch Wälzen auf der Erde und andere Manöver sich der lästigen Bei- gabe entledigt hat, die hierbei natür- lich zerstückelt wird. Dass aber in der That die hakenförmigen Vorrichtungen des Hüllkelches so zu sagen den Zweck der Verschleppung und Aussäung haben, sieht man recht deutlich bei den Xan- thium-Arten. Bei diesen einhäusigen Pflanzen haben nämlich nur die weib- lichen, also die samentragenden Köpf- chen einen mit Haftorganen versehenen Hüllkelch, während die männlichen Köpf- chen, bei denen dieselben überflüssig wären, solche nicht besitzen. Wie bei Zappa und Xanthium die rückwärts gekrümmten Haken des Hüll- kelches sich an fremde Körper heften, so thun dies, wie wir im Herbste uns täglich überzeugen können, bei Bidens dierückwärtsrauhenGrannenderFrüchte, und ähnliche Vorrichtungen sind es, die bei Torilis und Caucalis (vergl. Fig. 17), bei Oynoglossum, Oircaea, Sanicula(Fig.15), Lappula Mwyosotis Morxc# (Fig. 5), Ga- lium Aparine, Geum wrbanıum und man- chen andern bewirken, dass sich ihre Samen an Menschen oder Thiere an- hängen und so sich aussäen, während bei Asperugo procumbens es besonders die Stacheln des Stengels sind, welche der Pflanze diesen Dienst leisten. Zu diesen bei uns heimischen Pflan- zen kommt eine Anzahl solcher, die notorisch entweder bei uns oder in an- dern Gegenden durch Thiere oder deren Wolle eingeschleppt wurden. Es sind diesbesonders Emex CentropodiumMeiısn., welches wie Medicago Aschersonia ÜRBAN 275 im Sommer 1873 in der Mark mit Woll- abfällen ausgesäet wurde. Aehnlich wur- den gelegentlich die rückwärts-stach- ligen Hülsen von Medicayo hispida (Fig. 3, vergl. auch Fig. 4) M. laciniata AuL. und M. arabica, deren Früchte schon seit längerer Zeit von den Wollfabrikanten als »Wollkletten« bezeichnet werden, hier eingeführt. Diese stammen ursprüng- lich aus den Ländern des Mittelmeeres, wurden von dort aber erst nach Süd- amerika eingeschleppt, ehe sie von da wiederum mit der Wolle nach Nord- europa kamen. Von einem Cottbuser Tuchfabrikanten erhielt ich ebenfalls Medicago-Hülsen, die er zahlreich in Neuseeland-Wolle vorgefunden und die bei den Fabrikanten unter dem Namen »Ringelkletten« verrufen sind. Ebenso hat sich Xanthium spinosum mit Hülfe der gekrümmten Stacheln des Hüllkelches seit dem Anfang dieses Jahrhunderts vonÖstenherkommendübereinen grossen Theil Europas verbreitet. »In die Walachei brachten diese Spitzklette 1828 die russischen Trup- pen, indem Schweife und Mähnenhaare der Kosackenpferde ganz voll hingen von den stachlichen Früchten ; 1850 erschien das Unkraut zugleich mit der Cholera in der Buckowina, weshalb das Land- volk dasselbe Choleradistel nannte. In Ungarn ist sie seit 1839 überall hin verbreitet. Durch ungarische Schweine und Schafwolle ist sie, dem Laufe der Donau folgend, schon bei Regensburg etc. erschienen und seitdem grosse Trans- porte des genannten Viehs durch die Eisenbahn nach Hamburg ziehen, ist dies Unkraut schon längs der Bahnlinie hierundda beobachtet« (Leunıs). Inder Mark Brandenburg wurde dieses Xan- thium nach ASCHERSON mit ungarischer und spanischer Wolle eingeführt und findet sich daher besonders in der Nähe der Manufacturstädte. Die Fabrikanten bezeichnen die Xanthium-Köpfe als» Stein- klette« und sowohl die ungarische, wie auch die Neu-Seeland-Wolle, wenn ich 276 nicht irre, auch diejenige aus Buenos- Ayres, ist oft dicht erfüllt mit ihnen. Auch in Südafrika ist Xanthium mit dem Vorrücken der Schafzucht einge- drungen und breitet sich zum grossen Schaden der Wollproducenten dort immer mehr aus. So klagt Jon Smaw dar- über, dass die Wolle daselbst 50 %o ihres Werthes durch die Xanthium- Früchte einbüsst, sodass, wie auch in Ungarn schon geschehen, die Vertilgung der genannten Pflanze gesetzlich ange- ordnet werden musste *. Aber nicht nur solche verhältniss- mässig kleine Früchte werden mit der Wolle verschleppt, sondern auch andere * Ueber die Verbreitung von Xanthium strumarium und spinosum hat Dr. Egon Ihne im XIX. Bericht der Oberhessischen Gesellschaft für Natur- und Heilkunde unter Berücksichtigung von 360 Floren und Reise- werken zwei eingehende Studien veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass erstere Pflanze schon von den ältesten Floristen als über ganz Europa, (auch Skandinavien, wo sie heut nicht mehr vorkömmt), verbreitet gefunden wurde, so dass die Meinung Bentham’s, die Gattung sei amerikanischen Ursprungs, nicht bewiesen werden kann. Sie hat sich wahrscheinlich von hier über die meisten mit Europa in Handel und Verkehr stehen- den Länder verbreitet. Ebenso hielten einige Botaniker, wie Ascherson, Xanthium spi- nosum für aus Südamerika stammend, und Beechay sah sie 1830 in Chili. Sie ist aber wahrscheinlich dort eingeführt, und ihre europäische Heimath scheint das südliche Russland zu sein, wo sie Guildenstedt 1787 beobachtete. In Nordamerika gedenken die Floristen ihrer erst seit dem Jahre 1818, und da die Pflanze durch ihre bläulichen Stengel und lange goldglänzende Dornen sehr in's Auge fällt, könnte sie, wenn früher vor- handen, dort nicht leicht übersehen worden sein. In Chili ist sie jetzt sehr verbreitet und Ritter von Frauenfeld sah daselbst (um 1860) „sich herumtreibende Pferde, deren Schweife und Mähnen von tausenden solcher Früchte zu einem unförmlichen Klumpen von Mannesdicke verfilzt waren, unter deren Last die armen Thiere fast erlagen.“ Uebrigens besitzen Brasilien und Chili ähnliche, ein- heimische Xanthium-Arten, von denen sich das chilensische X. catharticum nur durch kürzere Dornen von X. spinosum zu unter- scheiden scheint. Nach Schomburgk gehört Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. von 6—12 cm Grösse. Bekannt ist hier- für die sogenannte »Wollspinne«, die Frucht von Harpagophyton procumbens DC., deren Abbildung wir in Fig. 11 geben und welche nicht selten mit au- stralischer Wolle zu uns kommt ”** ; häu- figer geschieht dies noch mit der Frucht von Martynia proboscidea FLoR., die ich von Peitzer und Cottbuser Tuchfabri- kanten erhielt und deren Abbildung ich in Fig. 18 liefere ***,. Hierher gehört endlich eine grosse Anzahl der Pflanzen, welche Dr. A. Gopron in seiner Florula Juvenalisf aufgezeichnet hat. Ein Brachfeld an dem Ufer des Lez bei Montpellier, der Port Juvenal, wel- die letztere Pflanze auch schon in Südaustra- lien zu den Pflanzen, welche die Viehzucht dort fast zur Unmöglichkeit machen. Unsere ausgedehnten Verkehrsmittel geben diesen Pflanzen einen bemerkenswerthen Vortheil und von solehen Pflanzen, deren Früchte sich an den Kleidern der Menschen festsetzten, kann man sagen, dass sie mit der Eisenbahn reisen; sie finden sich überall längs der Bahnlinien. =® Harpagophyton ist eine im Kaplande einheimische Pedaliacee, welche wahrschein- lich erst von dort nach Australien verschleppt worden ist. Sie wurde zuerst von Burchell unter dem Namen Uncaria (von uncus Haken) beschrieben, aber da dieser Name bereits früher der Gambir-Pflanze ( Uncaria Gambir), einer Cinchonacee, beigelegt worden war, so änderteDeCandolle den Namen in Harpa- gophytonnach dem griechischen harpax Haken- geschoss. Livingstone erzählt, dass, wenn die Frucht dieses niedrigen Krautes sich an der Schnauze eines Ochsen festhakt, das Thier hilflos stehen bleibt und vor Schmerzen brüllt. #=® Diese Pflanze gehört ebenfalls zu der kleinen Familie der Pedaliaceen, und wird von den Italienern Testa di Quaglia, bei uns Gemshorn genannt. M. fragrans mit 3—4 Zoll langen Hörnern wird in Mexiko von den Reisenden gefürchtet, denen es die Kleider zerreisst; die mit kürzeren Haken versehene Frucht von M. triloba heisst in Mexiko Ungwis Diaboli. + Godron. Florula Juvenalis seu enu- meratio et descriptio plantarum e seminibus exotieis inter lanas allatis enatarum in cam- pestribus Portus Juvenalis prope Monspelitim. In den Memoir. de l’Acad. des Sciences et Lettres des Montpellier. 1853. Im folgenden Jahre auch in französischer Uebersetzung in Nancy erschienen. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. cher lange Jahre dazu diente, auslän- dische Schafwolle zu trocknen, hat sich lediglich in Folge dessen in einen wah- ren botanischen Garten verwandelt, so dass Gopron mehrere hundert Arten spanischer, italienischer, südrussischer, nordafrikanischer und anderer auslän- discher Pflanzen-Arten auf demselben sammeln resp. beschreiben konnte. Aller- dings finden sich auch nicht wenige Arten unter denselben, welche eine be- sondere Verschleppungsvorrichtung der Samen u. s. w. nicht zeigen, doch be- weist dies nur, wie ungemein geeignet die Wolle zur Verschleppung ist. Auf meine dahin bezüglich geäusserten Be- denken war Herr Gopron so freundlich, mir folgendes zu antworten, womit er zweifellos das Richtige getroffen hat: »D’une autre part la laine est une des matieres, qui se feutre le plus facile- ment; elle enveloppe et retient sans difficulte les graines, m&me lorsqu’elles sont parfaitement lisses. On y trouve aussi du sable, de la terre, des debhris vegctaux et bien d’autres impuretes, ce qui oblige ä les laver a grande eau avant de la livrer ä l’industrie. Il suffit de l’examiner lorsqu’elle arrive des pays lointains pour constater tous ces faits.« Diejenigen Gattungen aber, welche durch ihre Arten besonders zahlreich auf dem genannten Felde gefunden werden, bleiben immerhin natürlich solche, deren Haftorgane günstig ent- wickelt sind, und zwar sind dies be- sonders die Gattungen Medicago, Dau- cus, Centaurea und Erodium. Bei Medi- cago sind es die gewundenen, meist mit Stacheln versehenen Hülsen, die wir schon oben als für die Verschleppung besonders geeignet bezeichnet haben; bei Centaurea wird die Verschleppung durch die stachligen Blätter des Hüll- kelches bewirkt, bei Krodium endlich, wie bei Geranium, durch die in der Reife schrauben- oder bogenförmig ein- gerollten Grannen der Fruchtklappen. Von den zahlreichen andern nach dem 277 Port Juvenal verschleppten Pflanzen wollen wir beispielsweise nur noch Mi- cropus supinus erwähnen, dessen Frucht wir in Fig. 7 abbilden. Wenn wir nun nach den bis jetzt aufgezeichneten Erfahrungen finden, dass bei den durch wollhaarige Thiere ver- breiteten Pflanzen die Samen selbst, die Fruchthüllen oder doch andere Theile mit am Ende rückwärts gekrümmten oder der Basis rückwärts anliegenden oder mit Widerhaken versehenen Sta- cheln bedeckt sind, so sind wir jeden- falls berechtigt, auch da, wo die directe Beobachtung der Verschleppung einer Pflanze durch derartige Organe fehlt, wofern nur die Formen derselben den obengenannten entsprechen, zu schlies- sen, dass sie als Anpassung an die Verschleppung entstanden sind, woran wir gewiss nicht Anstoss nehmen, wenn wir z. B. die zur Verschleppung so vor- züglich ausgerüsteten Früchte von Scor- piurus (Fig. 1) betrachten, oder gar von Triumfetta (Fig. 2), bei welchen die rückwärts gekrümmten Stacheln ihrer- seits noch mit Widerhaken versehen sind. So finde ich z. B. von der Weber- karde, Dipsacus fullonum, keine directen Beobachtungen der Verschleppung, ob- gleich dieselbe vermöge ihrer steifen, an der Spitze hakig-zurückgekrümmten Spreublätter ganz besonders dafür ge- eignet zu sein scheint. Nicht erwähnt finde ich ferner bei HıLDEBRAND eine Reihe von Cyperaceen, z. B. die zur Heleocharis-Gruppe gehörigen Seirpus- Arten, z. B. Se. lacustris (Fig. 16), bei welchen das Perigon aus meist 6 rück- wärts-rauhen Borsten, welche jedenfalls die Frucht zu verschleppen angethan sind. Unter den zur Verschleppung besonders geeigneten Grassamen führt EBELING in einer Arbeit »über die Ver- breitung der Pflanzen durch die Vogel- welt<* noch Zeersia oryzoides an, und * Achter Jahresbericht des Naturwissen- schaftlichen Vereines zu Magdeburg 1878. Sal fl 278 meint, sie würde vermittelst des zarten, dichten Besatzes von Wimperhaken an ihren Spelzen durch ziehende Wasser- vögel (Steissfüsse, Enten oder Teich- hühner) aus Südeuropa bis zur nord- deutschen Küste verbreitet. Auch von Bartramia Lappa GAERTNER (Fig. 10), Krameria triandra (Fig. 14), Trapa na- tans (Fig. 13), Aneistrum decumbens (Fig. 8) und A. latebrosum (Fig. 9) lie- gen mir Beobachtungen über Verschlep- pung nicht vor, doch können wir mit Recht nach dem oben Gesagten auch von den Haftorganen dieser Pflanzen annehmen, dass sie den Pflanzen in ihrem Kampfe ums Dasein und speciell bei der Aussaeung und Verbreitung von hervorragendem Nutzen sein müssen. Dagegen müssen wir im Grossen und Ganzen alle gerade verlaufenden und der Basis nicht rück wärts ge- wendet aufsitzenden Stacheln, wie die- Jenigen von Castanea, die vieler Distel- gewächse, der Cacteen u. s. w. nicht als Haftorgane, sondern als Schutz- mittel, also als Anpassungen, welche unserer dritten Hauptgruppe angehören, betrachten. Nehmen wir zu dem Gesagten noch hinzu, dass wir die Klettorgane nur bei Pflanzen finden, denen sie in der That von Nutzen sein können; also, entsprechend der Verschleppung durch die auf der Erde gehenden Vierfüssler, meist nur an niedern Kräutern oder Sträuchern, dagegen niemals, wie Nä- GELI bemerkt hat, »an grossen oder schweren Früchten oder Samen, ferner nicht an den Früchten, welche auf- springen und die Samen heraustreten lassen und ebenso nicht an den Samen, welche in den Früchten eingeschlossen bleiben«, so wird es Jedem der dar- winistischen Anschauungsweise huldigen- den Naturforscher wohl kaum zweifel- haft sein, dass in'der That die er- wähnten Haftorgane der Pflanzen sich als Anpassungen an die Thierwelt gebildet haben. Denn genau das finden Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. wir hier, was HERMANN MÜLLER in seiner „Befruchtung der Blumen“ als Krite- rium für eine „Anpassung“ aufstellt. Seinen Gedanken können wir in etwas erweiterter Form so darstellen: „Wenn wir irgend einen Organismus mit in bestimmter Richtung ausgesprochenen Eigenthümlichkeiten ausgestattet sehen, und beobachten, dass diese Eigenthüm- lichkeiten im Leben desselben Organis- mus nach der angedeuteten Richtung hin auch ihre Anwendung finden, so können wir umgekehrt schliessen, dass —— die- selben sich unter steter Wirkung der na- türlichen Auslese als Anpassungen an die bestimmteAnwendungentwickelthaben.« Während wir nun die in diesem Satze ausgesprochenen Bedingungen, unter welchen wir einen Organismus als „Anpassung“ zu betrachten berech- tigt sind, erfüllt. sehen, scheint dies bei der zweiten Art der Anpassung von Pflanzen an die Thierwelt wenigstens anfangs wohl etwas zweifelhafter. We- nigstens können wir uns recht gut denken, dass es Manchem schwer werden wird, sich die Ausbildung der Samen- haut oder der Fruchtwandung bei vielen Pflanzen zu einer festen, holzigen Um- hüllung ebenfalls als die Anpassung an die Aussaeung durch Thiere vorzustellen, umsomehr da zweifellos viele derartige steinharte Umhüllungen, wie etwa bei der Kokosnuss, in der That nicht als derartige Anpassungen angesehen werden können, und da der Schutz, den diese Umhüllungen gegen Witterungen und Klima gewähren, auf ihre Entwickelung sicher nicht ohne Einfluss gewesen sind. Wir werden bei dieser etwas schwie- rigeren Frage in der Art verfahren, dass wir zunächst objectiv die Thatsachen der Verschleppung von Pflanzen mit Steinfrüchten durch Thiere darlegen und dann erst zu einem subjectiven Urtheil gelangen darüber, ob wir in diesen Fällen die genannten Organismen als Anpassungen an die Aussaeung zu be- trachten berechtigt sind. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. b. Die Verbreitung von Pflan- zen mit Steinkernen durch Thiere vornehmlich durch Vögel geschieht hauptsächlich auf zweierlei Weisen: 1) vermittelst der Exkremente, 2) durch das Ausspeien der Steinkerne.* Die Verbreitung einiger Pflanzen durch die Exkremente der Vögel ist seit längerer Zeit, wie wir sofort sehen werden, bekannt; die Aussaeung der- selben durch das Ausspeien der Kerne scheint bisher wenig Beachtung gefunden zu haben. Je mehr ich mich jedoch mit den Gewohnheiten der beerenfres- senden Thiere bekannt machte, desto - mehr gelangte ich zu der Ueberzeugung, dass die Verschleppung der Kerne in der genannten Weise vielleicht ebenso häufig ist, als diejenige durch die Ex- kremente. Gerade wie nämlich die Raub- vögel die unverdaulichen Theile ihrer Beute, z. B. Federn, Haare, Knochen als Gewölle wieder von sich geben, so werfen auch viele pflanzenfressenden Vö- gel unverdauliche Theile, also vornehm- lich die Steinkerne, entweder sofort aus dem Schnabel wieder aus oder sie wür- gen dieselben in rundlichen Butzen aus dem Magen hervor. Der weibliche Homrai, Buceros ca- vatus, des zoologischen Gartens in Ber- lin z. B. warf nach den Mittheilungen LicHTERFELD’s häufig ein Gekröpfe, be- stehend aus Schalen und Kernen von Weinbeeren, mit denen er gefüttert wor- den, aus und frass davon, was ihm be- hagte, wieder auf und ebenso erzählt BArtLeTT von BDuceros currogatus dass er kurze Zeit nach seiner Ankunft ein Gekröpfe in Form einer Feige auswarf * Auf einen dritten und vierten Weg, die wohl beide weniger ins Gewicht fallen, hat Ebeling in seiner obeneitirten Ar- beit hingewiesen. Klebrige Samen, die den Vögeln am Mundwinkel und an den Borsten- federn hängen geblieben sind, werden von denselben oft erst an entlegeneu Ruheplätzen entfernt. So die Samen der Mistel durch die Misteldrossel, und die Samen der Seerose \ 279 und in der Folge mehrere dieser, extraor- dinären Fruchtballen von sich gab. Die Gewürztaube Columba oceanica verbreitet nach SEUBERT auf den mollukischen In- seln die Muskatnuss, indem sie die fleischigen Früchte verzehrt, die harten Kerne aber aus dem Kropfe wieder von sich giebt, weshalb es auch den Hol- ländern im vorigen Jahrhundert nicht gelang, dieselbe, wie sie wünschten, auf allen Inseln mit Ausnahme von Banda und Amboina auszurotten. In unseren Gegenden giebt z. B. das Rothkehlchen, welches die Früchte von Euonymus europaeus, das sogenannte Rothkehlchenbrod mit Vorliebe frisst, das Unverdauliche in Ballen durch den Schnabel wieder von sich. Aehnlich machen es die Bachstelzen und Drosseln z. B. mit den Beeren von Daphne Me- zereum; der Mönch, Curruca atricapilla, speit nach A. E. Breum die Kerne, nachdem sich im Magen das Fleisch abgesondert hat, wieder aus, u. s. f. Beide Arten dieser Verschleppung der steinkernigen Früchte lassen sich übri- gens nicht streng trennen, erstens, weil beide Arten, das Auswerfen aus dem Schnabel und mit den Exkrementen bei demselben Vogel, oft auch mit denselben Früchten bemerkt werden. So werfen z..B. die Misteldrosseln die Kerne der Mistelbeeren grösstentheils in Butzen wieder aus dem Schnabel aus, wenige dagegen gehen auch durch den After ab, und der Seidenschwanz wirft Scha- len und Kerne der grosskernigen Beeren durch den Schnabel aus, während die der kleinkernigen den Darmkanal pas- siren. Da nun neben dieser Schwierigkeit, durch Wasserhühner, wie Noll beobachtet hat. — Der Eichelhäher (Garrulus glanda- rius) versteckt im Herbst eine Masse von Gehölzsamen, namentlich Eicheln, Haselnüsse, Samen der Weiss- und Rothbuche u. s. w. unter dürrem Laube, Moos- und Flechten- polstern, um sie für knappere Zeiten aufzu- sparen, findet sie aber meist nicht wieder und befördert so ihre Aussaeung. 280 die genannten zwei Arten der Verbreit- ung genau zu trennen, eine zweite auch darin besteht, dass wir in den Aufzeich- nungen der Ornithologen zwar die An- gabe des Futters unserer Vögel ver- zeichnet finden, in den seltensten Fällen aber die Angabe, in welcher Weise die unverdaulichen Theile wieder abgegeben werden, so wollen wir im Folgenden die obigen Beobachtungen noch durch andere vervollständigen, ohne genauere Rücksicht darauf zu nehmen, in welcher Weise die Kerne den Leib des Vogels wieder verlassen. Hören wir zunächst was GoDRON in seiner vorerwähnten Abhandlung über die Aussaeung von Pflanzen durch Vogel- exkremente sagt: „In dieser Weise ge- schieht es, dass die Drosseln die Mistel, nach deren Früchten sie sehr lüstern sind, verbreiten. Wir sind auch der Ansicht, dass die Vögel im ganzen Baskenlande das Solanım pseudocapsiceum L., wie auch die Phytolacca decandra L., welche jetzt sehr gemein in den Thä- lern der West-Pyrenäen geworden ist, ausgebreitet haben. Und ebenso kön- nen wir den Asparagus offieinalis L. anführen, welcher durch die Vögel in den Wäldern Lothringens, wo diese Pflanze sich ziemlich häufig findet, aus- gesät wurde.« Zur Vervollständigung dieser Thatsachen wollen wir in Bezug auf Viscum album L. noch einiges hin- zusetzen. Schon den Alten war die Ver- schleppung derselben nicht unbekannt. Angeblich fabrizirt man aus der schlei- migen Samenumhüllung derselben den besten Vogelleim* und da die Drosseln, vornehmlich aber diejenige, welche ihren Speciesnamen, Turdus viscworus, der Mistel verdankt, sehr lüstern rach der Frucht derselben sind, so sagten die Lateiner sprüchwörtlich: Turdus sibi ipse cacat mortem. Findet man daher diese Schmarotzerpflanze häufig auf Bäu- = Anmerk.d. Red. Wird bestritten. Man soll nur aus den Beeren von Loranthus euro- paeus Vogelleim kochen können. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. men, so kann man auf die Gegenwart des genannten Vogels mit Sicherheit schliessen. Die Kerne von diesen Beeren, selbst wenn sie durch den After gehen, bleiben dennoch immer von einem Theile des sie umgebenden zähen Saftes ein- gehüllt, weswegen sie auch an den Zweigen und Aesten ankleben und so die Verbreitung der Pflanze befördern, indem viele Kerne später festwachsen. Im Herbste sieht man daher auch diese Kerne in Menge an den Zweigen hängen, wobei dieselben an dem zähen, lange Fäden bildenden Safte wie eine Spinne am Faden, vom Winde hin und her- geschaukelt werden. Uebrigens sind auch andere Vögel, z. B. Turdus merula und der Seiden- schwanz, Liebhaber der Mistel. Ein ähnliche Verbreitung behauptet ZABEL von Linnaea borealis beobachtet zu haben. Da nämlich diese Pflanze in den Kiefernwäldern am südlichen Ufer der Ostsee sehr verbreitet ist, ohne Früchteanzusetzen, und sich auch durch Ausläufer nicht vermehrt, so bleibe nur die Annahme übrig, dass sie immer von neuem durch Vögel ausge- sät wird. Der Weinstock, welcher zwischen dem caspischen und schwarzen Meere in solcher Menge verwildert vorkommt, dass man die trefflichen Trauben im Herbste nicht einmal alle erntet, ist nach Leunıs in Frankreichs und Deutschlands Wäl- dern durch von Vögeln verschleppte Samen verwildert, wie z. B. im Rhein- thale bei Speyer und Strassburg und besonders üppig im Donauthale bei Wien. Auch sonst im südlichen Europa sät er sich reichlich aus und mehrere Hauptsorten pflanzen auch ohne Kultur des Menschen ihre Oharactere durch Samen fort. In einem halbwilden Zu- stande kommt er nach Darwin in ei- nem Walde Spaniens vor und auch in den Rheingegenden haben wir eine wilde oder verwilderte Varietät, die Vitis sil- vestris der Schriftsteller, mit sauren un- Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. geniessbaren Früchten. Jedenfalls wird es schwer zu entscheiden sein, wie weit der Mensch, dem seit den ältesten Zei- ten der Genuss des Weines bekannt ist, den Weinstock (wahrscheinlich von den Gegenden des Ararat und Kaukasus aus, wo noch jetzt sich »im Dickicht der Waldungdie Rebe mit armdickem Stamme bis in die Wipfel der himmelhohen Bäume windet und ihre Ranken von Krone zu Krone schlingt«), absichtlich und züchtend weiter verbreitet hat oder wie weit er unbewusst durch das Aus- speien der Kerne oder mit seinen Ex- krementen für die Verschleppung des- selben gesorgt hat. Jedenfalls wurde er hierin von zahlreichen Thieren unter- stützt. Selbst viele Raubthiere, als Füchse, Marder, Dachse, ferner Hoch- wild, dann Ratten und Mäuse und eine Unzahl von Vögeln stellen den Beeren nach, und das Rebhuhn soll seiner Vor- liebe für die Reben sogar den Namen verdanken. Die Beeren des Wachholder, Juni- perus commamis, dessen regelmässiger Standort in Wäldern unter grossen Bäumen schon auf eine Verschleppung durch Vögel schliessen lässt, werden in der That von einer grossen Anzahl von Vögeln gefressen und dienen so zweifel- los zu seiner Verbreitung. Seine Haupt- verbreiter sind bei uns die Drosseln, die zwar im Sommer sich von Wür- mern, Schnecken und Insecten nähren, im Herbste dagegen fast ausschliesslich Beeren aller Art geniessen. Der Kram- metsvogel liebt die Wachholderbeeren so sehr, dass sein Fleisch den Geschmack davon annimmt (wie auch das Fleisch der Muskattaube nach ihrer Nahrung, der Muskatnuss, schmecken soll). Neben andern Drosseln, wie Turdus musicus, T. merula und T. torquatus verbreiten den Wachholderferner derSeidenschwanz, sowie verschiedene Hühnerarten, z. B. Tetrao tetrix und T. bonasia, welche die Beeren sowohl grün als auch reif ver- zehren. In Nordamerika ist es beson- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 281 ders die Wandertaube, deren ungeheure Schaaren im Herbste vor dem Beginne ihrer Züge, wenn ihre anderweitige Nah- rung knapp geworden ist, fast gänzlich von den Wachholderbeeren lebt und so nothgedrungen diese Pflanze nach dem Süden hin verschleppen muss. Ferner gehören hieher besonders die Sträucher und Bäume mit Beerenfrüchten, welche nicht selten auf unzugänglichen Berg- abhängen, Burgruinen, auf Thürmen u. s. w. gefunden werden, weil bei ihnen der Gedanke an eine Verschleppung der Samen durch den Wind ausgeschlossen ist. So birgt das Colosseum in Rom an und auf seinen tausendjährigen Mauern eine reiche Flora, deren Katalog uns DEAKIN verzeichnet hat. Ebenso fand Casrary auf der reich mit Vegetation bedeckten Abplattung des damals noch nicht vollendeten südwestlichen Thurmes des Kölner Domes in einer Höhe von 177 Fuss üppig wuchernde Büsche von Rosen und Liguster, von denen er zwar vermuthet, dass sie durch Menschen- hand dorthin verpflanzt sind, die aber auch ebensogut durch Vögel dorthin gebracht sein können. Jedenfalls finden wir anderwärts an so lebensgefährlichen Stellen von Ruinen und so unzugäng- lichen Partien von Felsen, Büsche, z. B. von Ribes grossularia und R. rubrum und von Pirus aucuparia, dass wir ein Aussäen von Menschenhand an solchen Stellen. platterdings nicht annehmen können. Jedermann kennt zudem die Vorliebe der Vögel für die Früchte des letztgenannten Baumes, die ihnen nur zu oft auf den Dohnenstrichen zum Ver- derben werden und die ihren Namen »Vogelbeeren» mit Recht verdienen, denn ausser von den gewöhnlichen Beerenfressern werden sie selbst von solchen Vögeln aufgesucht, deren Nah- rung im allgemeinen eine ganz andre ist, z. B. vom Grauspecht, Tannenhäher, von den Krähenartigen und vom Auer- hahn. Auch die Hollunderarten Sambucus 20 282 nigra und S. racemosa haben zahlreiche Verbreiter unter der Vogelwelt, so alle Lusciola-Arten, wie die Nachtigall, das Rothkehlchen, das Blaukehlchen, der Sposser; ferner die ihnen verwandten Ruticilla Tithys, Motacilla Orphea und. M. atricapilla, Ficedula hypolais und F\ tro- chilus, alle lieben, ebenso wie mehrere Drosseln, der Pirol und der Wende- hals die saftigen Hollunderbeeren. Auch die Früchte der beiden ganz verschiedenen Pflanzen, welche wir als »Faulbaum« bezeichnen, nämlich Prumus Padus, dessen herbe Früchte uns nicht munden, von Vögeln aber gern gegessen werden, und Frangula Alnus MiLLER (Rhamnus Frangula 1.), dessen erst grüne, dann rothe, endlich schwarze Früchte schon Ende September, also früher als die meisten anderen Beeren reifen und darum von vielen Vögeln, besonders Drosseln und Sylvien geschätzt sind, werden, wie noch viele andere un- serer beerentragenden Staudenund Kräu- ter, wie die des Kreuzdorn vom Seiden- schwanz, die Heidelbeeren und Früchte von Ilex Aquifolium von Tauben, Dros- seln und Rebhühnern, die Erdbeeren vom Pirol, Viburnum Opulus, die Rubus- Arten, und zwar sowohl die Himbeeren, z. B. von Motacilla atricapilla und vom Pirol, wie auch die Brombeeren, z. B. von den Rebhühnern und den Krähen- artigen, (ornus sanguinea von der Sing- drossel, der Epheu und Tawus baccata von verschiedenen Arten von Motacilla alljährlich in grosser Menge gefressen und entweder durch das Ausspeien der Kerne oder mit den Exkrementen in unsern Wäldern verbreitet. Und wie diese und noch viele an- dere Stauden, Sträucher und Bäume bei uns durch Vögel ausgesät werden, so geschieht dies in wärmeren Klimaten vielfach mit andern, doch liegen über dieselben bisher noch wenig Beobach- tungen vor. Als eines der wichtigsten Beispiele wollen wir hier die Fieus-Arten anführen. Ficus carica wächst im ver- Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. wilderten Zustande in Südeuropa ma- lerisch aus den Spalten alter Mauern, in den Ruinen und an Felswänden und deutet hierdurch schon seine Verbreitung durch Vögel an. Und in der That dient er zahlreichen Vögeln zur Nahrung; so mästet sich der Fliegenschnäpper, Mus- cipeta luetuosa, im südlichen Frankreich förmlich durch den Genuss der Feigen und Weinbeeren. Von der in ganz Mittel-Afrika lebenden Papagei-Taube, Treron Waalia, berichtet BREHM in sei- nem Thierleben: »>In dem Magen der erlegten fand ich Beeren der verschie- densten Art, und Eingeborene im Lande sagten mir, dass man den Tauben nur da begegne, wo es beerentragende Bäume und Sträucher giebt. Wie Hrucuın richtig angiebt, sind es hauptsächlich die herrlich belaubten, fruchtreifen wil- den Feigenbäume, auf denen sie ihre Nahrung sucht. Auf solchen Bäumen siedelt sie sich so zu sagen dauernd an und verräth ihre Anwesenheit durch die am Boden liegenden oder bestän- dig herabfallenden Fruchthülsen auch dann, wenn das dichte Laub sie dem Auge verbirgt. »Zur Zeit der Feigenreife ist oft das ganze Gesicht mit dem gelben Safte dieser Früchte bekleistert, und ebenso nimmt das Fett eine gelbe Färbung an. Mit dieser Nahrung steht im Einklange, dass unsere Taube nicht auf die Erde herabkommt ; ich meinestheils habe sie wenigstens nur in den Baumwipfeln ge- sehen.« Auch die Gewürztaube, Columba aromatica, lebt auf Java am Rande der Wälder von den Früchten verschiedener Feigenarten, besonders von denen von Fieus religiosa. Und ebenso bieten die schönen Feigenwaldungen der Philippinen und Mollukken die Hauptnahrung für verschiedene Nashornvögel, besonders für Buceros cavatus und B. hydrocorax. Trotzdem nun in den hier aufge- zählten Fällen die Aussaeung der betref- fenden Pflanzen durch Thiere theils im höchsten Grade wahrscheinlich ist, Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. theils auch direct beobachtet wurde, hat man dieselbe doch aus gewissen Gründen anzuzweifeln gesucht, die aber, wie wir sofort zeigen werden, nicht stichhaltig sind. Es ist nämlich bezweifelt worden, ob die Kerne den Darmkanal der Thiere noch in einem Zustande ver- lassen können, der ein Keimen ermög- licht. Dass dies wirklich der Fall ist, zeigen uns verschiedene Beobachtungen, deren Richtigkeit durch Experimente täglich festgestellt werden könnte. Die Reaction, welche der Magen und der Darm der Vierfüssler auf derartige Steine ausübt, ist im allgemeinen eine beträchtlich stärkere, als diejenige bei Vögeln und dennoch gehen verschiedene Hartgebilde der Früchte auch bei den Säugethieren fast unverändert mit den Exkrementen ab. Nach ALEXANDER Braun waren die Samen von Fragaria vesca, welche in der Magengegend eines in England ausgegrabenen, jedenfalls sehr alten Skelettes gefunden wurden, noch keimungsfähig. Die Früchte von Cereus giganteus werden nach Leunıs von den Indianern gegessen, dann aber die Samenkerne, aus den Exkrementen wieder aufgesammelt und, da sie in ihrer Kraft noch ungeschwächt sind, zerrieben und zu Brod verarbeitet. Aehnlich werden nach demselben Gewährsmann die Bohnen des Kaffeestrauches auf Java von den Eingeborenen aus den Exkrementen des Palmrollers, Paradoxus typus, welcher die reifen Früchte der Plantagen gerne frisst und die Bohnen unverdaut wieder von sich giebt, ein- gesammelt. Diehühnerartigen Vögel kön- nen zwar auch die Steinkerne theilweise verdauen; wenn sie dieselben jedoch in grösserer Menge fressen, geschieht dies nur sehr unvollkommen. Daher giebt man in England nach Aupnons DE CANDOLLE um in kurzer Zeit He- cken von Crataegus oxyacantha zu bekommen, Truthühnern eine grosse Menge von Beeren dieses Strauches 283 zu fressen und sät dann die Kerne aus, die zwar ein wenig von der Verdauung angegriffen, aber gerade dadurch desto geeigneter zum Keimen sind. Derselbe Gewährsmann versichert ausdrücklich, dass die omnivoren Vögel Beeren, welche kleine harte Kerne enthalten, wie Trauben, Feigen, Erdbeeren, Himbeeren, Spargel, Misteln, Liguster u. s. w. verzehren, die Kerne aber nicht verdauen. Während nun diese Beobachtungen durchaus danach angethan sind, jedes Bedenken darüber zu heben, dass die Steinkerne unbeschadet ihre Keimfähig- keit den Darmkanal der Thiere passiren können, sprechen andere Beobachtungen durchaus für die Richtigkeit der über die Aussaeung der Pflanzen oben gemachten Mittheilungen ; diese Gründe liegen be- sonders in der Art und Weise des Vor- kommens der Beerenfrüchter. Wie näm- lich erstens die mit Haftorganen ver- sehenen Früchte, welche sich vornehm- lich der Verschleppung durch Vierfüss- ler angepasst haben, nur an niederen Pflanzen, besonders an Kräutern finden, so kommen die Beerenfrüchte, ent- sprechend der Verschleppung durch Vögel fast nur an Bäumen und Sträu- chern vor. Zweitens finden wir die Beerenfrüchter häufig, wie wir schon an einzelnen Beispielen sehen, entweder als Schmarotzer auf hohen Bäumen, wie Viscum album, oder auf Mauern, Thürmen, an Felswänden, kurz an Punkten, wohin sie kaum anders als durch Vögel gekommen sein können, oder aber zwischen und unter grösseren Bäumen, was nach FockE der Ge- wohnheit der beerenfressenden Vögel entspricht, ihre Exkremente auf Bäumen sitzend fallen zu lassen. Drittens finden sich nach demselben Gewährsmann auf den Azoren und auf Madeira — und dies dürfte überhaupt bei kleineren In- seln der Fall sein — fast ausschliess- lich beerentragende Bäume, denn diese können der Wanderfähigkeit der Vögel und ihrem gelegentlichen Verschlagen- 20* 284 werden durch Stürme entsprechend, leichter nach Inseln hin verschleppt werden, als andere Pflanzen. Es scheint nach dem Mitgetheilten die Thatsache, dass zahlreiche Pflanzen vermittelst ihrer Steinkerne durch Thiere verschleppt und ausgesät werden, nicht bezweifelt werden zu können. Es bleibt uns daher nur noch übrig zu unter- suchen, ob die Art, in welcher das Ver- schleppen geschieht, eine solche ist, dass wir sie als Ursache der Entsteh- ung der Steinkerne bei denjenigen Pflanzen betrachten können, bei wel- chen wir sie häufiger beobachteten. Ehe wir auf die Erwägung der Gründe für und wider diese Ansicht eingehen, wollen wir hören, wie ein competenter Beurtheiler, NÄserı*, sich die Entstehung der Beeren und Stein- früchte denkt. Er sagt: »Es scheint mir offenbar zu sein, dass die Stein- früchte und Beeren sich allmählig aus Trockenfrüchten entwickelten, wofür namentlich auch der Umstand spricht, dass sie in so vielen Ordnungen nur bei einzelnen Gattungen vorkommen und dass es immer noch verwandte Pflanzen mit trockenen Früchten giebt. Unter den verschiedenen Abänderungen befanden sich solche, bei denen die Frucht- und Samenwandung, die im Jungen Zustande immer aus einem wei- chen Gewebe besteht, ganz oder theil- weise weich blieb. Von diesen Varie- täten hatten diejenigen, welche in der weichen Umhüllung die Samen preis- geben, keinen Bestand. Diejenigen aber, bei denen entweder die Samen- schale oder die innere Fruchtwandung (Stein) hart blieb und dem Samen hin- reichenden Schutz gewährte, erwiesen sich als nützlich und bei weiterer Aus- bildung dieser Anlage um so nützlicher, Je mehr das zunehmende Fruchtfleisch die Thiere anlockte und je besser die * Entstehung und Begriff der naturhisto- rischen Art. München 1865. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Samen von dem sie umgebenden Panzer und gegen den Zahn und den Magen- saft verwahrt waren.» Drei Gründe sind es, welche mir besonders dafür zu sprechen scheinen, dass wir uns die Entstehung der Beeren und Steinfrüchte aus Trockenfrüchten in der hier von NÄgkuı geschilderten Weise, also als Anpassung an die Ver- schleppung durch Thiere vorzustellen berechtigt sind: erstens, weil den be- treffenden Pflanzen die Verbreitung durch Thiere zu ihrem Gedeihen im höchsten Grade erwünscht sein muss, zweitens, weil die Verschleppung nicht etwa- eine gelegentliche, sondern eine ganz regelmässige, sich in millionen Fällen immer von neuem wiederholende ist und weil drittens die Erscheinung der Stein- und Beerenfrüchte als An- passung aufgefasst, die grösste Analogie mit der Entstehung der Blüthen, als Anpassung an die Befruchtung durch Insecten gedacht, darbietet. Was den ersten Punkt anbetrifft, so ziehen die Steinkerne aus der Ver- schleppung durch Thiere den nämlichen Vortheil, der anderen Früchten mittelst ihrer besondern Gestaltung durch den Wind zu Theil wird. Wie z. B. die Compositen durch die Haarkrone ihrer Früchte so leicht verbreitet werden — wo der Pappus fehlt, wie bei Bidens, besorgen die wollhaarigen Thiere dies Geschäft —, während ohne diese Vor- richtung die enggedrängte Menge der Samen beim Niederfallen eine Saat er- zeugen müsste, deren Individuen sich grösstentheils gegenseitig ersticken wür- den, so würden auch die Stein- und Beerenfrüchter sich ohne die Verbreit- ung durch die Vögel in einef für ihre Existenz höchst ungünstigen Lage be- finden. Denken wir uns beispielsweise einen Ebereschenbaum, dessen Früchte sämmtlich zur Erde niederfallen und, da sie durch den Wind wenig oder gar nicht verbreitet werden, an Ort und Stellen zu keimen beginnen. Schon Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. die Aussaat eines Jahres würde genügen, um so viele junge Pflanzen entstehen zu lassen, dass eine die andere ersticken müsste. Statt dessen wird dieselbe Aus- saat durch Vögel nicht nur über eine ungeheure Fläche verbreitet, denn wenn auch die Verdauung derselben eine ra- pide ist, so beträgt andererseits die Schnelligkeit der besten Flieger über 20 Meter in der Sekunde, sondern auch, was bei der allgemeinen Concurrenz der Pflanzen um Boden, Licht und Luft besonders wichtig ist, an Orte, wo wenig andere Samen hingerathen, um mit ihnen den Kampf ums Dasein aufzu- nehmen. Soll nun ein solcher Vortheil wie der eben genannte die Herausbildung einer Anpassung zur Folge haben, so muss natürlich die Gelegenheit zu seiner Anwendung regelmässig und massenhaft auftreten. Da nun für unsern Fall die Gelegenheit zu Verbreitung der Stein- kerne in einer kaum glaublichen Massen- haftigkeit auftritt, so führten wir dies als zweiten Grund dafür auf, hier die Entstehung einer Anpassung für wahr- scheinlich zu halten. Für ganze Klassen und Familien von Vögeln bilden die genannten Früchte, wenigstens vom Herbste an, die aus- schliessliche Nahrung und auch die meisten insectenfressenden Vögel sind in der genannten Jahreszeit wenigstens zum Theil auf sie angewiesen. Dazu bedenke man, welche zahllosen Schaaren von Sängern Wald und Feld beleben, und in wie dichten Zügen sie gerade in einer Zeit in ferne Länder sich be- geben, wo Beeren ihre Hauptnahrung ausmachen. Die bekannte Wandertaube, welche sich bis zum Dezember hin, wo sie ihre nach Süden gerichteten Züge antritt, an der Hudsonsbai hauptsäch- lich von Wachholderbeeren nährt, muss davon unendliche Massen verschlep- pen, denn nach Aupuson’s Berechnung brauchte ein einziger der grossen Schwär- me dieser Thiere täglich fünfhundertfünf- \ % 285 undsiebzig und eine halbe Million Pfund Futter. i Diese ungeheuren Mengen des ver- brauchten Futters resultiren einerseits aus der grossen Anzahl der Individuen, andererseits auch aus der fast bis zur Unersättlichkeit gesteigerten Fressgier vieler Vögel. Viele von ihnen fressen den ganzen Tag, der Seidenschwanz an einem einzigen Tag so viel, als sein Körpergewicht beträgt, viele Sänger giebt es sogar nach Breum, deren Nah- rung an Gewicht ihre eigene Körper- schwere zwei- bis dreimal übersteigen kann. Erst wenn man dies zusammenbe- trachtet, kann man sich eine annäh- ernde Vorstellung von der ungeheuren Menge der von Vögeln verschleppten Stein- und Beerenfrüchte machen. Der Grund jedoch, welcher uns wohl am meisten berechtigt, die Stein- und Beerenfrüchte Anpassungen an das Thier- reich zu nennen, liegt in der Analogie, die in der Anlockung der Inseceten durch die Blumen einerseits und der Vögel durch die Früchte andererseits besteht. Wie nämlich die bunten Farben und häufig der Duft der Blüthe als Mittel zur Anlockung zu erklären sind, welche den Insecten die Orte verrathen sollen, wo sie auf Nahrung rechnen können, so laden auch die oft weithin leuch- tenden Farben, oft auch ein bestimmter Geruch der Stein- und Beerenfrüchte die Thiere zum Genusse ein. Bei beiden wird also der Zweck der Anpassung, dort die Befruchtung und Kreuzung der Blüthen, hier die Aussaeung der Kerne durch gleiche oder entsprechende Vor- richtungen erreicht. Es gilt deshalb im Pflanzenreiche ganz allgemein die Regel: Trockene Früchte sindnicht bunt gefärbt; Früchte, deren Samen dem Darmkanale der Vögel nicht widerstehen, haben weder Frucht- fleisch, noch bunte Farben. Fleischige und saftige Früchte mit Steinkernen dagegen zeichnen sich in der Reife meist durch solche Farben aus, die sie, ent- 286 sprechend des Jahreszeit, von dem sie umgebenden Laubwerk bemerkenswerth abheben und oft weithin kenntlich ma- chen, während die unreifen Früchte nur unscheinbare Farben tragen. Dieselben Früchte sind für die Ausbreitung durch Vögel desto geeigneter, je hervortreten- der und greller ihre Farben sind. Diesen Beobachtungen entsprechen vollkommen die Experimente, welche LugBock über den Farbensinn zunächst der Insecten angestellt hat und welche darauf hin- deuten, dass derselbe bei Thieren ein wohl ausgebildeter ist. Dasselbe be- weisen einige Bemerkungen Darwın’s,* die durch weitere Beobachtungen gewiss leicht vervollständigt werden könnten. »Die weisse tatarische Kirsche,« sagt er, »>wird nicht so leicht von Vögeln angegriffen, als andere Sorten, entwe- der weil ihre Färbung der der Blätter so sehr ähnlich ist, oder weil die Frucht aus der Entfernung stets wie unreif aussieht. Die gelbe Himbeere, welche meist durch Samen echt fortkommt, wird von Vögeln sehr wenig belästigt, die sie offenbar nicht lieben (oder sie nicht so leicht bemerken), so dass man die Schutznetze selbst an Orten ent- behren kann, wo nichts anderes die rothfrüchtige Sorte schützt. Diese Im- munität ist zwar eine Wohlthat für den Gärtner, würde aber im Naturzustande sowohl für die Kirschen, als auch für die Himbeeren von Nachtheil sein, da ihre Aussaat von Vögeln abhängt. Wäh- rend mehrerer Winter bemerkte ich, dass einige Bäume der gelbbeerigen Stechpalme mit Früchten bedeckt blie- ben, während auf den in der Nähe ste- henden Bäumen der gewöhnlichen Art nicht eine scharlachne Beere mehr zu sehen war.« * Variiren der Thiere und Pflanzen ete. Deutsch von J. V. Carus. 2. Aufl. II. Bd. S. 263. ** Man vergl. die Bemerkungen von Gustav Jäger über Anlockungs- und Ekelfarben bei Früchten (Kosmos Bd. I S. 486 ff). In neuerer Zeit ist die gegen- Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Mit diesen Beobachtungen stimmt es vorzüglich überein, dass die rothe Farbe bei Früchten mit Steinkernen und saftigem Fleische die vorherrschende ist**, dass dagegen die grüne, als die für die Verschleppung ungünstigste, in der Reife der Früchte sich so ungemein selten zeigt und da, wo sie wirklich vorkommt, entweder, wie bei Nüssen und Kastanien die zur Verbreitung durch Thiere ungeeignete Frucht verstossen hilft, oder wie bei Wein- und Stachel- beeren, als ein Product überlegter Aus- wahl durch den Menschen betrachtet werden kann; denn das Wegfressen der Beeren, welches den wildwachsenden Pflanzen zur Erhaltung und Verbreitung ihrer Art von grösstem Vortheil ist, wird gerade für den cultivirenden Men- schen die Hauptunannehmlichkeit. — Wenn nun das bisher Gesagte durch- aus für unsere Ansicht spricht, dass auch die Beeren- und Steinfrüchte grossentheils als eine Anpassung an die Thierwelt zu betrachten sind, so wollen wir doch nicht versäumen, an dieser Stelle einiges anzuführen, was scheinbar gegen unsere Hypothese spricht, weil wir, wie ich glaube, wohl im Stande sind, solche etwa auftauchende Beden- ken zu beschwichtigen. So liesse sich z. B. einwenden, dass Ja viele mit den genannten Anlockungs- vorrichtungen versehene Beeren giftig sind, also eine der Anpassung direct widerstrebende Eigenschaft besitzen. Hiergegen muss man nun erwägen, dass viele für Menschen und gewisse Thiere schädliche Früchte von anderen, beson- ders von Vögeln ohne den geringsten Nachtheil verzehrt werden. Wie z. B. Wolfsmilch und Schöll- kraut nach BrEHum von den Ziegen ohne seitige Steigerung der Fruchtfarben und des Farbensinns bei den Thieren sehr eingehend von Grant Allen (Der Farbensinn, Leipzig 1850) und Alfred Russel Wallace (Die Tropenwelt, Braunschweig 1879) behandelt worden, worauf hier verwiesen werden muss. Huth, Die Anpassungen der Pflanzen an die Verbreitung durch Thiere. Schaden gefressen werden, während sie beim Menschen schädlich wirken, so können die Früchte von Kvonymus eu- ropaeus, welche eine Lieblingsspeise der Rothkehlchen sind, auf Ziegen höchst nachtheilig, ja tödtlich wirken. Ebenso steht fest, dass die Beeren von Daphne Mezereum, welche eine der giftiesten Pflanzen unserer Flora ist, von einer Reihe von Vögeln, wie Museipeta albi- collis, Motacilla atricapilla, M. orphea, Sylvia rubecola u. A. ohne den gering- sten Nachtheil gefressen werden, und dass die selbst für Hühner und Enten giftigen Beeren von Solamım nigrum dennoch, z. B. von Accentor modularis anstandslos gefressen werden. Ein an- derer Einwand könnte in dem, was ich »Umgehung der Anpassung« nennen möchte, gefunden werden. In der That kommt es nämlich häufig vor, dass das Fruchtfleisch der Steinfrüchter so zu sagen seine Aufgabe, das Verschlucken der Kerne beim Verzehren mit herbei- zuführen, gänzlich verfehlt. Dergleichen Umgehungen der An- passung kommen aber auch bei jeder andern Art von Anpassungen zahlreich vor und können als Ausnahme von der Regel die Regel selbst noch nicht um- stossen. Wenn z.B. der Pirol und Syl- via hortensis mit grosser Geschicklich- keit die Kirschen ihres ganzen Fleisches entkleiden und die Steinkerne am Stiele sitzen lassen, oder wenn Üoccothraustes die harten Schalen der Kirschkerne auf- beisst und nur den weichen Kern ver- zehrt, so ist dies kein anderer Vorgang als der, wenn der Honig mancher Blü- then so zu sagen auf dem illegalen Wege des Anbohrens der Blüthe von Insecten gewonnen, und so die Anpass- ung, welche die Verbreitung des Pollens begünstigen soll, vereitelt wird, oder 287 wenn solche Schutzmittel der Pflanzen, wie die schärfsten Dornen dadurch in ihren Wirkungen nutzlos werden, dass ihrer die eisenfesten Gaumen des Ka- meels, der Giraffe und des Rhinozeros spotten. Fassen wir nun das bisher Gesagte kurz zusammen, so ist es für die Pflan- zen, deren Samen nicht durch den Wind oder das Wasser verbreitet werden, ein grosser Vortheil, wenn eine Verschlepp- ung durch Thiere bewerkstelligt wird. Diese kann aber in der Regel nur statt- finden, wenn die Samen oder deren Hüllen entweder mit Kletterorganen aus- gerüstet sind, und dann erfolgt die Aus- breitung bei den meist niederen Pflanzen besonders durch wollhaarige Vierfüssler, oder wenn sie eine so derbe Umhüllung besitzen, dass sie von den sie verzeh- renden Thieren entweder wieder aus- gespieen oder doch unverdaut mit den Exkrementen wieder abgegeben werden. Diesen Vortheil gewährt den Pflanzen besonders die Vogelwelt. Für klettende Samen, die sich den Thieren auch gegen deren Willen anheften, sind Anlockungs- vorrichtungen unnütz und werden daher auch bei ihnen nie vorgefunden, bei den Früchten mit Steinkernen sind eine fleischige oder saftige Umhüllung des Samens, sowie grelle Farben als An- lockungsmittel im höchsten Grade gün- stiv und werden bei ihnen daher auch fast durchgängig beobachtet. Wir sind berechtigt anzunehmen, dass beide Vorrichtungen, die Klett- organe wie die steinharten Kerne der durch Vögel verbreiteten Früchte im Kampfe um die Existenzbedingungen sich herausgebildet haben und nennen sie desshalb mit Recht »Anpassungen der Pflanzen an die Ausbreitung durch die Thierwelt«. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Erklärung der Tafel I. Il. 288 Tafel 1. Fig. 1 Frucht von Scorpiurus sulcatus. „ 2 Triumfetta Plumieri. (Etwas vergrös- serter Querschnitt.) 3 Theil der Hülse von Medicago his- pida. „ 4 Hülse von Medicago radiata. 5 Querschnitt der Frucht von Lappula Myosotis. 6 Hülse von Glyeyrrhiza echinata. 7 Frucht von Micropus supinus. „ 8 Ancistrum decumbens. 9 Aneistrum latebrosum. (Querschnitt, etwas vergrössert.) Fig. 10 Bartramia Lappago (Querschnitt). „ 11 Harpagophyton procumbens. Tafel II. Fig. 12 Scheiben- und Randfrucht von Ca- lendula arvensis. „ 13 Trapa natans (Längsschnitt). „ 14 Krameria triandra (Längsschnitt). „ 15 Sanicula marylandica (Querschnitt). „ 16 Seirpus lacustris, die Blüthe mit den zu Klettorganen umgewandelten Pe- rigonblättern. „ 17 Nebenrippe von Caucalis daucoides. „ 13 Frucht von Martynia proboscidea. Staatliche Einrichtungen, Von Herbert Spencer. VI. Zusammengesetzte hegierungen. Im vorhergehenden Capitel über Häuptlinge und Könige verfolgten wir die Entwicklung des ersten Elementes in jenem dreieinigen Staatsgebilde, das sich im Anfange überall zeigt. Wir wollen nun zur Entwicklung des zwei- ten Elementes übergehen — der Gruppe von leitenden Männern, unter denen der Häuptling ursprünglich blos der hervor- ragendste ist. Unter was für Beding- ungen diese Gruppe sich so empor- schwingt, dass sie sich die beiden an- deren Factoren unterordnet, was für Ursachen sie einschränken und was für Ursachen sie erweitern, bis sie im drit- ten Element aufgeht, haben wir hier zu untersuchen. Wenn das angeborene Gefühl und die Neigungen einer Race bedeutenden Antheil an der Bestimmung der Grösse und des Zusammenhanges der von ihr gebildeten socialen Gruppen haben, so muss ihre Bedeutung noch viel grösser sein, wo es sich um die Beziehungen handelt, welche zwischen den einzelnen Gliedern solcher Gruppen entstehen. Während die gebräuchliche Lebensweise dahin strebt, diesen oder jenen staat- lichen Bau hervorzurufen, werden ihre Wirkungen doch stets von den Wirkun- sen des ererbten Charakters durch- kreuzt. Ob der ursprüngliche Zustand, in welchem die Regierungsgewalt gleich- mässig auf alle Krieger oder alle Aelte- sten vertheilt ist, in den Zustand über- geht, wo die Regierungsgewalt von einem Einzigen in Anspruch genommen wird, hängt zwar theilweise von der Lebens- weise der Gruppe ab, je nachdem sie beutegierig oder friedliebend ist, theil- weise aber auch von der Natur ihrer Mitglieder, welche sie vielleicht antreibt, einer strengen Herrschaft mehr oder weniger hartnäckigen Widerstand ent- gegenzusetzen. Wenige Beispiele werden dies erläutern. Die Arafuras (Papua-Insulaner), wel- che »in Frieden und brüderlicher Liebe Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 289 leben«, kennen keine andere »Autori- tät über sich als die Entscheidung ihrer Aeltesten«. Unter den harmlosen Todas »werden alle Streitigkeiten und Zwiste über Gut und Böse entweder durch Uebereinkunft oder durch ein Punchayet — d. h. durch einen Rath von Fünfen beigelegt«. Von den Bodo und Dhimäls, deren Abneigung gegen den Kriegs- dienst so oft geschildert wird und die »vollständig frei sind von Arroganz, Rachsucht, Grausamkeit und Stolze, lesen wir auch, dass, obgleich jede ihrer kleinen Gemeinschaften ein nominelles Oberhaupt hat, welches in Vertretung derselben den Tribut bezahlt, dieses doch keinerlei Macht besitzt und »Strei- tigkeiten zwischen ihnen durch Schieds- gerichte von Aeltesten beigelegt werden«. In diesen Fällen ist, abgesehen vom Mangel aller der Ursachen, welche haupt- sächlich zu einer Oberherrschaft führen, namentlich auch das Vorhandensein von Ursachen zu beachten, welche dies direct hindern. Die Papuas im allgemeinen, als deren Typus die oben erwähnten Arafuras gelten können, werden von MoperA, Ross und Kourr als »gut- müthig,< als »von sanfter Anlage«, freundlich und friedfertig gegen Fremde geschildert, und EARL sagt, sie seien ungeeignet für kriegerische Aufgaben: »ihr Widerwille gegen jeden Zwang ...... schliesst von vornherein jede Organi- sation aus, welche erst die Papuas in den Stand setzen würde, ihre Ländereien gegen Uebergriffe zu behaupten.< Die Bodo und Dhimäls »halten sich fern von aller Gewaltthätigkeit gegen ihr eigenes. Volk oder gegen ihre Nachbarn«, wider- setzen sich aber auch »mit hartnäcki- gem Widerstreben jedem ungerecht auf- erlegten Befehle«. Und von einem ähn- lichen »sehr anziehenden Volke«, den Lepchas, liebenswürdigen, friedfertigen und sanften Leuten, wie alle Reisenden sie beschreiben, die niemals als Söld- linge Dienste nehmen, erfahren wir zu- gleich, dass sie »lieber grosse Entbehr- ungen erdulden, als sich der Unter- drückung und Ungerechtigkeit zu unter- werfen«. Wo die angeborene Neigung zum Widerstande gegen den Zwang sehr lebhaft ist, da finden wir diese un- centralisirte staatliche Organisation fest- gehalten, selbst ungeachtet der kriege- rischen Thätigkeit, welche stets geneigt ist, eine dauernde Häuptlingschaft in’s Leben zu rufen. Die Nagas »anerkennen keinen König unter sich und verlachen den Gedanken an eine solche Würde bei anderen;« ihre »Dörfer liegen be- ständig in Streit mit einander«, denn »jeder Einzelne ist sein eigener Herr und seine Leidenschaften und Neigun- gen werden nur durch sein Vermögen roher Kraft geregelt». Und hier finden wir denn zugleich, dass — „Kleinere Zwiste und Misshelliskeiten über Eigenthumsfragen durch einen Rath von Aeltesten beigelegt werden, dessen Entscheid- ung sich die streitenden Parteien freiwillig unterwerfen. Allein genau genommen findet sich nicht einmal der Schatten einer fest- stehenden Autorität in der Naga-Gemeinde,' und so wunderbar dies auch scheinen mag — dieser Mangel an Herrschaft führt keines- wegs in irgendwie auffallendem Grade zu Anarchie oder Verwirrung.“ Aehnliches findet sich bei manchen Völkern von ganz anderem Typus, wie z. B. vielen kriegerischen Stämmen von Nordamerika. SCHOOLCRAFT bemerkt von den Indianern im allgemeinen, dass »sie alle zu herrschen und nicht be- herrscht zu sein wünschen. Jeder In- dianer glaubt, er habe ein Recht, zu thun, was ihm gefällt, und keiner sei besser als er selbst; er wird daher lieber kämpfen, als das aufgeben, was er für Recht hält«. Von den Comanches bemerkt er beispielsweise, dass ihnen »das demokratische Princip fest ein- gepflanzt ist« und dass für Regierungs- zwecke »in regelmässigen Zwischen- räumen während des Jahres öffentliche Versammlungen abgehalten werden«. Ferner lesen wir, dass in gewissen Ge- bieten des alten Centralamerika etwas 290 weiter vorgeschrittene Gesellschaften existirten, welche, obgleich kriegerischer Natur, doch durch eine ähnliche Eifer- sucht angetrieben waren, sich gegen das Aufkommen der Einzelherrschaft zu verwahren. Die Regierung lag in den Händen eines wählbaren Rathes alter Männer, welche von sich aus einen Kriegshäuptling ernannten, und dieser letztere wurde, »sobald er in den Verdacht kam, irgend etwas gegen die Sicherheit des Gemeinwesens im Schilde zu führen oder die oberste Gewalt in seinen eigenen Händen festhalten zu wollen, unerbittlich durch den Rath zum Tode verurtheilt«. Obgleich die Eigenthümlichkeiten des Charakters, welche auf solche Weise gewisse Menschenracen in frühesten Stadien veranlassen, eine zusammen- gesetzte Staatsleitung einzusetzen und selbst unter dem Drucke des Krieges dem Auftreten einer Einzelherrschaft im Staate Widerstand zu leisten, den Men- ‚schen durchaus angeboren erscheinen, so fehlt es uns doch nicht an Erklär- ungen fürdie Verhältnisse, welche schuld sind, dass sie dergestalt angeboren sind ; und im Hinblick auf weitere Fragen, die sich kurz nachher erheben werden, dürfte es passend sein, hier einen Blick auf jene zu werfen. Die Comanches und verwandte Stämme, welche in klei- neren Horden herumstreifen und thätige und geschickte Reiter sind, haben wäh- rend längerer Perioden der Vergangen- heit unter Umständen gelebt, welche die Unterwerfung eines Menschen unter einen anderen sehr schwierig machten. Ganz ebenso war es auch, obgleich in anderer Weise, bei den Nagas der Fall. »Sie bewohnen einen rauhen und ver- wickelten Bergzug« und ihre Dörfer sind »auf den Kämmen der Bergrücken« angeklebt. Ein anderes sehr bedeut- sames Zeugniss liefert uns eine gelegent- liche Bemerkung von Capitän Burton, des Inhalts, dass in Afrika sowohl wie in Asien drei verschiedene Regierungs- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. formen bestünden: kriegerischer De- spotismus, feudale Monarchie und rohe Republik, und zwar würde die letztere »durch die Beduinenstämme, die Berg- völker und die Dschungelvölker reprä- sentirt«. Offenbar zeigen uns schon die Namen dieser letzteren Völker, dass sie sämmtlich Gegenden bewohnen, welche durch ihren physikalischen Charakter eine centralisirte Regierungsform ver- hindern und somit eine losere Regie- rungsform und die weniger ausgeprägte staatliche Unterordnung, welche damit verbunden ist, lebhaft begünstigen. Diese Thatsachen stehen in unver- kennbarem Zusammenhang mit gewissen anderen Erscheinungen, die wir daran schliessen können. Wir sahen in frü- heren Abschnitten, dass es relativ leicht ist, eine grosse Gesellschaft zu bilden, wenn alle Theile des betreffenden Lan- des leicht zugänglich sind, während es zugleich Grenzen besitzt, die nur schwie- rig zu überschreiten wären; und dass umgekehrt die Bildung einer grossen Gesellschaft verhindert oder wenigstens bedeutend verzögert wird durch Schwie- rigkeiten der Communication innerhalb des besetzten Gebietes und durch die Leichtigkeit, aus demselben zu entkom- men. Allein wie wir hier sehen, wird nicht blos die staatliche Integration in ihrer einfachsten Form, nämlich die Zunahme der Masse, sondern auch die Entwicklung einer höher integrirten Regierungsform, durch die letzterwähn- ten physikalischen Bedingungen gehin- dert. Was sich der socialen Festigung in den Weg stellt, ist zugleich ein Hemm- niss für die Concentrirung der Staats- gewalt. Was uns hier jedoch vorzugsweise interessirt, ist die Thatsache, dass die andauernde Einwirkung der einen oder der andern Gruppe von Bedingungen einen Charakter erzeugt, welchem ent- weder die centralisirte oder die lockere Form der staatlichen Organisation an- gemessen erscheint. Wenn Generationen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. nach Generationen in einer Gegend ge- . lebt haben, wo despotischer Zwang sich ausgebildet hat, so wird dadurch auch ein den Verhältnissen angepasster Typus der menschlichen Natur erzeugt, theils durch die tägliche Gewöhnung und theils durch Ueberleben derjenigen, welche zum Leben unter solchem Zwange am geeignetsten sind. Umgekehrt erfolgt in einem Lande, welches die Aufrecht- erhaltung der Unabhängigkeit kleiner : Gruppen begünstigt, dadurch jederzeit eine Stärkung der Gefühle, welche sich der Einschränkung widersetzen; denn nicht allein werden diese Gefühle bei sämmtlichen Gliedern geübt, so oft sie- von Zeit zu Zeit den Anstrengungen, sie zu unterwerfen, Widerstand leisten, sondern im Durchschnitt werden auch gerade diejenigen, welche am hart- näckigsten dagegen kämpfen, ununter- jocht bleiben und so ihren Charakter auf die Nachwelt übertragen und den Charakter des ganzen Stammes be- stimmen. Haben wir damit in kurzem Ueber- blick die Wirkungen der äusseren und inneren Factoren kennen gelernt, welche sich in einfachen Stämmen geltend ma- chen, so werden wir nun auch ver- stehen können, wie dieselben zusammen- wirken, wenn solche Stämme, sei es durch Wanderung oder auf andere Weise in Verhältnisse gelangen, welche die Entstehung grösserer Gesellschaften be- günstigen. Das Schicksal eines uncivilisirten Volkes von der beschriebenen Art, das uns in den neuesten Zeiten gezeigt hat, was eintritt, wenn eine Verschmelzung kleiner zu grösseren Gruppen erzwun- gen wird, dürfte die beste Einleitung für unsere Erklärung bilden. Die Irokesenvölker, deren jedes sich aus zahlreichen, früher feindlich gegen einander gesinnten Stämmen zusammen- setzt, hatten sich gegen die europäil- schen Eindringlinge zu vertheidigen. \ 291 Die Vereinigung dieser fünf (und schliess- lich sechs) Nationen zu dem erwähnten Zweck hatte naturgemäss eine Aner- kennung der gleichen Macht einer jeden nöthig gemacht, da eine Uebereinkunft zur Vereinigung nicht erlangt worden wäre, wenn die eine Gruppe gefordert hätte, dass sich die anderen ihr unter- würfen. Es hatten somit die verschie- denen Abtheilungen unter der Voraus- setzung zusammenzuwirken, dass ihre »Rechte, Privilegien und Verpflichtun- gen« dieselben sein sollten. Obgleich die Zahl der ständigen und erblichen Abgeordneten, welche die verschiedenen Völker ernannten, um den Grossen Rath zu bilden, verschieden war, so war doch die Zahl der Stimmen der verschiedenen Völker gleich. Mit Absehung von Ein- zelheiten der Organisation haben wir zunächst zu erwähnen, dass diese Ver- fassung viele Generationen hindurch, ungeachtet. der Kriege, welche dieser Bund durchführte, vollständig unver- ändert blieb — es erhob sich kein ein- zelnes Individuum zu einer höheren Stellung; und zweitens war diese Gleich- heit der Macht zwischen den einzelnen Gruppen verbunden mit einer grossen Ungleichheit innerhalb jeder Gruppe, denn das gemeine Volk hatte keinen Antheil an seiner Regierung. Dadurch erhalten wir einen Schlüs- sel zum Verständniss der Entstehung jener zusammengesetzten Führerschaften, mit denen uns die alte Geschichte ver- traut macht. Wir vermögen einzusehen, wie es kam, dass in solchen Gesell- schaften gewisse Einrichtungen despo- tischer Art existiren konnten, verbunden mit anderen Einrichtungen, welche viel- mehr auf das Princip der Gleichheit basirt zu sein scheinen und oft mit freien Institutionen verwechselt werden. Rufen wir uns zunächst die Vergangen- heit jener frühesten europäischen Völ- ker in’s Gedächtniss zurück, welche Regierungen von dieser Form bildeten. Während des wandernden Hirten- 292 lebens wurde die Unterordnung unter ein einzelnes Oberhaupt, das natur- gemäss aus der Vaterschaft hervorwuchs, begünstigt. Ein widerspenstiges Glied der einzelnen Gruppe musste sich ent- weder der Autorität unterwerfen, unter der es von Anfang an gestanden hatte, oder es musste, wenn es das Joch nicht länger tragen wollte, die Gruppe ver- lassen und all den Gefahren sich aus- setzen, mit denen das ungeschützte Leben in der Einsamkeit bedroht ist. Die Festsetzung dieser Unterordnung wurde ferner begünstigt dnrch das häu- fige Ueberleben derjenigen Gruppen, in welchen sie am vollkommensten durch- geführt war, weil ja bei den Kämpfen zwischen den verschiedenen Stämmen diejenigen, deren Glieder geringere Un- terordnung duldeten, gewöhnlich sowohl kleiner waren, als auch weniger befähigt erschienen, thatkräftig zusammenzuwir- ken, und daher am ehesten dem Untergang heimgefallen sein werden. Neben der an- gedeuteten Thatsache aber, dass in sol- chen Familien und Stämmen die Verhält- nisse den Gehorsam gegen den Vater und Patriarch begünstigten, ist auch die oben erwähnte Thatsache nicht zu ver- gessen, dass die Verhältnisse zu gleicher Zeit das Freiheitsgefühl in den Bezie- hungen der einzelnen Stämme zu ein- ander lebhaft förderten. Die Ausübung von Gewalt durch einen Stamm über den anderen war bedeutend erschwert durch die weite Zerstreuung und die grosse Beweglichkeit derselben, und mit der erfolgreichen Auflehnung gegen äusseren Zwang oder der Flucht vor demselben, welche zahllose Generationen hindurch möglich war, musste natürlich auch die Neigung, überhaupt - jeder fremden Autorität zu widerstreben und sie abzuweisen, immer stärker werden. Ob nun, wenn derartig disciplinirte Gruppen sich vereinigen, dieselben diese oder jene Form der staatlichen Organi- sation annehmen, hängt theilweise, wie bereits angedeutet wurde, von den Ver- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. hältnissen ab, in welche sie gelangen. Selbst wenn wir jene Verschiedenheiten zwischen Mongolen, Semiten und Ariern, wie sie in vorhistorischen Zeiten durch uns unbekannte Ursachen hervorgerufen wurden, übergehen könnten — selbst wenn durch lange Dauer des Hirten- lebens eine vollständige Gleichheit ihrer Natur erzeugt worden wäre, so könnten doch grössere Gesellschaften, welche durch Combination dieser kleineren ent- standen, einen ähnlichen Typus nur unter ähnlichen Verhältnissen bekommen. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum Mongolen und Semiten, wo sie sesshaft geworden sind und sich stark vermehrt haben, nicht länger die Autonomie ihrer einzelnen Horden nach der Vereinigung derselben aufrecht zu erhalten und da- her auch nicht die entsprechenden Ein- richtungen zu entwickeln vermochten. Selbst die Arier, bei welchen haupt- sächlich die weniger stark concentrirten Formen der staatlichen Herrschaft auf- getreten sind, bieten uns ein Beispiel dar. Indem sie ursprünglich alle die- selben geistigen Eigenthümlichkeiten ver- erbt haben, welche während ihres Lebens am Hindu-Kusch und in dessen Um- gebung erzeugt wurden, haben die ver- schiedenen Abtheilungen der Race doch ganz verschiedene Einrichtungen und entsprechend abweichende Charaktere ausgebildet. Diejenigen von ihnen, wel- che sich nach den Ebenen von Indien ausbreiteten, wo die grosse Fruchtbar- keit eine bedeutende Bevölkerung auf- kommen liess, deren Bezwingung sich nur geringe physikalische Hindernisse entgegenstellten, verloren die Unab- hängigkeit ihrer Natur und entwickelten niemals jene Staatssysteme, wie sie bei ihren westlichen Verwandten empor- kamen, unter Umständen freilich, die jedenfalls der Aufrechterhaltung des ur- sprünglichen Charakters günstig waren. Es ergibt sich also hieraus, dass, wo Gruppen des patriarchalischen Typus in Gebiete kommen, welche eine er- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. hebliche Bevölkerungszunahme gestat- ten, aber physikalisch doch so beschaffen sind, dass die Centralisation der Gewalt verhindert wird, dass da eine zusammen- gesetzte Staatsleitung entstehen und sich eine Zeit lang wenigstens erhalten muss, vermöge des Zusammenwirkens der beiden Factoren: Unabhängigkeit derlocalen Gruppen und Bedürfniss nach Vereinigung im Kriege. Sehen wir uns einige Beispiele im Hinblick darauf näher an. Die Insel Kreta besitzt zahlreiche hohe Bergthäler mit reichem Weideland und bietet viele feste Sitze dar — Stand- punkte, deren Ruinen beweisen, dass die Bewohner schon im Alterthum sie auszunützen verstanden. Gleiches gilt auch vom festländischen Griechenland. Ein verwickeltes Gebirgssystem trennt seine Theile von einander ab und macht den Zugang zu jedem einzelnen ziem- lich schwierig. Ganz besonders ist dies im Peloponnes der Fall und vor allem in jener Gegend, welche die Spartaner inne hatten. Man hat die Bemerkung gemacht, dass der Staat, welcher beide Seiten des Taygetus im Besitz habe, im stande sei, sich zum Herrn der ganzen Halbinsel zu machen: — >»er ist die Akropolis des Peloponnes, eben- so wie der letztere die Akropolis des ganzen übrigen Griechenlands ist.« Als nun über die frühesten Ein- wohner nach einander die Wellen der hellenischen Eroberer sich ergossen, da brachten diese den Typus der Natur und Organisation mit, welcher allen Ariern gemeinsam ist und den oben beschriebenen Complex von Eigenthüm- lichkeiten darbietet. Wenn ein solches Volk in den Besitz eines derartigen Landes kam, musste es nothwendiger Weise im Laufe der Zeiten >»in eben so viele unabhängige Stämme zer- fallen, als das Land selbst durch seine Bergketten in Thäler und Bezirke ge- theilt war«e. 293 Aus der örtlichen Absonderung ent- sprang Entfremdung, so dass die ent- fernter von einander Wohnenden ein- ander fremd und schliesslich feind wur- den. In den altgriechischen Zeiten waren die verschiedenen Stämme, welche sich in Bergdörfern niedergelassen hat- ten, so sehr den gegenseitigen Einfällen ausgesetzt, dass z. B. das Anpflanzen von Fruchtbäumen verlorene Mühe war. Es herrschte ein Zustand gleich dem- jenigen, den wir gegenwärtig bei man- chen indischen Bergvölkern, wie z. B. den Nagas verwirklicht sehen. Wenn auch ein solches Volk noch die Tradition einer gemeinsamen Ab- stammung behält und dem ältesten männlichen Vertreter des Patriarchen noch Gehorsam leistet, so muss es doch in Folge seiner Ausbreitung über eine Gegend, welche dergestalt selbst die nächstbenachbarten kleinen Gruppen und noch mehr jene entfernteren Stäm- me, welche im Laufe der Generationen sich ausbildeten, von einander trennt, nothwendiger Weise auch in seiner Regierung zerfallen: die Unterordnung unter ein gemeinsames Oberhaupt ist immer schwieriger aufrecht zu erhalten und nur die Unterwerfung unter locale Oberhäupter bleibt noch durchführbar. Ueberdies muss unter derartigen Be- dingungen eine Zunahme der Veran- lassungen zu Insubordination stattfinden, während zugleich der Aufrechterhaltung der Subordination immer grössere Schwie- rigkeiten sich entgegenstellten. Wenn die verschiedenen Zweige einer gemein- ' samen Familie sich in ein Gebiet ver- breiten, dessen Theile so von einander getrennt sind, dass der Verkehr da- durch gehindert ist, so wird eben ihre Geschichte und die Kunde ihrer Ab- stammung von gemeinsamen Stammes- häuptern allmählich vergessen oder theil- weise verwischt und die Ansprüche auf die Oberherrschaft, welche bald dieses, bald jenes Localoberhaupt etwa erheben mag, werden sicherlich keine Anerkenn- 294 ung finden. Wenn wir uns nur er- innern, wie oft selbst in sesshaften Ge- sellschaften mit geschriebenen Urkunden fast fortwährend Kämpfe über das Recht der Nachfolge stattgefunden haben und wie häufig bis auf unsere Tage herab Rechtshändel über Erbansprüche an Titel und Eigenthum zu schlichten sind, so kann man kaum anders annehmen, als dass in einem Zustande gleich dem- jenigen der alten Griechen die Schwie- rigkeit, der Legitimität einer allgemeinen Führerschaft Anerkennung zu verschaf- fen, sich gewissermaassen mit dem Wun- sche nach Erlangung der Unabhängig- keit und dem Vermögen zur Behauptung desselben verschwor, um schliesslich den Zerfall in zahlreiche locale Herrschaften nach sich zu ziehen. Natürlich ging unter den an jedem Orte wechselnden Bedingungen diese Zersplitterung der grösseren Herrschaften in kleinere ver- schieden weit und dem entsprechend mochte auch in manchen Fällen eine Wiederherstellung grösserer Staaten oder eine Ausdehnung der kleineren über benachbarte stattfinden. Im allgemeinen aber muss unter solchen Verhältnissen die Tendenz obgewaltet haben, kleine unabhängige Gruppen mit dem patriar- chalischen Organisationstypus zu bilden. : Während ich dies schreibe, liefert mir der eben herausgekommene dritte Band von Herrn SkEnE's Öeltic Seotland ein lehr- reiches Beispiel des oben angedeuteten Vor- ganges. Es ergibt sich aus seiner Schilde- rung, dass die alten celtischen Stämme, welche die Grafschaften von Moray, Buchan, Athol, Angus und Menteith bildeten, in Clans zer- fielen, und wie grossen Einfluss der physi- kalische Charakter des Landes auf dieses Resultat ausübte, ersehen wir aus der That- sache, dass eine solche Veränderung gerade in den Theilen stattfand, welche zum Hoch- land gehörten. Herr SKENE beschreibt dann die daraus hervorgegangenen kleineren Grup- pen mit folgenden Worten: „Der Clan, als Einzelgemeinschaft betrachtet, bestand somit aus einem Häuptling nebst seinen Verwandten bis zu einem gewissen beschränkten Grade der Verwandtschaft, aus dem gemeinen Volk oder den freien Männern, welche alle von Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. So erklärt sich denn der Zerfall solcher Königreiche, wie sie in der Ilias noch geschildert werden. Ganz richtig schreibt GroTE: »Wenn wir uns dem historischen Griechenland annähern, so finden wir, dass (mit Ausnahme von Sparta) der ursprüngliche, erbliche und unverant- wortliche Monarch, der in sich sämmt- liche Functionen der Regierung ver- einigte, bereits zu regieren aufgehört hat.« * Was wird nun aber eintreten, wenn mehrere solche Clans von gemeinsamer Abstammung, welche allmählich unab- hängig und gegen einander feindselig geworden sind, gleichzeitig von Feinden bedroht werden, mit denen sie keinerlei oder nur eine sehr entfernte Verwandt- schaft besitzen? Gewöhnlich werden ihre Misshelligkeiten vergessen werden und sie vereinigen sich zu gemeinsamer Ab- wehr. Aber unter was für Bedingungen werden sie so zusammenwirken? Selbst bei einander freundlich gesinnten Grup- pen wird gemeinsame Thätigkeit ver- hindert werden, sobald eine derselben die Oberherrschaft für sich in Anspruch nimmt, und vollends unter solchen Grup- pen, die noch schwebende Streitigkeiten mit einander haben, kann vereinte Thätigkeit nur auf dem Fusse der Gleich- gleichem Blute waren und alle denselben Namen trugen, und aus seinen Untergebenen, die sich aus den Geschlechtern der Einge- bornen zusammensetzten, welche nicht den Anspruch erhoben, gleichen Bluts zu sein wie die Häuptlinge, sondern wahrscheinlich entweder von den ältesten Besitzern des Bo- dens abstammten oder von anderen Clans abgelöste Männer waren, die bei diesem Schutz gesucht hatten . !.... Jene Ver- wandten des Häuptlings nun, welche sich zu Eigenthümern ihrer Ländereien zu machen vermochten, gründeten dann eigene Familien s die Einflussreichste von diesen war diejenige des ältesten unter den jüngeren Söhnen der Familie, die sich am längsten schon vom Hauptstamme abgelöst hatte und gewöhnlich als ein rivalisirendes Haus er- schien, das nur wenig schwächer war als dasjenige des Häuptlings selbst.“ Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. berechtigung möglich sein. Die gemein- same Vertheidigung wird daher von ei- ner Körperschaft geleitet werden, die sich aus den Häuptern der zusammen- wirkenden kleineren Gesellschaften bil- det, und wenn dieses Zusammenwirken zur Vertheidigung längere Zeit andauert oder gar der Erfolg im Kriege zum An- griff übergehen lässt, so zeigt dieser zeitweilig herrschende Körper die Ten- ‘denz, in eine dauernde Körperschaft überzugehen, welche die kleineren Ge- sellschaften zusammenhält. Die beson- deren Eigenthümlichkeiten dieser zusam- mengesetzten Regierungen müssen natür- lich mit den Verhältnissen wechseln. Wo die Ueberlieferungen der vereinigten Stämme soweit mit einander überein- stimmen, dass sie irgend einen Häupt- ling als den directen Abkömmling und Repräsentanten des ursprünglichen Pa- triarchen oder Helden anerkennen, von welchem sich alle ableiten, da wird man jedenfalls diesem Einen eine gewisse aussergewöhnliche Autorität und Vor- rang zuerkennen. Wo dagegen die auf die Abstammung gegründeten Ansprüche streitig sind, da muss persönliche Ueber- legenheit oder Wahl es entscheiden, welches Glied der zusammengesetzten Körperschaft die Führung übernehmen soll. Wenn innerhalb jeder einzelnen Gruppe die Macht des Häuptlings un- eingeschränkt ist, so muss aus der Ver- einigung solcher Häuptlinge eine fest- geschlossene Öligarchie hervorgehen, während dagegen der Zusammenhalt der letzteren um so geringer sein wird, je mehr die Autorität des einzelnen Häupt- lings, welche auf der näheren oder ent- fernteren Blutsverwandtschaft mit dem göttlichen oder halbgöttlichen Vorfahren beruht, vermindert erscheint. Und in solchen Fällen endlich, wo zahlreiche Fremde in den Stamm aufgenommen wurden, welche zu keinem der Ober- häupter der einzelnen Gruppen in nähe- ren Beziehungen stehen, werden über- dies noch Einflüsse in’s Spiel kommen, behält. 295 welche die Oligarchie noch mehr zu erweitern streben. Von dieser Art war, wie wir anneh- men dürfen, die Entstehung jener zu- sammengesetzten Regierungen der grie- chischen Staaten, welche beim Beginn der historischen Periode dort existirten. In Kreta, wo die Ueberlieferung von einem ursprünglich gemeinsamen König- thum fortlebte, wo aber die Zerstreuung und der immer weiter gehende Zerfall der Stämme einen solchen Zustand her- beigeführt hatte, dass »die einzelnen Städte in offener Fehde mit einander lagen«, gab es doch »Patricierhäuser, welche ihr Recht von den frühesten Zeitaltern der königlichen Herrschaft herleiteten« und sich immer noch »im Besitze der Verwaltung befanden«. In Korinth geht die Linie der Herakliden- Könige allmählich durch eine Reihe leerer Namen in die Oligarchie der Bacchiadae über. »Die so benannten Familien waren alles aner- kannte Abkömmlinge von Herakles und bildeten die regierende Kaste in der Stadt.< So verhielt es sich auch in Megara. Nach der Tradition entstand diese Stadt durch Vereinigung ver- schiedener Dörfer, welche von ver- wandten Stämmen bewohnt waren, die, ursprünglich im Streit mit Korinth, wahrscheinlich in Verlaufe diesesKampfes sich zu einem unabhängigen Staate ver- schmolzen hatten. Und mit dem Be- ginn der historischen Periode war glei- ches auch in Sikyon und mehreren an- deren Orten eingetreten. Obgleich sich in Sparta das Königthum unter einer abnormen Form forterhalten hatte, so waren doch die vereinigten Vertreter des ursprünglichen Königs, welche zwar auf Grund der Tradition von ihrer gött- lichen Abstammung immer noch eine ge- wisse Verehrung genossen, zu einer Stel- lung herabgesunken, welche kaum mehr bedeutete, alsdiejenigeeinerherrschenden Öligarchie, die noch gewisse Prärogative Und obgleich es richtig ist, 296 dass die spartanische Oligarchie in ih- rem frühesten historisch bekannten Sta- dium nicht mehr die Form darbot, welche von selbst aus der Vereinigung der Oberhäupter von verschiedenen Stäm- men zur gemeinschaftlichen Thätigkeit im Kriege entstehen musste — obgleich dieselbe innerhalb einer begrenzten Classe von Personen wählbar geworden war, so stimmt doch der Umstand, dass ein Alter von nicht weniger als sechzig Jahren dazu erforderlich war, mit der Ansicht überein, dass sie ursprünglich aus den Oberhäuptern der einzelnen Gruppen bestand, welche stets die älte- sten Söhne der Aeltesten waren, und dass diese Gruppen mit ihren Ober- häuptern, welche in den vorlykurgischen Zeiten als »die gesetzlosesten unter allen Griechen« geschildert wurden, sich vermöge jenes beständigen kriegerischen Lebens mit einander vereinigten, durch welches sie sich auszeichneten. * * Da dieser Gegenstand für historische Erklärungen im allgemeimen und ganz beson- ders für die in diesem Werke aufzustellenden Ansichten von Wichtigkeit ist, möchte ich ausser den von GROTE und Anderen ange- gebenen noch einige fernere Gründe anfüh- ren, welche die herkömmliche Annahme zu- rückweisen, dass die spartanische Verfassung das Werk von Lykurg gewesen sei. Die allgemein herrschende Neigung, eine Wirkung der auffallendsten und nächstliegenden Ur- sache zuzuschreiben, tritt ganz besonders da hervor, wo die Wirkung von der Art ist, dass ihre Ursache sehr verwickelt erscheint. Unser eigenes Zeitalter liefert uns ein Bei- spiel soleher Art, indem es die Aufhebung der Korngesetze erst Sir Robert Peel und nachher Cobden und Bright zuschrieb, Colonel Thompson aber ganz unerwähnt lässt. In der nächsten Generation pflegt ge- rade derjenige, welcher lange Zeit auf eigene Faust den Kampf fortführte und viele der Waffen schmiedete, mit denen sich die späte- ren Sieger ausrüsteten, gar nicht mehr im Zusammenhang damit erwähnt zu werden. Es ist jedoch nieht genug, zu vermuthen, dass Lykurg blos der Vollender der Arbeit seiner Vorgänger gewesen sei: — wir dürfen mit vollem Rechte voraussetzen, dass es sich gar nicht um das Werk eines Menschen, son- dern einfach um dasjenige der Bedürfnisse Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Die Römer bieten uns ein Beispiel der Entstehung einer zusammengesetzten Regierung unter Verhältnissen, welche, obgleich theilweise von jenen abweichend, denen die Griechen unterworfen waren, doch im wesentlichen damit überein- stimmen. Im frühesten überhaupt be- kannten Zustande war Latium von Dorf- Gemeinschaften bevölkert, welche zu Cantonen vereinigt waren, während diese wieder ein unter dem Vorsitz von Alba stehendes Bündniss bildeten, welcher Canton als der älteste und hervorra- gendste galt. Diese Vereinigung war für gemeinsame Abwehr getroffen, wie aus der Thatsache hervorgeht, dass jede einen Canton zusammensetzende Gruppe von Ülandörfern gemeinsam einen hochlie- genden festen Platz besass und dass fer- ner die Liga der Cantone als Centrum und Zufluchtsort Alba, die am festesten lie- gende wie auch die älteste Stadt be- trachtete. Die einzelnen Cantone der und der Umstände handelte. Dies lässt sich z. B. in der Einrichtung der öffentlichen Tischgesellschaften erkennen. Wenn wir uns fragen, was in einem kleinen Volke geschehen wird, welches, nachdem es sich mehrere Generationen hindurch als Eroberer ausge- dehnt hat, eine gewisse Verachtung gegen alle Industrie zeigt und, solange es nicht mit Krieg beschäftigt ist, seine Zeitmit Uebungen verbringt, welche dasselbe zum Kriege ge- schickt machen, so ist klar, dass anfänglich die täglichen Zusammenkünfte, um diese Uebungen zu treiben, auch den Anlass dazu geben werden, dass Jeder alltäglich seine Vorräthe mitbringt. Und wie das auch bei jedem Piknik die Regel ist, wo alle Theil- nehmer zur gemeinsamen Mahlzeit beitragen, so wird auch hier naturgemäss eine gewisse Verpflichtung hinsichtlich der Qualität und Quantität sich festgesetzt haben — eine Ver- pflichtung, die durch tägliche Wiederholung aus einer Sitte zum Gesetz wird und damit endigt, dass die Art und die Menge der zu liefernden Nahrung genau festgestellt ist. Ferner ist nichts anderes zu erwarten, als dass, weil ein solches Gesetz in einer Zeit entstand, wo die Nahrung noch roh und wenig mannichfaltig war, die Einfachheit der Lebens- weise, anfänglich ein unvermeidlicher Um- stand, später für eine beabsichtigte Einrich- tung gehalten werden wird, für eine asce- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. 297 Liga waren soweit von einander unab- | von städtischen Ansiedelungen als eine hängig, dass zwischen ihnen häufig Kriege stattfanden, woraus wir schliessen dürfen, dass, wenn sie für gemeinsame Abwehr zusammenwirkten, dies unter wesentlich gleichen Bedingungen geschah. Bevor Rom existirte, war somit das Volk, welches diese Stadt später bildete, an eine derartige Lebensweise gewöhnt, dass mit grosser Unterordnung in jeder einzelnen Familie, in jedem Clan und mit theilweiser Unterordnung innerhalb jedes Cantons (welcher von einem Für- sten, einem Rathe der Aeltesten und der Kriegerversammlung regiert wurde) sich eine Vereinigung der Cantonsoberhäupter - verband, welche in keiner Weise ein- ander untergeordnet waren. Als nun die Bewohner von dreien dieser Cantone, die Ramnier, Titier und Lucerer, das Gebiet zu besetzen begannen, auf wel- chem Rom steht, führten sie natürlich auch dort ihre staatliche Organisation ein. Die ältesten römischen Patricier trugen die Namen von Landadeligen, welche zu diesen Cantonen gehörten. Es ist nun nicht klar, ob sie, als sie sich auf dem Palatin und dem Quiri- nal niederliessen, auch ihre cantonale Trennungbeibehielten, obgleich esapriori wahrscheinlich ist. Wie dem jedoch sei, jedenfalls ist festgestellt, dass sie sich auch gegen einander ebenso gut befes- tigten wie gegen äussere Feinde. Die »Bergmänner« des Palatin und die »Hügelmänner« des Quirinal lagen fast beständig im Streit mit einander und selbst zwischen den kleineren Abthei- lungen derjenigen, welche den Palatin besetzt hatten, gab es Zwistigkeiten. Wie Mommsen richtig sagt, war das ur- sprüngliche Rom » vielmehr ein Aggregat tische Vorschrift, welche willkürlich aufer- legt worden sei. Als ich dies niederschrieb, hatte ich nicht bemerkt, dass, wie Professor POLEY in Fraser’s Magazine, Februar 1881, darlegte, auch unter den Griechen der späteren Zeiten die Sitte herrschte, gemeinschaftliche Mahlzeiten einzunehmen, zu welchen jeder Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). einzige Stadt«. Und dass die Clans, welche diese Ansiedelungen bildeten, auch ihre Feindseligkeiten in dieselben mitbrachten, ist aus der Thatsache zu schliessen, dass sie nicht blos die Hügel, auf welchensiesichniedergelassen hatten, befestigten, sondern dass auch >»die Häuser der alten und mächtigen Fami- lien ziemlich nach Art von Festungen gebaut waren«. Abermals also sehen wir in Rom eine Gruppe kleinerer unabhängiger Ge- meinschaften, die blutsverwandt, aber theilweise einander feindlich gesinnt sind und gegen Feinde zusammenwirken müs- sen, dies unter solchenBedingungen aus- führen, welchen Alle zustimmen können. Im alten Griechenland waren die Mittel zur Abwehr, wie GroTE bemerkt, grösser als die Mittel zum Angriff, und das- selbe gilt auch für das alte Rom. Wäh- rend also eine strenge Herrschaft inner- halb jeder Familie und kleinen Gruppe leicht erschien, stellten sich der Aus- dehnung dieser Herrschaft über mehrere Gruppen grössere Schwierigkeiten ent- gegen, da sie durch ihre Befestigungen auch gegen einander geschützt waren. Ueberdies wurde die Strenge der Herr- schaft innerhalb der die ursprüngliche Stadt zusammensetzenden Ansiedelungen gemildert durch die Leichtigkeit, aus der einen zu entfliehen und in eine andere einzutreten. Wie wir schon bei den einfachsten Stämmen gesehen haben, finden Desertionen statt, sobald die Regierung ungebührlich drückend wird, und wir dürfen wohl annehmen, dass in jeder dieser zusammengedräng- ten Ansiedlungen der Ausübung von Gewalt durch Häupter der mächtigeren Gast seinen Antheil an Speise mitbrachte, und dass diejenigen, welche nur wenig bei- trugen und viel verzehrten, zum Gegenstand des Gespöttes wurden. Diese Thatsache er- höht bedeutend die Wahrscheinlichkeit, dass die spartanische Tischgenossenschaft in der angedeuteten Weise entstanden ist. 21 »98 Familien über diejenigen der weniger mächtigen eine bestimmte Schranke ge- zogen war, welche in der Furcht be- gründet lag, es möchte die betreffende Ansiedlung durch Auswanderung ge- schwächt und eine benachbarte dadurch gestärkt werden. So waren die Um- stände derart, dass, wenn behufs der Vertheidigung der alten Stadt ein ver- eintes Wirken nöthig wurde, die An- führer der Clans, welche zu den ver- schiedenen Ansiedlungen gehörten, dem Wesen nach gleiche Machtbefugniss be- kamen. In der That war der Senat ursprünglich nichts anderes als der gesammte Körper der Clan-Aeltesten und diese »Versammlung der Aeltesten war der höchste Träger der Herrscher- gewalt«, — es war geradezu »eine Ver- sammlung von Königen«. Zu gleicher Zeit standen die Häupter der Familien innerhalb jedes Clans, welche die ge- sammte Bürgerschaft bildeten, aus den- selben Gründen auf durchaus gleichem Fusse. Endlich gab es ein ursprüng- lich blos zum Befehlshaber im Kriege bestimmtes erwähltes Oberhaupt, das zugleich oberste Behörde war. Obgleich demselben nicht die durch vermeintlich göttliche Abstammung verliehene Au- torität zukam, so wurde seine Macht doch durch die Annahme der göttlichen Beistimmung gestützt, und indem er selbst die Insignien eines Gottes trug, behauptete er bis zu seinem Tode den einem solchen zukommenden absoluten Charakter. dass die ursprünglich stets vom Senate vorgenommene Wahl im Falle einer plötzlichen Erledigung der Stelle doch wieder thatsächlich von diesem ausge- übt werden musste, und abgesehen da- von, dass jeder König, der von seinem Vorgänger ernannt worden war, doch erst der Bestätigung durch die ver- sammelte Bürgerschaft bedurfte, so ist namentlich bemerkenswerth, dass seine Gewalt ausschliesslich executiv war. Die Versammlung der Bürger »stand Jedoch abgesehen davon, | Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. in Gesetzessachen vielmehr über dem Könige, als dass sie ihm coordinirt gewe- sen wäre«. Ferner wurde die allerhöchste Gewalt in letzter Instanz vom Senat ausgeübt, welcher der Wächter des Ge- setzes war und sogar gegen die ver- einte Entscheidung des Königs und der Bürgerschaft sein Veto einlegen konnte. Somit war die Verfassung im wesent- lichen eine Oligarchie von Clan-Ober- häuptern, eingeschlossen in eine Oli- garchie der Häupter der einzelnen Häu- ser — eine zusammengesetzte Oligar- chie, die ganz uneingeschränkte Macht erlangte, als man das Königthum ab- schaffte. Und hier sei nun besonders die Thatsache hervorgehoben, welche doch wahrlich klar genug zu Tage liegt und trotzdem beständig übersehen wird, dass die römische Republik, welche nach Beseitigung derKönigsgewalt übrig blieb, ganz anderer Natur war als jene volks- thümlichen Regierungen, mit denen man sie gewöhnlich zusammenstellt. Die Clans-Oberhäupter, aus denen sich der engere regierende Körper zusammen- setzte, wie die Familienhäupter, welche den weiteren regierenden Körper bil- deten, waren natürlich eifersüchtig auf ihre gegenseitigen Machtbefugnisse und standen insofern auf gleicher Stufe mit den Bürgern eines freien Staates, wo ein jeder das gleiche Recht bean- sprucht. Allein diese Häupter übten ihrerseits eine unbeschränkte Gewalt über die Angehörigen ihres Haushaltes und die ganze Gruppe der von ihnen Abhängigen aus. Ein Gemeinwesen aber, dessen einzelne Gruppen ihre in- nere Autonomie bis zu dem Grade be- haupten, dass die Herrschaft innerhalb einer jeden geradezu eine absolute wird, ist nichts weiter als ein Aggregat von kleineren Despoten. Eine Verfassung, unter welcher das Haupt jeder Gruppe nicht nur Sclaven besass, sondern auch eine derartige Obergewalt ausübte, dass sein Weib und seine Kinder mit Ein- schluss sogar der verheiratheten Söhne Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. nicht mehr gesetzliche Rechte hatten als sein Vieh und mit Leib und Leben seiner Gnade anheimgestellt waren oder sogar in die Sclaverei verkauft werden konnten — eine solche Verfassung kann nur von denen als eine freie Verfassung bezeichnet werden, welche die Aehn- lichkeit der äusseren Umrisse mit der Gleichheit des inneren Baues verwech- seln*. Die Bildung der zusammengesetzten Staatsregierungen in späteren Zeiten wiederholt diesen Process dem Wesen, wenn auch nicht den Einzelheiten nach. Auf die eine oder andere Weise kommt immer dieses Resultat zu stande, wenn das Bedürfniss nach gemeinsamer Ver- theidigung zum Zusammenwirken an- treibt, während kein anderer Ausweg bleibt, um dieses Zusammenwirken zu ermöglichen, als freiwillige Ueberein- kunft. Beginnen wir mit dem Beispiel von Venedig, so ist zunächst hervorzuheben, dass das von den alten Venetianern be- setzte Gebiet den ausgedehnten sumpfi- gen Landstrich umschloss, welcher von den durch verschiedene Flüsse in das Adriatische Meer heruntergebrachten Ablagerungen gebildet wird, — ein Landstrich, welcher zu Strabo’s Zeiten »in jeder Richtung von Flüssen, Strö- men und Morästen durchsetzt war«, so dass »Aquileja und Ravenna damals Städte in den Marschen darstellten«. Indem der Venetianer ein solches Land voll von Oertlichkeiten, welche nur den mit den verwickelten Wegen vertrauten Bewohnern zugänglich waren, als ihren Zufluchtsort benutzten, vermochten sie ihre Unabhängigkeit trotz der Anstreng- ungen der Römer, sie zu unterwerfen, * Ich würde es für überflüssig erachtet haben, eine so offenkundige Thatsache nach- drücklich hervorzuheben, wenn nicht die Identifieirung von so ausserordentlich ver- schiedenen Dingen beständig noch in Uebung wäre. Selbst in den letzten Jahren ist von einem Historiker in einer Zeitschrift ein Ar- "Körperschaft, die 299 bis zu Caesar’s Zeiten zu behaupten, Später traten ganz ähnliche Verhält- nisse noch schärfer in jenem Theile dieses Gebiets hervor, der sich ganz besonders durch Unzugänglichkeit aus- zeichnete. Von den ältesten Zeiten an waren die Inselchen oder besser ge- sagt die Schlammbänke, auf welchen Venedig steht, von einem seefahrenden Volke bewohnt. Jede Insel, gesichert inmitten ihrer gewundenen Lagunen, hatte eine volksthümliche Regierung von alljährlich gewählten Tribunen. Und diese ursprüngliche Regierung, welche auch zu der Zeit bestand, als viele Tausende von Flüchtigen dorthin kamen, welche durch den Einbruch der Hunnen vom Festlande vertrieben worden waren, behauptete sich damals in der Form einer rohen Bundesgenossenschaft. Wie wir dies auch in anderen Fällen hatten eintreten sehen, wurde diese Einheit, zu welcher diese unabhängigen kleinen Gesellschaften behufs gemein- samer Abwehr zusammenzutreten ge- nöthigt waren, doch vielfach durch Streitigkeiten gestört und nur unter dem Drucke des Widerstandes gegen die Angriffe der Lombarden auf der einen und der slavischen Seeräuber auf der andern Seite kam es dahin, dass eine allgemeine Versammlung von Adeligen, Geistlichen und Bürgern einen Herzog oder Dogen ernannte, um die combi- nirten Streitkräfte zu führen und die inneren Zwistigkeiten beizulegen; der- selbe stand über den Tribunen der ver- einigten Inseln und war nur dieser ihn ernannt hatte, verantwortlich. Was für Aenderungen später stattfanden, wie z. B. der Doge abgesehen von den ihm durch die all- tikel veröffentlicht worden, welcher die Cor- ruption der römischen Republik in ihren späteren Zeiten schildert und aus dieser Ge- schichte die Moral zieht, dass dies eben mei- stens die Resultate einer demokratischen Re- gierung gewesen seien und noch seien. a * 300 gemeine Versammlung gesetzten Schran- ken sehr bald unter die Controle zweier besonders erwählter Räthe gesetzt wurde und bei wichtigen Angelegenheiten die angesehensten Bürger zusammenberufen musste; — wie später ein repräsenta- tiver Rath einberufen wurde, der von Zeit zu Zeit Veränderungen durchmachte, — alles das geht uns hier nicht näher an. Wir haben blos zu beachten, dass wie in früheren Fällen die einzelnen Gruppen zwar unter günstigen Verhält- nissen standen, welche ihnen erlaubten, ihre Unabhängigkeit gegen einander zu behaupten, dass aber die gebieterische Nothwendigkeit zur Vereinigung gegen äussere Feinde den Anfang einer rohen zusammengesetzten Regierung bildete, welche ungeachtet der centralisirenden Einflüsse des Krieges sich doch in der einen oder anderen Form fortzuerhalten strebte. Wenn wir nun ähnliche Erschein- ungen bei Menschen eines verschiedenen Stammes finden, die aber ein ähnliches Gebiet bewohnen, so müssen wohl unsere Zweifel hinsichtlich des diese Erschein- ung verursachenden Processes vollends schwinden. Auf dem Gebiete, — halb Land, halb Meer — welches durch die vom Rhein und den benachbarten Flüssen heruntergeschwemmten Abla- gerungen gebildet wird, lebten in den frühesten Zeiten zerstreute Familien. Da sie auf isolirten Sandhügeln oder in auf Pfählen errichteten Hütten wohn- ten, so waren sie inmitten ihrer Ca- näle, Sandbänke und Marschen so sicher, dass sie selbst von den Römern nicht unterworfen wurden. Anfänglich von Fischerei lebend, stellenweise mit kleinen Anfängen des Ackerbaues, soweit dies überhaupt möglich war, widmete sich dieses Volk später der Seefahrt und dem Handel und machte sein Land mit der Zeit durch Abdämmung der See besser bewohnbar, und so erfreute es sich lange Zeit einer theilweisen, Ja sogar einer beinah vollständigen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Unabhängigkeit. Im dritten Jahrhun- dert »umschlossen die Niederlande das einzige freie Volk der germanischen Race«. Ganz besonders die Friesen, welche weiter von den Eroberern ent- fernt waren als die übrigen, »verbanden sich mit den an den Grenzen des deut- schen Meeres angesiedelten Stämmen und schlossen mit ihnen ein Bündniss, das unter dem Namen des Sachsen- bundes bekannt ist«. Wenn auch in späteren Zeiten die Bewohner der Nieder- lande unter die Botmässigkeit von Frankreich geriethen, so gab ihnen doch die Natur ihres Wohngebietes auf die Dauer so grosse Vortheile im Wider- stand gegen fremde Gewalt, dass sie sich stets trotz aller Verbote nach ihrem eigenen Gutdünken organisirten. »Von den Zeiten Karls des Grossen an bildete das Volk des alten Mena- pia, das nun zu einem blühenden Ge- meinwesen . geworden war, staatliche Vereinigungen, um eine Schranke gegen die despotische Gewaltthätigkeit der Franken zu errichten.« Inzwischen be- haupteten die Friesen, welche nach Jahrhunderten erfolgreichen Widerstan- des gegen Frankreich demselben schliess- lich unterlagen und einen kleinen Tri- but liefern mussten, immerhin ihre in- nere Autonomie. Sie bildeten »eine Bundesgenossenschaft von rohen, aber selbstregierten Seeprovinzen«: jede von diesen sieben Provinzen war in Bezirke eingetheilt, die sich jeweils durch selbst- gewählte Häupter mit ihren Räthen re- gierten, und das Ganze stand unter einem wählbaren Oberhaupt und einem Allgemeinen Rath. Unter den Beispielen, welche die neueren Zeiten uns darbieten, mögen diejenigen hervorgehoben werden, welche uns abermals die Wirkungen eines ge- birgigen Landes erkennen lassen. Am bemerkenswerthesten darunter ist natür- lich die Schweiz. Rings von Wäldern umgeben, »zwischen Sümpfen, Felsen und Gletschern, hatten Stämme zerstreu- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ter Hirten von den frühesten Zeiten der römischen Eroberung an hier ein Land der Zuflucht vor den aufeinanderfolgen- den Eindringlingen in das übrige Hel- vetien gefunden«<. In den Labyrinthen der Alpen, welche nur denen zugänglich waren, welche Weg und Steg in den- selben kannten, gediehen ihre Viehher- den unbemerkt, und gegen eindringende Banden vonRäubern, welche ihre Schlupf- winkel etwa hätten entdecken können, hatten sie alle möglichen Mittel zur Vertheidigung. Diese Gebiete — welche sich schliesslich zu den Cantonen Schwyz, Uri und Unterwalden ausgestalteten, die ursprünglich nur ein gemeinsames Versammlungscentrum hatten, später aber, als die Bevölkerung zunahm, in drei Cantone zerfielen und besondere staatliche Organisationen bildeten — behaupteten lange eine vollständige Un- abhängigkeit. Mit der Ausbreitung der feudalen Unterordnung in ganz Europa wurden auch sie dem Namen nach dem Kaiser unterthan, allein indem sie den über sie gesetzten Oberen Gehorsam ver- weigerten, traten sie in einen feierlichen, von Zeit zu Zeit erneuerten Bund zu- sammen, um sich gegen äussere Feinde zu vertheidigen. Die Einzelheiten ihrer weiteren Geschichte brauchen uns nicht aufzuhalten. Das Wesentlichste für uns ist, dass in diesen drei Cantonen, welche durch ihre physikalische Beschaffenheit die Behauptung der Unabhängigkeit des einzelnen Individuums wie der verschie- denen Gruppen in so hohem Grade be- günstigten, die Bevölkerung unter sich | verschiedene freie Regierungen bildete, zugleich aber sich unter gleichen Be- dingungen zu gemeinsamer Abwehr ver- einigte. Und diesetypischen » Schweizer« waren es, welche, wie sie zuerst diesen Namen trugen, so auch den Kern für die grössere Vereinigung bildeten, die unter wechselndem Geschick schliesslich daraus hervorging. Da die einzelnen, diesen grösseren Bund zusammensetzen- 301 den Cantone unabhängig von einander waren, so gab es auch zuerst mannich- fache Kämpfe zwischen ihnen, welche nur während der Zeiten, wo eine ge- meinsame Abwehr unumgänglich erfor- derlich erschien, unterbrochen wurden. Erst ganz allmählich gingen die Bünd- nisse aus zeitweiligen und unbestimmten Formen in eine dauernde und festere Form über. Noch sei auf zwei wichtige Thatsachen hingewiesen. Einmal hat sich in späterer Zeit ein ähnlicher Pro- cess des Widerstandes, der CGonfödera- tion und Freimachung von der feudalen Tyrannei zwischen verschiedenen, kleine Bergthäler bewohnenden Gemeinschaften in Graubünden und im Wallis abge- spielt — Gegenden, welche, obgleich gebirgiger Natur, doch leichter zugäng- lich waren als diejenigen des Oberlan- des und seiner Umgebung. Und zwei- tens erlangten die Cantone des Hügel- landes weder so früh noch auch so vollständig ihre Unabhängigkeit und überdies war ihre Verfassung der Form nach viel weniger frei. So be- stand ein auffallender Gegensatz zwi- schen den aristokratischen Republiken - von Bern, Luzern, Freiburg und Solo- thurn und den reinen Demokratien der vier Waldstädte und Graubündens. Im letzteren Canton >war sogar jedes kleine Dörfchen, das in einem Alpenthale lag oder auf einem Bergkamm klebte, ein unabhängiges Gemeinwesen, dessen Mit- glieder alle absolut gleich waren, zur Stimmabgabe in jeder Versammlung be- rechtigt und zu jeder öffentlichen Func- tion qualifieirt<. »Jedes Dörfchen hatte seine eigenen Gesetze, seine eigene Rechtsprechung und seine Privilegien ;« diese Dörfer aber waren zu grösseren Gemeinden, die Gemeinden zu Bezirken und die Bezirke zu einem Bunde ver- einigt. Endlich können wir neben das Bei- spiel der Schweiz noch dasjenige von San Marino setzen — einer kleinen Repu- blik, welche, in den Apenninen gelegen, 302 mit einem auftausend Fuss hoher Klippe thronenden Centrum, ihre Unabhängig- keit fünfzehn Jahrhunderte hindurch auf- recht erhalten hat. Hier werden 8000 Menschen von einem Senat von 60 und von halbjährlich gewählten Hauptleuten regiert, während bei wichtigen Ange- legenheiten eine Versammlung des ganzen Volkes zusammenberufen wird. Die stehende Armee beträgt 18 Mann; »die Steuern sind fast auf Null reducirt« und die Beamten sind durch die Ehre ihres Dienstes genügend belohnt. Ein bemerkenswerther Unterschied zwischen den unter physikalischen Bedingungen der erwähnten Art ent- standenen zusammengesetzten Regie- rungen darf jedoch nicht übersehen werden — der Unterschied zwischen der oligarchischen und der mehr oder we- niger volksthümlichen Form. Wie im Anfang dieses Abschnittes gezeigt wurde: — wenn jede der durch kriegerisches Zusammenwirken vereinigten Gruppen despotisch regiert wird — wenn die einzelnen Gruppen nach dem patriar- chalischen Typus gebildet sind oder jeweils durch Männer von vermeintlich göttlichem Ursprung regiert werden — dann entsteht eine zusammengesetzte Regierung, an welcher das Volk im grossen keinerlei Antheil hat. Wenn aber wie in diesen neueren Beispielen die patriarchalische Autorität zerfallen ist oder wenn die Annahme des gött- lichen Ursprungs durch einen damit im Widerspruch stehenden Glauben unter- graben worden ist oder wenn eine fried- liche Lebensweise jene zwingende Auto- rität geschwächt hat, welche durch den Krieg stets gestärkt wird, — so kann die zusammengesetzte Regierung nicht länger eine Versammlung kleiner De- spoten sein. Mit dem Fortschritte dieser Veränderungen wird sie mehr und mehr zu einer Behörde, welche aus solchen zusammengesetzt ist, die ihre Gewalt nicht kraft ihrer Stellung, sondern kraft ihrer Ernennung ausüben. Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Es gibt aber noch andere Beding- ungen, welche die Entstehung zusam- mengesetzter, sei es zeitweiliger, sei es dauernder Regierungen begünstigen, nämlich diejenigen, welche bei der Auf- lösung bisher bestandener Organisatio- nen eintreten. Bei einem Volke, das zahllose Generationen hindurch an per- sönliche Herrschaft gewöhnt war, dessen Gefühle durchaus diesem Zustand an- gepasst sind und das sich kaum eine Vorstellung von etwas anderem zu ma- chen vermag, pflegt auf den Sturz des einen Despoten sofort das Emporkom- men eines anderen zu folgen; oder wenn ein grösseres persönlich regiertes Reich zusammenfällt, so entstehen in seinen einzelnen Theilen unabhängige Regie- rungen gleicher Art. Bei weniger unter- drückten Völkern aber folgt auf den Zusammenbruch eines Staatssystems mit einem einzelnen Oberhaupte leichter die Entstehung eines anderen mit zusam- mengesetzter Regierung, ganz besonders da, wo eine gleichzeitige Trennung in grössere Theile stattfindet, welche keine localen Regierungen von dauernder Art besitzen. Unter solchen Verhältnissen beobachtet man eine Rückkehr zum pri- mitiven Zustande. Wenn das bis da- hin bestehende Regierungssystem zerfällt, so stehen die Glieder der Gemeinschaft nun unter keiner anderen zwingenden Gewalt als unter dem Willen des ganzen Aggregats; es muss also die staatliche Organisation wieder von vorne beginnen und die zunächst erlangte Form ist dann derjenigen nächstverwandt, welche wir in der Versammlung einer Horde von Wilden oder in einer öffentlichen Versammlung der neueren Zeit beob- achten. Daraus geht dann aber bald die Herrschaft weniger Auserwählten hervor, welche der Zustimmung der Mehr- zahl unterworfen sind. Als erstes Beispiel hiefür können wir die Entstehung der italienischen Republiken nehmen. Als im neunten und zehnten Jahrhundert die deutschen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Kaiser, welche lange Zeit hindurch ihre Kraft vergeudeten, um locale Streitig- keiten in Italien niederzuhalten und die Missethaten wandernder Räuberbanden zu verhüten, mehr als je ausser stande waren, die ihnen untergebenen Gemein- wesen zu schützen und, was gleichzeitig daraus hervorging, nur noch eine ge- ringe Macht über sie auszuüben ver- mochten, da erschien es für die italie- nischen Städte sowohl nothwendig als ausführbar, eine staatliche Organisation auf eigene Faust zu entwickeln. Ob- gleich in diesen Städten noch Ueber- reste der alten römischen Organisation fortlebten, so waren dieselben doch offen-- bar so gut wie abgestorben, denn in Zeiten der Gefahr fand eine Versamm- lung der »Bürger auf den Klang einer grossen Glocke statt, um mit einander die Mittel zur gemeinsamen Abwehr zu berathen«. Ohne Zweifel kamen bei sol- chen Gelegenheiten schon die ersten Spuren jener republikanischen Einrich- tungen zum Vorschein, welche sich spä- ter entwickelten. Wenn auch behauptet wird, die deutschen Kaiser hätten den Städten erlaubt, diese Einrichtungen zu bilden, so dürfen wir doch wohl mit Recht annehmen, dass sie vielmehr sich um nichts weiter bekümmerten, als ih- ren Tribut zu bekommen, und daher keine Anstrengungen machten, die Städte von diesem Beginnen abzuhalten. Und obgleich Sısmoxpr von der Bevölkerung der Städte sagt: »Ils chercherent & se constituer sur lemodele de la republique romaine«, so dürfen wir uns doch fragen, ob in diesen dunklen Zeiten das Volk - noch so viel von den römischen Ver- hältnissen gekannt habe, um dadurch irgend wie beeinflusst worden zu sein. Es ist mit viel grösserer Wahrschein- lichkeit zu vermuthen, dass »diese Ver- sammlung aller Männer des Staates, welche Waffen zu tragen fähig waren .. auf dem grossen Marktplatze«, dieursprünglichzusammenberufen wurde, um Maassregelnzur Abwehr der Angreifer 303 zu berathen — eine Versammlung, welche schon in ihren ersten Anfängen durch eine Gruppe hervorragender Bürger ge- leitet worden sein und ihre Führer ge- wählt haben muss — dass eine solche Versammlung selbst schon die repu- blikanische Regierung in ihren ersten Anfängen darstellte. Solche Versamm- lungen, anfänglich nur bei besonders gegebenen Gelegenheiten zusammen- tretend, kamen allmählich immer mehr in Gebrauch, um über alle wichtigen öffentlichen Fragen zu entscheiden. Die Wiederholung brachte grössere Regel- mässigkeit in die Art und Weise ihres Verfahrens und grössere Bestimmtheit in die sich ausbildenden Abtheilungen, wodurch es schliesslich zur Entstehung von zusammengesetzten Staatsbehörden kam, denen gewählte Häuptlinge vor- standen. Und dass dies wirklich in jenen frühesten Stadien der Fall war, von denen wir nur dunkle Kunde haben, geht daraus hervor, dass ein ähnlicher, obgleich etwas schärfer ausgeprägter Process später in Florenz ablief, als die Herrschaft des Adels gestürzt wurde. Bestimmte Berichte erzählen uns, dass im Jahre 1250 »die Bürger sich zu gleicher Zeit auf dem Platz von Santa Croce versammelten; sie theilten sich in fünfzig Gruppen, von denen eine jede ihren Hauptmann wählte, und so bildeten sie Kriegsgenossenschaften; der Rath dieser Offiziere war die erstgeborene Autorität dieser neu auflebenden Repu- blik«. Offenbar musste jene Obergewalt des Volkes, welche eine Zeit lang diese kleinen Gemeinwesen charakterisirte, mit Nothwendigkeit hervortreten, wenn die Staatsform aus der ursprünglichen öffentlichen Versammlung emporwuchs, während ihre Entstehung nicht wahr- scheinlich wäre, wenn die Staatsform künstlich von einer begrenzten Ülasse ausgedacht worden sein würde. Dass diese Auffassung mit den That- sachen, welche die neueren Zeiten uns darbieten, vollständig übereinstimmt, 304 braucht kaum besonders nachgewiesen zu werden. In ungemein viel grösserem Maassstabe und in mannichfach ab- wechselnder Weise, ‚hier in Folge des allmählichen Zusammensinkens eines alten Rögime und dort in Folge der Vereinigung zu Kriegszwecken, haben uns doch die Entstehung der ersten französischen Republik und der ameri- kanischen Republik gleichfalls diese Tendenz zur Wiederaufnahme der pri- mitiven Form staatlicher Organisation gezeigt, wo immer eine im Zerfall be- griffene oder sonstwie unfähige Re- gierungsform abgeschafft wird. Wie sehr auch diese Umformungen durch com- plicirende Umstände und besondere Zu- fälligkeiten verdunkelt werden, wir kön- nen doch deutlich das Spiel derselben allgemeinen Ursachen in ihnen wieder- erkennen. Wir haben im letzten Capitel ge- sehen, dass je nach den Verhältnissen das erste Element des dreieinigen Staats- gebildes sich in verschiedenem Grade vom zweiten differenziren kann — dass es mit dem Kriegshäuptling beginnt, der nur wenig über den andern Krie- gern steht, und mit dem göttlichen und absolutenKönig endigt, der schon durch einen weiten Abstand von den ihn zu- nächst umgebenden wenigen Auserwähl- .ten getrennt ist. Durch die vorher- gehenden Beispiele werden wir belehrt, dass auch das zweite Element je nach den Verhältnissen in verschiedenem Grade vom dritten sich differenzirt: am einen Extrem unterscheidet es sich von demselben qualitativ in hohem Maasse und ist es durch eine unüberschreitbare Schranke von ihm getrennt; am andern Extrem geht es nahezu vollständig in demselben auf. Damit werden wir nun auf die gleich zu besprechende Thatsache übergeleitet, dass nämlich die äusseren Verhältnisse nicht allein die verschiedenen Formen, welche die zusammengesetzten Regier- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ungen annehmen, sondern auch die mannichfachen Veränderungen bedingen, denen sie unterworfen sind. Es gibt zwei wesentliche Arten solcher Ver- änderungen — diejenigen, durch welche die zusammengesetzte Regierung in eine weniger volksthümliche, und diejenige, durch welche sie in eine volksthüm- lichere Form übergeht. Wir wollen die- selben in dieser Reihenfolge betrachten. Die fortschreitende Einschränkung der zusammengesetzten Regierung war eine der Begleiterscheinungen der fort- dauernden kriegerischen Thätigkeit. Hal- ten wir uns zunächst an das Beispiel von Sparta, dessen Verfassung in ihrer frühesten Form nur wenig von derjenigen abwich, welche nach den Zeugnissen der Ilias bei den Griechen des home- rischen Zeitalters existirte, so sehen wir in erster Linie die Tendenz zur Concentrirung der Gewalt in der ein Jahrhundert nach Lykurg aufgestellten Bestimmung hervortreten, dass, »falls das Volk eine verkehrte Entscheidung treffen sollte, der Senat mit den Kö- nigen zusammen diese Entscheidung um- zustürzen habe«. Und dann sehen wir, dass später in Folge des Zusammen- strömens von Reichthümern in den Hän- den Weniger »die Zahl der stimm- berechtigten Bürger fortwährend sich verminderte«, wovon dann die Folge war, dass nicht allein die Oligarchie eine verhältnissmässig immer grössere Macht erhielt, sondern wahrscheinlich auch die reicheren Mitglieder innerhalb der Oli- garchie selbst eine immer grössere Ueber- legenheit gewannen. Wenden wir uns dann nach Rom, das mit beständigen Kriegen beschäftigt war, so finden wir, dass im Laufe der Zeiten die Ungleich- heit bis zu dem Grade sich steigerte, dass der Senat »zu einer Versammlung von Herren wurde, die ihre Stellung durch erbliche Nachfolge einnahmen und eine gemeinsame Missregierung führten; « dann aber »erhob sich aus dem Uebel der Oligarchie das noch schlimmere Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Uebel der Usurpation der Gewalt durch einzelne Familien«. In den italienischen Republiken, die gleichfalls beständig mit einander im Kriege lagen, ergab sich eine ähnliche Verkleinerung des regierenden Körpers. Der Adel verliess seine Schlösser und begann >»die Re- gierungsgewalt in den Städten an sich zu reissen, welche in Folge dessen wäh- rend dieser Periode der Republiken vor- zugsweise in die Hand der höchsten Familien geriethen«. In einem späteren Stadium sodann, als der Fortschritt der Gewerbe reiche Handelsclassen geschaf- fen hatte, wiederholten diese, nachdem sie im Wettstreite mit den Adeligen- um die Gewalt diese schliesslich daraus verdrängt hatten, innerhalb ihres eige- nen Aggregats den gleichen Vorgang. Die reicheren Gilden beraubten die är- meren ihres Antheils an der Wahl der Regierungsbehörden; die privilegirte Classe wurde durch das Stimmrecht be- schränkende Gesetze immer mehr ver- kleinert; alle neu aufkommenden Fa- milien wurden von den lange herrschen- den ausgeschlossen. In der That waren, wie Sısmoxpı darlegt, diejenigen unter den zahlreichen italienischen Republiken, welche am Schlusse des fünfzehnten Jahrhunderts überhaupt noch dem Na- men nach solche geblieben waren, gleich »Siena und Lucca jeweils von einer einzigen Kaste von Bürgern regiert..... und sie besassen keine volksthümliche Regierung mehr«. Ein ähnliches Resul- tat war bei den Holländern zu beob- achten. Während der Kriege der flämi- schen Städte mit den Adeligen und mit einander wurde die relativ volksthüm- liche Regierung der Städte eingeschränkt. Die grösseren Gilden schlossen die klei- neren vom regierenden Körper aus und ihre Mitglieder, >in den Amtspurpur gekleidet,. „......... herrschten. mit der Macht einer Aristokratie...... Die lo- cale Regierung war oft eine Oligarchie, während der Geist der Bürger ausser- ordentlich demokratisch war«. Und hier 305 schliesst sich auch noch das Beispiel an, welches uns jene Schweizer-Cantone zeigen, deren physikalischer Charakter der individuellen Unabhängigkeit weni- ger günstig war und die zu gleicher Zeit mit Vorliebe sowohl Angriffs- als Vertheidigungskriege führten. Bern, Lu- zern, Freiburg und Solothurn erlangten allmählich eine in hohem Grade oli- garchisch gefärbte Verfassung; in »Bern aber, wo die adligen Geschlechter stets einen überwiegenden Einfluss behauptet hatten, war schliesslich die gesammte Verwaltung in die Hände einiger weni- ger Familien gerathen, innerhalb deren sie erblich geworden war«. Sodann haben wir als eine andere Ursache der fortschreitenden Umwand- lung von zusammengesetzten Regier- ungen zu erwähnen, dass sie gleich dem einfachen Oberhaupt der Unterjochung durch ihre Verwaltungswerkzeuge aus- gesetzt sind. In erster Linie ist ein Beispiel zu nennen, in welchem dieser Erfolg gleichzeitig mit dem letzterwähn- ten zusammen eintrat, nämlich Sparta. Die Ephoren, welche ursprünglich vom König ernannt wurden, um bestimmte Obliegenheiten zu erfüllen, machten sich zunächst die Könige unterthan und brachten später auch den Senat unter ihre Botmässigkeit, so dass sie im we- sentlichen die Herrscher wurden. Von da können wir z. B. zu Venedig über- gehen, wo die Gewalt, einstmals vom Volke ausgeübt, allmählich in die Hände eines Executivkörpers überging, dessen Mitglieder in der Regel wiedergewählt und nach ihrem Tode von ihren Kin- dern ersetzt wurden, so dass daraus eine Aristokratie entstand, aus der sich schliesslich der Rath der Zehn ent- wickelte, welche gleich den spartani- schen Ephoren »die Obliegenheit hatten, über der Sicherheit des Staates zu wachen, und mit einer über dem Ge- setze stehenden Macht bekleidet waren«, und welche somit, »von keinem Gesetze eingeschränkt«, die thatsächliche Herr- 306 schaft inHänden hatten. Während seiner zahlreichen Revolutionen und Verfass- ungsänderungen zeigt auch Florenz stets ein gleiches Bestreben. Die ernannten Verwaltungsbehörden, bald die Signoria, bald die Prioren, setzten sich während ihrer Amtsdauer in den Stand, ihre eigenen Ziele selbst soweit zu verfolgen, dass sie die Verfassung aufheben konn- ten: sie erlangten die erzwungene Zu- stimmung des versammelten Volkes, das mit Bewaffneten umgeben wurde. Und schliesslich wurde der oberste Executiv- beamte, der dem Namen nach von Zeit zu Zeit wiedererwählt wurde, that- sächlich aber lebenslänglich eingesetzt war, in der Person von Cosmo di Me- diei zum Begründer einer erblichen Herrschaft. Immerhin aber ist die zusammenge- setzteStaatsregierung viel weniger der Ge- fahr ausgesetzt, unter die Botmässigkeit ihrer bürgerlichen, als unter die ihrer militärischen Werkzeuge zu gerathen. Seit den ältesten Zeiten ist letztere Erscheinung beobachtet und vielfach be- sprochen worden, und so bekannt sie auch ist, so muss ich dieselbe hier doch noch beleuchten und besonders hervor- heben, weil sie für eine der Haupt- wahrheiten der Staatstheorie eine un- mittelbare Bedeutung hat. Beginnen wir mit den Griechen, so bemerken wir zunächst, dass die Tyrannen, welche so oft Oligarchien gestürzt haben, stets eine bewaffnete Macht zu ihrer Ver- fügung hatten. Entweder war der Ty- rann »die Executivbehörde, welcher von Seiten der Oligarchen selbst wichtige Verwaltungsbefugnisse übertragen wor- den waren«, oder er war ein Demagoge, welcher die Interessen des Gemeinwesens zu vertreten behauptete, »um sich mit bewaffneten Vertheidigern zu umgeben<; — in jedem Falle aber waren Krieger die Werkzeuge seiner Usurpation. Das- selbe pflegt zweitens sehr oft der sieg- reiche Feldherr zu unternehmen. Wie MaccHsavEuLı von den Römern bemerkt: Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. „Denn in je weitere Ferne sie (die Ge- neräle) ihre Waffen trugen, desto nothwen- diger erschienen solche Verlängerungen (ihrer Vollmachten) und um so gebräuchlicher wur- den sie, und so kam es einmal, dass nur wenige ihrer Mitbürger zur Befehligung von Armeen verwandt werden konnten und da- her auch nur wenige im stande waren, einen irgend erheblichen Grad von Erfahrung und Kriegsruhm zu erwerben; und zweitens be- kam ein Oberbefehlshaber, indem er lange Zeit diesen Posten bekleidete, dadurch die beste Gelegenheit, seine Soldaten derart zu verführen, dass sie dem Senat vollständig den Gehorsam verweigerten und keine andere Autorität als die ihres Feldherrn anerkannten. Darauf beruhte es, dass Sylla und Marius die Mittel fanden, ihre Heere abtrünnig zu machen und sie gegen ihr eigenes Land in den Kampf zu führen, und dass Julius Caesar sich zum Alleinherrscher in Rom aufzu- schwingen vermochte.“ Die italienischen Republiken bieten uns abermals zahlreiche Beispiele dar. Im Beginn des vierzehnten Jahrhunderts »unterwarfen sich diejenigen in der Lom- bardei sämmtlich der Militärmacht eini- ger Adliger, denen sie den Oberbefehl über ihre Streitkräfte anvertraut hatten, und gingen alle auf diese Weise ihrer Freiheiten verlustig«e. Auch spätere Zeiten und näher gelegene Länder lie- fern ähnliche Fälle. Bei uns zeigte Crom- well, wie der siegreiche Feldherr ein Autokrat zu werden geneigt ist. In den Niederlanden wiederholt sich dieselbe Erscheinung bei den Van Arteveldes, Vater und Sohn, und später nochmals bei Moritz von Nassau, und wäre es nicht der Form wegen, so brauchten wir wahrlich Napoleon gar nicht erst zu nennen. Es ist ferner zu beachten, dass der Kriegsheld nicht blos durch den Befehl über das Heer in den Stand gesetzt wird, die höchste Gewalt an sich zu reissen, sondern dass auch die errungene Popularität, ganz besonders in einer kriegerischen Nation, ihm die Verfolgung seiner eigenen Pläne ver- hältnissmässig leicht macht. Weder ihre eigenen Erfahrungen noch diejenigen anderer Nationen in früheren Zeiten haben die Franzosen daran zu verhin- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. dern vermocht, dass sie kürzlich den Marschall Mac Mahon zum Oberhaupt der Executivgewalt erhoben, und selbst die Amerikaner haben, indem sie den General Grant mehr als einmal zum Präsidenten erwählten, dadurch bewie- sen, dass, so vorwiegend industriell auch ihre Gesellschaft ist, die krieger- ische Thätigkeit doch auch hier rasch den Anfang eines Uebergangs zum krie- gerischen Typus hervorgerufen hat, dessen wesentlichster Zug eben in der Vereinigung von bürgerlicher und mili- tärischer Herrschaft liegt. Von den Einflüssen, welche zusammen- gesetzte Regierungen zu vermindern oder in die Einzelherrschaft überzuführen streben, wollen wir uns nun zu denen wenden, welche sie zu erweitern geeig- net sind. Hier drängt sich uns natür- lich vor allem die Erinnerung an Athen auf. Um diesen Fall richtig zu ver- stehen, müssen wir bedenken, dass bis zu Solon’s Zeiten eine demokratische Regierung nirgends in Griechenland be- stand. Die einzigen bekannten Formen waren ÖOligarchie und Despotie, und soviel ist gewiss, dass in jenen alten Zeiten, lange bevor man über die Staats- einrichtungen überhaupt zu speculiren begonnen hatte, nicht etwa eine Ge- sellschaftsform theoretisch aufgestellt worden ist, die in der Praxis noch ganz unbekannt war. Wir haben uns daher vor allem von der Meinung fern zu halten, dass die volksthümliche Regier- ung in Athen unter der Leitung irgend einer vorgefassten Idee aufgekommen sei. In demselben Sinne ist ferner bei- zufügen, dass — da Athen bis dahin von einer Öligarchie regiert wurde — die Solonische Gesetzgebung zunächst nur bezweckte, die Oligarchie zu mil- dern und zu erweitern und schreiende Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Fragen wir nun nach den Ursachen, welche durch Solon wirksam waren und zu- gleich die von ihm angebahnte Reor- ganisation ausführbar machten, so finden | schaft bestanden hatten. 307 wir, dass dieselben in den directen und indirecten Einflüssen des Handels liegen. GrorE betont ausdrücklich »das Be- streben sowohl von Solon als von Drako, unter ihren Mitbürgern Gewerbfleiss und eine auf den eigenen Unterhalt gerich- tete Thätigkeit anzuregen« — ein Be- weis, dass schon vor Solon’s Zeiten in Attika nur wenig oder gar keine Ab- neigung gegen »sesshafte Industrie herrschte, welche in den meisten üb- rigen Theilen von Griechenland für ver- hältnissmässig unehrenhaft galt«. Ueber- dies war Solon selbst in jüngeren Jahren Kaufmannund seine Gesetzgebung »schuf den Kaufleuten und Handwerkern in Athen eine neue Heimat, was die erste Ermuthigung zur Ansiedlung jener zahl- reichen Stadtbevölkerung sowohl in Athen. selbst als im Piräeus gab, die wir im nächstfolgenden Jahrhundert thatsächlich dort vorfinden«. Die Ein- wanderer, welche um der grösseren Sicherheit willen nach Attika zusammen- strömten, suchte Solon eher zur Gewerbs- thätigkeit als zur Bearbeitung eines von Natur armen Bodens zu veranlassen, und eine Folge davon war »das Auf- geben der ursprünglichen Neigungen des Atticismus, welche mehr auf das Leben auf eigenem Grund und Boden und auf ländliche Beschäftigungen ge- richtet waren«; anderseits wurde da- durch die Zahl derjenigen vermehrt, welche ausserhalb jener Abtheilungen der Familien und Phratrien standen, die im Zusammenhang mit dem patriarchal- ischen Typus und der persönlichen Herr- Auch die von Solon eingeführten Verfassungsänderun- gen zielten in den wesentlichsten Punk- ten auf eine industrielle Organisation ab. Die Einführung der Einschätzung in die Classen nach dem Besitz statt nach der Geburt verringerte die Starr- heit der Staatsform, indem nun der Erwerb von Reichthum durch Industrie oder sonstige Mittel es ermöglichte, | unter die Oligarchen oder andere Pri- 308 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. vilegirte aufgenommen zu werden. Da- | anzuerkennen, zugleich aber seine eige- durch, dass er die Selbstverpfändung des Schuldners verbot und diejenigen freiliess, welche auf diese Weise in Sclaverei gerathen waren, trugen seine Gesetze wesentlich zur Vergrösserung der Freigelassenenclasse im Gegensatz zur Sclavenclasse bei. Anderseits ver- hinderte diese Aenderung, während sie billige Verpflichtungen unangetastet liess, alle jene unbilligen Verpflichtungen, wo- nach ein Mensch sich selbst zum Pfand setzen konnte und dadurch mehr als ein Aequivalent der geborgten Summe dahingab. Und während so die Fälle sich verminderten, wo ein Verhältniss von Herr zum Sclaven bestand, wur- den zugleich die Fälle vermehrt, wo Vortheile nach gegenseitiger Ueberein- kunft ausgetauscht wurden. Indem das Odium, welches dem Ausleihen von Geld auf Zinsen anklebte, das mit der Scla- verei des Schuldners endigte, allmählich verschwand, wurde das gesetzmässige Geldausleihen allgemein ohne Widerrede üblich; die Höhe des Zinsfusses war freigegeben und das angehäufte Capi- tal wurde verwerthbar. Als mitwirkende Ursache und zugleich stets zuneh- mende Folgeerscheinung kam dazu das Wachsthum einer Bevölkerung, welche unter das gemeinsame Handeln begün- stigenden Bedingungen lebte. Stadtbe- wohner kommen täglich mit einander in Berührung, können ihre Ideen und Gefühle gegenseitig austauschen, lassen sich durch rasch verbreitete Kunde schnell zusammenberufen und vermögen daher auch viel leichter zusammenzu- wirken als eine in ländlichen Bezirken zerstreute Bevölkerung. Neben all diesen directen und indirecten Folgen der in- dustriellen Entwicklung darf auch die schliessliche Einwirkung auf den Cha- rakter nicht vergessen werden, welche durch tägliche Erfüllung und Ueber- nahme von bestimmten Verpflichtungen hervorgerufen wird — eine Schulung, die Jeden lehrt, die Rechte Anderer nen gehörig zu behaupten. Solon selbst gab ein schönes Beispiel dieses Ver- haltens, das Aufrechterhaltung der per- sönlichen Rechte mit Achtung vor den Rechten Anderer verbindet; denn als sein Einfluss am grössten war, weigerte er sich doch, obwohl er dazu gedrängt wurde, ein Despot zu werden; in seinem späteren Alter aber widersetzte er sich unter Lebensgefahr der Einsetzung einer Despotie. Auf verschiedene Weise also strebte die zunehmende industrielle Thätigkeit die ursprüngliche oligar- chische Form zu erweitern und eine mehr volksthümliche Form in’s Leben zu rufen. Und obgleich diese Wirk- ungen des Industrialismus verbunden mit nachträglich sich anhäufenden an- deren Folgen dann lange Zeit durch die Usurpation der Pisistratiden unter- drückt wurden, so traten sie doch sofort wieder zu Tage, als einige Zeit nach der Vertreibung dieser Tyrannen die Revolution des Kleisthenes erfolgte, und trugen zweifellos wesentlich dazu bei, dass nuneine volksthümliche Regierungs- form eingeführt wurde. Dieselben Ursachen waren, wenn auch in etwas geringerem Grade, bei der freiheitlicheren Gestaltung und Er- weiterung der römischen Öligarchie thä- tig. Rom »verdankt den Anfang seiner Bedeutung dem internationalen Handel«, und wie Mommsen bemerkt, »muss der Unterschied zwischen Rom und der Masse der übrigen latinischen Städte jedenfalls auf seine commercielle Lage und auf den durch ietztere erzeugten Typus des Charakters zurückgeführt werden . Rom war das Emporium der Latinischen Gauen«. Ueberdies brachte der Han- del wie in Athen, obgleich sicherlich in geringerem Umfang, eine stets zu- nehmende Ansiedlung von Fremden mit sich, denen Rechte verliehen wurden und die zusammen mit freigelassenen Sclaven und mit Clienten, die nicht so fest an ihre Patrone gefesselt waren, Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. eine industrielle Bevölkerung bildeten, deren schliessliche Aufnahme in die Bürgerschaft den Anlass zu jener Er- weiterung der ganzen Verfassung gab, welche von Servius Tullius durchgeführt wurde. Die italienischen Republiken der späteren Jahrhunderte zeigen uns gleich- falls in zahlreichen Fällen diesen Zu- sammenhang zwischen Handelsthätig- keit und einer freieren Regierungsform. Die italienischen Städte waren sämmt- lich Mittelpunkte der Industrie. „Die Kaufleute von Genua, Pisa, Florenz und Venedig versorgten ganz Europa mit den Erzeugnissen der Mittelmeerländer und. des Orients; die Bankiers der Lombardei weihten die Welt in die Geheimnisse der Finanzwissenschaft und des fremden W echsel- verkehrs ein; italienische Künstler unter- wiesen die Handwerker anderer Länder in der höchsten Kunst der Bearbeitung von Stahl, Eisen, Bronze, Seide, Glas, Porzellan und Edelsteinen. Die italienischen Läden erregten mit ihrer blendenden Schaustellung von Luxusgegenständen die Bewunderung und den Neid der Fremden aus minder be- günstigten Ländern.“ Und blicken wir nun in ihre Ge- schichte, so finden wir, dass Handwerker- gilden die Grundlage ihrer staatlichen Organisation bildeten, dass die höheren Kaufmannsclassen die Herrschaft führten, manchmal unter strenger Ausschliessung des Adels, und dass zwar äussere Kriege und innere Zwistigkeiten beständig wie- der eine engere oder mehr persönliche Regierungsform ins Leben zu rufen strebten, aber die von Zeit zu Zeit stattfindenden Revolutionen der gewerb- treibenden Bürger die volksthümliche Herrschaft wiederherstellten. Bringen wir nun damit denselben allgemeinen Zusammenhang, der sich auch in den Niederlanden und den Hansestädten ausprägte, in Verbindung — erinnern wir uns der freiheitlichen Gestaltung unserer eigenen Staatsver- fassung, welche stets mit dem Auf- schwung des Industrialismus Hand in Hand ging — beachten wir, dass die Städte mehr als das Land und die grossen 309 industriellen Mittelpunkte mehr als die kleinen den Anstoss zu solchen Ver- änderungen gegeben haben — so kann es uns nicht länger zweifelhaft bleiben, dass eine zusammengesetzte Regierung, während ihr Umfang durch eine Steige- rung der kriegerischen Thätigkeiten ab- nimmt, in demselben Maasse sich er- weitert, als die industriellen Thätigkeiten vorherrschend werden. Ebenso wie die in früheren Capiteln erreichten Resultate zeigen auch die Ergebnisse des vorliegenden Capitels, dass der Typus der staatlichen Organi- sation nicht eine Sache der freien Wahl ist. Man pflegt sich gewöhnlich so auszudrücken, als ob eine Gesellschaft sich zu einer bestimmten Zeit für die Regierungsform entschieden hätte, welche nachher dort bestand. Selbst GRroTE setzt in seiner Vergleichung zwischen den Einrichtungen des alten Griechen- lands und denen des mittelalterlichen Europa (Vol. II, S. 10—12) still- schweigend voraus, dass eine Vorstell- ung von den Vortheilen oder Nach- theilen dieser oder jener Einrichtung das Motiv zur Einführung oder Aufrecht- erhaltung derselben gebildethabe. Allein die Thatsachen, wie sie in den vorher- gehenden Paragraphen zusammengestellt sind, zeigen uns, dass bei der Ent- stehung von zusammengesetzten nicht minder wie von einfachen Regierungen die Verhältnisse und nicht die Absichten den Ausschlag geben. Allerdings war einzuräumen, dass Unabhängigkeit des Charakters ein we- sentlicher Factor ist, aber wir schrieben diese Unabhängigkeit des Charakters dem andauernden Aufenthalteines Volkes in einem Wohngebiete zu, das die Flucht vor jedem Zwang erleichtert, und sahen nun, dass, wo eine solche Natur unter solchen Bedingungen entstanden ist, das Zusammenwirken im Kriege eine auf Gleichberechtigung begründete Vereini- sung zahlreicher Gruppen veranlasst, 310 deren Oberhäupter zur Bildung einer lei- tenden Versammlung zusammentreten. Und jenachdem die einzelnen Gruppen selbst mehr oder weniger autokratisch re- giert werden, zeigt auch die leitende Ver- sammlung einenmehr oder weniger oligar- chischen Charakter. Wir haben gefun- den, dass in Ländern, die soweit von einander abweichen wie Berggegenden, Marschen oder Schlamminseln und Dschungeln, Völker von ganz verschie- dener Race Regierungen von derselben zusammengesetzten Art zur Entwick- lung gebracht haben. Und beachten wir, dass diese sonst so verschiedenartigen Gebiete darin übereinstimmen, dass sie jeweils aus schwer zugänglichen Theilen bestehen, so können wir nicht mehr be- zweifeln, dass auf diesem Umstand vor- zugsweise die Regierungsform beruht, un- ter welcher ihre Bewohner vereinigt sind. Ausser den zusammengesetzten Re- gierungen, welche in der erläuterten Weise an den sie begünstigenden Oert- lichkeiten einheimisch sind, gibt es noch andere ähnlicher Art, die nach dem Zer- fall früherer staatlicher Organisationen auftreten. Dieselben kommen insbeson- dere da vor, wo die Bevölkerung nicht über einen weiten Bezirk zerstreut, son- dern in einer Stadt concentrirt ist und sich leicht an einem Ort zusammenfin- den kann. Ist in solchen Fällen jeder Zwang beseitigt, so kann es vorkommen, dass der Wille des Aggregats freies Spiel erhält und sich eine Zeit lang Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. jene verhältnissmässig volksthümliche Form ausbildet, mit der überhaupt jede Regierung anfängt; allein mehr oder. weniger regelmässig differenziren sich dann aus der grossen Menge wenige Höhere und unter diesen herrschenden Männern erlangt dann gewöhnlich Einer auf directem oder indirectem Wege das Uebergewicht. Zusammengesetzte Regierungen neh- men im Laufe der Zeit meistens ent- weder an Umfang ab oder zu. Sie ver- mindern sich durch kriegerische Ver- hältnisse, welche beständig die leitende Macht in den Händen Weniger zu con- centriren streben und sie bei längerer Dauer fast unfehlbar in eine Einzel- herrschaft überführen. Umgekehrt wer- den sie durch Industrialismus erweitert. Dieser wirkt anziehend auf Angehörige fremder Gemeinwesen, welche sich den durch patriarchalische, feudale und an- dere ähnliche Organisationen ihnen auf- erlegten Beschränkungen entzogen ha- ben; er vermehrt die Zahl der Re- gierten im Vergleich zu der Zahl der Regierenden; er bringt diese grössere An- zahl in Verhältnisse, welche vereinte Thätigkeit begünstigen; er setzt an Stelle des täglich von neuem zu er- zwingenden Gehorsams die tägliche Er- füllung freiwillig übernommener Ver- pflichtungen und die tägliche Aufrecht- erhaltung persönlicher Rechte und strebt also immer mehr die Gleichberechtigung in der Bürgerschaft herzustellen. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Grenzen unserer Wahrnehmungen im Himmelsraume. Einem Vortrage, welchen der Direc- tor der Berliner Sternwarte, Professor Dr. FÖRSTER, über diesen Gegenstand am 26. Februar 1381 im dortigen »wis- senschaftlichen Verein< gehalten hat, entnehmen wir folgende Einzelnheiten. Unter dem Ausdrucke »Himmelsraum« würden wir dabei denjenigen Raum zu verstehen haben, der sich jenseits der Grenze unserer Atmosphäre befindet, und unter dieser »Atmosphäre« die- jenige Umgebung der Erde, welche noch an den Bewegungen derselben Theil nimmt. Daraus ergiebt sich schon, dass durch die Beweglichkeit der Grenze Er- scheinungen im Himmelsraum, die uns ferner lagen, in grössere Nähe gerückt werden können, was auch thatsächlich durch die Schwärme der kleinen Meteore erwiesen ist, deren Bahn die Erde perio- disch zu durchkreuzen hat. Obschon diese Erscheinungen erhebliche Beiträge für unsere Kenntniss des Himmelsraums liefern, bietet die Wahrnehmung, welche durch die Fernwirkung ermöglicht wird, eine reichere Ausbeute. Den einen Theil des Problems löst das physikalische Ge- setz der Anziehungskraft, das in der Ebbe und Fluth des Meeres so zu sagen greifbar in die Erscheinung tritt und mit der elektrischen und magnetischen Kraft in Beziehung steht, den anderen Theil löst die Fernwirkung des Lichts, mit der wir stufenweis in die Unermess- lichkeit des Raums vordringen. Durch diese Fernwirkungen sind die Grenzen unserer Wahrnehmungen bedingt, und dieselben hängen demnach auch von der Vervollkommnung der Hilfsmittel ab, deren wir uns bedienen können. Nun würde ein normales Auge im Stande sein, bei vollkommener Durchsichtigkeit der Atmosphäre den Abstand zweier Sterne noch zu unterscheiden, wenn deren scheinbare Entfernung von ein- ander auch nur den dreissigsten Theil des scheinbaren Durchmessers der Mond- scheibe betrüge. In der Atmosphäre, wie sie wirklich ist, darf indessen der Abstand nur ein Zehntel dieses Durch- messers betragen, sonst fliessen die ge- trennten Erscheinungen in einander. An dieser Thatsache, bei der auch eine Eigenthümlichkeit des Auges in der un- bewussten Bewegung des Bildes der Netzhaut mitwirkt, muss man festhalten, wenn man das unermessliche Feld wür- digen will, was uns die Fernröhre er- schlossen haben. Wenn das unbewaff- nete Auge Abstände vom zehnten Theil der Mondscheibe im Himmelsraum un- terscheiden kann, so wird man mit einem Fernrohr von tausendfacher Ver- grösserung an der Mondscheibe, die einen wirklichen Durchmesser von 450 geographischen Meilen hat, trotz ihrer grossen Entfernung von der Erde, noch Punkte unterscheiden können, die nur 90 Meter von einander abstehen. Von 312 einzelnen Orten der Erde, die für die Beobachtung besonders günstige Ver- hältnisse bieten, dürfte es sogar mög- lich sein, die Unterscheidung auf noch geringere Abstände sicherzustellen. In- dessen liefern schon die Abstände von 100 Metern ein so reiches Material, dass Jahrzehnte erforderlich sein wer- den, um alle Beobachtungen zu regi- striren. Gegenwärtig ist erst der An- fang einer topographischen Aufnahme der Mondoberfläche gemacht, für die, beiläufig bemerkt, die eigenartige Licht- und Schattenwirkung, die auf dem Monde beobachtet wird, ein wesentliches Hilfs- mittel bietet. Begeben wir uns in eine grössere Ferne des Himmelsraumes, so begegnen wir unseren Nachbarplaneten Venus und Mars, von denen die erstere 120 Mal, der letztere.150 Mal so weit von uns entfernt ist, als die mittlere Entfernung des Mondes beträgt. Unter denselben Voraussetzungen würden auf der Venus Abstände von 12,000, auf dem Mars Abstände von 15,000 Metern zu unterscheiden sein. Bei dem Abstand der Sonne von unserer Erde würden erst Entfernungen von 40,000 Metern die Möglichkeit der Unterscheidung bie- ten. Was die Venus anbetrifft, so sind bisher wenig Einzelnheiten entdeckt, nur Thalsenkungen sind nachweisbar, dagegen ist es gelungen, von der Mars- oberfläche detaillirte Karten herzustellen. Mit der Sonne beginnt schon der Ma- krokosmos und es ist unnöthig, auf wei- tere Entfernungen zu exemplificiren. Wenn nun gefragt wird, wie gross ein leuchtendes Objekt sein müsse, um im Himmelsraum erkennbar zu sein, so giebt es nach dieser Richtung keine Grenze; es kommt alles auf die Stärke des Lichts an, das uns noch in völlig gestaltloser Wahrnehmung zugeführt * Wir möchten hier zur Ergänzung unserer neulichen Mittheilung über die Pho- tographie der Nebelflecke (Kosmos IX, S. 135) die Mittheilung anschliessen, dass es nach einer der Pariser Akademie am 18. April ce. [} Kleinere Mittheilungen und Journalschau. werden kann. Die Monde des Mars werden aufeinen Durchmesser von 9000 Meter geschätzt und diese Schätzung resultirt lediglich aus einer Messung der Lichtmengen, die sich aus der Ver- gleichung der Intensität der Reflexe ergiebt, welche das Sonnenlicht unter gleicher Voraussetzung auf dem Planeten Mars wie auf seinen Monden erzeugt. In ähnlicher Art schätzt man die Grösse der Asteroiden, an denen die Messung des Reflexlichtes zeigt, dass der Durch- messer der meisten nur wenige Meilen betragenkann. Auf weitere Entfernungen hin beschränken sich die Wahrneh- mungen auf die Lichtintensivität und auf die Schlüsse, die aus der Verän- derung und Zusammensetzung des Licht- stoffes auf die Entwickelung und Ge- staltung und auf die Struktur der Sternsysteme sich ziehen lassen. Das führt uns zu den Nebelflecken, welche die fernsten Himmelsräume erfüllen, theils wie chaotische Wolkenmassen, theils in Strukturen, die das Vorhan- densein von Spiraldrehungen in unge- heurer Stärke und von einer Geschwin- digkeit anzeigen, welche Alles, was uns bekannt ist, unermesslich übersteigen. Es gehören Monate dazu, um auch nur die kleinste Veränderung erkennbar zu machen. Man hat bei diesen Nebel- flecken den Eindruck, als ob eine in schnellster Bewegung befindliche Masse plötzlich erstarrt sei. Eine sofortige und unmittelbare Veränderung der Be- wegung ist völlig ausgeschlossen. Um die Erforschung dieses fernsten Himmels- raums hat sich die Spektralanalyse ver- dient gemacht, merkwürdiger Weise sind auch trotz des schwachen Lichts mit der photographischen Aufnahme nicht ungünstige Versuche angestellt worden *. Schliesslich werden noch einige Bemerk- eingegangenen Mittheilung von H. Draper demselben durch eine Exposition von hundert- undvierzig Minuten gelungen ist, Sterne im Nebel des Orions zu photographiren, deren Grösse 14,1, 14,2 und 14,7 nach der Poyson’- Kleinere Mittheilungen und Journalschaun. ungen über den Zustand unserer Atmo- sphäre von Interesse sein. Wir haben in derselben warme und kalte Strö- mungen, die über einander liegen und Schwankungen erzeugen, welche von den Astronomen als »Unruhe der Luft« be- zeichnet werden und nicht mit den Windströmungen verwechselt werden dürfen, denn diese mechanische Bewegung kann unter Umständen der Beobachtung sogar förderlich sein. In unserem Klima giebt es in der Ebene und auf nie- drigen Bergpartien nur wenige Nächte, in denen die Wirkung des Fernrohrs keiner Störung ausgesetzt ist. Am günstigsten für die astronomische Be- obachtung sind die an der Grenze der heissen Zone liegenden Länder situirt, vornämlich die Küsten des Mittelländi- schen Meeres. Diese Ungunst darf uns indessen nicht bestimmen, auf die Con- currenz zu verzichten. Im Uebrigen aber liegt bereits, selbst wenn die Beobach- tung des Himmelsraumes nicht mehr ansehnlich erweitert werden könnte, eine solche Fülle des Materials vor, dass auch der fernsten Zukunft ein schätz- bares Erbe hinterlassen werden kann. Trotzdem hat das Hinausstreben über die erreichte Grenze einen hohen Werth an sich; es befruchtet das Alte und schlägt von dem, was bekannt, Brücken nach weiteren Vorposten des Unermess- lichen. Und diese Thätigkeit an der orga- nisirten Schätzung des Weltalls wird Vielen, wenn nicht zum Beruf, so doch zur Lebensfreude gereichen können. Die ältesten Blüthenpflanzen. In den Sitzungen der Pariser Aka- demie vom 23. und 30. Mai 1881 leg- ten G. ps SarorrA und A. F. MArIıoN schen Stufenleiter beträgt. Die Photographie hat also hier Sterne wiedergegeben, welche auf der Grenze der Sichtbarkeit für das dabei angewendete Teleskop von neun Zoll stehen, und man darf beinahe hoffen, dass sie selbst Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 315 eine Arbeit vor über die fossilen Gat- tungen Williamsonia und Goniolina, wel- che für jetzt die ältesten Angiospermen darstellen, deren Fruktifikationsorgane aufgefunden worden sind. Der Stengel trägt bei Williamsonia an seiner Spitze die Reproduktions-Organe, unter denen man zwei verschiedene, ein diöcisches Gewächs andeutende Formen, unter- scheiden kann. Man bemerkt in beiden Fällen eine vielblättrige Hülle, welche durch die Krümmung der Brakteen, aus denen sie gebildet ist, kuglig er- scheint. Die Theile der männlichen Blüthen- hülle scheinen alle in derselben Höhe zu stehen, sie sind verlängert, an der Spitze verschmälert und neigen dort zusammen. In der Hülle erhebt sich eine kegelförmige Achse, deren Basis von einer kreisrunden Zone mit radia- len Streifungen umgeben ist. Der äus- sere Rand dieser Zone zeigt sich, wenn man ihn blos legt, mit einem Gefüge sehr kleiner Felder von unregelmässig hexagonem Umriss bedeckt, welche eben- sovielen Pollenzellen zu entsprechen scheinen. Diese Basilarzone würde einem sterilen und ausdauernden Theile des Androphorum entsprechen, bei welchem ehemals der gesammte kegelförmige Träger, mit einer filzigen Schicht, aus den Staubfäden und ihren Anhängseln bedeckt war, durch Stellung und Ver- theilung an die männlichen Blüthen der Rohrkolben (Typha) erinnernd. Der weibliche Blüthenstand von Williamsonia ist mit derselben kugel- förmigen Hülle, wie der männliche ver- sehen, nur sind seine Brakteen ein wenig kürzer. Das in dieser Hülle ent- haltene, bei der Reife sicher hinfällige Organ bestand in einem knäuelförmigen Receptaculum von mehr oder weniger Sterne, deren Lieht zu schwach ist, um in einem bestimmten Instrumente Eindruck auf unser Auge zu machen, bei hinreichend langer Exposition wiedergeben wird. 314 kugliger Form. Die centralen am Platze gebliebenen Blätter der Hülle bezeugen durch ihre Dieke und lederförmige Con- sistenz die primitive Natur dieser Bild- ung. In ihrer Mitte steht der kugel- förmige Blüthenboden der auf seinem obern Theile mit Carpell-Feldern be- deckt ist, und man erkennt an dem untern Theile des Receptaculums das fasrig holzige Gewebe, aus welchem die Achse gebildet war. Die Ueberreste der zweiten Gattung (Goniolina d’Orbigny) stellen eiförmige Körper in Form am obern Ende ab- gerundeter Zapfen dar, die von einem eylindrischen Stiel getragen werden. Die Oberfläche der Goniolinas ist mit in Spirallinien gestellten sechseckigen Fel- dern von völliger Regelmässigkeit be- deckt. Die Grösse dieser Felder ver- mindert sich an den der Insertion des Stieles näheren Stellen. Diese Fossile wurden früher zu den Echinodermen gerechnet und unter dem Namen Goniolina geometrica als Cri- noiden beschrieben. Wenn aber die Goniolinas wirkliche Crinoiden wären, so müsste sich ihr Stiel aus einer An- zahl von Gliedstücken zusammensetzen, und der Kelch würde durch weniger zahlreiche Platten gebildet werden, die ausserdem nicht in Spirallinien, sondern in alternirenden Querreihen angeordnet sein müssten. (Comptes Rendus 23. et 30. Mai 1881.) Westindische Tiefsee-Rrehse, Professor ALPHONSE MILNE-EDWARDS hat über die auf einer Expedition des nordamerikanischen Forschungsschiffes »Blake« gefangenen Dekapoden der Westindischen Tiefsee eine Reihe von Studien angestellt, über deren Re- sultate er in der Sitzung der Pariser Akademie vom 21. Februar 1881 einen summarischen Bericht vorlegte. (Comp- tes Rendus 1881, p. 384.) Wir ent- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. nehmen daraus folgende Einzelnheiten: Unter den neu gesammelten Tiefsee- formen des Antillenmeeres und mexi- kanischen Meerbusens befinden sich nicht weniger als 41 Species aus der Fami- lie der Galatheiden, von der man bis- her glaubte, sie sei in den amerikani- schen Gewässern gar nicht vertreten. Die meisten davon müssen unter neue Gattungen gebracht werden, nur je 2 und 11 Arten gehören zu den weit verbreiteten Gattungen Galathea und Munida. Die Galatheiden gehen bis zu grossen Tiefen herab, und aus mehr als 2000 Faden wurden Arten einer neuen Gattung (Galathodes) heraufge- zogen, deren Augen stark reducirt und nur noch unvollständig facettirt waren. Wahre Krabben kommen in sehr gros- sen Tiefen nicht vor; zahlreiche klei- nere Arten wurden bis ungefähr 250 Faden tief gefunden und bei ungefähr 400 Faden wurde eine neue Form, die mit der bekannten europäischen Gat- tung Gonoplax verwandt ist, gefunden. Dieses von MiuLn&-EpwArnps unter dem Namen Bathyplax beschriebene Thier ist blind, indem seine Augen atrophisch und der Facetten beraubt sind, selbst die Augenhöhlen sind rudimentär. Da- gegen wimmelt es in den grössern Tie- fen von Halbschwänzern und Lang- schwänzern. In ungefähr 1800 Faden war die merkwürdige Gattung Wille- moesia vertreten; ihre Arten sind an- scheinend sehr nahe den bekannten Eryon-Arten der jurassischen Schichten verwandt, aber die von MıLn£-EDwArDs untersuchten Tiefsee-Formen waren blind. Die interessantesten der neu gefundenen Krebs-Typen sind diejenigen, welche zu der Familie der Paguriden gehören, welche durch die bekannten Einsiedler- Krebse repräsentirt werden, die obwohl an Arten zahlreich, alle einander sehr ähnlich sind und keine Anzeichen einer Verwandtschaft mit den Langschwän- zern, d. h. mit Garneelen, Flusskrebsen oder Hummern darbieten. Bei den west- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. indischen Dreggungen schienen indessen solche Zwischenformen im Ueberflusse vorhanden zu sein. So wird z. B. Py- locheles Agassizii als ein Verbindungs- glied zwischen den Einsiedlerkrebsen und den Thalassiniden beschrieben ; das Abdomen ist, statt weich und unsymmetrisch wie bei den ersteren zu sein, aus festen, regelmässigen Ringen zusammengesetzt, und durch eine symmetrische Flosse begrenzt. | Dieses Thier lebt in Löchern, deren Eingang es mit seinen Scheeren ver- schliesst. Bei Mixtopagurus ist das Ab- domen mehr auf der rechten, als auf der linken Seite entwickelt, und in sie- ben Ringe getheilt, von denen die ersten fünf unvollkommen verkalkt, die letzten beiden aber gross und hart sind. Bei Ostraconotus ist das Kopfbrustschild lederartig und das Abdomen so klein, dass das Weibchen die Beine des vier- ten Paares braucht, um die Eier fest- zuhalten; der letzte Abschnitt ist hier- | bei allein zu einer Palette erweitert, | die den Eiern Raum gewährt. Spiüro- pagurus und Catapagurus haben ein sehr kleines, gewundenes Abdomen, welches die Thiere in kleinen Schneckenschalen unterbringen, wobei es sonderbar mit dem viel grösseren Kopfbruststück und den Beinen contrastirt, welche aussen bleiben. Eupaguwrus discoidalis bewohnt die röhrenförmigen Gehäuse von Den- talium, deren Mündung er mit seinen Scheeren schliesst. Xylopagurus bewohnt Löcher in Holzstücken, Rohr- und Bin- sen-Fragmenten. Die Höhlen sind an beiden Enden offen und der Kruster‘ betritt nicht, nach der Sitte der Ein- | siedlerkrebse, seine Wohnung mit dem Schwanz voran, sondern kriecht hinein und verschliesst die eine Oeffnung mit seinen Scheeren, und die andere mit dem Ende des Abdomen, welches zu einem Deckelschilde umgewandelt ist. Unter den Dromiiden finden sich zahl- reiche Formen, die zu Homola und seinen Verwandten hinüberneigen, und die Gat- 315 tung Homola selbst wird durch zwei Arten vertreten, von denen eine mit der Mittelmeer-Form H. spinifrons iden- tisch zu sein scheint, und ein schla- gendes Beispiel von der weiten Ver- breitung von Tiefsee-Thieren liefert. Die Gattung Cymopolia, von welcher eine Art das Mittelmeer bewohnt, be- sitzt acht im Caribischen Meer. Ebenso findet sich die Gattung Ethusa, von der man annahm, dass sie dem Mittel- meere ausschliesslich angehöre, auch in den amerikanischen Meeren; MiıuLnE- EpwaArps hat eine Art von den Flo- rida-Riffen unter dem Namen E. ame- ricana beschrieben, bemerkt aber, dass dieselbe von E. Mascarone aus dem Mittelmeer nur durch Charaktere von geringer Wichtigkeit unterschieden sei. Eine genauere Beschreibung der er- wähnten Kruster hat MıusE-EpwArps in dem Bulletin of the Museum of Comparative Zoology in Harvard Col- lege (Vol. VIII. Nr. 1) gegeben. Es ist unmöglich, den Werth sol- cher Resultate, wie der obigen zu über- schätzen, und MiLsE-EnwArps hat ganz Recht, auf die Tragweite und den Ein- fluss hinzuweisen, welche solche Unter- suchungen .auf unsere Ansichten über das System der Natur haben müssen. Als ein Beispiel hiervon deutet er dar- auf hin, dass die vorjährige Expedition des »Travailleur«< in der Bai von Bis- caya die Existenz zweier verschiedener Faunen in der Nachbarschaft der Küste und in der Tiefsee erwiesen hat, welche weder derselben Epoche (geologisch ge- sprochen) noch demselben Klima an- gehören, und er richtet speciell die Aufmerksamkeit der Geologen auf diese Thatsache, welche beweist, dass sich an demselben Tage und in denselben Mee- ren völlig gleichzeitige Schichten bilden, die dennoch Thierreste von höchst ver- schiedenem Charakter enthalten. Die Küsten-Ablagerungen werden die Typen höherer Organisationen enthalten; die in grossen Tiefen gebildeten Ablagerungen 99% 316 dagegen werden Thiere von einem äl- teren Charakter enthalten, von denen einzelne unleugbare Verwandtschaften mit Fossilien der Secundärzeit darbie- ten, während andere den Larvenformen der heute lebenden Arten gleichen. Der Binfluss einer Stimmgabel auf eine Kartenspinne wurde im letzten Herbst von ©. V. Boys im Physikalischen Laboratorium von South Kensington studirt. Indem er eine tönende A-Gabel leicht mit einem Blatte oder andern Stützpunkte des schönen geometrischen Gewebes oder einem Theile des Gewebes selbst in Be- rührung brachte, fand er, dass die Spinne, wenn sie im Öentrum des Netzes sass, sich schnell nach der Richtung der Stimmgabel herumwendete, und mit ihren Vorderfüssen umhertastete, um den radialen Faden, der die Schwing- ung herleitete, zu finden. Nachdem sie sich über diesen Punkt vergewissert hatte, schoss sie eiligst an jenem Faden dahin, bis sie entweder die Gabel selbst, oder einen Knotenpunkt von zwei oder mehr Fäden erreichte, von welchem sie sofort, wie das erste Mal feststellte, welcher der rechte sei. Wenn die Gabel nach dem Herankommen der Spinne nicht entfernt wird, scheint sie den- selben Zauber wie irgend eine Brumm- fliege auf sie zu üben, denn die Spinne ergreift sie, umfasst sie und läuft um die Schenkel der Gabel, so oft ein Ton erzeugt wird, indem sie niemals durch die Erfahrung zu lernen scheint, dass auch noch andere Dinge ausser ihrer natürlichen Nahrung summen können. Wenn die Spinne sich in dem Augen- blick, wo die Gabel dem Gewebe appli- eirt wird, nicht im Centrum desselben befindet, weiss sie nicht, welchen Weg sie einzuschlagen hat, bis sie im Cen- trum gewesen ist, um sich zu verge- wissern, welcher radiale Faden vibrirt, Kleinere Mittheilungen und Journalschan. wenn sie sich nicht zufällig mit dem betreffenden von der Gabel berührten Faden, oder einem seiner Stützfäden in Berührung befindet. Wenn nun die Gabel, nachdem man eine Spinne bis zum Rande ihres Ge- webes gelockt hat, weggezogen und dann allmählig genähert wird, so erkennt die Spinne ihre Gegenwart und Rich- tung und bewegt sich so viel als mög- lich nach der Gabel hin. Wenn aber eine tönende Gabel einer Spinne all- » mählig genähert wird, ohne dass sie vorher durch Erschütterung des Netzes gestört wurde, als sie noch in der Mitte des Netzes auf der Wacht sass, so lässt sich die Spinne anstatt im Netze zu suchen, sofort an einem Faden herab. Wird nun unter diesen Um- ständen irgend ein Theil des Netzes mit der Gabel berührt, so bemerkt es die Spinne, klimmt den Faden wieder empor und erreicht die Gabel mit wun- derbarer Schnelligkeit. Die Spinne ver- lässt niemals das Centrum des Netzes ohne einen Faden, an welchem sie zu- rücklaufen kann. Wenn man diesen Faden, nach dem Herauslocken einer Spinne mit einer Scheere durchschnei- det, so scheint die Spinne nicht im Stande, zurückzugelangen, ohne dem Netze beträchtlichen Schaden zuzufügen, indem sie dabei gewöhnlich die kle- brigen Parallelfäden des Netzes in Grup- pen von drei und vier zusammenleimt. Vermittelst einer Stimmgabel kaun eine Spinne veranlasst werden, etwas zu fressen, was sie sonst verschmähen würde. Boys nahm eine Fliege, welche er in Paraffin getaucht hatte, und setzte sie auf das Netz, worauf er die Spinne durch Berührung der Fliege mit der tönenden Stimmgabel anlockte. Sobald die Spinne zu dem Schlusse gekommen war, dass die Fliege keine passende Nahrung für sie sei, und sie verlassen hatte, berührte er die Fliege wieder, dies hatte denselben Erfolg wie vorher, und indem der Experimentator die Fliege Kleinere Mittheilungen und Journalschau. immer wieder mit der Stimmgabel be- rührte, so oft die Spinne sich anschickte, sie zu verlassen, konnte er die Spinne durch dieses Mittel veranlassen, eine grosse Portion der Fliege zu fressen. Den wenigen Hausspinnen, welche Boys auf ihr Verhalten gegen die Stimm- gabel prüfte, schien dieselbe nicht an- lockend, sie flohen vielmehr, als wenn sie erschreckt worden wären, eiligst in ihre Schlupfwinkel zurück. Die angeb- liche Vorliebe der Spinnen für die Mu- | sik scheint einigen Zusammenhang mit diesen Beobachtungen zu haben, und der Experimentator hat sie mitgetheilt, weil sie vielleicht den zoologischen Be- obachtern einen bequemen Weg an- deuten, in dieser Richtung weitere Nachforschungen anzustellen. (Nature Nr. 581.) Fortpflanzung und (ewohnheiten der Callichthvs-Arten. In der Sitzung der Pariser Akade- mie vom 6. Dezember 1880 legte CARr- BONNIER einige interessante Beobacht- ungen über Callichthys fasciatus, eine Welsart der südamerikanischen Flüsse, ihre Fortpflanzung betreffend, vor. Im Augenblicke der Befruchtung nähert das | Weibchen seine beiden Bauchflossen | einander, in der Art zweier geöffneter Fächer, deren Ränder man vereinigt, und bildet eine Art Sackgasse, in dessen Grunde sich die Oeffnung der Eierstöcke | befindet. Die befruchtenden Elemente des Männchen werden so in dieser Art- von häutigem Sack aufgenommen, und wenn die Eier einige Augenblicke darauf ankommen, werden sie sich in einer reich mit Spermatozoiden versehenen Flüssigkeit gebadet finden. Es findet immer nur die Ablage von 5—6 Eiern mit einem Male statt, welche das Weib- chen während einiger Minuten in der eben beschriebenen Tasche bewahrt, | darauf verlässt es den Boden, um einen 317 für ihre Entwickelung günstigen Ort aufzusuchen. Seine Wahl richtete sich in dem Aquarium, in welchem diese Beobachtungen angestellt wurden, auf eine wohl erleuchtete Glaswandung, oder einen aus dem Wasser empor- ragenden Stein. Es reinigt daselbst mit der Schnauze einen wenigstens zehn bis fünfzehn Centimeter unter der Oberfläche des Wassers belegenen Raum, öffnet dann, indem es seinen Bauch gegen diesen Platz wendet, seinen Sack und befestigt seine Eier, welche sich, ver- möge der sie umhüllenden Klebrigkeit, leicht anheften. Wenn alle Eier auf diese Weise untergebracht sind, be- ginnen die Annäherungen der Männchen von Neuem und die Gelege folgen ein- ander vierzig bis fünfzig Mal am Tage: so dass die Totalzahl der Eier sich auf ungefähr 250 Stück erhebt. Ein ferneres interessantes Faktum liegst noch in der bei dieser (al- lichthys-Art beobachteten Veränderung der Fortpflanzungszeit. In La Plata fällt sie in die Monate Oktober und November. Nach Europa gebracht, hat sie ein Jahr vorübergehen lassen, ohne sich fortzupflanzen. Im Jahre 1878 haben dann die Gelege im Monat August und September stattgefunden. Die ‚Spröss- linge dieser Generation haben 1880 im Monat Juni gelaicht. Man ersieht, dass dabei eine Anpassung an unser Klima stattgefunden hat, dessen Temperatur- verhältnisse im umgekehrten Sinne sich ändern. Die jungen Fische entwickeln sich bis zur Schwimmfähigkeit in un- gefähr 12—13 Tagen, aber ihre fernere Entwickelung geschieht vergleichsweise langsam, da sie erst in zwei Jahren auswachsen und fortpflanzungstüchtig werden. (Comptes Rendus 6. Dezember 1880.) Ueber die Wanderungen einer andern brasilianischen Art (Callichthys asper) berichtet Josert Mawson von Bahia: Während der Regenzeit lebt der Fisch in Süsswassertümpeln. Wenn die Teiche 318 in der trockenen Jahreszeit austrocknen, vergraben sie sich im Schlamme und bleiben darin bis zur Wiederkehr der Regenzeit im folgenden Jahr. Man sagt ihnen Festlands-Exkursionen von einem Tümpel zum andern nach, und will sie oft unterwegs getroffen haben. MAawson, der einige Exemplare in einem Behälter hielt, sah, dass sie auf feuchtem Boden sehr gut fortkommen‘, wenn er nicht zu uneben war. In einer Nacht fand er ein Exemplar in seinem Hause aus- gewandert, es lag auf der Seite, die Bauch- und Brustflossen seitlich aus- gestreckt, und schnellte sich in Pausen von zwanzig Sekunden empor, während es sich in der Zwischenzeit noch durch Hin- und Herwinden forthalf, und wie es schien, an abschüssigen Stellen mit den Flossen festhielt. Er beobachtete es zwei Stunden lang und sah es sich in dieser Zeit 90 Meter weit bewegen. Wie es schien, suchte das Thier nach Schlamm und nicht nach Wasser, denn etwas auf seinen Weg gegossenes Was- ser kreuzte es. Am Morgen war es todt. (Science 12. Dezember 1880.) Gehören die Needrachen einer Nebenlinie der lungenathmenden Wirbelthiere an? In einem Vortrage über den Ur- sprung der Landthiere, welchen Prof. Cru Vogr im Genfer National-Institut gehalten hat und der im Uebrigen keine neuen Thatsachen oder Gedanken ent- hält, wendet sich Caru Vocr gegen die neuerdings von MArsH* gestützte An- sicht GEGENBAUR’s, dass die Seedrachen mit ihren zuweilen sechs- bis sieben- zehigen Ruderfüssen, einem frühzeitig von dem fünfzehigen Haupttypus der höhern Wirbelthiere getrennten Neben- typus angehören sollen. >(GEGENBAUR, dem sich HAEcKEL an- schliesst,< sagt Vogt, »sieht in diesen ® Kosmos Bd. VII S. 79. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Thieren Glieder des Stammbaumes der Wirbelthiere, welche sich sogar schon vor den Amphibien davon getrennt hät- ten.« »Die Amphibien sowohl als die drei höhern Wirbelthierklassen,< sagt HAECKEL, »stammen alle von einer ge- meinsamen Stammform ab, welche an ı jedem Beine nur fünf Zehen oder Fin- ger besass... Die Seedrachen dagegen besitzen (entweder deutlich entwickelt, oder doch in der Anlage des Fuss- skelettes ausgeprägt) mehr als fünf Fin- ger, wie die Urfische. Andererseits ha- ben sie Luft durch Lungen, wie die Dipneusten geathmet, trotzdem sie be- ständig im Meere umherschwammen. Sie haben sich daher vielleicht (im Zusammenhange mit den Lurchfischen ?) von den Selachiern abgezweigt, aber nicht weiter in höhere Wirbelthiere fort- gesetzt. Sie bilden eine ausgestorbene Seitenlinie« **, >Diesen Ansichten ,« sagt Vor, »muss ich aus mehreren Gründen wider- sprechen. Zunächst haben die Enalio- saurier durchaus nicht wie die Di- pneusten geathmet. Bei den letzteren findet man stets als Beweis ihrer dop- pelten Athmungsweise, vollkommen er- haltene und erkennbare Kiemenbögen, während man bei den Enaliosauriern vergeblich selbst nach Spuren dieser Bögen suchen würde. Diese Thiere ha- ben also nur durch Lungen geathmet, und wenn man die Dinge genau be- trachtet, muss es überraschend erschei- nen, dass Typen, welche jede Spur von Kiemen verloren haben, von kiemen- tragenden Thieren erzeugt worden sein sollen, von andern Typen, bei denen diese selben Kiemen sich erhalten haben. Wir finden zweitens wahre, aus- gesprochen fünfzehige Amphibien, echte Batrachier in viel ältern Schichten, als diejenigen, welche die Ueberreste der Enaliosaurier enthalten. GAaupry hat #® Natürliche Schöpfungsgeschichte VI. Aufl. S. 546, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. kürzlich Fussspuren salamanderartiger Thiere entdeckt, welche er Protriton genannt hat, und welche aus den stein- kohlenführenden Schichten von Autun stammen. Die pentadaktylen Amphi- bien existirten also lange Zeit vor den hexa- und heptadaktylen Enaliosauriern. Endlich, und das ist ein wesent- licher Punkt, sind nicht alle Enalio- saurier mit mehr als fünf Zehen ver- sehen, es sind im Gegenheil die älte- sten von Owen Sauropterygier genann- ten Seedrachen, zu denen ausser den Plesiosauriern des Lias die Notho- saurier und andere Arten des bunten Sandsteins und des Muschelkalks ge- hören, welche einfach fünfzehig sind, während die viel jüngeren Ichthyosau- rier, welche erst im Lias erscheinen, wirklich mehr als fünf Zehen haben. Die Paläontologie zeigt uns dem- entsprechend eine Reihe von Glieder- entwickelungen bei den Enaliosauriern, die diametral den von GEGENBAUR und HAECKEL angenommenen zuwiderlaufen ; die pentadaktylen Amphibien erscheinen zuerst, und ihnen folgen gleichfalls pen- tadaktyle Sauropterygier, erst ganz zuletzt erscheinen die polydaktylen Ich- thyopterygier. Diese Thatsachen können durch keine hypothetische Construktion widerlegt werden. Aber diese Thatsachen erklären sich, wenn wir sehen, wie bei den ÜCetaceen durch die Anpassung an das flüssige Nährelement das ganze Glied sich durch die Verkürzung des Armes und Vorder- armes, durch die Lösung der Hand- wurzel in eine gewisse Zahl knochiger‘ Scheiben von ähnlicher Form und durch die Vergrösserung der Zahl der Pha- langen (nicht der Finger) umformt. Diese Tendenzen verrathen sich mehr und mehr und schrittweise bei den Enaliosauriern. Bei den ältesten, den Nothosauriern, sind noch Radius und Cubitus des Arms, Tibia und Fibula des Beins verlängerte cylindrische Kno- chen, während sie bei den Plesiosauriern 319 sich schon verkürzen, bis bei den Ich- thyosauriern alle diese Knochen schei- benförmig werden, und sich von den die Handwurzel, Mittelhand und Finger bildenden Scheiben nur durch ihre Dicke und Stellung unterscheiden. Wir be- greifen also, indem wir diese Abstuf- ungen sehen, dass der Schwimmfuss der Ichthyosaurier nur das Resultat einer allmäligen Anpassung an das flüs- sige Mittel ist, und dass der penta- daktyle Fuss eines Landthieres durch diese Anpassung schliesslich die poly- daktyle Ruderflosse eines Wasserbewoh- ners geworden ist. (Revue Scientifitwue 12. März 1881.) Rückenmarkshöhle, Becken und Füsse der Stegosaurier. (Mit 4 Holzschnitten,) Zu den Mittheilungen, welche Pro- fessor OÖ. C. MaArsu früher über diese höchst merkwürdige Gruppe jurassischer Dinosaurier veröffentlicht hatte (vergl. Kosmos Bd. VII, S. 213— 215), fügt er jetzt (American Journal of Science, February 1881, p. 167 ff.) einige wei- tere Notizen, die ein grosses Interesse beanspruchen. Gehirnund Rückenmark. Schon im obigen Artikel wurde erwähnt, dass Stegosaurus ungulatus von allen bekann- ten Landwirbelthieren das kleinste Ge- hirn. besass. Wir sehen Abbildungen dieses Gehirns in etwa !/a der natür- lichen Grösse in den beistehenden Fi- ouren 1 und 2. Bei der späteren Unter- suchung eines andern Individuums der- selben Gattung fand Marsı eine sehr op. cb -IL Kiel: Gehirnabdruck von Stegosaurus angulatus MAaRsH. Seitenansicht; cl. Riechlappen;; ec. Ge- hirnhemisphären ; op. Sehhügel; on. Sehnerv ; cb. Kleinhirn; m. Verlängertes Mark. 320 weite Kammer im Kreuzbein, die durch eine Erweiterung des Rückenmarkkanals gebildet wird. Diese Kammer ist von Gestalt eiförmig und gleicht stark der Gehirnhöhle im Schädel, nur dass sie sehr viel grösser ist, und sogar min- destens zehnmal die Grösse der Höhlung, welche das Gehirn enthielt, beträgt. Dieser merkwürdige Charakter führte Fig. 2. Derselbe Gehirnabdruck wie oben gesehen. Bedeutung der Buchstaben wie in Fig. 1. Kleinere Mittheilungen und Journalschan. Fig. 4. Derseibe Abdruck von oben gesehen. Bedeutung der Buchstaben wie in Fig. 3. Fig. 3. Abdruck der Rückenmarkshöhlung im Kreuzbein von Stegosaurus angulatus. Seitenansicht. «a. Vor- derende; f. f‘. .f‘. Oeffnungen zwischen den ein- zelnen Wirbeln desselben; p. Ausgang des Rücken- markkanals im letzten Kreuzbeinwirbel. Alle Figuren in !/ı der natürlichen Grösse. zu der Untersuchung der Kreuzbeine einiger anderen Individuen von Stego- saurus, und es fand sich, dass sie sämmtlich eine ähnliche weite Kammer an derselben Stelle besassen. Die Ge- stalt und Verhältnisse dieser Höhlung sind in Figur 3 und 4 abgebildet, wel- che einen Abguss des gesammten, im Kreuzbein enthaltenen Rückenmarkka- nals wiedergeben. Die weite gewölbte Kammer ist, wie man bemerken wird, hauptsächlich im ersten und zweiten Fig. 5. Umrisse von Querschnitten durch das- selbe Gehirn (b) und dieselbe Kreuz- beinhöhle (8). Kreuzbeinwirbel enthalten, obgleich der Kanal auch hinter dieser Höhlung be- trächtlich erweitert ist. Die in Fig. 5 dargestellten Querschnitte sind in bei- den Fällen an der Stelle der grössten (Querdurchmesser gemacht worden. Der merkwürdigste Charakter in dieser hintern Gehirnhöhle, wenn man sie so nennen kann, ist ihre Grösse im Vergleich mit derjenigen des eigent- lichen Gehirnes dieser Thiere, und in dieser Beziehung steht sie ohne Paral- Kleinere Mittheilungen und Journalschan. lele da. Allerdings ist eine deutliche Anschwellung im Rückenmarksstrang verschiedener lebender Thiere in den Brust- und Beckenregionen, wo die Ner- ven für die vorderen und hinteren Glied- maassen ihren Ursprung haben, beob- achtet worden, und bei ausgestorbenen Thierformen, besonders bei Dinosauriern sind einige bemerkenswerthe Fälle ver- zeichnet worden, jedoch nichts bisher bekannt geworden, was der Kreuzbein- Erweiterung bei Stegosaurus nahe käme. Die Erklärung kann ohne Zweifel zum Theil in der starken Entwickelung der hinteren Gliedmaassen bei dieser Gat- tung gefunden werden; aber bei einigen- verwandten Thierformen, bei Campto- notus zum Beispiel, wo das Missver- hältniss zwischen den vorderen und hinteren Gliedmaassen nahezu ebenso ausgesprochen ist, erscheint die Kreuz- bein-Erweiterung des Rückenmarkstran- ges nicht den vierten Theil so gross, als bei Steyosaurus. Es ist eine interessante Thatsache, dass bei jungen Individuen von Stegyo- saurus die Kreuzbeinhöhlung verhältniss- mässig grösser ist als bei erwachsenen, was einem bekannten Gesetze des Ge- hirnwachsthums entspricht. Die physiologischen Wirkungen eines hinteren Nerven-Öentrums, welches so viele Male grösser ist als das Gehirn selbst, bilden ein wichtiges Objekt, welches an dieser Stelle einer näheren Erörterung nicht bedarf. Es ist in- dessen einleuchtend, dass bei einem so begabten Thier das Hintertheil domi- nirend sein musste. Hinsichtlich des Beckengürtels ist zu bemerken, dass das Kreuzbein aus vier wohlverknöcherten Wirbeln be- steht. Bei völlig erwachsenen Thieren mag der Beckengürtel noch durch das Hinzutreten von einem oder mehreren Lendenwirbeln verstärkt worden sein. Die Centra der Kreuzbeinwirbel sind fest wie die anderen der Rückenwirbel- säule. Das Darmbein ist bei sStego- 321 saurus ein sehr eigenthümlicher Knochen, unähnlich allen bisher bei Reptilien be- kannten. Sein am meisten in die Augen springender Charakter ist seine grössere Ausdehnung auf der Seite des Aceta- bulum. Die mit fünf Zehen versehenen Vorder-und Hinterhbeine verhalten sich in ihrer Länge ziemlich wie 1:2.DieKnochen des Vorderbeins zeigen klar, dass dieses Glied, obwohl im Verhältniss des Hinter- beines sehr klein, nichtsdestoweniger sehr kraftvoll war, und da sie auf eine beträchtliche Rotation eingerichtet sind, wurden sie zweifellos für andere Zwecke als für die Ortsbewegung gebraucht. Das grosse Missverhältniss in der Grösse zwischen den vorderen und hin- teren Gliedmaassen, sowie im Bau ihrer hauptsächlichsten Gelenke zeigen voll- auf, dass Stegosaurus hauptsächlich als ein Zweifüsser einherschritt, die mas- siven Hinterbeine und der mächtige Schwanz bildeten ohne Zweifel einen Dreifuss, auf welchem das (dreissig Fuss lange) Thier zu Zeiten ausruhte, während die vorderen Gliedmaassen zum Greifen oder zur Vertheidigung gebildet waren. Die schweren Hautplatten und mächtigen Dornen machten die letztere wahrscheinlich zu einer leichten Sache. Die geographische Vertheilung der lebenden und fossilen Nager vom Standpunkte der Eintwickelungslehre bildete den Gegenstand eines Vortrages, welchen E. L. TrRouzssarr auf dem dies- jährigen Congresse der französischen Naturforscher hielt. Die lebenden Nager theilen sich in vier grosse Gruppen oder Tribus. Die Myomorphen oder Ratten und Verwandte sind die einzi- gen Kosmopoliten unter ihnen, indem sie sich bis nach Australien, Polynesien und Neuseeland ausgebreitet haben. Die Gewohnheiten dieser Thiere, ihre om- nivore Lebensweise, ihre robuste Or- 322 ganisation und grosse Fruchtbarkeit erklären diese weite Verbreitung; sie sind dem Menschen nach jedem Orte und wahrscheinlich schon seit dem höchsten Alterthum gefolgt. Die an- deren Gruppen haben ein beschränk- teres Wohngebiet und die Sciuromor- phen (Eichhörnchen und Murmelthiere) sind wie die Lagomorphen (Hasen) bei- nahe ausschliesslich der nördlichen He- misphäre eigen, die Hystricomorphen (Stachelschweine, Agutis, Cobayas) sind in unseren Tagen auf die südliche He- misphäre beschränkt. Das Studium der fossilen Nager zeigt uns, dass diese vier Typen in der Tertiärepoche weder ebenso streng auf einen gegebenen Bezirk beschränkt wa- ren, noch ebenso scharf umsehrieben und von einander getrennt waren, mit Ausnahme der Hasen (Lagomorphen), welche, wie es scheint, schon seit dieser Epoche eine Unterordnung (Duplieiden- tatae) gebildet zu haben scheinen, die von derjenigen der gewöhnlichen Nager sehr verschieden ist. Die Typen der südlichen Hemisphäre sind in der Mio- cänepoche im Norden beider Gontinente vertreten gewesen, und es ist seit der Abkühlung, welche die Gletscherperiode dieser Hemisphäre eingeleitet und her- beigeführt hat, dass diese Thiere nach Süden ausgewandert sind, nach Süd- america, Südafrica und Neuholland, wo man sie noch heute findet. Der gegenwärtige Typus der Nager zeigt sich seit der Eocänepoche mit seinen eigenthümlichen Charakteren. Aber neben diesen wahren Nagern fin- det man verschiedene Säugertypen, de- ren Bezahnung an jene erinnert, und als deren letzter Nachkomme das Fin- gerthier (Chiromys) von Madagaskar betrachtet werden kann. Gewisse Säu- ger der Sekundärzeit, wie Plagiaulax, Otenacodon u. A. zeigen die charakteristi- schen Schneidezähne der Nager, die sehr verschieden von den Backenzähnen sind, welche mit keineswegs abgestumpf- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ten Höckern besetzt sind, und eine carnivore oder wenigstens stärker om- nivore Lebensweise anzeigen, als es diejenige der grossen Mehrzahl der mo- dernen Nager ist. Schneidezähne der- selben Gattung finden sich bei einer gewissen Anzahl von Insectenfressern, z. B. bei den Spitzmäusen (Sorex) und bei mehreren Ungulaten-Typen. Man wird so zu der Erkenntniss geführt, dass der Nagertypus im Beginne der Tertiärzeit viel weniger spezialisirt ge- wesen ist, als heute. (Revue scienti- fique, 30. April 1881.) Eine Theorie der Schutzpocken-Impfung auf Darwinistischer Basis. Ein kürzlich in diesem Journal er- schienener Artikel (Bd. IX, S. 70) hat uns mit den beiden Theorien bekannt gemacht, die man in neuerer Zeit auf- gestellt hat, um die durch frühere Er- krankung oder Impfung erworbene Immunität gegen eine bestimmte Krank- heit zu erklären. Man kann die eine als die »Erschöpfungs»- und die andere als die » Gegengifts«-Hypothese bezeich- nen, sofern die eine behauptet, die vor- hergegangene leichtere oder schwerere Erkrankung beraube die thierischen Säfte eines unentbehrlichen Nährstoffes für den specifischen Parasiten der Krank- heit, und die andere, sie lasse ein Gegen- gift zurück, welches die Entwickelung gleichartiger Keime hindere. Dr. PAun Grawriz in Berlin hat nunmehr diese beiden Theorien durch spezielle Ver- suche geprüft, deren Resultate er in Vıremow’s Archiv für pathologische Ana- tomie (Bd. 84, S. 87) veröffentlicht hat und dem wir folgenden kurzen Auszug entnehmen. Wie wir aus dem Artikel von Dr. A. WernicH über »die akkom- modative Züchtung der Infektionsstoffe « (Kosmos Bd. VII, S. 91 ff.) wissen, hat Dr. Grawrrz im vorigen Jahre nach- gewiesen, dass gewöhnlicher, unschäd- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. licher Brotschimmel, indem man ihn durch planvoll geleitete Kulturen all- mälig an alkalische Peptonlösungen ge- wöhnt, schliesslich zu einem im thie- rischen Blute gedeihenden, sehr bös- artigen Infektionspilze umgezüchtet wer- den kann, mit dem sich leicht experi- mentiren lässt, weil einerseits die Grösse seiner Sporen erlaubt, Flüssigkeiten durch Filtration sicher von ihm zu be- freien, und weil er zweitens in die Venen eines Thieres eingespritzt, stets innere Schimmelbildungen erzeugt, deren Narben oder sonstige Spuren auch nach völliger Heilung in dem Thiere nach- weisbar bleiben. drei Versuchsreihen an, um durch diese in der verschiedensten Wirksamkeit zu gewinnenden Schimmelgifte die Immu- nitätsfrage zu entscheiden. In der ersten Reihe wurden einige Kubikcentimeter einer durch sorgfältige Filtration von allen Sporen befreiten Peptonlösung, in welcher vorher bös- artiger Schimmel gezüchtet worden war, in die Venen eines Kaninchen gespritzt, was keinerlei schädlichen, aber auch keinen schützenden Einfluss äusserte. Denn wenn einige Wochen nach einer solchen Einspritzung, bösartige Sporen dem Thiere eingespritzt wurden, so er- krankte dasselbe, wie ein nicht geimpf- tes und ging bei genügender Einfuhr in wenigen Tagen an völliger Verschim- melung zu Grunde. Ein Gegengift war also in der Nährstofflösung jeden- falls nicht vorhanden gewesen. Bei der zweiten Versuchsreihe wur- den Impfungen mit den weniger schäd- lichen Uebergangsformen zwischen den unschädlichen auf gesäuertem Brot ge- wachsenen, und den bösartigen, an al- kalische Substrate gewöhnten Schimmel- formen vorgenommen. Obwohl die Menge der injieirten Sporen jedesmal so reich- lich war, dass von der bösartigen Va- rietät der vierte Theil derselben hin- gereicht haben würde, die Thiere zu tödten, erkrankten die Thiere kaum GrAwırz stellte nun - 323 merklich, und bei erfolgender Sektion konnte nur eine leichte Verschimmelung innerer Organe nachgewiesen werden, die indessen die Thiere nicht erheblich angriff. Wurde jedoch diesen geimpf- ten Thieren nach 5—10 Wochen die bösartige Varietät eingespritzt, so er- wiesen sich die mit der halbmalignen Form geimpften Individuen äusserst widerstandsfähig und erkrankten kaum merklich, während allerdings die mit einer sehr schwachen Pilzform geimpf- ten Thiere, wie ungeimpfte zu Grunde gingen, und nachher ganz verschimmelt erschienen. In der dritten Versuchsreihe wurden Impfungen mit malignen Schimmelfor- men aber in grosser Verdünnung vor- genommen, so dass nur wenige Sporen in den Körper gelangten, die aber gleich- wohl, wie einzelne getödtete Exemplare erwiesen, stets kleinere Erkrankungs- herde erzeugten. Indessen blieben diese Thiere, wenn die Verdünung gut ge- troffen war, gegen eine vier Wochen später erfolgte, bei ungeimpften Thie- ren tödtliche, stärkere Einspritzung ma- lioener Schimmelsporen vollkommen ge- schützt, es war eine absolute Immunität erzielt, die nicht den geringsten neuen Krankheitsherd aufkommen liess. Trotz dieser in überraschender Voll- kommenheit an ca. 20 Thieren erzeug- ten Immunität, erwies sich deren Blut an sich durchaus nicht ungeeignet, im Wärmeschrank den bösartigen Schim- mel darin zu kultiviren. Es war also weder an Nährstoff für dieselben er- schöpft, noch enthielt es ein Gegengift, welches die Pilzkeime getödtet hätte. Eine Erwägung der hierbei in Be- tracht kommenden näheren physiologi- schen und pathologischen Verhältnisse führt nun Grawrrz zu der Theorie, die auch schon von Dr. Werxıch in unserer Zeitschrift ausgesprochen wurde, dass nämlich ein Kampf um’s Dasein zwischen den Gewebzellen des infieirten Thieres und den Zellen des Eindring- 324 lings beginnt, welcher die Entzündungs- und Fiebererscheinungen der Ansteck- ungskrankheiten erzeugt. Gewinnt der letztere Oberhand, so geht das Thier zu Grunde, ist aber seine Assimila- tionsfähigkeit für den neuen Boden zu schwach, oder sind die eingedrungenen in einer zu grossen Minderheit gegen die zahllosen gesunden Zellen des Kör- pers, so mögen die letzteren ihre Assimila- tionsfähigkeit erhöhen, um dem Gegner wirksameren Widerstand leisten zu können. Diese höhere Assimilations- fähigkeit bleibt ihnen aber, ja sie kann in einem gewissen Grade auf die Nach- kommenschaft vererbt werden, und so erklärt sich die Wirkung der Impfung, als eine im Kampfe mit dem Feinde gewonnene Ueberlegenheit, die aller- dings, soviel bekannt, nur gegen diesen bestimmten Feind schützt. Die Farbe Roth. Die Wahrnehmung, dass in den Schriften der alten Völker die Wörter, welche zur Bezeichnung von Farben dienen, häufig eine sehr unbestimmte und schwankende Bedeutung haben, ist bekanntlich von verschiedenen Seiten so ausgelegt worden, als ob sich der Farbensinn des Menschengeschlechtes erst allmälig im Laufe des historischen Zeitalters entwickelt habe. * Eine nähere Untersuchung der Thatsachen hat in- dess zu dem Ergebniss geführt, dass nicht die Fähigkeit, Farben zu unter- scheiden, zugenommen hat, sondern dass nur die sprachlichen Bezeichnungen für die verschiedenen Farben bestimmter und genauer geworden sind. Die Rich- tigkeit dieser Ansicht wird freilich noch nicht allgemein anerkannt; so vertritt z.B. auch der im Novemberheft (1880) dieser Zeitschrift erschienene Aufsatz * Vol. u. a. Kosmos I. Bd. S. 264 ff., Ss. 423 ff, 8. 428 fi; II. Bd. S. 486 ff; Kleinere Mittheilungen und Journalschau. des Herrn Prof. GüntHzrReine abweichende Auffassung. Unter diesen Umständen dürfte es von einigem Interesse sein, zu prüfen, in wie weit denn bei den jetzigen Europäern das Unterscheidungs- vermögen und die sprachliche Bezeich- nung für Farbennuancen einander ent- sprechen. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die Fixirung der Begriffe für die einzelnen Farbennamen auch in der Neuzeit noch stetig fortschreitet. Unsere deutsche Sprache besitzt ur- sprünglich vier einfache Benennungen für die reinen Farben (Spectralfarben) in engerem Sinne (also abgesehen von weiss, schwarz, grau und braun), näm- lich: Roth, Gelb, Grün und Blau. In neuerer Zeit sind ziemlich allgemein, indess vorzüglich in Folge der von der wissenschaftlichen Forschung ausgehen- den Anregung, auch Orange und Vio- lett in die Farbenreihe aufgenommen worden. Im Spectrum und im Regen- bogen unterscheidet man endlich noch eine siebente Farbe, nämlich Indigo, welches zwischen Blau und Violett ein- geschaltet ist. Im gewöhnlichen Leben pflegt man jedoch die Indigofarbe als eine Nuance des Blau aufzufassen. In dem mittleren Theile des Spectrums, welcher das Gelb, Grün und Blau um- fasst, hat man, was bemerkt zu wer- den verdient, keine neuen Farben unter- schieden. Während die Physiker das Indigo vom Blau sondern, macht sich im prak- tischen Leben vielmehr das Bedürfniss geltend, die verschiedenen Nuancen des Roth bestimmter von einander zu unter- scheiden. Wir wissen sehr gut, dass es mehrere Arten von reinem Roth giebt, während wir beim reinen Gelb nur Ver- schiedenheiten in der Intensität der Farbe kennen. Wer Distelblumen und Ziegeldächer oder Rosen und Tomaten mit derselben Farbe malen wollte, würde IT. BES STWIHSPIV.8: 4945 IV 88318 319: 8... V.ILNS. 2116 8, und. Sa 8: Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ohne Zweifel als farbenblind angesehen werden. Wir können im Allgemeinen das Roth in zwei Hauptnuancen oder, wenn man will, Unterfarben, theilen, je nachdem dasselbe dem Orange oder dem Violett ähnlicher ist. Die Farben, welche wir in der Natur sehen, sind bekannt- lich nicht die einfachen Spectralfarben, sondern sie gehen hervor aus der Misch- ung der Lichtsorten, welche von dem farbigen Stoffe nicht absorbirt, sondern zurückgeworfen oder durchgelassen wer- den. Körper, welche rothes Licht ab- sorbiren, sehen grün aus, solche, welche grünes Licht absorbiren, sind roth. Je nachdem sich die Absorption mehr auf - das Blau oder auf das Gelb erstreckt, wird das Roth mehr in’s Orange oder in’s Violett spielend erscheinen. Wir pflegen sowohl die Zinnoberfarbe als die Karminfarbe für reines Roth zu halten, obgleich beide unzweifelhaft wesentlich verschieden sind. Wir können Zinnober und Karmin als Vertreter der beiden Hauptnuancen des Roth betrach- ten, müssen aber zur Bezeichnung der ganzen zugehörigen Farbenreihen andere Ausdrücke wählen, und zwar solche, welche eine weniger genau bestimmte Bedeutung haben. Es eignen sich dazu die Ausdrücke: Scharlach und Pur- pur, obgleich Purpur streng genommen eine Nuance bezeichnet, welche zwischen Karmin und Violettschwankt. Schliessen wir indess die Karminfarbe mit in das Purpur in weiterem Sinne ein, so wird für Denjenigen, welcher schärfer unter- scheiden will, das Wort Roth ziemlich entbehrlich werden. Man wird verhält- nissmässig selten in Verlegenheit kom- men, wenn man gefragt wird, ob rothe Substanzen, welche in der Natur auf- treten, purpurfarben oder scharlach- farben sind. Im gewöhnlichen Leben pflegt man bis jetzt nicht so genau zu unterschei- den, sondern man bedient Sich gewöhn- lich gewisser Vergleichssubstanzen, wenn man eine bestimmte Nuance des Roth \ 325 bezeichnen will. So z. B. spricht man von brand-, feuer-, morgen-, kupfer-, rubin-, ziegel-, rosen-, klatschrosen-, pfirsichblüth-, granat-, kirsch-, fleisch-, blut-, korallen- und krebs-roth, ganz abgesehen von den zur Vergleichung herangezogenen Pigmentfarben und den Fantasienamen der Farbenindustrie. Die Vergleichsworte deuten zum Theil nur den blasseren oder dunkleren Ton der Farbe an, so z. B. sind rosenroth, pfirsichblüthroth und fleischroth blasse Farben, kirschroth ist dunkel, kupfer- roth bräunlich. Feuerroth und blutroth bezeichnen vorzüglich intensive Farben, lassen jedoch für die Nuance einen ziemlich weiten Spielraum. Merkwür- diger Weise sind brandroth und feuer- roth nach dem Sprachgebrauche unge- mein verschieden ; unter Brandroth ver- steht man eine in's Gelbe oder Braun- gelbe spielende Mischfarbe, während Feuerroth (auch brennend roth) in der Regel ein lebhaftes Scharlach bezeich- net. Uebrigens wurde früher selbst das leuchtende Gelb nicht immer streng vom Roth unterschieden; in der Dichter- sprache redet man noch heute von rothem Golde. Nur wenige der Vergleichssubstanzen sind in ihrer Färbung so beständig, dass sie sich wirklich zur Bestimmung einer besonderen Nuance eignen. Die Färbung der verschiedenen Rosen- und Kirschensorten ist sehr ungleich; die Farbe des Blutes wechselt je nach dem Sauerstoffgehalt, die Bezeichnungen brand-, feuer- und fleisch-roth sind ge- wiss recht unbestimmt. Die Farbe der Granatblüthe ist zwar eine beständige, aber man sieht sie im Norden der Alpen nicht häufig, auch sind die Granatäpfel anders gefärbt, als die Blüthen; dazu kommt, dass man bei uns in Deutsch- land unter Granaten auch rothe Steine, an der Nordsee ferner sogar krebsar- tige Thiere (Garneelen), die im Kochen roth werden, versteht. Wirklich gute Vergleichsobjecte sind eigentlich nur 326 Pfirsichblüthen, Klatschrosen und Koral- len. Man wird in Zukunft mehr und mehr die reinen Farbstoffe und farbigen chemischen Verbindungen zur Vergleich- ung benutzen müssen, wenn man Aus- drücke von ganz bestimmter und all- gemein verständlicher Bedeutung er- halten will. In der Färberei und Farbenindustrie gebraucht man allzu zahlreiche Misch- farben und Farbenabstufungen, als dass eine einfache und übersichtliche Ein- theilung der technisch benutzten Farben ausführbar wäre. Weit lehrreicher ist es, die Bemühungen der Gärtner und Botaniker um eine schärfere Bezeich- nung der Hauptnuancen zu verfolgen. In der Botanik hat sich die Unter- scheidung zwischen Scharlach und Pur- pur bereits weit mehr eingebürgert, als im gewöhnlichen Leben. Scharlachfar- bene (und orangefarbene) Blumen sind unter den einheimischen europäischen Gewächsen ziemlich selten; die bekann- testen und auffallendsten derselben sind die Mohnarten (Klatschrosen), von wel- chen in verschiedenen Sprachen der Name für die betreffende Farbe ent- lehnt ist. Es ist bei der Ungewöhnlich- keit der scharlachfarbenen Blumen sehr natürlich, dass ausländische Pflanzen, welche sich durch diese Blüthenfärbung auszeichnen, in den Gärten besonders geschätzt sind. Mehrnoch als in Deutsch- land werden in England solche Gewächse ausdrücklich nach ihrer Blüthenfarbe (Scarlet) benannt. Prächtige Scharlach- blüthen besitzen z. B. Punica granatum * Man könnte die Frage aufwerfen, ob nicht vielleicht von Insektenaugen die Pur- purfarbe, von Wirbelthieraugen die Schar- lachfarbe lebhafter empfunden wird. *#= Die Purpurfarbe der Alten wurde mit den Ausdrücken purpureus (griech. Form: porphyreus) und puniceus (griech. Form: phoeniceus) bezeichnet. Später wurden pur- pureus und puniceus auch oft als besondere Nuancen unterschieden. Bei puniceus (ponceau) mag man wohl an die rothe Blüthe der arbor Punica, d. h. des aus dem Punierlande ein- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. (Granatbaum), Cydonia Japonica (könnte »Scharlachquitte« heissen, wird bei uns meist Pyrus genannt), Pelargonium zo- nale (Scharlachpelargonium), Phaseolus maltiflorus (Prunker, Scarlet runner), Lychnis Chalcedonica (Brennende Liebe) und Anthurium Scherzerianum. Viel all- gemeiner sind unter den Blumen die Abstufungen der Purpurfarbe vom Rosa und Karmin bis zum Purpurviolett ver- breitet. Dagegen ist unter den Früchten * die Scharlachfarbe (korallenroth, men- nigroth, zinnoberroth) weit häufiger als die purpurne. Die sorgfältigeren bota- nischen Schriftsteller haben die vor- züglichsten Nuancen des Roth ziemlich gut unterschieden, doch überzeugt man sich bei näherer Betrachtung ihrer An- gaben leicht, wie sehr noch die Be- zeichnungen auf Willkür und indivi- dueller Auffassung begründet sind. So ist phoeniceus bei WıLLpEnow scharf- lachfarben und identisch mit coccineus (»zinnoberroth, sehr brennend und kaum merklich in’s Blaue spielend«), bei BıscHhorr : »granatroth, reines lebhaftes Roth, eine Mischung von Karmin und Scharlachroth.« Coceineus ist dagegen bei Bıscuorr: »helles Karminroth, un- merklich in’s Gelbliche ziehend.«< Puni- ceus ist bei beiden Schriftstellern Karminroth. WiLLDEnow betrachtet sanguineus und purpureus ** als gleich- bedeutend, BıscHnorr als verschie- den. Beispielsweise seien hier die An- gaben einiger im Allgemeinen sehr zu- verlässiger botanischer Schriftsteller geführten Granatbaums gedacht haben. Die modernen Botaniker gebrauchen die einzelnen Wörter in ganz anderem Sinne; Amagallis phoenicea z. B. blüht mennigroth, d. i. schar- lach in orange übergehend, während man unter porphyreus braunroth versteht. — Bei dem Worte Scharlach denken Manche, be- sonders Mütter und Aerzte, zunächst an das Scharlachfieber, welches sich durch einen nicht etwa scharlachfarbigen sondern purpur- farbigen Hautausschlag auszeichnet. über die Blüthenfarbe bestimmter roth- blühenden Pflanzen angeführt. Adonisautumnalis: blutroth (NEILREICH), blood red (Don), scarlet (HooKkr); dunkelroth (GArckE). Papaver argemone: blassblutroth (Nkın- REICH), pale scarlet (Don), dunkel- roth (GARcKE). Dianthus armeria: karminroth (Nein- REICH), hellkarminroth (GArckE), pink (Don). Silene armeria: dunkelrosenroth (NEın- REICH), kirschroth (GARcKE), pink (Don). Viscaria purpurea: rose coloured (Don), lilas (Gopron), hellroth (GArcKR), karminroth (NEiureich), red-purple (Hooker). Melandryum rubrum: \ilas (Gopron), schön purpurroth (GARcKE). Geranium dissectum: \ilas (GopRon), kar- minroth (NeiveeicHh), bright red (Hooker), purpurroth (GAreKE). Trifolium incarnatum: bright scarlet (Hoocker), rouge &clatant (GODRON), erimson (Don), purpurroth (GARCKE). Lathyrus tuberosus: vose vif (GODRON), rose coloured (Dos), gesättigt rosen- roth oder karmin (NrıureicH), crim- son (HookEr), purpurroth (GARCKE). Erythraea centaurium: Neischroth (GAR- CKE), red or pink (Hoocker), schön rosenroth (NEILREICH). Polygonum _ bistorta: vöthlich weiss (Garere), beau rose (Gopron), pink (Hoocker). P. amphibium: pale or bright rose red -(HoockeEr), rose (Gopron), schön rosenroth (NEiweeicn), purpurroth (GARCKE). Diese Beispiele zeigen, wie wenig selbst solche Männer, welche sich einer genauen, wissenschaftlichen Bezeich- nungsweise befleissigen, in ihren An- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. 327 gaben übereinstimmen. Weit unbe- stimmterund schwankender müssen sich nothwendig solche Personen ausdrücken, welche gar nicht gewohnt sind, beson- dere Sorgfalt auf die richtige Wahl der Farbenbenennungen zu verwenden. Die verschiedenen Arten des Roth werden ohne Zweifel allgemein sehr gut unter- schieden, aber es besteht noch kein fester Sprachgebrauch, welcher für jede der Hauptnuancen eine allgemein ver- ständliche Benennung geschaffen hat. Die individuelle Auffassung hat noch einen weiten Spielraum in der Wahl der Namen, welche jeder einzelnen Nuance zukommen. Der Unterschied zwischen Scharlach und Purpur oder zwischen Zinnober und Karmin ist kaum weniger auffällig als der zwischen Blau und Grün. In der Jugend der Menschheit fühlte man nicht das Bedürfniss, die letztgenannten Farben sprachlich stets streng aus einander zu halten, gleich wie man heutzutage die verschiedenen Sorten des Roth durch die Sinneswahrnehmung sehr gut, durch die Sprache aber nur unsicher und un- vollkommen unterscheidet. Es sollte die Aufgabe der vorstehenden Zeilen sein, dies Missverhältniss zwischen sinn- licher und sprachlicher Auffassung der Farben an Beispielen aus unserem heu- tigen Leben zu erläutern. Eine andere Aufgabe wird es sein, an der Fortent- wickelungunserer Sprache mitzuarbeiten, und zwar in der Richtung, dass das Wort sich immer genauer der sinnlichen Wahrnehmung anpasst und so dazu -beiträgt, die Wahrnehmung selbst zu schärfen und dem Bewusstsein fester einzuprägen. Bremen. Dr. W. O. Focke. Offene Briefe und Antworten. Capetown, 27. Mai 1881. »4) Ist das Weibchen eines auf- >fallenden Männchens einfacher ausge- »stattet und brütet nicht, so legt es »doch viele grosse Eier« — (Strauss). — Aus diesem Satz (Kosmos Band VII, Septemberheft S. 484) gehthervor, dass in Deutschland man noch theilweise der Ansicht ist, der Strauss brüte nicht, sondern überlass dies Geschäft der afri- kanischen Sonne. * — Dies ist indessen verkehrt, wie in dieser Colonie, wo auf jedem Bauernplatz beinahe zahme Strausse gehalten werden, allgemein bekannt ist. — Sowohl das Weibchen wie das Männchen brüten und zwar lösen sie sich dabei mit einer Regel- mässigkeit ab, welche an Genauigkeit die Bauern-Uhren weit übertreffen soll. In der Gefangenschaft allerdings kommt es zuweilen vor, dass Strausse sich nicht paaren wollen; ich habe aber noch nicht gehört, dass, wenn einmal Eier gelegt sind, die Vögel sich nicht mit Lust und Liebe dem Brutgeschäft unter- zogen haben. Ein Bauer zeigte mir vor einiger Zeit, dass ein Paar Vögel ihr Nest mit bebrüteten Eiern von der niedrig gelegenen Seite ihrer Einzäu- nung nach und nach, sowie es bei an- haltendem Regen feuchter wurde, nach der höhern Seite transportirt habe. Wenn man nicht den Straussen schon ihre Eier wegnimmt, um sie künst- lich auszubrüten, nimmt man ihre Küch- lein, sowie sie aus dem Ei gekrochen sind. Dieselben sind aber der elter- lichen Liebe so sehr bedürftig, dass es nöthig ist, anstatt der Alten den jungen Küchlein fortwährend andere Gesellschaft zu verschaffen, und gewöhnlich werden hierzu Eingebornenmädchen verwendet. Auf dem Männchen hauptsächlich lastet die Pflicht der Vertheidigung des Haushalts. Wenn das Weibchen noch mit seinen grossen braunen Augen ver- wundert dreinschaut, färben sich schon die Schienbeine des Männchens hoch- roth und bei weiterer Annäherung des Feindes wirft er den Kopf zurück, bauscht die tiefschwarze Brustbedeckung auf, breitet die Flügel mit den schnee- weissen Schwungfedern auseinander und stürzt sich vorwärts, die Beine hoch auswerfend, mit den Flügeln peitschend und kreischend vor Wuth — und wehe dem Menschen, zwischen welchem und den kräftigen Zehen des Vogels nicht eine genügend hohe Barriere sich be- findet, oder der nicht einen langen gabelförmigen Stock in der Hand hat, mit dem er den Vogel (ihm die Gabel über Hals und Brust setzend) abhält. Der Strauss legt bekanntlich zahl- reiche weisse, grosse Eier in offene Sandnester. Die mächtigen Vögel sind aber wohl im Stande, die ziemlich auf- fallenden Nester gegen gewöhnliche Feinde zu vertheidigen. Ihre grauen Hälse sehen von weitem aus, wie dürre, in die Höhe stehende Baumäste, wie sie in der afrikanischen Halbwüste (Karroo) häufig zu finden sind und in den Hälsen ist bei Männchen und Weib- chen wenig Unterschied. Ich hoffe, diese wenigen Mitthei- lungen werden von Interesse sein und verharre mit der grössten Hochachtung W. Hülken. * Bemerk. der Red. Hier liegt ein Miss- verständniss unseres geehrten Correspondenten vor. Der Satz bezog sich zunächst auf die amerikanischen und neuholländischen Strauss- arten, bei denen die Weibehenüberhaupt nicht brüten, sondern nur die Männchen. Druckfehler-Berichtigung. S. 257, Spalte links, Zeile 5, lies steigere statt steigern. 8. 240, Sp. links, Z. 11 von unten, ist dies zu streichen. S 242, Sp. rechts, Z. 3 von oben, liesergebnisse statt begriffe. S. 242. Sp. rechts, Z. 5 von oben, lies palaeontologischen statt genealogischen. 8. 243, Sp. links, 2. 6 von oben, lies Coilanthus statt Cor- banthus. Kosmos Bd.X. (1881) ) Se Ne 4| A a? 5 | . ii | % | N _ | e IN j — > = S > Kosınos Bd. X. (1881) Taf Fi$.12. EEHTEERT ER ER EEEER TEE ERTTERT TER ET N SUN N I N K A / Kl A 4 Ni IM Mi ı\ H u ME \V/ 'M /\ \ \ | \ N \ All \ Ih \ NN \ HH Yh fr fi Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. Von Dr. J. Holetschek. Gleichwie das Aufleuchten einer Sternschnuppe zu jeder Secunde und in jeder beliebigen Himmelsrichtung stattfinden kann, so ist auch die Er- scheinung eines Kometen nicht an Zeit und Ort geknüpft. Keine Rechnung ist im Stande, das Auftreten eines solchen Gestirns vorherzubestimmen, da ihr jeg- liche Basis mangelt. Unvermuthet, doch nicht überraschend trifft die Anzeige einer Kometenentdeckung ein, und ge- wöhnlich schon nach wenigen Wochen ist uns der Himmelskörper wieder ent- schwunden. Kommt er vor dem Peri- hel in unseren Gesichtskreis, so ha- ben wir Hoffnung, ihn längere Zeit be- obachten zu können; wird er aber erst bei seiner Rückkehr aus der Sonnen- nähe aufgefunden, so müssen wir uns meistens mit den Positionsmessungen sehr beeilen, wenn wir denselben in unser Kometenregister eintragen wollen. Aber auch von der Sonne aus könn- ten wir den Anblick eines Kometen nicht viel länger geniessen, da er sich von unserem Centralkörper ebenso eilig ent- fernt, als er sich ihm nähert, und zwar um so hastiger, je stärker die Annähe- rung ist. Was also die Sternschnup- pen für die Erde, das sind im allge- meinen die Kometen für die Sonne; hier wie dort dieselbe Erscheinung: plötzliches Auftauchen, rasche Beweg- ung, schnelles Verschwinden. In Folge der allgemeinen Massen- anziehung krümmt unser Erdkörper die kosmischen Bahnen jener Meteore, die in seinen Bereich kommen; einige stür- zen herab, die anderen gehen in geän- derter Richtung weiter. Spielt nun die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). Sonne den Kometen gegenüber dieselbe Rolle, wie wir sie an der Erde, den Sternschnuppen gegenüber beobachten ? Oder, um gleich die entscheidende Dop- pelfrage zu stellen: Sind die Haarsterne, gleich den Planeten, Kinder unserer Sonne, oder haben wir sie als Vaga- bunden der Weltenräume zu betrachten ? Nach der Kanr’schen Kosmogonie wären die Kometen keine besondere Gattung von Himmelskörpern und wür- den sich von den Planeten nur durch ihre stark excentrischen Bahnen unter- scheiden; demnach bestände ein allmä- liger Uebergang von den Planeten zu den Kometen: je grösser die Excentri- cität, um so geringer der planetarische, um so ausgeprägter der kometarische Charakter eines Himmelskörpers. Diese Ansicht konnte aber nur so lange eini- ges Gewicht haben, als man von der physischen Beschaffenheit der Kometen nichts wusste, und so lange die Aste- roiden unbekannt waren. Unter diesen letzteren gibt es Körper, die in ziem- lich excentrischen Bahnen um die Sonne gehen, wie Polyhymnia, Eva etc., und dennoch hat keiner auch nur das ge- ringste Kometenhafte an sich. Ueber die Constitution der Kometen wissen wir zwar noch immer nur wenig, aber was wir durch Fernrohr und Spectro- skop erfahren haben, zeigt uns mit Be- stimmtheit, dass sie ganz eigenartige Körper sind. Inzwischen haben wir auch unsere grossen Planeten näher studirt und bei jedem neuen Merkmal wurde die Grenze schärfer, die Kluft weiter. Es sind zwar Versuche gemacht worden, die Entsteh- 23 330 ung der Kometen nach der Nebular- hypothese wahrscheinlich zu machen, doch laufen viele Folgerungen, die man daraus nothwendigerweise ziehen musste, aller Erfahrung entgegen. Lartracz hat die Kometen nicht berücksichtigt und konnte es auch nicht, daihnendasHauptcharakteristikum unse- res Planetensystems, die gemeinschaft- liche West-Ost-Bewegungfehlt; sie strei- cheninallenRichtungen durch unsere Pla- netenwelt. Eine Rotation scheinen sie gar nicht zu besitzen, oder was wohl richtiger ist, sie kehren der Sonne stets dieselbe Seite zu. Lartack hält die Kometen für extrasolare Körper, die um die einzelnen Fixsterne sehr excen- trische Bahnen beschreiben und von System zu System weiterziehen, so dass sie thatsächlich alle Weltenräume durch- streifen können. Wir hätten daher einen solchen wandernden Nebelball mit eini- ger Ehrfurcht zu betrachten, da er als kosmischer Odysseus viele Sonnen, mög- licherweise schon den grössten Theil der Welt gesehen hat. Diese Meinung fand grossen Beifall, und bis in die neuere Zeit galten die Kometen als »astres croiseurs«, die uns auf ihrer ewigen Wanderschaft nur gelegentlich einen Besuch machen, um sich von uns hinweg zu einer anderen Sonne, etwa zum Sirius oder zur Wega zu begeben. Mit dieser Ansicht war jedoch ein Umstand nicht recht vereinbar, nämlich der, dass sämmtliche Kometen, obwohl sie in Gestalt und Bildung von unse- ren Planeten so bedeutend abweichen, doch unter einander selbst ausserordent- lich gleichartig sind. Ist es denn wahr- scheinlich, dass aus ungemessenen Ent- fernungen, aus den verschiedensten Ge- genden des Weltalls uns überall gleiche Körper zugesendet werden? Es ist schwer anzunehmen, dass jeder Fixstern- typus gerade eine bestimmte Kohlen- verbindung in Kometengestalt abson- dert und in die Welt schickt. Die stoffliche Zusammensetzung der Meteo- Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. riten wäre zwar einer solchen Ab- kunft günstig, doch ist die Frage, ob diese Körper wirklich aus den entlege- nen Fixsternräumen zu uns hereinge- langen, noch immer nicht endgiltig ent- schieden. Jedes der beiden Extreme ist somit unannehmbar: Unser Sonnen- system kann nicht die Heimat dieser Gäste sein, weil sie zu den Planeten gar so starre Gegensätze bilden, aber auch als continuirliche Weltenwanderer können sie nicht gelten; das eine ist zu eng, das andere zu weit. Die Wahr- heit liegt wohl in der Mitte. Schon bei geringerer Aufmerksam- keit muss man auf den Gedanken kom- men, dass es von Anfang an nicht das Ziel der Kometen sein konnte, planeten- artig um die Sonne zu kreisen, da sie in diesem Falle eine grössere Consi- stenz aufweisen müssten. Die Kometen ertragen die Hitze nicht, sie scheinen unstreitig für die kalte Region bestimmt zu sein. Die gewaltigen Formverän- derungen und grossartigen Schweifent- wicklungen, die wir an ihnen bewun- dern, zeigen schon, dass sie sich in der Nähe der Sonne nur in einem Aus- nahmszustand befinden; weit von ihr weg — das ist die Regel. Im interstellaren Raum, den man gewöhnlich als leer annimmt, wohin die Anziehung der nächsten Sonne nur mehr wenig wirkt, haben wir die Ko- meten zu suchen. Da wir sie dort aber nicht beobachten können, so ist es unsere Aufgabe, aus den Erschein- ungen, die sie uns in der Sonnennähe darbieten, Schlüsse auf ihr Verhalten in jener entlegenen Gegend zu ziehen, und einen solchen Fingerzeig geben uns die Bewegungsumstände. - Das Keruer’sche Gesetz, nach wel- chem die Planeten in Ellipsen um die Sonne gehen, musste, als man die kos- mische Natur der Kometen erkannt hatte, abgeändert werden in das all- gemeinere, dass sich die Himmelskör- per überhaupt in Kegelschnittslinien Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. bewegen. Solcher Curven giebt es vier, zwei geschlossene, Kreis und Ellipse, und zwei offene, Parabel und Hyperbel. Aus mechanischen Gründen ist nun für die Centralbewegung, wenn dieselbe im Kreis oder in der Parabel vor sich gehen soll, eine ganz bestimmte spe- cielle Voraussetzung nöthig, während der Spielraum für eine Ellipse oder Hyperbel sehr gross ist. In Wirklich- keit erweisen sich aber fast alle Ko- metenbahnen als Parabeln, nur wenige nähern sich der Ellipse, und höchst sel- ten zeigt die Bahn einen schwach hy- perbolischen Charakter. Denken wir uns, um die dynami- schen Eigenschaften der hier in Be- tracht kommenden Kegelschnitte ken- nen zu lernen, einen Körper, etwa einen Meteoriten, der sich im Weltraum ge- radlinig und gleichförmig bewegt. Bliebe er unbeeinflusst von jeder äusseren Kraft, so würde er seinen Weg immer in gleicher Richtung mit der- selben Geschwindigkeit fortsetzen. Nun komme er allgemach in den Anzieh- ungsbereich einer Sonne. Diese wird seine Bewegung beschleunigen und seine Bahn krümmen, beides um so stärker, je näher der Körper rückt. Ist er an der Sonne vorübergeeilt, so wird Beschleunigung und Krümmung schwächer und derselbe Vorgang wieder- holt sich in entgegengesetzter Reihen- folge; die Bewegung wird immer mehr gleichförmig und geradlinig, bis derKörper mit seiner ursprünglichen Geschwindig- keit wieder aus der Anziehungssphäre hinausgelangt. Die Curve, die der Me- teorit beschreibt, ist eine Hyperbel. Was er durch die Sonne an Geschwin- digkeit erhalten hat, verliert er auch wieder. Aber ganz resultatlos war die Sonnennähe nicht; es wurde ja die Richtung der Bewegung geändert. Je grösser nun die anfängliche Geschwin- digkeit war, um so steiler wird die Hyperbel, je kleiner sie war um so stärker wird die Bahn gekrümmt, um so mehr sl nähert sie sich einer Parabel. Aehnlich gestalten sich die Verhältnisse, wenn nebst dem Meteoriten auch die Sonne in Be- wegung begriffen ist. Wir sind nun bei unserem Fall an- gelangt. Da die Kometenbahnen nahezu parabolisch sind, so folgt, dass diese Gestirne zu: der Zeit, wo sie die Grenze der Sonnenanziehung passiren, eine äusserst kleine Geschwindigkeit haben müssen, und das ist eben die früher angedeutete Voraussetzung, unter wel- cher eine Centralbewegung in der Pa- rabel vor sich geht. Da die Sonne selbst ihren Ort im Raume stetig än- dert, so müssen auch die Kometen dar- an theilnehmen. Hätten sie eine ei- gene Bewegung in Bezug auf die Sonne, kämen sie also aus den entlegenen Fix- sternräumen zu uns herüber, so müs- sten ihre Bahnen streng ausgesprochene Hyperbeln sein, was aber nicht der Fall ist; diese Folgerung wurde zuerst von HornsTEIN gezogen und später von SCHIAPARELLI* bestätigt. Verfolgen wir einen Himmelskörper, nachdem er sein Perihel passirt hat. Ist seine Bahn eine Hyperbel, so nimmt seine Geschwindigkeit zwar fortwährend ab, die Bewegung geht aber mehr und mehr in eine gleichförmige über, und mit dieser würde er endlich aus dem Bereich der Anziehung hinauswandern. So bewegen sich gewöhnlich die Me- teoriten, jene kosmischen Massen, von denen uns einige als Feuerkugeln sicht- bar werden. Geht jedoch der Körper in einer Parabel, so nimmt die Ge- schwindigkeit rascher ab, als bei der Hyperbel und nähert sich im Grenzfallder Null, d. h. der Körper bleibt schliesslich stehen, wenigstens relativ zur Sonne; hier haben wir den Fall der Kometen und vielleicht auch der Meteorströme. Diese Gegend des Stillstandes müs- sen wir nun als den regelmässigen #= SCHIAPARELLI, Entwurf einer astrono- . O rn Y mischen Theorie der Sternschnuppen; 7. Note. 23* 332 Aufenthaltsort der Kometen betrachten. Wie weit mag dieselbe von uns ent- fernt sein? Wenn die Sonne einem Fixsternsystem angehört, das eine ge- meinschaftliche Bewegung hat, so be- findet sich der Ruheort zum Theil an der Grenze der Anziehungssphären zwei- er Sterne. Schreitet aber unser Cen- tralkörper selbstständig weiter, so ha- ben wir uns diese Gegend als eine Kugelschale zu denken, die jedenfalls vielmal weiter draussen liegt als die Neptunbahn, während sie andererseits doch wieder bedeutend näher ist als die Hälfte einer Sternweite. Damit ist aber nicht gesagt, dass sich jenseits dieser Grenze kein Komet mehr vor- findet, es ist sogar naturgemäss, dass der nächste Fixstern auch seine Wölk- lein besitzt, von denen wir aber wahr- scheinlich noch nie einen zu Gesicht bekommen haben; von den unserigen dürften dieselben wohl verschieden sein, wenn sie auch unter einander die glei- che Constitution aufweisen. Ist der Komet zur Ruhe gekommen, so bedarf es nur der geringsten Stö- rung, etwa der Einwirkung eines ande- ren, soeben von der Sonne zurückkehren- den Kometen, um ihm wieder eine kleine Bewegung zu ertheilen, und er kann daher ein zweites Mal zur Sonne herab- steigen, aber in einer von der ersten ganz verschiedenenBahn. Es ist demnach möglich, dass ein in diesem Jahre sichtbar gewesener Komet später ein- mal wieder an unserem Himmel er- scheint, obwohl sich dann die Identi- tät nicht mehr beweisen lässt, weil das einzige Erkennungszeichen für einen »alten< Kometen, die Gleichheit der Bahnelemente, ganz illusorisch wird. Freilich sind die Zeiträume von einer Erscheinung bis zur nächsten so gross, dass unter den jetzt bekannten Kome- ten sicher kein einziger ist, der wäh- rend der historischen Zeit schon eine volle Wanderung von der Sonne hin- weg bis jenseits der Neptunusbahn nach Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem dem Ruheort und wieder zurück zur Sonne gemacht hätte. Der allgemeine Anblick, den un- sere Kometenfamilie nach aussen hin gewährt, dürfte folgender sein. Befin- det sich das beobachtende Auge an einem entlegenen Standpunkt, nicht weit von der Ekliptikebene, so zeigt sich ein Fixstern, begleitet von wenigen Planeten, die mit ihm fast in einergeraden Linie liegen, ähnlich den vier Jupiter- monden. Dieses System ist ringsherum, wenn auch sehr locker eingehüllt von zarten Wolken, die sich zwar sehr weit, aber doch nicht ins Unendliche ent- fernen können; ihre grössten Abstände sind nach jeder Richtung hin ziemlich dieselben, so dass sie als Halbmesser einer ungeheuren Kugel betrachtet wer- den können, deren Mittelpunkt der Fixstern, unsere Sonne ist. Viele die- ser Wölklein befinden sich am äusser- sten Rande der Kugel, und sind ruhig oder doch nur in schwacher Bewegung. Hie und da senkt sich ein Wölklein gegen die Sonne anfangs langsam) dann immer rascher, geht um dieselbe her- um und kommt schliesslich fast an derselben Stelle wieder zurück. Dieses Sinken und Steigen von Wolken, d. i. von Kometen, vollzieht sich unaufhör- lich, und zwar ist die Bewegung für den ersten Anblick nahezu geradlinig. Denkt man sich noch das ganze System in fortschreitender Bewegung, so sind die Umrisse des Bildes fertig. Die von den Kometen unter solchen Umständen be- schriebenen Bahnen sind Kegelschnitt- linien die von der Parabel wenig ab- weichen, dass wir den Unterschied durch unsere Rechnungen gewöhnlich gar nicht nachweisen können. Die bisherigen Betrachtungen gel- ten für jene Klasse von Kometen, die am zahlreichsten vertreten ist, nämlich solche deren Bahnen parabolischen Charakter besitzen, obwohl manche dar- unter der Rechnung zufolge schwach elliptisch sind. Es giebt aber einige, Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. die nach der ersten Erscheinung schon ein oder mehrere Male zurückgekehrt sind, im Ganzen zehn. Diese soge- nannten periodischen Kometen sollen uns hier nur kurz beschäftigen. Schon öfter wurde darauf hingewiesen, dass die Umlaufszeit jedes periodischen Ko- meten ungefähr dieselbe ist, wie die Umlaufszeit irgend eines unserer gros- sen Planeten; so ist sie beim HAuLEY’- schen Kometen nur um einige Jahre kürzer, als beim Uranus, während der Komet von TurrL£ in Bezug auf seine Umlaufszeit fast mit dem Jupiter zu- sammenfällt. Die übrigen acht Ko- meten, welche mit Sicherheit als perio- disch erkannt sind, liegen mit ihren Umlaufszeiten sämmtlich zwischen Mars und Jupiter, und es liesse sich sogar zu jedem auch ein Asteroid finden, der mit ihm in gleicher Zeit um die Sonne läuft. Es ist nun erwiesen, dass diese Kometen ihre geschlossenen Bahnen nur der Attraction eines grossen Pla- neten, gewöhnlich des mächtigen Jupi- ter, zu verdanken haben. Wir können sie hinsichtlich ihrer Bewegungsverhält- nisse ganz in die Klasse der Planeten einreihen, aber nicht als ihre Brüder, sondern als Nachbarn, die in Folge der Massenwirkung in unsere Familie her- eingezogen wurden. Denselben Gedanken hat G. For- BES* in einer etwas anderen Richtung ve:folst. Er stellt nämlich die Aphel- Distanzen von 51 Kometen, denen die Rechnung elliptische Bahnen giebt, zu- sammen und vergleicht sie mit den Distanzen der grossen Planeten von der Sonne. Jupiter steht bekanntlich etwa 5mal weiter von der Sonne ab, als die Erde, und in der Thatfanden sich in dieser Zusammenstellung eilf Kometen, deren Aphel-Distanz zwischen 4 und 6 liegt. Die Entfernung des Neptun beträgt *= On Comets and Ultra-Neptunian Pla- nets; ein Auszug davon in „The Observa- tory“ No. 38 und im „Kosmos“ Bd. VIL. 333 30 Erdbahnhalbmesser und das Verzeich- niss weist sechs Kometen auf, deren Aphel-Distanz von 32 bis 35 variirt. Ausserdem finden sich sieben Kometen, bei denen sie etwa 100, und sechs, bei denen sie ungefähr 300 Erdbahnradien beträgt. Da wir nun die Periodicität jedes Kometen einer planetarischen Ein- wirkung zuzuschreiben haben, so muss sie bei den zwei letzten Gruppen von noch unbekannten Planeten herrühren, welche jenseits der Neptunbahn um die Sonne gehen. Forgzrs hat nun auch die Positionen dieser zwei transnep- tunischen Planeten zu ermitteln gesucht, und, da er besonders den inneren für ziemlich sicher hält, in den Fixstern- katalogen nachgesehen, ob sich an die- ser Stelle ein Stern vorfindet, der seit der Beobachtungnichtmehr gesehen wor- den ist. Nur ein einziger, im Green- wicher Seven-Year-Catalog enthaltener Stern (in der Nähe von r Leonis) schien diese Bedingung zu erfüllen; bald aber führte A. WAGnER** den Nachweis, dass der fragliche Stern am Himmel auch jetzt an derselben Stelle zu finden sei, und demnach die Resultate von ForBES noch der Bestätigung harren. Immer- hin wäre es aber ein ganz eigenartiger Fall, wenn ein transneptunischer Planet mittelst Kometenbahnen entdeckt würde. So logisch auch diese Folgerungen sind, muss man sie doch desshalb mit Vorsicht aufnehmen, weil ihre Basis keine sichere ist. ForsBes legt nämlich auf die grossen Bahnaxen, die für die einzelnen Kometen berechnet sind, also auch auf die zugehörigen Umlaufszeiten zu viel Gewicht. Es kann nicht oft ge- nug davor gewarnt werden, eine Zahlvon Jahren, die im Katalog als wahrschein- lichste Umlaufszeit eines Kometen an- geführt ist, als etwas Exactes zu neh- men, besonders dann, wenn sie ein Jahr- S. 467. ** Monthly Notices of the Royal Astro- nomical Society, London. Vol. 40. 334 hundert übersteigt. So habe ich ge- funden, dass der von Cocscıa am 19. August 1874 entdeckte Komet eine Umlaufszeit von 300 Jahren besitzt. Ich brauche aber die Rechnungsgrund- lagen nur etwas anders zu combiniren und kann leicht eine viel grössere Um- laufszeit finden. Sollte es aber ge- schehen, was gar nicht unmöglich ist, dass dieses Gestirn schon nach SO Jah- ren zur Sonne zurückkommt, so wird kein Astronom davon überrascht sein; im ersten Augenblick würde eine solche Wiederkehr zwar grosses Interesse er- regen, aber man könnte daran gar nichts Gesetzwidriges finden. Die astro- nomischen Beobachtungen, auf welche sich ja die Rechnung stützen muss, sind nämlich stets mit Unsicherheiten behaftet, die von den Unvollkommen- heiten unserer Sinne und der Messin- strumente herrühren; diese unvermeid- lichen Beobachtungsfehler schleppen sich nun durch die ganze Rechnung mit und machen sich besonders in dem empfind- lichsten Bahnelement, in der Umlaufs- zeit bemerkbar, und zwar um so mehr, je grösser dieselbe ist. Erst dann darf man die Zeit der Periode für gesichert halten, wenn der Komet wirklich wie- derkehrt. Nach dieser kleinen Auseinander- setzung über die periodischen Kometen gehen wir wieder zu einer allgemeinen Betrachtung über, und zwar zur Frage über Kometenradianten. HovzeaAu * hat es unternommen, die Richtungen der grossen Bahnaxen aller Kometen, also die Lage der Aphelien unter einander zu vergleichen. Wenn nämlich die Kometen von aussen her in unser Sonnensystem kämen, so würden sie wohl ziemlich gleichmässig von allen Seiten in dasselbe eindringen. Da aber die Sonne mit ihrem Planeten- * Note sur la tendance qu'affeetent les grands axes des orbites cometaires a se diriger dans un sens donne. Bulletins de l’academie royale de Belgique; 42. annee. | | besteht, Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. gefolge eine Bewegung im Raum be- sitzt, so ist die Bedingung nicht mehr dieselbe, und es muss sich eine, der Radiation der Sternschnuppen analoge Erscheinung darbieten. Houzsau hat nun 209 Kometenbahnen in Betracht gezogen und fand, dass ihre Axen in einem grössten Kreis, der durch die Zwillinge und den Schützen geht, dich- ter angehäuft sind, als in dem darauf senkrecht gelegten Kreis; das Ueber- gewicht ist aber nicht so stark, um auf ein strenges Gesetz schliessen zu lassen. Interessant bleibt das Eine, dass die grösste Anhäufung nicht allzu weit von derjenigen Richtung abweicht, welche man für die Eigenbewegung unserer Sonne gefunden hat. Dieses Princip der Kometenradianten kann natürlich nur dann bestehen, wenn die Kometen an dem Weiterschreiten der Sonne nicht genau theilnehmen, sondern doch eine, wenn auch nur geringe relative Be- wegung haben. Hinsichtlich der Richtung der gros- sen Axen hat auch SCHIAPARELLI** eine Gesetzmässigkeit gefunden, welche darin dass Kometen und Meteor- ströme mit kleiner Perihel-Distanz eine vorwiegende Tendenz haben, von jener Gegend des Raumes herzukommen, deren Rectascension 72° und Declination + 48° ist, also nicht weit von « Aurigae (Capella). Wir würden dadurch zu dem Schlusse geführt werden, dass in der Richtung der Capella ein System von Massen existirt, die sich im Raume mit einer genau oder fast genau gleichen Richtung und Geschwindigkeit wie die Sonne bewegen. Indess zeigte aber Dr. R. Leumann-FıLags in Berlin ***, dass diese Zusammendrängung der Aphe- lien durchaus keine reelle ist, sondern nur durch die bei den Beobachtungen obwaltenden Umstände bedingt ist ; diese ** A, a. O. 3. Note. #22 Tfeber die Kometen und Meteorströme mit kleiner Periheldistanz. Astronomische Nachrichten, Band %. Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. bestehen hauptsächlich darin, dass wir auf der nördlichen Erdhemisphäre unter den erwähnten Himmelskörpern am wahrscheinlichsten solche finden werden, deren Aphelien dort liegen, wo sich die Ekliptik am weitesten gegen Norden erhebt, d. h. in den Zwillingen, die ja die Nachbarn des Fuhrmanns sind. Das ist nun auch dieselbe Himmelsgegend, in welcher Houzrau eine Anhäufung der Kometen-Aphelien gefunden hat. Freilich hat er sämmtliche Kometen berücksichtigt, SCHIAPARELLI nur die mit kleiner Periheldistanz, aber dennoch tragen die letzteren viel dazu bei, in der Houzrau’schen Zusammenstellung ein Uebergewicht in der Gegend der Zwillinge hervorzurufen, so dass also auch diese Schlussfolgerung durch den Einwurf von LeumaAnn-FinH£s theilweise getroffen wird. Dass die Kometenkörper wenig Con- sistenz haben müssen, ist uns schon durch mancherlei Erscheinungen be- wiesen worden, so durch die Theilung des Brera’schen Kometen. Wenn nun wirklich solche Spaltungen mehrfach stattfinden, so werden die einzelnen Glieder nach und nach verschiedene Bahnen beschreiben, die aber einen Punkt gemeinschaftlichhaben. Auf diese Weise enstehen Systeme von Kometen, ein Capitel, dem Professor Hork in Utrecht grosse Aufmerksamkeit “zuge- wendet hat. Er fand nämlich bei meh- reren dieser Gestirne, dass sich ihre Bahnen in einem Punkt des Raumes schneiden oder wenigstens bedeutend nähern, und schloss daraus auf einen gemeinsamen Ursprung. Unlängst hat aber J. GLAUSER* in Bern die Bedingung, unter welcher zwei Kometen auf ein anfänglich zusammengehöriges System hinweisen können, schärfer ins Auge gefasst, wobei sich ergab, dass unter allen Gruppen, die einem Zusammenhang * Ueber Kometen-Radianten. Astrono- mische Nachrichten, Band 99. 335 günstig scheinen, nur eine einzige ist, welche zu einem solchen Schluss wirk- lich berechtigt. Es sind dies zwei Ko- meten, von denen der eine am 11. Juli 1824, der andere am 10. September 1833 sein Perihel passirt hat. Bei die- ser Auswahl muss hauptsächlich die Einschränkung gemacht werden, dass alle vor dem Aphelium liegenden Schnitt- punkte auszuschliessen sind, denn natur- gemäss kann ein wirklicher Radiations- punkt nur auf jener Strecke sein, die der Komet während seines Laufes vom Aphel zum Perihel durchmisst. Schliessen wir diese Auseinander- setzungen mit einer kurzen Betrachtung, die in manchen Fällen von Wichtigkeit sein kann. Es befinde sich an der Grenze der Anziehungssphäre unserer Sonne ein Komet, dessen relative Be- wegung sehr klein und zwar gleichför- mig und geradlinig ist. Zielt nun die Rich- tung derselben nahezu auf die Sonne (denn nur in diesem Falle kann das Gestirn für uns sichtbar werden), so sind von jetzt an schon die vier Ele- mente gegeben, welche sich auf Lage und Dimension der Bahn beziehen. Legt man durch ein Bahnstück des Ko- meten und durch die Sonne eine Ebene, so hat man damit Knoten und Neigung, die Differenz zwischen der Bewegungs- richtung und der Verbindungslinie zur Sonne bestimmt den Perihel-Abstand und der heliocentrische Ort des Kometen selbst giebt die Lage des Apheliums. Daraus folgt: Jeder Körper, der einen bestimmten Punkt in gleicher Richtung und Geschwindigkeit passirt, muss die- selben Bahnelemente haben; wenn sich daher eine Gleichheit der Elemente zeigt, so brauchen die beiden Kometen desshalb nochimmer nichtidentisch zu sein. Freilich wird es sich nur ausser- ordentlich selten ereignen, dass in dem ungeheuren Raum, der diesen Himmels- körpern zur Verfügung steht, genau an der Stelle, die ein Komet passirt hat, später einmal ein zweiter eintrifft, der 336 dieselbe Bewegungsrichtung besitzt; auch kann man aus dem in der Son- nennähe liegenden Bahnstück nichtleicht einen Schluss auf die Bewegung des Gestirnes in so entlegenen Strecken ziehen, da schon die geringfügigste Aen- derung eines Bahnelementes, z. B. der Länge des Perihels, eine beträchtliche Verschiebung des Kometen im inter- stellaren Raum zur Folge hat, aber immerhin mag in dieser Betrachtung die Erklärung des Umstandes zu suchen sein, dass öfters die Bahnelemente eines Kometen fast ganz mit denen eines anderen übereinstimmen, und die Ge- stirne trotzdem nicht identisch sind. Ich habe übrigens nur wenige hieher bezügliche Kometenpaare gefunden, so z. B. die Kometen von 1532 und 1661, welche schon Pınsr& für identisch ge- halten hat; für den Fall der Identität hätte um das Jahr 1790 eine Wieder- kunft stattfinden müssen, doch hat sich diese Muthmassurng nicht bestätigt. Ferner gehören hieher die Kometen von 1810 und 1863 (Dec. 27), die man auch seinerzeit mit einander in Zu- sammenhang bringen wollte.* Es sind nun nahezu alle Umstände und Erscheinungen in Betracht gezogen, welche einen Schluss auf die Zuständig- keit der Kometen mit einiger Sicherheit gestatten. Wir finden immer mehr, dass diese Gestirne als ein ganz eigenes System zu gelten haben, (denn selbst die Beziehungen der wenigen periodi- schen Kometen zu den grossen Planeten sind nichts Ursprüngliches, sondern eine einfache Folge der Gravitation,) und dass sich die kometarischen Massen zur Zeit der Bildung unseres Planeten- systems ausserhalb desrotirenden Nebel- balls befanden, gegenwärtig aber unsere Sonne auf ihrer Wanderung durch den Weltraum begleiten und mit ihr ziem- lich gleichen Schritt halten. * Nachschrift. Während des Drucks dieser Zeilen war an unserem Horizont ein schöner Komet zu sehen, den ich Holetschek, Die Stellung der Kometen zu unserem Sonnensystem. als neues Beispiel für die hier angege- bene Schlussfolgerung betrachte. Seine Bahn hat grosse Aehnlichkeit mit der des Kometen vom Jahre 1807, wess- halb man gleich im Anfang die Iden- tität beider Gestirne für wahrscheinlich hielt. Vom 22. Juni 1881 an ist der Komet auf der Nordhemisphäre vielfach beobachtet worden, was Veranlassung zu zahlreichen Bahnberechnungen gab, deren Resultate unter einander in recht befriedigender Weisestimmen. Vergleicht man aber diese Bahnelenente mit de- nen des 1807er Kometen, so bleiben sie denselben zwar immer noch ähnlich, werden ihnen aber durchaus nicht gleich; blos die Neigung ist in beiden Bahnen die- selbe (63°), in den übrigen Elementen treten jedoch Differenzen auf, die durch die Einwirkung eines Planeten (etwa Venus) nicht erklärt werden können. Dass die Länge des aufsteigenden Knotens, die doch sicher zu bestimmen war, in beiden Bahnen um 4° verschie- den ist, spricht besonders gegen die Identität; diese Differenz wird sich auch bei einer späteren Rechnung nicht mehr erheblich verringern lassen. Wir haben also zwei Kometen vor uns, die fast in derselben Bahn einher- gehen ähnlich wie die Sternschnuppen, welche demselben Meteorring angehören. Nimmt man nun an, dass der dies- jährige Komet seinerzeit in der Nähe des Ruheortes an ziemlich derselben Stelle wie der von 1807 unter den oben mitgetheilten Umständen sich be- funden hat, so folgt die Aehnlichkeit der Bahnen von selbst, ohne dass dess- halb an eine Identität zu denken wäre. Wollte man dagegen beide Gestirne als zusammengehöriges System betrach- ten, so müsste die Theilung zu einer Zeit und in einer Art stattgefunden haben, für deren Vorstellung unsere gegenwärtigen Kenntnisse nicht ausrei- chen, da ja in diesem Falle der eine Körper dem andern schon um 74 Jahre vorausgeeilt wäre. JH. Zur Geschichte des Homologiebegriffes und der genetischen Naturbetrachtung. Von Dr. Willibald Hentschel. Innerhalb des wissenschaftlichen Na- turbetrachtens hat sich im Laufe der Geschichte eine zwiefache Sonderung der Forschungsgebiete hervorgethan. Wie im Alterthum die beiden Philo- sophenschulen der Jonier und Eleaten sich in gewissem Sinne feindlich gegen- über standen, indem die eine dieser Schulen ein einheitliches Gesetz der Entwickelung und des Werdens für das Weltganze in Anspruch nahm, die an- dere dagegen dieser Weltauffassung geradenwegs entgegentrat, und alle Ent- wickelung der Welt, alle zeitliche Um- gestaltung derselben als innerlich wider- spruchsvoll aufzufassen suchte, so sehen wir auch die heutigen Disciplinen der Naturkunde in zwei gegensätzliche La- ger zerfallen, von denen das eine eine fruchtbare Erklärung seiner Objecte durch eine historische Herleitung der- selben von einfachsten Ausgangspunk- ten, unter beständigem Hinweis auf die diese Entwickelung treibenden Kräfte anstrebt, das andere sich dagegen bis- her allen entwickelungsgeschichtlichen Vorstellungen verschlossen hat, und seine Naturobjecte als einmal gegebene betrachtet, über deren Wesen und Her- kunft zu forschen — erfolglos sei; wo dagegen solche Erfolglosigkeit nicht von vornherein zugestanden wird, ist doch keinen Ortes der Anfang einer objec- tiven Erkenntniss wahrzunehmen; wir meinen hier eine Erkenntniss, welche von einer blossen Betrachtung der Dinge und der Gesetze des Geschehens zu einer Ergründung des Wesens derselben vorschreitet. Ein Blick auf den Entwickelungs- prozess der Naturwissenschaft überhaupt lehrt zugleich, dass jenes genetische Princip der Betrachtung immer mehr an Boden gewinnt, wie ja noch in den letzten Decennien sich ein hierauf be- züglicher grossartiger Process auf bio- logischem Gebiete abgespielt hat. Es erhebt sich die von vornherein nicht durchaus zurückzuweisende Frage, ob nicht auch jene bisher dem genetischen Princip der Betrachtung unzugänglichen Disciplinen (Physik im weitesten Sinne und ein Theil der anorganischen Mor- phologie) im weiteren Verlauf der Ge- schichte demselben zugänglich werden möchten, um hierdurch — ähnlich der biologischen Wissenschaft — in eine ganz neue bedeutendere Phase ihrer Entwickelung zu treten. Einige Finger- zeige für ein Für und Wider in dieser Angelegenheit dürften aus einem Stu- dium des nicht nur für die Biologie 338 bedeutungsvollen Begriffes der Homo- logie fliessen, welche Betrachtung uns denn auch in Gegenwärtigem beschäf- tigen soll. Der Begriff der Homologie, wenn wir uns blos an sein Wesen halten, reicht bis in das Alterthum hinein, und werden wir denn zunächst hier seine Gestaltung einer flüchtigen Betrachtung zu unterziehen haben. Die griechische Philosophie bis auf Empedokles und Demokrit begnügt sich damit, in naiv- ster Weise ein Urtheil über die Welt als ein Ganzes zu fällen. Dieses Ganze entwickelt sich, oder ruht in ewiger Starre, findetsich in beständigem Flusse, oder stellt eine bewegungslose, in allen Theilen gleich schwere Kugel dar, zeigt sich als Product des Wesenwechsels einer Materie, oder des Zusammentritts und der Trennung mehrerer Elemente, oder der Bewegung kleinster Massen- theilchen — immer offenbart sich ein Streben nach einem Verständniss der Natur als eines geschlossenen Ganzen, während den einzelnen Naturobjecten oder bestimmten Klassen solcher eine selbständige Betrachtung nur Ausnahms- weise gewidmet wird. Das Chaos, wel- ches sich dem ins Einzelne zu dringen versuchenden Geiste bot, mochte wohl zurückschreckend wirken und die Mein- ung erregen, dass eine irgend eindrin- gende Analyse des Einzelnen dem Men- schengeiste verschlossen sei; auch in dieser Richtung greift die spätere grie- chische Philosophie tief umgestaltend ein und zwar vor allem in ihren zwei hervorragendsten Vertretern, von denen einerseits ein zusammenfassendes Sy- stem aller Naturerscheinung , sowohl physischer als auch intellectueller an- gestrebt wird, wodurch ein systema- tisches Eingehen auf das Einzelne sich unbedingt nothwendig macht, anderer- seits einzelne nunmehr von den übrigen streng gesonderte Disciplinen einer weit gehenden Specialanalyse unterworfen werden. In ersterer Richtung ist die Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes Thätigkeit PrAro’s, in letzterer die des ARISTOTELES hervorzuheben. Innerhalb des Platonischen Systems der Ideen werden wir auch den Begriff der Ho- mologie auftauchen sehen, welcher von nun an eine wichtige Rolle in der Wissenschaft spielen sollte. — Bei der Betrachtung der Ideen, d. h. der menschlichen Abstractionen aus mehr oder weniger umfassenden Gruppen von Einzelerscheinungen, ent- wickelte sich bei Praro allmählich ein Begriff der Verwandtschaft dieser Ideen und damit auch der Naturobjecte; schon die Thatsache, dass es möglich sei, aus einer umfassenden Gruppe von Ein- zeldingen einen abgeschlossenen Begriff zu abstrahiren, fordert eine Verwandt- schaft, eine Gleichheit der Eigenschaf- ten all dieser Objecte. Die innerhalb der idealen Abstractionen durch Puaro entdeckten Beziehungen gestatten eine Zusammenfassung auch der Ideen zu Ideen höherer Ordnung, wodurch es möglich wird, über der concreten Er- scheinungswelt ein System übereinander geordneter Begriffsetagen aufzubauen. Diese Entdeckung der Verwandt- schaft der Ideen setzt PrLaro in Er- staunen, er findet in derselben eine göttliche Eingebung und einen Quell bewundernder Betrachtung, und wenn wir die Bedeutung des Platonischen Begriffsschema’s in Betracht ziehen und bedenken, dass alle Wissenschaft bis auf den heutigen Tag sich wesentlich mit einem planvollen Ausbau jener zu- erst durch PuAro angestrebten Begriffs- pyramide beschäftigt, so werden wir solches ahnungsvolle Erstaunen nicht unbegreiflich finden. Wir brauchen uns nur etwa aus der Biologie alles zu ent- fernen, was mit dem System zusammen- hängt, um jene Wissenschaft auf ein Unbedeutendes zusammenschrumpfen zu sehen. Die Beziehung nun, welche Puaro veranlasst, zwei Naturobjecte oder zwei Ideen als unter eine neue Idee unter- und der genetischen Naturbetrachtung. zuordnende, anzusprechen, haben wir als Homologie zu bezeichnen. Offenbar ist hier gleich die Vorstellung, dass diese Beziehung der Homologie auf eine Gleichheit der Objecte hinauslaufe, ganz auszuschliessen, vielmehr zeigt sich, nur eine gewisse Aehnlichkeit jener, welche mit der zunehmenden Abstraction der Begriffe in den denselben untergeord- neten Objecten einer weitgehenden Divergenz der Charaktere weichen kann: während die Mitglieder einer Thier- spezies sich oft kaum merklich von einander unterscheiden, können zu einer Gattung oder einer Classe schon weit auseinandergehende Formenkreise ge- hören. Bei der Vergleichung der Objecte ist indess noch in Betracht zu ziehen, dass dieselben fast immer höchst zu- sammengesetzter Natur sind, wesshalb einem Vergleich derselben eine ein- gehende Analyse vorauszugehen hat, worauf alle Objecte als Homologa zu erklären sind, innerhalb deren sich ein Maximum von gleichen Theilen con- statiren lässt. Aus alledem folgt, dass das Kriterium der Homologien für PLATo ein mehr oder weniger willkürliches und nicht scharf zu umschreibendes ist und lediglich auf Aehnlichkeiten der Natur- objecte hinausläuft. Die Versuche zur Erklärung dieser Homologien als eigen- thümlicher gegenseitiger Beziehungen der Naturerscheinungen unter einander sind bei Praro bekanntlich so durch- aus subjectivistisch metaphysischer Art, dass ein näheres Eingehen auf diesel- ben hier überflüssig erscheint. f Der Weiterbildung dieses Platoni- schen Natursystems in allen seinen Theilen,. sowie der Umgestaltungen, welche der Homologiebegriff innerhalb der verschiedensten Disciplinen 'erleidet, zu folgen, kann nun nicht unsere Auf- gabe sein, wir begnügen uns vielmehr für diese Betrachtung zunächst mit einem beschränkten Gebiete — dem der biologischen Wissenschaft und be- 339 halten uns zum Schluss eine Rundschau auf die übrigen naturwissenschaftlichen Disciplinen ‚vor. Das erste eingehendere System des Thierreichs stammt von ARISTOTELES und muss als eine der hervorragendsten wissenschaftlichen Leistungen aller Zei- ten angesehen werden; die niedersten Begriffsordnungen innerhalb desselben bilden die Arten, welche den unsrigen gleichnamigen Formenkreisen mehr oder weniger entsprechen, als von der Natur selbst gebildete Gruppen von Einzel- wesen, wobei die aristotelische Art von ziemlicher Dehnbarkeit ist, man sich überhaupt über deren Wesen keine weiteren Kopfzerbrechen zu machen hat; — darüber fügen sich noch Ideen einer zweiten Ordnung, unseren Gat- tungen entsprechend, deren Vereinigung unter Ideen einer dritten Ordnung oft mit grösster Genialität zu Stande ge- bracht ist. Als besonderes Verdienst des ARISTOTELES ist hierbei anzuerken- nen, dass er das Platonische Kriterium des Homologiebegriffes auf diesem spe- ziellen Gebiete in mustergiltigster Weise zur Anwendung bringt, dasselbe auch einer fruchtbaren Weiterbildung unter- wirft; so begnügt sich ARISTOTELES nicht mit ‚einer Analyse des fertigen Thieres, also einer möglichst eingreifen- den Anatomie desselben, fordert viel- mehr auch eine solche des werdenden Organismus auf allen Stadien seiner Entwickelung, um so die zur Vergleich- ung zu benützenden Instanzen um ein Wesentliches zu vermehren; bekannt- lich hat ArısroreLes diesem ontogene- tischen Princip der Betrachtung eine Reihe seiner wichtigsten biologischen Erfolge zu verdanken. Wenn demnach das Aristotelische Thiersystem uns als eine Ausführung eines Theils des Platonischen Logos erscheint, so ist doch der Sinn, in wel- chem dieser Ausbau durchgeführt wird, ein wesentlich anderer; die Analyse der Erscheinungswelt, welche für PrLaro im 340 Grunde nothwendiges Uebel war, ist hier einziger Zweck, wo es sich vor Allem um Kenntniss des Einzelnen han- delt und die höheren Begriffscategorien nur als Mittel zur Erreichung einer möglichst systematischen Kenntniss von den Einzeldingen dienen. Nach Arısro- TELES unterliegt mit der Naturphilo- sophie auch die Thierkunde einem weit- gehenden Verfall, nach welchem erst durch die Bemühungen der letzten Jahr- hunderte der Aristotelische Standpunkt wieder errungen werden konnte. Dieser Verfall geht so weit, dass der vielgerühmte Printus die Thiere ihrem Wohnorte nach in Landthiere und Wasserthiere eintheilen konnte; also gegen ARISTOTELES eine endlose Verflachung des Homologiebegriffes,, als dessen kritisches Merkmal hier die Le- bensweise der Thiere gilt; wenn wir nicht wüssten, dass der vorzügliche Zoologe der Reformationszeit C. G&ss- NER bei der Aufstellung seines Systems (1551) von wesentlich andern Rück- sichten geleitet wurde, ohne das Stre- ben nach einem natürlichen System auf- zugeben, so würden wir in seinem al- phabetisch geordneten Thiersystem die weitgehendste Verflachung des Homo- logiebegriffes zu constatiren haben. Indess zeigt sich schon mit dem 15. Jahrhundert eine Wiedererweckung des aristotelischen Systems und damit ein gesunderes Streben nach einem alle Charaktere der Organismen in Betracht ziehenden — desshalb natürlichen bio- logischen System; dieses Streben ver- tieft sich bei Worren und namentlich bei MAupıGHI so weit, dass dieser letz- tere schon das Bedürfniss einer Ver- gleichung aller Thierformen mit allen fühlen konnte und zum Verständniss der Höheren ein Studium der Niederen als nothwendig erachtete; damit ist aber ein von äusserlichen Aehnlichkei- ten zu einem tieferen Verwandtschafts- studium fortschreitender Vergleich ge- geben. Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes Im Laufe des 17. Jahrhunderts tritt zu diesen naturphilosophischen Ten- denzen der Biologie das neue Bestreben ein chaotisch anwachsendes Material zu beherrschen und eine Uebersicht über dasselbe zu erlangen, aus welchem Be- streben der Speciesbegriff J. Ray’s her- vorgeht; letzterer Forscher bemüht sich jenen von ARISTOTELES in unbestimmtem Sinne gebrauchten Begriff in eine feste Form zu bringen, und in ihm ein Maass für die thierische Organisation aufzu- stellen, welches nicht in das Formen- reich einzuführen sei, sondern mit dem- selben bereits gegeben erscheint. Die- ses Bestreben, den Speciesbegriff aller subjectiven Willkür zu entziehen, führt Ray zu einer ersten Aufstellung einer positiven Charakteristik der thierischen Homologie, wenigstens, insofern sich diese auf die Mitglieder einer Species bezieht. Alle Formen, meint Ray, ge- hören zu einer Species, welche ihre specifische Natur unwandelbar behalten und von denen die eine nicht aus dem Samen der anderen entstehen kann; hiemit wird der Speciesbegriff allen übrigen biologischen Begriffscategorien als blos logischen gegenübergestellt und als der Ausdruck einer schon in der Natur gegebenen Gruppirung und zwar unwandelbaren Gruppirung betrachtet. Dieser vermeintlichen in der Natur selbst gegebenen Gruppirung der For- men wurde später von Liwn& eine noch präcisere Formulirung durch den Aus- spruch gegeben, dass es so viele Arten gebe, als am Beginn der Dinge von Gott einzelne Thierformen geschaffen worden sind. — In dieser Definition der Species als einer realen physiolo- gischen Einheit liegt eine schwer gra- virende historische That, welche die biologische Thätigkeit zunächst in rein äusserlich systematische Bahnen leitet und sie auf ein tieferes Eindringen in das Wesen der organischen Formen verzichten lässt; die Species, über deren etwaige Wandelbarkeit man sich bisher und der genetischen Naturbetrachtung. keine bestimmte Vorstellung gebildet hatte, deren Unwandelbarkeit man in- dess vorkommenden Falles wohl kaum als Glaubensformel betrachtet hätte, erstarrt nunmehr zu einer in ihrem Wesen unenträthselten Sphinx. Was nun die Homologien Linx&'s betrifft, so sind consequenterweise deren zwei verschiedene Arten zu unterschei- den, einmal die in der Natur gegebenen Homologien zwischen den einzelnen Re- präsentanten der Species — dieser Ho- mologiebegriff habe gar nichts mit un- serem Ermessen zu thun, er ist nichts anderes, als echte Blutsverwandtschaft, alle Individuen, die unter eine Species fallen, gehören einer grossen durch zahlreiche Vermehrungsprocesse ausge- breiteten Familie an; hieran zu rütteln sei thöricht, es handle sich nur darum, diese Verwandtschaften zu constatiren und die überall in der Natur begrenz- ten Arten als solche anzuerkennen... Zweitens ist eine andere Art der Ho- mologien bei Linn& zu unterscheiden, welche nicht identisch mit jener Bluts- verwandtschaft ist, vielmehr nur als Ausdruck einer mehr oder weniger be- deutenden Uebereinstimmung des Baues dienen kann; diese Homologien bezie- hen sich auf die höheren Begriffscate- gorien des Liwx#’schen Systems. Bei der Feststellung derselben schlägt Linx& einen wesentlich anderen Weg ein, als ARISTOTELES; es handelt sich für List um nichts mehr und nichts weniger, als um die Aufstellung eines Systems, in dem man sich mit möglichst gerin- gen Umständen orientiren und in wel- chen man eben so leicht jede neue Form einordnen könne; demgemäss wird ein möglichst durchgreifendes und leicht zu constatirendes Merkmal benützt, um nach seinem verschiedenen Verhalten als bestimmendes Merkmal für die eine oder die andere Gruppe von Formen zu dienen; also in schroffem Gegen- satze gegen ARISTOTELES, für den ja das System nur der präcise Ausdruck 341 tiefgehender und vielseitigster Forsch- ung sein sollte, bei dem der Begriff der Homologie der Ausdruck einer be- stimmten und wesentlichen Gemein- schaftlichkeit des Baues war, ein durch- aus künstliches System, wesentlich zum Zwecke einer mühelosen Gruppirung und Wiedererkennung der Formen, ein Ho- mologiebegriff als beliebiges Erkenn- ungs- und Gruppirungsmerkmal der thierischen und pflanzlichen Form; das gilt nach dem gesagten nur für die höheren Categorien, für die Species hebt sich ja das neue Princip der Bluts- verwandtschaft hervor. So bedeutungsvoll nun auch das Linne’sche System für eine vorläufige Örientirung im Thier- und Pflanzen- reiche war, so konnte es seiner mangeln- den philosophischen Tiefe wegen doch nur für ein kurzes dem fortschreitenden Forschergeiste genügen, und das umso- mehr, als man ja nur auf ARISTOTELES zu- rückzugehen brauchte, um eine wesent- liche Vertiefung des Standpunktes zu er- fahren. — Diese principielle Vertiefung des Standpunktes einerseits, sowie eine ungemein fruchtbare Cultur der mor- phologischen Einzelforschung sind die bedeutendsten Verdienste CuvıEr’s. Mit ihm dringt die Betrachtung der Formen von dem stummen Aeusseren der Lebwesen wieder in die Tiefe der- selben um eine bis zur äussersten Grenze der Möglichkeit fortschreitende ana- tomische Kenntniss anzustreben. Die so gewonnene Einzelkenntniss darf in- dess nicht als Abschluss der Betracht- ung angesehen werden, vielmehr hat sich auf dieselbe eine systematische Vergleichung aufzubauen, um dadurch zur Erkenntniss der Homologien als dem Ausdrucke tiefster Formenverwandt- schaft zu gelangen. Neben der Formen- verwandtschaft ist indess noch Mehre- res in Betracht zu ziehen, was bei der Aufstellung der Homologien jenes Kri- terium der Formenidentität zu erwei- tern und zu bestätigen hat. -— Diese 342 zweite Aeusserung der Homologien be- steht in der gleichen gegenseitigen La- gerung der Theile, in welcher sich ganz dieselbe systematische Gesetzmässigkeit wiederfindet wie in der Gestaltung jener Theile selbst. Hierdurch wird der ver- gleichenden Morphologie die Möglich- keit gegeben, die sich gleichsam ver- steckenden Formen auch in fremdem Gewande wiederzuerkennen und mit äusserlich gänzlich anders gestalteten als gleichwerthig anzuerkennen, so blosse Analogien aus dem Gebiete der Homo- logien fernzuhalten ; es liessen sich auch Reihen von Organen aufstellen, deren Endglieder durchaus verschieden waren, vielleicht ganz verschiedenen Functio- nen dienten, indess durch die vermit- telnden Uebergänge, vielleicht auch der Lagerung wegen als Homologa zu be- zeichnen waren. Als Ergänzung zu diesen Bemüh- ungen einer Vertiefung der Homologie dürfen die Forschungen C. E. v. BAER’S gelten und das durch denselben seit ARISTOTELES zuerst wieder in die Ver- gleichung eingeführte ontogenetische Princip, das gleich zu Beginn seine selbständige Bedeutung dadurch docu- mentirte, dass es BAER auf Grund sei- ner entwickelungsgeschichtlichen Unter- suchungen gelang, unabhängig von Cv- VIER, dessen aus dem Boden rein mor- phologischer Betrachtung erwachsene vier thierische Typen, als über den Klassen der Thiere stehende, jene neu zusammenfassende Begriffscategorien, selbständig festzustellen. — Es kommen demnach von nun an viererlei Prineipien bei der Aufstellung der Homologien in Betracht: 1) Formengemeinsamkeit, 2) gleiche Lagerung, 3) Reihen von Uebergängen aus einem Extrem in das Andere, 4) die individuelle Entwickelungsge- schichte. T Von der Species wird hierbei, wie bei Lınn# ganz abgesehen, diese re- Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriftes präsentirt einen von der Natur gege- benen Kreis blutsverwandter Formen, über dessen Umfang und Bedeutung kein Zweifel zu herrschen hat. Auf die- ser Grundlage gelingt es nun der Cu- vıer’schen Schule, ein so abgeschlos- senes und natürliches System der Thiere aufzubauen, dass selbst der durch die Einführung des genetischen Principes in der zoologischen Betrachtung herbei- geführte Umschwung keinen wesent- lichen Umbau desselben mehr nöthig machte, dass auch die neuere Morpho- logie, abgesehen von der Herbeiziehung einer ins Weitere gehenden Paläonto- logie, ihre Schlüsse auf derselben Grund- lage aufzubauen sich veranlasst sieht. Auch für die Cuvier’sche Schule sind demnach die Formen etwas unveränder- lich vom Schöpfer Gegebenes, eine Er- kenntniss der Ursachen ihres Seins, der Gesetze, nach denen sie ins Dasein ge- treten, ist ebenso unmöglich, wie die Erkenntniss jenes Schöpfers selbst, da- her es nur thöricht sei, jenen Fragen nachgehen zu wollen; vielmehr kann es unsere einzige Aufgabe nur sein, uns mit ordnendem Geiste in das Chaos der Formenwelt zu vertiefen, die Tau- send zwischen den einzelnen Formen geknüpften Beziehungen zu erfassen und auf dieser Basis ein System des Thier- reiches zu errichten, als einen Ausdruck des tiefst und vielseitigst ergründeten Wesens jener Thierformen. Dieser blos betrachtenden und ord- nenden Wissenschaft tritt seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ein neues Streben gegenüber, welches in seinen Grundlagen mit den Dogmen jener in Conflict geräth, sich auch bald in einem feindlichen Gegensatze zu jener CUVIER'- schen Schule befindet; und zwar tritt uns hier ein verkleinertes Bild jenes gewaltigen Kampfes innerhalb der grie- chischen Geisteswelt gegenüber, den die Jonier und Eleaten einstens gekämpft, auch hier tritt, wenn auch in umge- kehrter Reihenfolge, einer sich mit dem und der genetischen Naturbetrachtung. gegenwärtig zu erringenden Abbilde der Natur begnügenden Richtung eine zweite gegenüber, welche diesen gegen- wärtigen Zustand als einen gewordenen betrachtet und durch eine stufenweise Erklärung desselben ein tieferes Ver- ständniss seines Wesens anstrebt. Da- her giebt es für diese neue Richtung der Betrachtung keine starre, seit einer göttlichen Schöpfung unveränderte For- menwelt, sondern eine allmählich aus einfachsten Anfängen beginnende und nach gewissen zu bestimmenden Ge- setzen bis zu ihrer heutigen Stufe em- porsteigende, keine göttliche augen- blickliche Phantasieschöpfung, sondern ein stufenweises historisches Entstehen des Vollkommenen aus minder Vollkom- menem, dieses aus dem Einfachsten. Das Speciellere dieser Entwicke- lungslehre der Organismen darzulegen, kann nicht unsere Aufgabe sein; es erscheint nur geboten anzudeuten, in welch neuerer Gestalt nunmehr das System der Organismen uns entgegen- tritt, und welche Stellung dem Homo- logiebegriff innerhalb desselben zuzu- schreiben ist. — Wenn, wie schon an- gedeutet, das aus der Cuvırr’schen Schule hervorgegangene System der Thiere so gut wie beibehalten werden, auch die Methode der morphologischen Forschung dieselbe bleiben konnte, so ist doch jenem System nunmehr eine wesentlich neue Bedeutung zuzuschrei- ben: Die Species wird in keinen Gegen- satz zu den übrigen biologischen Be- griffscategorien gebracht, sondern als- eben solcher logischer, daher künst- licher Formenkreis angesehen. Die Vergleichung der Formen be- genügt sich nicht mehr mit einer Fest- stellung der Formengleichheit, sondern schreitet, von jener ausgehend, zu einer Feststellung der Blutsverwandtschaft der Organismen vor. Demnach begnügt sich das natür- liche System nicht mehr damit, als ein Ausdruck der Formengleichheit der Or- ganismen zu dienen, sondern- stellt die blutsverwandtschaftlichen Beziehungen aller Organismen unter einander dar. Der Begriff der Homologie wird dem- nach mit dem der Blutsverwandtschaft identificirt, seine Bedeutung wird eine scharf zu umschreibende und verständ- liche, denn jene tausendfältigen Homo- logiebeziehungen erscheinen nicht mehr als unerklärliche Phantasieproducte ei- nes Schöpfers, sondern als begreifliche Consequenzen der Entwickelung von gleichem Ausgangspunkt. Schon früher wurde gelegentlich bemerkt, dass der Begriff der Homologie von grosser Dehn- barkeit sei, es wird demnach unsere Aufgabe sein, die verschiedene Gestal- tung, in welcher er innerhalb des ge- netischen Systems (wenn wir das neue System so bezeichnen wollen) auftritt, einer näheren Betrachtung zu unter- ziehen. Hierbei scheiden: 1) Die aus der Vergleichung von Theilen ein und desselben Orga- nismus untereinander entspringen- Homologiebeziehungen. 2) Solche Homologiebeziehungen, die aus einer Vergleichung verschie- dener Organismen oder von Thei- len solcher hervorgegangen sind. _ Was nun zunächst die letztere Form der Homologie betrifft, welche passend als externe Homologie zu bezeichnen sein wird, so sind, wie angedeutet, auch hier zweierlei Fälle möglich, je nachdem ganze Organismen (Bionten) in Betracht kommen oder Theile solcher. Für die Homologiebezeichnung zwi- schen Bionten hatte sich in der frü- heren Morphologie der allgemeine Aus- druck Verwandtschaft eingebürgert, wo- bei man indess, wie wir sahen, nie- mals an eine aus blutsverwandtschaft- lichen Beziehungen fliessende Erklärung solcher Formenverwandtschaften dachte; um nun diese Art der Homologie von sind zunächst zu unter- 344 jener auf Theile von Organismen be- züglichen zu unterscheiden, wird es zweckmässig sein, sie als biontische Homologie zu bezeichnen. Die- ser Begriff der biontischen Homologie kann nun natürlich in ebenso verschie- dener Bedeutung auftreten, als es ver- schiedene nähere und entferntere Ver- wandtschaftsbeziehungen zwischen Or- ganismen giebt; nach einer monophy- letischen Hypothese würden also in der weitesten Fassung alle lebenden und ausgestorbenen Metazoen untereinan- der biontisch homolog sein, in einer engeren Fassung sämmtliche zu einem Stamm gehörige Formen, in noch en- gerer, die zu einer Klasse gehörigen ; fortschreitend engere Begriffe würden die biontischen Ordnungs-, Familien-, Gattungshomologien bezeichnen, bis endlich die biontische Specieshomologie sich auf die Mitglieder einer Species bezöge; natürlich wäre auch hiermit keine unterste Grenze der Beschrän- kung gefunden, vielmehr könnte dieser Homologiebegriff in einer interfamiliä- ren, geschwisterlichen, elterlichen u. s. w. biontischen Homologie noch des Wei- teren Einschränkungen erfahren, wie das ja innerhalb der menschlichen Gesell- schaft praktisch in so ausgedehntem Maasse zur Durchführung gelangt. Als zweite Form der externen Ho- mologie müsste man eine partielle Homologie unterscheiden als eine zwischen Theilen verschiedener Or- ganismen bestehende und damit also eine specielle Verwandtschaft dieser Theile besagende. Es möchte nun schei- nen, dass diese partiellen Homologien auf Selbstverständlichkeiten hinauslie- fen, da eine nähere oder entferntere Verwandtschaft der Organismen auch eine solche Verwandtschaft ihrer Theile einschliesst, indess ist zu bedenken, dass die biontischen Homologien erst synthetisch aus den ins Einzelne ge- henden partiellen Homologien zu er- schliessen sind, auf deren möglichst Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes kritische Feststellung demnach alles ankommt. — Es erübrigt nun noch, den Sinn festzustellen, welcher dieser Form der Homologie von der neueren Morphologie beigelegt wird; es ist auch hier natürlich von dem organischen Ent- wickelungsprocess auszugehen und die partielle Homologie auf eine phylogene- tische Differenzirung zweier Theile ver- schiedener Organismen aus gleicher Anlage zurückzuführen ; — da nun aber der phylogenetische Process einer un- mittelbaren Betrachtung nicht zugäng- lich erscheint, so macht es sich nöthig, auf einem Umwege zur Feststellung jener Homologien und damit des Ent- wickelungsprozesses zu gelangen, wel- cher aber auf die schon Hervorgeho- benen vier Cuvier'schen Instanzen un- ter Hinzuziehung der in manchen Fällen bedeutungsvollen Paläontologie hinaus- läuft. Eine besonders hervorragende Stel- lung unter diesen Instanzen nimmt in neuerer Zeit die individuelle Entwicke- lungsgeschichte ein, welche im Hinblick auf das biogenetische Grundgesetz ein- mal einen unmittelbaren Schluss auf die Vorfahrenkette, und damit auf die Stellung einer Form im System erlaubt, andererseits aber aus der Gleichheit des Ausgangspunktes der Entwickelung zweier heterogener Theilformen ver- schiedener Organismen oft noch einen Schluss auf die homologische Bezieh- ung derselben möglich macht, wo sämmtliche übrige Instanzen keine si- chere Gewähr mehr zu geben vermögen. Die nähere Bedeutung der partiellen Homologie wird demnach als eine aus dem gleichen phyletischen Ursprung fliessende Beziehung der Theilformen zu bezeichnen sein, deren fortschreitende Divergenz den phylogenetischen Process zur Folge hat. Bezüglich der verschiedenen Formen der partiellen Homologie wäre zu be- merken, dass dieselben ein äusserst mannigfaltiges Bild darstellen müssen, und der genetischen Naturbetrachtung. ein viel reicheres, als die durch das natürliche System zu vollem Ausdrucke gelangte biontische Homologie; wenn jene biontische Homologie nur das all- gemeinste Resultat der biologischen Forschung zum Ausdrucke bringt, so würde ein System der partiellen Ho- mologien alle zwischen allen Theilen der Organismen bestehenden Beziehun- gen einschliessen müssen, demnach würde ein. solches System einen Aus- druck der gesammten Fülle unseres vergleichend morphologischen Wissens gewähren. Auch hier würde bezüglich der en- geren oder weiteren Grenzen der ver- glichenen Formenkreise zu unterschei- den sein zwischen: partieller Stammeshomologie, Ve, Classenhomologie u. S. w., bezüglich des Formenwerthes der ver- glichenen Objecte aber — zwischen: Personenhomologie (wenn die be- treffenden Personen Colonieele- mente repräsentiren), metamerischer Homologie, antimerischer, organologischer, Gewebe- und Zellhomologie. All diesen mannigfaltigen eigent- lichen, externen homologischen Bezieh- ungen können wir das System der internen Homologien gegenüberstellen; wenn es die Aufgabe der ersteren war, die möglichen Beziehungen zwischen den Theilen verschiedener Organismen und die Blutsverwandtschaften der Bi- onten festzustellen, so ist es die we- sentlich verschiedene Aufgabe dieser internen Homologien, die Beziehungen, welche zwischen den Theilen ein- und desselben Organismus bestehen, zu be- stimmen. “ Diese interne Homologie, als Aus- druck des Aufbaues und Wesens der Einzelorganismen, wird demnach die erste und wesentlichste Voraussetzung jener externen Homologie sein, und die Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 345 schon von PrAro geforderte Analyse der Einzelerscheinungen repräsentiren. Die Unterscheidung einer internen Personen-, Metameren- und Antimeren- homologie erscheint nun hier überflüs- sig, da die Homologie der entsprechen- den Formeneinheiten innerhalb des Thie- res oder der Pflanze als selbstverständ- lich erscheinen, dagegen ist es wohl nöthig, zwischen einer internen Organhomologie, einer Gewebehomologie und einer internen Zellhomologie zu unterscheiden. Was nun zunächst die internen Or- ganhomologien betrifft, so erscheint es nöthig, auch hier wieder eine Reihe von Unterabtheilungen festzustellen ; so wird die homologische Beziehung eine wesentlich verschiedene Bedeutung ha- ben, je nachdem die zu vergleichenden Organe eine verschiedene Lagerung innerhalb verschiedener Organsysteme, Antimeren, Metameren u. s. w. haben; für diese speciellen Fälle der internen Örganhomologie sind auch innerhalb der vergleichenden Morphologie bereits eine Reihe von Bezeichnungen vorhan- den, von denen wir die gebräuchlichsten anführen wollen: Die homodynamen Theile GEGEN- BAUR’ Ss, worunter etwa die Schleifen- canäle der Anneliden, die Kiefer und Fühleranhänge der Arthropoden fallen, als intern homologe Theile innerhalb verschiedener Metameren, wären in un- serem Schema als intern-metamerische Organhomologa zu bezeichnen. Die Ho- motypie GG». (rechter und linker Lun- genflügel etc.) als interne antimerische Organhomologie. Die Homonomie Ges. (zwischen Organen bestehend, die ein- und der- selben Nebenachse angefügt sind; wie z. B. zwischen den Fingern, Zehen, Flossenstrahlen einer Wirbelthierextre- mität). Endlich würde es nöthig sein, unter einer internen diffusen Homologie diejenigen Fälle zusammenzuziehen, in 24 346 welchen homologe Theile ohne alle Be- ziehung zu den Achsen des Thier- und Pflanzenkörpers auf demselben zerstreut erscheinen, wie etwa die Homologien zwischen den Zähnen und Placoidschup- pen der Selachier. Innerhalb der internen Gewebe und Zellhomologien wird es des weiteren nöthig, zwischen Homologien in einem weiteren oder engeren Sinne zu unter- scheiden, indem ja, den Begriff der Homologie möglichst weit gefasst, etwa sämmtliche Zellen jedes Organismus, als von einer Eizelle abstammend, un- ter einander homolog sind, in einem engeren Sinne sind alle Zellen eines Metamers Homologa, in noch engerem die eines Organes oder Gewebes; nimmt man noch hinzu, dass das System der internen Homologien in den verschie- denen Entwickelungsstadien des thieri- schen und pflanzlichen Körpers ein sehr verschiedenes sein kann, so wird das Bild, welches wir von denselben er- langen, ein noch wesentlich differen- zivteres. Dieses individuelle System jedes Organismus, in welchem das, was man gemeiniglich unter Individualitäts- lehre, Keimblätterlehre und anderen Zweigen der biologischen Forschung zusammenfasst, aufzugehen haben würde, ohne dass dadurch jene individuelle Systematik erschöpft wäre, welches, wie schon angedeutet, als Ausgangs- punkt für das allgemeine biologische System zu dienen hat, wird erst in neuerer Zeit mit tieferem Bewusstsein an- gestrebt (HAEcK. Generelle Morphologie) und wird ohne Zweifel an der Hand weitergebildeter ontogenetischer Kennt- nisse zum Ausgangspunkt noch bedeu- tender Vertiefung unserer Kenntniss vom organischen Leben werden. — Be- sonders hervorzuheben ist noch, dass die Kritik der homologischen Beziehungen hier eine wesentlich schärfere und zu- verlässigere ist, da das Gemeinschaft- liche, aus dem die verschiedenen zu vergleichenden Theile im Laufe der On- Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes togenesis hervorgehen, nicht selbst wie- der durch Vergleichung festzustellen ist, sondern innerhalb der ontogenetischen Entwickelung unmittelbar vorliegt, hier also blos aufgesucht zu werden braucht. Wenn dem hier gegebenen Schema der möglichen homologischen Bezieh- ungen der Organismen auch keine weitere praktische Bedeutung beizu- schreiben ist, so ist demselben doch zu entnehmen, dass der Begriff der orga- nischen Homologie ein ungemein viel- deutiger ist, wesshalb es nöthig er- scheint, diese vieldeutige Dehnbarkeit desselben beständig im Auge zu be- halten. Fassen wir das Gesagte zusammen, so gelangen wir zu dem Resultat, dass die Entwickelung der organischen Mor- phologie zwei wesentlich verschiedene Stufen durchlaufen hat, eine erste, auf welcher sich dieselbe über eine Betrach- tung der Formen und ihrer Verwandt- schaften nicht zu erheben vermochte, diese vielmehr als unergründliche vom Schöpfer gegebene Objecte betrachtete und eine zweite, innerhalb welcher die Vergleichung der Formen nur dazu diente, zu einer genetischen Betrach- tung emporzusteigen, um auf Grund die- ser letzteren ein wirkliches Verständ- niss der Formen zu erzielen. Es wird sich nun fragen, ob diese zwiefache Gliederung der morphologi- schen Betrachtung allein eigen ist oder ob auch noch andere naturwissenschaftliche Disciplinen in ihrer Entwickelung einer solchen Gliederung unterworfen sind, und ob demnach dieser Entwickelungs- gang nicht etwa aus einem gemein- schaftlichen Princip der Naturbetrach- tung entspringe. Da die organische Physiologie über ganz dieselben Objecte der Betrach- tung verfügt, wie die organische Mor- phologie, dieselben nur statt auf ihre Formen auf ihre Functionen untersucht, so erscheint es von vornherein selbst- verständlich, dass mit einer Entwicke- und der genetischen Naturbetrachtung. lung der Formen auch eine Entwickelung der von diesen getragenen Functionen gegeben ist, dass also auch ein auf Grund jenes genetischen Prozesses auf- gebautes natürliches System der Func- tionen und ihrer blutsverwandtschaft- lichen Beziehungen für die Physiologie in Anspruch zu nehmen ist; wenn da- gegen die heutige organische Physio- logie, namentlich auf diesem systema- tischen undentwickelungsgeschichtlichen (Gebiete sich noch am Ausgangspunkt ihrer Entwickelung befindet, so kann uns das nicht hindern, dieselbe, bezüg- lich jener aufgestellten Frage, der Mor- phologie als gleichwerthig an die Seite zu stellen. Dessgleichen werden wir jene beiden Stufen der Entwickelung auf den ersten Blick in der Geschichte jener Disciplinen wieder finden, welche als Specialgebiete der Biologie eine mehr oder weniger grosse Selbständig- keit geniessen, wie solche uns in der Anthropologie, Ethnographie, Psycholo- gie, Linguistik u. s. w. entgegen tre- ten; es ist ja bekannt, wie befruch- tend und bewegend auf allen diesen Gebieten der LAMARcK-Darwın’sche Ent- wickelungsgedanke sich geltend gemacht hat, und wie hier überall durch die Einführung des genetischen Principes der Standpunkt der Naturbetrachtung ein wesentlich verschiedener geworden ist, indem er von einer blossen Be- trachtung der Objekte zu einer Er- klärung derselben fortschreitet. Eine einzige Ausnahme hiervon bildet die allgemeine Völkergeschichte, welche als Ausgangspunkt aller genetischen Natur- betrachtung anzusehen ist, welche, ihrem Wesen nach, bereits in ihren einfach- sten Anfängen das genetische Princip involvirt. — Die weitgehenden Paral- lelen, welche zwischen der vergleichen- den Sprachforschung und der organi- schen Morphologie bestehen, liegen so auf der Hand, sind auch von so über- zeugender Art, dass sich in den Me- thoden der vergleichend linguistischen 347 und neueren biologischen Forschung eigentlich kein wesentlicher Unterschied mehr festhalten lässt, dass es im Prin- cip dieselben Fragen sind, deren Be- antwortung durch jene beiden auf den ersten Blick heterogensten Disciplinen angestrebt wird. Wenn uns hier, wegen der Gemein- schaftlichkeit der objectiven Grundlage all dieser Disciplinen, die Gleichheit ihrer Entwickelung nicht weiter Wunder nimmt, so liegt die Sache wesentlich anders innerhalb eines anderen Erschei- nungsgebietes — der allgemeinen Kos- mologie. Um aus dem Engeren in ein Weiteres vorzuschreiten — liefert uns die Geologie in ihrer Geschichte die Bestätigung unseres Satzes von dem allmähligen Umsichgreifen des geneti- schen Principes; aus einer blossen be- trachtenden Geologie entwickelt sich allmählig, wenn auch nicht in so cha- rakteristischen Zügen, wie innerhalb der biologischen Disciplinen, eine Geo- genie, welche es sich vornimmt, die Erdkruste in ihrer jetzigen Gestalt als ein Gewordenes anzusehen, um ihrem Werden Schritt für Schritt folgend, einen Stammbaum der Hervorentwicke- lung der einzelnen Theile derselben aus einander festzustellen und auf Grund dieser Entwickelung ein natür- liches System dieser Theile (Formatio- nen) zu erzielen; innerhalb desselben könnte man dem Homologiebegriffe im Prineip ganz dieselbe Bedeutung zu- schreiben, wie innerhalb des Systemes der Organismen, nur dass hier die ob- jective Grundlage der Vergleichung, und damit die Beziehungen der vergliche- nen Theile zu einander, wesentlich ein- fachere sind. Ein durchgreifender Unterschied be- steht zwischen dem biogenetischen und kosmogenetischen Prozess nur darin, dass sich innerhalb des letzteren nur ein einfa- cher Entwickelungsprozess abspielt, wäh- rend innerhalb des biogenetischen sich eine endlose Reihe solcher Prozesse 24 * 348 durch Vermittelung von Fortpflanzung und Vererbung aneinanderreihen, wess- halb denn der kosmogenetische Prozess mit Einschluss des geogenetischen nur mit einem einzigen organischen Zeug- ungskreise zu vergleichen wäre, damit aber auch ein kosmogenetisches System nur mit dem individuellen, nicht mit dem allgemeinen System der Organismen. Damit sind wir indess schon auf die Kosmologie übergegangen, innerhalb welcher der Durchbruch des genetischen Principes soweit uns ersichtlich, mit der Kant-Laprace’schen Theorie gege- ben sein möchte, damit aber zugleich wieder die dualistische Gliederung die- ser Disciplin in eine rein descriptive Astronomie und in eine neuere zur Er- klärung der morphologischen Verhält- nisse der Himmelskörper strebende Kosmogenie. Während in allen diesen naturwis- senschaftlichen Disciplinen das gene- tische Princip mehr oder weniger zum Durchbruch gelangt ist, steht ihnen gegenüber ein Kreis weiterer Discipli- nen, welcher jeglicher genetischen Be- trachtung ermangelt, und innerhalb des- sen vielleicht in Folge dieses Mangels bis jetzt eine blosse Betrachtung der Naturobjecte und ihrer Beziehungen vorliest; diese Disciplinen werden re- präsentirt durch die Physik in weite- stem Sinne und die anorganische Mor- phologie (indess unter Ausschluss der Kosmologie); es möge nämlich vergönnt sein, die gesammten naturwissenschaft- lichen Disciplinen in der Weise zu grup- piren, dass einer Naturmorphologie (Formenkunde) eine Naturphysiologie (Lehre von der Function und Wechsel- wirkung der Körper) gegenüberstehe, die erstere würde dann in eine anor- ganische (Mineralogie, Beschreibung der Elemente und chemischen Verbindungen, Geologie und Kosmologie) und eine or- ganische Morphologie zerfallen; die Na- turphysiologie abermals in eine anor- ganische (Physik in weitestem Sinne Hentschel, Zur Geschichte des Homologiebegriffes mit Einschluss der Chemie) und eine organische Physiologie. Man hat dann den Vortheil, die in der Gruppirung der naturwissenschaft- lichen Disciplinen noch immer beibe- haltene unpassende Eintheilung in lebende und leblose Natur wegfallen zu sehen, dann aber auch die Genugthuung die chemische Wissenschaft von dem ihr unnatürlich anhaftenden morpholo- gisch-descriptiven Theil zu befreien. Weder den morphologischen noch den physiologischen Disciplinen ist bis jetzt eine alle Gebiete gleichmässig umfassende Entwickelungsgeschichte ‘nachgewiesen; die Eigenschaften des Wasserstoffs, die Anziehungskraft der Himmelskörper sind Dinge, über deren Ursachen und Herkom- men wir ebenso wenig wissen, wie sich die vordarwinsche Biologie eine Erklärung der organischen Formen geben konnte; hier handelt es sich im Gegensatz zu jenen vom genetischen Principe be- fruchteten Disciplinen immer nur um eine Constatirung der gegebenen Er- scheinungswelt und um ein möglichst sorgfältiges und eindringendes Studium der Wechselwirkung jener Naturobjecte auf einander. Wir dürfen uns hierbei durch die gerühmte Wissenschaftlichkeit vor allem der physikalischen Zweige nicht beeinflussen lassen, diesen Disciplinen ist vielmehr ein principiell niederer stehender Erkenntnissgrad zuzuschrei- ben, als den genetischen Wissenschaften, trügen diese im Einzelnen auch noch so sehr den Stempel der Mangelhaftig- heit auf sich. — Dieses letztere gilt streng, so lang man nur von den gene- tischen Wissenschaften nichts verlangt, was nicht in den eigentlichen Kreis ihrer Betrachtung gehört, so muss eine Erklärung der Vererbung und Anpassung in ihren letzten Gründen, als eine Auf- gabe der Chemie hingestellt werden, wie überhaupt alle Zurückführung des or- ganischen Geschehens auf substantiell- mechanistische Vorgänge, denn, als ein solcher Ausfluss einer intermolekelaren und der genetischen Naturbetrachtung. Dynamik sind auch jene elementaren organischen Functionen anzusehen und damit mit den chemischen Eigenschaften der Körper auf eine Stufe zu bringen. Es müsste nun eine unterhaltende Aufgabe sein, von diesen Gesichtspunkten aus, unsere beiden gegensätzlichen Grup- pen von Disciplinen weiter zu verglei- chen, um innerhalb der geschichtlichen Entwickelung derselben etwaige Paralle- len aufzufinden, um so aus der Geschichte der letzteren Gruppe auf die Frage einiges Licht fallen zu lassen, ob sich innerhalb derselben irgend welche An- zeichen eines auftauchenden genetischen Prineipesconstatiren lassen. So schwan- kend auch ein solcher Weg der Schluss- folgerung sein möge, so drängen sich einem hierbei doch jene Parallelen in Fülle auf, deren Deutung auf ein in irgend welcher Gestalt hereinbrechendes Prineip genetischer Naturbetrachtung nicht als eine durchaus gewagte er- scheinen möchte. Vor allem ist es das System der Elemente, das nicht nur in seiner all- gemeinen Anordnung, sondern auch in den gegenseitigen endlosen Beziehungen seiner Bestandtheile sich dem früheren System der Organismen zur Seite stellt; wenn man den Zerfall der Elemente in die beiden grossen ÖOberklassen der Metalle und Metalloide in Betracht zieht, den Zerfall jeder derselben in eine Reihe mehr oder weniger abge- schlossener Familien, die stufenweisen Uebergänge, welche sich zwischen den grösseren und kleineren Gruppen con- statiren lassen, endlich den von Ele- ment zu Element allmählich in bestimm- ter Richtung fortschreitenden chemischen und physikalischen Charakter, so drängt sich einem in Hinblick auf die Geschichte der genetischen Wissenschaften unwill- kürlich die Ueberzeugung auf, dass auch hier ein zeitliches Hervorgegangensein des Verschiedenen aus dem Einfachen vorliegen möge, dass demnach mit der Entdeckung dieses Entwickelungspro- 349 zesses und der denselben treibenden Kräfte eine Erklärung dieser Entwicke- lungsproducte gegeben sein möchte. An eine Undenkbarkeit eines solchen Pro- zesses ist hierbei nicht zu appelliren, da dem die Thatsache des biogenetischen Prozesses widerspricht, welcher gewiss seiner Zeit mehr Undenkbares als ein solcher elementarer Prozess in sich trug. Es dürfte indess vorläufig kaum möglich sein, über den Verlauf eines solchen Prozesses etwas näheres auszusagen, wenn man nicht folgende Erörterung auf denselben beziehen wollte. Es erhebt sich nämlich die Frage, ob man innerhalb eines solchen Pro- zesses einen einheitlichen oder vielheit- lichen Verlauf erblicken möchte, d. h. ob derselbe mit einer individuellen Ent- wickelung, wie dem kosmogenetischen Prozess oder einer Vielheitlichen — wie dem biogenetischen zu vergleichen sei? Es möchte nun ein Entscheid dieser Frage zu Gunsten eines vielheitlichen aus aneinandergereihten individuellen Entwickelungskreisen bestehenden Pro- zesses fallen, und zwar in Anbetracht der Beziehungen, welche sich uns aus einer Vergleichung des biogenetischen Prozesses mit jenem vermeintlichen an- organischen ergeben. Wenn wir in den Functionen der protoplasmatischen Körper nichts An- deres, alsFortbildungen des physikalisch- chemischen Characters lebloser Kohlen- stoffverbindungen erkennen, wenn uns, bei genügend vollkommener Kenntniss der Uebergangsstufen zwischen lebloser und belebter Natur ein allmähliches und stufenweises Herauswachsen der letzteren aus jener sich ohne Zweifel ergeben möchte, so scheint es nicht ungerechtfertigt, nach. dem anorgani- schen Homologon der organischen Indi- vidualität zu fragen; dasselbe müsste ohne Zweifel in dem sinnlich nicht zu- gänglichen nach den heutigen chemi- schen Begriffen intermolekülaren Be- wegungscyclus zu suchen sein, als des- Hentschel, Zur Geschichte 350 - sen sinnlicher Ausfluss uns der physi- kalisch-chemische Charakter jedes Kör- pers zu erscheinen hat. Das Leben je- der organisirten Individualität in seiner vielseitigsten Gestalt wäre demnach als ein in die Länge gezogener, daher zeit- lich verfolgbarer und desshalb auch sinnlich analysirbarer intermolekularer Bewegungsprozess der Materie aufzu- fassen; freilich müsste eine solche Ma- terie der nichtorganisirten gegenüber als endlos zusammengesetzt angesehen werden. Demnach wäre auch der bio- genetische Prozess in seiner Totalität jenem anorganischen Prozess wenigstens in gewissem Sinne zu vergleichen. * In Consequenz dieser Anschauung könnten wir uns veranlasst sehen, auch in diesem vorausgesetzten anorganischen Prozess einen aus endlosen Einzel- prozessen (Individualitäten) zusammen- gesetztenBewegungsprozesszuerblicken; wenn es einmal möglich werden sollte, auch für diesen Prozess eine Entwicke- lung aufzustellen, so würden natürlich auch der chemisch physikalischen Wis- senschaft die jetzt noch verschlossenen Segnungen der genetischen Betrachtungs- weise erschlossen werden. In weiterer Consequenz dieser An- schauung müssten natürlich auch die zusammengesetzten chemischen Körper als verschmolzene Bewegungsprozesse verschiedener Elemente angesehen wer- den. * Die Weiterbildung dieses Gedankens s. Kosmos: Jg. IV. Heft 9. Ueber die ur- sächliche Erklärung der Vererbungserschei- nungen. des Homologiebegriffes ete. Von diesem Standpunkte aus fällt nun leicht ein bedeutendes Licht auf die allgemeine Erkenntnisstheorie: Insofern, als die heutigen elemen- taren Wissenschaften der Physik und Chemie so häufig und wiederholt sich der naiven Hoffnung hingeben, das sach- liche Wesen ihrer Naturobjecte zu er- gründen, gerathen dieselben ohne Unter- lass in Widerstreit mit dem unabänder- lichen, durch die neuere physiologisch- psychologische Forschung so glänzend bestätigten Kantischen Gesetz von der natürlichen Begrenzung aller Erkennt- niss; hier ist an der blossen Sinnbild- lichkeit jeder auch noch so mechanisti- schen Theorie festzuhalten, dagegen er- öffnet sich innerhalb dieses Kreises sinnlicher Bethätigung für jede Disei- plin, die es wagt, die durchwanderten Pfade der Natur rückwärts zu verfolgen und auf diesem Wege ihren Wandlungen liebevoll nachzugehen, ein unbegrenztes und befriedigendes Gebiet des histori- schen Wissens, zu dem in seiner voll- endeten Gestalt ohne Zweifel die jetzt gerühmte mechanistische Auffassung der Gesammtnatur nur als Vorstufe dienen wird. Es möchte so der Ausspruch C. E. v. Barrs’: die Entwickelungsge- schichte sei die wahre Leuchte der or- ganischen Formenerkenntniss auf die Erkenntniss aller Naturobjecte ausge- dehnt werden. Sollten wir aber diese Stufe der Naturerkenntniss je erreichen, so wäre damit dem Platonischen erhabenen Traume eines natürlichen Weltsystems eine bedeutungsvolle Auslegung ge- währt. Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von Dr. Hermann Müller. 9. Die Blumenthätigkeit der Bienen. Die vergleichende Betrachtung der pflanzenanbohrenden, insektenanbohren- den und höhlengrabenden Wespen hat uns erkennen lassen, wie die allmäh- lichen Vervollkommnungen der Brutver- sorgung bei den Hautflüglern auch auf ihre Blumenthätigkeit steigernd gewirkt haben. Aber diese Steigerungen zusam- mengenommen sind verschwindend klein gegen den gewaltigen Fortschritt in der Ausbeutung der Blumen, dem wir in der Familie der Bienen begegnen. Aus der Grabwespenfamilie hervorgegangen und von Haus aus mit der Unterschei- dungsfähigkeit und Umsicht, mit der unermüdlichen Energie und mit der Ge- wandtheit im Einkriechen und Hinein- zwängen in Höhlen ausgerüstet, die eine lange Ahnenreihe, dem Brutver- sorgungstriebe folgend, allmählich er- worben und ihnen vererbt hatte, sind die Bienen dazu übergegangen, auch zur Beköstigung ihrer Brut sich aus- schliesslich auf Blumennahrung zu be- schränken. Das hat natürlich nicht verfehlen können, ihren Blumeneifer und damit ihre Blumentüchtigkeit ganz aus- serordentlich zu steigern. Der Vergleich der niedersten, in ihrer körperlichen Ausrüstung noch nicht über die Grabwespen hinausgegangenen Bienen (Prosopis) mitsolchen Grabwespen, die ihnen an Grösse und Gestalt am näch- sten stehen (Crabro), lässt mit einem Blicke erkennen, wie viel an Blumen- tüchtigkeit durch die blosse Umände- rung der Larvenkost aus Fleischnah- rung in Blumennahrung gewonnen wor- den ist. In meinen beiden Blumen- werken* sind zusammen 66 verschieden- artige Blumenbesuche von Crabro, 104 von Prosopis verzeichnet. Von diesen kommen auf Blumen ‘mit völlig offen liegendem Honig bei Crabro 66°/o, bei Prosopis 24 °/o, auf Blumen mit etwas tiefer geborgenem, nur unter günstigen Umständen noch unmittelbar sichtba- rem Honig bei Crabro 4,5 °/o, bei Pro- sopis 18,3°/o, auf Blumen mit völlig geborgenem Honig bei Orabro 28,8°/o, bei Prosopis 50,9 °/o, auf Pollenblumen bei Orabro 0, bei Prosopis 6,7°/o. Das gesteigerte Nahrungsbedürfniss hat also schon die ersten und einfachsten Bienen veranlasst, vorwiegend die reicheren, völlig geborgenen Honigquellen auszu- beuten. Dass gleichzeitig ihre Behen- digkeit sich erheblich gesteigert hat, wird man leicht gewahr, wenn man Pro- * Die Befruchtung der Blumen durch Insekten, Leipzig 1873, und Alpenblumen, Leipzig 1881. , 352 sopis und Grabwespen auf denselben Blüthen in Thätigkeit beobachtet. Re- seda, Allium rotundum und zahlreiche andere Blumen bieten dazu Gelegenheit. Im Juli 1867 hatte ich im offenen Fen- ster meines Zimmers einige Blumen- töpfe mit blühender Reseda odorata stehen. »Beständig kamen Prosopis an- geflogen und trieben sich ungemein lebhaft, oft zu 6 bis 8 an einem Stocke umher. Sie steckten bald den Kopf zwischen die schildförmige Platte und die oberen Blumenblätter und leck- ten mit ausgestreckter Zunge den Ho- nig, bald kauten sie noch nicht auf- gesprungene Staubgefässe durch, um den Blüthenstaub zu verzehren.«* Dieselbe Leistung mit gleicher Be- hendigkeit auszuführen vermögen von den Grabwespen erst die viel mal grös- seren Cerceris-Arten, die man wirklich sehr häufig an denselben Blumen in gleicher Weise beschäftigt sieht wie Prosopis. Bei ihnen hat die Vergrös- serung des eigenen Leibes den Nah- rungsbedarf und damit die Nothwen- digkeit, tiefere und reichere Honigquel- len aufzusuchen, in ganz gleicher Weise gesteigert, wie bei Prosopis die Versor- gung der Brut mit Pollen und Honig. Eine Vergrösserung der eigenen Körpermasse hat aber nicht minder auch in der Familie der Bienen stattgefunden und hier, als eine zweite den Nahrungs- bedarf und damit die Blumentüchtig- keit steigernde Ursache, sogar noch eine sehr viel wichtigere Rolle gespielt als bei den Grabwespen. Denn bei den Bienen bildet schon die tiefunterste Stufe der ganzen Familie, die Gattung Prosopis, deren grösste einheimische Arten kaum 8 mm Körperlänge errei- chen, die Grenze, über welche hinaus eine Zunahme der Körpergrösse ohne gleichzeitige Vervollkommnung der ur- sprünglichen Grabwespenwerkzeuge nicht statt fand. Bei den nur sich selbst * H. MÜLLER, Befruchtung, S. 143. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. mit Blumennahrung beköstigenden Grab- wespen dagegen stehen an dieser Grenze erst die Gattungen Üerceris, Gorytes, Philanthus etc., deren grösste einhei- mische Arten bei etwa 16 mm Körper- länge unsere grössten Prosopis-Arten an Körpermasse um wenigstens das 6- bis Sfache übertreffen. Jenseits dieser Grenze finden wir bei den Grabwespen nur eine verhält- nissmässig kleine Zahl grossleibigerer Gattungen, bei denen die Zunge über die ursprünglich ihrer Familie eigene kurze zweilappige Form hinaus ver- längert und dadurch zum Ausbeuten reicherer Honigvorräthe befähigt ist. Bei den Bienen dagegen hat sich über die Gattung Prosopis hinaus eine un- absehbare Mannichfaltigkeit von Formen entwickelt in allen Abstufungen der Grösse von einzelnen, die noch un- ter das Maass der kleinsten Prosopis- Arten hinabsanken (Nomioides, Trigona liliput) bis zu den dickleibigsten Hum- meln und Xylocopa-Arten, die Prosopis an Körpermasse weit über das Hundert- fache übertreffen, ebenso in allen Ah- stufungen der allgemeinen Körperbehaa- rung, der Fersenbürsten, der besonde- ren Apparate zum Einsammeln des Pol- lens und zum Gewinnen des Honigs, und im Grossen und Ganzen ist die Zu- nahme der Körpergrösse von einer ge- steigerten Vervollkommnung der der Nahrungsgewinnung dienenden Werk- zeuge in der einen oder anderen Rich- tung begleitet gewesen. In der Ver- vollkommnung gerade dieser Werkzeuge hatte Naturauslese bei den Bienen des- halb das fruchtbarste Feld, weil die- selben bei ihnen nicht minder der Ver- sorgung der Nachkommenschaft als der Erhaltung des Einzelwesens dienen. Wodurch aber mag die stufenweise Steigerung der Körpergrösse selbst be- dingt gewesen sein, die im Grossen und Ganzen in beiden Familien, der Bienen und der Grabwespen, unverkennbar statt- ' gefunden hat? Die Grabwespen wurden Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. durch dieselbe jedenfalls zur Erbeutung neuer, immer grösserer Beutethiere be- fähigt, und so wurden ihnen neue, noch unbesetzte Plätze im Naturhaushalte er- öffnet. Von den Bienen sieht man un- zählig oft bei ihrer Concurrenz auf den- selben Blumen, dass der Grössere den Kleineren verdrängt und die Ausbeute allein davonträgt. Diese beiden Vor- theile überlegener Körpergrösse können nicht verfehlt haben, auf die Richtung der Naturauslese wenigstens entschei- dend mitzuwirken. Mit der Körpergrösse zugleich hat sich dann bei einem kleinen Zweige der Bienen (Obtusilingues: Colletes, Ptiloglossa ete.) nur die Ausrüstung zur Gewinnung des Pollens, bei der überwiegenden Mehrzahl dagegen ausserdem die rela- 399 tive Rüssellänge und damit die Befäh- igung zur Ausbeutung immer tieferer, reicherer Honigquellen gesteigert. Meh- rere Tausende in meinen Blumenwerken verzeichnete Blumenbesuche der Bienen, mit Angabe der Rüssellänge der Biene und der Röhrenlänge oder Honigtiefe der Blume, liefern dafür einen umfas- senden Beleg. Es lässt sich aus ihnen zugleich der statistische Beweis ableiten, dass im Grossen und Ganzen gleichzeitig mit der zunehmenden Rüssellänge eine immer stärkere Bevorzugung tiefer ge- borgener, reicherer Honigquellen statt- findet, wie: die nachstehende Tabelle in Bezug auf den Familienzweig der Hin- terbeinsammler veranschaulicht. Es kann kaum zweifelhaft sein, dass Steigerung der Bevorzugung tieferer Honigquellen mit zunehmender Rüssellänge. scheinungen, der zunehmenden Rüssel- länge und der sich steigernden Bevor- zugung tieferer Honigquellen, die letz- tere, das Vorangehende, Bedingende, die erstere das Nachfolgende, Bedingte ge- wesen ist. Wie überhaupt in der ganzen Lebewelt eine Organabänderung erst dann einen entscheidenden Vortheil ge- = 5 S. Von 100 verschiedenartigen Blumen- In De ER R =) 22. |288 besuchen kommen auf = 238 SsH3 Ein an + ' zart Tabelle I. mE |28% | 38a A, aa Su BE, | 5 oo® oa 2».29 — Ans Han) Ho = nn Se | Seel eg so2 sven sasu =s as Seelze 30 om vogunSsleozus ©» = Baeımaas == == Ssazs>rse SE = an ae Ze Boss 2353 3823 ® m) rson | n5 [>) ea Eeo |EPo er z 2 ar |35# A nos AEH aA m | a » . IS & Sr ur Fee = Arten der Gattungen: = ® So Po Aal AB B H SD N 1—1!r| 15 89 10,1 | 23,6 | 17,9 | 30,4 | 179 Andrena, Halictus, Oikissa, Panurgus 231/531 21 | 242 82. 4913839) 347 182 Andrena, Halictus, Dasy- LK N oe er! 10. | 117 11,1 3,4 | 214 | 48,7 | 15,4 Eucera, Anthophora . 2 4 34 29 0 2,9) 23,5 20,6 Anthophora'. 15—21| 3 21 4,8 0 N) 0 95,2 von den beiden parallel gehenden Er- | währen und durch Naturauslese zur Ausprägung gelangen kann, wenn die Funktion für die es brauchbar ist, be- reits ausgeübt wird, so konnten auch von den Bienen nur diejenigen eine wei- tere Steigerung ihrer Rüssellänge ge- winnen, welche die tiefsten ihnen noch zugänglichen Honigquellen am eifrigsten auszubeuten bestrebt. waren. 354 Je höher aber die bereits erklom- mene Stufe, um so enger der Kreis der noch Concurrirenden, um so ange- strengter ihr Wettkampf, um so loh- nender der Sieg. Auf der ersten Stufe, die sich über die in Prosopis uns erhalten gebliebene Schwelle der Bienenfamilie durch Sam- melhaare an den Hinterbeinen und 2 —3!/2 mm Rüssellänge erhebt, finden wir ausser einigen Cilissa- und Panur- gus-Arten die überwiegende Mehrzahl der gewaltig artenreichen Geschlechter Andrena und Halictus, auf der nächst- folgenden, mit 4—7 mm Rüssellänge*, die Elite dieser beiden Gattungen und Dasypoda, auf der dritten, mit 9—12 mm, Eucera, Saropoda und ein paar Antho- phora-Arten, auf der vierten und höch- sten, mit 15—21 mm, bloss noch ein- zelne (3) der begabtesten Anthophora- Arten, und diese unter sich in rasch fortschreitender Steigerung: A. aestiva- lis mit 15, A. retusa mit 16—17, A. pilipes mit 19—21 mm Rüssellänge. Welcher Concentration aber ihrer gan- zen Honigsammelthätigkeit auf ein und dasselbe bestimmte Ziel diese kleine, am weitesten fortgeschrittene Gruppe ihren Erfolg zu verdanken hat, das zeigt ein Blick auf die fünfte wage- rechte Ziffernreihe unserer Tabelle. Während von den Bienen mit 9—12 mm langem Rüssel selbst Blumen mit zwar etwas tiefer liegendem, aber noch unmittelbar sichtbarem Honig (AB) noch nicht durchaus verschmäht werden, und auf Blumen mit vollständiger Honig- bergung noch ein erheblicher Theil (23,5°/o) ihrer Besuche kommt, fassen dagegen die einzeln lebenden Bienen * Um eine scharfe Sonderung nach der Rüssellänge, die ja immer innerhalb dersel- ben Art einigermassen schwankt, überhaupt zu ermöglichen, mussten, wie hier geschehen ist, die Rüssellängen so ausgewählt werden, dass zwischen je zwei aufeinander folgenden Stufen eine Lücke bleibt. Es konnten über- dies nur diejenigen in meinem Werke über Befruchtung verzeichneten Arten Verwendung Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. von 15—21 mm Rüssellänge, wenn sie auf Honigerwerb ausgehen, ausschliess- lich jene ergiebigsten und concurrenz- freisten Blumen ins Auge, die ihren Honigschatz im Grunde langer Röhren oder hinter festen, nur den Bienen er- schliessbarem Verschlusse geborgen hal- ten. Diesen allein entnehmen sie auch fast ausnahmslos ihren gesammten Pol- lenbedarf. Aus diesem angestrengten Wett- kampfe aber um die tiefsten Honig- behälter ist als Siegerin über alle ein- zeln lebenden einheimischen Bienen Anthophora pilipes hervorgegangen, die nicht nur durch ihren 19—21 mm lan- gen Rüssel, sondern auch noch durch andere Anpassungen ** ihre einheimi- schen Gattungsgenossen weit überholt und derartig aus dem Felde geschlagen hat, dass sie ihnen an Häufigkeit vielfach überlegen ist. Gäbe es keine Hummeln, so würde sie allein die erfolgreichste aller einheimischen Blu- menzüchterinnen sein. Da aber die Hummeln, bei viel massenhafterem Auftreten, gleiche Rüssellänge errei- chen, wie die .Anthophora-Arten, so fällt der Mitwirkung der letzteren an der Züchtung von Bienenblumen gewiss nur ein bescheidener Antheil zu. Je- denfalls aber können wir es nur als eine natürliche Folge des treuesten Blumeneifers der langrüsseligsten Bienen betrachten, dass sie überhaupt sich ihnen allein zugänglicher reichster Ho- nigquellen zu erfreuen haben. Und auch unsere langrüsseligste Schenkel- sammlerin Anthophora pilipes erntet nur ihren wohlverdienten Lohn, wenn sie — abgesehen von den von Bombus finden, bei denen die Rüssellänge gemessen ist. #=* z. B. durch den „Nothzuchtapparat“ _ des Männchens, d. h. durch die verlängerten und an den Fussgliedern mit einer Reihe langer Haare ausgerüsteten Mittelbeine, mit denen das Männchen, auf das Weibchen im Fluge herabschiessend, dieses umfasst und zur Begattung festhält. H. M., Anwendung der Darwın’schen Lehre auf Bienen. S. 74. \ Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. terrestris ausgeübten Diebstählen mit Einbruch — die tiefliegenden Honig- vorräthe von Corydalis cava und solida von sämmtlichen Bienen ganz allein geniesst, in den Honiggenuss der Di- clytra spectabilis sich nur mit unserer langrüsseligsten Hummel, Bombus hor- forum, in den von Symphytum officinale und Primula elatior sich nur mit we- nigen Hummelarten zu theilen hat. Obwohl es nun unzweifelhaft er- scheint, dass mit der Bevorzugung tie- ferer Nektarien längere Rüssel zu einem im Wettkampfe um dieselben Nahrungs- quellen entscheidenden Vortheil gewor- den und durch Naturauslese zur Aus- prägung gelangt sind, so lässt sich doch aus der obigen Tabelle zugleich das mit Bestimmtheit erkennen, dass die Blumenauswahl der Bienen noch durch andere Faktoren als durch die hlosse Rücksicht auf möglichst reiche Honigernte bedingt sein muss. « Denn während die erste senkrechte Zahlen- reihe der Tabelle, welche die Rüssel- längen angiebt, stetig steigt, ergibt sich in den fünf letzten Spalten ein ziemlich unregelmässiges Steigen und Fallen der Zahlenreihen. Als andere, die Blumenauswahl der Bienen mitbestimmende Faktoren lassen sich seitens der Blumen die spärlichere oder reichlichere, bequemere oder un- bequemere Pollenernte, welche sie dar- bieten, seitens der Bienen, die Aus- bildung einseitiger Blumenliebhabereien erkennen. Beide Bedingungen lassen sich kaum von einander trennen. Schon sehr früh in der Entwicke- lung des Bienenstammes haben gewisse Bienen solche Blumen bevorzugt, die ihre Bauchseite mit Pollen behafteten, andere dagegen solche Blumen, die ein bequemes Abstreifen des Pollens mit- telst der Hinterbeine gestatteten. Den ' ersteren wurde eine stärkere Entwicke- lung der Bauchhaare, den letzteren der Haare der Hinterbeine von entschei- dendem Vortheile, der die Richtung der 395 Naturauslese bestimmte. Die ersteren wurden die Stammeltern des Familien- zweigs der Bauchsammler, die letzteren gaben dem reichgegliederten Familien- zweige der Hinterbeinsammler den Ur- sprung. Innerhalb beider Familienzweige lässt sich bei mannigfachen Arten die Ausbildung besonderer Blumenliebhabe- reien erkennen. - Aus der artenreichen Gattung Andrena z. B. besuchen die meisten Arten alle möglichen ihnen Ausbeute gewährenden Blumen; An- drena fulva dagegen bevorzugt Stachel- beeren und Berberis, A. fulvescens be- schränkt sich auf gelbblumige Cichoria- ceen, A. florea auf Zaunrübe (Dryonia), A. Hattorfiana auf Scabiosa arvensis, A. Cetii auf Scabiosa suceisa. Dasypoda und Panurgus gehen fast nur auf pol- lenreiche gelbe Blumen, besonders auf die der Cichoriaceen. Bei beiden weist die dem Pollen gleiche Farbe des die Hinterschienen bedeckenden Haarwaldes, die sich von der übrigen Körperfärbung so schön abhebt, mit Bestimmtheit dar- auf hin, dass ihre besondere Blumen- liebhaberei schon seit sehr alter Zeit durch Vererbung befestigt sein muss. Denn erst nachdem die Weibchen sich gewöhnt hatten, diesen langen und dichten Haarwald nur mit gelbem Pollen zu füllen, konnten die dicken Pollen- ladungen den Männchen ein. Merkmal werden, an dem sie die Weibchen schon von weitem, im Fluge, erkannten; erst nun konnte eine dem Pollen gleiche Farbe der Sammelhaare die Weibchen auch im unbeladenen Zustande den Männchen kenntlich machen und als dadurch vortheilhaft durch Naturauslese zur Ausprägung gelangen. Von den Bauchsammlern geht un- sere grösste Blattschneiderbiene, Mega- chile lagopoda, nur auf die stattlich- sten Compositenköpfe, Osmia aurulenta fast nur auf Papilionaceen, Osmia pili- cornis nur auf Pulmonaria. Die nächst- verwandten Arten Osmia loti, adımca 356 und caementaria zeigen alle drei, aber in stufenweiser Steigerung, die entschie- denste Vorliebe für Echium. In den meisten der genannten und der sonstigen mir bekannten Fälle wird nachweislich die einseitige Bevorzugung seitens gewisser Bienen solchen Pflan- zen zu Theil, die alljährlich an dem- selben Standorte eine grosse Menge ausbeutereicher Blumen liefern und deren Standort zugleich für die Brut- höhlen der betreffenden Bienen die ge- eigneten Bedingungen darbietet. Man begreift leicht, welchen Vortheil es un- ter solchen Bedingungen der Biene ge- währen muss, zur Ausbeutung einer reichen und sichern Honigquelle stets unmittelbar nach deren Eröffnung mit einer durch einseitigste Uebung hoch- gesteigerten Geschwindigkeit und Ge- schicklichkeit zur Hand zu sein, und kann daher die Möglichkeit solcher ein- seitigen Bevorzugung sehr wohl ein- sehen. Weshalb aber bei gleicher Or- ganisation die eine Osmia Papilionaceen, die andere Pılmonaria, die dritte Echium sich ausersehen hat, lässt sich, wie mir scheint, weder aus den äusseren Lebensbedingungen, noch aus der kör- perlichen Ausrüstung der Bienen, son- dern einzig und allein aus einem Va- riiren der individuellen Neigungen er- klären. Die verschiedenen bisher betrach- teten Umstände, welche den Nahrungs- erwerb der einzeln lebenden Bienen beeinflussen, machen die Blumenthätig- keit derselben bereits zu einer recht mannichfaltigen. Diese Mannichfaltig- keit steigert sich aber noch erheblich da- durch, dass dieBienen mitdem Nahrungs- erwerb beschäftigt, zugleich in der einen oder anderen Weise auf die Wahrung ihrer persönlichen Sicherheit bedacht sein müssen. Am leichtesten wird ihnen dies natürlich, wenn sie eine seit zahl- losen Generationen gewohnte Blumen- arbeit instinktmässig verrichten und daher ihre ganze Aufmerksamkeit auf Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. etwa drohende Gefahren verwenden kön- nen; dagegen sind sie am meisten ge- fährdet, wenn sie sich an einer neuen und über ihre Anpassungsstufe hinaus- gehenden Blume versuchen, die sie in eine unbehülfliche Lage versetzt oder die volle Aufmerksamkeit der Biene für sich in Anspruch nimmt. So überladet sich z. B. an den Antheren der grossen Nachtfalterblume Paradisia Liliastrum die Mutterbiene von Halictus eylindrieus so mit Pollen, dass sie beim Versuche wegzufliegen zu Boden fällt. Andrena albicans? bewegt sich in den Blüthen der japanischen Quitte (Chaenomeles japonica) langsam und ungeschickt, sucht nach dem Honig, ohne ihn zu finden, ent- schädigt sich dann durch Einsammeln von Pollen; aber auch diese Arbeit ist ihr an solcher Blume so ungewohnt und nimmt ihre Aufmerksamkeit so voll- ständig in Anspruch, dass sie sich auf das leichteste mit den Fingern greifen lässt. Mit der aufsteigenden Entwickelung der Bienen hat sich im Ganzen die Mannichfaltigkeit der Blumen, die sie mit instinktiver Fertigkeit auszubeuten vermögen, stufenweise gesteigert und damit die Gefahr der Ungewohnheit vermindert. Bei denjenigen Bienen, die sich an den ausschliesslichen Gebrauch einer bestimmten Blumenform gewöhnt haben, hat sich diese Gefahr sogar auf Null reducirt. Dagegen sind zwei an- dere Gefahren für die persönliche Sicher- heit mit dem Einbringen gerade der reichsten Pollen- und Honigernten ver- bunden, die sich auch durch andauernd- ste Uebung kaum ganz beseitigen las- sen: die Hemmung der freien Beweg- lichkeit durch das Gewicht grosser Pollenladungen und die Behinderung der freien Umschau durch das Hinein- stecken des Kopfes in den Eingang der tiefsten noch zugänglichen Nektarien. Mancherlei Eigenthümlichkeiten in der Blumenthätigkeit der Bienen sind nur aus ihrem Bestreben, diesen Gefahren Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. zu entgehen, verständlich. Die Mutter- biene von Panurgus z. B. füllt den ge- waltigen Haarwald ihrer Hinterschienen mit Pollen, indem sie sich, auf das Blumenkörbchen einer Cichoriacee an- geflogen, zwischen die Blüthen dessel- ben drängt, auf eine Seite lest und so zwischen den Blüthen hindurch im Kreise herumkriecht, jetzt auf der einen, im nächsten Blumenkörbcehen auf der an- deren Seite liegend. Oft liegt sie auch einige Zeit an einer und derselben Stelle auf einer Seite, indem sie mit Vorder- und Mittelbeinen Pollen an die Hinterbeine fegt, und zugleich den Hin- terleib oft wiederholt nach innen krümmt, um auch mit ihm die Pollenladung zu vermehren. So behält sie immer nach derjenigen Seite, von welcher ihr Ge- fahr drohen könnte, ein wachsames Auge gerichtet. Nur indem sie ab und zu nach längerem Pollensammeln in einige Blumenröhrchen den Kopf steckt, um Honig zu saugen, verzichtet sie momentan auf das Ausspähen. Aber trotz ihrer beständigen Vorsicht lässt sie sich ziemlich leicht von den Blüthen greifen, weil sie sich, wie es scheint, fast bis zu den Grenzen ihrer Tragkraft mit Pollen belastet, und weil ihre seitliche Lage ihr Wegfliegen ein wenig ver- zögert. Etwas schwieriger lässt sich Dasy- poda (hirtipes)2 während ihrer Blumen- arbeit einfangen, obgleich ihre Pollen- ladung im Vergleich zu ihrer Körper- grösse reichlich ebenso gross ist als bei Panurgus. Da sie dabei vielmal grösser ist als dieser, so fällt sie unter allen einheimischen Bienen durch ihre kolossalen Pollenladungen bei weitem am meisten in die Augen, und schon CHrıst. KoNR. SPRENGEL schildert (1793) in seiner treffenden Weise den erstaun- lichen Anblick, den sie bei ihrer rast- losen Blumenarbeit gewährt: »In der Mittagsstunde eines schönen Tages traf ich eine Biene auf derselben (Hypochoeris radicata) an, welche an 397 ihren Hinterbeinen Staubballen von einer solchen Grösse hatte, dass ich darüber staunte. Sie waren nicht viel kleiner als der ganze Körper des Insektes und gaben demselben das Ansehen eines stark beladenen Packpferdes. Dennoch konnte sie mit dieser Last sehr schnell fliegen, und sie war mit dem gesam- melten Vorrath noch nicht zufrieden, sondern flog von einem Blumenknauf zum andern, um denselben zu vergrös- sern.... Ich ward sogleich davon über- zeugt, dass diese Biene keineswegs den Staub wissentlich sammelt, wie die zah- men Bienen, sondern dass sie, indem sie den Saft aus den Blumen holt, zu- gleich, ohne es zu wollen, mit ihren haarichten Hinterbeinen den Staub von den Griffeln, welche denselben aus der röhrichten Anthere herausziehen, ab- streift, und auf die Stigmate bringt, und dass zu diesem Ende die Natur ihre Hinterbeine mit so vielen und lan- gen Haaren versehen hat.«* Treffend spricht sich indieser Schilde- rung der Unterschied zwischen dem auf die mannichfaltigsten Blumen vertheilten und deshalb immer einige Aufmerksam- keit erfordernden Pollensammeln der Honigbiene und dem instinktiven Pol- lensammeln der seit zahllosen Genera- tionen auf dieselbe Blumenform sich beschränkenden Dasypoda, nicht minder treffend die hochgradige Energie der letzteren aus. Aber gerade indem sie rein instinktiv mit unermüdlicher Hast Köpfchen auf Köpfchen abfegt, den langen, dichten Haarwald, der ihre ab- stehend gehaltenen Hinterbeine um- kleidet, mit mächtigen Ballen gleich- farbigen Pollens füllt, und zugleich den Rüssel in die honighaltigen Röhrchen senkt, behält sie hinlängliche Aufmerk- samkeit frei, um beständig auf ihrer Hut sein zu können, und da sie über- dies sich immer in geeigneter Stellung ® SPRENGEL, Das entdeckte Geheimniss der Natur. 8. 369, 370. 398 befindet, um bei nahender Gefahr so- fort wegzufliegen, und da zugleich ihre Energie grösser, ihr Flug und ihre ganze Bewegungsweise rascher ist als bei Pa- nurgusQ, so ist sie weit weniger leicht zu ergreifen als diese. Noch schwieriger ist die andere der beiden oben bezeichneten Gefahren zu beseitigen, die gerade ausgeprägtere Bienen bei ihrer Blumenarbeit bedroht. Wenn eine Biene mit dem Rüssel auch den Kopf in eine Blumenröhre oder zwischen eng zusammenschliessende Blüthentheile steckt, um einen reich- gefüllten Safthalter zu entleeren, so bleibt sie während dessen den Blicken auflauernder Feinde ausgesetzt, ohne selbst sehen zu können. Es gelingt da- her in solchen Augenblicken leicht, die Biene zu ergreifen, um so leichter, je reicher der Honigvorrath ist, den sie auszusaugen hat, je mehr Saugakte er daher erfordert. Daher ist selbst unsere langrüsseligste und in der Bevorzugung tieferHonigbehälter am weitesten gehende einzeln lebende Biene Anthophora pilipes® trotz ihrer hochgradigen Raschheit und Behendigkeit nicht im Stande gewesen, diese Gefahr zu beseitigen. Nur wenn die Biene während des Saugens ent- weder den Blicken der Feinde sich ent- zieht oder selbst freie Umschau behält, vermag sie ohne erhöhte persönliche Gefahr auch tiefere Honigbehälter zu entleeren. Die Glockenblumen, die weitglocki- gen Gentianen und Fingerhutarten, das Löwenmaul und manche andere Hum- melblumen gewähren der Hummel, die, auf ihren eigenen Vortheil bedacht, ihnen den Dienst der Kreuzungsver- mittelung leistet, die persönliche Sicher- heit, die sie selbst aus den Augen ver- liert, indem sie dieselbe während des Saugens schützend umschliessen und den Blicken der Feinde verbergen. Nur verhältnissmässig wenige Bienen- arten haben bei ihrer Blumenarbeit in erster Linie ihre persönliche Sicherheit Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. im Auge, indem sie, den Kopf hoch haltend, sich freie Umschau bewahren und damit auf die Ausbeutung gerade der tiefsten ihnen noch erreichbaren Honigquellen verzichten. Das thutz. B., wie ich oft sah, Andrena Hattorfiana, indem sie saugend und pollensammelnd überdie Blumengesellschaftenihrerauser- wählten Scabiosa arvensis hinwegstürmt. Das thut, wenn mein Gedächtniss mich nicht täuscht, auch Dasypoda hirtipes Q beim Abfegen der Cichoriaceenkörbchen. Unter allen einheimischen Bienen das imposanteste Beispiel von Wahrung per- sönlicher Sicherheit während der emsig- sten Blumenarbeit hat mir aber Mega- chile lagopoda dargeboten und durch empfindlichen Stich dauernd eingeprägt. Stürmischen Flugs auf dem Blumenkopf eines fast mannshohen Onopordon Acan- thium oder Cirsium eriophorum ange- langt, fegt sie, frei umschauend, mit den Beinen emsig Pollen nach hinten kratzend, und nur den 10 mm langen hüssel in einige höhrchen senkend, hastig über denselben hinweg, wobei sie den allezeit stechbereiten Hinterleib so hoch hält, dass man die rothe Sam- melbürste seiner Unterseite oder seine Pollenladung schon von weitem sehen kann. Dabei dreht sie sich zur Voll- endung der Umschau einmal auf dem Distelkopfe rings herum. Gelingt es einem trotzdem, mit be- hendem Griffe sie von oben zu fassen, so wird man beim ersten derartigen Versuche gewiss leicht, durch einen ungewöhnlich plötzlichen und schmerz- haften Stich erschreckt, die Gefangene sofort wieder frei lassen. Denn blitz- schnell fährt aus dem Ende des nach oben sich zurückbiegenden Leibes der rächende Stachel hervor. Wie in so zahlreichen Anpassungen, so wird auch in dieser unsere einhei- mische Lebewelt von derjenigen der tropischen und subtropischen Zone weit überholt. Zwei von meinem Bruder Frrrz MüLLer in Südbrasilien beob- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. achtete Kuglossa-Arten, deren nackte spiegelglatte Haut prachtvoll, bei der einen smaragdgrün, bei der andern la- surblau erglänzt, bieten an Rüssellänge, Behendigkeit der Bewegungen und ver- mittelst beider an Wahrung persönlicher Sicherheit die höchste bis jetzt be- kannteLeistung unter allen Bienen dar.” Im Gegensatz zu diesen Beispielen lässt die meisten Bienen der ernste Wettkampf um die Blumennahrung mit zahlreichen Concurrenten über die augen- blickliche Gefahr hinwegsehen oder sie wenigstens nur durch gesteigerte Eile nach Kräften abkürzen, und in der Ausbeutung tiefer Nektarien so weit gehen, als es ihre Rüssellänge eben gestattet. Das gilt sogar von den Hum- meln und Honigbienen. An Blumen be- schäftigt, die sie zum Hineinstecken des Kopfes in einen Röhreneingang ver- anlassen, lassen sie sich bekanntlich sehr leicht überraschen und wegfangen, obwohl sie im übrigen an Blumentüch- tigkeit alle einzeln lebenden einheimi- schen Bienen erheblich übertreffen. Der Betrachtung ihrer Blumenleistungen soll der Rest des vorliegenden Aufsatzes gewidmet sein. Welchem Umstande verdanken die Hummeln und Honigbienen ihre hervor- ragende Befähigung zur Ausbeutung der Blumen? Bei den einzeln lebenden Bie- nen, von denen bis jetzt allein die Rede war, lassen sichals die Blumentüchtigkeit steigernde Momente: 1) der Uebergang zur ausschliesslichen Benutzung von Blumennahrung, 2) die zunehmende Körpergrösse, 3) die mit der Ausbildung der Bienenfamilie immer lebhafter ge- wordene Concurrenz erkennen. Bei Hum- meln und Honigbienen tritt 4) noch die Staatenbildung hinzu. Durch weitere Steigerung des Nahrungsbedarfs musste dieselbe auch auf die weitere Vervoll- kommnung der Fähigkeit, die Blumen 2 H. M., Die Wechselbeziehungen zwi- schen den Blumen und den ihre Kreuzung vermittelnden Insekten. 8. 98. 399 auszubeuten, von entscheidendem Ein- flusse sein. Der Nahrungsbedarf wurde aber mit dem Uebergange zur Staaten- bildung sowohl relativ als absolut grösser. Relativ; denn bei einzeln lebenden Bienen ist, ebenso wie bei Grabwespen, die Zahl der in einem bestimmten Zeit- punkte mit Nahrung zu versorgenden Nachkommen jederzeit nur eben so gross als die Zahl der Nahrung einschleppen- den Weibchen, bei den staatenbilden- den Hautflüglern dagegen grösser, oft vielmals grösser. Auf jede Hummel oder Honigbiene kommt daher eine relativ (das heisst im Verhältniss zu ihrem eigenen Körpergewicht) grössere Menge einzusammelnden Blüthenstaubs und Honigs als auf jede einzeln lebende Biene. Wie einerseits die Staatenbildung der Hautflügler nur aus einer Steige- rung des Fortpflanzungstriebes hervor- gehen konnte, so musste daher anderer- seits das mit der Massenaufziehung von Nachkommen verknüpfte relative An- wachsen des Nahrungsbedarfs anspor- nend auf den Brutversorgungstrieb zu- rückwirken. Diese Wirkung allein macht uns sowohl die bei allen staatenbilden- den Bienen zur Ausbildung gelangte Arbeitstheilung zwischen bruterzeugen- den Weibchen (Königinnen) und brut- versorgenden Weibchen (Arbeitern) als die noch erhöhte Blumentüchtigkeit der letzteren erklärlich. Aber nicht bloss relativ, auch ab- solut hat sich mit der Staatenbildung der Nahrungbedarf gesteigert; denn statt einiger wenigen, verbreiteten sich nun aus demselben Nesthunderte oder selbst tausende emsigster Honig- und Pollen- sammler in die Umgebung und kamen mit nicht minder individuenreichen be- nachbarten Bienenvölkern in Coneurrenz. Es konnte so leicht der Fall eintreten, dass die alleinige Ausbeutung der tief- sten noch zugänglichen Honigbehälter den Bedürfnissen eines Staates nicht mehr genügte, und dass daher, trotz entschiedener Bevorzugung der ergiebig- 360 sten Nahrungsquellen, ein immer um- fassenderes Zurückgreifen zu weniger ergiebigen, eine immer allseitigere Aus- nutzung der gesammten umgebenden Blumenwelt nothwendig wurde. Dass dieser Fall wirklich eingetreten ist, tritt ganz unzweideutig zu Tage, wenn man die Blumenthätigkeit der Hummeln mit derjenigen einzeln leben- der Bienen von etwa gleicher Rüssel- länge vergleicht. Unsere langrüsseligste einzeln lebende Biene, Anthophora pili- pes, beschränkt sich z. B. fast aus- schliesslich auf die Ausbeutung solcher Blumen, die nur Bienen und Hummeln bequem zugänglich sind, und sucht ganz überwiegend die tiefsten derselben auf. Die Weibchen und Arbeiter unserer lang- Vergleich der Blumenthä Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. rüsseligsten Hummel, Bombus hortorum, dagegen, die ganz dieselbe Rüssellänge (von 19—21 mm) besitzen, ziehen Zwar ebenfalls sehr entschieden die concur- renzfreisten tiefsten, den allgemeiner zu- gänglichen, flacheren Honigbezugsquellen vor, und es sind namentlich die lang- röhrigsten Labiaten und Papilionaceen, die Blumen von Aklei, Rittersporn, Eisen- hut, Diclytra, Digitalis lutea u. drgl., an denen sie am häufigsten und beharr- lichsten sich einfinden; daneben aber gehen sie nicht selten auch an die Blumenkörbcehen der Skabiosen und Compositen und verschmähen in der noch blumenarmen ersten Frühlingszeit selbst die spärlichere Honigspende der Apfel-, Pflaumen- und Weidenblüthen tigkeit staatenbildender und einzeln lebender Bienen von el gleicher Rüssellänge: 2 33. KR BEN Nee | ai Von 100 verschiedenartigen Blumenbesuchen = »erst einige Male von unten zu saugen. Auf der dritten Blüthe aber, auf der sie es von unten vergeblich ver- sucht hat, kehrt sie sich um und saugt von oben! Auf den drei folgenden fliegt sie auf das untere Blatt, kehrt sich um und saugt von oben, ohne es erst von unten versucht zu haben. Auf der 7ten Blüthe versucht sie es von unten, fliegt aber sogleich auf eine Ste, auf der sie sich sogleich umkehrt und von oben saugt. Nachdem sie dies noch an 2 Blüthen (9, 10) wiederholt hat, fliegt sie auf der llten direct auf die beiden oberen Blätter, den Mund der Blüthen- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. öffnung zugekehrt und saugt direct von oben. — Dann fing ich sie ein. Eine andere Mutterbiene des Hal. cylindricus verfolgte ich ohne Unter- brechung auf 32 Blüthen. Auf den bei- den ersten versuchte sie wieder bloss ver- geblich von unten, auf den beiden folgen- den, bei denen zufällig der Zugang von unten durch vorliegende kleine Zweige versperrt war, von der Seite, dann wie- der einmal von unten, bei den 3 fol- genden (6—8) erst vergeblich von un- ten, dann mit Erfolg von oben. Erst bei der 9ten flog sie sogleich auf die beiden oberen Blumenblätter, den Mund der Blüthenöffnung zugekehrt, undsaugte direct von oben. In derselben Weise fuhr sie nun fort. Nur bei der l4ten und 16ten Blüthe versuchte sie noch- mals, mit gewaltsamer Aufwärtsbiegung des Kopfes und des Rüssels, von unten zu saugen. An allen übrigen Blüthen von der 9ten bis+32ten einschliesslich saugte sie, direct richtig anfliegend, von oben. Dann flog sie auf eine Blüthe eines dicht daneben stehenden Ranun- culus montanus über und verweilte, meh- rere Nektarien saugend, einige Zeit auf derselben. Sodann flog sie wieder auf Viola biflora und — versuchte nun wie- der von unten zu saugen! Sie hatte also über der anderen Thätigkeit auf Ranunculus die bereits gewonnene und 16 mal ohne Unterbrechung richtig an- gewandte Erfahrung wieder vergessen! Leider verlor ich sie nun aus den Augen, da sie, durch meine zu neugierige An- näherung beunruhigt, wegflog.«* Für die unausgeprägteren einzeln lebenden Bienen ist durch diese Beob- achtungen festgestellt, dass das Einzel- wesen die Fähigkeit besitzt, an unge- wohnten Blumen, wenn auch langsam und unsicher, selbst Erfahrungen zu gewinnen, zu zweckmässigerer Ausbeut- ung zu verwerthen und so den als In- stinkt von den Ahnen ererbten Schatz * H. MÜLLER, Alpenblumen. 8. 154. 365 | von Blumentüchtigkeit durch eigene Arbeit zu vermehren. Wenn die Rüssel- länge, wie ich glaube, für die aufein- ander folgenden Stufen des Fortschrittes . der einzeln lebenden Bienen einen brauch- baren Maassstab abgibt, so muss bei den Bienen, wieim Menschengeschlechte, jene Fähigkeit, eigene Erfahrungen zu verwerthen und dem ererbten Schatze hinzuzufügen, in immer rascherem Tempo sich gesteigert haben ; hier wie dort müssen die jeweilig am weitesten fort- geschrittenen nicht nur die Errun- genschaften der vorhergehenden Stu- fen am vollkommensten ererbt und in- stinktmässig weiter benutzt, sondern auch selbst am kräftigsten gefördert haben. Denn die Rüssellängen haben sich, wie uns Tabelle I gezeigt hat, von Prosopis (1I—1'/a mm) bis Antho- phora (9—21 mm) nicht gleichmässig, sondern mit zunehmender Geschwindig- keit gesteigert. Entscheidende directe Betrachtungen über den geistigen Fort- schritt der einzeln lebenden Bienen lie- gen aber bis jetzt nicht vor; es wird eine eben so anziehende als lohnende Aufgabe sein, sie anzustellen. Für jetzt müssen wir uns damit begnügen, hin- sichtlich der Proben von Intelligenz auf die kurzrüsseligen einzeln lebenden Bie- nen Andrena und Halictus unmittelbar die weit langrüsseligeren und zugleich staatenbildenden Hummeln und Honig- bienen folgen zu lassen. Wie viel von dem erstaunlichen Fortschritt, der sich bei einem derartigen Vergleich zu er- kennen gibt, bereits vor und wie viel erst mit und nach dem Uebergange zur Staatenbildung sich vollzogen hat, kann erst künftig, durch eingehende biolo- gische Beobachtung der langrüsseligeren einzeln lebenden Hinterbeinsammler, ent- schieden werden. Während bei Halictus eylindricus eine 32malige Wiederholung derselben Blu- menerfahrung die zweckmässigste Aus- beutungsmethode noch so unsicher be- festigt hatte, dass sie über dem Be- 366 suche einer einzigen anderen Blüthe wieder vergessen wurde, sehen wir da- gegen Bienen und Hummeln meist schon nach dem Besuche von 4—5 oder selbst von noch weniger Blüthen einer ihnen neuen oder ungewohnten Form diezweck- mässigste Behandlungsweise anwenden und dann stetig beibehalten. Eine Mut- terhummel von Bombus terrestris sah ich z. B. an einer Blüthe von Vicia Faba den Kopf unter die Fahne zwängen und den Rüssel aufs längste ausrecken, was durch dieFahne hindurch deutlich erkenn- bar war. Da sie den Kopfganz unter den Basaltheil der Fahne drängte, so mochte sie mit der Spitze ihres 9 mm langen Rüssels den Honig eben zu berühren im Stande sein. Sie strengte sich lange an und putzte, als sie den Kopf aus der Blüthe zurückgezogen hatte, andauernd den Rüssel mit den Vorder- beinen, indem sie ihn zwischen den- selben abwechselnd ausreckte und ein- zog, als wollte sie ihn noch dehnbarer machen. Dasselbe wiederholte sie an einer zweiten, dritten und vierten Blüthe. Die Honigausbeute hatte aber jedenfalls ihren Erwartungen nicht entsprochen; denn an der vierten Blüthe biss sie nun mit den Oberkiefern dicht über dem Kelche ein kleines Loch in die Ober- seite der Fahne und führte durch das- selbe ihren Rüssel in den honigführen- den Blüthengrund ein. Ausser diesem einen Falle sah ich Bombus terrestris immer nur durch Einbruch den Honig von Vicia Faba gewinnen* Es lässt sich wohl annehmen, dass jede einzelne Hummel dieser Art in derselben Weise wie in dem beobachteten Falle die ihr vortheilhafteste Art der Honiggewinnung erst durch einige mal wiederholte eigene Erfahrung erlernt, dann aber constant beibehalten hatte. Aehnliche Beobacht- ungen liegen über das Verhalten von Bombus terrestris Q an Primula elatior** * H. MÜLLER, Befruchtung der Blumen durch Insekten. S. 255. ** Daselbst S. 347, Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. und über dasjenige der Honigbiene an Glechoma*** vor. Auch das Verfahren, durch welches die langrüsselige und gewandte Bombus hortorum® sich den Honig von Erica carnea anzueignen weiss, der nur Fal- tern bequem zugänglich ist, lässt auf die Befähigung der Hummeln zum raschen Gewinnen und andauernden Verwerthen neuer Blumenerfahrungen schliessen. Sie sucht nur solche Blü- then auf, die dicht über dem Boden oder über der Gras- und Heide-Unter- lage hängen und führt nun, auf dem Rücken liegend, die Spitze ihres langen Rüssels in die enge Oeffnung des Glöck- chens ein. Ich übergehe die zahlreichen son- stigen bereits vorliegenden Beobachtun- gen, welche die hoch gesteigerte In- telligenz der staatenbildenden Bienen bekunden, um zum Schlusse nur noch eine Thatsache eingehend zu besprechen, aus der sich unzweideutig die Befähig- ung der Hummeln ergibt, zweierlei Blumenarbeiten zugleich derart in der Vorstellung gegenwärtig zu haben, dass sie dieselben regelmässig abwechselnd verrichten. Um mich nicht unbewusst in der Darstellung des Thatbestandes von einer vorgefassten theoretischen Ansicht be- einflussen zu lassen, theile ich den- selben buchstäblich so mit, wie ich ihn, gedrängt durch eine Fülle anderer um mich herum sich abspielender Lebens- erscheinungen, die mir zu theoretischen Betrachtungen gar keine Zeit liessen, frisch an Ort und Stelle zu Papier ge- bracht habe: f »Eine Mutterhummel des Bombus mastrucatus saugte dicht vor meinen Augen erst 3 Blüthen von Gentiana verna durch von aussen gebissene Lö- cher. Dann ging sie zu G. acaulis über und hielt sich nun andauernd und stet #*# Daselbst S. 320. + H. MÜLLER, Alpenblumen. S. 335. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. an diese. then saugte sie gerade so wie bei verna durch ein von aussen gebissenes Loch, an der dritten kroch sie in die Blumen- glocke hinein, kam wieder heraus, flog einige Secunden, die Blume anschauend vor derselben herum, kroch wieder hin- ein und sammelte nun, wie ich aus der Bewegung ihrer Beine sehen konnte, Pollen. « Zur Erläuterung Folgendes: @. verna ist eine Tagschwärmerblume ; sie hat die Röhre ihrer Corolla so verengt, dass ihre zu einer Scheibe verbreiterte Narbe den Eingang derselben allen Insekten ausser den dünnrüsseligen Faltern ver- schliesst, und so verlängert, dass nur die langrüsseligsten Schwärmer mit ihrem Rüssel vom Eingange bis zum honig- führenden Grunde reichen können. Hum- meln müssen daher entweder aufdie Aus- beutung dieser Blume gänzlich verzich- ten, wie es in der That alle ausser mastrucatus thun, oder sie müssen den Honig durch Einbruch gewinnen, was von Bombus mastrucatus in grösster Aus- dehnung verübt wird. @. acaulis da- gegen ist eine ächte Hummelblume, die ihre Glocken den Hummeln zum voll- ständigen Hineinkriechen und Bestreifen der Narben und Antheren öffnet. Zum bequemen Erlangen des Honigs aus dem Grunde des verengten Theils der Co- rolla muss aber die Hummel noch einen wenigstens 13—15 mm langen Rüssel haben, während derjenige des B. ma- strucatus höchstens 12!/g mm Länge erreicht. _ Indem nun unsere Hummel von der von ihr in zweckmässigster Weise aus- gebeuteten G. verna zu G. acaulis über- ging, wurde sie bei den beiden ersten Blumen offenbar den Wechsel der Blu- menart gar nichtgewahr. Dieselbe blaue Farbe, die sie so oft zugleich mit einer ihr verschlossenen Blumenthür erblickt hat, sieht sie auch an @. acaulis. Diese flüchtige Wahrnehmung genügt, in ihr die Vorstellung der verschlossenen Thüre An den beiden ersten Blü- | 367 zu erwecken, und ohne näher hinzu- sehen, setzt sie die bisher befolgte Aus- beutungsmethode fort; die reiche Pollen- ernte, die gesehen, sicher nicht von ihr verschmähen würde, entgehtihr. An der dritten Blüthe erblickt sie den Eingang der Blumenglocke. Von den auf den Alpen so häufigen Campanula-Arten her, ist sie und waren seit zahllosen Ge- nerationen ihre Ahnen gewohnt, in sol- che Glocken hineinzukriechen und leich- ten Kaufs ohne besondere Rüsselan- strengung, eine reiche Honigernte zu halten. Demdadurch ausgebildetenWahr- nehmungstriebe folgend kriecht sie also beim Anblicke der weit geöffneten Blu- menglocke instinktmässig in dieselbe hinein und streckt ihren höchstens 121/2 mm langen Rüssel nach Honig aus. Natürlich vergebens; sie muss ent- täuscht wieder abziehen; der Instinkt hat sie irre geführt. Und nun kommt ein besonders entscheidender Augen- blick, der die hohe Ueberlegenheit des vielerfahrenen Hummelverstandes über die Einfalt eines Blumenkäfers glänzend ins Licht stellt: sie denkt gar nicht daran, die vergebliche Anstrengung auch nur in einer einzigen anderen Blumen- glocke zu wiederholen. Als ob sie sich dessen bewusst würde, dass sie zu blind instinktmässig darauf losgegangen ist und möglicher Weise dadurch eine viel- leicht doch für sie vorhandene Ausbeute verfehlt hätte, fasst sie, vor der Blume schwebend, dieselbe schärfer ins Auge, entdeckt den vorhandenen Blüthenstaub und nimmt nun, um eine Erfahrung reicher, zum zweiten Male dieselbe Blü- the in Angriff, diesmal mit vollem Er- folg der Pollenausbeute. »Dann kam sie heraus, kroch an der Aussenseite der Corolla hinab, steckte den Rüssel in ein dicht über dem Kelch in die Blumenkrone gebisse- nes Loch und saugte. Von nun an sammelte sie fast an jeder Blüthe erst auf normale Weise Pollen und saugte dann durch Einbruch. Nur in einige 368 der ersten so doppelt von ihr ausge- beuteten Blüthen flog sie, zweimal hin- ein, dazwischen vor der Blüthe fliegend und sich dieselbe anschauend. Später ging sie stets sehr rasch und sicher in der Weise zu Werke, dass sie erst in die Blumekrone kroch und Pollen sam- melte und dann sofort an der Aussen- seite derselben hinabmarschirte, und den Rüssel 2—4 mal von aussen in den Blüthengrund bohrte. Ich folgte ihr in etwa 1 Schritt Entfernung auf mehr als 40 Blüthen. Nur ausnahms- weise ging sie auch einmal vom Saugen einer Blüthe zum Saugen einer dicht daneben stehenden über, ohne erst den Pollen der letzteren ausgebeutet zu haben, oder sammelte den Pollen einer Blüthe, ohne sie dann auch noch an- zusaugen. « Wie kommt es, dass die Hummel nicht bloss in der ersten Blumenglocke, sondern auch noch in einigen folgenden, in die sie hineinkriecht, an das Pollen- sammeln zunächst nicht denkt, sondern erst nachdem sie nochmals heraus- gekommen ist und vor der Blume schwe- bend sich dieselbe erst noch einmal genau angesehen hat ? Offenbar genügt ihr die einmalige Erfahrung nicht, die so eben gelernte zweckmässige Behand- lungsweise der Blumenglocke so leben- dig im Gedächtniss zu behalten, dass sie dieselbe nach dem Dazwischentreten einer anderen Thätigkeit sofort wieder in Anwendung bringen könnte. Unend- lich häufiger sind von ihr und ihren Ahnen die ihr Honig bietenden Campa- nula-Glocken besucht worden, als die ihr beim Hineinkriechen nur Pollen bietenden von Gentiana acaulis. Der Wahrnehmungstrieb zum tiefen Hinein- kriechen, den der Anblick der offenen Blumenglocke erweckt, ist daher zu- nächst stärker als die Erinnerung an die einmalige Erfahrung der Vergeblich- keit dieses tiefen Hineinkriechens und des erfolgreichen Pollensammelns. Wenn Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. diese Erfahrung aber einige Mal wieder- holt ist, so hat sie einen hinreichenden Eindruck gemacht, um den irreleitenden Wahrnehmungstrieb zu überwinden, und von nun an kommt kein vergebliches Hineinkriechen in die Blumenglocke mehr vor; die eigene Erfahrung hat über den Instinkt gesiegt. Wie kommt es ferner, dass die Hummel unmittelbar nach dem Ver- lassen der ersten von ihr auf Pollen ausgebeuteten Blumenglocke aussen an derselben hinabkriecht und durch Ein- bruch saugt? Ein Wahrnehmungstrieb kann sie dabei nicht leiten; denn sie sieht beim Herauskommen aus der Blu- menglocke noch nichts von deren Aus- senseite; trotzdem schreitet sie sofort über den Rand der Corolla hinweg, auf die nicht gesehene Aussenseite hin- über und an ihr hinab, um an ihrem Grunde den Rüssel in ein dicht über dem Kelche gebissenes oder von ihr erst zu beissendes Loch zu stecken. Das ist wohl kaum anders zu erklären, als dass die Vorstellung der Honigaus- beute durch Einbruch in ihr lebendig geblieben ist, trotz der dazwischen getretenem anderweitigen Thätigkeit; sie kehrt also durch einen Vor- stellungstrieb geleitet zu der vorher betriebenen Arbeit zurück. Da sie beim Weiterfliegen zu anderen Exemplaren jedenfalls gar nicht selten früher die Aussenseite der neuen Glocke, als deren offenen Eingang zu sehen bekommt, so lässt sich auch ihr regel- mässiges Beginnen mit der Pollenaus- beute nicht aus einem Wahrnehmungs-, sondern nur aus einem Vorstellungs- triebe erklären. Ohne Zweifel hat also die Hummel, sobald sie die Erfahrung des Pollensammelns einige mal wieder- holt hat, nun zwei verschiedene Blumen- arbeiten gleichzeitig in ihrer Vorstel- lung gegenwärtig und übt sie regel- mässig abwechselnd aus. Aber freilich nur, so lange nicht ein stärker wir- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. kender Wahrnehmungstrieb zwischen die beiden in fester Verknüpfung ge- gebenen Vorstellungstriebe dazwischen tritt. Steht dicht neben der so eben auf Pollen ausgebeuteten Blume eine zweite, in deren Glocke die Hummel sogleich hineinsehen kann, so geht sie wohl einmal vom Pollensammeln der einen unmittelbar zum Pollensammeln der folgenden Blume über. Sieht sie dicht neben der so eben durch Ein- bruch ihres Honigs beraubten Blumen- röhre eine zweite, vielleicht bereits an derselben Stelle durchlöcherte, so ver- gisst sie darüber wohl einmal die Pol- lenausbeute derselben und saugt direct ihren Honig. Stehen aber die Blumen- glocken etwas entfernter von einander, so lässt sie bei jeder einzelnen Blumen- glocke Pollensammeln uud Saugen des Honigs durch Einbruch in dieser Ord- nung auf einander folgen. Mag man das abweichende Verhalten unserer Hummel bei 2 dicht neben einander stehenden Blumen vielleicht auch aus der Absicht der Zeitersparniss erklären können, das ändert nichts an dem Satze, der mir aus den mitgetheilten Thatsachen unzweideutig zu folgen scheint: Die Hummel hat in ihrer Vor- stellung zwei so verschiedene Blumen- arbeiten wie Pollensammeln und Honig- gewinnen durch Einbruch gleichzeitig gegenwärtig und lässt sich durch die beiden Vorstellungen, wenn keine Stö- rung dazwischen tritt, in regelmässiger Abwechselung leiten. Werthvoll würde es sein, wenn un- zweideutig entschieden werden könnte, ob im vorliegenden Falle die Hummel durch ihre persönliche Erfahrung der Pollenausbeutung zum regelmässigen Abwechselnlassen derselben mit der Honiggewinnung geführt worden ist, oder ob ihre Ahnen dieselbe regel- mässige Arbeits-Abwechselung an den Blumen von Gentiana acaulis schon so 369 häufig geübt haben, dass heute Ver- erbung dieser speciellen Fähigkeit mit ins Spiel kommt und die Raschheit der Gewinnung einer neuen Erfahrung be- dingt. Ist letzteres der Fall, so werden alle Exemplare des B. mastrucatus, wenn auch mit individuellen Verschieden- heiten, ziemlich rasch dieselbe Erfah- rung machen und dieselbe Doppelaus- beutung ausüben. Kommt dagegen ausser der allgemeinen Hummelbefähig- ung nur noch die persönliche Erfahrung dieses speciellen Falles ins Spiel, so werden verschiedene Individuen der- selben Hummelart wahrscheinlich in Bezug auf diese Erfahrung sich we- sentlich verschieden verhalten. Bei be- sonders darauf gerichteter Beobachtung, die ich in Ermangelung des leitenden Gesichtspunktes versäumt habe, müsste das leicht zu entscheiden sein. Ich selbst habe ausser der so eben bespro- chenen nur noch eine zweite Mutter- hummel derselben Art an Gentiana acaulis in ihrer Blumenthätigkeit be- obachtet, und diese biss jede Blume an und saugte ihren Honig durch Einbruch, ohne an einer einzigen Pollen zu sam- meln. Es war aber nicht an demselben Beobachtungsorte, bei Preda im Albula- thale, sondern einige Meilen davon entfernt im Rosegthale.. Diese Beob- achtung zeigt also, dass in der That verschiedene Individuen des B. mastru- catus in Bezug auf dieselbe persönliche ‚Erfahrung sich wesentlich verschieden verhalten, und dass mithin das rasche Erlernen der regelmässigen Doppelaus- beutung von Gentiana acaulis keines- wegs hauptsächlich durch Ererbung dieser speciellen Fähigkeit bedingt sein kann. Wenigstens nicht durch eine Vererbung, die bis zu den gemeinsamen Ahnen der heutigen Raubhummeln des Albula- und des Rosegthales zurück- reicht. Nur die Möglichkeit müssen wir zugestehen, dass vielleicht im Al- bulathale ein klügeres Volk von B. | mastrucatus wohnt, als im Rosegthale. 370 Nachdem J. H. FAgrz an einer Grab- wespe, Sphex flavipennis, das Neben- einanderbestehen klügerer und düm- merer Stämme unzweifelhaft nachge- wiesen hat,* vermag ich in der soeben Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. als möglich hingestellten Annahme nichts Unwahrscheinliches zu erkennen. * J. H. FABRE, giques, p. 81—92. Souvenirs entomolo- Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. VII. Berathende Körper. In den letzten beiden Capiteln sind zwei Elemente des ursprünglichen drei- einigen Staatsgebildes gesondert be- handelt worden, oder genauer gespro- chen, das erste wurde unabhängig vom zweiten betrachtet und umgekehrt, und nur gelegentlich wurden ihre Bezieh- ungen zum dritten erwähnt. Hier müs- sen wir noch beide in Verbindung mit einander ins Auge fassen. Nachdem wir gesehen, wie sich aus dem Häupt- ling, der nur wenig über den Andern stand, unter gewissen Bedingungen der absolute Herrscher entwickelt, welcher die wenigen Auserwählten so gut wie die grosse Menge seinem Willen unter- ordnet, und nachdem wir gesehen, wie unter gewissen anderen Bedingungen jene wenigen Auserwählten zu einer Oligarchie werden, die keinen Ober- herren duldet und die Menge in Unter- werfung hält, haben wir nun die Fälle ins Auge zu fassen, wo ein Zusammen- wirken des ersteren mit der letzteren zu stande kommt. Auch wenn die Häuptlingswürde schon fest begründet ist, so hat der Häuptling doch immer noch mancherlei Gründe, im Einverständniss mit seinen angesehensten Mannen zu handeln. Er muss die Eintracht zwischen ihnen aufrechterhalten, er muss sich ihres Raths und willigen Beistandes ver- sichern und in wichtigen Angelegen- heiten ist es wünschenswerth, die Ver- antwortlichkeit mit ihnen theilen zu können. Daher das allgemeine Vor- kommen einer berathenden Versamm- lung. In Samoa »bildeten die Häupt- linge des Dorfes und die Familienhäupter, und sie bilden noch heute, den gesetz- gebenden Körper des Landes«. Bei den Fulahs »ist der König [von Rabbah] verpflichtet, bevor er irgend etwas Wichtiges unternimmt oder Krieg er- klärt, einen Rath der Mallams und der Obersten im Volke zusammenzuberufen«. Von den Mandingostaaten lesen wir, dass »der König in allen Angelegen- heiten von Bedeutung eine Versamm- lung der angesehensten Männer oder der Aeltesten beruft und sich von ih- rem Rathe leiten lässt«. Und solche Beispiele liessen sich ins Unendliche vermehren. Um nun aber das Wesen dieser Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Einrichtung vollständig zu begreifen und zu verstehen, warum sie in ihrer Weiterentwicklung ihre auszeichnenden Eigenthümlichkeiten erlangt, müssen wir noch einmal zu unserm Ann punkt zurückkehren. Zeugnisse von vielen Völkern und aus allen Zeiten beweisen, dass der berathende Körper anfänglich nichts weiter war als ein Kriegsrath. In der Versammlung der waffenfähigen Männer unter freiem Himmel ist es, wo wir zuerst die Gruppe der Leitenden jene berathende Function in betreff kriege- rischer Dinge ausüben sehen, die sich später auch auf andere Gebiete er- streckt. Und wenn diese Berathungen schon längst einen viel weiteren Um- fang erlangt haben, so bleiben doch noch immer Spuren dieser Abkunft er- halten. In Rom, wo der König vor allem Feldherr und die Senatoren als Häup- ter der Geschlechter anfänglich Kriegs- häuptlinge waren, wurde die Bürger- schaft, wenn sie zusammenberufen war, gewöhnlich als »Speermänner« angere- det: es lebte noch der Name fort, der ihnen naturgemäss zugekommen war, als sie noch als Zuhörer am Kriegsrath theilnahmen. Aehnliches zeigte sich in Italien in späteren Zei- ten, als die kleinen Republiken empor- kamen. Sısmoxpı beschreibt uns die Versammlung »der Bürger auf den Klang einer grossen Glocke hin, um vereint die Mittel zur gemeinsamen Abwehr zu berathschlagen«, und fügt hinzu: »Diese Zusammenkunft aller waffenfähigen Männer des Staates wurde ein Parlament genannt.< Ueber die Versammlungen der Polen in früheren Perioden lesen wir: »Solche Versamm- lungen kamen häufig vor, ehe ein Senat eingesetzt und so lange die Macht des Königs noch beschränkt war, und..... Alle, die Waffen trugen, fanden sich dazu ein;« in einer späteren Periode »bestanden die comitia paludata, welche 371 während eines Interregnums zusammen- traten, aus dem gesammten Adel, der sich wie zur Schlacht bewaffnet und gerüstet auf freiem Felde versammelte«. Auch in Ungarn, bis zum Beginn des sechzehnten Jahrhunderts, >»les sei- gneurs A cheval et armes de pied en cap comme pour aller en guerre, se reunissaient dans le champ de courses de Rakos, pres de Pesth, et la discu- taient en plein air les affaires publi- ques«. Ebenso sagt Stuges von den alten Germanen: »Der höchste Staats- rath ist das Volk in Waffen», und obgleich zur Zeit der Merowinger die Volksgewalt verkürzt wurde, so »nahm doch unter Chlodwig und seinen näch- sten Nachfolgern das Volk in bewaff- neter Versammlung wirklichen Antheil an den Entschliessungen des Königs.« Selbst heute noch hat sich die Sitte, bewaffnet zu gehen, da forterhalten, wo die ursprüngliche Staatsform noch besteht. »Bis zum heutigen Tage«, sagt LAVELEYE, »kommen die Bewohner von Appenzell-Ausserrhoden zur Lands- gemeinde, ein Jahr nach Hundwyl, das andere nach Trogen, indem Jeder ein altes Schwert oder einen rostigen De- gen aus dem Mittelalter in der Hand führt.«e Auch Mr. Freeman war Zeuge einer ähnlichen Jahresversammlung in Uri, wo die Leute in Waffen zusam- mentreten, um ihre obersten Behörden zu wählen und Rath zu halten. Man kann allerdings einwenden, dass in alten ungeordneten Zeiten jeder freie Mann um der persönlichen Sicher- heit willen habe Waffen tragen müssen, besonders wenn er sich nach einem fern von seiner Heimath liegenden Ver- sammlungsort zu begeben hatte. Allein viele Beispiele beweisen, dass dies, ob- gleich mit eine Ursache des Waffen- tragens, doch an sich keine ausrei- chende Ursache war. Während wir von den alten Scandinaviern hören, dass »alle waffenfähigen freien Männer Zu- tritt hatten« zur Volksversammlung 312 und dass »der neue Herrscher nach seiner Erwählung aus den Nachkommen des heiligen Geschlechts unter dem Getöse der Waffen und dem Rufen der Menge auf den Schild gehoben wurde«e, ist zugleich zu lesen, dass es »Niemand, nicht einmal dem König oder seinem Gefolge erlaubt war, bewaffnet zur Ge- richtsverhandlung zu kommen«. Allein auch abgesehen von solchen Belegen erscheint der Schluss wohlbe- gründet, dass der Kriegsrath die Quelle des berathenden Körpers gebildet und seine Umrisse vorgezeichnet hat. Ueberall war es das Bedürfniss nach Abwehr der Feinde, was ursprünglich zu vereinter Berathung antrieb. Für andere Zwecke mochte die Thätigkeit des Einzelnen oder kleiner Gruppen genügen, zur Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt aber war eine combinirte Thätigkeit der ganzen Horde oder des ganzen Stammes nöthig, und dieser Zweck muss die erste Veranlassung zu einer staatlichen Zusammenkunft ge- wesen sein. Ueberdies weisen auch gewisse charakteristische Eigenthüm- lichkeiten der Versammlungen - civili- sirter Völker aus früheren Zeiten dar- auf hin, dass diese aus dem Kriegsrath hervorgegangen sind. Fragen wir uns, was geschehen wird, wenn einige her- vorragende Mitglieder eines Stammes in Gegenwart aller anderen kriegerische Maassregeln besprechen, so ergibt sich von selbst, dass, wo eine ausgebildete Staatsorganisation noch fehlt, die Zu- stimmung der Menge für jede Ent- scheidung erlangt werden muss, bevor sie ins Werk gesetzt werden kann; und dasselbe gilt anfänglich auch dann, wenn sich viele Stämme vereinigen. So sagt GimBBon von dem Reichstag der Tataren, der sich aus den Stam- meshäuptern und ihrem Kriegsgefolge zusammensetzt: »Der Monarch, der die Streitkräfte überschaut, muss auch die Neigungen eines bewaffneten Volkes in Anschlag bringen.« Selbst wenn die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wenigen Ueberlegenen unter solchen Umständen der gleich ihnen bewaff- neten Menge ihren Willen aufzunöthi- gen vermöchten, so wäre das offenbar sehr unklug, indem der Erfolg im Kampf durch Ungehorsam gefährdet werden könnte. Es wird sich also der Brauch einbürgern, dem Haufen der streitbaren Männer die Frage vorzulegen, ob sie mit dem Verfahren einverstanden seien, für das sich der Rath der Häuptlinge entschieden. Es wird sich eine ähnliche Form ausbilden, wie sie für Regierungs- zwecke überhaupt bei den alten Römern bestand, deren König oder Feldherr die versammelten Bürger oder »Speer- männer« frug, ob sie den Vorschlag billigsten, oder wie sie Tacitus von den alten Germanen beschreibt, die bald durch Murren, bald durch Zusammenschlagen ihrer Speere die Anträge ihrer Führer verwarfen oder annahmen. Ausserdem aber wird der Ausdruck des Volks- willens natürlich in gewissem Maasse beschränkt werden, ganz wie uns dies berichtet wird. Die römischen Bürger durften auf jede ihnen vorgelegte Frage nur mit ja oder nein antworten, — eben die einfache Antwort, welche der Häuptling und die obersten Krieger von dem übrigen Volke fordern werden, wenn über Krieg oder Frieden ent- schieden werden soll. Eine ähnliche Beschränkung fand sich bei den Spar- tanern. Ausser dem Senat und dem ihm gleichstehenden König hatten sie »eine Ekklesia oder öffentliche Ver- sammlung der Bürger, welche zu dem Zwecke zusammenkam, die ihnen unter- breiteten Vorschläge anzunehmen oder zu verwerfen, jedoch nur mit geringer oder gar keiner Freiheit der Bera- thung< — ein leicht erklärlicher Brauch, wenn wir annehmen, dass in der ho- merischen Agora, von welcher die spar- tanische Verfassung abstammte, die vereinigten Häuptlinge sich erst der Zustimmung ihrer mitanwesenden Ge- folgschaften versichern mussten, bevor Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. sie wichtigeDinge unternehmen konnten. — Indem wir also hieraus folgern, dass der Krieg die erste Quelle politischer Berathungen ist und dass der auser- wählte Körper, welcher diese Berath- ungen hauptsächlich leitet, gerade bei den Gelegenheiten bestimmtere Gestalt gewinnt, wo für die öffentliche Sicher- heit gesorgt werden muss, sind wir nun darauf vorbereitet, die eigenthüm- lichen Züge, welche den berathenden Körper in seinen späteren Entwick- lungsstadien auszeichnen, besser zu verstehen. Wir haben bereits gesehen, dass im Anfang die Kriegerclasse nothwen- dig im Besitz des Landes war. In einem wilden Stamme ist Niemand Eigenthümer des besetzten Gebietes ausser den Kriegern, welche dasselbe gemeinsam zur Jagd benutzen. Während des Hirtenlebens werden gute Weide- gründe für das Vieh mit vereinten Kräften gegen Eindringlinge vertheidigt. Und wo das Ackerbaustadium erreicht ist, da muss das Gemeindeeigenthum, das Familieneigenthum, der Einzelbe- sitz von Zeit zu Zeit mit den Waffen in der Hand behauptet werden. Dar- aus erklärt sich also, wie gezeigt wurde, warum in frühen Stadien das Waffen- tragen und der Besitz von Grund und Boden gewöhnlich verbunden sind. Wo nun, wie bei Jagdvölkern, das Land gemeinsames Eigenthum bleibt, da können zwischen den Wenigen und der Menge nur solche Gegensätze zum Vorschein kommen, die auf wirklicher oder vermeintlicher persönlicher Ueber- legenheit dieser oder jener Art be- ruhen. Allerdings geben, wie schon angedeutet, Unterschiede im Wohlstand, der in Gestalt von Vieh, Böten, Scla- ven etc. erworben werden kann, einigen Anlass zu Classendifferenzirungen und so kann, noch bevor es überhaupt pri- vaten Grundbesitz gibt, die Menge der Besitzthümer zur Scheidung der 375 Regierenden von den Regierten bei- tragen. Ist das Hirtenstadium erreicht und der patriarchalische Typus einge- bürgert, so vererbt sich das vorhan- dene Eigenthum stets auf den ältesten Sohn; wenn er aber, wie Sir Hrnry MAINE bemerkt, als Verwalter für die ganze Gruppe zu betrachten ist, so vereint sich diese Würde mit seiner kriegerischen Führerschaft, um ihm Autorität zu verleihen. In einem spä- teren Stadium, wo der Grund und Bo- den von sesshaften Familien und Ge- meinden besetzt wird und der Grund- besitz eine bestimmte Form erreicht hat, tritt diese Vereinigung von Cha- rakteren auf dem Oberhauptjeder Gruppe noch mehr hervor, und wie sich in dem Abschnitt über die Differenzirung des Adels von den freien Männern er- gab, wirken verschiedene Einflüsse zu- sammen, um jeweils dem ältesten Sohne des Aeltesten Ueberlegenheit sowohl in betreff der Ausdehnung seines Grund- besitzes als des Grades seiner Macht zu verschaffen. Diese grundlegende Be- ziehung ändert sich auch nicht, wenn ein Adel durch Verdienst an die Stelle eines Adels durch Geburt tritt und, wie dies meist bald geschieht, die An- hänger eines Eroberers durch Theile des unterjochten Landes belohnt wer- den, welche sie unter der Bedingung fortdauernden Kriegsdienstes erhalten. Durchweg macht sich eben in der Classe der Kriegsobersten die Tendenz geltend, sie mit der Classe der Gross- grundbesitzer identisch zu machen. Indem wir also die allgemeine Ver- sammlung der bewaffneten freien Män- ner zum Ausgangspunkt nehmen, die sämmtlich einzeln oder zu Gruppen vereinigt Besitzer des Bodens sind und deren Führer, die ihre Berathungen in Gegenwart der übrigen abhalten, sich nur dadurch vor diesen auszeich- nen, dass sie die geschicktesten Krieger sind, sehen wir, wie sich durch häu- fige Kriege und fortschreitende Befesti- 374 gung der Verhältnisse ein Zustand herausbildet, in welchem dieser Rath der Führer sich durch grösseren Reich- thum und in Folge dessen durch grös- sere Macht noch schärfer von der Menge abhebt. Indem er dann in immer schrofferen Gegensatz zur grossen Masse der bewaffneten freien Männer tritt, strebt dieser berathende Körper, sich diese allmählich ganz unterzuordnen, sich zuletzt völlig davon abzulösen und gänzlich unabhängig zu werden. Die Entwicklung dieses zeitweiligen Kriegsrathes, zu welchem der König als Oberbefehlshaber die Anführer sei- ner Streitkräfte zusammenberuft, um ihre Meinung zu hören, zu dem blei- benden berathenden Körper, in welchem der König kraft seiner Herrscherwürde den Vorsitz bei den Berathungen der- selben Männer über öffentliche Ange- legenheiten im allgemeinen führt, kön- nen wir in allen Theilen der Welt sich vollziehen sehen. Ueberall setzt sich ein solcher berathender Körper aus kleineren Häuptlingen oder aus den Häuptern der Geschlechter oder aus Lehnsherren zusammen, bei denen mili- tärische und bürgerliche Herrschaft über locale Gruppen gewöhnlich mit ausgedehnten Besitzungen verbunden ist; häufig zeigt sich uns diese Zusam- mensetzung an einem Beispiel zugleich inkleinerem und in grösserem Maassstab, sowohl local als allgemein. Eine rohe und primitive Form der Einrichtung finden wir in Afrika. Bei den Kaffeın »wählt jeder Häuptling aus seinen wohl- habendsten Unterthanen fünf oder sechs aus, die ihm als Rathgeber zur Seite stehen. :.....- Der grosse Rath des Kö- nigs setzt sich aus den Häuptlingen der einzelnen Kraals zusammen«. Ein Betschuanenstamm »umfasst gewöhnlich eine Anzahl Städte oder Dörfer, jedes mit seinem besonderen Oberhaupt, wel- chem mehrere kleinere Häuptlinge unter- geordnet sind«, die »sämmtlich die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Seine Macht, obgleich sehr gross und in manchen Fällen unumschränkt, wird nichtsdestoweniger von den kleineren Häuptlingen controlirt, welche in ihren pichos oder pitschos, ihrem Par- lament oder öffentlichen Versammlung, mit der grössten Offenheit auseinander- setzen, was sie an seiner Regierung tadelnswerth oder ungehörig finden«. Von den Wanyamwezi erzählt Burron, dass sich der Sultan »mit einem Rath von zwei bis zwanzig Häuptlingen oder Aeltesten umgibt...... Seine Autorität wird durch das Gegengewicht einfacher Gewalt in Schranken gehalten; die unter ihm stehenden Häuptlinge können wahr- scheinlich ebenso viele Krieger ins Feld stellen wie er«. Aehnliches findet sich in Aschanti. »Die Caboceers und Haupt- leute in38 . wollen in allen Fragen über Krieg und auswärtige Politik befragt sein. Solche Angelegenheiten werden in einer allgemeinen Versammlung be- sprochen und der König findet es oft angezeigt, den Meinungen und lebhaften Vorstellungen der Majorität nachzuge- ben<. Auch aus den altamerikani- schen Staaten lassen sich Beispiele an- führen. In Mexico »präsidirte der Kö- nig alle acht Tage einer öffentlichen Versammlung. Sie kamen aus allen Thei- len des Landes zu diesen Versammlun- gen zusammen«; — und im weiteren lesen wir, dass der höchste Rang des Adels, die Teuctli, »vor allen andern im Senat den Vortritt hatte, sowohl in der Reihe der Sitze als beim Ab- stimmen«, woraus also die Zusammen- setzung des Senats zu ersehenist. Ebenso bei den Centralamerikanern von Vera Paz: »Obgleich die Oberherrschaft von einem König ausgeübt wurde, hatte er doch als Gehilfen kleinere Herren um sich, die meistens Herren oder Vasallen genannt wurden; sie bildeten den kö- niglichen Rath..... und vereinigten sich im Palast des Königs, so oft sie ein- berufen wurden.< Wenden wir uns nach Oberhoheit des ersteren anerkennen. | Europa, so mag zuerst des alten Polen Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. gedacht werden. Ursprünglich bestand es aus selbständigen Stämmen, »jeder von seinem eigenen Kniaz oder Rich- ter regiert, den Alter oder Ruhm seiner Weisheit zu dieser Würde erhobenhatte«, und jeder im Kriege von einem auf Zeit gewählten Voivod oder Haupt- mann angeführt; im Verlaufe jenes durch Kriege bewirkten fortschreitenden Zu- sammensetzungsprocesses aber hatten sich diese Stämme in die Classen der Adligen und Hörigen differenzirt, über denen ein Wahlkönig stand. Von der Organisation, die bestand, bevor der König seine Macht verlor, erfahren wir Folgendes: „Obgleich jeder dieser Palatine, Bischöfe und Barone dem Herrscher seinen Rath er- theilen durfte, so fand doch die Bildung eines Senats nur langsam statt und kam erst zum Abschluss, als die Erfahrung den Nutzen desselben bewiesen hatte. Die einzigen Gegen- stände, über welche sich der Monarch an- fänglich mit seinen Baronen berieth, bezogen sich auf den Krieg: was er ihnen aber ur- sprünglich aus Höflichkeit oder aus Miss- trauen gegen sich selbst oder um im Falle des Misslingens seine eigene Verantwortlich- keit zu verringern, gewährt hatte, das for- derten sie schliesslich als ihr Recht.“ Auch die altgermanischen Stämme, einst halb nomadisch und nur wenig organisirt, entwickelten allmählich, nach- dem sie das Stadium durchlaufen hat- ten, in welchem sich bewaffnete Häupt- linge und freie Männer zu bestimmten Zeiten zur Berathung über Krieg und andere Dinge versammelten, während der Kriege unter einander und gegen Rom eine ähnliche Verfassung. Zu Karl’s des Grossen Zeiten pflesten bei den alljährlichen grossen Versammlungen „die Herzöge, Grafen, Bischöfe, Scabini und Centenarii — welche alle mit der Re- gierung oder Verwaltung in Beziehung stan- den — officiell gegenwärtig zu sein; die Gross- und Kleingrundbesitzer, die Barone und Edelleute fanden sich auf Grund ihrer Lehen ein, die freien Männer kraft ihres Charakters als Krieger, obgleich zweifellos nur wenige derselben Waffen zu tragen ver- pflichtet waren, die nicht wenigstens ein klei- nes Grundstück besassen.“ 375 Von einer späteren Periode schreibt sodann Haunam: „In allen deutschen Fürstenthümern herrschte eine Art begrenzter Monarchie, welche die allgemeine Reichsverfassung in kleinerem Maassstab wiederspiegelte. Wie die Kaiser ihre gesetzgebende Gewalt mit dem Reichstag theilten, so hatten auch alle die Fürsten, welche zu dieser Versammlung gehörten, ihre eigenen Provinzialstände, die sich aus ihren Lehensvasallen und den reichsmittelbaren Städten in ihrem Gebiete zusammensetzten“; — die Masse der Landbevölkerung hatte also bereits ihre Macht einge- büsst. Aehnliches zeigt sich in Frank- reich während der späteren Feudalzeit. Eine »Verordnung vom J. 1228 in be- treff der Ketzer in Languedoc ist er- lassen nach dem Rathe unserer Gross- herren und Prudhommes«, und eine»vom J. 1246 über Aushebungen und Los- käufe in Anjou und Maine« sagt, »nach- dem wir zu Orleans die Barone und Grossherren der erwähnten Lande um uns versammelt und eingehenden Rath mit ihnen gepflogen« etc. Um dem naheliegenden. Einwurf zu begegnen, dass auf die gewöhnlich eben- falls zum berathenden Körper gehörigen Geistlichen keine Rücksicht genommen worden sei, muss noch besonders her- vorgehoben werden, dass die Anerkenn- ung dieser Thatsache keinerlei wesent- liche Aenderung der oben gegebenen Darstellung bedingt. Obgleich wir uns nach den neueren Sitten und Anschau- ungen die Priesterclasse im Gegensatz zur Kriegerclasse denken, so war es früher doch ganz anders. Einerseits wissen wir, dass besonders in kriege- rischen Gesellschaften der König sowohl Oberbefehlshaber als Hoherpriester ist und in beiden Eigenschaften die Ge- bote seiner Gottheit ausführt, und dazu kommt anderseits, dass die gewöhn- lichen Priester meistens direct oder in- direct in den vermeintlich von Gott ge- wollten Kriegen mitthätig sind. Als Be- leg des einen sei die Thatsache an- 376 geführt, dass Radama, König von Ma- dagascar, bevor er in den Krieg zog, »da er sowohl Priester als Feldherr ist, am Grabe von Andria-Masina, seinem berühmtesten Vorfahren, einen Hahn und eine junge Kuh opferte und ein Gebet darbrachte«. Und als Beleg des an- dern sei erwähnt, dass bei den Juden, deren Priester das Heer in die Schlacht begleiteten, Samuel, ein Priester von Kindheit an, den Befehl Gottes, » Ama- lek zu schlagen«, an Saul überbrachte und selbst den Agag in Stücke hieb. Mehr oder wenige active Theilnahme der Priester am Kriege finden wir über- all bei wilden und halbeivilisirten Völ- kern, so bei den Dacotas, Mundrucus, Abiponen, Khonds, deren Priester die Zeit des Krieges bestimmen oder die Zeichen zum Angriff geben; bei den Tahitiern, deren Priester »Waffen tru- gen und mit den Kriegern zum Kampfe zogen«; bei den Mexicanern, wo die Priester, gewöhnlich die Anstifter des Krieges, ihre Götzenbilder vor dem Heere begleiteten und sofort >»die ersten Kriegsgefangenen opferten<«; bei den alten Aegyptern, von denen wir lesen, dass »der Priester eines Gottes oft Befehlshaber zu Lande oder zur See war«. Wie naturgemäss aber dieser Zusammenhang ist, der bei rohen und noch jugendlichen Gesellschaften allge- mein vorkommt, beweist sein Wieder- aufleben in älteren Gesellschaften un- geachtet eines demselben widersprechen- den Glaubensbekenntnisses. Sobald das Christenthum aus seinem ausserstaat- lichen Stadium in dasjenige einer Staats- religion übergegangen war, nahmen auch seine Priester während. besonders kriegerischen Zeiten wieder der ur- sprünglichen kriegerischen Charakter an. >Um die Mitte des achten Jahr- hunderts war [in Frankreich] der regel- mässige Kriegsdienst von seiten des Clerus bereits vollständig entwickelt. « In der Feudalzeit wurden dann Bischöfe, Aebte und Priore bald selbst Feudal- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. herren mit aller Gewalt und Verant- wortlichkeit, die ihrer Stellung anhaf- tete: sie hielten Truppen in ihrem Sold, nahmen Städte und Festungen ein, hielten Belagerungen aus, führten oder schickten ihre Truppen den Kö- nigen zu Hilfe. Und Orverıca schildert 1094 die Priester, wie sie ihre Ge- meindeglieder und die Aebte ihre Va- sallen in den Kampf führten. Wenn nun auch in neueren Zeiten die kirch- lichen Würdenträger nicht mehr activ am Kampfe theilnehmen, so hat doch ihre berathende Stellung zu demselben — in der sie gar.oft eher dazu an- treiben als davon zurückhalten, — auch heute noch nicht aufgehört, wie bei uns vor kurzem das Votum der Bischöfe zeigte, welche mit einer ein- zigen Ausnahme die Eroberung von Afghanistan billigten. Dass der berathende Körper in der Regel auch Geistliche umfasst, wider- spricht also keineswegs unserer Be- hauptung, dass derselbe vom Kriegs- rath seinen Ausgang nimmt und so zu einer bleibenden Versammlung unter- geordneter Feldherrn wird. In etwas anderer Form wiederholt sich hier theilweise dasselbe, was uns schon bei der ÖOligarchie entgegentrat; der Unterschied liegt nur darin, dass hier der König als mitwirkender Factor hinzukommt. Ebenso gilt manches, was früher über den Einfluss des Krie- ges auf die Verkleinerung der Oligarchie gesagt wurde, auch für jene Verklei- nerung der primitiven berathenden Ver- sammlung, wodurch sie zu einer Körper- schaft von grundbesitzenden Kriegs- adligen wird. Jene durch den Krieg bewirkte Verschmelzung kleiner zu grös- seren Gesellschaften jedoch bringt noch andere Einflüsse ins Spiel, welche mit zu diesem Resultat beitragen. In den Versammlungen gleichmässig bewaffneter Männer in frühen Zeiten wird zwar die untergeordnete Menge Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wohl jene Autorität der wenigen Oberen anerkennen, die auf ihrer Führerschaft im Kriege, auf ihrer Würde als Ge- schlechtshäupter oder auf ihrer ver- meintlich göttlichen Abstammung be- ruht; immerhin aber werden sich die wenigen Oberen bewusst sein, dass sie in einem wirklichen Kampfe nicht gegen die untergeordnete Menge aufkommen könnten, — sie werden also auch die Ansichten derselben mit einer gewissen Rücksicht aufzunehmen genöthigt und nicht im stande sein, die Gewalt voll- ständig an sich zu reissen. Indem aber jene früher beschriebene Classendiffe- renzirung fortschreitet und die wenigen Oberen sich bessere Waffen verschaffen als die Menge oder wie bei vielen Völkern des Alterthums Kriegswagen haben oder wie im mittelalterlichen Europa Panzer und Harnische tragen und beritten sind, werden sie ihren ' Vortheil fühlen und auf die Ansichten der Menge weniger Rücksicht nehmen. Und der Gewohnheit, ihre Ansichten zu ignoriren, wird die Gewohnheit fol- gen, jede Meinungsäusserung von ihrer Seite als Unbescheidenheit zu betrachten. Diese allmähliche Usurpirung wird gefördert werden durch die Entstehung jener Haufen bewaffneter Anhänger, mit denen sich die wenigen Oberen um- geben — Söldner oder Andere, die, ohne Zusammenhang mit den gemeinen Freien, durch ihren Eid an ihre Herren gebunden sind und, weil gleichfalls mit bessern Waffen und Vertheidigungs- mitteln ausgerüstet als die Masse, bald auch anfangen werden, diese mit Ver- achtung anzusehen und sie unterjochen zu helfen. Nicht blos bei Gelegenheit von allgemeinen Versammlungen, sondern auch tagtäglich und an jedem belie- bigen Orte wird die wachsende Macht der Häuptlinge, nachdem sie einmal auf diese Weise begründet ist, die freien Männer mehr und mehr auf den Rang von Hörigen herabzudrücken stre- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 341 ben, ganz besonders da, wo solche Adlige ihrer Verpflichtung zum Kriegs- dienst gegen ihren König entbunden werden oder sich allmählich davon los- machen, wie dies im dreizehnten Jahr- hundert in Dänemark der Fall war. „Die freien Bauern, die ursprünglich unabhängige Besitzer des Bodens waren und gleiche Stimme hatten wie die höchsten Ad- ligen des Landes, wurden dadurch genöthigt, den Schutz dieser mächtigen Herren zu Sirfilben und zu Vasallen eines "benachbarten Herre- mand, Bischofs oder Klosters zu werden. Die ealsuunde oder Lands-Ting wur- den allmählich durch das allgemeine National- parlament des Dannehof, Adel-Ting oder Herredag in den Hintergrund gedrängt, wel- ches letztere sich ausschliesslich aus den Fürsten, Prälaten und anderen grossen Herren des Königreichs zusammensetzte...... Da der Einfluss der Bauernschaft gesunken war, während die Bürger der Städte noch keiner- lei Antheil au der Staatsgewalt hatten, nä- herte sich die Verfassung, obgleich zerfallen und schwankend, doch rasch der Form, welche sie schliesslich erlangte, nämlich einer Feudal- und Priester-Oligarchie.“ Ein fernerer Einfluss, welcher den bewaffneten Freien die Macht entwin- det und sie in die Hände der bewaff- neten Häuptlinge gelangen lässt, welche den berathenden Körper bilden, erwächst aus jener Erweiterung des besetzten Gebietes, die mit der wiederholten Ver- schmelzung von Gesellschaften zusam- menhängt. Wie RıcHter von der Zeit der Merowinger bemerkt: »Unter Chlod- wig und seinen nächsten Nachfolgern nahm das in Waffen versammelte Volk wirklich theil an den Entschliessungen des Königs. Mit der zunehmenden Grösse des Königreichs aber wurde eine Zusam- menkunft des ganzen Volkes unmöglich«: nur die, welche dem bestimmten Orte zunächst lebten, konnten derselben bei- wohnen. Zur Beleuchtung dieses Ver- hältnisses seien noch zwei Thatsachen angeführt, von denen eine bereits an anderer Stelle verwerthet wurde. >»Der grösste Volksrath in Madagascar ist eine Versammlung des Volkes der Haupt- stadt und der Oberhäupter der Pro- 26 378 vinzen, Bezirke, Städte und Dörfer ete., und von dem englischen Witenagemot sagt Mr. FrezmAn: »Manchmal finden wir unmittelbar die Gegenwart grosser und zahlreicher Menschenclassen, wie der Bürger von London und Winchester erwähnt.< Aus beiden Fällen ersehen wir, dass wohl alle Freien das Recht hatten, der Versammlung beizuwohnen, dass aber nur die am Orte selbst Woh- nenden leicht davon Gebrauch zu ma- chen im stande waren. Diese einschrän- kende Ursache, welche auch Mr. Frer- MAN bespricht, wirkt auf verschiedene Weise. Zunächst sind schon die Kosten einer Reise nach dem zur Versammlung festgesetzten Orte, sobald das König- reich einen gewissen Umfang erlangt hat, zu gross, um von einem Einzelnen getragen zu werden, der nur wenige Acker Landes besitzt. Dazu kommen die indirecten Kosten durch Zeitver- lust, die für denjenigen, der persön- lich arbeitet oder die Arbeiten beauf- sichtigt, sehr ins Gewicht fallen. End- lich die besonders in unruhigen Zeiten bedeutende Gefahr, welcher nur der von einem wohlbewaffneten Gefolge Um- gebene trotzen kann. Offenbar müssen alle diese abschreckenden Ursachen um so mehr in Anschlag kommen, je mehr aus den oben dargelegten Gründen die zum Beiwohnen anregenden Momente in den Hintergrund treten. Noch eine andere Ursache macht sich hier geltend. Wenn das besetzte Gebiet ausgedehnt und daher die Be- wohner zahlreich sind, so wäre eine Versammlung aller bewaffneten Freien, selbst wenn sie zu stande käme, doch schon durch ihre Grösse und den Mangel an Organisation verhindert, an den Verhandlungen thätigen Antheil zu nehmen. Eine Menge Menschen, die von weit zerstreuten Punkten her- kommen, die einander meist ganz unbe- kannt sind, die vorher nicht mit ein- ander in Verkehr treten konnten und daher sowohl eines bestimmten Planes Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. als geeigneter Führer entbehren, ver- mag niemals gegen die kleine, aber wohlorganisirte Gruppe Jener aufzu- kommen, die gemeinsame Ideen ver- treten und im Einverständniss mit ein- ander handeln. Endlich ist auch der Umstand nicht zu übersehen, dass, wenn die oben genannten Ursachen alle darauf hinge- arbeitet haben, den ferne wohnenden bewaffneten Freien die Theilnahme an den Versammlungen zu erschweren, und der Brauch eingeführt ist, die Wich- tigeren unter ihnen besonders dazu aufzufordern, die natürliche Folge da- von sein wird, dass im Laufe der Zei- ten der Empfang einer solchen Auffor- derung erst zur Theilnahme autorisirt und das Ausbleiben einer solchen gleich- bedeutend wird mit dem Verlust des Versammlungsrechtes. Hier erkennen wir also meh- rere Einflüsse, sämmtlich direete oder indirecte Folgen des Krieges, welche dazu beitragen, den berathenden Kör- per von der Masse der bewaffneten Freien, aus welcher derselbe hervor- geht, zu differenziren. Sind nun der Herrscher und der so entstandene berathende Körper ge- geben, so erhebt sich die Frage: Wel- ches sind die Ursachen einer Aende- rung in ihren relativen Gewalten ? Zwischen beiden Autoritäten muss stets ein gewisser Kampf stattfinden, jede muss die andere sich unterzuordnen suchen. Unter welchen Bedingungen vermag nun der König den berathenden Körper und unter welchen Bedingungen dieser jenen zu bewältigen ? Dem König verleiht natürlich der Glaube an seine übermenschliche Natur einen ausserordentlichen Vortheil im Wettstreit um die Oberherrschaft. Ist er göttlicher Abkunft, so werden sich seine Gegner kaum offen seinem Willen zu widersetzen wagen und die Mit- glieder seines Rathes werden einzeln Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. oder insgesammt nicht über unterwür- fige Rathschläge hinauszugehen ver- suchen. Ist überdies die Erbfolge so geregelt, dass selteri oder nie der Fall eintritt, wo der König von den Häupt- lingen gewählt werden muss, so dass sie keine Gelegenheit haben, einen zu wählen, der sich ihren Wünschen füg- sam zeigen wird, so ist ihnen noch mehr jede Möglichkeit benommen, ir- sendwelche Autorität zu behaupten. Daher finden wir auch gewöhnlich keine berathenden Körper von unabhängiger Stellung in den despotisch regierten Ländern des Ostens aus alter oder neuer Zeit. der Aegypter lesen, dass »er im Kriege vom Rathe der Dreissig begleitet wor- den zu sein scheint, der offenbar aus vertrauten Rathgebern, Schreibern und hohen Staatsbeamten zusammengesetzt war«, so ist doch leicht zu ersehen, dass die Mitglieder dieses Rathes nur Angestellte waren und nur so viel Ge- walt besassen, als ihnen vom König gewährt wurde. Ebenso in Babylonien und Assyrien: Höflinge und Andere, welche die Stellung von Ministern und Rathgebern der gottentsprungenen Herr- scher einnahmen, bildeten keinerlei feststehende Versammlung zu Berath- ungszwecken. Auch im alten Persien bestand ein gleiches Verhältniss. Der erbliche König, nahezu heilig und mit überschwänglichen Titeln versehen, ob- schon einer gewissen Beschränkung von seiten der Fürsten und Edlen von kö- niglichem Geblüt unterworfen, welche seine Heere anführten und ihm ihren Rath ertheilten, stand doch nicht unter dem Zwang einer eigentlichen Körper- schaft derselben. In der ganzen Ge- schichte von Japan zeigt sich bis auf unsere Zeiten herab ein ähnlicher Zu- stand. Es lag den Daimios ob, in bestimmten Zwischenräumen sich in der Hauptstadt einzufinden, was als Vor- sichtsmaassregel gegen Unbotmässigkeit geschah; aber niemals wurden sie wäh- Obgleich wir vom König 3179 rend dieser Zeiten zusammenberufen, um irgendwelchen Antheil an der Re- gierung zu nehmen. Und wie in Japan, so tritt auch in China dieselbe Begleit- erscheinung des erblichen Königthums auf. Wir lesen darüber: »Obgleich es in der chinesischen Regierung dem Namen nach keinen berathenden Kör- per und nichts einem Congress, Par- lament oder tiers-etat wirklich Analoges gibt, so sieht sich der Kaiser doch durch die Nothwendigkeit gedrungen, mit einigen seiner Beamten Rath und Erwägung zu pflegen.» Auch Europa bietet uns entsprechende Beispiele. Wir können hier nicht blos auf Russ- land, sondern ganz besonders auf Frankreich in der Zeit, wo die Mo- narchie ihre absoluteste Form erreichte, verweisen. In dem Zeitalter, wo Geist- liche, wie Bossurr, die Ansicht aus- sprachen, dass »der König Niemand verantwortlich ist... .. . der ganze Staat in ihm liegt und der Wille des ganzen Volkes in dem seinigen enthal- ten ist« — in dem Zeitalter, wo der König (Ludwig XIV.) »mit der Idee von seiner Allmacht und göttlichen Sendung bekleidet,» »von seinen Unter- thanen mit Anbetung betrachtet wurde», hatte er »selbst die geringste Spur, Idee oder Erinnerung an jede andere Autorität ausser derjenigen, die von ihm selber ausging, ausgelöscht und absorbirt«. Mit der Festsetzung der bestimmten Erbfolge und der Ausbil- dung des göttlichen Prestige war alle Machtbefugniss der übrigen Stände, die sie in früheren Zeiten besessen hatten, verschwunden. Umgekehrt zeigt sich in manchen anderen Fällen, dass, wo der König das Prestige eines vermeintlich gött- lichen Ursprungs nie besass oder nicht zu behaupten vermochte, die Macht des berathenden Körpers im stande ist, die königliche Gewalt sich unterzuord- nen und schliesslich ganz zu unter- drücken. In erster Linie ist hier Rom 26 * 380 zu nennen. Ursprünglich »berief der König den Senat zusammen, wann es ihm beliebte, und legte ihm seine Fragen vor; kein Senator durfte unge- fragt eine Meinung aussprechen und noch weniger durfte sich der Senat versammeln, ohne dazu aufgefordert zu sein». Hier aber, wo dem König zwar göttliche Billigung, nicht aber göttliche Abstammung zuerkannt und wo er zwar in der Regel von seinem Vorgänger ernannt, manchmal aber auch that- sächlich vom Senat erwählt wurde und sich stets der Form nach einer Zu- stimmung von seiten des Volkes unter- ziehen musste, erhob sich der bera- thende Körper bald zu einer über- mächtigen Stellung. >Im Laufe der Zeit verwandelte sich der Senat aus einer Körperschaft, welche den Behör- den blos berathend zur Seite stehen sollte, in ein Collegium, das den Be- hörden Befehle gab und selbst regier- te.» Später »wurde das Recht, Sena- toren zu ernennen und abzusetzen, das ursprünglich den Behörden zukam, den- selben entzogen», und schliesslich »wurde der unantastbare Charakter und die Lebenslänglichkeit der Mit- glieder der herrschenden Classe, welche Sitz und Stimme hatten, auf die Dauer festgestellt«e — und damit war die oligarchische Verfassung fertig. — Die Geschichte von Polen bietet uns ein anderes Beispiel. Erst wurden aus ein- fach regierten Stämmen kleine Staaten und es entstand ein Adel; dann ver- einigten sich diese kleinen Staaten; endlich kam das Königthum auf. Die- ses, von Anfang an ein Wahlkönig- thum, wie es gewöhnlich der Fall ist, behielt hier diesen Charakter, wurde niemals erblich. Jedesmal, wo eine solche Wahl unter den Gliedern des königlichen Stammes getroffen werden musste, gab sich eine Gelegenheit, Jemand zum König zu machen, den die unruhigen Adligen ihren eigenen Wün- schen fügsam glaubten, und so kam Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. es, dass die Macht des Königthums allmählich in Verfall gerieth. Endlich „war unter den drei Ständen, in welche der Staat zerfiel, derjenige des Königs, ob- gleich seine Autorität früher geradezu de- spotisch gewesen war, amallerunbedeutendsten geworden. Seine Würde war mit keinerlei Macht bekleidet; er war blos der Vorsitzende des Senats und der oberste Richter der Re- publik.“ Hieher gehört auch das Beispiel von Scandinavien, das bereits in an- derer Hinsicht erwähnt wurde. Die dänischen, schwedischen und norwegi- schen Könige waren ursprünglich wähl- bar, und obgleich erbliche Nachfolge mehrmals für einige Zeit in Gebrauch kam, so fand doch ein wiederholter Rückfall in das Wahlsystem statt und die Folge davon war, dass die den berathenden Körper bildenden Feudal- häuptlinge und Prälaten das Ueberge- wicht bekamen. Das zweite Element im dreieinigen Staatsgebilde wird somit wie das erste durch kriegerische Verhältnisse weiter entwickelt. Diese sondern den Herr- scher immer mehr von allen unter ihm Stehenden und diese bewirken auch eine Integration. der wenigen Höher- gestellten zu einem berathenden Körper, der sich von der Menge. der Tiefer- stehenden abhebt. Dass der Kriegsrath, eine Versamm- lung von leitenden Kriegern, welche in Gegenwart ihres Gefolges sich bespre- chen, der Keim ist, aus welchem der berathende Körper hervorgeht, lässt sich aus dem Fortbestehen von Ge- bräuchen erschliessen, die zeigen, dass jede politische Versammlung ursprüng- lich eine Versammlung der bewaffneten Männer war. Mit diesem Schluss stim- men manche andere Thatsachen über- ein,. wie dass nach Erreichung ei- nes einigermaassen sesshaften Zustandes die Befugniss des versammelten Volkes auf die Annahme oder Verwerfung der ihm gemachten Vorschläge beschränkt Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wird, und dass die Mitglieder des be- rathenden Körpers vom Herrscher, der zugleich Oberfeldherr ist, einberufen werden und ihre Meinung nur auf seine Aufforderung hin aussprechen dürfen. Nicht minder erhalten wir auf diese Weise Aufklärung über den Vorgang, durch welchen der primitive Kriegsrath sich ausdehnt, zur bleibenden Institu- tion wird und sich nach aussen ab- schliesst. Innerhalb der Kriegerclasse selbst, welche zugleich die Classe der Grundbesitzer ist, erzeugt der Krieg zunehmende Unterschiede des Reich- thums wie des Ranges, so dass sich im Verlauf der vom Kriege ver- anlassten wiederholten Verschmelzung von kleineren und grösseren Gruppen die Anführer im Kriege als Grossgrund- besitzer und locale Herrscher hervor- heben. Dadurch kommen aber die Mit- glieder des berathenden Körpers in Gegensatz zu den Freien überhaupt, nicht blos als Kriegsführer zu ihren Untergebenen, sondern noch mehr als Männer von Reichthum und Autorität zu denen der grossen Menge. Dieser sich steigernde Gegensatz zwischen dem zweiten und dem dritten Element des dreieinigen Staatskörpers endigt mit völliger Trennung, wenn im Laufe der Zeiten durch Kriege grössere Gebiete vereinigtwerden. Die bewaffneten Freien, über ein weites Gebiet zerstreut, werden von der Theilnahme an den periodischen Versammlungen abgehalten durch den damit verbundenen Aufwand 'an Geld und Zeit, durch die Gefahr und auch durch die Erfahrung, dass sie trotz ihrer Menge, weil unvorberei- tet und unorganisirt, den Wenigen ge- genüber, die wohlorganisirt, besser bewaffnet, beritten und von Haufen von Anhängern umgeben sind, vollständig hülflos erscheinen. Während nun in Folge dessen eine Zeit lang nur die dem Versammlungsorte zunächst woh- nenden, waffenfähigen Freien theilneh- men, kommt bald eine Zeit, wo selbst sl diese nicht mehr dazu aufgefordert werden und endlich gar nicht mehr dazu berechtigt gelten, so dass sich der berathende Körper zuletzt ganz scharf von letzteren differenzirt. Die Aenderungen in den relativen Befugnissen des Herrschers und des berathenden Körpers werden durch nahe- liegende Ursachen bedinst. Wenn der König den Ruf übernatürlicher Abstamm- ung oder Autorität behält oder erlangt und die Erbfolge gesetzlich so gut geregelt ist, dass Wahl durchaus ausgeschlossen bleibt, so sinken diejenigen, die sonst einen berathenden Körper mit coordi- nirter Gewalt gebildet haben würden, zu blossen besonders ernannten Bera- thern des Königs herab. Hat aber die- ser das Prestige des vermeintlich hei- ligen Ursprungs oder Auftrags nicht und bleibt er wählbar, so behält der berathende Körper die Macht in Hän- den und geht sehr leicht in eine Oli- garchie über. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, dass ein berathender Körper un- ter allen Umständen auf die beschrie- bene Weise entstanden oder sozusammen- gesetzt sei. Durch Kriege zertrümmerte oder durch Revolutionen aufgelöste Ge- sellschaften behalten manchmal so wenig von ihrer ursprünglichen Organisation, dass auch keine Classe von jener Art übrig bleibt, aus der ein berathender Körper von der geschilderten Art ent- stehen könnte. Oder wie wir in un- seren Kolonien sehen, es mögen sich neue Gesellschaften unter Verhältnissen gebildet haben, welche der Entstehung einer Classe von grundbesitzenden Kriegs- häuptern nicht günstig waren, weshalb jene auch nicht die Elemente darbieten konnten, aus denen sich der berathende Körper in seiner primitiven Gestalt zusammensetzt. Unter Verhältnissen solcher Art bilden sich die Versamm- lungen, welche letzterem so weit als möglich in Stellung und Function entsprechen, unter dem Einfluss der 382 Ueberlieferung oder des Beispiels aus und setzen sich in Ermanglung der ur- sprünglichen Elemente aus anderen zu- sammen — im allgemeinen jedoch im- mer aus Solchen, die durch ihre Stell- ung, höheres Alter oder frühere Erfahr- ungen in der Verwaltung mehr in den Vordergrund treten als die Masse der Elemente einer Volksversammlung. Die vorstehende Darlegung gilt also blos für den, wie wir sagen können, normalen Kleinere Mittheilungen und Journalschau. berathenden Körper, der während jener durch Kriege bewirkten wiederholten Ver- schmelzung von kleineren Gesellschaften zu grossen sich entwickelt; die Senate oder ersten Kammern aber, welche un- ter später herrschenden und verwickel- teren Bedingungen auftraten, mögen in- soweit, als die neuen Verhältnisse es gestatten, als Homologa desselben in Function und Zusammensetzung betrach- tet werden. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Beobachtungen an dem neuen Kometen. Wie zu erwarten stand, hat der grosse Komet, welcher zuerst am 29. Mai ds. Jahres von Dr. GouLp zu Cordoba beobachtet wurde und während des Juni und Juli bei uns sichtbar war, zu mancherlei wichtigen Untersuchun- gen mit den Hilfsmitteln der Neuzeit Anlass gegeben. DasResultat der GouLp’- schen Beobachtungen und Rechnungen, die sogenannten Bahnelemente, theilte der Kaiser von Brasilien selbst an die Pariser Akademie mit, und zwar wie folgt: Durchgang durch die Sonnen- nähe 1881, Juni 19,5 (Berliner Mitter- nacht), Länge des Perihels 272°, Länge des aufsteigenden Knotens 273°, Neig- ung der Bahnebene gegen die Ekliptik 64°, kürzester Abstand von der Sonne 0,695 oder etwa 15500000 Meilen. Diese Bahn zeigt eine auffallende Aehn- lichkeit mit der des durch Bessen’s Untersuchungen berühmt gewordenen grossen Kometen von 1507, weshalb Gourp ihn auch als solchen ankündigte. Dennoch steigen gegen eine volle und ganze Identität gewichtige Bedenken auf. Für den Kometen von 1807 hatte Bessen eine Umlaufszeit von beinahe 1700 Jahren berechnet; welche durch spätere Untersuchungen auf etwa 1600 Jahre reducirt wurde, dass dieselbe nicht so verhältnissmässig klein sein kann, wie 74 Jahre, ergiebt sich schon daraus, dass eine entsprechende Erscheinung aus historischen Zeiten, namentlich aus den Jahren 1734 und 1660 nicht be- kannt ist. Es ist ferner in diesem Falle eminent unwahrscheinlich, dass die von einem grossen Planeten, wie z. B. Ju- piter, ausgeübte Störung die ungeheure Verminderung der Umlaufszeit veran- lasst habe, weil die Bahn an den grös- seren Massen unseres Planetensystems weit vorbeiführt. Der Komet Halley mit 76 Jahren Umlaufszeit hält dieselbe ziemlich regelmässig ein, obgleich er den grossen Planeten viel näher kom- men muss. Nach der Ansicht des Pro- fessor KLINKERFUES in Göttingen be- steht keine Identität mit dem Kometen von 1807, sondern nur eine Bahnüber- einstimmung und möglicherweise eine sonstige nähere Beziehung oder Ver- wandtschaft zu ihm. Wie die einzelnen Theile des Kometen von Biela (zu denen man wohl auch den Kometen von 18181. rechnen darf) einst in einem einzigen Kometen vereinigt gewesen sind, so Kleinere Mittheilungen und Journalschau. scheine auch im vorliegenden Falle ein sehr grosser Komet vor sehr langer Zeit in zwei grosse zertheilt oder zer- trümmert worden zu sein, von denen der eine vor dem anderen im Verlaufe des langen Wettrennens einen Vorsprung von 74 Jaliren erlangt hat. Diese An- sicht kann leicht geprüft werden; es wird darauf ankommen, ob eine Um- laufszeit von 74 Jahren sich den Be- obachtungen der jetzigen Erscheinung anschliesst oder nicht. Bemerkenswerth scheint, dass bis dahin mit Sicherheit nur beim Biela’schen Kometen die Thei- lung nachgewiesen ist, einem Kometen, welcher die Erdbahn durchschneidet und einst einmal mit ihr zusammen- getroffen sein muss. Der gegenwärtige Komet, wie der von 1807, durchschnei- det die Bahn des Planeten Venus und muss einst damit zusammen getroffen sein, wenn man Alles in Betracht zieht. Würde unsere Erde durch einen Zu- sammenstoss in zwei Stücke getheilt, so würden sich die Stücke nach kur- zer Zeit in Folge der gegenseitigen An- ziehung wieder vereinigen. Ganz anders bei Kometen, wo nach solchem Falle die Anziehung der Planeten die gegen- seitige der Kometentheile überwiegen und dieselbe mehr und mehr von ein- ander entfernen wird. Im Allgemeinen bot der Komet in den Tagen seines hellsten Glanzes das Ansehen eines ge- waltigen Schwalbenschwanzbrenners dar, dessen von der Sonne abgewendete, lang ausgedehnte Schwanzspitzen stark divergirten, und eine vollkommen dunkle Zone einschliessend, sich fast über zehn Grade am Himmel ausdehnten. Der Kern, welcher dem blossen Auge fast das Aussehen eines Sternes erster Grösse darbot, hat nach Zeichnungen, welche R. S. NewArL in Ferndene von einem Tage zum andern entworfen hat, ziem- lich stark seine Gestalt oder sein Aus- sehen in der Sonnennähe geändert. Hexky Drarer in New-York und Janssen in Paris ist es gelungen, den 383 Kometen zu photographiren, und der Letztere legte in der Sitzung der Pariser Akademie vom 27. Juni eine wohlgelun- gene, mit seinem neuen photographischen. Teleskop aufgenommene Photographie vor. Seine photometrischen Vergleich- ungen nach der neulich beschriebenen photographischen Methode (vgl. Kos- mos Bd. IX, S. 136) ergaben die über- raschende Thatsache, dass die schein- bar so auffallende Helligkeit des Ker- nes nur derjenigen eines Sternes fünfter Grösse gleichkam. In der Photographie sieht man wie beim direkten Anblick die Sterne durch den Schweif hindurch- funkeln, und es gewinnt in Folge der ausserordentlichen Durchsichtigkeit des Schweifes immermehr die schon von SENECA in seinen Quaestiones naturales aufgestellte Ansicht, über welche wir vor längerer Zeit einen ausführlichen Artikel gebracht haben (Bd. IH, S. 297) Boden, dass der Schweif nur eine opti- sche Erscheinung sei. Der bekannte englische Spektro- skopiker Wıuuıam Hussıns meldet, dass er in der Nacht vom Freitag dem 27. Juni nach einstündiger Exponirung eine Photographie des brechbareren Theiles von dem Spektrum des damals in hellem Glanze sichtbaren Kometen auf einer Gelatin-Platte erhalten. habe. Auf dieser Photographie zeigen sich ein Paar helle Linien ein wenig hinter H in der ultra-violetten Region. »Sie schei- nen mir,« sagt Huccıss, >zu dem hellen .Spektrum des Kohlenstoffs (in irgend einer Form) zu gehören, welche ich schon in dem sichtbaren Spektrum der Kometen von 1866 und 1868 beob- achtete. Auch zeigt sich auf der Pho- tographie ein continuirliches Spektrum, in welchem man die Frauenhofer’- schen Linien sehen kann. Diese be- weisen, dass dieser Theil des Lichtes des Kometen reflektirtes Sonnenlicht war. Dieses photographische Zeugniss unterstützt die Resultate, welche ich im Jahre 1868 von einem teleskopischen 354 Kometen erhielt, und nach welchen die Kometen theilweise durch reflektirtes Sonnenlicht, theilweise durch ihr eigenes Licht leuchten, sowie ferner, dass das Spektrum dieses Theils ihres Lichts die Gegenwart von Kohlenstoff, vielleicht in Verbindung mit Wasserstoff, andeutet.« TmorLon constatirte die grösste Aehn- lichkeit mit dem Spektrum einer Al- koholflamme. Einen etwas ausführlicheren Bericht über das Spektrum veröffentlicht W. H. M. Cnristie vom königlichen Obser- vatorium in Greenwich. Der grössere Theil des Kernes gab ein helles con- tinuirliches Spektrum, welches durch die gewöhnlichen Kometenstreifen unter- brochen wurde, ein Theil jedoch zeigte drei Bänder im grünen, blauen und violetten Theile. Messungen des Haupt- streifens im grünen Theile zeigten, dass er mit dem Streifen im ersten Kohlen- stoff-Spektrum (blaue Flammenbasis) bei 5165 und nicht mit dem des zweiten Spektrum (Vacuumrohr) bei 5198 zu- sammenfiel. Die Bänder in dem blauen und violetten Theile schienen so gut, als es durch Schätzung zu erkennen möglich war, mit den entsprechenden Streifen im ersten Kohlenstoffspektrum zusammenzufallen. Weder im Kerne noch im Schweife konnte eine entschie- dene Polarisation wahrgenommen wer- den. RanyArp erblickte mittels eines Fünf-Prismen-Spektroskopes für direkte Vision über dem kontinuirlichen Spek- trum des Keines drei leuchtende grüne‘ Streifen, von denen zwei auch in der den Kern umgebenden Koma sicht- bar waren. Die Nektar absondernden Drüsen der Nelampvrum-Arten bilden den Gegenstand einer Abhand- lung, welche E. RarHnAayY in den Denk- schriften der Wiener Akademie der Wissenschaften 1880 veröffentlicht hat. Derselbe bemerkte zuerst an dem un- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. ter dem Getreide wachsenden purpur- nen Wachtelweizen (Melampyrum arvense) Schwärme von Ameisen, welche von den kleinen schwarzen Punkten der Brak- teen irgend einen süssen Nahrungsstoff zu sammeln schienen. Diese Punkte er- schienen unter der Loupe als kleine scheibenförmige Körper, welche einen süssen Saft aussonderten, der wenig- stens 2°/o durch Kupferoxyd nicht re- ducirbaren Zucker enthielt. Dieselben, schon früher beobachteten drüsenförmi- gen Scheiben kommen auch bei M. ne- morosum, pratense und barbatum vor, und bilden epidermale Trichome auf den Brakteen, welche aus einer kurzen Fuss- zelle bestehen, auf der eine Scheibe in ihrer Mitte befestigt ist, welche aus einer einzigen Lage siebenseitiger Zellen besteht. Nach ihrer Funktion muss man sie zu DE BArr’s Epidermisdrüsen rech- nen; sie sondern den Saft, dem die Ameisen nachgehen, zwischen den Zel- len und der Cuticula ab, worauf er durch Platzen der letzteren hervortritt. Die Entwickelungsart dieser Drüsen ist die nämliche, wie die verwandter Bild- ungen. Der Zweck, dem sie dienen, dürfte nach des Verfassers Meinung weder durch die Hypothesen von Bert und Deurıno, noch nach derjenigen von Kerner über Nektarien ausserhalb der Blüthe zu erklären sein. Die Flüssig- keit schwillt, wenn man die Ameisen fern hält, zu förmlichen Tröpfchen an, und erneuert sich schnell und wieder- holt, wenn man die Flüssigkeit mehr- mals in gewissen Zwischenräumen ent- fernt. Der Farbensinn der Ameisen hatte schonden Gegenstand einiger frühe- rer Untersuchungen von Sir JOHNLUBBOCK ausgemacht, über welche wir im Kos- mos (Bd. VI, S. 312) berichtet haben. Er war dabei von der Erfahrung aus- gegangen, dass wenn Ameisen in ihrem Neste derart gestört werden, dass ein Kleinere Mittheilungen und Journalschan. \ plötzliches Licht aufihre tieferen Schlupf- - winkel fällt, sie ihre Larven und Pup- pen schnell in dunklere Räume flüchten, wahrscheinlich, weil diese nach ihrer Erfahrung am sichersten sind. Indem er nun farbige Gläser auf ihre Nester legte, sah er ferner, dass sie unter vio- lettem Glase schleunigst von dannen flohen, als wenn das violette Licht ihnen sehr empfindlich gewesen wäre, dagegen unter für unsere Augen viel helleren grünen und gelben Gläsern verweilten, am liebsten aber unter rothen Gläsern sich sammelten, als ob dieser Raum einer völligen Finsterniss für sie ent- sprochen hätte. Etwas abgeänderte neue Versuche gaben dieselben Resultate, und wiederum sah er, wenn unmittelbar nebeneinander ein violettes und ein gelbes Glas über den Aufenthalt der Thiere gedeckt wurde, dass sie ihre Jungen schleunigst unter das gelbe Glas flüchteten, obwohl uns:dieser Zufluchts- ort viel heller erscheint als der erstere. Sir Jonn kam dadurch auf die Idee, dass vielleicht die Lichtempfindlichkeit bei den Ameisen auf einem viel höhern Punkte der Skala beginnen möchte, als für den Menschen, dass ihnen der rothe Theil des Spektrums möglicherweise noch vollkommen dunkel erscheine, die Lichtwirkung darauf langsam in dem für uns hellsten gelben und grünen Theile beginne, im Blau und Violett ihr Maximum erreicht, und vielleicht noch über den violetten Theil hinaus gehen könnte. Deshalb suchte er sich zu vergewissern, ob vielleicht die für unser Auge völlig unsichtbaren, ultra- violetten Strahlen auf sie noch einen Eindruck verursachen möchten. Zu die- sem Zwecke verwendete er unter An- derm Schwefelkohlenstoff und Auflösun- gen von Chininsulfat, welche alle sicht- baren Strahlen durchlassen und deshalb für uns vollkommen durchsichtig und farblos sind, welche aber die ultra- violetten Strahlen vollständig zurück- halten. Ueber einen Theil von einem 385 ihrer Nester legte er ebenseitige Fla- schen, die mit diesen Flüssigkeiten ge- füllt waren, und über einen andern Theil ein Stück dunkelviolettes Glas und jedesmal wurden die Larven von ihnen unter die durchsichtigen Flüssig- keiten und nicht unter das violette Glas gebracht. Andererseits warf er ein Spektrum in ein ähnliches Nest, und fand, dass wenn die Ameisen nur die Wahl hatten, ihre Jungen in die ultra- violetten oder in die rothen Strahlen zu bringen, sie die letzteren vorzogen. Er schliesst daraus, dass die Ameisen die ultravioletten Strahlen, für welche unsere Augen völlig unempfindlich sind, empfinden. Da nun jeder Strahl von homogenem Lichte, welchen wir über- haupt empfinden, uns als eine verschie- dene Farbe erscheint, so wird es wahr- scheinlich, dass auch diese ultraviolet- ten Strahlen sich den Ameisen als eine bestimmte und eigenartige Farbe, von der wir uns keine Idee bilden können, merkbar machen müssen, die aber den übrigen ebenso unähnlich sein muss, wie Roth dem Gelb und Grün dem Violett. Auch erhebt sich die Frage, ob das weisse Licht sich für diese In- sekten von unserem weissen Lichte un- terscheiden mag, insofern es diese Zu- satzfärbung enthält. Da nur wenige Farben in der Natur reine Farben sind, sondern fast alle aus der Mischung von Strahlen verschiedener Wellenlänge her- vorgehen, und da in diesen Fällen die sichtbare Resultante nicht blos aus den Strahlen, welche wir sehen, zusam- mengesetzt sein würde, sondern viel- mehr aus diesen und den ultravioletten Strahlen, so möchte es in jedem Falle scheinen, dass die Farben der Gegen- stände und der allgemeine Anblick der Natur ihnen einen von dem unsrigen sehr verschiedenen Eindruck darbieten möchten. Aehnliche Experimente, welche Sir Jonn auch mit einigen niederen Krustaceen anstellte, deuteten auf den- selben Schluss, aber den Bericht dar- 386 über verspart er auf eine zukünftige Gelegenheit. In derselben Sitzung machte der berühmte Ameisen-Forscher einige Mit- theilungen über den Orientirungssinn, sowie über die Fähigkeit der Ameisen, ihre Freunde wieder zu erkennen, und theilte einige Thatsachen mit, welche zu beweisen scheinen, dass die Ameisen durch die Wahl des Futters nach Be- lieben aus einem gegebenen Ei, ent- weder einen Arbeiter oder eine Königin produciren können. Zum Schlusse theilte er mit, dass er einige Ameisen besässe, deren Beobachtung er im Jahre 1874 begonnen habe, und welche sich noch am Leben und in völliger Gesundheit befinden; sie müssen daher jetzt mehr als 7 Jahre alt, und deshalb die älte- sten Insekten sein, von denen man weiss. (Nature Nr. 607.) Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Ammonites pseudo-anceps, Ehrav. Im dritten Hefte des »Neuen Jahr- buchs für Mineralogie, Geologie und Paläontologie« (Jahrgang 1881. Bd. I, S. 435) diskutirt M. Neumayr ein kürzlich von DouviLLß aufgefundenes Exemplar des obengenannten Ammo- niten und knüpft daran eine Reihe von Bemerkungen, welche die kürzlich auch von uns (Kosmos Bd. VII, S. 389 und IX, S. 142 ff.) mitgetheilten Hypothe- sen von Prof. H. von IHERING über diese Thierklasse schon wieder theil- weise in Frage zu stellen scheinen und deshalb hier mitgetheilt werden müssen. 3ej diesem anscheinend normal aus- gebildeten Exemplare, welches wir in der beistehenden Figur vor uns sehen, sind nämlich die sogenannten »Ohren« in ganz colossaler Weise entwickelt, und bewirken eine Einengung der Scha- lenmündung, wie sie unter Ammoniten fast einzig dasteht und höchstens bei gewissen Nautiliden (Phragmoceras und (romphoceras) ein entferntes Analogon findet, die Ohren sind, wie ersichtlich, so sehr verbreitert, dass sie sich in der Medianlinie berühren und auf den vor- hergehenden Umgang auflegen, wobei dem Thiere fünf vollständig getrennte Austrittsöffnungen übrig geblieben sind, nämlich vorn eine langgestreckte in der Mittellinie, und zwei ovale zu beiden Seiten derselben, wozu jederseits zwei unregelmässige Oeffnungen Ohren und Columella kommen. In der | end denken könnte. gegenseitigen Lage werden sie also fast den fünf Oeffnungen eines menschlichen Kopfes entsprechen, wennmansich Mund- und Nasenöffnungen zu einer einzigen verschmolzen denkt. Da man sich nun vorstellen muss, dass diese fünf Oeff- nungen wichtigen Organen als Austritts- löcher dienten, so konnte sich DouviLt£ nicht denken, dass das Thier den Nau- tiliden geglichen und der alten Annahme nach zu den Tetrabranchiaten gehört haben könnte, denn bei diesen ist die Lage von Trichter, Mund, Augen und Armen nicht derartig, dass man sie sich zwischen | aus einer solchen Schale hervorschau- In Folge dessen Kleinere Mittheilungen und Journalschau. neigt er sich vielmehr der in neuerer Zeit vielfach (von Surss, Muntkr-CHAL- MAs, von Iterıng u. A.) ausgesproche- nen Meinung zu, dass das Thier zu den Dibranchiaten gehört habe, und unter den heute lebenden Thieren vielleicht der Argonauta am ähnlichsten gewesen sei, dass demnach aus dem schmalen Theil der mittleren Oeffnung nach der Ex- ternseite der Trichter, aus dem brei- teren Theile der Mund und die sechs kurzen Arme, aus den ovalen Oeff- nungen die Augen und aus den seit- lichen beiden unregelmässigen, die bei- den meist zurückgeschlagenen längeren Arme hervorgeschaut hätten. DouviLne möchte eine ähnliche Anordnung für alle Ammoniten annehmen, was, wenn auch verlockend, jedenfalls sehr hypo- thetisch erscheint. Als Hauptergebniss dieser Arbeit bezeichnet NEUMAYR, dass die hier nachgewiesenen Mündungs- charaktere, die Annahme einer endo- gastrischen Aufrollung, bei welcher der Trichter auf der Innenseite gelegen haben müsste, ausschlösse und dass dann auch die Aptychen nicht mit den Nackenknorpeln der Dekapoden ver- glichen werden könnten, obwohl sonst der Bau eines Dekapoden zur Noth ebenfalls auf diese Gesichtsmaske be- zogen werden könnte. Die Bedeutung der Aptychen wäre dann aber dunkler als je. Die Hypophvsis der Seescheiden. Trotz der Mühe, welche sich Sernm- PER, METSCHNIKOFF und andere Zoolo- gen gegeben haben, die von KurrFrEr und Kowauzvsky entdeckte Verwandt- schaft der Seescheiden mit den Wirbel- thieren zu leugnen oder zu widerlegen, erweist sich die Vergleichung der bei- den anscheinend soweit von einander entfernten Thiergruppen alle Tage frucht- barer, und hat neuerdings sogar dazu geführt, ein bisher völlig räthselhaftes Organ im Geliirn der Wirbelthiere, den 387 sogenannten Gehirnanhang (Hypophysis) oder die Schleimdrüse als uralte Erb- schaft aus jenen entfernten Regionen zu erklären. Die älteren entwickelungs- geschichtlichen Untersuchungen hatten, um das wichtigste kurz zu rekapitu- liren, ergeben, dass die völlig ent- wickelte Ascidien-Larve, bei den mei- sten Gattungen wenigstens, eine die Mitte des Ruderschwanzes einnehmende und der Rückensaite der Wirbelthier- Embryonen vergleichbare Achse besitzt; dass die dorsale Region dieses Körpers einen hückenmarkskanal exodermen Ursprungs aufweist, der durch die Auf- wärtsbiegsung und Verschmelzung von Rückenplatten gebildet wird, und dass dieser Kanal sich am vorderen Ende zu einer Blase erweitert, in deren Wand- ung gewisse Sinnesorgane entwickelt werden, während das hintere Ende sich auf der dorsalen Seite der Rückensaite längs des gesammten Schwanzes er- streckt. Die ventrale Region des Kör- pers wird durch den Ernährungskanal eingenommen, welcher unterhalb des Nervenbläschen beginnt, und in seiner ganzen Länge durch die Rückensaite von dem Homologon des Rückenmarkes getrennt wird. Diese entwickelungs- geschichtlichen Untersuchungen haben ferner gezeigt, dass die Oeffnung des Kiemensackes als der Mundöffnung der Wirbelthiere, und der Kiemensack selbst als dem Schlunde derselben homolog betrachtet werden muss. Nun hatte A. Hancock (1867) ein wimperndes Or- gan unterhalb der Gehirnblase entdeckt, welches: von M. Ussow (1875) genauer untersucht und als Geruchsdrüse be- zeichnet wurde, weil es mit dem so- genannten Geruchshöcker durch einen engen Kanal verbunden ist, ein Ver- halten, welches auch noch später durch Nassanorr bestätigt wurde. E. vanBENE- DEN in Lüttich, der eine Beziehung dieses Organs zu der Schleimdrüse der Wirbelthiere vermuthet hatte, veran- lasste seinen Assistenten CHARLES JULIN 388 diesem Organe seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, und derselbe studirte es (zu Leewik an der norwegischen Küste) bei den Gattungen Corella, Phallusia und Ascidia und hat darüber im zwei- ten Bande der Archives de Biologie (Fasc. I. 1881) ausführlich berichtet, nachdem er schon vorher in den Bul- letins der Belgischen Akademie (Febr. 1551) eine vorläufige Mittheilung ge- macht hatte. Jurıw bestreitet zunächst, dass der sogenannte Geruchshöcker überhaupt ein Sinnesorgan sei, und be- hauptet, dass es nur die merkwürdig komplicirte Oeffnung des Kanals seiner Hypophysis in den Schlund sei. Er con- statirt, dass er nicht im Stande ge- wesen ist, irgend welche Nervenverbind- ung zwischen dem Höcker und dem Ganglion zu finden, und das der Nerv, welcher als zu dem vermeintlichen Sin- nesorgane laufend, betrachtet wurde, in Wirklichkeit hinter demselben, ohne irgend eine Verbindung vorbeigeht, und dass er desshalb nicht die durch Ussow beschriebene undabgebildete Innervation bestätigen könne. Der histologische Bau des Höckers ist ebenfalls der Wahr- scheinlichkeit seiner sensoriellen Funk- tion entgegen, da keine modificirten Zellen gegenwärtig sind, vielmehr die sesammte Oberfläche mit normalen, säulenförmigen, wimpernden Epithelial- zellen bedeckt ist. Die Gründe, welche Juin zur Stütze der Homologie dieser Nervendrüse mit der Schleimdrüse vor- bringt, betreffen ihren Bau, ihre Stell- ung auf der ventralen Oberfläche des Ganglion und ihre Beziehung. zum Schlunde. Die drüsige Natur dieses Körpers wurde zuerst durch Ussow nachgewiesen, und sein mikroskopi- scher Bau durch Juzın untersucht. Er besteht aus verzweigten Drüsenröhren, welche von einem reichlich mit Blut- gefässen versehenen Bindegewebe um- geben sind, während der ausführende Gang blos in seinem hintern Theile eine vollständige hückenwandung be- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. sitzt, auf der Bauchseite aber frei mit den Endungen der Röhrchen communi- cirt, genau wie es mit dem Gange des Schleimdrüsen-Körpers während seiner Entwickelung der Fall ist. Junıy weist nach, dass bei den Ascidien der nach vorn gegen den »Geruchshöcker< ver- laufende Gang in direkter Verbindung mit der Oberfläche des Nervenganglion steht, sofern keine Lage von Binde- gewebe zwischen ihnen liegt, und ebenso ist es, wie er constatirt, bei den Wir- belthieren der Fall. Die Stellung der Nerven- oder Hypophysen-Drüse, wie sie JULIN zu nennen vorschlägt, ist kon- stant. Wo immer das Nervenganglion gelegen sein mag, — und seine Lage varirt bei den verschiedenen Arten beträchtlich, — die Drüse findet sich stets an seiner ventralen Oberfläche. Der von der dorsalen, Oberfläche der Drüse entspringende Ausführungsgang verläuft zunächst unmittelbar unter dem Ganglion gegen den Geruchs- oder Hy- pophysen-Höcker, wo er mit der Schlund- röhre communicirt. Es ist klar, dass JuLm’s Untersuchungen die schwersten Zweifel auf die stets etwas fragliche Geruchssinn-Natur des Höckers werfen. Ein wimperndes Grübchen, welches keine erkennbaren Nervenverbindungen hat, dagegen durch einen Gang mit einem Organ von wohlausgeprägter Drüsen- Natur in Verbindung steht, hat keinen Anspruch darauf, als Sinnesorgan be- trachtet zu werden. Seine Funktion wie die der Drüse bleibt ein Geheimniss und Jurın bekennt sich ausser Stande, irgend welches Licht auf diese Frage zu werfen. Von der bedeutenden Grösse der Drüse, dem beständigen Vorhanden- sein, und dem meist äusserst kompli- cirten Bau des Höckers möchte man schliessen, dass sie eine wichtige Funk- tion in der Oekonomie der Ascidie er- fülle, aber worin diese Funktion be- steht, und weshalb der Ausgang einer Drüse eine so ausgearbeitete Oeffnung in die Schlundröhre besitzt, alles dies Kleinere Mittheilungen und Journalschau. bleibt für jetzt völlig unbekannt. JuLın giebt uns keinen Aufschluss über die Entwickelung dieser Organe. Im Jahre 1871 beschrieb Kowauevsky im Laufe der Entwickelung von Ascidia mammil- lata die Entstehung einer Oeffnung, welche das vordere Ende der Nerven- bläschen mit der Region des Hautblattes verbindet, durch deren Einfaltung der Mundkanal gebildet wurde, und behaup- tete, dass dieser Verbindungsgang zwi- schen dem Nerven- und Eingeweiderohr bei dem erwachsenen Thiere in dem wimpernden Höcker erhalten bliebe. Im Jahre darauf erklärte indessen Kurrre&r, dass er nicht im Stande gewesen sei, eine derartige Oeffnung bei der Larve von Ascidia mentula aufzufinden. Wenn Kowarevsky’s Beobachtung feststünde, und wenn der Kanal wirklich zu dem Gange, der Gehirndrüse würde, so würde der Verlauf seiner Entwickelung sehr beträchtlich von demjenigen der Schleim- drüse des Wirbelthiergehirnes, wie er von MIHALKoWwIcs, BALFOUR und Kör- LIKER beschrieben worden ist, und wie er durch JuLin’s eigene Beobachtungen bestätigt worden ist, abzuweichen scheinen. Zum Schlusse mag nochmals betont werden, dass die Gründe zu Gunsten der Homologie der Ganglion- Drüse der Ascidie mit dem drüsigen Theil des Gehirnanhangs der Wirbel- thiere sehr stark sind. Bau, Stellung und Beziehungen der beiden Organe sind in einem gewissen Entwickelungs- stadium identisch, vorausgesetzt natür- lich, dass der Kiemensack ein modifi- cirtes Schlundrohr ist und dass das Nervenganglion dem Wirbelthier-Gehirn homolog ist. Der einzige zur Unter- stützung der Hypothese noch zu er- forschende Punkt betrifft den Nachweis, dass die Gangliondrüse und ihr Gang wirkliche Bildungen des Hautblattes seien, und dass ihre Entwickelung der- jenigen des Schleimdrüsenkörpers ent- spricht. (W. A. Hrrpmann in der »Na- ture« Nr. 603.) 389 Die Geschmacksorgane der Fische sind kürzlich von E. JOoURDAN zum Ge- genstande einer Reihe von Beobacht- ungen gemacht worden, über die er der Pariser Akademie am 21. März 1881 Bericht erstattet hat. Vor nahezu zwanzig Jahren beschrieb Franz Eır- HARD SCHULTZE die in der beistehenden Figur dargestellten becherförmigen Or- Becherförmige Organe aus der Gaumen- schleimhaut von Tinca ; n die Lamellen der Lederhaut durchsetzende Nervenbündel, wel- che zu den in der Epidermis gelagerten, von Papillen getragenen Bechern b treten. Von diesen ist nur die äussere aus langen Zellen gebildete Partie dargestellt. Nach E.SCHULTZE. gane beider Barbe und den Kaulquappen, der Wasserkröte oder Unke (Pelobates fuscus), deren Bau er übereinstimmend fand mit gewissen Körpern in der Zunge der Säugethiere, so dass er zu glau- ben geneigt war, dass die beiden Reihen von Organen gleiche Funktionen be- sässen. JoURDAN hat nun dieselben Organe bei mehreren andern Fischen untersucht, im besondern beim Pan- zerfisch oder Malarmat (Peristedion ca- taphractum) in dem Marine-Aquarium von Marseille und seine Beobachtungen 390 bestätigen ScHuLtze’s Schlüsse. Der Malarmat, ein Verwandter der Knurr- hähne, besitzt Bartfäden ähnlich denen der Rothbarbe (Maullus barbatus) und feine dünne Strahlen, ähnlich denen der Knurrhähne. Die Bartfäden sind theils in Büscheln oder alleinstehend in der Zahl von zehn oder zwölf an der un- teren Kinnlade befestigt, zwei von ihnen sind stets gross und besitzen seitliche Verzweigungen. Sie sind überall mit derartigen kleinen becherförmigen Or- ganen versehen, welche zwei Zellen- arten enthalten. Die einen im Üen- trum gruppirt, und an der Oberfläche des Bartfadens ein wenig hervorragend, gleichen Fasern mit einem umfangrei- chen Nucleus, die andern auf der Pe- ripherie sind. cylindrisch. Diese Or- gane sind ferner in beträchtlicher An- zahl in der die Mundhöhle auskleiden- den Schleimhaut vorhanden; sie sind reihenweise im Schlunde angeordnet und die Papillen der rudimentären Zunge weisen drei oder vier derselben auf. Sie finden sich überall in der Epidermis. Bei der Meeräsche sind die becher- förmigen Organe viel grösser. Sie glei- chen denjenigen, welche SCHULTZE von der Barbe und dem Schlei beschrieben hat. Jedes Organ findet sich in einer Hautpapille und lässt sich deutlich durch die Gestalt seiner Elemente und die dunkle Farbe, welche es durch Osmium- säure annimmt, von den umgebenden Zellen unterscheiden. Jedes derselben besteht aus den Zellen der beiden Ty- pen, zwischen denen alle möglichen Uebergangsformen vorkommen, nämlich der cylindrischen Zellen der Peripherie, und den im Centrum des eiförmigen Körpers gruppirten Zellen, welche in konische Fortsätze endigen und sämmt- lich grosse Kerne besitzen. An der Ba- sis jedes Bechers findet sich eine kleine körnige Masse, welche durch die war- zenförmigen Basalverlängerungen der centralen Zellen gebildet wird. In dieser körnigen Masse verschwinden die Kleinere Mittheilungen und Journalschau. cylindrischen Achsen der Nervenfäden, oder gehen in die Zellen des Becher- kerns über. Identische Körperchen fin- den sich in der Schleimhaut der Zunge und des Schlundes. Die Knurrhähne haben becherförmige Körperchen auf der Zunge und wahrscheinlich finden sie sich in der Mundschleimhaut der meisten Fische. Wenn nun diese be- cherförmigen Körper als äussere oder innere Geschmacksorgane zu betrachten sind, so erreicht der Geschmackssinn bei den Fischen eine Ausdehnung und Wichtigkeit, welche durch das Medium, in welchem sie leben, verständlich wird. »Die Aufsuchung der Nahrung«, sagt JOURDAN, »muss durch empfindende End- organe geleitet werden, die speziell der Aufnahme von schmeckbaren Emana- tionen angepasst sind. Dies erklärt die Vertheilung der becherförmigen Kör- per auf äussere Organe, und auf be- sonderen Fühlern, eine Stellung, welche verschiedene Beobachter getäuscht hat, aber uns nicht mehr in Erstaunen setzen darf, als das Vorhandensein wohlge- formter Hörsteine, fern vom Kopfe auf den hintersten Segmenten von Mysis.« Stereorachis dominans. In der Sitzung der Pariser Akade- mie vom 16. Mai 1881 legte A. GAU- pry einen Block aus den permischen Schichten von Igornay vor, welcher vielleicht das besterhaltendste Exemplar von Vierfüssler enthielt, das jemals in primären Schichten gefunden wurde. Man kann an dem Stereorachis dominans getauften Thiere besonders gut die selt- samen Schuppen studiren, welche in Form von Dornen den Bauch von Eu- chirosaurus, Actinodon und Stereorachis bedeckten. Wenn diese Thiere sich auf den Rücken warfen, und ihre durch breite Rippen und ein sehr starkes Ento- und Episternum gestützte Bauch- fläche darboten, die obendrein durch Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Stachelschuppen beschützt war, moch- ten sie unangreifbar sein. Die permi- schen Saurier zeigen den bedeutenden Fortschritt, welchen die Wirbelthiere seit den devonischen Zeiten erfahren hatten. Bei Euchirosaurus and Actinodon waren, wie früher (Kosmos IV, S. 482) mitgetheilt, die Elemente der Wirbel- körper schon entwickelt, aber noch nicht mit einander verbunden; bei Stereora- chis ist die Verknöcherung vollendet. Die Form und Entwickelung der Kopf- knochen, der Rippen, des Entosternum und der Seitengliedmaassen zeigen, dass die primären Saurier die Idee des Ur- typus der Wirbelthiere nicht realisiren. Sie bieten vielmehr Aehnlichkeiten mit denen der Trias sowohl Europa’s als Südafrika’s und beweisen die CGontinui- tät des Lebens zwischen den grossen Epochen der Primär- und Secundärzeit. Platypodosaurus und Aleurosaurus. In der Sitzung der Londoner Geo- logischen Gesellschaft vom 9. März 1881 gab Professor Owen weitere Nach- richten über jenen triasischen Anomo- donten (Platypodosaurus), bei welchem er Aehnlichkeiten mit den niedersten Säugern zu erkennen glaubt*. Es ist inzwischen der Beckentheil mit Kreuz- bein, rechtem Os innominatum und einem grossen Stück des linken Darmbeins aus der Matrix herausgearbeitet wor- den. Es sind fünf Kreuzbeinwirbel vorhanden, welche Prof. Owen für die Gesammtzahl der diesem Reptil zukom- menden ansieht. Der Rückenmarkkanal der letzten Lendenwirbel hat acht Li- nien Durchmesser, erweitert sich im ersten Kreuzbeinwirbel auf neun Linien, und nimmt bis zu fünf Linien im fünf- ten ab, wodurch eine Ausdehnung des Rückenmarks in der Kreuzbeingegend angedeutet wird, die der starken Ent- ® Kosmos Bd. VII, S. 480. 391 wickelung der hintern Gliedmaassen ent- spricht. Die Kreuzbeinwirbel nehmen in der Breite bis zum dritten zu, der vierte hat das breiteste Centrum. Die Verwachsung der Wirbel rechtfertigt die Betrachtung ihrer Vereinigung als einen Knochen oder Kreuzbein, wie bei den Säugern, und zwar nähert es sich in seiner Gestalt demjenigen der Mega- therien, obwohl es weniger Wirbel ein- schliesst. Seine Länge beträgt 7'/2 Zoll, seine grösste Breite am dritten Wirbel 5!/2 Zoll. Das Darmbein bildet die vor- dere und dorsale Wandung der Hüft- pfanne, deren hintere und hintere ven- trale Wandung vom Sitz- und Scham- bein gebildet werden. Der Durchmesser seines Aussensaumes beträgt drei Zoll, die Tiefe der Höhlung anderthalb Zoll, und auf ihrem Grunde befindet sich. eine 11/3 Zoll breite Grube. Das Hüft- loch ist fast kreisrund von einem Zoll Durchmesser. DieBauchwand der Becken- mündung wird hauptsächlich vom Scham- bein gebildet; es ist eine Knochenplatte von sechs Zoll Breite, die nach aussen konkav, gegen die Beckenhöhlung hie- gegen konvex ist. Der Subacetabular- Rand ist 7—8 Linien dick und zeigt keine Andeutung eines Kammfortsatzes oder einer Hervorragung für die Unter- stützung eines Beutelknochens. Prof. Owen bemerkt, dass unter allen Bei- spielen bei ausgestorbenen Reptilien dieser Beckenbau sich am weitesten von allen bei lebenden Reptilien bekannten Modifikationen entfernt und dem Säuge- thierbecken am nächsten kommt. Dies wird besonders durch die Zahl und Breite der Kreuzbeinwirbel, durch die Breite desDarmbeins und der vereinigten Steiss- und Schambeine bewiesen. In derselben Sitzung beschrieb Prof. Owen ein neues südafrikanisches Reptil der Triasschichten von Gouh in den Karoo-Distrikten Südafrika’s, welches nach seiner Ansicht ebenfalls starke Annäherungen zu den Säugern zeigt, jedoch rechnet er dieses Reptil zu den 392 Theriodonten, und daher würde dessen Aehnlichkeit mit Säugern mehr in der Richtung der fleischfressenden Beutler zu führen scheinen. Dieser neue, unter dem Namen Aelurosaurus felinus be- schriebene Typus wird durch einen Schädel mit Unterkiefer repräsentirt, wovon aber der hinter den Augenhöhlen gelegene Theil weggebrochen ist. Es ist ein einfaches Nasenloch vorhanden ; der Alveolar-Rand des Oberkiefers ist leicht wellig gebogen, konkav über den Schneidezähnen, konvex über den Eck- und Backenzähnen, und dann gerade bis unter die Augenhöhlen. Der Alveo- larrand des Unterkiefers ist hinter den übergreifenden Zähnen des Oberkiefers verborgen ; seine Fuge ist tief und jeder Spur von Naht ermangelnd; die Länge desselben beträgt 3!/a Zoll, welches auch wahrscheinlich die Länge des gan- zen Schädels war. Die Schneidezähne stehen ° und die Backenzähne wahr- scheinlich — oder I 6-6) alle mehr oder weniger raubthierförmig. Die Länge der hervorragenden Krone des obern Eck-' zahns beträgt 12 mm; die auf- und ab- wärts gebogene Wurzel des linken Ober- Eckzahns war doppelt so lang. Von einem Ersatz-Eckzahn ist keine Spur vorhan- den, dagegen scheint die Höhle mit der versteinerten Zahnpulpa eine Er- neuerung des gebrauchten Theils der Eckzähne, durch fortwährendes Nach- wachsenanzudeuten. Der Autorschliesst, dass Aelurosaurus monophyodont war, und am nächsten Zycosaurus verwandt, obwohl die Formel der Vorderzähne mehr an Dasyurus erinnert. Ueber die Wechselbeziehung der Wollen- und Milchproduktion bei Schafen hat Vicror Tayon zur Fortsetzung seiner Untersuchung über die Varia- bilität der Milchdrüsen bei den Schafen der Cevennen (vel. Kosmos Bd. VI, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. S. 390) einige Beobachtungen gemacht, die er der Pariser Akademie am 16. Mai 1881 vorlegte. Wir geben hier nur die Schlussfolgerungen wörtlich wieder: 1. Es existirt eine umgekehrte Cor- relation zwischen der Produktion der Wolle und der Milchproduktion. Die milchreichsten, mit 4—6 Eutern ver- sehenen Thiere, zu welcher für Milch- gewinnung benutzten Schaf-Gruppe sie auch gehören mögen, sind beinahe gänz- lich der Wolle beraubt. Die Wolle be- deckt bei ihnen nur noch sehr eng begrenzte Körpertheile. Sie verschwin- det vom gesammten Kopfe, unter dem Halse, unter der Brust und dem Bau- che. Die Regionen der Wollfalten, der Achsel- und Seitenfalte, die Vorder- glieder bis zum Oberarm und die Hin- terglieder bis zum Schenkel sind eben- falls kahl. Alle diese Theile werden nur von sehr kurzen Haaren bedeckt. 2. Es giebt bei den Milchschafen auf den Eutern und deren Umgebung, auf einer in ihrer Grösse sehr variabeln Oberfläche Haare, die von unten nach oben gerichtet sind, und jedenfalls mit der Thätigkeit der Milchdrüsen in Be- ziehung stehen. Sie lassen sich den aufsteigenden Haaren vergleichen, die vor dreissig Jahren von QUENOoN bei den Kühen beobachtet wurden. (Revue Scientifigue 28. Mai 1881.) Die rudimentären Hautmuskeln des Menschen im besondern die des Ohres haben Veranlassung zu mehreren lehr- reichen Vergleichungen des menschlichen Körpers mit dem thierischen dargeboten, und schon die alten Naturforscher ha- ben in der vergleichsweisen Unbeweg- lichkeit des menschlichen Ohres einen wesentlichen Charakter des Menschen, etwa seinem aufrechten Gange vergleich- bar finden wollen. »Bei den Menschen al- lein sagt Puisıus* sind die Ohren un- * Histor. naturalis, XI. 37, 50. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. beweglich. Davon leitet sich der Bei- name Flaccus (Schlappohr) her.< Aehn- lich drückte sich darüber ArisToTELEs aus,* und in der That, wenn man das Ohrenspiel seiner nächsten Freunde unter den Thieren, des Hundes und Pferdes, in welchem sich alle ihre Stim- mungen spiegeln, mit der Unbeweglich- keit des menschlichen Ohres vergleicht, ist der Unterschied äusserst auffallend, darum legten auch die Alten, wenn sie die thierischen Züge im Charakter des Herkules schildern wollten, einen be- sonderen Werth darauf, dass er beweg- liche Ohren gehabt habe, wie man sol- che auch unbedingt den Satyrn und Faunen zuschrieb. »Wenn du ihn zum ersten Male essen sähest«, sagt Erı- CHARMIS in seinem Busiris vom Her- kules, »so würdest du vor Schrecken sterben. Aus seinem Schlunde erschallt Gebrüll, seine Kinnladen bewegen sich mit Gekrach, er knirscht mit den Backen- zähnen und lässt die Hundszähne her- vorgrinsen. Der Athem fährt schnau- fend aus seinen Nüstern, und die Ohren bewegt er wie die Vierfüssler.«** Es ist indessen nicht ganz gerecht- fertigt, zu behaupten, der Mensch habe von allen Thieren allein unbewegliche Ohren; die Anthropoiden gleichen ihm, wie in so vielen Zügen auch darin, vom Chimpansen und Orang versichern die Wärter der zoologischen Gärten ziemlich bestimmt, dass sie das Ohr niemals bewegen. Der Verlust der bei den niedern Affen noch sehr erhebli- chen Beweglichkeit des äusseren Öhres, hängt wahrscheinlich nicht, wie einzelne Autoren geglaubt haben, mit der ver- mehrten Sicherheit der Anthropoiden in ihrem Baumleben zusammen — eine Ansicht, die auch CH. Darwın nicht befriedigte, — sondern sie lässt sich eher mit der allgemeinen Verminderung der zahlreichen Muskeln, welche bei * Hist. anımal. 1, 9. ** Athenaeus X. 1. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 395 den Thieren alle Theile der Oberhaut bewegen, beim Menschen vergleichen. Ob die grössere Freiheit der Hände, die Fähigkeit zudringliche Insekten zu vertreiben, und sich zu kratzen, wenn in der Haut ein lästiges Jucken ent- steht, mit: der allgemeinen Funktions- verminderung der Hautmuskeln in Zu- sammenhang steht, muss dahingestellt bleiben. Merkwürdig bleibt, dass sich die Muskeln, welche bei niederen Säu- gern das Ohr bewegen, trotz ihrer so langen Funktionslosigkeit, in einem, wenn auch stark zurückgebildeten Zu- stande, beim Menschen ziemlich voll- ständig erhalten haben, wie wir dies aus der beistehenden Figur ersehen. Die rudimentären Ohrmuskeln am mensch- lichen Schädel. (Nach H. MEYER.) a Aufziehmuskel, 5 Vorziehmuskel, ce Rück- ziehmuskel, d Grosser Ohrleistenmuskel, e Kleiner Ohrleistenmuskel, f Ohreckenmus- kel, g Gegeneckenmuskel. Dr. WırsenLm Roux erklärt sich diese Thatsache in seinem in den litterari- schen Mittheilungen besprochenen neuen Buche »Ueber den Kampf der Theile im Organismus« (S. 105) dadurch, dass diese Muskeln an der betreffenden Stelle keiner Konkurrenz um den Raum aus- gesetzt waren, während atrophürte Or- gane im Innern des Körpers, wo eine gewisse Raumbeschränkung vorhanden 27 \ 394 ist, bald gänzlich oder fast gänzlich verschwinden. So lange aber von einem Muskel oder ganzem Organe noch eine inner- virte Spur vorhanden ist, scheint die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, sie von Neuem in Thätigkeit zu setzen, und von dieser Möglichkeit, nicht allein die Ohr- muskeln, sondern auch verschiedene an- dere für gewöhnlich nicht funktionirende Ueberreste des Hautmuskels von Neuem dem Willen zu unterwerfen, lassen sich eine Menge merkwürdiger Beispiele auf- zählen. Zunächst mag hier zur besse- ren Orientirung vorausgeschickt werden, was Darwın über die allgemeinen Ver- hältnisse des Hautmuskels, seine Wich- tigkeit für die Thiere, und seine bei einzelnen Individuen vorhandene erb- liche Leistungsfähigkeit bemerkt hat*: »Jedermann«, sagt er, »muss die Kraft beobachtet haben, mit welcher viele Thiere, besönders Pferde, ihre Haut bewegen und erzittern machen, und dies wird durch den Panniculus carnosus bewirkt.”* Ueberbleibsel dieses Muskels in einem noch wirkungsfähigen Zustande werden an verschiedenen Thei- len unseres Körpers gefunden, z.B. an der Stirn, wo sie die Augenbrauen erheben. Einige wenige Perso- nen haben die Fähigheit, die oberfläch- lichen Muskeln ihrer Kopfhaut zusam- menzuziehen, und diese Muskeln finden sich in einem variabeln und zum Theil rudimentären "Zustande. Herr A. pn CAnpoLuE hat mir ein merkwürdiges Beispiel des lange erhaltenen Besteh- ‚ ens, oder der langen Vererbung dieser Fähigkeit, ebenso wie ihrer ungewöhn- lichen Entwickelung mitgetheilt. Er kennt eine Familie, von welcher ein * Abstammung des Menschen, 3. deutsche Auflage, Ba. 1. 8.16 £ ** Einige Autoren haben, ob mit Recht bleibe dahingestellt, angenommen, dass die „kalten Schauer, welche den Rücken hinab- rieseln“, wenn wir in Schrecken oder Auf- regung versetzt werden, reflektorischen Er- regungen in dem Hautmuskel des Rückens Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Glied, das gegenwärtige Haupt der Fa- milie, als junger Mann schwere Bücher von seinem Kopfe schleudern konnte, einzig durch die Bewegung seiner Kopf- haut, und er gewann durch Ausführung dieses Kunststücks Wetten. Sein Va- ter, Onkel, Grossvater und alle seine drei Kinder besitzen dieselbe Fähigkeit in demselben ungewöhnlichen Grade. Vor acht Generationen wurde diese Familie in zwei Zweige getheilt, so dass das Haupt des oben genannten Zweiges Vetterim siebenten Grade zu dem Haupt des andern Zweiges ist; dieser entfernte Verwandte wohnt in einem andern Theile von Frankreich; und als er gefragt wurde, ob er diese selbe Fertigkeit be- sässe, producirte er sofort seine Kraft. Dieser Fall bietet eine nette Erläute- rung dafür dar, wie zäh eine absolut nutzlose Fähigkeit überliefert werden kann, welche wahrscheinlich von unse- ren alten halbmenschlichen Vorfahren herrührt; viele Affen haben nämlich das Vermögen und benutzen es auch, ihre Kopfhaut stark vor- und rückwärts zu bewegen. « »Die äusseren Muskeln, welche dazu dienen, das ganze äussere Ohr zu be- wegen, und die inneren Muskeln, welche dessen verschiedene Theile bewegen (beide zu dem System des Hautmuskels gehörend), finden sich bei dem Menschen in einem rudimentären Zustande; _ sie sind auch in ihrer Entwickelung oder wenigstens in ihren Funktionen variabel. Ich habe einen Mann gesehen, welcher das ganze Ohr vorwärts ziehen konnte; andere können es nach oben ziehen; noch ein anderer konnte es rückwärts bewegen; und nach dem, was mir eine dieser Personen sagt, ist es wahrschein- zuzuschreiben seien, und eine gewisse Aehn- lichkeit mit der Hauterschütterung der Thiere wird namentlich jener unwillkürlichen Er- schütterung des ganzen Körpers, bei plötz- lichen unangenehmen Eindrücken, wie sie Windstösse, ein sehr kaltes Bad, starke Spi- rituosen u. s. w. erzeugen, nicht abzuleug- nen sein. Kleinere Mittheilungen und Jourmalschau. lich, dass die Meisten von uns dadurch, dass wir oft unsere Ohren berühren und hierdurch unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken, nach wiederholten Ver- suchen etwas Bewegungskraft wieder- erlangen können. Die Fähigkeit dieOhren aufzurichten und sie nach verschiedenen Richtungen hinzuwenden, ist ohne Zwei- fel für viele Thiere von dem höchsten Nutzen, da diese hierdurch den Ort der Gefahr erkennen; ich habe aber nie auf zuverlässige Autorität hin von einem Menschen gehört, welcher auch nur die geringste Fähigkeit, die Ohren aufzurichten besessen hätte, die einzige Bewegung, welche für ihn von Nutzen sein könnte.« Nach dem Berichte des Abb& MaA- ROLLES hätte jedoch der Philosoph Crassor diese Fähigkeit besessen: »Er hatte etwas sehr besonderes«, sagt er, »welches ich sonst bei Niemanden als ihm allein gesehen, nämlich seine Ohren fallen zu lassen und sie wieder auf- zurichten, wenn er gewollt, ohne dass er sie anrührete.«* Auch beim Kaiser Justinian muss die Beweglichkeit der Ohren, von welcher Prokop in den Anekdoten berichtet, einen hohen Grad erreicht haben, da ihn die Partei der Grünen im Cirkus, mit Anspielung auf diese Eigenthümlichkeit, laut und öffent- lich als »Esel« bezeichnete. Sicher kann aber diese Fähigkeit durch Uebung sehr gesteigert werden, und ein Schulkame- rad des Referenten, der sie in aus- gezeichnetem Grade besass, erzählte, dass er sich einfach darauf geübt habe,- nachdem er eine fremde Person die Ohren habe bewegen sehen. Anfangs habe er keine äussere Bewegung ge- sehen oder gefühlt, aber durch darauf gerichtete Aufmerksamkeit und Beharr- lichkeit hat sich die Fähigkeit schliess- lich eingestellt und fortschreitend bis zu einem auffallenden Grade vermehrt. * BAYLE, Krit. Wörterbuch. Art. Her- kules. Anm. @ 395 VesAL, der selbst zwei Personen ge- kannt hatte, welche die Ohren bewegen konnten, meinte, bei ihnen seien die spärlichen Fasern der betreffenden, meist atrophischen Muskeln vermehrt, aber man ersieht aus seinen Worten* nicht, ob er dies durch direkte Beobachtung fest- gestellt oder blos gemuthmasst hat. Es lässt sich aber aus der Zunahme an- derer Muskelpartieen durch Anstreng- ung annehmen. Referent hat auch von einem Schüler gehört, der seine Ohren unbewusst und unwillkürlich bewegt haben soll, und aus der öffentlichen Schule genommen werden musste, weil er seine Mitschüler beständig zum La- chen brachte und den Unterricht störte. Der heilige Augustin hat zwei wunder- liche Kapitel geschrieben, in welchen er nach seiner eigenen Erfahrung eine Menge von Beispielen aufzählt, bis zu welchem Grade die Muskeln des menschlichen Körpers, dem menschlichen Willen unter- worfen werden können. Ich will den Eingang des zweiten Kapitels** die- ser Aufzählung, die zum Beweise dienen soll, dass dem Menschen im Paradiese seine Zeugungsglieder ebenso unterthan gewesen seien, wie die übrigen Glied- maassen und erst nach dem Sündenfall rebellisch geworden seien, hier wörtlich wiedergeben, weil er eine Menge hier- hergehöriger Thatsachen enthält. »Es würde also,«< meint der Kirchenvater unter der Voraussetzung, dass der pa- radiesische Zustand fortdauere, >»der Mann Nachkommenschaft säen und das Weib aufnehmen, wann es noth wäre und so viel es noth wäre, mit Gliedern, welche durch den Willen bewegt, nicht aber durch Begierlichkeit gereizt wären. Denn nicht blos jene Glieder bewegen wir nach Belieben, welche durch feste Knochen gegliedert sind, wie die Füsse, Hände und Finger, sondern auch jene, welche nur aus Fleisch und Nerv be- * De humani corporis fabrica, II. 13u.17. ** De Civitate Dei XIV. C, 24. 27* 396 stehen, bewegen wir, wenn wir wollen, hin und her, dehnen sie aus, verdrehen sie und ziehen sie zusammen, wie dies zum Beispiel bei jenen Theilen der Fall ist, welche der Wille am Munde oder im Antlitze bewegt, so weit er es kann. Selbst die Lungen, die mit Ausnahme des Markes die weichsten unter allen inneren Theilen und deshalb von der Brusthöhle geschützt sind, dienen wie die Blasbälge der Schmiede oder der Orgeln dem Willen desjenigen, der haucht, athmet, redet, ruft, singt, um ein- und auszuathmen und den Laut von sich zu geben und ihn zu gestal- ten. Ich übergehe, dass es einigen Thie- ren von Natur aus gegeben ward, die Haut, womit der ganze Körper beklei- det ist, wenn sie an irgend einer Stelle derselben etwas fühlen, was weggetrie- ben werden soll, nur dort zu bewegen, wo sie dies fühlen, und dass sie durch das Bewegen der Haut nicht blos dar- auf sitzende Mücken, sondern auch darin steckende Speere abschütteln. Konnte dies etwa der Schöpfer deshalb, weil es der Mensch nicht kann, den Wesen nicht verleihen, welchen er es verleihen wollte? So hätte also auch der Mensch selber des Gehorsams auch der niedrigeren Glieder sich erfreuen können, dessen er durch seinen Un- gehorsam verlustig ging. Denn es war nicht schwer für Gott, ihn so auszu- statten, dass an seinem Fleische auch das nur auf seinen Willen hin sich be- wegt hätte, was jetzt nur durch die Begierlichkeit bewegt wird. Kennen wir Ja auch Naturen einiger Menschen, die von den übrigen sehr verschieden und durch ihre Seltenheit staunenerregend sind, indem sie mit dem Leibe Einiges thun, was Andere auf keine Weise thun können, und wenn sie davon hören, es kaum glauben. Es giebt nämlich Leute, welche auch die Ohren bewegen, theils einzeln, theils beide zugleich. Es gibt solche, welche ohne den Kopf zu bewegen, das ganze Haupthaar, soweit Kleinere Mittheilungen und Journalschau. die Haare reichen, nach der Stirne zu richten und zurückziehen, wenn sie wollen. Es giebt solche, welche, nach- dem sie unglaublich vieles und mannig- faltiges verschlungen, indem sie nur ein wenig das Zwerchfell zusammenziehen, wie aus einem Sacke ganz unversehrt hervornehmen, was ihnen beliebt. Einige athmen und bilden die Stimmen der Vögel und sonst irgend welcher Thiere so täuschend nach, dass man es, wenn man sie nicht sähe, gar nicht unter- scheiden könnte. Einige geben nach unten ohne allen Geruch beliebig so zahlreiche Laute von sich, dass sie auch mit diesem Theile zu singen scheinen *. Ich selber habe mich überzeugt, dass ein Mensch zu schwitzen pflegte, wann er wollte. Es ist bekannt, dass einige, wenn sie wollen, weinen und im reich- lichen Maasse Thränen vergiessen.....« Das letzte Beispiel, welches der Kir- chenvater anführt, von einem jungen Priester, der sobald er Jemand weinen hörte, in eine Art Verzückung ohne Bewegung und Gefühl verfiel, gehört wohl nicht unter die Beispiele von der Macht des Willens über einzelne Kör- pertheile, die wir bei Künstlern und Gauklern aller Art, namentlich bei den Aequilibristen zu Graden der Feinheit ausgebildet sehen, welche auch den, der die Macht der Uebung kennt, in Er- staunen setzen. Am merkwürdigsten bleibt dabei immer die Macht über sol- che Muskeln, die für gewöhnlich dem Einfluss des Willens ganz entzogen sind, wie z. B. der Magenmuskeln, welche einzelne Künstler geübt haben, um vor- her eingenommene grosse Wassermengen in Form einer langsprudelnden Fontaine aus dem Munde emporzutreiben. Uebri- * Ein von VIvES zu dieser Stelle des heiligen Augustin eitirter Deutscher, der sich im Gefolge des Kaisers Maximilian und sei- nes Sohnes Philipp befand, übertraf, wie es scheint, noch die oben erwähnten alten Künstler: „nec ullum erat carmen, quod non ille erepitibus podieis redderet!* Kleinere Mittheilungen und Journalschau. gens beweisen die Beispiele des heili- gen Augustinus wohl nichts zu Gunsten seiner Lieblingshypothese,* aber sie sind von grossem Interesse für die Darwin’- sche, oder vielmehr Lamarck’sche Hy- pothese, und sie zeigen, wie wohl die Alten in ähnlicher Richtung zu argu- mentiren wussten, und den Menschen durchaus für keine unabänderliche Krea- tur ansahen. Sie wussten auch recht wohl, dass solche Abnormitäten im Bereiche der Willenssphäre ebensowohl wie Charak- ter- und Geberden-Eigenthümlichkeiten erblich zu sein pflegen. Marrıau be- hauptet dies von den beweglichen Ohren: »dass aber der (Junge) mit spitzem Kopf und Langohren — die er bewegt, wie Esel das zu thun pflegen, — der Sohn des Narren Cyrta sei, wer will das läugnen ?« sagt er im 39. Epigramm des sechsten Buches. Jemand, der Ge- legenheit hat, mit Jongleur-Familien in Berührung zu kommen, könnte gewiss in dieser Richtung merkwürdige Beob- achtungen sammeln, und die Thatsache, dass diese Künstler, immer am liebsten die eigenen Kinder zu ihren Gehilfen erziehen, beruht sicher mit darauf, dass diese viel leistungsfähiger sind, als an- derer Leute Kinder, und oft sieht man hier Grade von Kunstfertigkeit, die es eo ipso zweifelhaft erscheinen lassen, dass sie im Laufe eines Menschen- lebens erworben sein könnten. * Allerdings ist bekannt, dass es gewis- sen Menschen sehr wohl gelingt, einzelne Muskeln des Geschlechtsapparats dem Willen zu unterwerfen, z. B. den Constrietor cunni, um rhythmische Zusammenziehungen der Va- gina zu erzeugen, aber solche handwerks- mässigenFertigkeiten beweisen natürlich nichts 397 Keltische Sprach-Spuren im deutschen Jügerlatein. Von der Annahme ausgehend, dass unter Jägern und Waldhütern, deren Geschäft sie fern von der übrigen Welt hielt, und sich von Generation zu Gene- ration vererbte, Sprachreste der unter- drückten älteren Bevölkerung Deutsch- lands am ehesten erhalten sein könnten, hat ein Mitarbeiter des Hannöver’schen Couriers die aus dem Deutschen un- verständlichen Ausdrücke des Jäger- lateins zu erklären versucht, und ist dabei zu folgenden auffallenden Ueber- einstimmungen gelangt: Schweiss, plattdeutsch Schweet, wälisch gwaedd (sprich Schwäd) — Blut. Loosung, losen, keltisch loist, breto- nisch los —= Auswurf, Koth. Damhirsch, kelt. dam = Hirsch. Blume, kelt. blean = Schwanz desWildes. Baitze (Falkenbaitze), kelt. und wälisch paitharg, der offene Jagdgrund, der zur Vogelbaitze gehört. Pirschen, kelt. bir (Pfeil), bior (Spitze), wälisch ber, der Spiess, birschen, also die Spitze auf etwas richten. Kette (der Rebhühner), wälisch kit, der Verein, die Gesellschaft. Murke (Paarung der Schnepfen), ‚kelt. und irisch muirn, Paarung.' Ratzenkahl, bret. raz (kahl). Die Ratte wird kahl geboren, bleibt lange kahl und der Schwanz zeitlebens, weshalb die Schwänze der Jungen leicht ver- wachsen, und die sogenannten Ratten- könige entstehen lassen. zu Gunsten der Hypothese des Kirchenvaters, sondern sind ihr eher feindlich. Hierher ge- hören auch die wunderbaren Bauchbeweg- ungen, welche die Hauptleistung der orienta- lischen Tänzerinnen ausmachen. Litteratur und Kritik. Der Kampf der Theile im Orga- nismus. Ein Beitrag. zur Vervoll- kommnung der mechanischen Zweck- mässigkeitslehre von Dr. WILHELM Rouvx, Privatdozent und Assistent am anatomischen Institut zu Breslau. 244 8. in 8. Leipzig. Wilhelm Engelmann. 1881. Schon in seiner Habilitationsschrift : »Ueber die Leistungsfähigkeit der Prin- zipien der Descendenzlehre zur Erklä- rung der Zweckmässigkeiten des thie- rischen Organismus« hatte der Verfasser dieses gedankenreichen Buches sein Augenmerk auf jenes Hilfsprinzip der Entwickelungslehre, welches man ge- wöhnlich als Wirkung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Theile, besser als »funktionelle Anpassung« bezeich- net, gerichtet, und gefunden, dass es weniger anerkannt und geprüft sei, als ihm bei seiner grossen Wichtigkeit zukomme. Darwın hat der Wirksam- keit der funktionellen Anpassung, die unter Umständen eine direkte zweck- mässige Umgestaltung der Organe unter neuen Lebensverhältnissen oder durch Uebung hervorbringen kann, in seinen spätern Werken die ihr gebührende Rolle zuerkannt, so dass gar kein Grund vorliegt, HÄckEen oder OSKAR SCHMIDT, weil sie es gleichfalls gethan haben, des »Lamarckismus«e zu be- schuldigen, wie es von Seiten eifriger Bewahrer der reinen Lehre geschehen ist. Der Verfasser geht in seiner Werth- schätzung des betreffenden Prinzips noch weit über LAmArRcK hinaus. An dem Beispiele der durchgreifenden Um- änderung ihrer gesammten Organisation, welche z. B. Wasserthiere erfahren mussten, um sich an das Landleben gewöhnen zu können, erläutert er die Bedeutung dieser Vorgänge und sucht zu beweisen, dass sie einen stärkeren Antheil an den Veränderungen der or- ganischen Welt habe, als die freiwillige Variation, die sich meist nur in ver- einzelten Richtungen bewege. Er zeigt, wie der Gebrauch die Organe in den- jenigen Richtungen vergrössert, in denen sie die stärkere Funktion leisten: so nehmen Muskeln und Knochen des Armes durch gewöhnliche Kraftübung nur in der Dicke und nicht zugleich in der Länge zu, wie sie wahrschein- lich thun, wenn eine oft wiederholte Zugkraft auf sie wirkt. Den längst be- kannten Wirkungsweisen dieser Rich- tung fügt der Verfasser in seinem er- sten Kapitel einige weitere Wirkungs- kreise hinzu, bestehend einerseits in der Ausbildung der statischen Struktur der Knochen und der bindegewebigen Organe, sowie in der entsprechenden dynamischen Struktur der aus glatten Litteratur und Kritik. Muskelfasern gebildeten Organe, und | zweitens in der vollkommnen Anpassung der Blutgefässwandungen an die eigene Gestalt des Blutstromes. Die Wirksam- keit der direkten zweckmässigen An- passung tritt besonders auch bei dem Heilungsprozesse hervor, in dessen Folge z.B. die ganze Statik eines zerbroche- nen und etwa schief geheilten Knochens sich auf der neu gegebenen Grundlage umwandelt. In dem zweiten Kapitel geht der Verfasser tiefer auf die Ursachen dieser direkten Anpassungsmöglichkeit ein, und sucht mit überzeugenden Gründen darzuthun, dass in einem Organismus nicht alles Geschehen bis in’s Einzelne hinein, Molekel für Molekel, fest be- stimmt ist, wie dies in Folge des Stoffwechsels und des Wechsels der äussern Lebensbedingungen auch gar nicht möglich wäre, sondern dass bei dem fortwährenden Vorkommen von kleinen Variationen in den Qualitäten der Theile, ein Kampf der neuen Qua- litäten mit den alten um Nahrung und Raum stattfinden und von jeher in den Organismen stattgefunden haben muss. Dem äussern Existenzkampfe des Organismus tritt also ein innerer in dem Zellenstaate, aus dem er besteht, zur Seite, die einzelnen Organe, Ge- webe, Zellen, ja deren Elementartheile suchen sich auf gegenseitige Kosten zu erhalten und auszubreiten. Natürlich werden dabei immer die lebenskräf- tigsten Qualitäten siegen und schliess- lich allein übrig bleiben. Dies würde. auch auf die eindringenden feindlichen Zellen (Parasiten, Krankheitspilze u. s. w.) Anwendung finden. In denjenigen Or- ganen, auf welche häufig Reize, z. B. die Funktion auslösende Reize einwir- ken, sind die siegreichen Zellen die- jenigen, welche durch den einwirkenden Reiz zugleich am meisten in ihrer Assimilationsfähigkeit gekräftigt werden. Der Verfasser tritt der landläufigen Meinung entgegen, dass die in starkem 399 Gebrauch befindlichen Theile eintach durch einen stärkeren Blutzufluss ge- kräftigt würden. Die Sache sei viel- mehr so zu verstehen, dass die Funk- tion an sich das Organ und seine Theile kräftige und ihm eine stärkere Assimilationskraft verleihe. So werden eine Menge von Organen alsbald atro- phisch, wenn man den Nerv durch- schneidet, der sie in Funktion erhält, sogar die bei einem schiefgeheilten Knochenbruch entlasteten Knochenbälk- chen schwinden dahin; man kann also sagen, dass ein Organ nur in seiner Funktion lebt, und deshalb durch die- selbe gestärkt werden wird. Die schein- baren Ausnahmen, dass die Sinnesorgane sich nicht zurückbilden, auch wenn man den Seh- oder Geruchsnerv durch- schnitten hat, bestätigen nur die Regel, denn in Wahrheit bleibt ja hier das äussere Organ den Reizen ausgesetzt und in Funktion, erst ein Aufenthalt in völliger Dunkelheit könnte das Auge vernichten, indem er die Funktion auf- hebt. Je intensiver aber ein Organ in seiner Funktion lebt, um so mehr wird es und event. auf Kosten anderer Organe befähigt sein, dem Blutstrome die ihm nöthige Nahrung zu entziehen, und man weiss z. B., dass den Frauen, welche lange und hinter einander meh- rere Kinder säugen, durch die Milch- drüsen so viel Kalk entführt wird, dass sich bei ihnen eine eigenthümliche Knochenerweichung einstellt. »Es würde allen Thatsachen widersprechen«, sagt der Verf. (S. 158), »wenn man eine passive Ernährung der Theile allein abhängig von der Nahrungszufuhr sta- tuiren wollte, sondern es ergab sich, dass im Gegentheil die Ernährung un- ter qualitativer und quantitativer Aus- wahl seitens der ernährten Theile statt- finde, und dass von der Verbrauchs- stelle aus die Blutzufuhr entsprechend dem Bedarfe in irgend einer Weise regulirt werden muss. Die funktionelle Hyperämie, wo sie stattfindet, kann 400 daher keinesfalls die Ursache der funk- tionellen Hypertrophie sein, sondern sie darf nur als eine günstige, viel- leicht nicht immer einmal unerlässlich nothwendige Vorbedingung derselben angesehen werden. « Man kann also sagen, dass durch den Kampf der Theile Prozesseigen- schaften gezüchtet werden, welche im Stande sind, die Erscheinungen der funktionellen Anpassung hervorzubrin- gen, und zwar erweist sich dies als eine Folge des Kampfes blos der Pro- toplasmatheilchen in den Zellen und des Kampfes der Zellen desselben Ge- webes untereinander. Dagegen führt der Kampf der ver- schiedenen Gewebe und Organe je un- ter einander ausser zur möglichsten Ausnutzung des Raumes im Organismus zur inneren Harmonie, zur Ausbildung eines der physiologischen Bedeutung der Theile für das Ganze entspre- chenden morphologischen Gleichgewich- tes derselben. Der Verfasser sucht hiernach zu zeigen, dass diese hervor- ragenden Leistungen des Kampfes der Theile die Bedeutung des von DArwIn und WartvAcE aufgestellten Prinzipes des Kampfes der Individuen für die Entstehung der Mannigfaltigkeit und für die Anpassung an die äusseren Be- dingungen nicht im Geringsten be- schränkt. Vielmehr ist das Verhältniss beider Kampfesarten derartig, dass aus den vom Kampf der Theile gezüchteten, im Allgemeinen lebenskräftigsten und am stärksten reagirenden Substanzen (oder richtiger Prozessen) der Kampf der Individuen um das Dasein, überall diejenigen speziellen ausliest, welche auch in diesem zweiten Kampfe zu be- stehen geeignet sind. Während so der Kampf der Theile die Zweckmässigkeit im Inneren der Organismen und die höchste Leistungsfähigkeit derselben im allgemeinen dynamischen Sinne hervor- bringt, bewirkt der gleichzeitige Kampf um’s Dasein unter den Individuen die Litteratur und Kritik. Zweckmässigkeit nach aussen, das sich Bewähren in den äusseren Existenzbe- dingungen. Das dritte Kapitel bringt die im Obigen schon kurz angedeuteten Nach- weise einer solchen siegreichen Anpass- ung und Fähigkeit des Protoplasma’s der verschiedenen Gewebe, durch den funktionellen Reiz nicht blos zu seiner specifischen Thätigkeit, sondern auch zur Assimilation (zum Ersatz und zur Ueberkompensation des Verbrauchten) angeregt zu werden. Indem so die aus- ser. Aktivität gesetzten Theile der Mus- keln, Nerven, Drüsen, Knochen u. s. w. schnell entarten, während die in Funk- tion erhaltenen sich kräftiger ernähren und vermehren, siegt der unter dem gegebenenMischungsverhältnisse deräus- seren Reize zweckmässige, unmittelbar, indem das Unzweckmässige oder Ueber- flüssige sich selbst eliminirt, sobald es nicht mehr funktionirt. Nachdem so die trophische Wirkung des funktionellen Reizes durch zahl- reiche wohlgewählte Beispiele nachge- wiesen wurde, geht der Verfasser zur morphologischen Wirkungsweise dieses Prinzips über und sucht im vierten Ka- pitel den Nachweis zu führen, dass in der That der funktionelle Reiz überall quantitativ und formativ das Zweck- mässige direkt hervorzubringen vermag. Durch die Fähigkeit des Kampfes der Theile, derartige Qualitäten zu züchten, musste eine viel höhere in- nere Vollkommenheit, die Zweckmässig- keit der fungirenden Theile bis in’s letzte Molekel hervorgebracht werden und viel rascher sich ausbilden, als wenn sie nach DArwın-WALLAcH durch Auslese aus formalen Variationen im Kampfe um’s Dasein unter den Indivi- duen hätten entstehen sollen und können. In einem fünften und letzten Ka- pitel sucht der Verfasser das Wesen des Organischen näher zu ergründen, und kommt nach Verwerfung der bis- Litteratur und Kritik. herigen Definitionen zu einer thatsäch- lich sehr befriedigenden Charakteristik. Da als die erste nothwendige Eigen- schaft des Organischen die Dauerfähig- keit auch unter wechselnden äussern Bedingungen angenommen werden muss, so ergibt sich als die Grundeigenschaft des Organischen einmal die Fähigkeit der Selbstgestaltung des im Wechsel der Verhältnisse zur Erhaltung Nöthi- gen, mit der Assimilation als erster Spezialeigenschaft beginnend und durch vielfache Selbstregulationsmechanismen fortgeführt, und als zweite gleichwer- thige Eigenschaft die, Ueberkompensa- tion des Verbrauchten. Selbstregu- lation und Ueberkompensation sind daher die ersten wesentlichen Eigen- schaften des organischen Geschehens und erst nach diesen konnte die Er- werbung der einzigen ebenso allgemei- nen Eigenschaft, der Sensibilität, der Reflexbewegung, stattfinden. Nachdem wir so eine allgemeine Uebersicht des in diesem Werke ange- hahnten, wie es uns scheint, wichtigen Ideenganges, vielfach mit des Verfassers eigenen Worten gegeben haben, möch- ten wir einige kurze Bemerkungen über unsere sich vielleicht nicht ganz deckende Auffassung der Sachlage anknüpfen. Das unläugbar Wahre ist, dass in den Theilen Kämpfe stattfinden — unsere Krankheiten sind meist die Symptome solcher akut gewordenen Kämpfe — und dass ein Organ, wie wir es kurz ausdrücken möchten, >nur in seiner Funktion lebt«, durch dieselbe gestärkt wird, oft auf Kosten anderer Organe. Allein, dass durch diesen Kampf immer das Zweckmässige gefördert werde, kön- nen wir nicht unterschreiben, die vielen Hypertrophien und Atrophien der Or- gane, Gewebe und aller Körpertheile, an welchen die Organismen zu Grunde gehen, liefern den Beweis des Gegen- theils. Sie sind oft nachweisbar durch einseitige Steigerung einzelner Funk- tionen hervorgebracht, es gibt da also 401 keine sich selbst setzende Grenze der Funktionssteigerung, die verschiedenen Organe müssen - einander in gewissem Umfange das Gleichgewicht halten, und wenn dies nicht mehr gelingt, geht der Organismus zu Grunde. Der Erfolg ist also auch hier, wie in dem äussern Daseinskampfe, Befestigung des Zweck- mässigen durch Ausmerzung des Un- zweckmässigen, eine Selbstelimination tritt an die Stelle derjenigen durch äussere Gewalten, die indessen in der Natur stets die Selbstelimination be- einflussen werden. Die Zweckmässig- keit, die der funktionelle Reiz direkt hervorbringen soll, ist also zunächst nur eine relative, die sich erst zu be- währen hat; der Sieg einer Funktion im Kampfe der Theile und Funktionen muss oft mit dem Untergang des Ge- sammtorganismus bezahlt werden, und das Resultat war dann ein eminent unzweckmässiges. Die Selbstregulation der Organismen ist also keine voll- kommene, und die Ueberkompensation muss den Ausfall decken. Ich glaube nicht, dass diese Bemerkungen im Widerspruch mit der eigenen Ansicht des Verfassers stehen, dessen reiche Ideenwelt die Kenntnissnahme zahlrei- cher, namentlich medizinischer Kreise verdient, trotz der »geringen Schätzung, welche theoretische Ableitungen gegen- wärtig in manchen Kreisen finden, und welche tief unter der Schätzung der geringsten objektiven Beschreibung steht«. Diese letzteren Kreise werden das vorliegende Buch allerdings nicht nach seinem Gehalte zu würdigen im Stande sein, aber dies wird für Nie- mand ein Schaden sein, ausser eben für diese Kreise selbst. K. Die Vorgeschichte der Ethnologie, Deutschlands Denkfreunden gewidmet für eine Mussestunde. 132 8. in 8. Berlin. Ferd. Dümmler’s Verlagshand- lung (Harrwitz & Gossmann), 1880. 402 Diese mit warmer Begeisterung (von Professor A. Basrtıan verfasste) Mahn- schrift — man möchte sie im besten Sin- ne fast eine Brandschrift nennen, — führt den auch auf der vorjährigen Ver- sammlung der deutschen anthropologi- schen Gesellschaft erhobenen Ruf: » Rettet was zu retten ist, das ethnologische Material steht in Flammen!« weiter aus, und wir denken, nicht nur die Nach- welt, sondern auch die Mitwelt wird anerkennen, dass er Grund hatte, seine mahnende Stimme zu erheben, damit, ehe mit dem rapiden Dahinschwinden der Naturvölker die Gelegenheit vor- über geht, von den Produkten ihres Geistes und ihrer Hände soviel als mög- lich erhalten werde. Es handelt sich um die Einsammlung des Materials für eine Wissenschaft, die erst in ihren An- fängen existirt, deren Bausteine erst beschafft werden müssen. Seltsam, dass man jenen Spruch des alten Weisen, dass das vornehmste Studium des Men- schen der Mensch sei, so lange überhört hat, und dass sich erst verhältniss- mässig spät, und in bescheidenen An- fängen der Begriff und die Nothwendig- keitanthropologischer undethnologischer Forschungen entwickelt hat. Indem er diese Geschichte des ersten Auftauchens der Nachfrage .nach solchen Menschen- Wissenschaften mit reichem Quellen- material, hauptsächlich als aus philoso- phischen Bedürfnissen herstammend, nachweist, hat der Verf. doch, wie wir glauben, einen Punkt nicht genug be- tont, nämlich den, dass die Natur- geschichte des Menschen erst dadurch ein nachhaltigeres Interesse zu wecken begann, dass der Mensch durch die Lyell-Darwin’sche Schule nachdrück- lichst als Glied der Natur reklamirt wurde, während zugleich die prähistori- sche Forschung einsetzte, und ihn als einen vielälteren Bewohner unseres Plane- ten, als man bisher geglaubt hatte, er- wies. Nachdem man durch unläugbare Zeugnisse erkannt hatte, dass. er lange - Litteratur und Kritik. | vor dem Aufdämmern der Geschichte auch in Europa in jenem Zustande der Wild- heit existirt hatte, wie wir ihn in den andern Welttheilen sehen, dämmerte erst die Erkenntniss, dass der Indianer ein Vergleichsobjekt für uns selbst ist, dass wir aus ähnlichen Zuständen her- vorgegangen und dass die ethnologischen Sammlungen, die als Curiositäten-Cabi- nette begonnen worden sind, den Werth von Archiven einerGeschichte der Mensch- heit erlangen. Basrıan, der früher der Entwickelungslehre sehrschroffundfeind- lich gegenüberstand, läugnet heute nicht mehr die Bedeutung der Darwin’schen Ideen, jener folgereichen » Träume eines Nachmittagsschläfchen« für die Wissen- schaft, und es ist in der That ganz in darwinistischem Geiste geschrieben, wenn er (p. 60) sagt: »Die Aufgabe der Eth- nologie wird darin liegen, auf dem ihr angewiesenen Forschungsgebiete die in- duktive Seite der Geschichtsbehandlung (in weitester Fassung der Menschheits- geschichte) zu kräftigen und die An- bahnung der für ihre Verfolgung erheisch- ten Wege zu erleichtern, denn indem das Studium der vergleichenden Psycholo- gie mit den niedersten und einfachsten Formen der Völkergedanken anhebt, um hier unter hellerer Durchsichtigkeit die Elemente der Grundgesetze zu erkennen, wird dadurch (in den Vergleichungen sowohl, wie im genetischen Verfahren) - ein Leitungsfaden gewährt sein, der auch unter den Labyrinth-Verwicklungen kom- plicirter Culturschöpfung allmälige Auf- klärungen herbeizuführen verspricht. Die Genesis ist zu erforschen, im gene- tischen Denken (wie ScHLEGEL statt der formellen Logik eine genetische ver- langte), und so mag wenigstens das, auch bei den Grenzen der Naturerkennt- niss zugelassene Surrogat einer Erklärung erlangt werden. « In der Psychologie des Einzelnen und noch mehr der Völker sieht Basııan die Brücke von der Naturwissenschaft zur Philosophie geschlagen, man muss dieses Litteratur und Kritik. Geistesleben der Naturvölker daher studi- ren, so eifrig es möglich ist, und soviel als davon noch vorhanden ist, um etwas von der Embryologie des Volksgeistes, und dem Larvenzustand des geschicht- lichen Menschen, der uns in seinen ge- schriebenen Ueberlieferungen immer nur als entpuppter Schmetterling erschienen war, zu erkennen. »So muss es. der Ethnologie als heiligste und dringendste Pflicht gelten, die psychischen Schöpfun- gen der Naturvölker, die, wenn einmal zu Grunde, für immer dahingegangen (ohne jede Wiederkehr vertilgt und aus- gelöscht) sein würden, als Materialien einer Geschichte der Menschheit zu be- wahren, und bei der Katastrophe des durch Verkehrsrevolutionen eingeleiteten Kataklysmos, der sich, indem was wir die Welt der Naturvölker nennen, gerade jetzt vollzieht, darf kein Augenblick länger versäumt werden, um aus dem bereits an allen Ecken in hellen Flammen bren- nenden Gebäude den letzten Rest dessen, was sich retten lässt, in die ethnologi- schen Museen zu flüchten.«< In der That den Naturvölkern gegenüber ist Eile nöthig, denn schon mit dem Augenblicke, der sie uns kennen lehrt, weht der Todes- engel sie an. Was nun das Sammeln der äusseren Ausstattungsgegenstände anbetrifft, da mögen gewöhnliche Reisende genügen, aber für die Auffassung des inneren Menschen, seiner Weltanschauungen, Ueberlieferungen, Gedankenkreise u. s. w. sind in der Völkerpsychologie geschulte Reisende nöthig, und in ihrer Heranbil- dung ruht eine neue Aufgabe der Ethnolo- gie, wobei freilich nur dasBeispiel wirken kann, wie unsBAsrtIAs einsolchesvor Kur- zem in der Sammlung der polynesischen Mythenkreise selbst gegeben hat. In die- ser Richtung der begeisterten Anregung sehen wir ein hohes Verdienst dieses klei- nen Buches, welches flüssiger, als die mei- sten früheren Werke des Verfassers ge- schrieben, eine Menge fruchtbarer Ideen enthält, und auch in dem Vergleiche der 403 alten Öuriositäten- und Reliquien-Samm- lungen, indemVorschlage zueinemExpro- priationsgesetze, für die im Privatbesitze befindlichen ethnologischen Unica u. s. w. wieder jenen trocknen Humor entwickelt, der dem Verfasser eigen ist, und die Lektüre seiner Schriften belebt. Das Buch sollte von Jedermann gelesen wer- den, dem die Kenntniss des eigenen Ge- schlechtes am Herzen liest. Mythus und Wissenschaft. Eine Studie von Tıro Vıenouı. Autorisirte Ausgabe. (Internationale wissenschaft- liche Bibliothek Bd. XLVIJ). X und 3178. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1880. In einem Werke über das Funda- mentalgesetz der Intelligenz im Thier- reiche* hatte der Verfasser des vor- liegenden Buches bereits vor einigen Jahren nachzuweisen gesucht, dass die menschliche Intelligenz sich von derthier- ischen nur schrittweise unterscheide, indem der wesentliche Unterschied nur darin bestehe, dass der menschliche In- tellekt zu einer Selbstbeschauung und Beherrschung der psychischen Operatio- nen vorgedrungen sei, die dem Thiere fehlen. Auch der menschliche Geist müsse nach Darwin’schen Grundsätzen aus dem thierischen hergeleitet werden, und um zu verstehen, wie der auf nie- derster Stufe stehende Mensch das Welt- gemälde auffasse, wie erzudenbekannten, in den Hauptzügen bei Völkern auf ähn- licher Stufe übereinstimmenden Mythen- bildungen gelangt sei, müsse man sich in den Geist des Thieres zu versetzen suchen. Durch Versuche und genaue Be- obachtungen an Thieren ist der Verfasser zu dem durchaus wahrscheinlich klingen- den Schlusse gelangt, dass die Thiere noch weniger als der Mensch im Stande seien, sich von den Naturdingen zu un- * Derselben Bd. XXXV]. internationalen Bibliothek 404 terscheiden, dass sie somit alle Objekte, vornehmlich die sich bewegenden und ihnen in irgend einer Art Widerstand leistenden Dinge für ihres Gleichen an- sehen; ihr gesammter Intellekt erhebt sich zu keinem andern Begriffe als dem dunklen der eigenen Person, also eines Thieres. Der Stein, welcher vom Berge herabpoltert, der Hagelklumpen, welcher sie trifft, die Nessel oder Distel, die da stechen, das Feuer, welches brennt, alles sind ihnen lebendige Thiere, ihr ganzes Sinnen dreht sich um einen allgemeineEn- tification oder Personification aller sie umgebenden Dinge. Von diesem tie- feren und in dem Buche mit grosser psy- chologischer Feinheit dargelegten Zu- stande des thierischen Intellekts leitet nun der Verfasser als eine gleichsam in Fleisch und Blut übergegangene Erb- schaft, die Tendenz des primitiveren menschlichen Intellekts ab, alle Natur- erscheinungen zu personificiren, wie sie sich nicht nur bei Naturvölkern, son- dern auch bei den Kindern der Kultur- nationen wiederholt. Sie reden und plaudern mit allen lebendigen und un- lebendigen Objekten, als ob sie des Ver- ständnisses sicher wären. Mit diesem thierähnlichen Geisteszustande des un- erzogenen Menschen lässt sich nun jene niedere, als Animismus bezeichnete, den meisten Naturvölkern eigenthümliche Weltanschauung vergleichen, in welcher alle Dinge als beseelt gelten. Es ist dabei aber der dem Menschen allein an- gehörende, und namentlich aus den Er- fahrungen des Traumlebens abstrahirte Begriff des Seelenwesens hinzugekom- men, die als innere, belebende, kraft- äussernde Potenz der Dinge angesehen wird, und da sie den Körper (in den Traumvorstellungen) freiwillig verlassen kann und überlebt, eine geheimnissvolle, meist verborgene Existenz führt. Mit Hilfe dieser Abstraktion kann nun erst recht jeder Gegenstand mit Leben und Kraft erfüllt gedacht werden, ja indem der Mensch alles Vermögen und alle Litteratur und Kritik. | Macht, die ihm fehlt, in einem Einzel- objekte personificirt denkt, z. B. in einem Tiger oder einer Schlange, gelangt er zum Fetischismus, der Anbetung und Verehrung bestimmter, willkürlich aus- gewählter Gestirne, Elemente, Thiere, Pflanzen, Mineralstoffe oder Kunst- produkte. Aber mit der Ausbildung der Sprache lernt der Mensch abgeleitete Begriffe bilden, und dann ist nicht mehr ein einzelner Gegenstand, ein bestimmter Fluss oder Quell, ein bestimmter Baum oder ein Thier, die Sonne oder der Mond für sich der Gegenstand seines Kultus, sondern es erheben sich Gottheiten der Gewässer, der Luft, des Lichtes, Feuers u. s. w., kurz der Polytheismus steigt aus dem Fetischismus empor. Immer wieder handelt es sich dabei um Personi- ficationen, und zwar von Naturkräften und abgeleiteten Begriffen, welche die niedern Völker noch gar nicht kannten, undhiersetztenun die künstlerische Phan- tasie ein, um diese Begriffsgottheiten nach ihren körperlichen, intellektuellen und ethischen Eigenthümlichkeiten durch Poesie, Malerei und Plastik zu versinn- lichen. Wie aber der Polytheismus zum Fetischismus, so verhält sich wiederum der Monotheismus zum Polytheismus, aus dem Götterbegriffe wird der Gott- begriff in seiner Reinheit abstrahirt, und so erreicht die Personificationstendenz des menschlichen Intellekts ihr erhabenes Endziel. Dies ist der allgemeine In- halt des ebenso tief durchdachten, als gewinnend geschriebenen Buches, wel- ches der psychologischen Analyse der Mythenbildung eine solide genetische Grundlage gibt, und die Beachtung eines jeden Arbeiters auf diesem Gebiete beanspruchen darf. In sehr interessanter Weise beleuchtet der Verfasser auch die noch indem heutigen Menschen steckende und bei jeder Gelegenheit hervor- leuchtende Neigung, alle Begriffe zu personificiren. Wie die Alten alle nur denkbaren Verhältnisse und ethischen Abstraktionen, das Schicksal, die Neme- Litteratur und Kritik. sis, die Fortuna, Victoria u. s. w. personi- ficirten, so thun wir es sogar mit der »drohenden« Wolke, der »treulosen« Welle, dem »tückischen« Sumpf u. s. w., als ob wir nicht ohne diese Umformung der Objekte in uns ähnliche Wesen mit ihnen verkehren könnten. Selbst die Philosophie hat nicht ohne dergleichen Anthropomorphismen arbeiten können, und die ewigen Ideen des Plato, deren Widerlegung einen so harten Kampf in der Entwickelungsgeschichte der Philo- sophie erforderte, gehören ganz und gar in dieselbe Categorie. Der Verfasser verbreitet sich ausführlich über die ge- meinsame Wurzel von Mythus und Wis- senschaft. In der That strebten beide die Welterklärung an, der Mythus war nur ein verfrüheter Versuch die Vor- gänge aus der schnellfertigen Phanta- sie statt aus der langsam fortschreiten- den Erfahrung aufzubauen. Ebendaher aber hafteten der Philosophie immer ge- ‚wisse mythische Grundvorstellungen an, sei es auch nur die Personification desIn- tellekts als besonderen Wesens, und die Aufgabe der kritischen Philosophie wird es sein, im Bunde mit der Psychologie diese Entwickelungserbschaften und rudimen- tären Ideen zu beseitigen. In dieser Rich- tung hat VıGwoLıeinen bemerkenswerthen Schritt vorwärts gethan, und Niemand wird seinen Darlegungen das ihnen im vollstem Maasse gebührende, lebhafteste Interesse versagen können. K. Von der Ueberzeugung, insbeson- dere der religiösen. Eine Rede her- ausgegeben von KArL AurtHaAus, Pro- fessor an der Universität in Berlin. Dritte durchgesehene Auflage. 73 8. in kl. 8°. Leipzig, Otto Wigand, 1881. Vor einiger Zeit besprachen wir in dieser Zeitschrift (Bd. VI, S. 407) mit warmer Anerkennung das unter dem Titel »Ueberzeugungtreue« deutsch be- arbeitete Werk Moruer’s »One com- „bildung. 405 promise«. Uns war damals unbekannt, dass wir eine deutsche Mahnschrift ähn- lichen Werthes besitzen, deren Verfas- ser sich erst in der hier vorliegenden dritten Auflage genannt hat. Sie verdient es, von allen denen gelesen zu werden, die sich klar darüber werden wollen, worin der Werth und das Recht der persön- lichen Ueberzeugung bestehen, und möge vornehmlich jenen religiösen Eiferern zur Beherzigung empfohlen werden, die in vollendeter Nichtachtung der frem- den Ueberzeugung anderen Personen, die eigene, oft völlig werthlose, weil ererbte und nicht selbst erworbene Ueberzeugung aufdrängen möchten. Um dem Leser von der markigen, schwung- vollen und gedankenreichen Sprache dieser Mahnschrift eine Idee zu ver- schaffen, können wir nichts Besseres thun, als ein paar Sätze daraus wört- lich wiedergeben. Zunächst eine kurze Betrachtung über die gewöhnliche Bildungsweise individueller, aber nicht aus der Er- fahrung und sorgsamer Kritik gewon- nenen Ueberzeugungen. „Der Geist, der in Armuth und Leere nicht verharren will, der da Antwort auf seine Fragen sucht, ja ungestüm irgend wel- chen Abschluss begehrt, — er ergänzt die Lücken aus seinem Eigenen; er schafft, was als seiend sich ihm nicht dar bietet, und nur Wirklichkeit hat in ihm selber, — oder er setzt, was hier dem Möglichen, dort dem Nichtmöglichen angehört: Gebilde des Wün- schens und der geschäftig en, dichtenden Ein- Nicht selten empfängt er in sol- chem Gebahren eine duftige Färbung, die sich über Jegliches ergiesst, was ihm” naht; dahinwebend in traumhaftem Dasein, welches nur das ihm Gemässe sucht und aufnimmt, verhält er sich herrisch sogar, sei es der Natur und ihren erregenden Erscheinungen gegenüber, sei es in rein übersinnlicher Än- schauung, d. h. in der Sphäre des Geistes für sich vornehmlich als Religion“. Dann ein nicht minder na Wort über das zähe Festhalten seiner Ueber- zeugung, ohne sie fort und fort zu prüfen, ob sie der vorwärtsschreitenden Erkenntniss und Forschung Stand hal- ten kann. 406 „Wer... von dem frischen, vorwärts dringenden Strom des Lebens sich bewusst- voll, selbst ausschliesst, abgewandt von der gemeinsamen Arbeit, und regungslos für das ernste Streben, — wer nicht Herz und Sinn geöffnet hält für das Gefundene und klar Erkannte, wer missgünstig, feindselig wider dasselbe steht, um mit schlaffer Selbstbefriedigung im Seinigen zu verharren, d. i. in Wahn und Irrthum, — ein Solcher übt unsühnbaren Verrath an dem Geiste und seiner Wahrheit; ihm wäre gerecht zurück- geschleudert zu werden zu den wüstesten Anfängen des Menschenthums; er hat ver- wirkt, was zuvor ihm unter Einschränkung zugestanden werden konnte, ein Recht seiner behaupteten Ueberzeugung.“ Solche Sätze sprechen für sich sel- ber, sie werden Jedem, der eine beson- dere Ueberzeugung mit redlichem Be- mühen vertritt, aus der Seele gespro- chen sein, und wir wünschten, dass allen Pastoren, Professoren, Volksred- nern u. Ss. w. eine solche obligatorische Gewissenspredigt alljährlich wenigstens einmal auf Staatsunkosten gehalten würde. Das Ideal der Menschheit. Nach C. Car. FR. Krause’s Schrift »Das Urbild der Menschheit« von ALFRED Cvess. 99 8. in 12°. Stuttgart, Carl Krabbe, 1881. Dieses kleine Buch kann als eine Festschrift zur hundertjährigen Geburts- feier des leider viel zu wenig gekann- ten Humanitätsapostels und Philosophen betrachtet werden, und sie entspricht dieser Bestimmung in würdigster Weise, indem sie uns eine seiner anziehend- sten Schriften in nach Sprache und Umfang verjüngter Gestalt, d. h. in einem Auszuge, der dennoch wie ein Ganzes wirkt, vorführt. Die theuerste, heiligste und erste Angelegenheit des menschlichen Geschlechts auf dieser Erde, ist nach Krause’s Meinung die, sich als Menschheit zu konstituiren, als einen Bund aller Menschen unter sich und mit der Natur, denn »derselbe unsterbliche Naturgeist, der des Men- Litteratur und Kritik. schen Leib erbauet, lebt auch in allen Pflanzen und Thieren«e. Ausübung und Förderung von Wissenschaften und Künsten sind neben der Religion die höchsten Aufgaben des Menschen, wenn auch als das erhabenste Mittel, um zum höheren Menschenthum zu gelangen, die Liebe im allumfassenden Sinne von ihm gepredigt wird. Möge es zuerst ‚auch nur, wie er wiederholt betont, die Liebe zu den andern Mitgliedern der grossen Familie des Lebens, oder die Liebe zur Natur und Kunst sein, sie wird doch endlich in den mächtigen Strom der Allliebe einmünden. »Bei Völkern, wel- che zu reiner Gottinnigkeit noch nicht hindurchgedrungen sind, kann innige, echt menschliche, selige Liebe zur Na- tur und zur Menschheit, in allen ihren Zweigen fröhlich blüken, und schöne Früchte tragen. Wer nur irgend eine reine Liebe hat, der ist fähig, sich zur Liebe zu Gott aufzuschwingen, wen aber nicht menschliche Schönheit, nicht Schönheit der Natur rührt, wer den Bruder nicht liebt, der liebt auch Gott nicht.< In diesem Tone ist das ganze Buch gehalten, welches vielleicht das reinste Evangelium der Liebe darstellt, welches seit Christus verkündet wurde. Wie im Paradiese wird auch die innigste Vereinigung zweier Menschen nicht als Sünde, sondern als völlige Hingabe an die Natur, und an die innigsten schaf- fenden Kräfte des Himmels und der Erde angesehen. Wie aber Mann und Weib nur eine höhere Einheit konsti- tuiren, so ist auch die Familie, ein Volk, ja der gesammte Menschheitsbund nur ein Organismus höherer Ordnung, in welchem der einzelne alle seine Kräfte entfalten kann, ein Organismus, in welchem nicht nur die Zukunft, son- dern auch die Vergangenheit in ihrem Streben und ihren Errungenschaften fortlebt; auch alle Opfer der Roheit und Barbarei früherer Zeiten sind nur Opfer im Kampfe um die Erringung dieses höchsten Gutes, der in Liebe Litteratur und Kritik. geeinigten Menschheit. Ein schöneres Denkmal als diese Neubelebung einer sei- ner tiefsinnigsten Schriften konnte dem Philosophen zu seiner Gedenkfeier kaum errichtet werden. Fische, Fischerei und Fischzucht in Ost- und Westpreussen. Auf Grund eigener Anschauung gemein- fasslich dargestellt von Dr. BerT- HOLD BENECKE, Professor an der Uni- versität Königsberg. 514 Seiten. in gr. 8°, mit 493 Abbildungen von H. Brause. Königsberg in Pr., Har- tung’sche Verlagsdruckerei, 1881. Wie wir schon beim Erscheinen der ersten Lieferung dieses vortrefflichen, nunmehr vollendet vorliegenden Werkes hervorhoben, verdient dasselbe weit über den im Titel genannten Bezirk, die Be- achtung aller derjenigen, die dem Leben der Fische und der rationellen Bewirth- schaftung des Wassers ihr Interesse zu- wenden. Der Verfasser hat sich nur des- halb auf die ichthyologischen Verhält- nisse der Provinz Preussen beschränkt, weil er nur schildern wollte, was er aus eigener genauer Anschauung kennt. In dem zoologischen Theile ist der neu- este Standpunkt der Fischkunde ver- treten, wovon uns beispielsweise das Kapitel über die Fortpflanzung des Aales belehren kann. Interessant ist die nach- träglich hinzugefügte Beobachtung aus den Wintern 1879/80 und 1880/81, wonach die Flussneunaugen wirklich, wie Prof. BEnECKE schon früher muthet hatte, in unausgewachsenem Zu- stande nach der See wandern. >»Die Metamorphose der Querder beginnt, wenn sie eine Länge von 15—1S cm erreicht haben, und in der Verwandlung begriffen, die in kurzer Zeit vollendet wird, gehen sie im Winter und ersten Frühjahre stromabwärts. Aus der Deime und den Memelmündungen haben wir hunderte solcher Flussneunaugen in allen Stadien VER 407 der Verwandlung erhalten. Wahrschein- lich verweilen sie dann mehrere Jahre in der See, ehe sie zum Laichen in die Flüsse zurückkehren.» Dadurch wäre also die frühere Annahme widerlegt, nach welcher man glaubte, die Neun- augen verbrächten, wie die Schmetter- linge, den grössten Theil ihres Lebens im Larvenzustande, und stürben bald, nachdem sie ihre letzte Wandlung durch- gemacht hätten und geschlechtsreif ge- worden seien. Die reichliche zweite Hälfte des Buches ist der Fischerei gewidmet, der eine allgemeine Schilderung der Ge- wässer dieser Provinz (8. 219— 264) und eine Geschichte der Fischerei in Ost- und Westpreussen (S. 265—331) vorausgeht. Den Beschluss machen zwei ausführliche Kapitel über die volkswirth- schaftliche Bedeutung der preussischen Fischerei, und die Hebung derselben durch rationelle Bewirthschaftung und durch die künstliche Fischzucht (S. 412—514), welche letztere eine sehr eingehende und sachgemässe Darstellung, nach den neuesten Erfahrungen, nebst genauer Beschreibung und Abbildungen der be- währtesten Vorrichtungen hierfür er- fährt. Ueberhaupt sind alle Theile des Werkes, mit Ausnahme der rein geo- graphischen und historischen, reichlich durch vortreffliche, neugezeichnete Holz- schnittabbildungen illustrirt, so dass die Bestrebungen des Verfassers und Verlegers nach allen Richtungen die wärmste Anerkennung verdienen. Encyclopädie der Naturwissen- schaften. Erste Abtheilung. Liefe- rung 17—22. Breslau, Verlag von Eduard Trewendt, 1881. Das Erscheinen von sechs stattlichen Lieferungen dieses grossartig angeleg- ten Unternehmens innerhalb eines halben Jahres liefert wohl den besten Beweis für das rüstige Fortschreiten desselben. # ) ir „ 408 Dadurch wird das von G. JÄGER heraus- gegebene Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie bis zu dem Artikel »Ctenophorae« fortgeführt, und von dem Handbuch der Botanik ist die erste Lieferung des zweiten Bandes erschienen, welcher die Pfanzenphysio- logie enthalten wird. Diese erste Liefer- ung eröffnet die Physiologie der Er- nährung von Prof. Dermer in Jena, und behandelt im ersten Abschnitte die Nähr- stoffe, im zweiten die Molekularkräfte und im dritten den Stoffwechsel der Pflanzen. Am meisten gefördert erscheint von den drei gleichzeitig in Angriff ge- nommenen Abtheilungen, das Handbuch der Mathematik, welchem von den vor- liegenden Lieferungen drei angehören, welche die analytische Geometrie und die Differentialrechnung, beide von Prof. R. HEGER in Dresden bearbeitet, ent- halten. Die europäischen Torfmoose. Eine Kritik und Beschreibung derselben von C. Warnstorr. 152 8. in 8°. Berlin, Theobald Grieben, 1881. Die kleine auch geographisch und geologisch interessante Gruppe der Torf- moose erfährt in dieser kleinen Schrift eine umsichtige, und soweit es die euro- päischen Arten betrifft, eingehende Be- arbeitung nach dem neuesten Stand- punkte der Mooskunde. Dem Darwi- nisten wird es sympathisch sein, die zahlreichen Formen als Varietäten auf Litteratur und Kritik. ungefähr ein Dutzend Artkreise zurück- geführt zu sehen. Uebrigens schliesst sich der Verfasser der Ansicht ScHim- PER'S an, nach welcher die Torfmoose als eine besondere Klasse, neben den Laub- und Lebermoosen zu behandeln wären, und zeigt in einer besonderen Tabelle, die ziemlich in allen Theilen, Organen und Vegetationsverhältnissen merklichen Abweichungen derselben von den beiden anderen Klassen. Johnston’s Chemie des täglichen Lebens. Neu bearbeitet von Dr. Fr. DorsgLürH. Mit ca. 100 Abbildun- gen. Lieferung 1—4. Stuttgart, Carl Krabbe, 1881. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit die erste Ausgabe die- ses Buches erschien, und sogleich eine Anzahl deutscher Bearbeitungen hervor- rief, welche, wie die Wourr’sche und Hanm’sche, entschieden Verbesserungen des Originalwerkes waren. Dies wird in noch erhöhtem Maassstabe von der neuen Ausgabe gelten, und sie konnte thatsächlich in keine bessere Hände gerathen, als in diejenigen DORNBLÜTH’s, der, wie auch die vorliegenden Liefer- ungen bereits bezeugen, der rechte Mann ist, diese Darstellungen mit ihrer glück- lichen Anlage und ihren richtigen Ge- sichtspunkten auf den heutigen Zu- stand des Wissens zu erheben. Jeder Volksfreund wird dem Werke die wei- teste Verbreitung wünschen. H. Spencers Ansichten über Egoismus und Altruismus. Von Dr. B. Anders. Der Name HERBERT SPENCER hat, nicht blos in England und Amerika, son- dern auch auf dem Continent einen guten Klang. Seine »Grundlagen der Philoso- phie « zeigten in ihm einen Gelehrten, wel- cher philosophischen Esprit mit gründ- lichster Kenntniss der Naturwissenschaf- ten verbindet, seine >» Principien der Socio- "logie« fanden die eingehendste Be- achtung bei unseren Sociologen, und seine Schriften über Erziehung sind viel- leicht das Bedeutendste, was über diesen Gegenstand seit Lock£ in England ge- schrieben ist. Die vor zwei Jahren er- schienenen »Thatsachen der Ethik« wa- ren von der gelehrten Welt auf beiden Continenten mit Spannung erwartet. Handelte es sich doch nach des Ver- fassers eigenen Worten um nichts Ge-' ringeres als um die »Aufstellung von Gesetzen des guten Handelns auf wis- senschaftlicher Grundlage. Jetzt da die sittlichen Gebote allmählich immer mehr die Autorität verlieren, die ihnen bis- her kraft ihres vermeintlich heiligen Ur- sprunges zukam, erscheint die Säkulari- sirung der Sittlichkeit durchaus gebo- ten. Kaum mag etwas verderblichere Folgen haben, als wenn ein nicht mehr zulängliches Gesetzsystem verfällt und abstirbt, bevor ein anderes passenderes Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). an dessen Stelle zur Ausbildung gelangt ist, um es zu ersetzen«. So seine eige- nen Worte in dem Vorwort. Wenn wir uns an diesem Orte begnügen, die Ideen H. Spencer’s über Egoismus und Altruis- mus zu reproduciren, so glauben wir dem Leser nicht bloss ein aus dem Ganzen herausgerissenes Theilchen zu bieten — es ist der Kernpunkt der Ethik, den wir mit der Gegenüberstellung dieser beiden vitalen Mächte betreten. Der Verfasser setzt im XI. Capitel die Ansprüche und den Einfluss des Egoismus auseinander. Ein Geschöpf muss leben, bevor es thätig ist. Die Pflicht der Selbsterhaltung ist für alle lebenden Wesen eine conditio sine qua non; sie ist dringlicher als die Hand- lungen, welche durch das Leben erst ermöglicht werden. »Die zur fortgesetz- ten Selbsterhaltung erforderliche Thä- tigkeit mit Einschluss des Genusses von durch solche Thätigkeiten erlangten Vor- theilen sind die allerersten Vorbeding- ungen der allgemeinen Wohlfahrt.« Der Kenner darwinistischer Anschauungen weiss, dass alles frühere Leben — wie das jetzige — nur so sich entfaltet hat, dass dem Naturgesetze Rechnung ge- tragen wurde: Vortheile dem Ueberle- genen, Nachtheile dem Untergeordneten! 28 i 410 Nur im Einklang mit diesem Gesetze sorgt die Natur für die Forterhaltung des Lebens und — zugleich für die Er- höhung des Glückes, da ja ein grös- seres Anpassungsvermögen, welches den 'Ueberlegenen zukommt, zugleich die Summe der Freuden erhöht und die der Leiden vermindert. Nach verschiedenen Seiten hin zeigt sich der Egoismus oder das Streben nach individuellem Glück als allererstes Erforderniss zur Erreichung des höchsten allgemeinen Glückes. Um die Wahrheit dieser Behauptung zu zeigen führt uns der Schriftsteller das Bild zweier Individuen vor Augen. »Nach unge- störtem Schlaf aus dem Bett aufsprin- gend, singend und pfeifend während des Ankleidens, mit strahlendem Gesicht herunterkommend, bei der geringsten Veranlassung zum Lachen bereit, sehen wir den wahrhaft gesunden Menschen voll frischer Kraft, vergangener Erfolge bewusst und durch seine Energie, Rasch- heit und Erfindungsgabe vertrauensvoll auf die Zukunft gestimmt, an sein täg- liches Geschäft gehen, nicht mit Wider- streben, sondern mit frohem Muthe; und nachdem er von Stunde zu Stunde seine Befriedigung in der mit Erfolg er- ledigten Arbeit gefunden, kommt er mit einem reichlichen Ueberschuss von Ener- gie nach Hause, welche noch für alle Stunden der Musse ausreicht. Ein ganz anderes Bild bietet der, welcher durch starke Vernachlässigung seiner selbst geschwächt ist. Seine von vorn- herein mangelhaften Kräfte werden noch mangelhafter durch fortwährende An- strengungen, Dinge auszuführen, welche sich als sein Vermögen übersteigend herausstellen, sowie in Folge der daraus entspringenden Entmuthigung hinter dem niederschlagenden Bewusstsein von der unmittelbaren Zukunft lauert noch die quälende Angst vor der entfernteren Zu- kunft mit ihrer Wahrscheinlichkeit einer Häufung der Schwierigkeiten und einer noch grösseren Schwächung des Ver- mögens, denselben Trotz. zu bieten. B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. Stunden der Musse, die, wenn richtig verbracht, Freuden mit sich bringen, welche die Lebenswelle erhöhen, und die Arbeitskraft erneuern, können gar nicht ausgenützt werden: es ist nicht Frische genug vorhanden, um ein Ver- gnügen zu geniessen, das mit irgend einer Thätigkeit verbunden ist und der Mangel an froher Stimmung hindert auch ein lebhaftes Eingehen auf — passive Erholungen.« Es liegt auf der Hand, dass ein Individuum der ersten Art be- lebend und erheiternd auf seine Um- gebung einwirkt, während der an Leib und Seele Gebrochene mit seiner trüben Stimmung auch andere belästigen wird. Eine nicht geringe Bedeutung hat bei unserer Frage die Erblichkeit der Con- stitution. Ein Egoismus, der für mens sana in corpore sano sorgt, ist für die Nachkommen die Quelle unberechen- baren Glückes: wohl selten kommt wohl ein Mensch durchs Leben, ohne nicht an einem seiner Tage die Gesundheit als das höchste Gut zu preisen. Unsterblich dann auf allen Lebenswegen Begleitet euch der Ahn mit seinem Segen sind Worte W. Jorpan’s, die auch in unserem Sinne ihre vollste Berechtigung haben. Um solchen Egoismus zu er- zielen, muss man darnach trachten, die Bedürfnisse zu erfüllen, welche mit der Ausübung aller Functionen in Zusammen- hang stehen, ferner sich allen Freuden hinzugeben, welche das Leben, bietet. Denn — sagt SPENCER — diese haben nicht blos die Wirkung, den Strom des Lebens zu verstärken und die con- stitutionelle Frische zu erhalten, son- dern sie bewahren und erhöhen auch das Vermögen, für Freuden empfäng- lich zu sein. Ein normaler Egoismus ist der Welt ausserdem noch dienlich insofern, als derselbe sich die Kräfte bewahrt, altıuistische Thätigkeiten entfalten zu können, der schwächere, also weniger egoistische Mensch — ver- liert die Fähigkeit, andern zu nützen. B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. Wer durch das Leben hindurchge- gangen ist, wird selbst sich eine ein- schlagende Beispielsammlung ins Ge- dächtniss zurückrufen können. Ein un- gehöriger Egoismus, d. h. ich meine in diesem Falle einen solchen Egois- mus, der sich dem Altruismus zu sehr unterordnet, ist für die Zeitgenossen und Nachkommen schädlich. Dasseine un- terschiedslose Wohlthätigkeitserweisung Demoralisation bei den Empfängern her- vorruft, ist eine überall bekannte That- sache. Beachtenswerth sind auch noch die entfernteren Resultate eines zu grossen Altruismus. Wenn der Trieb, für Andere sich zu opfern, so gross wird, dass der Körper in Folge physi- scher Anstrengungen verkümmert, so entsteht die Tendenz zur relativen Ab- nahme in der Anzahl der altruistischen und damit zu einem bedeutenderen Ueberwiegen der egoistischen Indivi- duen. Auf diese Weise sorgt die Natur dafür, dass die Zahl der Unegoistischen und Egoistischen in dem Verhältniss zu einander stehen, welches die höchst- möglichste Ausnutzung des Lebens zu er- zielen im Stande ist. Das XII. Kapitel der Ethik Spencekr’s führt den Process des Altruismus contra Egoismus. Aengstliche Gemüther, welche in dem Auftauchen der modernen natur- wissenschaftlichen Anschauungen über- haupt und deren vermeintlich streng lo- gischen Consequenzen auf ethischem Ge- biete eine Verbestialisirung menschli- cher Gesinnung befürchten, werden gut thun, dieses zwölfte Kapitel mit Auf- merksamkeit zu lesen, um kennen zu lernen, wie der Mechanismus unserer sittlichen Einrichtungen vor erheblichen dauernden Störungen hinreichend ge- sichert ist, durch Anlagen, die in dem Charakter alles Lebens selbst wurzeln. Zunächst was ist Altruismus? Wir erhalten bei SPENCER die Definition: Jede Handlung, welche im normalen Laufe der Dinge Andern Nutzen schafft statt dem Handelnden selbst. Nachdem 411 der Verfasser seiner Erklärung des Be- griffes noch hinzugefügt hat, dass er nicht blos an mit Bewusstsein verbundene Thätigkeit denke, sondern auch an auto- matische, selbst rein physische Processe, bespricht er zuerst den Altruismus in primitivster Form. Er erinnert an die Entstehungen der einfachsten Wesen durch spontane Theilung, bei welcher Jedes einzige Stückchen der Keim eines Jungen ist, an die Ausbildung der Eier im elterlichen Körper, welcher seine Nährstoffe ausschliesslich zu Gunsten der Nachkommenschaft verwerthet. Bei den höher organisirten Thieren finden wir den Altruismus als directe Hingabe eines Körpertheiles thätig, aber verbunden mit der Hülfeleistung des übrigen Kör- pers. Man vergesse nämlich nicht, dass auch die bei der Pflege der Nachkom- menschaftgemachten Anstrengungen Aus- gabe elterlicher Substanz sind. In wel- che Aufregung sehen wir Geschöpfe aus diesen Klassen gerathen, wenn sie ihre Jungen in Noth erblicken oder von ihnen getrennt werden! Es spielt somit die Selbstaufopferung eine ebenso wichtige Rolle in dem Haushalt der Natur, als die Selbsterhaltung. Altruismus und Egoismus entwickeln sich mit einander. Nur unter dem Zusammenwirken beider Factoren konnte alles organische Leben unserer Erde sich entfalten. Jede Species verliert — wie wir oben sahen — die in nicht normaler Weise Egoistischen, verliert aber auch die in nicht normaler Weise Unegois- tischen, denn eine Nichtausübung alt- ruistischer Thätigkeit führt entweder den Tod oder schlechte Ernährung der Nach- kommenschaft herbei, somit indirect eine Abnahme des Egoismus überhaupt. Unbewusster und bewusster elter- licher Altruismus sind Vorstufen des socialen Altruismus; letzterer entfaltet sich jedoch nur da, wo der bewusste elterliche Altruismus in ergiebiger Weise gepflegt ist. Nicht wo Polygamie oder Polyandrie herrscht, finden wir das 28* 412 System des socialen Altruismus in der Vollendung zustrebender Form, nur monogamistische Staaten lassen den so- cialen Altruismus am besten sich ent- wickeln. Die voraufgehenden Medita- tionen führen uns von selbst auf eine Untersuchung der Beziehungen zwischen persönlichem Wohlbefinden und der Rücksicht auf Andere. i Ein normales Verhältniss kann zwi- schen beiden Factoren nur herrschen, wenn den seitens des Altruismus ge- machten Anstrengungen correspondi- rende, äquivalente Vortheile gegenüber- stehen. So gelangen wir zu einem Al- truismus, der zum gerechten Handeln antreibt, der Gerechtigkeit im Verkehr erzwinget und die Mittel, durch welche Gerechtigkeit geübt wird, hochhält und verbessert. Der Verfasser erläutert diesen Satz durch Beispiele. Um unser per- sönliches Interesse an den Handlungen . der Mitmenschen zu zeigen, deutet er darauf hin, wie z. B. die Preise der Kunden desto höher sein müssen, je grösser die Zahl der unbezahlten Kauf- mannsrechnungen sind, wie der Zins- fuss steigt, je weniger zuverlässig die Leute sind. Ein Mann, welcher dem Vaterland seine Dienste entzieht, ver- kennt, dass das Fortbestehen seines eigenen Geschäftes abhängt von dem gesunden socialen Zustande; welche Ge- fahr droht dem Staate, wenn viele Männer ähnlich handeln und Abenteu- rern ihren Platz am Staatsschiff über- lassen! Wir haben die Beziehungen zwischen den in Frage kommenden Fac- toren hiermit noch nicht erschöpft. Nicht ohne für uns Vortheile zu erlangen, schicken wir Geld und Lebensmittel an Kranke — wir verringern die Möglich- keit, dass die Epidemieen auch zu uns gelangen. Es ist unser eigenstes In- teresse, wenn wir für Abnahme der Dummheit im Staate sorgen durch tüch- tigen Unterricht — wir werden vor man- chen wirthschaftlichen Uebeln dadurch bewahrt. Die Dressirung und Gewöh- B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. | nung der Jugend an Pünktlichkeit und Ordnung kommt uns zu gute — wie oft werden unsre Plane durchkreuzt durch das Mangeln dieser Eigenschaften bei unsern Mitmenschen. »Bald ist es die Unzuverlässigkeit einer Herrschaft, die einem schlechten Dienstboten ein | gutes Zeugniss ausstellt, bald ist es die Unachtsamkeit der Waschfrau, welche die Wäsche zu Grunde richtet, indem sie Mittel anwendet, um sich die Arbeit des Waschens zu ersparen, oder es ist die absichtliche Täuschung durch Mit- reisende auf der Eisenbahn, welche ihre Mäntel ausbreiten, um Einen glauben zu lassen, dass alle Plätze im Coup& be- setzt sind, während dies doch nicht der Fall ist.«< Dass selbstloses Handeln weit eher als starrer Egoismus im Stande ist, Sympathien und Wohlwollen bei der Umgebung zu erregen, ist eine bekannte Thatsache — der unsympathische Mensch entfremdet sich von seinen Kollegen, seinen Verwandten, man fühlt sich nicht heimisch in seiner Nähe, ist er in Noth, so rührt sein Elend nicht. Altruistische Freuden haben vor den egoistischen den Vorzug, dass sie nicht wie die egois- tischen im Alter abstumpfen, sie er- setzen dann sogar die egoistischen Ge- nüsse. Der gehörig altruistische Mensch wird mehr ästhetische Genüsse haben, als der egoistische, sein Gefühl ist hin- länglich ausgebildet, um eine Welt von Interesse an den alltäglichen Leiden und Freuden seiner Mitmenschen zu finden. In einer Anmerkung, die SPENCER seiner Schrift angehängt hat, deutet er noch auf die wichtige Thatsache hin, dass egoistische Menschen gewöhnlich egoistische Nachkommen haben werden ; die Vernachlässigung altruistischer Thä- tigkeiten der Eltern ruft Streit und Zank in der Familie hervor, schlechtes Aus- kommen der Kinder ihren Vorgesetzten gegenüber und hat zur Folge, Vernach- lässigung der Eltern im Alter. Der Anwendung dieser so explieirten Wahrheiten auf das Verhältniss zwischen B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. 415 grösseren Staaten untereinander, wid- | faden findet Spencer, wenn er an die met der Philosoph die letzten Zeilen im XII. Kapitel. Wir würden das Ge- biet der Nationalökonomie betreten, wenn wir des Näheren ausführen wollten, wie Verarmung des inneren Landes schwere Nachtheile für das Volk her- beiführt, welches mit demselben in Han- delsverkehr steht — der Mangel eines gehörigen Altruismus des einen Volkes würde die Leiden bald über sich selbst heraufbeschwören. Das XIII. Kapitel trägt die Ueber- schrift Untersuchung und Compromiss. Dass ein reiner Egoismus nicht zulässig ist, haben wir gesehen; dass ein reiner- Altruismus sich nicht auf die Dauer auf- recht erhalten lassen kann, leuchtet gleichfalls ein, wenn wir uns die Un- geheuerlichkeit vorstellen, alle sollen zu gleicher Zeit im höchsten Grade un- egoistisch und im höchsten Grade ego- istisch sein — bereit, sich selbst zu Gun- sten Anderer schädigen und zugleich be- reit, Vortheile auf Kosten Anderer an- zunehmen. Es ist ein Compromiss nöthig zwischen beiden Factoren und diesen glaubt SpENcER zu finden, wenn er den Satz aufstellt: Allgemeines Glück ist hauptsächlich durch ein entsprechendes Streben aller Individuen nach ihrem eigenen Glücke, das Glück der Indivi- duen zum Theil durch ihr Streben nach dem allgemeinen Glück zu erreichen. Indem er einen Rückblick auf den Gang der socialen Entwickelung unserer Ver- hältnisse wirft, findet er, dass »die Rück- sicht auf das Wohlergehen Anderer pari passu mit der Vermehrung der Hülfs- - mittel zur Sicherung des persönlichen Wohlergehens zugenommen hat, und zwar nicht blos innerhalb eines und desselben Volkes, sondern überhaupt auf inter- nationalem Gebiete. « Altruismus und Egoismus stehen so einander aber immer noch schroff ge- genüber. Wie ist es möglich, dass der -Widerstreit beider zur Harmonie sich ausgleicht? Einen Zipfel vom Ariadne- Aussöhnung zwischen den Interessen der Erzeuger und der Nachkommen erinnert: die altruistischen Bemühungen zu Gun- sten der Jungen. werden unter Befriedi- gung elterlicher Instinkte ausgeführt. Bei höher entwickelter Sympathie glaubt er die Zeit voraussagen zu können, wo auch der sociale Altruismus dem elter- lichen ziemlich gleich kommen werde, wo die Sorge für das Glück Anderer zum täglichen Bedürfniss geworden ist. Das ist in der That ein hohes Ideal, dem unleugbar die Besten unserer Zeit der blut- und eisenstarrenden nach- streben. Eine höchst möglichste Entfaltung altruistischer Thätigkeit erhofft SpEncER besonders dann, wenn das Mitgefühl oder die Sympathie sich noch mehr wie augenblicklich jetzt ausgebildet hat — bei vermehrter Anwendung der natür- lichen Sprache der Gefühle bei den Mit- gefühl erregenden Menschen und Ver- stärkung des Vermögens, dieselbe zu verstehen, bei dem Mitgefühl empfin- denden Menschen. Da nun Handlungen, die durch das Gefühl für die Mitmen- schen veranlasst sind, ganz besonders zu den von der socialen Bedingung ge- forderten gehören und diese — wie in dem Abschnitte über Relativität von Freuden und Leiden des Näheren aus- geführt ist — zur Quelle von Freuden werden können, so liegt es klar auf der Hand, dass im Laufe der Zeit die Menschen immer mehr darnach trachten werden, Freuden des Mitgefühls schaf- fende Handlungen zu begehen. Die Ver- söhnung zwischen Altruismus und Ego- ismus wird sich dann nach objectiver und subjectiver Seite hin in gleich be- friedigender Weise zeigen. »Vom sub- jectiven Standpunkt aus betrachtet wird sich die Versöhnung derart darstellen, »dass das Individuum nicht mehr be- ständig zwischen den auf sich und den auf andere bezüglichen Impulsen hin und her schwanken muss, sondern es werden 414 im Gegentheil die Genüsse, welche aus den Impulsen zu Gunsten Anderer ent- springen und Selbstaufopferung bedingen, selten sein und daher hoch geschätzt und so unbedenklich vorgezogen werden, dass der Widerstreit der auf das Ich bezüglichen Impulse mitjenen kaum fühlbar wird. Ferner werden sich wohl altruistische Freuden einstellen, doch wird der Beweggrund zum Handeln nicht bewussterweise die Erlangung al- truistischer Freuden sein, sondern das Streben Andern Freude zu bereiten. In objectiver Hinsicht wird sich die Ver- söhnung so gestalten, dass jeder nicht mehr seine egoistischen Ansprüche zu erfechten nöthig hat, vielmehr darnach trachten wird, dieselben zu Gunsten Anderer aufzuopfern. Da ihm die An- deren dies zu thun immer weniger ge- statten werden, da sie gleicher Natur sind, so wird jeder sich der Früchte egoistischer Thätigkeit erfreuen können. Doch dies ist noch nicht alles. >Wie in einem früheren Stadium die egois- tischen Bestrebungen, nachdem sie erst einen Compromiss erreicht, wonach kei- ner mehr als einen billigen Antheil be- ansprucht, später sich bis zu einer sol- chen Versöhnung erheben, dass Jeder B. Anders, H. Spencer’s Ansichten über Egoismus und Altruismus. sich darum bemüht, auch Jedem Ande- ren seinen billigen Antheil zu verschaffen, so ‚werden in einem späteren Stadium auch die altruistischen Bestrebungen, nachdem sie erst den Compromiss er- reicht, wonach Jeder sich davor hütet, einen ungebührlichen Antheil an altru- istischen Genüssen für sich zu bean- spruchen, schliesslich zu einer solchen Versöhnung gelangen, dass Jeder da- für Sorge trägt, dass Jeder Andere gleichfalls Gelegenheit zu altruistischen Genüssen finde: der höchste Altruismus besteht ja eben darin, dass er nicht bloss die egoistischen, sondern auch die altruistischen Genüsse Anderer zum Gegenstande seiner Fürsorge macht. « Wirdesmöglich sein, dass die Mensch- heit noch einmal eine solche Stufe der Vollkommenheit erklimmen wird? In Beantwortung dieser Frage, die gewiss jedem Leser auf den Lippen schwebt, verweist der geistreiche Verfasser der Thatsachen der Ethik auf die grosse Länge derEntwickelungsbahnderMensch- heit, den Muth, solche stolzen Zukunfts- gebilde zu zeichnen, gewährt ihm seine Zuversicht: wessen die beste mensch- liche Natur fähig, sei auch der Men- schennatur im Allgemeinen erreichbar. Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Von Dr. Hermann Müller. (Schluss.) 4. Verschiedene Blumenthätigkeit der Männchen und Weibchen. In seinem Aufsatze » Paltostoma tor- rentium. Eine Mücke mit zwiegestal- tigen Weibchen«e (Kosmos Bd. VIII, S. 37—42) geht mein Bruder Frırz MÜLLER zur Erklärung der Zwiegestal- tigkeit der Weibchen dieser Mückenart von einem Gesichtspunkte aus, der für die Beurtheilung der Blumenthätigkeit der Insekten überhaupt und der Zwei- flügler insbesondere von höchster Be- deutung ist, nämlich von der verschie- denen Nahrungsbedürftigkeit der Männ- chen und Weibchen. Von ursprünglich blutsaugenden Di- pteren konnten die Männchen, da sie kurzlebig sind und nur für sich selbst zu sorgen haben, viel leichter ihrer stickstoff- reichen Nahrungsquelle sich entschla- gen und an den Genuss von Blumennek- tar gewöhnen als die Weibchen, welche Eier zu zeitigen haben und überwintern müssen. So erklärt sich, dass von man- chen ursprünglich aller Wahrscheinlich- keit nach in beiden Geschlechtern blut- saugenden Zweiflüglern (Stechmücken, Bremsen u. s. w.) nur noch die Weib- chen Blut saugen und mit Mandibeln ausgerüstet sind, wogegen die Männ- chen Blumennektar saugend angetroffen werden und jener ihren blutsaugenden Weibchen eigenthümlichen Werkzeuge entbehren. So lässt sich auch die Möglichkeit einsehen, dass von einer ursprünglich in beiden Geschlechtern blutsaugenden und mit entsprechenden Mundtheilen ausgerüsteten Mücke oder Fliege, die Männchen und ein Theil der Weibchen zur Blumennahrung und ent- sprechenden Anpassung der Mundtheile übergegangen sind, während ein anderer Theil der Weibchen im ursprünglichen Zustande verharrt. In diesem Falle befindet sich nach meines Bruders Auf- fassung Paltostoma torrentium. Bei der grossen Tragweite dieser Erklärung muss es wünschenswerth er- scheinen, als Stütze der ihr zu Grunde liegenden Annahmen weitere, und zwar möglichst sorgfältig beobachtete That- sachen aus dem Leben Blut und Nektar saugender Dipteren beizubringen. Vor allem sollte, wenn es nicht gelingt, die Lebensweise von Paltostoma torrentium selbst festzustellen, der sichere Nach- weis geliefert werden, dass es sonstige Dipteren gibt, deren Männchen sich ausschliesslich mit Blumennahrung be- köstigen, während ihre Weibchen theils Blut saugen, theils Nektar geniessen. Indem ich meine auf Blumen ge- sammelten Zweiflügler von diesem Ge- 416 sichtspunkte aus durchmustere, finde ich unter den Bremsen zwei Arten (Ta- banus rusticus F. und infuscatus Loww), von denen ich sowohl Weibchen als Männchen (letztere allerdings in grös- serer Zahl) Blumennektar saugend be- obachtet habe. Es ist nun zwar von vorn herein zu vermuthen, dass die Weibchen dieser beiden Arten daneben auch noch Blut saugen, wie es andere Bremsenweibchen thun, und sobald eine direkte Beobachtung diese Vermuthung bestätigte, wäre damit der verlangte Nachweis geliefert. Bis jetzt aber fehlt diese direkte Beobachtung; ich habe beide Arten überhaupt nur auf Blumen Honig saugen sehen. Die Mitbetheiligung ihrer Weibchen am Blumenbesuche lässt sich also nur als Wahrscheinlichkeits- grund, nicht als Beweis ihrer zwiefachen Lebensweise geltend machen. Beweisend dagegen für die Rich- tigkeit der Annahme, dass es Dipteren giebt, deren Männchen ausschliesslich Blumennektar saugen, während die Weib- chen theils ebenfalls dem Honige der Blumen nachgehen, theils aber auch Blut saugen, ist folgende Beobachtung, die ich eben desshalb in grösserer Aus- führlichkeit hier mittheilen will. Am 26. Mai stehe ich an einer blü- henden Weissdornhecke, um die in die- sem Jahre ungemein spärlichen Insekten in ihrer Blumenthätigkeit zu belauschen. Auf einer Blüthe, die ich ins Auge ge- fasst habe, sitzt unsere langrüsseligste und blumentüchtigste Schwebfliege, Rhin- gia rostrata, die an Geschicklichkeit im Auffinden und Ausbeuten tiefgeborgenen Blumenhonigs selbst mit ausgeprägten Bienen wetteifert. Erst senkt sie wieder- holt ihren lang ausgestreckten Rüssel in den Kelchgrund hinab und saugt Nektar; dann greift sie mit den Klappen an der Spitze ihres Rüssels nach dem einen und anderen Staubgefäss und langt sich Pollenkörner zu. Während ich Be- trachtungen darüber anstelle, wie sie bei ihrer ganzen Blumenarbeit in Folge ihres Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. langen Rüssels freie Umschau behält und ihre persönliche Sicherheit wahrt, nähert sich ihr unvermerkt von der rechten Seite eine weibliche Empis punc- tata, die ihr an Körpergrösse weit nach- steht und packt plötzlich ihren rechten Flügel. Die Rhingia steht wie festge- bannt und bewegt sich kaum von der Stelle. Im Nu ist der erfasste Flügel zerknittert und wagrecht ausgereckt, und die Empis rückt nun der Rhingia auf den Leib. Zuerst stösst sie ihr mit ihrem starren, nach unten gerich- teten Rüssel sehr wiederholt unten an die Seite des Thorax und in den Ein- schnitt zwischen Brust und Hinter- leib, während sie den Flügel noch zwi- schen ihren Beinen hat. Dann steigt sie, Schritt für Schritt, der Rhingia auf den Rücken, immer fort mit dem dolch- förmigen Rüssel nach unten stossend, aber auf der Rückseite des Thorax an- scheinend ohne irgend welchen Erfolg. Endlich steht sie ganz aufihrem Rücken und stösst ihren Dolch erfolgreich in die dünne Haut, durch welche der Kopf mit dem Thorax verbunden ist. Der rechte Flügel der Rhingia ist jetzt zwar wieder frei, aber noch zerknittert, die Rhingia ist nur schrittweise langsam weiter vor- gerückt; vielleicht haben die ersten Dolchstiche ihr auch die Beine gelähmt. Nun ist sie mit der auf ihr sitzenden Empis auf die Unterseite der Blüthe angelangt und hat sich so meinen Blicken entzogen. Ich schneide vorsichtig den Zweig ab und kehre ihn um, um meine Beobachtung fortzusetzen, da fliegt die Empis mit ihrer Beute davon. Da ich bis dahin Empis-Arten immer nur eifrig Blumennektar saugend beob- achtet hatte, obgleich ich aus entomolo- gischen Büchern wohl wusste, dass sie auch »vom Raube leben« sollen, so schaute ich nun auf den Weissdorn- blüthen neugierig weiter nach den hier zahlreich vorhandenen Empis und Khin- gia umher, bis leider schon nach einer halben Stunde ein einbrechendes Ge- ‚Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. witter meinen Beobachtungen ein Ende setzte. Während dieser kurzen Zeit hatte ich noch fünfmal Gelegenheit, Empis punclata mit dem Ermorden und 'Aussaugen von Rhingia rostrata beschäf- tigt zu sehen, obgleich ich nie wieder Augenzeuge ihres ersten Angriffes war. Diese fünf weiteren Exemplare von Rhin- ygia waren sämmtlich schon zur Ruhe gebracht, als ich sie antraf, und zeigten, wenn ich sie in die Hand nahm und mit dem Finger berührte, nur noch schwache Bewegungen des einen oder anderen Beines oder des Rüssels. Eine der mörderischen Empis war in ihr Ge- schäft so vertieft, dass sie sich durch- aus nicht stören liess, als ich die von ihr besetzt gehaltene Rhingia an den Flügeln fasste, zwischen den Finger- spitzen vor meine Augen hielt und mi- nutenlang mit der Lupe betrachtete. Ich konnte so ganz genau sehen, wie die Empis mit dem obersten harten und spitzen Theile ihres Rüssels auf der ganzen unteren Körperoberfläche der Rhingia herumstocherte, besonders eif- rig an den Einschnitten zwischen den Ringen der Chitinbekleidung. Ich sah sie aber nur zwischen Kopf und Thorax an mehreren Stellen mit ihrem Dolche (der Oberlippe und dem unter derselben liegenden unpaaren Stücke) die Haut durchdringen und dann jedesmal wieder- holt diesen Dolch tiefer hineinstecken, während die unteren weicheren Theile des Rüssels (die beiden Kieferpaare: Unter- kiefer und Unterlippe) aussen bleiben. Ausser den 6 Exemplaren von Khin- gia, an denen ich die Mörderin noch- in Thätigkeit traf, fand ich noch 4 an- dere bereits verlassen und bewegungs- los auf den Weissdornblüthen, eine auf Berührung noch mit schwacher Beweg- ung eines Beines antwortend. Zahlreiche Männchen und Weibchen der Empis punctata sassen auf den Weiss- dornblüthen, die Männchen sämmtlich nektarsaugend oder im Sonnenschein rastend, die Weibchen in geringer Zahl 417 mit Nektarsaugen beschäftigt, die mei- sten in lauernder Stellung. Alle 6 Exem- plare von Empis punctata, die ich Khin- gia anfallen und aussaugen sah, waren Weibchen. Auch eine nicht näher unter- suchte gelbe Empis (wahrscheinlich eben- falls E. punctata), die, mit einer klei- neren Fliege aus der Familie der Do- lichopiden zwischen den Vorderbeinen, auf einer Weissdornblüthe sass, und, als ich sie ergreifen wollte, wegflog, gab sich durch das spitze Ende des Hin- terleibs als Weibchen zu erkennen. Wenn es hiernach auch sehr zweifelhaft bleibt, ob gewisse Weibchen von Fumpis punctata nur dem Raube, andere nur dem Blumenhonige nachgehen, so geht doch so viel aus der mitgetheilten Be- obachtung wohl mit Sicherheit hervor, dass ihre Männchen ausschliesslich Blu- mennektar saugen, während ihre Weib- chen theils vom Safte erbeuteter In- sekten, theils vom Honige besuchter Blumen sich nähren, und das würde wenigstens leicht zu einer Spaltung in blutsaugende und nektarsaugende Weib- chen mit verschiedener Ausbildung der Mundtheile führen können. Damit ist aber die wesentlichste Schwierigkeit, die man in der von meinem Bruder gege- benen Erklärung der Zwiegestaltigkeit der Weibchen von Paltostoma torrentium finden könnte, aus dem Wege geräumt. Während hiernach bei einem gros- sen Theile der Dipteren der erste Er- werb einer gewissen Blumentüchtigkeit von den Männchen ausgegangen zu sein scheint, liegt der Fall in der Abtheil- ung der Hautflügler gerade entgegen- gesetzt. Die stufenweise Ausbildung immer höherer körperlicher und geistiger Aus- rüstungen, immer grösserer Blumentüch- tigkeit, die wir im Wespenstamme von den pflanzenanbohrenden Blatt- und Gall- wespen bis zu den Grabwespen und Bienen, in der Bienenfamilie von Pro- sopis bis zu Anthophora und Bombus auf- wärts verfolgt haben, ist, wie wir sahen, 415 in erster Linie durch die den Weib- chen allein zufallende Sorge für die Nach- kommenschaft bedingt gewesen. Dieser Sorge haben die Schlupfwespen und ihre Descendenten ihre Behendigkeit und Uebung in umsichtigem Umhersuchen, die Grabwespen und deren Abkömm- linge das Höhlengraben, das Einbringen der Brutkost in die Höhlen, die rast- lose Eile aller ihrer Thätigkeiten zu ver- danken; diese nämliche Sorge für die Nachkommenschaft hat die Stammeltern der Bienen angetrieben, als Larvenfutter statt lebender Beute Pollen und Honig einzutragen und sie dadurch aus Grab- wespen zu Bienen gemacht; dieselbe Sorge endlich hat unter den Bienen einen immer ernsteren Wettkampf um die Blumennahrung hervorgerufen und die Ausprägung immer blumentüchtigerer hassen mit immer längeren Rüsseln und immer vollkommeneren Pollensammel- apparaten zur Folge gehabt. Ebenso ist es nur der gesteigerte Fortpflanzungs- trieb der Weibchen gewesen, der zur Massenaufziehung von Jungen und da- mit zur Staatenbildung und zu jenen weiteren Steigerungen des Eifers und der Einsicht im Ausbeuten der Blumen- welt geführt hat, die uns bei Hummeln und Honigbienen entgegentreten. Wenn daher von Weibchen erwor- bene Eigenthümlichkeiten auch nur auf Weibchen sich weiter vererben könnten, so würden bis zu den ausgeprägtesten Bienen aufwärts die Männchen so kurz- rüsselig, so nacktleibig und so blumen- untüchtig geblieben sein, wie ursprüng- lich im Wespenstamme Weibchen und Männchen gewesen sind. Aber gerade die Bienenfamilie giebt uns, wie ich an einer anderen Stelle* eingehender ge- zeigt habe, die unzweideutigsten Be-. weise, dass Ausrüstungen des einen Ge- schlechts auch auf das andere über- tragen werden, bisweilen mehr oder weniger abgeschwächt, bisweilen aber * Anwendung der Darwin’schen Lehre auf Bienen (Verhdl. des naturhist. Vereins Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. auch in voller Ausbildung. Findet sich doch bei Bombus lucorum sogar das Sam- melkörbchen der Hinterschienen, welches unter allen Pollensammelapparaten der Hinterbeinsamnler die höchste Stufe ein- nimmt, bei dem Männchen, dem es völlig nutzlos ist, in ebenso vollkommener Ausbildung wieder wie beim Weibchen, dem es allein seine Ausprägung ver- dankt. Eine so vollkommene Uebertragung eines speciell ausgearbeiteten Organes, das ausschliesslich dem einen Geschlechte dient, auf das andere, gehört nun aller- dings zu den seltenen Ausnahmen. In der Regel hat dasBienenmännchen von einem besonderen Pollensammelapparate nichts oder nur schwache Andeutungen aufzu- weisen, und nur die Fersenbürsten und die allgemeine Bekleidung des Körpers mit Federhaaren sind von der Mutter her auch ihm zu Theil geworden, aber selbst diese in weniger geregelter Ausbildung. Wesentlich anders dagegen verhält es sich mit allen denjenigen Ausrüstungen, die zwar eben so unzweifelhaft von den Weibchen erworben worden sind, aber doch auch den Männchen zu gute kom- men, wie z. B. mit den Vervollkomm- nungen des Saugapparates. Sie haben sich in fast allen Einzelheiten auch auf die Männchen übertragen. Selbst an Rüssellänge bleiben die Bienenmännchen hinter ihren Weibchen kaum mehr zu- rück als an Körpergrösse überhaupt. Dem entsprechend dürfen wir erwarten, dass sich auch die von dem Weibchen erlangte Fähigkeit, tiefgeborgene Nek- tarien zu entleeren, in nur wenig ab- geschwächtem Zustande auch auf die Männchen vererbt haben wird, und in der That sehen wir, von Prosopis bis Anthophora aufwärts, in der Regel an den als Honigquellen bevorzugten Lieblingsblumen der Weibchen wenig- stens ab und zu auch die Männchen sich bethätigen. für die preuss. Rheinlande und Westphalen. 1872.) 8. 40 ff. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Im Ganzen steht aber begreiflicher Weise die Blumenthätigkeit der Männ- chen hinter der der Weibchen weit zu- rück. Denn die Weibchen sind, durch die Sorge für die Nachkommen getrieben, unablässig bemüht, immer neue Futter- ladungen einzutragen, bei ihnen con- centrirt sich, abgesehen von der Wah- rung der persönlichen Sicherheit, die ganze Aufmerksamkeit auf die Blumen- arbeit. So erpicht sind sie auf die- selbe, dass sie nicht einmal zur An- lockung der Männchen und zu behag- lichem Liebesgenuss sich die Musse gön- nen, vielmehr lassen sie sich zum Theil, wie wir bei Anthophora pilipes sahen; mitten in ihrer Arbeit von den Männchen überfallen und zur Begattung zwingen. Nicht minder charakteristisch für die unverbrüchliche Arbeitstreue der weib- lichen Bienen ist es, dass bei manchen von ihnen (Panurgus, Dasypoda) das augenfälligste Bild angestrengter Blu- menarbeit,, die schwere Pollenladung selbst oder ihre Nachahmung durch die Farbe der Sammelhaare, den Schmuck bildet, an welchem die Männchen ihre Weibchen erkennen. Den Männchen dagegen ist der Brut- versorgungstrieb gänzlich fremd; nur auf Erlangung eines Weibchens_ ist, nächst der Stillung des eigenen Hungers, ihre ganze Aufmerksamkeit gerichtet. Vom Begattungstriebe geleitet fliegen sie an den Ausschlüpfungsplätzen oder an den Lieblingsblumen der Weibchen, nach diesen ausspähend, in Bogenlinien hin und her,* nur ab und zu sich sonnend oder an einer Blume saugend.- Die Befriedigung ihres geringen Nah- rungsbedürfnisses können sie mittelst des von der Mutter ererbten Saugappa- rates in der Regel auch ohne besondere Anstrengung leicht decken. Sie lassen sich daher in ihrer Blumenauswahl mehr durch den Wohlgeschmack des ihnen * Die verschiedene Bewegungsweise der Männchen und Weibchen der Bienen habe ich an einigen Beispielen eingehender dar- 419 dargebotenen Honigs und durch die Be- quemlichkeit seiner Erlangung als durch die Reichlichkeit der Ausbeute bestimmen. In der gesammten Blumenthätigkeit der Bienenmännchen und Weibchen lassen sich daher folgende charak- teristische Verschiedenheiten erkennen: 1) Pollenblumen werden fast nur von weiblichen Bienen auf- gesucht. Das ist in dem Umfange richtig, dass sich als Besucher der den Gat- tungen Thalietrum, Anemone, Papaver, Chelidonium, Helianthemum, Agrimonia, Solanum und Verbascum angehörigen Blumenarten in den Besucherlisten mei- ner beiden Blumenwerke ausschliesslich weibliche Bienen verzeichnet finden. Jedoch bedarf der auf den ersten Blick als selbstverständlich erscheinende Satz, dass Pollenblumen ausschliesslich von weiblichen Bienen besucht werden, da diese allein Blüthenstaub für ihre Brut eintragen, nach zwei Seiten hin einer Einschränkung. Einerseits haben nämlich die un- ausgeprägtesten Bienen (‘Prosopis, Sphe- codes, Halictus, Andrena) die wahrschein- lich von den Grabwespen ererbte Ge- wohnheit, nicht nur Blumenhonig zu saugen, sondern auch Blüthenstaub zu fressen. Diese Gewohnheit musste bei den am tiefsten stehenden Bienen, ins- besondere bei der Gattung Prosopis, noch dadurch besonders begünstigt werden, dass sie, in Ermangelung von Sammelhaaren, den Pollen mit ihrem Munde einzusammeln genöthigt sind. Aber auch noch bei den niedersten Stufen der mit einem besonderen Pollen- Sammelapparat ausgerüsteten Bienen (Halictus, Andrena) hat sich die Ge- wohnheit des Pollenfressens, wenn auch in abnehmendem Grade, erhalten und wird bisweilen auch von den Männchen derselben ausgeübt. Auch Pollenblumen gestellt in meiner „Anwendung der darwin’- schen Lehre auf Bienen“. 420 sind daher für die Männchen der ge- nannten Bienengattungen nicht ganz ohne Ausbeute, und an Blumen von Olematis, Rosa, Spiraea und Verbascum habe ich wirklich auch Männchen der Gattungen Prosopis, Halictus und Andrena Pollen fressend gefunden. Andererseits finden sich an den Blumen einiger Papilionaceen, die keinen freien Honig absondern (Ononis spinosa, @Genista tinctoria), auch von hochaus- geprägten, langrüsseligen Bienen (der Gattungen Megachile, Diphysis, Anthi- dium, Anthophora) nicht selten ebenso wohl Männchen als Weibchen ein. Offenbar haben sie kein äusseres Kenn- zeichen für die Abwesenheit des Honigs, sondern müssen sich erst durch Probiren von derselben überzeugen. Die Weib- chen entschädigen sich, nachdem sie sich von der Abwesenheit des Honigs überzeugt haben, durch Einsammeln des Blüthenstaubes. Die Männchen dagegen stellen nach einigen vergeb- lichen Proben ihre Blüthenbesuche ein, wenn sie sich auch, um den Weibchen nachzujagen, noch längere Zeit an den Stöcken umhertreiben. Ausserdem könnte man erwarten, dass männliche Bienen auch solche Blumen, die sich ihnen sofort als aus- beutelos zu erkennen geben, lediglich in der Hoffnung auf ankommende Weib- chen besuchen würden. Diese Er- wartung wird aber durch die direkte Beobachtung nicht bestätigt und scheint dem unruhigen Charakter der Bienen- männchen wenig zu entsprechen. Vom Begattungstriebe angespornt gönnen sie sich vielmehr, nach Stillung ihres Hungers, selbst auf ausbeutereichen Blumen nur kurzen Aufenthalt und verbringen den grösseren Theil ihrer Zeit mit rastlosem Absuchen der Stellen, an denen sie das Erscheinen von Weib- chen erwarten dürfen. So lange sie aber der »Ernährungstrieb zum Besuche von Blumen antreibt, lassen sie sich in der Auswahl derselben weit mehr Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. als die Weibchen vom Wohlgeschmacke und der Bequemlichkeit der Erlangung der dargebotenen Nahrung leiten. Da- her werden 2) manche Honigblumen mit würzigem Dufte von den Männ- chen gewisser Bienen mit beson- derer Vorliebe, von den Weibchen derselben Arten nur flüchtig oder gar nicht besucht. Eine Anzahl von Belegen hierfür hat bereits mein Bruder in seinem eben eitirten Auf- satze (S. 41, 42) angeführt. Aus der einheimischen Blumen- und Insekten- welt kann ich denselben einige würzig duftende Labiaten mit ihrem Bienen- besuche hinzufügen. An Marrubium vulgare sah ich von langrüsseligen einzeln lebenden selbst sammelnden Bienen (Saropoda bimaculata, Anthidium manicatum) ausschliesslich Männchen die kleinen duftigen Blüthen besuchen und den Nektar derselben saugen; den Weibchen wird dieser gewiss nicht weniger schmackhaft, aber zu wenig ausgiebig sein. Von Kukuks- bienen (Coelioxys punctata Ler.) dagegen, die, ebenso wie die Männchen, nur sich selbst zu beköstigen haben, traf ich honigsaugende Weibchen an den- selben Blumen. Dass auch die brut- versorgenden Weibchen (Arbeiter) der Honigbienen sich in grosser Zahl zur Honigbeute an Marrubium einfinden, bedarf nach dem, was über den Ein- fluss der Staatenbildung auf die Blumen- thätigkeit im vorigen Aufsatze gesagt wurde, keiner weiteren Erklärung. Als Besucher von Origanum vulgare sind in meinem Werke über Befruchtung der Blumen nur von staatenbildenden Bienen (Bombus, Apis) Weibchen, von einzelnlebenden selbstsammelnden da- gegen nur Männchen verzeichnet. Später habe ich zwar auch von verschiedenen Arten der letzteren Weibchen an Ori- ganum saugend beobachtet; immer aber waren die Männchen an Zahl der In- dividuen in sehr grossem Uebergewicht. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. 421 Aehnlich verhält es sich mit Za- vendula vera, an deren Blumen ich z. B. von Megachile fasciata, Willughbiella, centuncularis und Chelostoma nigricorne wiederholt zahlreiche Männchen, nie- mals ein Weibchen, von Osmia aenea zwar Männchen und Weibchen, die ersteren aber regelmässig und zahlreich, die letzteren nur spärlich fand. An der seltenen Nepeta nuda, deren Insektenbesuch ich (8/7/73) an der Wandersleber Gleiche in Thüringen ins Auge fasste, fand ich von langrüsseligen einzeln lebenden Bienen (Anthidium punc- tatum, Osmia adunca, Anthophora quadri- maculata) ausschliesslich Männchen, wäh- rend einerseits von kurzrüsseligen ein- zeln lebenden (Prosopis communis, Ha- lictus flavipes, malachurus), andererseits von langrüsseligen staatenbildenden Bie- nen (Bombus, Apis) gerade im Gegen- theile ausschliesslich Weibchen dieselben Blumen besuchten. Wie regellos auch diese Vertheilung von Männchen und Weibchen auf den ersten Blick erschei- nen mag, so wird sie doch unter den hier zur Geltung gebrachten Gesichts- punkten durchaus verständlich. Für die kurzrüsseligen einzeln leben- den Bienen (Prosopis, Halictus) ist näm- lich die Ausbeutung von Nepeta nuda bereits eine ihrer höchsten Blumenlei- stungen, an der sich eben desshalb bloss die Weibchen betheiligen. Für so lang- rüsselige einzeln lebende Bienen dage- gen wie die oben genannten (mit einer Rüssellänge bis zu 10 mm) gehört die Ausbeutung von Nepeta nuda bereits zu den weniger ausgiebigen, an der daher die Weibchen weniger interessirt sind, als die dem würzigen Dufte und Wohlge- schmacke folgenden Männchen. Unter letzteren finden wir sogar Osmia adunca, deren Weibchen sich fast ganz auf das ausbeutereiche Echium beschränkt. * z. B. Seilla maritima, Atragene al- pina, Salvia offieinalis, Lyeium barbarum, Corydalis lutea. ** z.B. Arten der Gattungen Orchis, Po- Die staatenbildenden Bienen endlich sind durch ihr gesteigertes Nahrungsbedürf- niss veranlasst, auch weniger ausgiebige Honigquellen zur Brutversorgung mit zu benutzen. Das so eben an Nepeta nuda ange- troffene Männchen von Osmia adunca führt uns zu dem neuen Satze: 3) In denjenigen Fällen, in denen sich die Weibchen einer Bienenart zu rascherer und siche- rer Ausbeute auf den ausschliess- lichen Besuch einer bestimmten Blumenform oder selbst Blumen- art beschränkt haben, fühlen sich die Männchen an diese Beschrän- kung meist nicht gebunden, son- dernbesuchenauch andereBlumen. Es scheinen indess in dieser Be- ziehung die mannigfachsten Abstufungen vorzukommen von solchen Bienen, deren Weibchen zwar eine bestimmte Blumen- form entschieden bevorzugen, aber sich doch nicht ganz auf dieselbe beschrän- ken und deren Männchen noch ganz frei in der Blumenwelt umherschweifen, bis zu solchen, deren Männchen sowohl als Weibchen fast oder ganz ausschliess- lich an eine bestimmte einzelne Blumen- art sich binden. Von Eucera longicornis halten sich z. B. die Weibchen mit so ausgespro- chener Vorliebe an die Blumen der Pa- pilionaceen, dass sie in meinem Buche über Befruchtung ausschliesslich als Be- sucher solcher sich verzeichnet finden. Erst später habe ich Gelegenheit ge- habt, mich zu überzeugen, dass sie, wo blühende Papilionaceen ihnen nicht zu Gebote stehen, doch auch mancher- lei andere Blumen ausbeuten.* Die langhörnigen Männchen dieser Bienen- art besuchen ausser den Lieblingsblumen ihrer Weibchen auch die allerverschie- denartigsten sonstigen Blumen.** Iygala, Aesculus, Crataegus, Echium, Sym- phoricarpus, Ajuga, Lamium, Lavendula, Syringa, Veronica. 422 Die Weibchen von Osmia adunca be- schränken sich fast ganz auf Echium, das auch von ihren Männchen beständig in Menge umschwärmt wird. Ausserdem treiben sich aber die Männchen auch auf anderen Blumen* weidlich umher. Die Weibchen von Osmia caementaria habe ich ausschliesslich auf Echium ge- funden. Ihre Männchen sind dieser auser- wählten Lieblingsblume mehrerer nächst- verwandter Osmia-Arten zwar weit treuer als die Männchen von O. adunca, doch lassen auch sie sich noch bisweilen vom Ernährungstrieb zum Besuche anderer Blumen** leiten. Aehnlich verhält es sich mit Macropis labiata. Während die un- gemein blumeneifrigen Weibchen dieser Bienenart in den verschiedensten Ge- senden fast immer nur die Blumen von Lysimachia vulgaris ausbeutend gefunden wurden, sah ich die Männchen ausser- dem an Blüthen von Oenanthe fistulosa, Rhamnus frangula, Rubus fruticosus und in Mehrzahl an denen von Melilotus vul- garis Honig saugen. Die Weibchen von Dasypoda hirtipes gehen fast ausschliess- lich auf die gelben Blüthenkörbchen der Cichoriaceen, um sich, Honig sau- gend und frei umherschauend, zugleich den langen Haarwald der Hinterbeine mit mächtigen Blüthenstaubballen zu beladen; die Männchen dagegen besuchen ausserdem nicht selten auch die blauen Blumenköpfchen von Jasione montana, bis- weilen die ebenfalls blauen von Cicho- rium Intybus und die rothen von Cir- sium arvense. Ebenso ausschliesslich wie die Weibchen der beiden letztgenannten Arten an ihren auserwählten Lieblings- pflanzen fand ich die prächtigen Weib- chen von Andrena Hattorfiana in West- falen, Thüringen, Bayern, im Elsass und ® z.B. Lavendula vera, Salvia praten- sis, Vieia Cracca, Lythrum Salicaria, Ge- ranium robertianum, Gladiolus communis, Cichorium Intybus, Silybum Marianum. ** Sie wurden von mir Honig saugend an Salva offieinalis, Trifolium arvense, Pinguicula vulgaris, die Blüthen probirend an Primula farinosa gefunden. Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. in der Schweiz immer nur auf Scabiosa arvensis, und in diesem Falle sind die Männchen bereits mit fast derselben Strenge der Gewohnheit der Weibchen gefolgt; denn nur ein einziges Mal habe ich ein Männchen dieser Andrena-Art an- statt auf Scabiosa arvensis auf Jasione montana gehen sehen. Endlich fehlt es, zum Schlusse dieser Stufenfolge, nicht an Bienen, deren beide Geschlech- ter mit gleicher Ausschliesslichkeit sich an eine bestimmte Blumenform oder selbst an eine einzige Blumen- species binden, wie z. B. Pamurgus an gelbe pollenreiche Blumen von Cichoria- ceen, BRamuneulus, Oenothera; Dufourea vulgaris an gelbe Cichoriaceen,* Cilissa melanura an Lythrum Salicaria, ** An- drena florea an Bryonia. In diesen Fällen mag die Blumenauswahl der Weibchen auch dem Geschmacke der Männchen hin- reichend zugesagt und daher die durch andauernde Vererbung immer fester ausgeprägte Gewohnheit der ersteren allmählig auch auf die letzteren sich über- tragen haben. In derRegel dagegen gehen Blumenauswahl nach Reichlichkeit der Ausbeute und Blumenauswahl nachW ohl- geschmack und Bequemlichkeit weit auseinander, und es lässt sich folgender allgemeine Satz aufstellen, der den obi- gen Satz 2 mit in sich schliesst: 4) Von Bienenarten, die man- nigfache Blumenformen ausbeu- ten, geben die Weibchen den aus- beutereichsten, dieMännchen den wohlschmeckendsten oderbequem- sten den Vorzug. Dass besonders wohlschmeckender Blumenhonig in manchen Fällen aus- schliesslich oder vorwiegend von den Männchen gewisser Bienenarten besucht * Ein einziges mal sah ich (7/73 bei Kitzingen) Dufourea vulgaris © Pollen sam- melnd in einer Blüthe von Digitalis grandi- flora. *® Ein einziges mal sah ich ein Weib- chen von Cilissa melanura an Hypericum perforatum Pollen sammeln. Hermann Müller, Die Entwiekelung der Blumenthätigkeit der Insekten. wird, wurde bereits oben gezeigt. Dass auch durch Bevorzugung bequemerer Blumenformen die Männchen von den Weibchen in der Regel sich auszeich- nen, erhellt aus folgenden Thatsachen: Von so wenig ausgeprägten Bienen wie Andrena und Halictus’sieht man im Ganzen die Männchen mehr den leichter zugänglichen Honigbezugsquellen nach- gehen und in der Aufsuchung und Aus- beutung tiefer geborgenen Nektars weit hinter den Weibchen zurückbleiben. So finden sich z. B. von Andrena fulvierus in meinem Buche über Befruchtung von den Weibchen 32, chen 13 verschiedenartige, auf Aus- beute gerichtete* Blumenbesuche ver- zeichnet. Von denselben kommen nun auf Blumen mit unmittelbar sicht - barem Honig** beim Weibchen 21,9, beim Männchen 61,5°/o, auf Blumen *** und Blumengesellschaftenf mit völlig geborgenem Honig bei den Weibchen 40,6, bei den Männchen 30,8 %/o, auf Bienenblumen ff beim Weibchen 28,1, beim Männchen nur 7,7 °/o, von Pollen- blumen ff} beim Weibchen 7,7 lo, beim Männchen gar keine. Aehnliches lässt sich auch noch bei weit .ausgeprägteren einzeln lebenden Bienen von mittlerer Rüssellänge be- obachten. Bei Osmia rufa (mit 7—9 mm Rüssellänge) z. B., von deren Männchen und Weibchen in dem ge- nannten Werke je 19 verschiedenartige Blumenbesuche verzeichnet sind, kommen aufBienenblumen beim Weibchen 63,2*7, beim Männchen nur 38,9 °/o**7, auf Blu- *® Ausserdem ein Besuch des Männchens auf Campanula, in dessen Blumenglocken dasselbe lediglich Obdach suchte. #=#= (aqrum, Ranunculus, Berberis, Bras- sica, Salix, Fagopyrum, Rosifloren. #22 Geranium, Malva, Veronica, Phila- delphus. + Jasione und Compositen. +r Oypripedium, Bryonia, Papilionaceen, Labiaten, Calluna. tr Anemone, Papaver, Helianthemum. *+ Asparagus, Iris, Diclytra, Viola, von den Männ- 423 men mit flach geborgenen, unter gün- stigen Umständen noch unmittelbar sichtbarem Honig dagegen beim Weib- chen nur 10,5 5*, beim Männchen eben- falls 38,9 /off*. Nur bei den allerlangrüsseligsten einzeln lebenden Bienen, wie unter den einheimischen namentlich bei Anthophora pilipes, scheint die ursprünglich jeden- falls nur von den Weibchen geübte einseitige Bevorzugung der tiefsten und reichsten Honigbehälter in dem Grade ausgeprägt und durch Vererbung be- festigt zu sein, dass sie sich jetzt un- geschwächt auch auf die Männchen überträgt, so dass sie auch bei diesen den höchsten möglichen Grad fast er- reicht hat und der des Weibchens gleich kommt. In der That besuchen beide Geschlechter von Anthophora pilipes mit nur seltenen Ausnahmen,f*7 ausschliess- lich ausgeprägte Bienen- und Hummel- blumen. Mit dem Uebergange zur Staaten- bildung haben die Schenkelsammler, wie bereits gezeigt wurde, sich genöthigt gesehen, die immer einseitigere Bevorzug- ung der tiefsten ihnen noch zugänglichen Nektarien aufzugeben und in grösserem Umfange auch die weniger ausbeute- reichen Blumen niederer Anpassungs- stufen wieder in den Bereich ihrer Sam- melthätigkeit zu ziehen. Mit dem Auf- geben der Einseitigkeit in der Blumen- auswahl seitens der Weibchen hat natür- lich auch die Vererbung derselben auf die Männchen aufgehört, und dieselben sind mehr und mehr dazu zurückgekehrt, Vicia, Glechoma, Salvia, Lavendula, Echium, Syringa. ##+ Viola, Aesculus, Ayuga, Vinca, Pulmonaria. +* Spiraea salicifolia, Prumus. ++# Ranunculus, Caltha, Stellaria media, Cardamine, Salix, Prunus. +#+ Ich traf z. B. das Weibehen von An- thophora pilipes einmal auf Apfelblüthen, das Männchen einmal auf einem Weissdornstrau- che den klebrigen süssen Saft junger Triebe leckend. Glechoma, r 424 nicht bloss in der Blumenarbeit, son- dern auch in der Auswahl der zu _be- arbeitenden Blumen sich der Bequemlich- beit hinzugeben, die ihnen ihr geringes Nahrungsbedürfniss gestattet. Um dies statistisch nachzuweisen, habe ich von den sechs häufigsten norddeutschen Hum- melarten sämmtliche in meinem Werke über Befruchtung verzeichneten Blumen- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. besuche der Weibchen und Männchen gesondert zusammengestellt, nach den Anpassungsstufen der Blumen geordnet, und dann berechnet, wie viel Procent der verschiedenartigen Blumenbesuche bei Männchen und Weibchen auf die einzelnen Anpassungsstufen der Blumen kommen. Die so erhaltene ° Tabelle giebt auf den ersten Blick eine Uebersicht der Blumenthätigkeit der Weibchen und Männchen unserer häufigsten Hummelarten. er ö. | Von 100 verschiedenartigen Besuchen kommen auf: „.|= jS8:lss |82 |.8,|28, 28, =: Tabelle II. | # Ep Eee Ei 32 5 EBEi EEE 2as5 Er a | 38 2253 20° | 395 Bas Esämlsemel 53 | 22 N ler © ® Bo8 = In m®3 30 Soaa ee Name der Hum- 2 2a | |as =" Bst Mus"| & melart. als a IWEDo|" A FT ABND: B‘ |H.Hb.| Hh ee 9on 19-91 42 | 2 I, 71.1148. 28 Na | Ba To ke) as, a 40,0 | — | 60,0 B. muscorum L. | 99 12-15 66 | 45 | — | 45 | 121 | 10,6 | 25,8 | 42,4 (agrorum F. d' ‚1011|: 10 — — 10,0 | 10,0 | 60,0 | 10,0 | 10,0 br .) I ORGAN | 29 |s-12] 50 | 20 | — | 60 | 16,0 | 16,0 | 28,0 | 30,0 \&)-0 7, - | -— |13 |13 |8| = |286 B. Inpidarius L | 29 10-14) 58 — 1,86, | 12,1 976. 2030 292 eilt Sale 62 | 625 | 350 | 62 809 10-14]. 45, 1. — |. = a2] see B. siwarum L. > } 2 ? ; { 2,910] 75 60,0 | 20,0 | 20,0 ER | 29 | 7-9 13,6 | 10,6 | 6,1 | 22,7 |37,9** I 2.1 15.401538. 45 Al lozn Zusammengenom- | er) 1,6 | 12,2 men \ 4 36 | 89 | 55,8 | 14,3 | 16,1 ® Die honigreiche Asclepias syriaca! ** Davon 22,7 mit gewaltsamem Einbruch! Wie die durch fetten Druck hervor- gehobenen Ziffern sofort erkennen lassen, kommt bei den Weibchen aller 6 Hummel- arten von den verschiedenartigen Blumen- besuchen weit über die Hälfte auf Hum- mel- und Bienenblumen; bei der lang- rüsseligsten B. hortorum belaufen sich dieselben sogar auf 73,8 Procent. Bei allen mit allen mit Ausnahme von 2. lapidarius sind ferner die Hummel- blumen über die Bienenblumen im be- deutenden Uebergewicht, ja bei B. hor- Hermann Müller, Die Entwiekelung der Blumenthätigkeit der Insekten. torum betrugen die ersteren allein 57,1 Procent. Trotz der Heranziehung nie- derer Anpassungsstufen geben also die Hummelweibchen den ihnen speciell an- gepassten langröhrigen und honigreich- sten Blumenformen sehr entschieden den . Vorzug, und am ausgeprägtesten tritt diese Bevorzugung bei der langrüsselig- sten Hummelart hervor. Aehnlich wie bei unserer langrüsseligsten, einzeln lebenden Biene, Anthophora pilipes, scheint auch bei unserer langrüsseligsten Hum- mel, Bombus hortorum, die an Rüssel- länge jener vollständig gleichkommt, diese Bevorzugung so fest ausgeprägt zu sein, dass sie auch auf die Männ- chen vererbt wird. Denn auch bei diesen fällt die überwiegende Mehrzahl der verschiedenartigen Blumenbesuche auf langröhrige Hummelblumen. Ausser- dem schenken sie nur noch den ebenso bequemen als bei hinlänglicher Musse ausbeutereichen Blumengesellschaften (der Jasione, Scabiosen, Compositen) ihre Aufmerksamkeit; dagegen lassen sie, im Gegensatze zu den Weibchen, die noch niederigeren Anpassungsstufen völlig unberücksichtigt. Bei allen weni- ger langrüsseligen Hummeln tritt die Verschiedenheit zwischen der Blumen- thätigkeit der Männchen und Weibchen noch deutlicher hervor, indem die erste- ren die von den letzteren stark bevor- zugten Hummel- und Bienenblumen weit mehr vernachlässigen und sich mit noch entschiedenerer Vorliebe den Compositen und Scabiosen zuwenden, die ihnen in aller Behaglichkeit auf derselben Stelle sitzend zahlreiche honighaltende Röhrchen zu entleeren und so ihr ge- ringes Nahrungsbedürfniss zu decken gestatten. Wäre in der vorstehenden Tabelle nicht bloss die Zahl der ver- schiedenen Blumenarten, sondern zu- gleich die Zahl der auf die einzelnen fallenden Besuche berücksichtigt, was leider unausführbar war, so würde sich herausstellen, dass »thatsächlich die Be- vorzugung der Compositenköpfe seitens Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 425 der Hummelmännchen noch sehr viel stärker ist, als es nach dieser Tabelle scheint. Es ist ja allbekannt, wie massenhaft z. B. auf Distelköpfen im Spätsommer Hummelmännchen ihr Nacht- quartier nehmen, und bei Tage Honig saugend zu finden sind. Auch die Hum- melweibchen verschmähen keineswegs diese reichen Nahrungsquellen, berück- sichtigen sie aber vergleichsweise doch nur in untergeordnetem Grade, weil sie, rastlos von Stock zu Stock fliegend, in gleicher Zeit aus den langröhrigen honig- reichen Hummel- und Bienenblumen sehr viel mehr Ausbeute gewinnen können, als aus dem für gemächliche Arbeit sehr bequemen, zu hunderten dicht bei ein- ander stehenden, einzeln aber nur sehr wenig ausgiebigen Blumenröhren der Scabiosen und Compositen. Eine andere Erscheinung, in der das verschiedene Nahrungsbedürfniss der brutversorgenden Weibchen und der nur sich selbst beköstigenden Männchen recht auffallend zu Tage tritt, ist die sehr ungleiche Zahl verschiedenartiger Blumen, auf denen in jedem einzelnen Falle die beiden Geschlechter derselben Hummelart beobachtet wurden. Die Hummelweibehen besuchen, wie eine Durchsicht der zweiten senkrechten Zahlenreihe zeigt, durchschnittlich etwa 6 mal so viel verschiedene Blumenarten als ihre Männchen (mindestens 3,6, höchstens 9 mal so viel). Es lässt sich von vornherein mit grösster Wahrscheinlichkeit vermuthen, dass die Bienenmännchen in allen den- jenigen Blumenleistungen, die durch den Brutversorgungstrieb bedingt sind, be- trächtlich hinter den Weibchen zurück- stehen werden, und dahin dürften nicht bloss alle diejenigen Blumenarbeiten zu zählen sein, die einen hohen Grad von Fleiss und Ausdauer, sondern auch die- jenigen, welche eine gespannte Auf- merksamkeit erfordern. Wir werden daher erwarten dürfen, dass die Bienen- männchen z. B. bei den mit dem Ver- 29 426 blühen sich intensiver färbenden Blumen im Ganzen weniger sicher die blasseren noch honighaltigen auszuwählen wis- sen, dass sie an ihnen ungewohnten Blumen sich ungeschickter benehmen, dass sie weniger leicht persönliche Blu- menerfahrungen machen und verwerthen als die Weibchen. Aber unter den bis jetzt vorliegenden Beobachtungen findet sich keine einzige, die sich als that- sächliche Begründung dieser Vermuthung verwerthen liesse. Wir überlassen daher dieses eben so reiche als anziehende Gebiet noch völlig unangebaut der weiteren biologischen Forschung und ziehen zum Schlusse nur noch einen, bereits oben nebenbei berührten Gegen- stand näher in Betracht: Die verschiedene Blumenthätig- keit der Kukuksbienen und der | selbst sammelnden. Auch in der Bienenfamilie, in der wir als Wirkung des Brutversorgungs- triebes bis ' jetzt nur einen immer steigenden Eifer im Einsammeln von Blüthenstaub und Honig und, in Folge davon, eine immer vollkommenere Aus- rüstung zu dieser Arbeit kennen ge- lernt haben, hat es in verschiedenen Familienzweigen nicht an einzelnen Gliedern gefehlt, die der ererbten Ge- wohnheit untreu -wurden, indem sie, anstatt selbst Bruthöhlen anzufertigen, mit mühsam zusammengeschlepptem Larvenfutter zu füllen und dieses dann mit einem Ei zu belegen, sich in die Bruthöhlen anderer Bienen schlichen, und, wenn sie dort die nöthige Futter- masse bereits angehäuft fanden, an diese ihr Ei hefteten. Dieser Gewohnheitswechsel mag von Seiten der zur Kukukslebensweise über- gegangenen Bienen durch individuelle Neigung zum Faulenzen oder, vielleicht richtiger, durch einen nur etwas ge- ringeren Grad von Blumeneifer, von Seiten ihrer Umgebung durch die zu- nehmende Concurrenz bedingt gewesen sein, welche die an Arbeitslust zurück- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. stehenden Bienen schliesslich in bittere Noth versetzte und zum Ausspähen nach einer anderen Befriedigung des Brutversorgungstriebes zwang. Jeden- falls war mit diesen Aufgaben der ehr- lichen Arbeit und betrügerischem Aus- beuten fremden Fleisses, sobald es von Erfolg gekrönt wurde, der entscheidende Schritt für die Wirkung der Naturaus- lese nach einer ganz neuen Richtung hin und damit für die Gründung eines neuen Familienzweiges gethan. Denn von den Nachkommen der ersten Kukuks- bienen irgend welcher Abkunft hatten nicht mehr die arbeitsamsten und blu- ‘ mentüchtigsten, sondern die schlausten, als heimliche Einschleicher gewandtesten und behendesten im Wettkampfe um das Dasein den meisten Erfolg. Auch das nur zur ehrlichen Arbeit des Pol- lensammelns dienende Handwerkszeug hatte natürlich für Betrüger von Pro- fession keinen Werth mehr: die Feder- haare des Körpers und der besondere Pollensammelapparat, von zahllosen Ge- nerationen in stufenweiser Entwickelung langsam gewonnen, waren mit einem Male ausser Dienst gesetzt und fielen allmählicher Verkümmerung anheim: Der hochausgebildete Honigsaugapparat da- gegen, der den selbstsammelnden Stamm- müttern nicht nur zur Brutversorgung, sondern auch, ihnen sowohl als den Männchen, zur eigenen Ernährung ge- dient hatte, blieb zu letzterem Zwecke auch den Kukuksbienen von hohem Werthe und dadurch vor Verkümmerung bewahrt. Selbst eine Herabminderung seiner Länge dürfte kaum erfolgt sein. Denn wenn auch die Kukuksbienen, gleich den Männchen von der Herbei- schaffung von Nahrung für die Jungen entbunden und nur auf ihre eigene Beköstigung angewiesen, nicht mehr zur Ausbeutung der tiefsten ihnen zugänglichen Honigbehälter genöthigt waren, so bleibt doch, wie oben ge- zeigt wurde, zur Wahrung der persön- lichen Sicherheit, auch ein die Länge Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. der auszubeutenden Röhren erheblich überragender Rüssel von hohem Vortheil. Uebrigens liegt die Sache keines- weges so einfach, dass mit dem Auf- geben des Einsammelns von Larven- futter nun alle Kukuksbienen in gleicher Weise in ihrer Blumenthätigkeit unter die von ihren selbstsammelnden Stamm- eltern erreichte Stufe hinabsinken und sich in aller Behaglichkeit mit bequemer erreichharem oder besonders wohl- schmeckendem Honig beköstigen müss- ten. Vielmehr werden wir einerseits erwarten dürfen, dass die fest ausge- prägte Gewohnheit gewisser Mutter- hummeln, so viel als möglich die tief- sten ihnen zugänglichen Nektarquellen auszubeuten, da sie sich fast unge- schwächt auf die Männchen überträgt, in gewissem Grade auch auf die zur Kukukslebensweise übergegangenen Nachkommen sich weiter vererben wird, und diese Wirkung wird bei beiden Geschlechtern sich gleich stark äussern müssen. Andererseits muss es für die Weibchen der Kukuksbienen einen gros- sen Unterschied machen, ob sie ohne sonderliche Mühe ihre Eier in die Nester derzu betrügenden Wirthe einschmuggeln können, oder ob sie den grössten Theil ihrer Zeit umherstreifen und auf der Lauer liegen müssen, um den günstigsten Augenblick zum Einschleichen abzu- passen. In letzterem Falle könnte ihnen auch zu ihrer eigenen Beköstigung leicht die Zeit so knapp werden, dass sie, statt der bequemsten oder wohlschmeckend- sten, die ausgiebigsten Blumen wählen müssten, und es würde sich dann auch bei ihnen ein merkbarer Unterschied zwischen der Blumenthätigkeit derMänn- chen und Weibchen herausstellen. _ Um irgendwie erkennen zu können, welchen Antheil jeder dieser drei zu- sammenwirkenden Faktoren auf die Blu- menthätigkeit der Kukuksbienen hat, müssen wir die verschiedenen Zweige derselben gesondert ins Auge fassen, die Blumenbesuche eines jeden mit denen 427 | der nächst verwandten selbstsammeln- den Bienen von möglichst gleicher Rüs- sellänge vergleichen, und überdiess die Blumenthätigkeit beider Geschlech- ter der einzelnen Zweige von Kukuks- bienen neben einander halten. Den sichersten Ausgangspunkt für einen derartigen Vergleich dürfte die Kukuksbienen-Gattung Stelis geben, weil sie der selbstsammelnden Gattung An- ihidium in allen körperlichen Merkmalen noch bis zur Berührung nahe steht und überdiess mit den kleineren Arten derselben auch in Bezug auf die Rüssel- länge annähernd übereinstimmt. Aus diesem Vergleiche ergiebt sich, wie ein Blick auf die umstehende Tabelle zeigt, dass die der Gattung Anthidium entstammenden Schmarotzerbienen (Ste- is), ähnlich wie die Männchen der Hummeln, zur Stillung ihres Hungers vorwiegend die Blumengesellschaften mit völlig geborgenem Honig, d. h. die eben so augenfälligen als bequemen Köpfchen der Compositen, Iasionen u. s. w. auf- suchen und sich an der Ausbeutung der Bienenblumen nur in sehr unter- geordneter Weise betheiligen, wogegen die der selbständigen Brutversorgung - treu gebliebenen Anthidium-Arten gerade diese als die tiefsten und reichsten ihnen noch zugänglichen Honigquellen sehr stark bevorzugen. Die einfachen Blumen mit völlig geborgenem Honig, an denen die sStelis-Arten ausserdem sich häufig einfinden, sind Malven und Geranien, also ebenfalls sehr augen- fällige Blumen, die gemächliches Honig- saugen und ein längeres Verweilen auf derselben Stelle gestatten, da jeder Blüthengrund derselben fünf im Kreise gelegene Honigtröpfchen birgt. Dieser Unterschied in der Blumenthätigkeit zwischen Stelis und Anthidium erklärt sich einfach auf dieselbe Weise wie derjenige der Hummelmännchen von den Mutterhummeln. Frei von der Arbeitslast des Futtereinschleppens für die Brut suchen die Stelis, wie die Hummel- 29 * Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. 428 Vergleichende Uebersicht der Blumenthätigkeit der Kukuks- bienen und ihnen nächst verwandter und an Rüssellänge un- gefähr gleichstehender selbstsammelnder Bienen. * In dieser Tabelle sind alle von mir gesammelten die noch nicht veröffentlichten, verwerthet. #* Die honigreiche Asclepias syriaca. = B ER Von 100 verschiedenart. Blumenbesuchen kommen auf: En ses au 82, |s28 25: ar sen is | Has Ara. Ass les: Eee Tabelle IV. 88 1832| 28 288 2422 zum |saep| 82 | 88 = Se: BREI OE Eee er = = (E 5S2 Bs= |a25 [ea en Sa Po A. | AB. B: B'’ |H.Hb.| Hh. Selbstsammelnde Bienen: Anthidium punctatum , striga- l tum, oblongatum 4—6 16 — - 12,5 — |125 | 750 _- Kukuksbienen der Gattung Stelis Sla—5l/a| 38 5,3 79 | 28,9 | 52,6 5,2 — Selbstsammelnde | Bienen : Dieselben 3 Anthidium - Arten nebst Chelostoma und Heriades 3—6 55 12,023 71 | 1887| 294. | 41,2 — Kukuksbienen der Gattungen Stelis und (oeliox@ys | 83 = 3,6 72 | 24,1 | 44,6 | 20,5 = Kukuksbienen der Gattung Nomada 3— 7! | 100 — 20 | 33,0 | 10,0 | 41,0 | 12,0 _ Selbstsammelnde Bienen: Saropoda bimaculata, Antho- Y!phora quadrimacu- lata sn 10 | 29 3,4 _- 13,8 | 13,8 | 48,3. | 20,7 Kukuksbienen: Crocisa und Melecta| 8—10 14 = 1-4 — | 21,4 7,1 | 50,0 | 14,3 Selbstsammelnde Hummeln: Bombus confusus , hypno- Alrum, Rajellus und semilis 10—14 62 4,3 |1,4** | 14 | 145 | 188 | 26,1 | 33,3 Kukukshummeln: Psithyrus 10—14 90 — iR 6,6 | 13,3 | 45,5 | 14,4 | 18,8 einschlägigen Beobachtungen, auch Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. männchen, ihren geringen Nahrungs- bedarf ohne sonderliche Anstrengung zu decken. Ererbung einer fest aus- geprägten Gewohnheit bestimmter Blu- menauswahl ist bei der völligen Ver- schiedenheit derselben von derjenigen der Stammgattung hier nicht wohl an- zunehmen. Die einzigen Einwürfe, die sich allenfalls gegen das anscheinend völlig klar vorliegende Ergebniss er- heben liessen, sind: die zu geringe Zahlderbeobachteten verschiedenartigen Blumenbesuche, welche dem Vergleiche zu Grunde liegen, und die kleine Differenz der Rüssellänge, welche hier zu Gunsten der selbstsammelnden Anthidium-Arten ausfällt und eine etwas höhere Blumen- leistung dieser erklären könnte. Beide Einwendungen werden aber hinfällig, wenn wir zu den 3 Anthi- dium-Arten noch die verwandten selbst- sammelnden Gattungen Chelostoma* und Heriades,”* zu Stelis noch die verwandte Kukuksbienengattung Coeliorys”** hin- zunehmen. Denn nun ist die Zahl der zum Vergleich kommenden verschieden- artigen Blumenbesuche sehr erheblich, und das Uebergewicht der Rüssellänge liegt nun auf Seiten der Kukuksbienen. Trotzdem zeigt sich derselbe Unter- schied wie vorher, wenn auch natür- lich merklich abgeschwächt, da die lang- rüsseligeren Coelio@ys-Arten mit grösserer Bequemlichkeit verschiedene Bienenblu- men ausbeuten können und die kurz- rüsseligeren Chelostoma- und Heriades- Arten mehr auf niedere Anpassungs- stufen der Blumen zurückgreifen müssen. Selbst wenn wir statt Stelis und Coelioxys die verwandte artenreiche Gattung No- mada zum Vergleiche -mit den genannten Bauchsammlern wählen, wird am Ge- * (helostoma campanularum, Küssel- länge 3 mm, florisomne 3'/a—4 mm, nigri- corne 4— Auf; mm. #== Heriades truncorum, 4/2 mm. = Von Oodoz, Eich habe ich ge- messen: conoidea ILL. — punctata LEP., Rüssellänge 61/,— 7 mm Vene ten simplex Nyr. 4!/,—5 mm. 429 sammtergebnisse des Vergleichs nichts Wesentliches geändert. Anders, wenn wir jene langrüs- seligeren Kukuksbienen (Melecta und Croeisa) ins Auge fassen, die sich von so hoch ausgebildeten Schenkelsamm- lern wie Anthophora oder Saropoda durch Uebergang zur Schmarotzerlebensweise abgezweigt haben. Sie zeigen eine ebenso entschiedene Vorliebe für ausgeprägte Bienenblumen, wie die ihnen nächst- verwandten selbstsammelnden Bienen von etwa gleicher Rüssellänge; nur in der Ausbeutung der tiefsten ihnen noch er- reichbaren Honigbehälter bleiben sie hinter jenen erheblich zurück. Die Zahl der verschiedenen Blumen, an denen sie beobachtet wurden, ist zwar eine sehr geringe (14), die Zahl der beob- achteten Besuche aber eine so grosse, dass sie wohl ein zuverlässiges Urtheil ge- statten. Besonders an Labiaten (Ajuga, Ballota, Lamium, Lavendula) wurden sie sehr oft wiederholt angetroffen, und zwar die Männchen eben so wohl als die Weib- chen. Entweder müssen also diese lang- rüsseligen Kukuksbienen ihre ausge- prägte Vorliebe für Bienenblumen* von ihren langrüsseligen selbstsammelnden Stammeltern ererbt haben, ebenso wie sich auf die Männchen der Anthophora piipes die einseitige Bevorzugung der tiefsten ihnen noch zugänglichen Blu- * Selbst dass sie sich in der Tabelle als Besucher von Blumen mit offenem Honig ver- zeichnetfinden, kann nichtals Beleg gegen ihre ausgeprägte Vorliebe für Bienenblumen gel- tend gemacht werden. Denn diese Angabe gründet sich auf einen einzigen Fall, in wel- chem Melecta luctuosa 2 an den Blüthen eines Bergahornbaumes (Acer Pseudoplatanus) sau- send beobachtet wurde, unter Umständen, die das abweichende Verhalten vollständig er- klären. In weiter Umgebung dieses Baumes fehlte es nämlich an Blumen, die mit den sei- nigen hätten concurriren können, und an den Blüthen desselben wurden gleichzeitig zahl- reiche selbstsammelnde langrüsselige Bienen Honig saugend beobachtet, "darunter Antho- phora aestivalis ®) (Rüssellänge 15 mm) und Bombus hortorum \) (21 mm) (H. M., Wei- tere Beob. II. S. 213). 430 menröhren vonihren Stammmüttern über- tragen hat, oder die Zeit dieser Kukuks- bienen ist durch ihre betrügerische Brut- versorgung so in Anspruch genommen, dass sie dadurch zur Aufsuchung reicherer Honigquellen genöthigt werden, und diese Gewohnheit hat sich auch auf die Männchen übertragen. Vergleichen wir endlich, nach der 4ten statistischen Zusammenstellung der vorstehenden Tabelle, die Blumenthätig- keit der Kukukshummeln mit derjenigen von selbstsammelnden Hummeln gleicher Rüssellänge, so werden dadurch auf hinlänglich breiter Beobachtungsgrund- lage im Wesentlichen diejenigen Schlüsse bestätigt, zu welchen ich von spär- licheren Beobachtungen aus bereits in meinem Werke über Alpenblumen’(S.521) gelangt war. Von der hochgesteigerten Blumenthätigkeit, die zur selbständigen Brutversorgung nöthig war und eine allseitige Ausbeutung der umgebenden Blumenwelt unter entschiedener Bevor- zugung der Bienen- und Hummelblumen erheischte, sind die Kukukshummeln zu der sehr beschränkten, für die eigene Beköstigung nöthigen Blumenthätigkeit übergegangen und bevorzugen nun die ebenso reichen als ihnen bequem zu- gänglichen Blumengesellschaften mit völ- lig geborgenem Honig, die sie mit einer Gemächlichkeit ausbeuten, welche für selbstsammelnde Hummeln unerhört sein würde. Gegen dieses Ergebniss unseres Ver- gleichs lässt sich einwenden, dass wir beide Geschlechter der zu vergleichenden selbstsammelnden und schmarotzenden Hummeln zusammengefasst haben, wäh- rend doch der Unterschied des Nahrungs- bedarfs nur die Weibchen betrifft. Wer- fen wir desshalb noch einen Blick- auf die folgende Tabelle (V), in welcher die Leistungen männlicher und weib- licher Kukuks-Bienen und Hummeln neben einander gestellt sind, und ver- gleichen die Blumenthätigkeit der weib- lichen Kukukshummeln mit der aus Ta- Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. belle (III) ersichtlichen weiblicher selbst- sammelnder Hummeln, so erhalten wir, wenn auch merklich abgeschwächt, das- selbe Ergebniss. Nur eine der selbst- sammelnden Hummelarten, 2. lapidarius, kommt, bei gleicher Rüssellänge, den Kukukshummeln in ihrer Blumenthätig- keit ziemlich nahe. Alle übrigen be- vorzugen in sehr viel stärkerem Grade Bienen- und Hummelblumen und be- treiben im untergeordneterem Grade die Ausbeutung der Compositenköpfchen, als es die Kukukshummeln thun. Die Männchen der Kukukshummein aber stehen in ihren Blumenleistungen hinter ihren Weibchen ganz auffallend zurück. Ueber 70 Procent ihrer Be- suche (gegen nur 30,3°/o bei den Weih- chen) gelten den augenfälligen und be- quemen Blumengesellschaften mit völlig geborgenem Honig, und nur der 10te Theil der von ihnen ausgewählten Blu- men sind Bienen- und Hummelblumen (gegen 48,2°/o bei den Weibchen). Die Zahl der verschiedenen Blumenarten, welche sie aufsuchen, beträgt überdies nur etwa ?/s von derjenigen, welche ihre Weibchen ausbeuten. Alles dies weist mit Bestimmtheit darauf hin, dass die Weibchen der Kukukshummeln mit ihren ziemlich schwerfälligen Bewegungen zum Aufsuchen und Einschleichen in die Nester selbstsammelnder Hummeln und zur weiteren Durchführung ihrer gaunerhaften Brutversorgungsarbeit ei- nen so bedeutenden Theil ihrer Zeit verbrauchen, dass sie zur Deckung ihres eigenen Nahrungsbedürfnisses in der ihnen übrig bleibenden Zeit zu grösseren Anstrengungen als die Männchen ge- nöthigt sind. Auch alle übrigen dem Vergleiche un- terzogenen Kukuksbienenmännchen blei- ben in der Ausbeutung der Bienen- blumen hinter ihren Weibchen merklich zurück. Allen bleibt ja dies Umher- suchen, Auflauern, Einschleichen, die ganze Spitzbubenarbeit ihrer brutver- sorgenden Weibchen, erspart, so dass Hermann Müller, Die Entwickelung sie es sich mit ihrer Blumenarbeit noch bequemer machen können als diese. Aber der Unterschied ist bei allen übrigen weniger bedeutend als bei den Kukuks- Vengsleichende,Webersicht der der Blumenthätigkeit der Insekten. 431 hummeln, und die Zahl der von Männ- chen und Weibchen gemeinsam besuch- ten Blumenarten ist bei allen übrigen viel grösser, als bei diesen. Blumenthätigkeit der männ- lichen und weiblichen Kukuksbienen. Von je 100 verschiedenartigen Blumenbesuchen kommen auf: de Sn Iı.. i ei RER TEE TERN Ereich ERS 3 Sense ee 05 == [ASE =) sa |Se8|.5.|laAs =) nie Tabelle V sasloaa.| 2 | Su |. Aeslansa 2 | 55 abelie V. Semfeszal ae |vsallhase) aselganel a 55 ss Il.25| £ sa |3E8 | S3eH |s ers | Z| a7 [aaa a We Esel et So ran ea oe N as . Si; I I I I I I Coelioxys { ‚ | TABL AN, | 3 | 333 | 22 |296 | — | Bag are 2.7, 1970, | 1080 Are 2a Nomada ; ! i ? ; ? | a rg | 2a ea 449, Oroeisa und Me- | @| 10 [400 — | 100 — | 10,0 — | 60,0 | 20,0 lecta | 9 ee N ir ara 255 5 56 | 89 | — |18%| 53 | 143 | 30,8 | 19,6 | 28,6 Psithyrus ! A393 — 7% »1110:32,1.71,82 1007,00. *® An Hypericum perforatum saugend oder zu saugen versuchend. *® An Acer Pseudoplatanus saugend. - Ich schliesse hiermit meine vor- läufige Mittheilung über die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. Als erster Versuch auf einem ganz neuen Forschungsgebiete konnten meine Unter- suchungen natürlich nur zu sehr un- vollständigen und zum Theil vielleicht noch nicht hinlänglich gesicherten Er- gebnissen führen. Das Eine aber dürfte wenigstens dem aufmerksamen Leser vorstehender Aufsätze klar geworden sein, dass in der Blumenthätigkeit der Insekten der biologischen Forschung ein ungemein reiches und dankbares, wenn auch bisher unbeachtet gelassenes Gebiet vorliegt, wohl werth der aus- dauernden und hingebenden Arbeit zahl- reicher rüstiger Forscher. Was der Einzelne hier zu leisten vermag, muss der Natur der Sache nach unvollkom- menes Stückwerk bleiben. Denn fast unerschöpflich sind schon in einem be- schränkten Gebiet die der Beobachtung sich darbietenden Erscheinungen, und selbst die Blumenthätigkeit derselben Insektenart ist in hohem Grade dem 432 Wechsel unterworfen, da sie von so veränderlichen Bedingungen wie dem Wetter*, dem Honigreichthum der Nek- tarien**, der Concurrenz gleichzeitig an demselben Orte blühender Blumen *** und nach Nahrung umherfliegender Blu- mengästef, endlich von der Individuali- tätff und dem jeweiligen Zustande des beobachteten Insektes selbst ff abhängt. Nur wenn die einzelnen Blumenbesucher in ihrer ganzen Thätigkeit unter wech- * Jenach derniederen oder höheren Tem- peratur ist dasselbe Insekt in seinen Beweg- ungen träger oder lebhafter. Nach längerem Regen sind die Blumengäste ausgehungert und daher weit blumeneifriger als bei an- dauernd sonnigem Wetter. #=®= Der Honigreichthum der Nektarien derselben Blumenart ist, wie FLAHAULT ge- zeigt hat, in hohem Grade von klimatischen und Witterungsverhältnissen abhängig. Bei Platanthera chlorantha fand ich in gewöhn- lichen Jahren die langen Sporne höchstens etwas über '/s, in diesem abnormen Jahre über ?/s mit Nektar gefüllt. #°® An Blüthen eines Bergahorn bei Jena, in dessen Nähe es an concurrirenden Blumen fehlte, sah mein Sohn zahlreiche langrüsse- lige Bienen saugen. Primula elatior wird begierig von Hummeln ausgebeutet; sobald aber Geum rivale in seiner Nähe aufgeblüht ist, gehen sie nur noch an dieses. ri Auf den an Faltern überschwenglich reichen Hochalpen werden auch zahlreiche Bienenblumen sehr gewöhnlich von Faltern besucht; im falterarmen norddeutschen Tief- lande dagegen kann man selbst Gymnadenia conopsea, Lychnis diurna und andere Falter- blumen bei sonnigem Wetter stundenlang Hermann Müller, Die Entwickelung der Blumenthätigkeit der Insekten. selnden Bedingungen, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, oft wiederholt möglichst genau ins Auge gefasst werden, ist eine allseitig be- friedigende Lösung der mannigfachen auf diesem Gebiete sich uns aufdrängen- den Fragen zu erwarten. Das ist aber nur der ausdauernden, hingebenden Arbeit zahlreicher rüstiger Forscher möglich. überwachen, ohne sie von einem einzigen Falter besucht zu sehen. Primula farinosa wird auf den Alpen bei günstigem Wetter stets reichlich von Faltern besucht; in Pom- mern sah sie mein Bruder Dr. Wırn. MÜr- LER selbst in den Mittagsstunden eines son- nigen Tages ausschliesslich von der Honig- biene ausgebeutet werden. +r Ein Exemplar der Honigbiene hatte ich Iris Pseud-Acorus nach vergeblichem Ver- suche einer einzigen Blüthe gänzlich auf- geben sehen (H. M., Befruchtung, S. 70). Vor einigen Wochen sah ich aber ein anderes Exemplar der Honigbiene an den Blumen der- selben Pflanze nicht weniger als 8 vergeb- liche Versuche machen. +rr Die Männchen von Anthophora pilipes fliegen, vom Begattungstriebe geleitet, an einem mit blühenden Primula elatior und Pulmonaria officinalis besetzten Abhange in grossen Bogenlinien, nach Weibchen su- chend, hin und her und saugen nur ab und zu eine einzelne Blüthe von Pulmonaria, nie von Primula. Kommt aber ein Männchen hungrig angeflogen, so saugt es an Pulmona- ria- und Primula-Blüthen ohne Unterschied, wie sie ihm gerade zuerst in die Augen fallen. Die „augenähnlichen“ Organe der Fische nach den Untersuchungen von Dr. Ussow, Prof. Leydig u. A.* (Hierzu Tafel III.) Nur wenige Thierstudien können auf ein so allgemeines Interesse auch in nicht fachwissenschaftlichen Kreisen rechnen, als diejenigen, welche uns die Verschiedenheiten darthun, die sich im Sinnenleben der Thiere finden. Mit Er- staunen lauschen wir den Berichten über Schnecken und Muscheln, die ihre Hör- organe im Fusse tragen, oder deren Rücken oder Mantelsaum, wie bei dem Argus der Mythe mit vielen Augen be- setzt ist, oder die gar auf allen Glied- stücken Augen besitzen, wie die viel- äugigen Borstenwürmer (Polyophthal- mida) oder von solchen, die auf ihrer gesammten Oberhaut mit Geschmacks- organen versehen sind, wiemanche Fische, oder endlich gar von Thieren, bei de- nen man nervöse Organe entdeckt hat, die gar nicht den uns bekannten Sin- nessphären anzugehören scheinen, viel- mehr auf einen uns unbekannten sechs- ten Sinne deuten. In dieser Richtung hat seit einiger Zeit ein Gruppe von meist in grösseren Meerestiefen lebenden Kno- chenfischen die Aufmerksamkeit der For- scher auf sich gezogen, welche man zu den unter einander nahe verwandten *® Dr. M. Ussow, Ueber den Bau der sogenannten augerähnliehen Flecken einiger Knochenfische, Bulletins der Moskauer natur- forschenden Gesellschaft 1879. S. 79—115 mit Familien der Scopeliden, Sternoptychi- den und Stomiatiden vereinigt hat. Es sind meist kleine, oft nur einen Zoll und noch darunter lange Fischehen, wel- che an ihrer Bauchkante jederseits mit einer von der Schnauze bis zum Schwanze reichenden Reihe glänzender Flecke ver- sehen sind, etwa so, als ob dort das Hautkleid mit einer dichten Doppel- reihe von Perlmutterknöpfen zugeknöpft wäre. Zuweilen wird die Hauptreihe an der Bauchkante, noch von einer halben von Kopf bis zur Analflosse gehenden Nebenreihe dieser Flecken begleitet, häufig finden sich ausserdem einzelne, oft grössere Flecken über den Kopf und Kiementheil, sowie über die Flanken des Fisches zerstreut. Kein Wunder, dass schon in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wiederholt ver- schiedene Ichthyologen, wie z. B. RaA- FINESQUE in Palermo, DELLE CHIAJE in Neapel, Rısso in Nizza und Cocco in Messina, auf diese Bewohner der Tief- see aufmerksam wurden, welche zuweilen der Sturm aus Land warf, während die Tiefseeforschungeu der Neuzeit noch manche ihrer Verwandten ans Licht ge- 4 Tafeln. — Prof. Dr. Franz LEYDIG, Die augenähnlichen Organe der Fische. 100 S. in 8° mit 10 Tafeln in Steindruck. Bonn, Emil Strauss, 1831. 454 zogen haben. Es scheint nicht, dass die älteren Ichthyologen jemals die klei- nen perlmutterglänzenden Flecken ge- nauer untersucht haben, sie beschrieben sie einfach als Silberflecken oder Leucht- punkte und LEucKArr erst hat im Jahre 1864 diese Pigmentflecken an Chauliodus Sloani, Stomias boaund Scopelus Humboldtüi genauer untersucht, wobei er zur An- sicht gelangte, dass diese Gebilde viel- leicht als Nebenaugen zu betrachten seien. Im Jahre 1879 veröffentlichte sodann Ussow in den Schriften der Mos- kauer naturforschenden Gesellschaft eine Abhandlung über den Bau der soge- nannten augenähnlichen Flecken bei Chauliodus, Stomias, Astronesthes, Gono- stoma und Maurolicus, worin er zu der Auffassung gelangte, dass die augenähn- lichen Flecken der drei erstgenannten Gattungen wirkliche Sehorgane seien; bei den übrigen hingegen sei der Bau ein anderer, und zwar von drüsiger Natur. In demselben Jahr veröffentlichte LeypıG eine Arbeit über Chauliodus Sloani, in welcher er die Augenähnlichkeit der Flecken bei diesem Thiere zugab, aber doch eher an ein Uebergangssinnesorgan als an wirkliche Augen denken wollte, und zugleich auf eine Beobachtung hin- wies, nach welcher diese Organe im Le- ben leuchten sollten. Ausser dieser Art hat nun LeyviG in neuester Zeit weitere zehn Arten aus den Familien der Sternoptychidae und Scopelidae (und zwar in Spiritus aufbewahrte Exemplare), untersucht, und die Frage wesentlich gefördert, obwohl sie, wie er selbst zu- gesteht, noch nicht als endgiltig abge- schlossen betrachtet werden kann. Bei dem grossen Interesse der Sache wollen wir einen ausführlicheren Auszug zu geben versuchen. Vor Allem drängt sich das Ergeb- niss auf, dass der Bau der Organe bei den Sternoptychiden ein wesentlich an- derer ist, als bei den Scopeliden, und dass bei gewissen Scopeliden eine dritte Art von Bildungen hinzukommt, so dass Lry- Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. DIG 3 Categorien unterscheiden musste: l) augenähnliche Organe, 2) glas- perlenähnliche und 3) Leuchtor- gane. Schon mit der Lupe lassen sich die dreierlei Organformen deutlich unter- scheiden. Die der ersten Categorie er- scheinen als bräunlich gefärbte und mit grauer Masse gefüllte Säckchen, die der zweiten als schüsselförmige, bräunlich gerandete Eintiefungen, deren Boden und Wandung mit metallisch glänzender Schicht ausgekleidet sind, die der drit- ten, welche ebenso wie die vorige und oft gemeinschaftlich mit derselben nur bei der Gattung Scopelus vorkommen, heben sich in Gestalt grösserer Flecken von Sil- berglanz oder auch grauer Perlfarbe ab. Die augenähnlichen Organe, über deren reihenweise Verbreitung zu beiden Seiten der unteren Mittellinie des Körpers wir bereits oben gesprochen haben, finden sich ausserdem am Kopfe in der Nasen- und Augengegend, ferner am Kiemendeckel und auf der Kiemen- haut, ja bei der Gattung Chauliodus beschränkt sich ihre Verbreitung nicht auf die äussere Haut, sondern sie finden sich Nester bildend und viel kleiner auch in der Mund- und Kiemenhöhle. Ihre Zahl steigt bei dieser Gattung auf Tausend und darüber, während bei den andern Gattungen die Gesammtsumme kaum die Zahl hundert überschreitet. Die äussere Gestalt ist nicht völlig gleich an den verschiedenen Körperstellen, sie geht aus der eines rundlichen Säck- chens über in’s Walzige, um in ein- zelnen Fällen die Gestalt einer Ampulle oder Glocke anzunehmen. Bei der Gat- tung Argyropelecus ordnen sich mehrere Organe gruppenweise zusammen. Am besten ausgebildet ist gewöhnlich das Organ vor dem Auge, ferner diejenigen der Kiemenhaut, die Mündung ist stets abwärts beim schwimmenden Fische, also centralwärts gekehrt. Den Bau betreffend, bestehen die Organe durch- weg aus einer Hülle von braunem Pig- ment, die von der Lederschicht der all- Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. gemeinen Hautdecke geliefert wird, und häufig eine Ringfalte oder Einschnü- rung bildet, welche den Innenraum in einen vorderen und hinteren Abschnitt theilt. Auf die Hülle folgt nach innen eine metallisch glänzende Schicht, die entweder dieselbe ganz auskleidet, oder nur einen Gürtel an der Mündung bil- det und aus irisirenden Flittern, Plätt- chen oder Fasern besteht, die in der Lederhaut liegen. Der graue Innen- körper zerfällt immer in zwei Abschnitte, einen hinteren grösseren, das Säckchen erfüllenden und einen kleinen vorderen, welcher dem Halstheil zugehört und aus der Mündung hervorragt. Theil ist immer kuglich, der vordere walzenförmig und beide Abschnitte bil- den ein zusammenhängendes Ganzes. Beiden Theilen kommt eine radiale Streifung zu, die von einem Fachwerke herrührt, das sich von einer den grauen Körper umschliessenden Membran in’s Innere fortsetzt. In seinem Längs- durchschnitt lässt sich der hintere kug- liche Theil des Organs dem Querschnitt einer Orange im äusseren Ansehen vergleichen. Allein es handelt sich hier nicht um eine beschränkte Zahl durch- gehender Fächer, sondern um lauter im Centrum zusammenstossende Hohlkegel, von denen eine gewisse Anzahl über den kuglichen Umfang des Säckchens hinaus- strahlt, und den nach aussen mündenden Halstheil erfüllt, so dass die Figur eines in die Kugel eingesenkten Strahlenkegels entsteht. Das Maschenwerk ist wie bei der Orange mit kleinen, zum Theil stark lichtbrechenden Zellen erfüllt, die gegen den gemeinsamen Ausstrahlungspunkt beider Abtheilungen häufig in eine un- durchsichtige körnige Substanz über- gehen. In die Halsgegend dieser Organe tritt nun stets ein Nerv ein, dessen Fasern sich, wie es scheint, in die kör- nige Mitte des kuglichen Abschnittes verlieren, deren genauere histologische Verhältnisse aber nicht ermittelt werden konnten. Nach aussen wird das ge- Der hintere 435 sammte Organ von einem Lymphraum umschlossen. Die glasperlenähnlichen Or- gane sind in ihrer Vertheilung über Bauchkante, Kopf, Kiemendeckel und Kiemenhaut den vorigen ähnlich, und die drei an der Kiemenhaut übertreffen stets die andern an Grösse. Sie haben die Gestalt eines wenig vertieften Schüs- selchen oder Näpfchen von rundlichem Umriss, dessen Boden mit Metallglanz versehen, und von einer gewölbten durch- sichtigen Decke überzogen ist. In allen Fällen ist auch hier eine äussere braun pigmentirte Hülle, und eine metallisch glänzende Schicht aus regelmässig sechs- eckigen, eng zusammenschliessenden Platten vorhanden, ferner ein binde- gewebiger Gallertkörper aus zarten, strahligen Zellen, die ein Netzwerk er- zeugen, und sich mitunter unter einer dachartigen Verdickung spindelförmig erheben. Auch hier treten Nervenfasern ein. Ganz ähnlich ist endlich der Bau der sich hauptsächlich durch eine viel bedeutendere Grösse unterscheidenden sogenannten Leuchtorgane, die bei Scopelus Rafinesgwii und Sc. metopoclam- pus als stark lichtglänzende, abgegrenzte Flecken über der Nasenöffnung und unter dem Auge auftreten, während sie bei Scopelus Humboldtii und Sc. Benoiti in Form und Ansehen gedämpfter Perlflecken erscheinen. Was nun die Deutung dieser Or- gane betrifft, so weist Leypıe zunächst die Annahme Ussow’s zurück, dass es sich, wenigstens bei einigen derselben, um Drüsenorgane handeln könnte. Ebenso wenig liess sich die Ansicht, dass es sich um die Organe eines sechsten Sin- nes handele, festhalten, und so blie» denn zunächst die von LEUCKART, Ussow und Leyvie selbst aufgestellte, und von SempeErR bereits für zweifellos sicher an- genommene Ansicht zu prüfen, ob es sich um echte, den Augen der Muscheln, Hirudinen u. s. w. vergleichbare Neben- augen handele. LeuckAarr und Ussow 436 glaubten, Linse, Glaskörper und Retina unterscheiden zu können, und der Letz- tere veröffentlichte dem entsprechende Zeichnungen, allein genauere Unter- suchungen des Baues, und Vergleich- ungen desselben mit den Augen der Schnecken und Muscheln liessen diese Ansichten doch wiederum sehr für Prof. LeyvıgG zweifelhaft erscheinen, wozu noch kommt, dass alle diese Organe, wenn der Fisch wagerecht schwimmt, ihre Mündung nicht gegen das Licht, sondern abwärts nach der dunklen Tiefe kehren. Noch weniger lassen die >»glas- perlenähnlichen« Organe eine Vergleich- ung mit Augen zu, vielmehr glaubt LeypısG in dem Bau derselben mit höch- ster Wahrscheinlichkeit eine Ueberein- stimmung mit dem Bau der elektrischen und pseudoelektrischen Organe gewisser Fische zu erkennen, indem das Gallert- gewebe der Schüsselchen der gallert- artigen Ausfüllungsmasse im Innern der Säule, der halbmondförmige körnige Strang der elektrischen Platte entspre- chen würde, während die Nervenendungen ein ähnliches Verhalten in beiden Fällen zeigen. Nach dieser Betrachtungsweise würde ein Schüsselchen für sich je einem Kästchen der elektrischen Organe gleich- kommen. Die rundliche Form könne man sich aus ihrer isolirten Stellung erklären, und sie würden wahrschein- lich wie gewöhnlich eckig werden, wenn sie zur Bildung eines gemeinsamen elek- trischen Organs zusammenzurücken hät- ten. In der Bildung der elektrischen und pseudoelektrischen Organe herrscht an sich eine ähnliche Mannigfaltigkeit vor, wie bei diesen hier besprochenen Organen, deren Homologie durch die ähnliche Lage und Vertheilung über- zeugend ausgedrücktist. LeypıG glaubt, dass zwei Reihen von Bildungen dieser Art sich entwickelt haben, und dass die eine derselben von den Savi’schen Bläschen des Zitterorgans aus, durch das pseudoelektrische Organ des Gym- narchus niloticus und die schüsselartigen Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. Organe der Scopelinen hindurch, zu den echt elektrischen Organen führe. Die andere Reihe würde sodann die »augen- ähnlichen« Organe der Sternoptychiden umfassen, und diese Apparate wären es, welche auch bei den Larven der Fischmolche (Menopoma) und den Larven der Urodelen (Salamandra) aufträten. Dieses mehrfach beobachtete Vorkom- men auch bei Amphibien im Stadium ihrer Fischähnlichkeit, würde auf einen bestimmten Zusammenhang der Thätig- keit dieser Organe mit dem Wasserleben hindeuten, worin aber diese Thätigkeit besteht, ob Elektrizität entwickelt wird oder nicht, ist noch in ein völliges Dunkel gehüllt. Von mehreren Seiten sind diese Organe als Leuchtorgane aufge- fasst worden. Der erste Blick zeigt, dass Boden und seitliche Wand der schüsselförmigen Körper mit Silber- und Goldglanz »leuchten« aber nicht anders als etwa der Hintergrund eines mit Tapetum versehenen Fischauges. Auffälliger wird die Erscheinung an den grösseren Organen des Kopfes einzelner Arten, welche daher auch vorzugsweise als Leuchtapparat gedeutet wurden. Wenn aber die ganze Wirkung nur auf der Strahlung eines wie die gesammte Hautdecke der Fische mit Metallglanz versehenen Hohlspiegels, der die zer- streuten Strahlen sammelt, beruhete, so wäre der übrige komplicirte Bau des Organs, und die Innervation über- flüssig und um so unerklärlicher. Nun besitzen wir aber eine Beobachtung, aus der hervorzugehen scheint, dass diese Organe nicht blos Licht sammeln, son- dern wirklich phosphoresciren. Der früh- verstorbene treffliche Naturforscher der Challenger-Expedition WILLEMORS-SUHM sah die Scopelinen des Nachts phos- phoresciren: »Wie ein leuchtender Stern hing einer im Netz, als er Nachts heraufkam«, erzählt er und setzt hin- zu: »möglicherweise ist der Sitz des Lichtes in den eigenthümlichen Seiten- Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. organen und es mag diese Phosphores- cenz die einzige Lichtquelle in grossen Tiefen des Meeres sein.< Der Gedanke, dass in den finstern Abgründen der Tiefsee jedes Thier gleichsam seine Laterne, wie der Bergmann auf dem Kopfe trage, hat nun sehr viel Ver- führerisches, und in der That hat WiLur- MORS-SUHM noch mehrere andere Fische beobachtet, welche auf dem abgeplat- teten Kopfe und auf der Kopfbartel, mit »einem merkwürdig grossen Sinnes- organ« versehen waren. Auch VALEN- CIENNES hat von der Gattung Hemi- ramphus bemerkt, dass sie an der Spitze der Schnauze eine phosphorescirende,' starkglänzende Blase trage. Man könnte, da die Mehrzahl dieser Thiere niemals im lebenden Zustande beobachtet wurde, darnach jedoch auf die von Prof. Leypıe nicht diskutirte Meinung kommen, dass alle drei Categorieen von Apparaten als mehr oder weniger vollkommene Leuchtapparate fungiren, und wenn man seine Querschnitte der Apparate ver- gleicht, so wird diese nur auf den ersten Augenblick sonderbar erscheinende An- sicht äusserst wahrscheinlich. Nament- lich das augenähnliche Organ von Ar- gyropelecus und Ichthyococcus gleicht in seinem Querschnitt vollkommen dem Beleuchtungsapparate eines Projektions- Apparates. Denken wir uns die kör- nige Stelle im Mittelpunkte, in welche die Nervenfasern eintreten, als die im Mittelpunkte des Apparates stehende Lichtquelle, so befindet sich dahinter der Hohlspiegel und davor das Dia- phragma, trirte Strahlenkegel unter starker Bre- chung nach aussen geworfen werden würde. Auch bei den perlähnlichen Organen scheint, wenn wir die Dar- stellung von Prof. Leypıe richtig ver- standen haben, ein gewölbter lichtbre- chender Körper auf der nach aussen gewendeten Seite des Organs zu liegen. Wir würden also, wenn sich unsere Vermuthung bewährt, hier nicht durch welches der concen- 437 ein einfaches leuchtendes Organ, son- dern einen vollkommenen optischen Leucht-Apparat auf verschiedenen Stu- fen der Ausbildung vor uns haben, der das in ihm erzeugte phosphorische Licht mittelst Hohlspiegel und Linsen in möglichst koncentrirter Gestalt nach aussen wirft, und die betreffenden Fische wären mit Reihen kleiner knopfförmiger Leuchtapparate ganz und gar besetzt. Ich möchte zunächst hervorheben, dass diese Idee an sich durchaus nichts Abenteuerliches hat. Wie Prof. Leypıe selbst hervorgehoben hat, sind die »augenähnlichen«, die »perlähnlichen« und die ächten Leuchtorgane durchaus homologe Bildungen, und von den letz- teren, den einzigen, die man an einem lebenden Thiere beobachtet hat, wissen wir, dass sie ein stern- helles Licht ausstrahlen. Wenn nun die Natur in unserem Auge eine be- wunderungswürdige Camera obscura hergestellt hat, warum sollte sie nicht auch die viel einfachere Hohlspiegel- Linsen-Laterıne unserer Leuchtthürme hervorgebracht haben, vorausgesetzt na- türlich, dass ein solcher Apparat dem Thiere von Nutzen sein konnte. Ueber den Nutzen der Leuchtapparate ver- schiedener Thiere habe ich mich be- reits früher ausgesprochen, und zu zeigen gesucht, dass sie wahrschein- lich hauptsächlich als Schreckmittel dienen.* Jedenfalls dürfte die Ansicht aufzugeben sein, als sei das bei Tief- see-Thieren besonders verbreitete Leuch- ten ein Mittel, die purpurne Finsterniss da unten zu erhellen oder, wie man auch gemeint hat, die bunten Farben der Tiefsee-Thiere zu erzeugen; die im Finstern lebenden Thiere bedürfen des Lichtes jedenfalls nicht zu ihrer Exi- stenz, wie ja die vielen blinden Grot- tenthiere beweisen. Auch die Ansicht, dass der Leuchtfisch etwa mit dem neben seinem Auge stehenden Organ * Vgl. Kosmos Bd. VII, 8. 479. 438 seine Beute beleuchte, könnte nicht zur Erklärung etwaiger am Unterkörper stehender Leuchtapparate dienen, denn was diese beleuchten, können die Au- gen nicht sehen; wohl aber können diese Organe das Thier von weitem sicht- barer machen, und daher wie die Trutz- farbe der Oberweltthiere wirken, wenn es etwa zu den wegen üblen Geschma- ckes oder Geruches an sich gemiedenen gehört. Nur in einer solchen Weise würde sich unter anderen auch das Leuchtorgan eines auf der Challenger- Expedition aus einer Tiefe von 1900 Faden emporgezogenen Krusters, wel- cher nach dem ebengenannten Natur- forscher Willemoesia getauft wurde, deu- ten lassen, denn das Thier erwies sich als völlig blind. Prof. Levpıe macht darauf aufmerk- tam, dass das Leuchten meist nur eine 3egleiterscheinung sei, die auf der Aus- Prüfung wohl zu verdienen. Ussow u. Leydig, Die „augenähnlichen“ Organe der Fische. scheidung eines fettigen Körpers beruhe, und dass desshalb seine Deutung der hier in Rede stehenden Bildungen als elektrische und pseudoelektrische Or- gane nicht alterirt werde. Indessen möchten wir doch daran erinnern, dass das Leuchten mancher Thiere nach Köruıker’s Beobachtung unter dem Ein- fluss des Willens steht, so dass die Innervation phosphorescirender Organe nicht überflüssig erscheint, und dass nach JoussET DE BELLESME Johannis- würmchen sofort aufhören zu leuchten, sobald man die Kopfganglien entfernt. Uebrigens vermochten nach den Be- obachtungen des Letztgenannten elek- trische Reize das Leuchten ebenso stark zu erregen als Nervenreize, jedenfalls scheint mir die oben dargelegte neue Hypothese über die Bedeutung der augenähnlichen Flecken eine eingehende E. K. Erklärung Fig. 1 Argyropelecus hemigymmus, zweimal vergrössert. „ 2 Ichthyococcus ovatus, zweimal ver- grössert. „ > Augenähnliches Organ von der Bauch- kante des Argyropelecus hemigymmus im Längsschnitt, mässig vergrössert. 4 Das Organ der Nasengegend von Ich- thyococcus ovatus, mässig vergrössert im Längsschnitt. Unterschiede der zelligen Elemente in der „Linse“ und dem „Glaskörper“. Die Eintrittsstelle des Nervenbündels ist die gewöhnliche. „ > Längsschnitt des Auges von Stomias anguilliformisnach Ussow, mit Deut- der Tafel. ung als inneren Glaskörper (x), Linse (l), Netzhaut (r), Pigmentschicht (p), irisartige Einschnürung (@r) und Seh- nerv (n). Mässig vergrössert. ScopelusRissoi mit „glasperlenartigen“ Organen ?/ı. Zwei „glasperlenartige“Organe von der Seite des Scopelus Humboldt. Gering vergrössert, bei auffallendem Lichte. »„ 5 Scopelus Rafınesqwü, zweimal ver- grössert; in der Augengegend die bei- den leuchtenden Organe. » 9 Schwanzende von Scopelus Humbold- tii, mit „glasperlenähnlichen“ Organen und dem grossen Perlileck. Fig. 6 =] Sämmtliche Figuren (mit Ausnahme der fünften) nach Prof. Lrypıs’s Abbildungen kopirt. Staatliche Einrichtungen. Von Herbert Spencer. IN. Vertretungskörper. Trotz aller Mannichfaltigkeit und trotz des verwickelten Baues der staat- lichen Organisation hat es sich doch als nicht unmöglich herausgestellt, mit eini- ger Bestimmtheit zuerkennen, auf welche Weise einfache und zusammengesetzte Staatsoberhäupter sich entwickeln und wie unter gewissen Bedingungen beide als Herrscher und berathender Körper sich vereinigen. Etwas schwieriger aber erweist es sich, herauszufinden, wie ein Vertretungskörper entsteht, denn so- wohl der Vorgang als sein Product sind hier viel variabler. Wir müssen uns da- her mit weniger genauen Ergebnissen beenügen. Wie bisher, so müssen wir auch hier auf den Anfang zurückgehen, um den eigentlichen Schlüssel zu finden. In je- nem frühesten Stadium der wilden Horde, wo es noch keine andere Uebermacht gab als diejenige des Mannes, dessen Stärke oder Muth oder Schlauheit ihm ein gewisses Uebergewicht verlieh, wird | der erste Schritt zur Praxis der Wahl gethan — zu einer willkürlichen Er- wählung eines Anführers im Kriege. Ueber das Verhalten roher Stämme bei Wahlen schweigen leider die Reisenden; wahrscheinlich kommen sehr verschie- dene Methoden in Anwendung. Wir haben aber Berichte über Wahlen, die von europäischen Völkern in früheren Zeiten vorgenommen wurden. Im alten Scandinavien wurde der Häuptling einer Provinz von dem versammelten Volk erwählt und dann »inmitten des Ge- töses der Waffen und des Rufens der Menge emporgehoben«, und bei den alten Germanen wurde er auf einem Schild herumgetragen. Diese Ceremonie erinnert ganz an die bis zu den neue- ren Zeiten übliche formelle Einsetzung eines neu erwählten Parlamentsmitglie- des, und wenn wir bedenken, dass jede Wahl ursprünglich bei uns selbst durch Aufheben der Hände vollzogen wurde, so ersehen wir leicht, dass die Wahl eines Vertreters einstens identisch war mit der Wahl eines Häuptlings. Unser Unter- haus hat seine Wurzel in localen Ver- sammlungen gleich denen, in welchen uncivilisirte Stämme ihre Kriegshäupt- linge erwählen. Neben der bewussten Wahl kommt bei rohen Völkern auch eine Wahl durch das Loos vor. Die Samoaner z. B. drehen eine Cocusnuss wirbelnd herum, und derjenige unter den Umstehenden, auf welchen sie beim zur Ruhekommen mit der Spitze hinweist, wird von ihnen als gewählt betrachtet. Auch alte hi- 440 storische Völker bieten uns Beispiele hiefür, wie z. B. die Juden in der Ge- schichte von Saul und Jonathan oder die homerischen Griechen, als sie einen Helden bestimmten, um mit Hektor zu kämpfen. In diesen beiden letzteren Fällen war zugleich ein Glaube an übernatür- liche Einwirkung vorhanden: man dachte, das Loos werde auf göttliche Weise bestimmt. Und wahrscheinlich war die Wahl durch das Loos zu staatlichen Zwecken bei den Athenern und zu krie- gerischen Zwecken bei den Römern, so- wie auch in späteren Zeiten die Ver- wendung des Looses, um Abgeordnete zu wählen, wie in einigen italienischen Republiken und in Spanien (so z. B. in Leon während des 12. Jahrhunderts) von einem ähnlichen Glauben beein- flusst, obgleich unzweifelhaft auch der Wunsch, Reichen und Armen gleiche Chancen zu geben oder vielleicht auch oft Jemand ohne Widerspruch eine Auf- gabe übertragen zu können, die lästig oder gefährlich war, unter den Beweg- gründen mitsprach oder sogar haupt- sächlich dazu beitrug. Hier jedoch in- teressirt uns nur die Thatsache, dass auch dieser Wahlmodus, welcher in der Vertretung eine grosse Rolle spielt, bis auf die Gebräuche der primitiven Völ- ker zurückverfolgt werden kann. Ebenso finden wir auch den Pro- cess der Abordnung bereits in Umris- sen angedeutet. Gruppen von Menschen, welche Unterhandlungen eröffnen oder ihre Unterwerfung anzeigen oder Tri- but senden wollen, bezeichnen gewöhn- lich einzelne aus ihrer Anzahl, die in ihrem Namen handeln sollen. In sol- chen Fällen ist in der That die Me- thode mit Nothwendigkeit vorgeschrie- ben, da eben ein ganzer Stamm nicht wohl als solcher derartige Handlungen ausführen ‘kann. Daraus ergibt sich auch, dass die Bezeichnung von Ver- tretern im ersten Stadium aus densel- ben Ursachen entsprungen ist, welche Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. in späteren Zeiten diesen Gebrauch von neuem aufleben lassen. Denn wie der Wille des Stammes sich zwar in einer Versammlung desselben leicht allen eige- nen Mitgliedern, nicht aber ebenso den übrigen Stämmen kundgeben lässt, son- dern, wo es sich um Angelegenheiten zwischen mehreren Stämmen handelt, durch Abgeordnete mitgetheilt werden muss, so sind auch in einem grossen Volke die Bewohner jeder Oertlichkeit zwar wohl im stande, sich local selbst zu regieren, nicht aber mit Bewohnern entfernterer Localitäten zu Berathungen zusammenzukommen, welche sie alle be- treffen, und sie müssen daher eine oder mehrere Personen hinschicken, um ihren Willen auszudrücken. In beiden Fällen wird durch die Entfernung die directe Aussprache der Volksstimme in eine in- directe Uebermittlung verwandelt. Bevor wir jedoch nun auf die Be- dingungen eintreten, unter welchen diese auf die eine oder andere Weise getrof- fene Auswahl von Einzelnen zu bestimm- ten Aufgaben bei der Bildung eines Ver- tretungskörpers in Uebung kommt, müs- sen wir noch mehrere Classen von Er-. scheinungen ausschliessen, die für un- sere vorliegende Untersuchung keine Bedeutung haben. Obgleich die Ver- tretung, wie man sie gewöhnlich auf- fasst und wie sie auch hier betrachtet werden soll, sich in der Regel mit einer volksthümlichen Regierungsform ver- knüpft, so ist doch dieser Zusammen- hang kein nothwendiger. An vielen Or- ten und zu manchen Zeiten hat Ver- tretung zusammen mit vollständiger Aus- schliessung der Massen von der Ge- walt bestanden. In Polen war sowohl vor als nach Annahme der sogenannten republikanischen Form der centrale Reichstag aus vom König ernannten Se- natoren zusammengesetzt, ausserdem aber hauptsächlich aus Adeligen, wel- che in den Provincialversammlungen des Adels erwählt worden waren: — die grosse Masse des Volkes blieb voll- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ständig machtlos und bestand meistens aus Leibeigenen. Auch in Ungarn bil- dete bis in die neuesten Zeiten die pri- vilegirte Classe, welche auch, selbstnach- dem sie sehr stark zugenommen hatte, doch nur «ein Zwanzigstel von der Ge- »sammtzahl dererwachsenen Männer aus- »machte«, ausschliesslich die Grundlage der Vertretung. >»Ein ungarisches Co- »mitat konnte vor den Reformen von »1848 als directe aristokratische Re- »publik bezeichnet werden«: alle Glieder des Adelsstandes hatten nämlich das Recht, die locale Versammlung zu be- suchen und bei der Wahl eines Adels- vertreters für den allgemeinen Landtag ihre Stimme abzugeben; die niederen Classen aber hatten keinerlei Antheil an der Regierung. Ausser diesen Vertretungskörpern von exclusiv aristokratischer Art sind aber noch andere zu nennen, welche nicht in das, Gebiet dieses Capitels fallen. Wie Duruy bemerkt, »war das >» Alterthum nicht so unbekannt mit dem »Vertretungssystem, wie man gewöhn- »lich annimmt. zu: . .... Jede römische »Provinz hatte ihre allgemeinen Ver- »sammlungen. ... . . So besassen die »Lycier einen wahren gesetzgebenden »Körper, welcher aus den Abgeordneten »ihrer dreiundzwanzig Städte bestand. >» ...... Diese Versammlung hatte so- »gar ausübende Befugnisse«; und Pavia, Gallien, Spanien, alle östlichen Provinzen und Griechenland hatten ähnliche Ver- sammlungen. Allein so wenig auch hierüber bekannt ist, so darf man doch wohl mit Recht annehmen, dass die- selben in ihrer Entstehung sowohl als in ihrer Stellung nur eine entfernte Ver- wandtschaft zu den Körperschaften zeig- ten, welche wir jetzt als Vertretungs- körper unterscheiden. Ebenso wenig haben wir es hier mit regierenden Sena- ten und Räthen zu thun, welche durch verschiedene Abtheilungen einer Stadt- bevölkerung erwählt werden, wie z. B. diejenigen, die in den italienischen Re- Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX), 441 publiken sich aufdie verschiedenste Weise ausbildeten — alles Körperschaften, die einfach als Werkzeuge dienten und deren Handlungen der unmittelbar sich aus- drückenden Billigung oder Missbilligung von seiten der versammelten Bürger- schaft unterworfen waren. Hier müssen wir uns auf jene Art der Vertretung beschränken, welche in Gemeinschaften auftritt, die ein so weites Gebiet be- wohnen, dass ihre Mitglieder genöthigt sind, die ihnen zukommende Gewalt durch Abgeordnete auszuüben, und ferner haben wir ausschliesslich solche Fälle zu betrachten, in welchen die versam- melten Abgeordneten nicht etwa bereits vorhandene Staatseinrichtungen ver- drängen, sondern mit denselben zusam- menwirken. Wir werden am besten damit be- ginnen, genauer als bisher zu unter- suchen, welcher Theil des primitiven Staatsgebildes es ist, aus dem der Ver- tretungskörper in der hier näher be- zeichneten Auffassung hervorgeht. Im allgemeinen ist diese Frage schon stillschweigend durch den Inhalt der vor- hergehenden Capitel beantwortet worden. Denn wenn sich bei Gelegenheit öffent- licher Berathungen die primitive Horde von selber in die untergeordnete Menge und die wenigen Höheren scheidet, unter welchen letzteren meist Einer den gröss- ten Einfluss besitzt, und wenn im Ver- laufe der mehrfach wiederholten Zu- sammensetzung von Gruppen, welche der Krieg mit sich bringt, der aner- kannte Kriegshäuptling sich zu einem König entwickelt, während die wenigen Höherstehenden zu dem aus den klei- neren Kriegsführern zusammengesetzten berathenden Körper werden, so ergibt sich von selbst, dass, wenn überhaupt noch eine dritte coordinirte Gewalt im Staate vorhanden ist, dieselbe entweder aus der Masse der Untergebenen selbst oder aus irgend einer in ihrem Namen wirkenden Einrichtung bestehen muss. | So selbstverständlich dies auch erschei- 30 442 nen mag, so ist es doch nicht über- flüssig, hier noch besonders diesen Um- stand zu betonen, da wir vor dem Be- ginn der Untersuchung darüber, unter welchen Verhältnissen die Ausbildung eines Vertretungssystems aus der Stärk- ung der Volksgewalt hervorgeht, erst die zwischen beiden stattfindenden Be- ziehungen genau kennen lernen müssen. Indem die undifferenzirte Masse in einfachen, noch nicht staatlich organi- sirten Gesellschaften immerhin eine ge- wissermaassen latente Gewalt behält, obgleich sie mehr oder weniger unter- drückt wird, sobald der Krieg eine Unterwerfung zu stande bringt und Eroberungen zu Classendifferenzirungen führen, strebt sie doch, so oft die Ver- hältnisse es gestatten, immer von neuem wieder zur Geltung zu gelangen. Die Gefühle und Ansichten, welche sich all- mählich ausgebildet und überliefert haben und nun in gewissen Stadien der socia- len Entwicklung die Menge veranlassen, sich Wenigen zu unterwerfen, werden unter anderen Umständen gar oft von anderen Gefühlen und Ansichten durch- kreuzt. Schon mehrfach wurde im Vor- beigehen auf diese Erscheinungen Rück- sicht genommen. Hier müssen wir die- selben der Reihe nach und ausführlicher betrachten. Ein wesentlicher Factor in der Ent- wicklung der patriarchalischen Gruppe “ während des Hirtenstadiums war, wie sich zeigte, die Begünstigung der Unter- ordnung unter das Oberhaupt durch den Krieg, weil eben beständig jene Gruppen am Leben blieben, in welchen die Unter- ordnung am grössten war. Wenn dem so ist, so folgt umgekehrt daraus, dass ein Aufhören der Kriege dahin strebt, die Unterordnung zu vermindern. Wäh- rend die Glieder der zusammengesetzten Familie ursprünglich dicht zusammen- lebten und mit einander eng verbunden kämpften, schliessen sie sich nun immer weniger aneinander an, je seltener sie Gelegenheit haben, unter ihrem Ober- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. haupte zu gemeinsamer Abwehr zu- sammenzuwirken. Je friedlicher daher ein Staat ist, desto unabhängiger werden die sich vermehrenden Abtheilungen, welche die Familie, die Phratrie und den Stamm bilden. Mit dem Fortschritt des industriellen Lebens entsteht auch eine grössere Freiheit des Handelns — besonders bei den nur noch entfernt mit einander verwandten Gliedern der Gruppe. Dasselbe muss sich auch in einer nach feudalen Grundsätzen regierten Gruppe zeigen. Wenn beständige Streitig- keiten mit den Nachbarn fortwährend zu localen Gefechten führen — wenn bewaffnete Haufen bereit stehen und die Untergebenen von Zeit zu Zeit zum Kampfe aufgerufen werden müssen — wenn als Begleiterscheinung des Kriegs- dienstes Nachdruck auf Ehrfurchtsbe- zeugungen gelegt wird, so erhält sich von selbst eine strenge Unterordnung aufrecht, welche die ganze Gruppe durch- dringt. Sobald aber die Angriffe und Rachezüge weniger häufig werden, er- scheint auch das Tragen von Waffen nicht mehr so nothwendig. Es ergeben sich weniger Gelegenheiten für die perio- dische Bekräftigung der Lehnspflichten und dem entsprechend nehmen jene all- täglichen Handlungen zu, welche ohne die Leitung eines Oberen ausgeführt werden und damit eine Steigerung der Selbständigkeit des Charakters begün- stigen. Diese Veränderungen werden noch gefördert durch die allmähliche Besei- tigung von abergläubischen Ansichten in betreff der Natur des allgemeinen oder localen Oberhauptes. Wie früher gezeigt wurde, dient die Annahme eines übernatürlichen Ursprungs oder über- natürlicher Gewalt des Königs wesent- lich dazu, seine Hände zu kräftigen, und wo den Häuptlingen mehrerer zu- sammengehöriger Gruppen eine Heilig- keit zukommt, welche auf der Bluts- verwandtschaft mit dem von allen ver- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. ehrten, halbgöttlichen Vorfahren beruht, oder wo sie Glieder einer erobernden, von Gott abgeleiteten Race sind, da wird ihre Autorität über alle ihre Unter- gebenen bedeutend gestärkt. Dem ent- sprechend muss denn auch Alles, was diese Vorfahrenverehrung und das da- mit verbundene Glaubenssystem unter- gräbt, das Wachsthum der Volksgewalt begünstigen. Unzweifelhaft war die Ausbreitung des Christenthums über Europa dadurch, dass es das Prestige der grösseren und kleineren Herrscher herabsetzte, wesentlich in dem Sinne wirksam, dass es einer grösseren Un- abhängigkeit der Beherrschten vorar- beitete. Diese Ursachen haben verhältniss- mässig geringe Wirkung, wo das Volk zerstreut lebt. In ländlichen Bezirken wird die Autorität des Staatsoberhaup- tes verhältnissmässig sehr langsam ab- geschwächt. - Selbst wenn lange Frie- denszeiten herrschen und die localen Häupter ihren göttlichen Charakter längst verloren haben, so haften ihnen doch noch Ehrfurcht einflössende Ueber- lieferungen an: sie sind nicht von ge- wöhnlichem Fleisch und Blut. Der Reich- thum, welcher während längerer Zeiten den Edelmann ausschliesslich auszeich- net, verleiht ihm sowohl thatsächliche Gewalt als auch den aus der Kund- gebung derselben entspringenden Ein- fluss. Indem die verschiedenen Stände seiner Untergebenen, so lange wenig- stens die Fortbewegung von einem Orte zum andern noch schwierig ist, buch- stäblich oder wenigstens thatsächlich auf der Scholle festsitzen, bleibt er indessen für sie das einzige Beispiel eines grossen Mannes: von anderen weiss man nur durch Hörensagen, er aber ist aus Erfahrung bekannt. Leicht kann er auch seine unmittelbaren und mittelbaren Untergebeneu beaufsichti- gen und der Unehrerbietige oder Auf- rührerische kann, wenn auch vielleicht nicht öffentlich bestraft, so doch aus 445 dem Dienst gejagt oder sonstwie in seinem Leben beeinträchtigt werden, so dass er sich entweder unterwerfen oder auswandern muss. Bis auf unsere Zei- ten herab lässt sich im Benehmen der Bauern und Landleute überhaupt gegen den Edelmann wohl erkennen, welch strenger Zwang die Landbevölkerung - noch in halbfreiem Zustand gebunden hielt, nachdem die primitiven zwingen- den Einflüsse längst weggefallen waren. Gerade entgegengesetzte Wirkungen dürfen wir unter entgegengesetzten Be- dingungen zu finden erwarten, da näm- lich, wo grosse Volksmengen sich dicht zusammenhäufen. Selbst wenn solche grosse Mengen aus Gruppen bestehen, die ihrerseits den einzelnen Clansober- häuptern oder Feudalherren unterworfen sind, so wirken doch verschiedene Ein- flüsse zusammen, um die Untergeben- heit zu vermindern. Finden sich an demselben Orte mehrere Herren zu- sammen, denen ihre Untergebenen je- weils Gehorsam schuldig sind, so wer- den diese Herren sich leicht gegenseitig herabsetzen. Die Macht des Einzelnen unter ihnen erscheint nicht so impo- nirend, wenn man täglich andere sieht, welche denselben Rang zur Schau tragen. Wenn ferner Gruppen von Abhängigen sich mit einander vermischen, so lässt sich die Oberaufsicht von seiten ihrer Herren nicht mehr so leicht ausführen. Und was die Ausübung der Controle verhindert, das begünstigt anderseits die nähere ‘Verbindung zwischen den zu Controlirenden: jede Verschwörung ist erleichtert und die Entdeckung der- selben erschwert. Da ferner die Häup- ter solcher zusammengedrängter Grup- pen unter diesen Umständen leicht auf einander eifersüchtig sein werden, so ist für jeden Einzelnen der Antrieb ge- geben, sich möglichst zu stärken, und es liegt die Versuchung nahe, zu die- sem Zwecke sich um die Volksgunst zu bewerben und daher den Zwang über seine eigenen Untergebenen locke- 30 * 4-44 rer werden zu lassen und den von an- deren Herren schlecht behandelten Un- tergebenen Schutz zu gewähren. Noch mehr wird ihre Macht unterwühlt, wenn in diese Gruppen zahlreiche Fremde aufgenommen werden. Wie schon früher erwähnt, begünstigt diese Ursache vor allem anderen die Ausbildung der Volks- gewalt. In dem Maasse, als die Zahl der Einwanderer zunimmt, welche sich von den Familien oder feudalen Ab- theilungen abgelöst haben, denen sie bisher angehörten, tragen sie auch immer mehr zur Schwächung des inne- ren Baues der Abtheilungen bei, in welche sie eingetreten sind. Jede Or- ganisation, in welche diese Fremden aufgenommen werden, muss nothwendig eine lockerere Gestalt bekommen und ihr Einfluss wirkt als auflösendes Mittel auch auf alle sie umgebenden Organi- sationen ein. Hier werden wir denn abermals auf jene Wahrheit zurückgeführt, welche man nicht genug betonen kann, dass nämlich das Wachsthum der Volks- gewalt überall mit der Handelsthätig- keit verbunden ist. Denn nur durch Handelsthätigkeit können viele Men- schen in den Stand gesetzt werden, in näherer Berührung mit einander zu leben. Die physikalische Nothwendig- keit bedingt auf die Dauer eine weite Zerstreuung der Landbevölkerung, wäh- rend ebenso die physikalische Noth- wendigkeit die Ansammlung derjenigen veranlasst, welche sich mit Handel be- schäftigen. Die Mittheilungen aus ver- schiedenen Ländern und Zeiten lassen erkennen, dass periodische Versamm- lungen zur Abhaltung von religiösen Festlichkeiten oder zu anderen öffent- lichen Zwecken die ersten Gelegenheiten zum Kaufen und Verkaufen bieten, die regelmässig benutzt werden, und dieser Zusammenhang zwischen der Anhäufung vieler Menschen und dem Austausch von Lebensbedürfnissen, der sich an- fänglich nur in bestimmten Zwischen- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. räumen geltend macht, wird zu einem dauernden Zusammenhang, wo viele Menschen bleibend zusammenleben — wo eben eine Stadt in der Nähe eines Tempels oder rings um einen festen Platz oder sonst an einer Stelle ent- steht, deren locale Verhältnisse irgend welche Gewerbsthätigkeit begünstigen. Die industrielle Entwicklung unter- stützt ferner die Emancipation des Volkes, indem sie einen neuen Stand schafft, dessen Macht auf seinem Reich- thum beruht und der deshalb mit der Macht derjenigen, welche früher allein wohlhabend waren, der Männer von höherem Rang, zu wetteifern und sie in manchen Fällen sogar zu übertreffen beginnt. Während daraus ein Wett- streit entsteht, welcher den früher durch die patriarchalischen oder feudalen ÖOberhäupter allein ausgeübten Einfluss herabsetzt, wird es zugleich ein Anlass zu einer milderen Form der Unter- ordnung. Da gerade im ersten Anfang der reiche Kaufmann in der Regel aus der nicht privilegirten Classe hervorgeht, so ist das Verhältniss zwischen ihm und den unter ihm Stehenden ein sol- ches, welches die Idee der persönlichen Unterwerfung ausschliest. Je mehr also die industriellen Thätigkeiten über- wiegen, desto mehr verbreitet sich auch ein Zusammenhang zwischen Arbeit- gebern und Arbeitern, welcher sich von dem Verhältniss zwischen Herrn und Sclaven oder zwischen feudalem Ober- haupt und Vasall dadurch unterschei- det, dass er keine Unterthanenpflichten einschliesst. Unter den früheren Be- dingungen konnte der Gedanke an ein abgelöstes Einzelleben gar nicht auf- kommen — an ein Leben, das weder von einem Familien- oder Feudaloberhaupte Schutz empfängt, noch auch in Unter- ordnung unter dasselbe geführt wird. In städtischen Bevölkerungen aber, die sich zu einem guten Theil aus Flücht- lingen zusammensetzen, welche ent- weder Kleinhändler sind oder von an- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. deren angestellt werden, verbreitet sich immer mehr die Erfahrung von der Mög- lichkeit eines verhältnissmässig unab- hängigen Lebens und diese Vorstellung tritt immer deutlicher hervor. Diejenige Form des Zusammenwir- kens nun, welche den auf solche Weise entstehenden industriellen Staat aus- zeichnet, begünstigt stets auch die Gefühle und Gedanken, welche für die Entwicklung der Volksmacht geeignet sind. Im täglichen Verkehr findet eine Ausgleichung aller Ansprüche statt und die Vorstellung von Billigkeit wird Gene- ration um Generation bestimmter aus- gestaltet. Das Verhältniss zwischen Arbeitgeber und Arbeiter und zwischen Käufer und Verkäufer lässt sich nur unter der Bedingung aufrechterhalten, dass die übernommenen Verpflichtungen von beiden Seiten erfüllt werden: wo dies nicht geschieht, da fällt das Ver- hältniss auseinander und es bleiben eben nur jene Verhältnisse in Kraft, wo die Erfüllung der Pflichten statt- findet. Mit dem Erfolge der Handels- thätigkeit und der Zunahme der Be- völkerung sind daher als unvermeid- liche Begleiterscheinungen verbunden die Aufrechterhaltung der billigen An- sprüche aller Betheiligten und die Kräf- tigung des Selbstbewusstseins derselben. Kurz also, der Fortschritt des In- dustrialismus löst in verschiedenster Weise das alte Verhältniss des Status und setzt das neue Verhältniss des Vertrages an seine Stelle (um mich der Antithese von Sir Hzsey MAme zu be- dienen), und dadurch führt er Volks- massen zusammen, welche durch ihre Verhältnisse befähigt und durch ihre Schulung dazu angetrieben werden, die staatliche Organisation, welche ihnen aus kriegerischen Zeiten überliefert wor- den ist, entsprechend umzugestalten. In der Regel pflegt man zu sagen, dass freie Regierungsformen durch glück- liche Zufälle ins Leben gerufen worden 445 seien. Streitigkeiten zwischen verschie- denen Gewalten im Staate oder zwi- schen verschiedenen Parteien haben die eine oder andere veranlasst, sich um die Unterstützung des Volkes zu bewerben, mit dem Resultate, dass die Volksmacht sich dabei kräftigte. Die Eifersucht des Königs gegen die Ari- stokratie hat ihn bestimmt, dass er die Sympathie des Volkes — manchmal der Leibeigenen, häufiger aber der freien Bürger — zu gewinnen sucht und sie daher irgendwie begünstigt, oder das Volk hat auf andere Weise aus einem Bündniss mit der Aristokra- tie zum Widerstand gegen königliche Tyrannei und Bedrückung Vortheil ge- zogen. Es ist kein Zweifel, dass sich die Thatsachen in dieser Weise dar- stellen lassen. Jeder Streit bedingt gewöhnlich den Wunsch nach Bundes- genossen und im ganzen mittelalter- lichen Europa, so lange die Kämpfe zwischen den Königen und dem Adel an der Tagesordnung waren, galt die Unterstützung der Städte für einen wichtigen Factor. Deutschland, Frank- reich, Spanien, Ungarn liefern uns Bei- spiele die Menge. Es wäre aber irrthümlich, wenn man Freignisse dieser Art als die wirklichen Ursachen der Volksgewalt betrachten wollte. Sie sind vielmehr nur als die Bedingungen aufzufassen, unter denen die Ursachen in Wirkung treten. Diese gelegentlichen Schwä- chungen der bisher bestehenden Ein- richtungen geben blos der angesammel- ten Kraft, welche staatliche Verände- rungen durchzuführen bereit ist, die geeignete Gelegenheit, sich zu bethä- tigen. Drei Factoren lassen sich in dieser Kraft unterscheiden: die relative Masse derjenigen, welche die indu- strielle Gemeinschaft zusammensetzen, zum Unterschiede von denen, welche noch der älteren Organisationsform an- gehören; dann die bleibenden Gefühle und Gedanken, die in ihnen durch ihre 446 Lebensweise erzeugt werden, und end- lich die zeitweiligen Erregungen, welche durch besondere Fälle der Unterdrü- ckung oder des Unglücks wachgerufen werden. Ueberschauen wir kurz das Zusammenwirken dieser Factoren. Die Demokratie von Athen bietet uns zwei Beispiele dar, die auch der Zeit nach die ersten sind. Der solo- nischen Gesetzgebung ging ein Zustand voraus, in welchem gewaltige Streitig- keiten zwischen den politischen Par- teien an der Tagesordnung waren, und zugleich bestand «eine allgemeine Auf- «]Jehnung der ärmeren Bevölkerung gegen «die reiche wegen ihres mit Bedrückung «verbundenen Elendes». Die ausge- dehntere Vertheilung der Gewalt, welche die von Kleisthenes angeregte Revo- lution zu stande brachte, fand unter ähnlichen Umständen statt. Die ver- hältnissmässig unruhige Bevölkerung der eingewanderten Händler hatte sich in der Zeit von Solon bis zu Klei- sthenes so vermehrt, dass die vier ur- sprünglichen Tribus, welche die Bevöl- kerung von Attika bildeten, auf zehn vermehrt werden mussten. Und diese vergrösserte Masse, die sich haupt- sächlich aus Menschen zusammensetzte, welche nicht unter der Familiendis- ciplin standen und sich daher viel weniger leicht von den herrschenden Classen im Zaume halten liessen, ver- schaffte sich nun selbst zu einer Zeit, wo die herrschenden Classen unter sich uneinig waren, die Obergewalt. Obgleich berichtet wird, dass Kleisthenes, «nach- »dem erin einem ParteistreitseinemRiva- »len unterlegen war, das Volk zu sich »heranzog» — obgleich also die ganze Umwandlung so dargestellt wird, als sei sie nur durch persönliche Verhält- nisse veranlasst worden, so ist doch klar, dass ohne jenen massenhaften Volkswillen, der schon längst im Wachs- thum begriffen war, die staatliche Um- gestaltung nicht möglich, oder wenn sie stattgefunden hätte, nicht auf die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Dauer festzuhalten gewesen wäre. Die Bemerkung, welche GroTE aus ARISTO- TELES citirt, «dass Aufstände durch «grosse Ursachen, aber durch kleine «Anlässe erzeugt werden», lässt sich mit vollem Rechte auch hier anwenden, wenn wir nur die kleine Aenderung anbringen, statt «Aufstände» zu schrei- ben «staatliche Veränderungen». Denn sobald diese Volksgewalt einmal sich geltend zu machen im stande war, konnte sie offenbar nicht ohne wei- teres wieder ausgeschlossen werden. Kleisthenes hätte unter solchen Um- ständen unmöglich einer so grossen Masse von Menschen Einrichtungen auf- erlegen können, die mit ihrem eigenen Willen in Widerspruch gestanden hätten. Thatsächlich war es also die Entwick- lung der industriellen Macht, welche damals die demokratische Organisation hervorrief und sie auch später erhielt. Wenden wir uns nach Italien, so be- merken wir zunächst, dass die Auf- richtung der kleinen Republiken, von der früher erwähnt wurde, dass sie gleich- zeitig mit dem Verfall der Kaisermacht stattgefunden habe, hier abermals be- sonders im Hinblick darauf angezogen werden kann, dass sie mit jenem Wider- streit der Autoritäten zusammenfiel, welcher seinerseits diesen Verfall ver- ursachte. So sagt Sısmoxpı: „Der In- »vestiturstreit war es, welcher diesem »allgemeinen Geiste der Freiheit und der »Vaterlandsliebe in sämmtlichen Ge- »meinwesen der Lombardei, Piemonts, »Venetiens, der Romagna und Toscanas »Flügel verlieh.« Mit andern Worten, während der Kampf zwischen Kaiser und Papst die Kräfte beider in Anspruch nahm, gelang es dem Volke, seine Macht geltend zu machen. Und in späterer Zeit bot auch Florenz ein im wesent- lichen gleiches, wenn auch in der Form etwas verschiedenes Beispiel dar. „Zu der Zeit, wo „Florenz die Mediei „vertrieb, war diese Republik ein Spielball „dreier verschiedener Parteien“. Savonarola Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. „benutzte diesen Stand der Dinge, um darauf „zu dringen, dass das Volk seine Macht sich "selbst vorbehalte und sie durch einen Rath „ausübe.e Man befolgte seinen Vorschlag „und am ‚1. Juli 1495 "wurde dieser Rath als „oberste Gewalt eingesetzt‘.* Auch in Spanien stärkte sich die Volksmacht inmitten der Unruhen, wel- che während der Minderjährigkeit Fer- nando IV. herrschten, und von den perio- dischen Versammlungen, zu denen später die Abgeordneten bestimmter Städte zu- sammentraten (dieselben fanden ohne Er- laubniss der Regierung statt), lesen wir: „Dem Wunsche der Regierung, die auf- „strebenden Pläne der Infantes de la Cerda - „und ihrer zahlreichen Anhänger zu vereiteln, "musste die Wohlgeneigtheit dieser Versamm- "lungen als unentbehrliches Mittel zu diesem „Zwecke erscheinen. Die Streitigkeiten wäh- "rend der Minderjährigkeit von Alphonso XI. "begünstigten mehr als je die Prätensionen „des dritten Standes. Jeder Candidat für die "Regentschaft bewies den städtischen Autori- „täten aufs eifrigste sein Wohlwollen, in der "Hoffnung, dadurch die nöthigen Stimmen zu "erhalten. Wie sehr aber all das nur eine Folge der war, geht daraus hervor, dass viele, ja fast alle diese verbündeten Städte in einer früheren Periode durch Wieder- besiedelung von Gegenden entstanden waren, die während der langen Kämpfe zwischen Mauren und Christen verödet waren, und dass diese »Poblaciones« oder Gemeinwesen von Colonisten, die, über weite Strecken zerstreut, zu blühenden Städten heranwuchsen, sich aus Leib- eigenen und Handwerkern zusammen- gesetzt hatten, denen durch königliche Urkunde verschiedene Privilegien mit Einschluss desjenigen der Selbstregierung verliehen worden waren. Hiezu kommt nun noch das uns allen bekannte Bei- spiel. Während des Kampfes zwischen König und Baronen, als die Parteien sich ‚nahezu das Glbichossuch; hielten und die Bevölkerung der Städte durch den Handel so zugenommen hatte, dass ihre Hilfe wichtig wurde, fingen letztere industriellen Entwicklung. 447 zuerst an, eine bemerkenswerthe Rolle zu spielen, zunächst als Verbündete im Kriege, bald auch als Antheilhaber an der Regierung. Es ist nicht zu be- zweifeln, dass Simon von Montfort, als er zu dem Parlament von 1265 nicht blos Ritter der Grafschaft, sondern auch Abgeordnete der Städte und Burgflecken berief, dabei von dem Wunsche beseelt war, sich auf diese Weise der vom Papst unterstützten königlichen Partei gegen- über möglichst zu stärken. Und ob er nun dadurch die Zahl seiner Anhänger zu vermehren oder grössere (Geldmittel zu erlangen suchte, jedenfalls war die Folge davon, dass die Stadtbevölkerung ein relativ wichtiger Theil der Nation wurde. Diese Auffassung stimmt mit späteren Ereignissen zusammen. Denn obgleich die Vertretung der Städte nach- her unterblieb, so lebte sie doch bald wieder auf und wurde 1295 auf die. Dauer eingeführt. Wie Humz mit Recht bemerkt, hätte eine solche Einrichtung »nicht ein so kräftiges Wachsthum zeigen »und inmitten all der Stürme und Um- »wälzungen nicht so aufblühen können«, wenn nicht »die Nation bereits durch die »allgemeinen Verhältnisse darauf vor- »bereitet gewesen wäre«, wobei wir nur zu ergänzen haben, dass unter jenen all- gemeinen Verhältnissen, eben die ver- mehrte Masse und der in Folge dessen vermehrte Einfluss der freien industriel- len Gemeinwesen zu verstehen ist. Eine Bestätigung unseres Satzes finden wir in den Fällen, welche zeigen, dass die vom Volke während der Zeiten, wo die Macht des Königthums und der Aristokratie durch Zwiespalt gesunken war, errungene Gewalt wieder‘ verloren geht, wenn, während die alte Organi- sation ihre frühere Festigkeit und leb- hafte Wirkung wiedererlangt, die in- dustrielle Ausbildung keine entsprech- enden Fortschritte macht. Spanien oder genauer Castilien ist ein Beispiel hievon. Nachdem sich jene industriellen Gemein- wesen, die aus der Colonisation der 448 wüsten Gegenden hervorgegangen waren, ihren Antheil an der Regierung erkämpft hatten, sank derselbe nach Verlauf eini- ger Regentschaften, die sich durch Kriege und innere Befestigung des Staates aus- zeichneten, auf einen blos noch nominel- len Anspruch herab. Es ist lehrreich, zu beobachten, wie jene ursprüngliche Veranlassung zum Zusammenwirken, welche zu socialer Ver- einigung im allgemeinen führt, auch später noch fortwirkt, um innerhalb einer ganzen Gesellschaft kleinere Ver- einigungen hervorzurufen. Denn gerade wie kriegerisches Verhalten nach aussen hin die Organisation des ganzen Staates in’s Leben ruft und weiterbildet, so wirkt auch kriegerisches Verhalten im Innern auf die Organisation der einzelnen Theile zurück, selbst wenn ihre Thätigkeit vor- wiegend industriell, sie selbst also nicht eigentlich kriegerisch organisirt sind. Prüfen wir die Geschichte dieser an- wachsenden Volksmassen, welche die Städte bilden und deren Leben sich vorzugsweise durch beständigen Aus- tausch von Dienstleistungen nach gegen- seitiger Uebereinkunft kennzeichnet, so finden wir, dass sich ihr Regierungs- system doch wesentlich während jener anhaltenden Streitigkeiten mit den krie- gerischen Gruppen in ihrer Umgebung entwickelt. Zunächst zeigt sich, dass diese An- siedelungen vonHandelsleuten gerade da- durch, dass sie an Bedeutung gewannen und königliche Bestätigungsurkunden er- hielten, in eine halb kriegerische Lage ver- setzt wurden — sie empfingen nun in etwas veränderter Form auch ihr Lehen vom König und übernahmen dıe damit verbundene Verantwortlichkeit. Ge- wöhnlich bezahlten sie auch Abgaben aller Art, die im allgemeinen den von den Feudalherren bezahlten gleichwerthig waren, und wie diese hatten auch sie Kriegsdienste zu leisten. In den privile- girten spanischen Städten »lag jedem Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »Einwohner diese Pflicht ob«, und »jeder »Bürger von einem bestimmten Ver- »mögen war verbunden, als Reiter zu »dienen« oder eine entsprechende Summe zu zahlen. In Frankreich »war in den In- »corporationsurkunden, welche die Städte »erhielten, die Zahl der geforderten Trup- »pen meistens genau angegeben«. Und in den privilegirten königlichen Burg- flecken von Schottland »war jeder Bür- »ger ein unmittelbarer Vasall der Krone«. Dazu kommt nun, dass die indu- striellen Städte, da sie gewöhnlich durch Verschmelzung bereits vorhandener ländlicher Bezirke entstehen, die beson- ders volkreich wurden, weil die ört- lichen Verhältnisse eine bestimmte Form des Handels begünstigten, und bald eine Zufluchtsstätte für Flüchtlinge und ent- laufene Leibeigene bildeten, den kleinen feudal regierten Gruppen in ihrer Um- gebung gegenüber in gleiche Beziehungen geriethen, wie sie unter diesen selbst bestehen: sie streben wie diese nach Vermehrung ihrer Anhänger und sehen sich oft zur Anlegung von Befestigungen genöthigt. Ferner zeigt sich, dass diese Städte und Burgflecken, welche durch königliche Urkunden oder sonstwie die Befugniss zur Verwaltung ihrer eigenen Angelegen- heiten erlangt haben, gewöhnlich auch in ihrem Bereich besondere Einrich- tungen zum Schutz ausbilden. In Eng- land, Spanien, Frankreich, Deutschland entstanden — oft mit Zustimmung des Königs, manchmal aber auch ungeachtet seines Widerstrebens, wie in England, oft sogar seinem Verbot zum Trotz, wie im alten Holland — sogenannte In- nungen, die ihre Wurzel in halbreli- giösen Verbänden von unter sich ver- wandten Personen hatten, sich aber bald zu Seemanns- und Kaufmannsgilden er- weiterten, und diese, in ihren Bezieh- ungen zu einander auf gegenseitige Ab- wehr berechnet, bildeten dann die Grund- lage jener städtischen Organisation, wel- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. cher die allgemeine Vertheidigung gegen die Angriffe der Adeligen oblag. In solchen Ländern sodann, wo die Kämpfe zwischen diesen industriellen und den sie umgebenden kriegerischen Gemeinwesen sehr heftig und anhaltend waren, pflegten sich die ersteren zu ge- meinsamer Abwehr zu verbünden. InSpa- nienwurdendie »Poblaciones«, als sie auf- blühten und zu grossen Städten heran- wuchsen, oft von den benachbarten Feudalherren überfallen und ausgeraubt, worauf sie gegenseitige Schutzbündnisse schlossen, und in späterer Zeit entstan- den unter dem Drang desselben Be- dürfnisses noch ausgedehntere Vereinig- ungen grosser und kleiner Städte, die sich unter Androhung schwerer Strafen für Nichterfüllung der Verpflichtungen gegenseitige Hilfe gegen Angriffe, sei es des Königs oder des Adels, zuschworen. Auch in Deutschland finden wir den ewigen Bund, dem bis 1255 sechzig rheinische Städte beigetreten waren, als während der nach der Entthronung des Kaisers Friedrich II. eingetretenen Unruhen die Tyrannei des Adels uner- träglich geworden war. Und aus gleichem Anlass bildeten sich auch in Holland ähnliche Verbände. So sehen sich denn die hier und dort innerhalb einer Nation emporwachsenden industriellen Grup- pen gar oft durch örtliche Streitigkeiten genöthigt, in kleinerem und grösserem Maassstab die Thätigkeiten und die Ein- richtungen aus sich hervorzuentwickeln, welche die Nation als Ganzes anderen Nationen gegenüber auszubilden ge- zwungen ist. j Für uns ist hier namentlich die Folgeerscheinung bedeutsam, dass, wenn die Entwicklung des Industrialismus auf solche Weise durch einen Rückfall in den Militarismus gehemmt wird, dadurch auch die Ausbildung der Volksrechte zum Stillstand kommt. Besonders wo die Vertheidigungs- in Angriffskriege übergehen und das Streben nach Er- oberung anderer Länder und Städte 449 überhandnimmt, wie dies in vielen ita- lienischen Republiken der Fall war, er- leidet die dem industriellen Leben eigen- thümliche freie Regierungsform bedeu- tende Einschränkungen, wenn nicht gar eine völlige Umkehr in die mit krieger- ischem Leben verbundene Zwangsform. Und wenn, wie in Spanien, die Kämpfe zwischen Städten und Adel lange fort- dauern, so hört das Wachsthum freier Institutionen auf, da unter solchen Be- dingungen weder jene commercielle Blü- the, welche grosse Stadtbevölkerungen erzeugt, noch die Pflege der entsprech- enden geistigen Beschaffenheit möglich ist. Daraus lässt sich entnehmen, dass die Entwicklung der Volksrechte, welche die industrielle Entwicklung in England begleitete, wesentlich davon abhing, dass diese Reibungen zwischen den industriel- len und den sie umgebenden feudalen Gruppen verhältnissmässig geringe Aus- dehnung erlangten. Die Wirkungen der Handelsthätigkeit wurden weniger beein- trächtigt und die örtlichen Regierungs- centren der Städte wie des Landes waren nicht verhindert, sich zur Abwehr gegen das allgemeine Centrum zu vereinigen. Sehen wir nun etwas genauer zu, auf welche Weise das Volk zu herr- schendem Einfluss gelangt. Aus der Ge- schichte von Organisationen jeder Art lernen wir, dass der Zweck, dem eine Einrichtung urprünglich zu dienen hat, nicht immer derselbe ist, den sie später erfüllt. So auch hier. Die Uebernahme vonVerpflichtungen undnichtdie Geltend- machung bestimmter Rechte gab meistens den ersten Anstoss zur Erweiterung der Volksmacht. Selbst die Umwandlung, welche die Revolution des Kleisthenes in Athen bewirkte, nahm die Form einer Anderseintheilung der Tribus und Demen zum Zweck der Besteuerung und des Kriegsdienstes an. Ebenso lag jener Erweiterung der Oligarchie, welche unter Servius Tullius in Rom stattfand, offen- bar die Absicht zu Grunde, den Ple- 450 bejern Pflichten aufzuerlegen, die bis dahin ausschliesslich von den Patriciern getragen worden waren. Am besten werden wir aber dieses ursprüngliche Verhältniss zwischen Pflicht und Macht, in welchem die Pflicht den Anfang, die Macht die Folge bildet, verstehen lernen, wenn wir nochmals auf die ersten Zeiten zurückgehen. Denn wenn wir uns erinnern, dass die primitive Staatsversammlung ihrem Wesen nach ein Kriegsrath ist und sich aus den Anführern zusammensetzt, die in Gegenwart ihres bewaffneten Gefolges berathen, und wenn wir bedenken, dass anfangs alle erwachsenen Freien kraft ihrer Eigenschaft als Krieger zur Ab- wehr und zum Angriff zusammengerufen zu werden pflegen, so wird uns einleuch- tend, dass die Theilnahme der bewaff- neten Freien an der Versammlung ur- sprünglich mit dem Kriegsdienst zusam- menhing, zu dem sie verpflichtet waren, und dass die Macht, die sie dabei etwa ausüben konnten, nur eine zufällige Be- gleiterscheinung war. Aus späteren Zei- ten ergeben sich deutliche Beweise, dass dies die normale Ordnung ist, denn sie kehrt überall da wieder, wo nach Auflösung der bisherigen Staatsform die staatliche Organisation von neuem be- ginnt. So in den italienischen Städten, wo, wie wir sahen, die ursprünglichen »Par- lamente«, durch die Sturmglocke zur Vertheidigung zusammenberufen, alle waffenfähigen Männer erster Linie stand die Pflicht, zukämpfen, in zweiter erst das Recht zur Stimm- abgabe. Natürlich erhält sich aber diese Verpflichtung zur Theilnahme fort, nach- dem die primitive Versammlung statt der kriegerischen längst ganz andere Functionen übernommen hat; dafür lässt sich die schon früher erwähnte That- sache anführen, dass es bei den Scan- dinaviern »für einen freien Mann un- »ehrenhaft war, der jährlichen Ver- »sammlung nicht beizuwohnen«. In Frankreich ruhte die Pflicht, dem Gau- umfassten: in Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. gericht beizuwohnen, in der Merowingi- schen Periode auf allen freien Männern; in der Karolingischen Zeit »wird das »Ausbleiben mit allerhand Bussen be- »legt«; in England waren die niederen Freien so gut wie die andern »verbun- »den, an der Bezirks- und Gauversamm- »Jung theilzunehmen«, unter Androhung von »grossen Strafen für die Vernach- »lässigung dieser Pflicht«, und inHolland war im dreizehnten Jahrhundert, wenn sich die Bürger zum öffentlichen Gericht oder zu andern Zwecken versammelt hatten, »Jeder, der ohne allgemeine Be- »willigung die Stadtglocke zog, und »Jeder, der auf ihren Ruf nicht erschien, »einer Busse verfallen«. Nachdem wir dieses primitive Ver- hältniss zwischen Volkspflicht und Volks- macht erkannt, werden wir dies Ver- hältniss auch da besser verstehen, wo es wieder auftritt, wenn die Volksmacht zusammen mit der Entwicklung des In- dustrialismus von neuem aufzuleben be- ginnt. Denn auch hier zeigt sich wieder, dass die Pflicht das Primäre, die Macht das Secundäre ist. Hauptsächlich um dem Herrscher Hilfe zu leisten, in der Regel zu Kriegszwecken, werden die Ab- geordneten der Städte in die Lage ver- setzt, an den öffentlichen Angelegen- heiten theilzunehmen. Es wiederholt sich in complicirterer Form, was wir auf früheren Stadien in einfacher Form be- reits kennen gelernt. Halten wir einen Augenblick inne, um den Uebergang zu untersuchen. Wie in dem Abschnitt über » Die Herr- schaft des Ceremoniells« gezeigt wurde, bestehen die Einkünfte der Herrscher anfangs ausschliesslich und später immer noch theilweise aus Geschenken. Zu- erst unregelmässig und freiwillig dar- gebracht, werden sie allmählich zu pe- riodischen und mehr oder weniger zwangs- weisen Gaben. Die Gelegenheiten, wo Versammlungen zur Berathung öffent- licher Dinge (in der Regel kriegerischer Unternehmungen, für die man Geld Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. braucht) stattfinden, werden naturge- mäss auch dazu benützt, die erwar- teten Geschenke darzubringen und in Empfang zu nehmen. Wenn nun der kampflustige König durch erfolgreiche Kriege mehrere kleinere Gesellschaften zu einer grossen vereinigt — wenn, >»die »Königsgewalt in gleichem Maasse an »Intensität zunimmt, wie das Königreich »an Extensität gewinnt« (um mich des bezeichnenden Ausdrucks von Professor Stuses zu bedienen), und wenn in Folge dessen die halb freiwilligen Gaben mehr eine Sache des Zwanges werden, obschon sie vielleicht noch die Namen donum und auxilium behalten — so kommt es denn gewöhnlich dahin, dass diese Erpressungen die Grenze des Er- tragbaren überschreiten und anfangs zu passivem, in schwereren Fällen zu offenem Widerstande führen. Ist dann die königliche Gewalt durch mehrfache Aufstände erheblich erschüttert, so wird sich die bisherige Ordnung am ehesten unter der Bedingung wiederherstellen lassen, dass das ursprüngliche System freiwilliger Gaben mit den etwa nöthi- gen Abänderungen festgehalten wird. Als z. B. in Spanien nach dem Tode von Sancho I. Unruhen ausbrachen, be- schlossen die in Valladolid versammelten Abgeordneten von zweiunddreissig Orten, dass alle Forderungen des Königs, wel- che die herkömmlichen Abgaben über- stiegen, durch den Tod seines Abgesand- ten beantwortet werden sollten, und die Nothwendigkeit, sich während des Kam- pfes mit einem Prätendenten des An- hangs der Städte zu versichern, führte. offenbar zu einer Duldung dieses Ver- haltens. Ebenso verlangten im nächsten Jahrhundert die Cortes in Burgos, als es während der Minderjährigkeit von Alphonso XI. Streitigkeiten um die Re- gentschaft gab, dass den Städten »nichts »weiter abgefordert werden sollte, als »was in ihren Urkunden vorgeschrieben »sei.«c Aehnliche Ursachen führten in Frankreich zu ähnlichen Folgen: Louis 451 Hutin wurde von einem Bunde von Auf- ständischen gezwungen, der Bürgerschaft und dem Adelder Picardie und Normandie Freibriefe auszustellen, worin er auf das Recht, ungebührliche Abgaben zu er- heben, verzichtete ; und mehrfach wurden die Generalstaaten zu dem Zwecke ein- berufen, die Nation mit den zur Fort- führung von Kriegen auferlegten Steuern zu versöhnen. Ebensowenig dürfen wir das uns allen bekannte Beispiel aus un- serer eigenen Geschichte vergessen, wie Adel und Volk, nachdem schon zu St. Alban und St. Edmund vorbereitende Schritte hiezu gethan worden waren, dem König endlich zu Runnymede mit Erfolg die Macht zur Ausübung ver- schiedener Bedrückungen entrissen, wor- unter namentlich diejenige der Aus- schreibung von Steuern ohne Zustim- mung seiner Unterthanen erwähnt wurde. Was für Folgen hatten nun diese Einrichtungen, die mit von den örtlichen Verhältnissen abhängigen Unterschieden in vielen Ländern unter ähnlichen Be- dingungen getroffen worden sind? Wenn der König verhindert war, unbewilligte Forderungen zu erheben, und sich an seine Unterthanen oder wenigstens an die mächtigsten unter ihnen wenden musste, um die nöthigen Mittel zu erhal- ten, so war der erste und wesentlichste Beweggrund, sie oder ihre Vertreter einzuberufen, offenbar der, dass er solche Bewilligungen zu erlangen wünschte. Das Vorwalten dieses Grundes zur Be- rufung von Nationalversammlungen lässt sich schon daraus erschliessen, dass er, wie bereits gezeigt wurde, auch bei localen Versammlungen vorwiegt; so sagt z. B. Heinrich I. in einem Schreiben über die Gauversammlungen, worin er ausdrücklich den alten Gebrauch wieder- herstellen zu wollen erklärt: — >»Ich »will diese Gerichte einberufen lassen, »wann ich will, zur Bestreitung meiner »eigenen allerhöchsten Bedürfnisse, nach »meinem eigenen Gutdünken.« Geld zu bewilligen, ist also der erste und oberste 452 Zweck, zu dem sich die Anführer und Vertreter versammeln sollen. Aus der Befugniss, die Bedingungen vorzuschreiben, unter denen Geld be- willigt werden wird, erwächst dann die Befugniss und bald das bestimmte Recht, an der Gesetzgebung theilzunehmen. Diesen Zusammenhang sehen wir schon auf sehr niederen socialen Entwicklungs- stufen angedeutet. Gaben darbringen und dafür Hilfe empfangen, geht von Anfang an Hand in Hand. So wurde früher in dem Gapitel über Geschenke von Gulab Singh angeführt: — »Selbst »mitten aus der Menge konnte man sein »Auge auf sich lenken, indem man eine »Rupie emporhielt und ausrief: »Maha- »rajah, eine Bitte!« Wie ein Habicht »stürzte er auf das Geld herab, und »nachdem er dasselbe an sich genom- »men, pflegte er den Bittenden gedul- »dig anzuhören.« Ebenda habe ich noch fernere Beispiele für dieses Verhältniss zwischen der der Regierung geliehenen Unterstützung und dem von ihr gefor- derten Schutz beigebracht, welche sich noch durch viele andere bekräftigen liessen, wie z. B. dass auch bei uns in früheren Zeiten »der königliche Hof »selbst, obschon die oberste Gerichts- »stelle im Königreich, doch für Nie- »mand offen stand, der nicht dem Kö- »nig Geschenke darbrachte,« und dass, wie die Staatsrechnungen zeigen, jede Abhilfe einer Beschwerde oder jede Sicher- stellung gegen Angriffe mit einer Gabe bezahlt werden musste — ein Zustand der Dinge, der sich, wie Humz bemerkt, auf dem Continent getreulich wiederholte. Wenn dies der ursprüngliche Zu- sammenhang zwischen Unterstützung des Staatsoberhauptes und Schutz von seiten desselben ist, so ergibt sich nun auch leicht das Verständniss für das Ver- halten der parlamentarischen Körper- schaften, wo solche entstehen. Gerade wie in einfachen, aus König, Kriegs- führern und waffenfähigen Freien be- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. stehenden Versammlungen, welche, wie diejenigen in Frankreich zur Zeit der Merowinger, noch in hohem Grade die ursprüngliche Form bewahrt haben, die Darbringung von Geschenken verbunden wurde mit den Verhandlungen über öffentliche, die Rechtspflege sowohl als den Krieg betreffende Angelegenheiten und gerade wie in unsern eigenen alten Gauversammlungen die Ausübung der localen Regierung mit Einschluss der Rechtspflege begleitet war von der Aus- rüstung von Schiffen und der Entrich- tung »einer Entschädigung für das »Feorm-fultum oder den Unterhalt des Königs,e — so kehrten auch später, als nach erfolgreichem Widerstand gegen die Uebergriffe der Königsgewalt all- gemeine, vom König zu berufende Ver- sammlungen des Adels und der Ver- treter eingesetzt wurden, diese gleich- zeitigen Forderungen nach Geld von der einen und nach Gerechtigkeit von der andern Seite wieder. Wir dürfen es für ausgemacht ansehen, dass im Durch- schnitt der sich widerstreitende Egois- mus der Betreffenden den Hauptfactor bildet und dass auf jeder Seite das Bestreben vorwaltet, so viel zu nehmen und so wenig zu geben, als irgend mög- lich ist. Beispiele aus der Geschichte Frankreichs, Spaniens und Englands vereinigen sich zum Beweise dessen. Als Karl V. von Frankreich 1357 die Generalstaaten angeblich wegen Be- einträchtigung seiner Rechte entliess und sich nun durch fernere Verschlech- terung der Münze Geld verschaffte, was einen Aufstand in Paris verursachte, der sein Leben bedrohte, da fand drei Monate später eine Wiedereinberufung der Staaten statt, in denen dann die Beschwerden der früheren Versammlung berücksichtigt und zugleich eine Summe für Kriegszwecke bewilligt wurde. Und von den im Jahre 1366 versammelten Generalstaaten schreibt HanzLam: — »Die Nothwendigkeit der Wiederher- »stellung des Münzfusses wird ausdrück- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. »lich als die Hauptbedingung bezeich- »net, unter der sie einwilligten, das »Volk zu besteuern, das lange Zeit mit »der schlechten Münze von Philipp dem »Schönen und seinen Nachfolgern be- »trogen worden war.« In Spanien hatten sich die privilegirten Städte, die auf Grund ihrer Freibriefe nur zu bestimm- ten Abgaben und Leistungen verpflichtet waren, beständig gegen unbewilligte Forderungen zu wehren, während die Könige immer.wieder versprachen, nicht mehr als die gesetzlichen und herkömm- lichen Abgaben zu nehmen, allein eben so oft ihr Versprechen wieder brachen. Alphonso XI. »verpflichtete sich 1328, »von seinem Volke keinerlei theilweise »oder allgemeine Steuer zu erheben oder »ihm auferlegen zu lassen, die nicht bis- »her schon durch das Gesetz bestimmt »wäre, ohne vorherige Zustimmung aller »zu den Cortes zusammengetretenen »Abgeordneten.« Wie wenig aber solche Versprechungen beachtet wurden, geht daraus hervor, dass die Cortes 1393, nachdem sie Heinrich III. ein Zuge- ständniss gemacht, die Bedingung bei- fügten, dass er — „vor einem der Erzbischöfe schwöre, „von keiner der grossen und kleinen Städte „und keinem der zu ihnen gehörenden Indi- „viduen unter keinerlei Vorwand dringenden „bBedürfnisses irgend Etwas an Geld, Dien- „sten oder Darlehen zu nehmen oder zu for- „dern, so lange nicht die drei Stände des „Königreichs zuvor nach altem Brauche ge- „bührend einberufen worden und zu den Cor- „tes zusammengetreten seien.“ Ebenso in England während der Zeiten, wo sich die Parlamentsgewalt allmählich befestigte. Während sich die Theile der Nation mehr verschmol- zen und die königliche Autorität da- durch dem Absolutismus nahe gekommen war, hatte sich auch als Rückwirkung dagegen jener Widerstand erhoben, der die Magna Charta schuf und später den fortgesetzten Kampf zwischen dem König, der seine Schranken zu durchbrechen, und seinen Unterthanen, welche dieselben 453 aufrechtzuerhalten und noch zu ver- stärken suchten, hervorrief. Der zwölfte Artikel der Charta hatte bestimmt, dass keine Schildsteuer oder Dienstleistung ausser dem Festgesetzten ohne Zustim- mung der Nationalversammlung aufer- legt werden sollte; beständig aber wieder- holten sich sowohl vor als nach der Erweiterung des Parlaments die Bestre- bungen von seiten des Königs, Beiträge zu erhalten, ohne den Beschwerden Ab- hilfe verschafft zu haben, und die Be- mühungen von seiten des Parlaments, die Bewilligung der Gelder von der Er- füllung jenes Versprechens solcher Ab- hilfe abhängig zu machen. Vom Ausgange dieses Kampfes hing die Ausbildung der Volksgewalt ab, wie wir aus einer Vergleichung der Geschichte des französischen und spanischen mit dem englischen Parlamente ersehen. Die obigen Citate beweisen, dass sich die Cortes ursprünglich das Recht, die Geld- forderungen des Königs zu bewilligen oder zu verweigern und ihre eignen Bedingungen zu stellen, erkämpft und dasselbe auch eine Zeit lang behauptet hatten; schliesslich aber vermochten sie die Erfüllung ihrer Bedingungen nicht mehr durchzusetzen. „In der Kampfperiode der spanischen „Freiheit unter Karl I. begann die Krone es „zu unterlassen, auf die Vorstellungen der „Cortes zu antworten, oder sie bewegte sich „in unbefriedigenden allgemeinen Ausdrücken. „Das führte zu vielen Beschwerden. 1523 „bestanden die Abgeordneten darauf, eine „Antwort zu bekommen, bevor sie Geld be- „willigten. Dieselbe Forderung wiederholten „sie 1525 und setzten auch ein in die „Re- „eopilacion“ aufgenommenes allgemeines Ge- „setz durch, welches bestimmte, dass der Kö- „nig alle ihre Gesuche beantworten solle, „bevor er die Versammlung auflöse. Allein „dies wurde missachtet wie zuvor.“ Und von da an ging die Parla- mentsgewalt rasch ihrem Verfall ent- gegen. — Unter etwas anderer Form vollzog sich wesentlich derselbe Vor- gang auch in Frankreich. Nachdem die Generalstaaten einmal, wie oben 454 Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. gezeigt wurde, die Geldbewilligung von | als Abgesandte der Städte zu dem Par- der Durchführung der Gerechtigkeit ab- hängig gemacht hatten, wurden sie dazu gebracht, ihre einschränkende Gewalt aufzugeben. Karl VI. — „erlangte von den Staaten der königli- „chen Domänen, die 1439 zusammentraten, dass „sie [die Steuern] für bleibend erklärt wur- „den, und von 1444 an erhob er sie auf diese „Weise, d. h. ununterbrochen und ohne vor- „herige Bewilligung .... Die Fortdauer „der Steuern wurde auch auf die mit der „Krone verbundenen Provinzen ausgedehnt, „die sich aber das Recht wahrten, dieselben „durch ihre Provincialstaaten zu bewilligen n* .. . In den Händen von Karl VII. und „Ludwig XI. strebte sich die königliche „Steuer von aller Controle freizumachen .... „Ihre Ausdehnung nahm immer mehr zu.“ Die Folge davon war denn, wie uns DaArezste erzählt, dass, >als die tailes »und aides ..... . auf die Dauer be- »willigt waren, die Einberufung der Ge- »neralstaaten nicht mehr nöthig erschien. »Sie waren bald nichts weiter als blosse »Schaustellungen«e. In unserem Falle dagegen riefen während des auf die de- finitive Einsetzung des Parlaments fol- genden Jahrhunderts die beständigen Kämpfe, welche durch die Ausflüchte, Listen und Falschheiten der Könige nöthig gemacht wurden, ein stetiges Wachsthum der Macht hervor, die Mittel zu verweigern, bis die Gesuche berück- sichtigt waren. Ist auch zuzugeben, dass dieser Aus- gang durch die Streitigkeiten der grossen politischen Parteien gefördert wurde, welche die Uebermacht des Königs schwächten, so dürfen wir doch mit vollem Nachdruck hervorheben, dass die Zunahme einer freien industriellen Bevölkerung die wesentlichste Ursache desselben war. Die Einberufung der Ritter der Grafschaft, welche die Classe der kleinen Grundbesitzer vertraten, die bei mehreren Gelegenheiten der Ein- berufung von Abgeordneten der Städte vorausging, lässt schon die wachsende Bedeutung dieser Classe, von der wohl Geld zu bekommen war, erkennen, und lament von 1295 eingeladen wurden, verrieth schon die Form der Einladung, dass der Beweggrund hievon in dem Wunsche lag, pecuniäre Hilfe von einem Theil der Bevölkerung zu erlangen, der relativ ansehnlich und reich geworden war. Bereits hatte der König mehr als einmal besondere Agenten in die Graf- schaften und Burgflecken geschickt, um sich von ihnen Beiträge für seine Kriege zu verschaffen. Schon hatte er Pro- vincialräthe versammelt, die aus Ver- tretern der Städte, Burg- und Markt- flecken bestanden, um sie zu Geldbewil- ligungen zu veranlassen. Und als das grosse Parlament einberufen wurde, gab man als Grund dafür in dem Schreiben an, dass Kriege mit Wales, Schottland und Frankreich das Königreich bedroh- ten: womit aber ausgesprochen war, dass das dringende Bedürfniss, neue Geldmittel zu erlangen, zu dieser An- erkennung der Städte sowohl wie der Grafschaften führte. So verhielt es sich auch in Schott- land. Der erste bekannte Fall, wo Vertreter der Burgflecken in das Staats- leben eintraten, bot sich dar, als pecu- niäre Hilfe aus allen Quellen durchaus herbeigeschafft werden musste, nämlich «zu Cambuskenneth am %5. Juli 1326, «als Bruce von seinem Volke einen Bei- «trag forderte, um die Ausgaben für «seine ruhmreichen Kriege und die Be- «dürfnisse des Staates zu decken, was «dem Monarchen von den Grafen, Ba- «ronen, Bürgern und freien Lehnsleuten «in vollständiger Parlamentsversamm- «lung gewährt wurde». Auch aus diesen Fällen ersehen wir abermals, erstens dass die Verpflich- tung das Ursprüngliche und die Macht das Abgeleitete ist, zweitens aber dass es die zunehmende Masse derjenigen ist, die ein Leben voll freiwilligen statt erzwungenen Zusammenwirkens führen — zum Theil die landbewohnende Ölasse der kleinen Freibauern, noch mehr aber > Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. die städtische Classe der Handeltrei- | benden — welche die ersten Anfänge der Volksvertretung ins Leben rufen. Immer bleibt aber noch die Frage zu beantworten: Wie kommt es, dass sich der Vertretungskörper von dem berathenden Körper scheidet? — Solche Nationalversammlungen behalten noch lange ihren ursprünglichen Charakter eines Kriegsraths bei und sind daher anfangs noch sehr gemischt. Die ver- schiedenen »Waffen«, wie die Stände in Spanien genannt wurden, bilden noch einen einzigen Körper. Im Anfang, wenn die Ritter der Grafschaft zusam- menberufen werden, um im Namen vieler kleinerer, zum Kriegsdienst verpflich- teter Lehnsleute des Königs zu handeln, sitzen und stimmen dieselben gemein- schaftlich mit den grösseren Lehens- herren. Und da die Städte ursprüng- lich im wesentlichen die Stellung von unmittelbaren Lehen haben, so stehen auch ihre Vertreter hinsichtlich ihres gesetzlichen Standes den Feudalhäupt- lingen am nächsten; und wie sie sich anfänglich mit diesen zur Versammlung einfinden, so bleiben sie in manchen Fällen auch auf die Dauer mit ihnen vereinigt, wie dies in Frankreich und Spanien die Regel gewesen zu sein scheint. Unter welchen Umständen dif- ferenziren sich nun der berathende und der Vertretungskörper von einander? Es ist dies eine Frage, die sich wie es scheint nicht ganz genügend beant- worten lässt. Schon frühe sehen wir eine Nei- gung zur Sonderung angedeutet, welche durch Verschiedenheit der Functionen veranlasst ist. In Frankreich fanden zur Zeit der Karolinger alljährlich zwei Versammlungen statt, eine grössere, der alle waffenfähigen Freien beizu- wohnen das Recht hatten, und eine kleinere, die sich aus den höheren Standespersonen zusammensetzte und über engere Angelegenheiten berieth. 455 „War das Wetter schön, so fand all dies „im Freien, sonst aber in besonderen Gebäu- „den statt .... Wenn sich die weltlichen „und geistlichen Herren ..... von der Menge etrennt hatten, so lag es in ihrem Belieben, „gemeinsam oder gesondert Sitzung zu halten, „je nach den Gegenständen, die sie zu be- „rathen hatten.“ n8 Dass Verschiedenheit der Functio- nen die Ursache einer solchen Sonde- rung ist, finden wir auch an andern Orten und zu andern Zeiten bestätigt. Von den ursprünglich gemischten bewaff- neten Nationalversammlungen der Un- garn schreibt Lövyr: — >»La derniere »reunion de ce genre eut lieu quelque »temps avant la bataille de Mohacs; »mais bientöt apres, la diete se divisa »en deux chambres: la table des mag- »nats et la table des deputes.« In Schottland waren 1367—68 die drei Stände zusammengetreten; da sie aber aus Gründen der Sparsamkeit und Be- quemlichkeit so bald als möglich ihrer Functionen wieder enthoben zu sein wünschten, so »wählten sie bestimmte »Personen aus, um Parlament zu hal- »ten, die sich in zwei Körperschaften »schieden, eine für die allgemeinen An- »gelegenheiten des Königs und. des »Reiches und eine andere kleinere, um »über die Beschwerden zu Gericht zu »sitzen.< In England finden wir, dass noch in den zu Simon von Montfort’s Parlament einladenden Schreiben kein Unterschied zwischen Magnaten und Deputirten gemacht wird; als aber eine Generation später das Parlament blei- bend eingesetzt wurde, machte die Ausschreibung diesen Unterschied: »Rathschlagung wird ausdrücklich in »der an die Magnaten, Verhandlung und »Zustimmung in der an die Vertreter »gerichteten Einladung erwähnt.« Dass in der That von Anfang an eine Ur- sache zur Sonderung vorlag, ist eigent- lich selbstverständlich, weil die früher gebildete Körperschaft der Magnaten gewöhnlich zum Zwecke der Berathung, insbesondere über den Krieg, die spä- 456 ter hinzugekommenen Vertreter aber nur zum Zweck der Geldbewilligung einberufen wurden. Verschiedene an- dere Einflüsse trugen gleichfalls dazu bei. Eine Ursache lag in der Verschie- denheit der Sprache, die immer noch in erheblichem Maasse bestand und einer gemeinsamen Berathung hinderlich war. Dazu kamen die Wirkungen des Classenstolzes, für die wir bestimmte Beweise haben. Obgleich zu derselben Versammlung gehörend, setzten sich doch die Abgeordneten der Burgflecken »abseits von den Baronen und Rittern, »die es verschmähten, sich unter. so »gemeine Leute zu mengen«, und wahr- scheinlich zogen es letztere selber vor, gesondert zu sitzen, da sie sich in- mitten hochmüthiger Adliger kaum wohl fühlen konnten. Ueberdies war es Brauch, dass die einzelnen Stände einer verschieden hohen Besteuerung unterworfen wurden, was natürlich leicht zu Besprechungen der Mitglieder jeder Abtheilung unter sich Anlass gab. Endlich lesen wir, dass »sie (die Ab- »geordneten), nachdem sie zu den von »ihnen verlangten Steuern ihre Ein- »willigung gegeben, auseinandergingen, »da ihr Geschäft damit zu Ende war, »obgleich das Parlament noch zu tagen »fortfuhr und die nationalen Angelegen- »heiten weiter erörterte.«< Diese That- sache zeigt wieder deutlich, dass, ob- schon noch anderes mitwirkte, doch der Unterschied in den Obliegenheiten die Hauptursache war, die endlich eine blei- bende Trennung des Vertretungskörpers vom berathenden Körper bewirkte. War also der Vertretungskörper zuerst nur von geringer Bedeutung und nahm er nur deshalb an Macht zu, weil das mit der Erzeugung und Ver- theilung der Güter beschäftigte freie Element des Gemeinwesens immer mehr an Masse und Bedeutung gewann, so dass seine Anliegen mit grösserer Ach- tung aufgenommen wurden und öfter Berücksichtigung fanden, woraus die Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. Anfänge der Gesetzgebung hervorgin- gen, so schwang er sich doch mit der Zeit zu der Stellung desjenigen Factors in der Regierung empor, der mehr und und mehr die Gefühle und Anschau- ungen des Industrialismus zum Ausdruck bringt. Während der Monarch und das Oberhaus die Erzeugnisse jenes alten Regime’s erzwungenen Zusammenwir- kens sind, dessen Geist sie immer noch, obschon in geringerem Grade, zur Schau tragen, ist das Unterhaus das Erzeugniss jenes neuen Regime’s frei- willigen Zusammenwirkens, das an die Stelle des alten tritt, und es führt in zunehmendem Grade die Wünsche eines Volkes durch, das an ein durch Ver- träge und nicht durch hergebrachte Zu- stände geregeltes Leben gewöhnt ist. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier noch, bevor wir an die Zu- sammenfassung gehen, vorausgeschickt, dass eine Darstellung der Vertretungs- körper, die in neueren Zeiten rasch nach einander geschaffen wurden, hier nicht beabsichtigt ist. Die Gesetz- gebungskörper der Colonien, in be- wusster Uebereinstimmung mit den aus dem Mutterlande mitgebrachten Ueber- lieferungen eingerichtet, bilden nur in beschränktem Sinne ein Beispiel für die Entstehung eines Senats und Ver- tretungskörpers, indem sie eben nur beweisen, dass sich der Bau der müt- terlichen Gesellschaft in den von ihr abstammenden Gesellschaften selbst wiederzuerzeugen sucht, soweit es das gegebene Material und die Umstände gestatten, aber keinen Aufschluss dar- über gewähren, wie jener Bau ent- standen ist. Noch weniger brauchen wir jener Fälle zu gedenken, wo ein Volk, das bisher unter despotischer Herrschaft gestanden, nach einer Revo- lution verleitet wird, durch Nach- ahmung auf einmal einen Vertretungs- körper einzusetzen. Hier haben wir uns blos mit der stufenweisen Ent- Herbert Spencer, Staatliche Einrichtungen. wicklung solcher Körper zu beschäf- tigen. Ursprünglich von oberster Bedeu- tung, aber passiv, wird das dritte Ele- ment in dem dreieinigen Staatsgebilde mehr und mehr unterdrückt, je mehr sich die kriegerische Thätigkeit die für sie geeignete Organisation selbst heranbildet, beginnt aber wieder an -Macht zu gewinnen, wenn nicht mehr jener wunaufhörliche Kriegszustand herrscht. Die Unterordnung lockert sich in demselben Maasse, als sie nicht mehr so dringend geboten erscheint. Die Ehrfurcht vor dem localen oder allgemeinen Herrscher und die damit verbundenen Bezeugungen der Lehens- treue verschwinden immer mehr und sanz besonders da, wo der Gläube an den übernatürlichen Ursprung desselben verloren geht. In ländlichen Bezirken können sich die alten Verhältnisse unter etwas veränderter Form noch lange er- halten; wo sich aber ganze Clans- oder Feudalgruppen in Städten zusammen- häufen und sich hier mit zahlreichen aus jedem Zusammenhang herausgelös- ten fremden Einwanderern vermischen, da wird die Ueberwachung derselben in jeder Hinsicht immer schwieriger, während die neue Lebensweise zugleich jeden Einzelnen zu grösserer Selbstän- digkeit erzieht. Die kleinen industriel- len Gruppen, die auf solche Weise inmitten einer durch kriegerische Zu- stände befestigten und organisirten Nation emporwachsen, können sich aber mit ihrer ganzen Natur nur langsam von ihrer Umgebung entfernen. Denn lange Zeit müssen auch ihr innerer Bau und ihre Beziehungen zu den an- deren Theilen des Gemeinwesens noch kriegerischer Art sein. Im Anfang stehen auch die privilegirten Städte im wesentlichen auf dem Standpunkte von Lehen, welche Feudalabgaben zu zahlen und Kriegsdienste zu leisten haben. Zum Zwecke des gegenseitigen Schutzes bilden sie im eigenen Schoosse Kosmos, V, Jahrgans (Bd. IX). 457 engere Vereinigungen von mehr oder weniger zwangsweisem Charakter aus. Gar oft haben sie mit benachbarten Adligen oder mit einander Kriege zu führen. Nicht selten schliessen sie Bündnisse zu gemeinsamer Abwehr. Wo aber dieser halbkriegerische Zustand der Städte andauert, da kommen die industrielle Entwicklung und in Zu- sammenhang damit auch das Wachs- thum der Volksmacht zum Stillstand. Wo dagegen die Umstände der Entwicklung der Gewerbs- und Han- delsthätigkeiten und der Vermehrung einer denselben sich widmenden Be- völkerung günstig waren, da macht die letztere ihren Einfluss bald um so mehr geltend, einen je grösseren Bestandtheil der Gesellschaft sie bildet. Der früheren Verpflichtung, dem Staatsoberhaupte Geld und Dienste zur Verfügung zu stellen, wird oft nur mit Widerstreben nachgekommen und offene Auflehnung tritt ein, wenn die Bedrückung zu gross wird, was zu Versöhnungsmaassregeln Anlass gibt. Man bittet lieber um Zu- stimmung, als dass man zu Zwangs- mitteln greift. Wenn keine heftigeren localen Zwistigkeiten im Wege stehen, so wird bei jeder Gelegenheit, wo das Staatsoberhaupt durch Ungerechtigkeit Unwillen erregt hat und durch Auf- stände geschwächt erscheint, ein Zu- sammenwirken mit anderen Classen be- drückter Unterthanen leicht eintreten. Jene Männer, die ursprünglich nur da- zu abgeordnet wurden, um die dem Volke bereits auferlegten Lasten nach- träglich gutzuheissen, werden, je ge- waltiger die hinter ihnen stehende Macht heranwächst, mehr und mehr in den Stande gesetzt, fest auf ihren Be- dingungen zu beharren, und indem sich der Brauch, ihren Gesuchen Folge zu geben, um sich ihrer Unterstützung zu versichern, immer mehr einbürgert, ist auch schon der Anfang dazu gemacht, sie an der Gesetzgebung theilnehmen zu lassen. 458 Endlich kommt es, gemäss dem all- gemeinen Gesetz der Organisation, dass Verschiedenheit der Functionen eine Differenzirung und Sonderung der sie ausführenden Theile nach sich zieht, zu einer wichtigen Scheidung. Die durch Wahl bestimmten Mitglieder der Nationalversammlung, anfänglich theils zu denselben, theils zu anderen Zwe- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. cken einberufen wie die übrigen Mit- glieder, zeigen eine Tendenz zur Ab- sonderung von den letzteren, welche da, wo die industriellen Elemente des (Gemeinwesens ihre Macht weiter zu entwickeln fortfahren, schliesslich zur Bildung eines von dem ursprünglichen berathenden Körper völlig getrennten Vertretungskörpers führt. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Vererbung. Die in irgend einem neuen Charak- ter oder einer Modifikation vorhandene Tendenz bei dem Abkömmling in dem- selben Lebensalter wiederzuerscheinen, in welchem sie zuerst bei den Vor- fahren oder einem der Vorfahren auf- traten,. ist von so vieler Wichtigkeit in Bezug auf die vermannigfachten Charaktere, die den Larven vieler Thiere in den aufeinanderfolgenden Le- bensaltern eigenthümlich sind, dass fast jedes neue Beispiel werth ist, verzeich- net zu werden. Ich habe viele solcher Beispiele unter dem Titel: » Vererbung in entsprechenden Lebensaltern« mit- getheilt. Ohne Zweifel ist die That- sache der bisweilen in einem früheren Lebensalter, als in demjenigen, in wel- chem sie zuerst auftraten, vererbten Variationen, welche von einigen Natur- forschern als »beschleuniste Vererbung« bezeichnet wird, beinahe ebenso wich- tig, denn, wie schon in der ersten Ausgabe der »Entstehung der Arten« gezeigt wurde, können alle Hauptthat- sachen der Embryologie durch diese beiden Formen der Vererbung, combi- nirt mit der Thatsache mannigfacher, in einem späteren Lebensalter auftre- | | tender Variationen, erklärt werden. Ein gutes Beispiel von Vererbung in einem späteren Lebensalter ist mir kürzlich durch Herrn J. P. Bıstor von Perry, Wyoming N.-Y., United States, mitge- theilt worden: Das Haar eines Herren von amerikanischer Geburt (dessen Na- men ich unterdrücke) begann grau zu werden, als er 20 Jahre alt war und wurde im Laufe von 4 oder 5 Jahren völlig weiss. Er ist nun 75 Jahre alt und besitzt noch eine Fülle von Haar auf seinem Haupt. Seine Frau besass dunkles Haar, welches im Alter von 70 Jahren nur mit Grau gesprenkelt war. Sie hatten vier Kinder, lauter jetzt erwachsene Töchter. Die älteste Tochter begann ungefähr im zwanzig- sten Jahre grau zu werden, und ihr Haar war mit 30 Jahren völlig weiss. Eine zweite Tochter begann im selben Alter grau zu werden und ihr Haar ist jetzt fast völlig weiss. Die beiden andern Töchter haben die Eigenthüm- lichkeit nicht geerbt. Zwei von den mütterlichen Muhmen (aunts) des Va- ters dieser Kinder »begannen in einem früheren Lebensalter grau zu werden, so dass im mittleren Lebensalter ihr Haar weiss war. Daher sprach der in Rede stehende Gentleman hinsichtlich Kleinere Mittheilungen und Journalschau. des Farbenwechsels seines eigenen Haars, als von einer Familieneigen- thümlichkeit. « Herr Bısnop hat mir auch einen Fall von Vererbung anderer Art mit- getheilt, nämlich von einer Eigenthüm- lichkeit, die aus einer Verletzung ent- sprang, welche von einem krankhaften Zustande des Theiles begleitet war. Diese letztere Thatsache scheint ein wichtiges Element in allen solchen Fäl- len zu sein, wie ich anderwärts zu zeigen versucht habe. Einem Gentle- man war in den Knabenjahren von der Kälte die Haut beider Daumen bös- artig aufgesprungen, womit sich irgend eine Hautkrankheit verband. Seine Daumen schwollen stark an, und blie- ben für eine lange Zeit in diesem Zu- stande. Als sie heilten, waren sie ver- unstaltet und die Nägel blieben nach- mals für immer seltsam schmal, kurz und dick. Dieser Mann hatte vier Kinder, von denen das älteste, Sarah, seine bei- den Daumen und Nägel wie sein Vater hatte; das dritte Kind, ebenfalls eine Tochter, hatte einen ähnlich missge- bildeten Daumen. Die beiden andern Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, waren normal. Die Tochter Sarah hatte vier Kinder, von denen das älteste und das dritte, beides Töchter, miss- bildete Daumen an beiden Händen hatten; die andern beiden Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, waren normal. Die Urenkel dieses Gentleman waren sämmtlich normal. Herr Bısnor glaubt, dass der alte Gentleman mit gutem Grunde den Zustand seiner Daumen einem durch eine Hautkrankheit ver- schlimmerten Erfrieren derselben zu- schrieb, da er positiv versicherte, dass seine Daumen ursprünglich nicht miss- gestaltet waren, und es gab keine Er- innerung an eine frühere, vererbte Ten- denz der Art in der Familie. Er hatte sechs Brüder und Schwestern am Leben, welche Familien und zum Theil sehr grosse Familien hatten, und in keiner 459 derselben war irgend eine Spur von Missbildung an den Daumen vor- handen. Verschiedene mehr oder weniger streng analoge Fälle sind angeführt worden, aber bis zu einer neueren Epoche fühlte Jeder natürlicherweise starke Zweifel, ob die Wirkungen einer Verstümmelung oder Verletzung stets wirklich vererbt werden, da zufällige Coincidenzen fast mit Gewissheit ge- legentlich vorkommen müssen. Der Ge- genstand zeigt indessen gegenwärtig ein total verändertes Aussehen, seit Dr. BRowNn-SkquArp’s berühmte Experi- mente bewiesen haben, dass Meer- schweinchen der nächsten Generation durch Operationen an gewissen Nerven beeinflusst werden. Herr EusEen Du- puy in San Franzisko, Californien, hat, wie er mir mittheilt, gleichfalls gefun- den, dass bei diesen Thieren >» Verletz- ungen von Nervenstämmen fast unab- änderlich vererbt werden.< Zum Bei- spiel werden »die Wirkungen von Sektionen des sympathischen Halsnerven an den Augen bei dem Jungen repro- duzirt, ebenso Epilepsie (wie durch meinen berühmten Freund und Meister Dr. Brown-SäquArn beschrieben), wenn sie durch Verletzungen des Hüftnerven herbeigeführt ist. Herr Duruy hat mir noch einen merkwürdigeren Fall von den vererbten Wirkungen einer Nerven- verletzung am Gehirn mitgetheilt; aber ich fühle mich nicht berechtigt, diesen Fall wiederzugeben, da Herr Durury seine Untersuchungen fortzusetzen be- absichtigt, und wie ich hoffe, die Er- gebnisse veröffentlichen wird. 13. Juli 1881. CHARLES DARWwINn. Ein chemischer Unterschied zwischen leben- digem und todtem Protoplasma. Schon vor einigen Jahren hatte E. PrnöüGer mit Entschiedenheit betont, 3,5 460 dass zwischen lebendem und todtem Protoplasma ein chemischer Unterschied bestehen müsse, und in der That ist es Oskar Losw und TuomAs BoKoRNY kürzlich gelungen, in einer schwachen alkalischen Silberlösung ein Reagens zu finden, welches nur in Berührung mit. lebendem Protoplasma zu schwarzem metallischem Silber reducirt wird, während abgestorbenes Protoplasma ohne Wirkung bleibt. Oskar Lorw war schon früher von einer Hypothese über die Bildung des Albumins* ausgehend, zu dem Schlusse gelangt, dass die leben- dige Bewegung des Protoplasmas wahr- ‚scheinlich auf die Spannkraft der durch ausserordentliche Beweglichkeit ausge- zeichneten Aldehydgruppe, der Tod aber auf deren Verschiebung im Eiweissmo- lekül zurückzuführen sei. Da nun die Aldehydgruppe dadurch ausgezeichnet ist, dass sie selbst aus ausserordentlich verdünnter alkalischer Silberauflösung das Metall reducirt, so bereiteten sie eine solche, und fanden besonders eine stets frisch zu bereitende und auf 1 Liter zu verdünnende Mischung von 1 C.C. einprozentiger Höllensteinlösung und und 1 C.C. einer auf 100 C.C. ver- dünnten Mischung von 13 C.C, Kali- lauge von 1,333 spez. Gew. und 10 C.C. Ammoniak von 0,694 spez. Gew. sehr geeignet für diese Reaktion. Als passendstes Objekt für den Ver- such erschienen die Zellen gewisser Fa- denalgen unserer Süssgewässer, nament- lich Spirogyra, weil sie einestheils ohne weitere Präparation unter dem Mikro- skope studirt werden können, anderer- seits eine sehr durchdringliche Mem- bran und ein theilweise farbloses, was- serreiches Protoplasma besitzen, wäh- rend die geringen Gerbstoff- und Gly- kose-Spuren nicht reducirend auf die * O0. Low betrachtet das Albumin als ein Condensationsprodukt des Asparaginsäure- Aldehyds, wie denn beim Keimen der Samen alsbald Asparagin als ein Zersetzungsproduct des Albumins auftritt. Er glaubt ferner, dass Kleinere Mittheilungen und Journalschau. stark verdünnte Silberlösung wirken, oder sich doch nur schwachbraun fär- ben. Spirogyrenfäden, die bei Licht- abschluss einige Stunden in einem Liter Reagens gelegen hatten, zeigten unter dem Mikroskope das Protoplasma na- mentlich au den Stellen intensiverer Lebensthätigkeit, z. B. da, wo es sich zu einer Spore zusammengeballt hatte, oder an den Querwänden und Chloro- phylibändern tief schwarz gefärbt, und die Reaktion trat noch bei einer Ver- dünnung des heagens auf 2 Millionen ein. Waren die Algen Einflüssen aus- gesetzt gewesen, welche das Protoplasma tödten, so blieb die Reaktion gänzlich aus. Zur Tödtung genügte schon zwei- tägiges Liegen in destillirtem Wasser, schneller wirkte Erhitzung auf 50°, Aetherdunst, eine höchst verdünnte Na- tronlösung (1—1'/ı0°/o) und andere che- mische Stoffe. Auch bei vielen andern Pflanzentheilen zeigte sich die Reaktion wirksam, jedoch nicht in allen Fällen, da manche Protoplasmasorten so em- pfindlich sind, dass sie durch das Re- agens sofort getödtet werden. Dies gilt in noch erhöhtem Grade vom thierischen Protoplasma, dessen ausserordentliche Sensibilität bereits Künse beschrieben hat. Nur bei einigen Infusorien konn- ten positive Resultate erzielt werden. Aus ihren Versuchen schliessen die Genannten, dass das lebende Protoplasma die Fähigkeit besitzt, die edlen Metalle aus selbst sehr verdünnten Lösungen zu reduciren, und dass diese Fähigkeit mit dem Eintritt des Todes verloren geht. Man darf wohl daraus den (wei- teren) Schluss ziehen, dass die myste- riöse, mit dem Namen Leben bezeich- nete Erscheinung wesentlich durch jene reduceirenden Atomgruppen bedingt wird. »>Wir erklären dem heutigen Stand- Kohlehydrat-, Fett- und Eiweissstoffe nur Pro- dukte von Condensationen ein und derselben Grundsubstanz (CHOH) seien, welche bereits KEKULE als das Substrat der Kohlehydrate bezeichnet hatte. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. punkt der Wissenschaft entsprechend, jene »Gruppen in Bewegung« im leben- digen Protoplasma als Aldehydgruppen, den Tod aber als Folge der Moleku- larverschiebung dieser in allen chemi- schen Beziehungen ganz ausgezeichneten Gruppe«. (Prvüger’s Archiv XXV. Heft: 3 u. 4 und Nachtrag dazu in Rosen- ruau’s Biologischem Centralblatt IE Nr. 7. 1881.) Silurische Pflanzen-Ueherreste. Spuren dieser wahrscheinlich älte- sten aller bekannten Pflanzen wurden zuerst 1875 von Dr. Hıcks in einem mit Sandschichten durchsetzten Thon- schiefer im Pen-y-glog-Steinbruch etwa zwei Meilen östlich von Corwen (Nord- wales) entdeckt. Fernere Untersuchun- gen haben zur Auffindung besserer Stücke geführt, und gezeigt, dass diese Pflan- zenüberreste in noch tieferen Schichten vorkommen. Die Fragmente sind äus- serst massenhaft vorhanden, so dass sie an einzelnen Stellen Kohlenbänder von mehr als einem Zoll im Durch- messer bilden. Alle Stücke sind so zerbrochen, dass man erkennt, sie seien nicht an Ort und Stelle gewachsen, sondern durch Wasserfluthen zusam- men geschwemmt worden. Dünne Stücke von sehr reinem Anthrazit zeigen gelegentlich pflanzliche Struk- tur, und finden sich in noch tieferen Horizonten. Unter den Stücken sind einige sphärische Körper gefunden wor- den, die den Pachytheca Sir J. D. Hoo- ker’s aus den untern Schichten der Ludlow-Reihen gleichen, von denen man annimmt, dass sie Sporengehäuse von Lycopodiaceen darstellen, ferner zahlreiche kleine Körper, die nach CARRU- THERS immer zu dreien vereint sind, und mit den Mikrosporen lebender und fos- siler Lycopodiaceen übereinstimmen, so- dann einige Fragmente, welche eben- falls zu diesen Pflanzen gehören mögen + ' die Struktur 461 und andere, die wahrscheinlich zu den von Dr. Dawson aus den devonischen Schichten von Canada unter dem Na- men Psilophyton beschriebenen Pflan- zen gehören. Durch diese Pflanzenreste wird die Existenz einer reichen Land- flora in jener frühen Epoche bezeugt. Gemischt mit den obigen kommen in- dessen zahlreiche verkohlte Fragmente einer von Dr. Dawson aus den devo- nischen Schichten von Canada als Coni- fere beschriebenen Pflanze vor, die nach CARRUTHERS vielmehr als eine anormale Alge zu betrachten wäre. Ersterer hatte sie Prototaxites genannt, letzterer tauft sie in Nematophycus um. Zahlreiche mikroskopische Querschnitte, welche dieser uralten Pflanzen von Pen-y-glog sehr schön zeigen, sind auch von EruerıpGe und NEw'on untersucht worden, und ihre Schlüsse stimmen in der Hauptsache mit denen von ÜARRUTHERS überein. ETHERIDGE glaubt indessen in dem vorliegenden Stücke eine neue Species zu erkennen, welche er Nematophycus Hicksüi nennt. Die allgemeine Aehnlichkeit zwischen dieser sehr alten, wahrscheinlich älte- sten bekannten Flora mit der viel jüngeren devonischen ist sehr auffal- lend, und zeigt eine annähernde Gleich- förmigkeit im Charakter der Verhält- nisse dieser weitgetrennten Perioden an. Die geologische Stellung dieser pflanzenführenden Schichten scheint ungefähr der Horizont der Llandovery- Felsen zu sein. Sie liegen unmittel- bar auf den Bala-Schichtenfolgen auf, und einige derselben sind sogar in die- ser Gruppe eingeschlossen. Die in den- selben Schichten gefundenen Thierüber- reste stellen lauter marine Formen dar, und die Arten scheinen einen allmäli- gen Uebergang vom untern zum obern Silur anzudeuten. Mit Gewissheit kann man schliessen, dass sich in jener mitt- leren silurischen Periode das unmittel- bare Areal, auf welchem die Pflanzen- reste jetzt gefunden worden sind, unter 462 Wasser gewesen sein muss, und dass die Mischung von Meer- und Land- pflanzen in Folge von Fluthen erfolgt sein müsse. Die Landgebiete scheinen hauptsächlich Inseln gewesen zu sein, die von einem mässig tiefen Meere um- geben waren, in welchem Graptolithen im Uebermaass vorkamen (W. J. Dauuas’, Science Review July 1881. p. 275). Wasserthiere in Baumwipfeln. Als ein Nachtrag zu dem unter obigem Titel im Kosmos (Bd. VI, S. 386) erschienenen Artikel von Frırz MÜLLER mag hier erwähnt werden, dass der Brasilien-Reisende E. Morrıs am Rio Negro die Eingebornen auf Bäume steigen sah, deren Aeste mit Bromelien und Tillandsien besetzt wa- ren, um Fischköder (iscal) herunterzu- holen. Sie schnitten die Tillandsien ab, und wirklich fanden sich zwischen den Blättern derselben am Grunde zahl- reiche Würmer (Scientific American 1881. Nr. 119, p. 292). Der Bericht- erstatter scheint indessen nicht zu wis- sen, dass die Blattrosetten dieser Pflan- zen tiefe Wasserbecken bilden, in denen stets eine eigenartige Thier- und Pflan- zenwelt lebt, und sich in den Zeiten der Dürre zwischen den Blättern ver- birgt, denn er bemühte sich, zu er- fahren, wie diese Wasserthiere dorthin kommen und er begnügte sich mit der Antwort der Indianer, dass die Würmer die Bäume erklettern. Entwickelung und Organisation der Wurzel- quallen (Rhizostomae). Von den echten Medusen, die in der Mitte der Unterseite ihrer Scheibe eine einfache, offene, häufig von vier Armen umgebene Mundöffnung besitzen, hatte schon Cuvıer die Arten getrennt, bei denen sich im Centrum keine Mund- Kleinere Mittheilungen und Journalschau. öffnung befindet, die Nahrung vielmehr, durch die Arme aufgenommen wird, EscHscHouvtz, welcher (1829) die Rhizo- stomen den übrigen Akraspeden als Familie entgegenstellte, sagt: »Es man- gelt den Thieren dieser Familie eine grosse, nach aussen frei geöffnete Mund- öffnung, welche bei denen der andern Familien in der Mitte zwischen allen Armen befindlich ist. Dagegen sind ihre vielfach verästelten oder gespal- tenen Arme mit vielen Saugöffnungen begabt, und zur Aufnahme des einge- sogenen Nahrungsstoffes dienen feine Röhrchen, welche den Saft zum Magen führen, indem sie sich in ihrem Ver- laufe unter einander vereinigen. Tıre- sıus führte dies noch weiter aus, und noch heute figuriren die »Saugwarzen« auf den meist acht Armen der Rhizo- stomen, durch welche sie ihre Nahrung aufnehmen, in vielen Lehrbüchern. Erst nachdem diese Ansicht dreissig bis vierzig Jahre in Geltung gewesen ist, wurde sie langsam widerlegt. Im Jahre 1861 zeigte Frrrz MÜLLER, dass die Vielmündigkeit auf Verwachs- ung der Armränder zurückzuführen ist, welche dadurch zu ebensovielen geräu- migen Röhren werden. Dieselbe Beob- achtung wiederholte im Jahre darauf L. Acassız, und es ging daraus hervor, dass die Vielmündigkeit der Rhizosto- men eine sekundäre Erscheinung ist, und dass die jungen Rhizostomen vor dieser Verwachsung einen einfachen Mund, wie die gewöhnlichen Medusen besitzen. Im Jahre 1870 wurde diese Beobachtung durch ALEXANDER BRANDT bestätigt, und in der Folge festgestellt, dass alle Wurzelquallen in ihrer Ju- gend einen einfachen Mund besitzen, der erst später zuwächst, während sich die Mundarme durch Verwachsung ihrer Ränder zu ebensovielen Mundcanälen ausbilden. Man hatte somit Ursache, die Wurzelquallen als Abkömmlinge der eigentlichen Medusen aufzufassen, und es blieb dabei nur die Schwierigkeit, Kleinere Mittheilungen und Journalschau. die Entstehung der gewöhnlich acht Mundröhren der Rhizostomen aus den vier Mundarmen der Medusen zu er- klären. Indessen hat HÄckeL in neue- rer Zeit gezeigt, dass schon bei unserer gewöhnlichen Öhrenqualle (Abbildung S. 31 dieses Bändes) ausnahmsweise Spaltungen der vier Mundarme in acht vorkommen, und dass bei einer von ihm entdeckten verwandten Form, der Aurosa furcata HAEcKEL jeder Mundarm normal in zwei divergirende Schenkel gegabelt ist. Nun findet aber die Verwachsung der krausen Armränder z. B. bei der letztgenannten Qualle nicht gleichmässig in allen Punkten statt, sondern es blei- ben eine Menge von Oeffnungen übrig, über welche die Ränder krauskohlartig hinauswachsen, und Trichterkrausen bilden, deren Ränder mit kleinen kurzen Fransen oder Fäden besetzt sind, die man eben als die Saugfäden ansah. Schon die neueren Untersuchungen von GRENACHER und Nor über den Bau der Rhizostomen (1876) hatten ergeben, dass diese Trichterkrausen wenigstens bei der von ihnen untersuchten Kohl- meduse (Orambessa) keineswegs Zufüh- rungsgänge von mikroskopischer Klein- heit, sondern vielmehr von einigen Centimeter Weite bilden, und dass sich von ihnen Zweigcanäle in den Haupt- canal des Armes ergiessen. Sie zogen einmal auch einen kleinen halbverdau- ten Fisch von Zolllänge aus einer dieser Trichteröffnungen, zum Beweise, dass es sich hier um Verdauungsvorgänge innerhalb der Krausen handelte. Schon viel früher hatte Bramvisre kleine Fische in der Centralhöhlung einer Rhizostoma bemerkt, aber da man da- mals noch an ein Aufsaugen der Nah- rung durch die feinen Fäden, welche die Krausen bedecken, glaubte, gedacht, diese Fische müssten als Larven ein- gewandert sein. Eine neue Untersuchung von dem Assistenten am zoologischen Institute 463 in Jena, Orro Hamann, welcher kürz- lich im XV. Bande der Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaften er- schienen ist, beschäftigt sich mit dem anatomischen Bau der Arme und na- mentlich mit ihren Anhangsorganen noch näher, und zeigt, dass sich bei sämmtlichen Rhizostomen im oberen Theile des Armes nur ein weiterer Canal findet, der sich in zwei oder drei parallel verlaufende Zweigcanäle zertheilt, von denen jeder einer Krau- senreihe angehört. Die den Rand der Krausen besetzenden kleinen Fühler (Digitellen) wurden als ektodermale Bildungen nachgewiesen, und von den ferneren Anhangsorganen (Nesselkolben und Nesselpeitschen) gezeigt, dass sie offenbar in ersterReihe als Waffen dienen, einzelne jedoch, welche in ihrer ganzen Länge durchbohrt sind, und durch Ring- verwachsung von Randtheilen entstan- den sind, mögen als Ausführungs- gänge oder als sekundäre Saugöffnun- gen dienen. Die eigentliche Nahrungsaufnahme vollzieht sich jedoch in folgender Weise: >Die Trichterkrausen mit ihren Trichter- öffnungen und den im Kreise den Rand derselben besetzenden Digitellen sind weit geöffnet. Kommt nun ein Thier, sei es ein kleiner Fisch oder ein Krebs, in die Nähe der Oeffnung, so ist die Krause vermittelst ihres Besatzes von Epithelmuskelzellen im Stande, sich auszudehnen und mittelst der Digitellen die Beute aufzunehmen. Hierbei wer- den die Digitellen sowohl als Waffen, wie auch als Tastorgane fungiren. In- nerhalb der Trichterkrause werden die gefangenen Thiere durch die Entoderm- bekleidung verdaut. Man findet Krau- sen, in welchen die Reste von Kreb- sen in halbverdautem Zustand sich be- finden. Der durch die Ausscheidung der Entodermzellen gewonnene Nah- rungsbrei wird nun durch die Canäle vermittelst des Flimmerepithels der Zellen, wie auch durch die Muskel- 464 kontraktionen getrieben Wie dehnbar diese Gefässe sind, kann man aus den oben angeführten Beispielen ersehen, wo man Fische von ziemlich ansehn- licher Grösse in ihnen angetroffen hat. Die unverdauten Theile, das Skelet der Krebse zum Beispiel, werden dann durch einfaches Oeffnen der Krausen wieder entleert. Die Ernährung der Rhizosto- men ist also nur insofern verschieden von der der übrigen Medusen, als die Verdauung nicht im Magen stattfindet, sondern bereits in den Trichterkrausen und den Canälen. Bine neue Ordnung ausgestorbener Jura- heptile. (Coeluria Marsh.) Die schon früher von Prof. O. C. Marsh beschriebenen und Coelurus fra- gilis benannten Ueberreste* erwiesen sich bei fernerer Untersuchung als Re- präsentanten einer neuen Gruppe von Querdurchschnitt durch einen Halswirbel («), Rückenwirbel (d) und Schwanzwirbel (c) von Coelurus fragilis MArsı. (Natürl. Grösse.) grossem Interesse. Skelettheile von 10 bis 12 Individuen sind nunmehr in dem- selben Horizonte des oberen Jura, welcher das erste Stück ergab, gefunden und im Yale-College-Museum in Sicherheit ge- bracht worden. Ein Studium dieser Ueber- reste, welche meist aus Wirbeln bestehen, zeigt klar, dass sie weit von den ent- sprechenden Theilen irgend welcher be- = Kosmos Bd. VI, 8. 389. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. kannten lebenden oder ausgestorbenen Reptilien-Ordnungen abweichen, so dass selbst die nächsten Verwandtschaften der Gruppe nicht näher zu bestimmen sind. Der merkwürdigste Zug in allen be- kannten Ueberresten von Coelurus ist die ausserordentliche Leichtigkeit der Knochen, sofern die Höhlungen in den- selben ausgedehnter sind, als in dem Skelette irgend eines bekannten Wirbel- thieres. Die Höhlungen in den Wirbeln, sind zum Beispiel, wie man an den ab- gebildeten Querschnitten eines Hals-, Rücken- und Schwanzwirbels sieht, ver- hältnissmässig grösser als bei irgend welchen Flugeidechsen oder Vögeln, so dass das Knochengewebe hauptsächlich nur auf die äusseren Wandungen be- schränkt ist. Sogar die Rippen von Coelurus sind hohl mit gegen ihre weiten Höhlungen wohl abgesetzten Innenwan- dungen. Gliedmaassen-Knochen von Üoe- lurus sind bis jetzt noch nicht mit Sicherheit bekannt, denn die wenigen bisher provisorisch auf diese Gattung bezogenen Knochen sind in Folge ihrer Zerbrechlichkeit für eine genaue Unter- scheidung zu unvollkommen erhalten. Die Wirbel dagegen, welche von ver- schiedenen Theilen der Säule stammen, sind meist von guter Erhaltung; die Halswirbel gross und verlängert, durch starke Zygapophysen verbunden. Bei den ersten drei oder vier Halswirbeln hinter dem Epistropheus sind die vordern Gelenkflächen des Gentrums etwas kon- vex und die hintern tief konkav. Alle üb- rigen Halswirbel, sowie die des Rumpfs und Schwanzes waren bikonkav. Die Gelenkflächen der Halswirbel sind ge- neigt und zeigen, dass der Hals gebogen war. Die vordern Halsrippen waren wie bei den Vögeln mit den Centris zu- sammen verknöchert. Die Höhlungen der Halswirbel stehen mit dem äussern Raume durch verhältnissmässig weite pneuma- tische Oeffnungen in Verbindung. Der Rückenmarkskanal ist sehr breit. Kleinere Mittheilungen und Journalschau. Die Rückenwirbel sind viel kürzer als die Halswirbel, und ihre Gelenk- flächen sind nahezu rechtwinklig gegen die Wirbelsäulenachse. Die erhaltenen Rippen haben ungetheilte Köpfe. Die Naht der obern Bögen ist wie bei den Halswirbeln erkennbar, und die von den Höhlungen nach aussen führenden Oeffnungen sind ganz klein. Die Schwanz- wirbel sind verlängert und sehr zahl- reich. Betrachtet man die Wirbelsäule von Coelurus als Ganzes, so verräth sie uns einen breiten und mächtigen Nacken, einen Rumpf von gemässigter Länge, und einen sehr langen, schwachen Schwanz. Soweit die Wirbel irgend etwas auf die Form der Gliedmaassen schliessen lassen, müssten die vordern grösser ge- wesen sein als die hintern, wie bei den Flugeidechsen, und nicht umgekehrt, wie bei den springenden Thieren. Die angeführten Charaktere beweisen sicher, dass Coelurus in keine bekannte Ordnung gestellt werden kann. Seine erhaltenen Ueberreste zeigen Aehnlich- keiten mit Dinosauriern, Flugeidechsen und entferntere mit Vögeln, und er war anscheinend ein verallgemeinerter Sauro- pside, der, wenn völlig untersucht, da- zu dienen kann, irgend eine der vor- handenen Lücken in den Abstammungs- reihen zu überbrücken. Die Summe seiner bekannten Charaktere zeigt, dass er ein Reptil und kein Vogel war. Sein Bau bietet, so weit bekannt, mehr Aehn- lichkeit mit dem der Dinosaurier als dem der Flugeidechsen, aber um seine nähere Zugehörigkeitzuerkennen, müssen fernere Funde abgewartet werden. Ein Baum-Dinosaurier würde keinen Ana- tomen, der mit der wunderbaren Viel- seitigkeit der Formen in dieser zusam- menfassenden Reptilgruppe vertraut ist, in Erstaunen setzen. Die durch die hier beschriebenen Ueberreste repräsentirte Ordnung wird von Marsn Coeluria, und die Familie Ooeluridae genannt, nach dem Gattungs- 465 typus Coelurus. Sämmtliche bisher be- kannten Ueberreste entstammen den Atlantosaurus-Schichten des obern Jura von Wyomig (American Journal of Science April 1881). Die Klassification der amerikanischen Jura- Dinosaurier. In einer im Maiheft 1581 des « Ameri- can Journal of Science» erschienenen Arbeit beschreibt Prof. MAars# ein bei- nahe vollständiges Exemplar von Bron- tosaurus excelsus, einem der grössten bis- her entdeckten Dinosaurier, sowie zwei neue Arten und Gattungen (Diracodon latipes und Hallopus victor) und giebt dann auf Grund der mehrere hundert Individuen. enthaltenden Sammlung des Yale-College in New-Haven folgende hauptsächlich auf die Fussbildung be- gründete Eintheilung der amerikanischen Dinosaurier. Ordnung Dinosauria Owen. 1. Unterordnung Sauropoda (Eidechsen- füssler). Herbivor. Sohlengänger mit breiten Nägeln; 5 Zehen an Hand und Fuss. Pubes vorn durch Knorpel ver- bunden. Postpubis fehlend. Präcaudal- wirbel hohl. ‘ Gliederknochen dicht. Familie: Atlantosauridae. Gattungen: Atlantosaurus, Apato- saurus, Brontosaurus, Diplodocus und Morosaurus. 2. Unterordnung Stegosauria (Panzer- Eidechsen). Herbivor. Sohlengänger mit breiten Nägeln; 5 Zehen an Hand und Fuss. Pubes vorn frei. Postpubis vorhanden. Wirbel und Gliederkno- chen dicht. Familie : Stegosauridae. Gattung: Stegosaurus. 3. Unterordnung Ornithopoda (Vogel- füssler). Herbivor. Zehengänger mit vier funktionirenden Zehen an der Hand und drei am Fuss. Pubes vorn frei. Postpubis vorhanden. Wirbel dicht; Gliederknochen hohl. 466 Familie: Camptonotidae. Gattungen: (amptonotus, Diracodon, Laosaurus, Nanosaurus. 4. Unterordung Theropoda (Raubthier- füssler). Carnivor. Zehengänger mit Greifkrallen. Pubes vorn verknöchert. Postpubis vorhanden. Familie: Allosauridae. Gattungen: Allosaurus, Creosaurus und Labrosaurus. 5, Unterordung Hallopoda (Sprungfüssler). Carnivor? Zehengänger mit Krallen; drei Zehen am Fuss; Mittelfusskno- chen stark verlängert; Calcaneum stark rückwärts verlängert. Zwei Wirbel im Kreuzbein. Gliederknochen hohl. Familie: Hallopodidae. Gattung: Hallopus. Zweifelhafte Dinosaurier. 6. Unterordnung Ooeluria (Hohlschwän- zer). Carnivor? Familie : Coeluridae. Gattung: Coelurus. Fin Zwerg auf der Insel Euhoea. (Ein Beitrag zur Teratologie.) In dem zwei Stunden von Calchis gelegenen Dorfe Aphrate lebt ein Schaf- oder Ziegenhirt, Namens Kleomenes P. Anastasiu. Das wahrscheinlich zu jedem anderen Berufe sowohl geistig als kör- perlich unfähige Individuum wurde im Beginn des vorjährigen Mobilisations- paroxysmus als militärpflichtig ausge- hoben und der hiesigen Sanitätscommis- sion "zur Tauglichkeitsprüfung unter- stellt. Der Vorstand derselben Dr. Kro- kidas liess den zwergartigen Menschen curiositatis causa photographiren und war so freundlich, mir ein Exemplar nach Athen zu schicken. Das winzige Männchen wurde später von der localen Recrutirungsbehörde der Ober-Sanitäts- commission in Athen zur endgültigen Entscheidung bezüglich seiner Feld- (liensttauglichkeit überwiesen und somit Kleinere Mittheilungen und Journalschau. hatte ich als Vorstand derselben Ge- legenheit, eine grössere und beschei- denen künstlerischen Ansprüchen eini- germaassen genügende Photographie anfertigen zu lassen. Als mir zufällig vor einigen Tagen der damals von der Wehrpflicht befreite Zwerg im Geleite einer Schaar von neu- gierigen und ihm auf dem Fuss folgenden Gassenjungen hier in der Stadt wieder zu Gesichte kam und ich mich erinnerte, dass mir die auf ihn bezügliche Notiz abhanden gekommen war, unterwarf ich denselben auf’s Neue einer eingehenden Untersuchung, deren Ergebniss folgen- des ist: 26 Jahre Der alte Kleomenes' ist 1,25 m hoch. Wenn diese Duodez- ausgabe von einem Manne nicht kurz geschnittenes Haar trüge, so würde das ganz bartlose, sonnenverbrannte Gesicht mit dem Ausdrucke cretinartigen Ernstes oder geistiger Erstarrung in den klaren braunen Augen den Eindruck eines alten dem Proletariat angehörenden Frauen- antlitzes machen. Das starke, braune und struppige Kopfhaar zeigt hier und Kleinere Mittheilungen und Journalschau. da Lücken oder steht wenigstens nicht überall gleich dicht. Auf der untern linken Scheitel- und der Schläfengegend ist die Farbe desselben eine hellere als auf der rechten Seite des Kopfes und der Scheitelhöhe. Letzterer so wie das Gesicht sind unverhältnissmässig gross, der Raum zwischen Nase und Ober- lippe höher als gewöhnlich. Der Ober- und Unterkiefer enthalten 28 weisse undnichts Regelwidriges zeigende Zähne ; von den Weisheitszähnen ist noch kei- ner zum Vorschein gekommen. Das Kinn ist ein sogenanntes Etagenkinn. Von besonderem Interesse ist die Bildung der Geschlechtstheile. Der dünne mit der Vorhaut ungefähr 2 cm lange Penis ist gegen den Nabel zu und in der Richtung der Trochanter von einer bogenförmigen Hautfalte umgeben. An diese schliesst sich nach unten der ru- dimentäre falten- und haarlose Hoden- sack so an, als wäre diese Verbindung durch eine lineäre, von einem stumpfen Säbelhiebe herrührende, etwas zackige Narbe künstlich bewirkt. Hoden ent- hält das Scrotum nicht, dagegen zeigt dasselbe in seiner Längenaxe eine rin- nenartige, etwa 2 mm tiefe Depression, welche eine entfernte Aehnlichkeit mit dicht an einander liegenden jung- fräulichen Schamlefzen hat. Von Ge- schlechtstrieb will dieser Zwerg nie eine Regung gespürt haben, doch räumt er ein, des Morgens mit Erectionen zu erwachen. Sonst ist an den Genitalien nichts Abnormes wahrzunehmen. Den Habitus anlangend, so ist der- selhe mit Ausnahme der Beckengegend ein weiblicher. Ebenso zeigen die wohl- geformten und ziemlich festen oder wenigstens nicht schlaffen Brüste, ganz im Widerspruche mit der Beobachtung, welche man in der ärztlichen. Praxis hierorts häufig und sogar bei jüngeren Frauenzimmern zu machen Gelegenheit hat, einen jungfräulichen Entwickelungs- grad. Abgesehen von denkurzen, dicken und plumpen Fingern, tritt schliess- 467 lich auch in den Conturen der oberen Brustpartie und der Schulterhöhe so wie in den rundlichen, glatten und fett- reichen Armen der weibliche Typus un- verkennbar zu Tage. Man möchte sagen, die Natur habe im Beginne des embryonalen Lebens des eben geschilderten Zwerges die Ab- sicht gehabt, ein weibliches Wesen in’s Dasein zu rufen, habe jedoch in Betreff der das Geschlecht bedingenden Merk- male ihren ursprünglichen Vorsatz be- reuet und eine Creatur geschaffen, die weder Mann noch Frau, dennoch aber kein Hermaphrodit ist. Calchis, 28. Juni 1881. Dr. BERNHARD ÖRNSTEIN. Im Anschluss an den eben mitge- theilten Fall dürfte ein ähnlicher von besonderem Interesse sein, der eine gute Illustration zu dem liefert, was im ersten Bande dieser Zeitschrift über die Ent- stehung der Iphisdichtung mitgetheilt wurde (Kosmos Bd. I, S. 496-509). In einer der letzten Sitzungen der Pariser anthropologischen Gesellschaft stellte MAcıror ein ungefähr 40 Jahre altes Individuum vor, welches sich Erne- stine G. nannte. Es mag gleich voraus bemerkt werden, dass es sich um einen Mann handelt, der bisher immer für eine Frau gehalten worden war, er trägt noch heute Haube und Unterrock und ist, was das merkwürdigste ist, im Alter von 17 Jahren an einen Landmann aus den Ardennen verheirathet worden. Nach dreizehnjähriger Ehe ist er Wittwe geworden. Diese beiden sonderbaren Gatten haben zusammen in ziemlich gutem Einverständniss gelebt, besonders im Anfange; Ernestine G. befand sich damals in der Frische ihrer Jugend und konnte trotz des Flaums auf ihrer Ober- lippe für ein weibliches Wesen gelten, auch empfand sie keinen Widerwillen gegen die Annäherungen des Mannes, die natürlich nur unvollkommen bleiben mussten, so dass der anormale Zustand 468 seiner Frau diesem nicht verborgen blieb. Gleichwohl führten sie mitein- ander eine ziemlich gute Wirthschaft, bis sich im Alter von 22—23 Jahren bei Ernestine eine Neigung für das weibliche Geschlecht regte, die dann auch öfter ihre Befriedigung suchte. Im Uebrigen fuhr sie, trotz einiger Scheid- ungsversuche fort, mit ihrem Manne zu leben, und suchte nach dem Tode des- selben, da sie nahezu blind und arbeits- unfähig geworden war, Aufnahme in einem Pariser Asyl, woselbst sie fort- fuhr, Frauenkleider zu tragen. Ihre Grösse beträgt 1,735 m, Hals, Hände und Handgelenk sind gleich- mässig kräftig, ihr allgemeiner Anblick (jetzt) entschieden männlich. Ihre seit ihrer Unthätigkeit bedeutend verringerte Muskelkraft ist immer noch die eines mittelstarken Mannes und übertrifft die einer Frau erheblich. Sie besitzt einen ziemlich starken Bartwuchs und ist gezwungen, sich täglich zu rasiren; ihre Stimme, obwohl wenig tief, hat nichts weibliches. Ihre Brüste bieten einen für einen Mann gewiss ausser- ordentlichen Umfang dar, aber ihre Form ist dennoch keine weibliche. In Summa, nurim Aussehen der Geschlechts- theile gleicht dieses Individuum mehr oder weniger einer Frau. Es ist ein ungefähr 3 em langer Penis vorhanden, der im Zustande der Erektion 4—D5 cm Länge erreichen kann, und undurch- bohrt ist. Unter ihm findet sich die Oeffnung einer Art Vagina von 3 cm Tiefe, die als Sackgasse endigt, und in deren Grunde sich die Harnröhre und die Samencanäle öffnen. Zu beiden Seiten der Oeffnung dieser falschen Va- gina sieht man zwei Hautfalten, welche mehr oder weniger den grossen Scham- lippen analog gebildet sind. Aber in der grösseren, linken, an ihrer Basis sehr dicken Lippe, fühlt man einen an seinem Nebenhoden völlig erkennbaren Hoden, und über der kleineren rechten Lippe, erblickt man einen Vorsprung, Kleinere Mittheilungen und Journalschan. der von einem nicht völlig herabgestie- genen rechten Hoden herrührt. Die Un- tersuchung zeigt vom Mastdarm aus keine Spur von Uterus. Die Ejakulation er- folgt, aber das Sperma schliesst, jetzt wenigstens, keine Spermatozoiden ein. Merkwürdig bleibt die Behauptung die- ser in jeder Beziehung männlich ge- bildeten Person, dass sie in ihrer Pu- bertätszeit Menstruationen gehabt habe. Da von wirklichem Hermaphroditismus keine Andeutung vorliegt, so meinte einer der Sachverständigen (Dr. Pozzı), dass ein Uebermaass von Gongestionen, welche in dieser Periode sowohl den männlichen als den weiblichen Organen zukommen, unter Umständen vielleicht derartige Erscheinungen erzeugen könnte. Prof. MArnıas Duvaun gab eine aus- führliche Erklärung der Bildungen die- ses auf einem embryonalen Zustande verbliebenen Mannes, welche mit un- serer früher gegebenen Erläuterung über- einstimmt, aber einige Punkte näher detaillirt, weshalb wir sie anführen wollen. »Wenn die ursprüngliche, dem Eingeweide- und dem Harngeschlechts- System gemeinsame Kloake sich in zwei Theile getheilt hat, einem hintern ana- len, und einem vordern uro-genitalen, so ist der den beiden Geschlechtern gemeinsame embryonische Zustand der folgende: Der letztgenannte, auch Sinus urogenitalis genannte Theil wird durch eine trichterförmige Vertiefung gebildet, in deren Grunde sich einerseits die Harnblase, und andererseits die Mül- ler’schen und Wolff’schen Canäle öffnen. Vor dieser Vertiefung entwickeln sich die beiden schwammigen Körper und verschmelzen zu einem penisförmigen Körper (Clitoris des weiblichen und schwammigen Körper der Ruthe, des männlichen Geschlechts). Wenn zu die- ser Zeit die Organe sich zum weib- lichen Typus entwickeln, sieht man den Sinus urogenitalis in der Grösse, aber keineswegs in der Tiefe zunehmen, der- art, dass er sehr ausgeweitet, und wenig Kleinere Mittheilungen und Joumalschau. tief erscheint und schliesslich den Vor- hof bildet. Der im Gegensatze be- trächtlich wachsende gemeinsame Theil der Müller’schen Canäle stellt später Uterus und Vagina dar, derart, dass der anfangs sehr tief gelegene Vorhof hinabzusteigen scheint und in Folge der starken Entwickelung der hinter ihm belegenen Theile eine der Ober- fläche nähere Lage erlangt. So hat Bupın konstatirt, dass das Hymen anfangs tief gelegen war, und dann zu gleicher Zeit mit dem Eingang der Vulva hinabzusteigen schien. Wenn die Entwickelung dem männ- lichen Typus folgt, so bewahrt der Si- nus urogenitalis seine Form und bildet den untern prosta- tischen und membranösen Theil der Harnröhre, während der Rest der äus- seren Organe den übrigen Theil der Harnröhre bildet. Bei dem in Rede stehenden Subjekt gibt es nun keinen geschlossenen Harn- röhrencanal, sondern nur einen röhren- förmigen Sinus urogenitalis, welchen man beim ersten Anblick für eine Pseudo- Vagina halten kann, der aber in Wirk- lichkeit dem obern Theile der Harnröhre entspricht. In der That öffnen sich im Grunde dieser Pseudo-Vagina die Blase und die Samen- oder früheren Wolff’- schen Canäle. Diese Pseudo-Vagina ent- spricht nur dem Vestibul der Frau. Ein Hymen ist nicht vorhanden und die Vagina hat sich nicht entwickelt, sie ist höher gelegen und wird durch den Hals der Vorsteherdrüse vertreten und ebenso wird der Uterus wie bei allen Männern durch die Vorsteherdrüse selbst vertreten. Diese Erklärung ist, wie man sieht, vollständig und macht es verständlich, weshalb man so oft bei den angeblichen Hermaphroditen den im embryonalen Zustande verbliebenen Sinus urogenitalis hat für eine Vagina nehmen können. (Revue scientifique 9. Juillet 1881.) Die höchst wichtigen röhrenförmige 46%) entwickelungsgeschichtlichenConsequen- zen, die man aus der in solchen Fällen frappant hervortretenden Analogie des männlichen und weiblichen Geschlechts- apparates ziehen kann, haben wir in dem oben eitirten Artikel im ersten Bande dieser Zeitschrift erörtert. Die Gehirnbildung der Eskimos ist von CHUDZInsky an den kürzlich in Paris verstorbenen Eskimos studirt wor- den. Drei dieser Gehirne, zwei von Män- nern und ein weibliches, konnten ab- geformt und beschrieben werden. Alle drei und besonders die beiden Gehirne der Männer zeigen als besondere Haupt- charaktere die Breite und Einfachheit der frontalen Windungen und besonders der orbitalen Lappen. Die dritte Frontal- windung ist klein und ihr hinterer Theil, d. h. der nach BrocaA am speziellsten mit der artikulirten Sprache in Zusam- menhang stehende Theil ist äusserst verkleinert und gleichsam zusammen- gedrückt zwischen dem vorderen Theil und der aufsteigenden Stirnwindung. Diese sowie die aufsteigende Schläfen- windung, der eiförmige Lappen und die Region der krummen Falte, bieten eine verhältnissmässig enorme Entwickelung dar. Die Region des Scheitels zeigt auch eine sehr ausgesprochene Erhebung, besonders merkbar auf den inneren Ab- güssen des Schädels. In Summa, diese Eskimo-Gehirne sind vorzüglich merk- würdig durch eine geringere Entwicke- lung des vorderen Theiles und durch eine übertriebene Entwickelung der moto- rischen Theile. Im Allgemeinen nähert sich das Gehirn der Frau viel mehr als die beiden männlichen Gehirne dem europäischen Typus. Ihre frontalen Win- dungen sind reicher, und sowohl sie, wie auch besonders die ansteigenden Schläfenwindungen sind absolut und re- lativ viel weniger breit als bei den beiden Männern. (Rev. scientif. 9. Juli 1881.) Litteratur und Kritik. Das Erkenntnissproblem. Mit Rücksicht auf die gegenwärtig herr- schenden Schulen. Von Dr. O. GASPART, Professor der Philosophie an der Uni- versität in Heidelberg. 51 S. in 8. Breslau, Ed. Trewendt, 1881. Wie tief die darwinistische Weltan- schauung unserer Tage die Philosophie in Anarchie versetzt hat, beweist der wunderbare Streit der Vertreter materia- listischer und spiritualistischer Richt- ungen, welche von ihnen am besten mit den Ansichten des grossen Briten übereinstimme. Nachdem so lange der Darwinismus beinahe mit dem Materialis- mus (wenn auch mit Unrecht) identi- fieirt worden war, ist man neuerdings in das andere Extrem umgeschlagen, und hat spiritualistische Systeme, wie z. B. das von Hzeen so dargestellt, als ob sie den Darwinismus in nuce enthielten. Wenn Hzeer gelehrt habe, dass sich im Leben des Einzelnen nur das Leben der Gattung und des Ganzen konstruktiv wiederhole, so sei damit eben das in der heutigen Zoologie eine so bedeut- sameBRolle spielende biogenetischeGrund- gesetz philosophisch abgeleitet. Um Heszu’sche Ansichten mit darwinisti- schem zu identificiren, muss man seinen scholastischen Realismus nicht mehr von seinem direkten Gegensatz, dem Nomi- nalismus unterscheiden können, auf des- sen Boden sich fast alle darwinistischen Anschauungen bewegen. Nicht mit dem Spiritualismus und noch weniger mit dem Materialismus hat eine unbefangene Prüfung der biologischen Probleme sich auseinanderzusetzen, sondern allein mit der Erkenntnisskritik, welche der em- pirischen Untersuchung bedächtige Bun- desgenossin auf Schritt und Tritt sein sollte. Diese Bedeutung des Kriticismus und seine Auseinandersetzung mit den herrschenden Schulen bildet den Gegen- stand der sehr lesenswerthen vier Ab- schnitte (der idealistische Rationalismus — der formale Empirismus — der kri- tische Empirismus — die Resultate) die- ser kleinen aber gedankenreichen Schrift, auf die wir hier nur kurz die Aufmerk- samkeit unserer Leser richten können. Commentar zuKantsKritik der reinen Vernunft. Zum hundert- jährigen Jubiläum derselben heraus- gegeben von Dr. H. VAIHINGER, Privat- dozent der Philosophie an der Uni- versität Strassburg. Erster Band. Erste Hälfte. 208 Seiten in Lex.-8. Stuttgart, W. Spemann, 1881. Kant ist in unsern Tagen mehr als je vorher als der Begründer der Er- kenntnisskritik gefeiert worden, und ” Kleinere Mittheilungen und Journalschau. überall herrscht das Gefühl vor, dass man zu seinen Fundamenten zurück- kehren müsse, um ein festes und sicheres Gebäude aufführen zu können, und eifrig — man möchte fast sagen reuevoll — wendet sich die neueste Philosophen- schule zu einer Vertiefung in seine Werke zurück. F. A. Lange’s Mahnung, dass man ihm ebenso eindringliche Studien widmen sollte, wie sie früher fast nur dem Aristoteles zugewendet wurden, er- scheint als Motto auf dem Titel des vorliegenden Werkes, welches ein aus der Praxis hervorgewachsenes, exege- tisches Handbuch über das wichtigste Werk Kanr’s werden soll. In streng historischem Sinne und mit philologi- scher Gründlichkeit ist der Verfasser bemüht, zu zeigen, was der grosse Den- ker Seite für Seite gemeint hat, wie er sich in anderen Schriften über die- selben Punkte ausgesprochen hat, nicht was er nach dem Wunsche eines heutigen Lesers gemeint haben könnte, sondern was er wirklich, so weit zu ermitteln, hat sagen wollen. Wir haben eine Ar- beit aus Alexandria, ein Werk des müh- samsten, bewunderungswürdigsten Fleis- ses, der seltensten Hingebung und Selbst- entäusserung vor uns, vor welchem wir um so tiefer den Hut ziehen, je seltener eine derartige Vertiefung in unserer Zeit der schnelleifrigen »Fruktifikation« auch der Ideen wird. Es liegt nicht in der Aufgabe unserer Zeitschrift, auf ein solches Werk näher einzugehen; wir können ihm nur aus tiefster Ueber- zeugung von dem grossen Nutzen einer solchen Arbeit, eine lebhafte Benützung und baldige Vollendung wünschen. Die Ausstattung ist eine so elegante, wie man ihr bei philosophischen Werken nur höchst selten begegnet. Essai sur la möt&orologie de Kep- ler par H. BrocArp, Capitaine du genie, charge du service meteorolo- gique en Algerie. Grenoble. Typo- 471 sraphie et Lithographie Maissonville et: Fils. ’1881.,.397.8 Ueber den ersten Theil dieser für die Geschichte unseres kosmischen Wis- sens wichtigen Schrift ward bereits in dieser Zeitschrift Bericht erstattet. Herr BrocArp, der mit Recht bemerkt, dass die Lektüre der Krrver’schen Werke stets zu neuen und unerwarteten Auf- schlüssen führe, analysirt in dieser Fort- setzung besonders jene Stellen, welche sich auf die sogenannte meteorologische Optik beziehen, doch kommt auch eini- ges Astrometeorologische vor, woraus zu entnehmen ist, dass der grosse Astro- nom den himmlischen Bewegungen immerhin einen ziemlichen Einfluss auf die Erscheinungen in unserem Luftkreise und das davon abhängige physische Be- finden der Menschen beimaass. Geo- graphisch interessant ist es zu sehen, wie Kerter in der »Epitome« den Lauf der beiden Polarkreise beschreibt und bei dieser Gelegenheit die landläufige Annahme widerlegt, als müsse inner- halb der Polarzonen die Natur in ewi- gem Schnee und Eis erstarrt sein; schon der Name »Grönland« deute auf das Gegentheil, nämlich auf eine grüne Vegetationsdecke des Bodens, hin. Ueber den Grund der Wahrnehmung, dass die Sterngrössen zu schwanken scheinen, hat sich Vrreruıo dahin vernehmen las- ent, es beruhe dies auf einer Refrak- tions-Erscheinung; mit dieser Erklär- ung kann sich Krruer schon aus dem Grunde nicht einverstanden erklären, weil sämmtliche Sterne der Halbkugel sich ganz gleich verhielten, während die brechende Materie doch nicht durch den ganzen Weltraum gleichmässig ver- theilt angenommen werden könne. Er ist geneigt, den Grund in einer beson- deren Aethersubstanz zu suchen. Von der Lichtbrechung wird ganz richtig ge- sagt, sie sei im Allgemeinen über der Meeresfläche regelmässiger, als in Bin- nenländern, besonders aber auf hohen Bergen. Sehr originell ist die Auffas- 472 sung des Blitzes, über welche sich Krr- LER mit seinem Freunde, dem Friesen FAerıcıus, unterhält. Dieser hatte ihm mitgetheilt, die Blitzschläge seien in seiner Gegend ungleich seltener, als im oberen Deutschland, und KErtLEr er- klärt dies daraus, dass die Gebirge im Süden tiefer in die eigentliche Luft- reeion hineinragen, also auch dem Ent- stehungsorte der Gewitter benachbarter sind; freilich spreche gegen diese Theorie die Seltenheit meteorischer Entladungen in dem bergreichen Böhmen. Bei diesem Anlass spricht sich Krrter auch über den isolirten Berg Schöckel in Steyer- mark aus, der für alle Umwohner als Wetterprophet gelte — ein Umstand, der heute noch auf der Grazer Hoch- ebene allbekannt ist. Worin eigentlich die Ursache der Winde zu suchen sei, lässt er unentschieden; kleine Wolken, die sich plötzlich an Berggipfeln u. s. w. zeigen, können eine solche Ursache ge- wiss nicht sein, obwohl sie den Cha- rakter eines Vorzeichens tragen. Ganz correkt spricht sich KrruLer über das Wesen des Regenbogens aus, indem er ihn mit einer Glaskugel vergleicht, die mit Wasser gefüllt, vor einen dunkeln Hintergrund gehalten werde; zugleich wird die Meinung des Plutarch zurück- gewiesen, der den ersten Regenbogen mit einem Hohlspiegel, den zweiten mit einem erhabenen Spiegel in Parallele stellen wollte. Auch die Nebensonnen werden, wie es ja theilweise wenigstens auch heute noch geschieht, auf Brech- ungs-Phänomene zurückgeführt. Den Grund für die Sonnenflecken sucht er ‚dagegen nicht in der Sonne selbst, son- dern denkt an das Dazwischentreten eines anderen Weltkörpers, z. B. eines Kometen. Betreffs der Meteore stand Krrter in lebhaftem Briefwechsel mit Isaak HABRECHT in Strassburg Zum Schluss theilt Herr BROCARD eine Reihe meteorologischer Aufzeich- nungen mit, die KrrLer in den Jahren 1617— 1626 angestellt hat. Dieselben Litteratur und Kritik. geben ihm Veranlassung, eine verglei- chende Betrachtung anzustellen über die Krrter’schen Notizen sowohl als auch über die, ihrer Tendenz nach ähn- lichen, Tagebücher von Jomann WErR- nER und Tycno BrAuEz — die einzigen geordneten Materialiensammlungen me- teorologischer Natur, welche uns aus dem XVI. Jahrhundert verblieben sind. Es ist, da nach Brocarp’s Aufschlüssen KerLER einige Kenntniss von WERNER’S und Brane’s Arbeiten hatte, gar nicht unwahrscheinlich, dass er durch sie die Anregung erhielt, sich selbst ein Ver- zeichniss bemerkenswerther Witterungs- erscheinungen anzulegen. — Jedenfalls wird jeder Geschichtsfreund das Schluss- - wort des Verfassers unterschreiben, in welchem davon die Rede ist, dass Ker- LER einen günstigen Einfluss auf die Klärung der meteorologischen Lehr- meinungen ausübte und desshalb auch eine besondere Würdigung Seitens des Historikers verdiente. Ansbach. Prof. S. GÜNTHER. Grundzüge und Ziele der Stein- kohlen-Ghemie von Dr. F. Muck, Vorsteher des Laboratoriums und Lehrer an der westphälischen Berg- schule zu Bochum. Für Lehrer und Lernende. 170 S. in gr. 8, nebst 5 analytischen Tabellen. Bonn, Emil Strauss, 1881. Die Tendenz dieses Werkes ist im Wesentlichen nach der praktischen und technischen Seite gerichtet. Aus seiner eigenen Lehrthätigkeit ergab sich dem Verfasser das Bedürfniss, das sehr zer- streute Material über die Chemie der Steinkohle gesammelt, gesichtet und ergänzt zu sehen und er hat sich dieser Aufgabe mit einer Umsicht unterzogen, die ihm sicher den Dank der bethei- listen Kreise erwerben wird. Zunächst behandelt er darin die Zusammensetz- ung der Kohle, ihre Klassifikation nach Litteratur und Kritik. dem Verhalten beim freien Erhitzen und unter Luftabschluss; die Abhängig- keit der Eigenschaften, namentlich der Schmelzbarkeit, der Coaks-Ausbeute und der Flammenbeschaffenheit von der pro- zentischen Zusammensetzung und der Aschenmenge, darauf die mechanischen Gemengtheile und Aschenbestandtheile, und endlich ihr Verhalten an der Luft (Verwitterung und Selbstentzündung). Anlass zu einem nähern Eingehen bietet uns nur das achte und letzte Kapitel, welches die Ansichten über die Con- stitution der Steinkohle und die che- mischen Vorgänge bei ihrer Bildung diskutirt. Nach Aufzählung der Theo- rieen, die man über die Bildung und Zusammensetzung der Steinkohlen auf- gestellt hat, und der Versuche, die GÖPPERT, BISCHOFF und in neuerer Zeit besonders Fremy angestellt haben, um vegetabilische Substanz durch Behand- lung mit Wasser unter höherer Tem- peratur und Druck in eine der Stein- kohle ähnliche Substanz umzuwandeln *, kommt Verfasser auf die von den mei- sten Geologen abgelehnte, in neuerer Zeit von PArror und F. MoHr verthei- digte Tangtheorie zurück, und sucht zu zeigen, dass die Annahme, die Stein- kohlen hätten sich aus vermoderten Tangen gebildet, noch die meiste Wahr- scheinlichkeit besitze. Er weist darauf hin, dass die Tange mit oder ohne Luftzutritt sich sehr bald bei Berührung mit Wasser in einen pflaumenmusarti- gen Brei verwandeln und zu einer harten strukturlosen Masse erhärten, wie sie die Steinkohlen darstellen. Wir wollen diese Theorie nicht weiter kri- tisiren, da der Verfasser sich bereit erklärt, dieselben zu Gunsten der Reınsc#’schen Ansichten, ** aufzugeben, nach welcher die Steinkohlen aus in ihrer Masse auf Dünnschliffen noch er- kennbaren, cellulosefreien, niedersten ®= Vgl. Kosmos Bd. V, S. 460. #=®= Vgl. Kosmos Bd. VII, S. 149. Kosmos, V. Jahrgang (Bd. IX). 473 Pflanzenwesen gebildet sein sollen, von denen heute noch die Bakterien, Astero- thrixe und ähnliche Formen, als letzte Ausläufer einer alle Zeitalter der Erde durchlaufenden, bis in unsere Zeit hin- einragenden grossen und einst viel mächtiger entwickelten Gruppe von Lebe- wesen zu betrachten seien, die ihr Lebe- lang den Charakter völlig nackter Proto- plasma-Körper bewahrten. P.F. Reınsch hat kürzlich » Neue Untersuchungen über die Mikrostruktur der Steinkohle des Carbon, des Dyas und Trias (Leipzig, T. O0. Weigel, 1881) veröffentlicht, und darin auf 64 Steintafeln seine mikro- skopischen Entdeckungen abgebildet, allein in einer Zeit, wo man sogar den Granit und andere Urgesteine aus er- kennbaren Mikro-Organismen zusammen- gesetzt erkennen wollte, wird man be- rechtigt sein, sich solchen Entdeckungen gegenüber kritisch und abwartend zu verhalten, zumal die einzigen zweifel- los hestimmbaren Formen in den Stein- kohlen selbst, wie in den benachbarten Schichten, Farnen und andern Gefäss- pflanzen zugehören, deren Verwandte heute auf dem Lande oder in seichtem Süsswasser wachsen. Die Studirenden werden dem Verfasser dankbar sein, dass er ihnen auch über den Stand dieser unabweislichen Fragen ausführ- lich Bericht erstattet hat, wenn auch das Resultat vorläufig kein befriedigen- des ist. So gibt das Buch eine dankens- werthe Zusammenstellung der von dem Verfasser durch zahlreiche eigene Ana- lysen bereicherten Steinkohlenchemie und aller sich daran anknüpfenden Fra- gen, so dass es den Interessenten bestens empfohlen werden kann. Der Verleger hat dem Buche eine hübsche Ausstat- tung zu Theil werden lassen und bietet es in einem sogenannten englischen Einbande dar, eine Neuerung, deren allgemeinere Einführung das bücher- kaufende Publikum gewiss mit grosser Freude begrüssen würde. 32 474 Die ethnographisch-anthropolog- ische Abtheilung des Museum Goddefroy in Hamburg. Ein Beitrag zur Kunde der Südsee-Völ- ker von F. D. E. Schmeutz und Dr. med. R. Krause. Mit 76 Tafeln und einer ethnologischen Karte des gros- sen Oceans. LII und 687 Seiten in 8°. Hamburg, L. Friedrichsen & Co., 1881. Dem in dem S. 402 angezeigten Buche Bastıan’s ausgestossenen Mahnruf, zu sammeln was noch zu sammeln ist, sind in Bezug auf den nach so vielen Richtungen interessanten polynesischen Archipel, wohl wenige Privatsammler in so umfassendem Maassstabe zuvor ge- kommen, wie das Haus Goddefroy in Hamburg, welches seit langen Jahren die rein naturhistorische, wie die eth- nographisch-anthropologische Erforsch- ung der Südsee in ruhmreicher Weise auf sein Programm gesetzt hatte. Das vorliegende, von dem verdienstvollen Konservator des Museums, im Vereine mit dem geschätzten Hamburger Kranio- logen R. Kraus£ herausgegebene Werk ist kein Catalog im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Zwar knüpft es zunächst an die reichen Sammlungen an, aber es erläutert die einzelnen Gegenstände mit Heranziehung der gesammten ein- schlägigen in- und ausländischen Lit- teratur und bietet uns damit ein so durchgearbeitetes Material, wie es der Forscher nur irgend wünschen kann. Die Anordnung ist zunächst eine geographische, und schreitet, mit Neu-- seeland und Neuguinea beginnend, nach Polynesien vor, um schliesslich nach Mikronesien zu gelangen, wobei der ethnographischen Behandlung jeder ein- zelnen Inselgruppe Uebersichten über ihre geologischen, faunistischen und floristischen Verhältnisse vorausgehen, welche zur allgemeineren Orientirung dienen. Die Gegenstände selbst sind nach den bei Aufstellung der Kopen- hagener Sammlung in Anwendung ge- Litteratur und Kritik. brachten Abtheilungen geordnet, nämlich: a) Gegenstände, die der Religion und Schriftkunde angehören, b) Menschliche Kleidung und Schmuck, c) Krieg, Jagd, Fischerei, Schifffahrt, d) Haushaltungs-, Ackerbau- und andere Geräthe, Nahr- ungsmittel, Geld, Kunst. An die Be- schreibung der einzelnen Objekte knüp- fen sich Exkurse über die Technik der Eingeborenen, Sitten und Gebräuche, Tempel und Wohnungen, Sagen und Alterthümer, welche die Darstellung an- genehm . beleben, während zahlreiche Abbildungen auf 34 Tafeln auch die- jenigen, welche das Museum nicht selbst besucht haben, mit den Hauptobjekten bekannt machen. Ueber sich anknüp- fende Fragen von allgemeinerem Inter- esse, wie Kanibalismus, Fetischismus, Tättowirung, Denkmale der Osterinseln, der Karolinen und Marquesasinseln, fin- den sich ausführlichere Exkurse, doch haben sich die Verfasser im Allgemeinen der Vergleichungen mitlebenden und aus- gestorbenen Völkern, und weiter geh- ender hypothetischer Schlüsse enthalten. Immerhin sind die dahin gehenden An- deutungen, z. B. über die ältere Kul- tur der sich höher über dem Meere er- hebenden Inseln, im Gegensatze zu derjenigen der Koralleninseln, oft sehr interessant, da man in ersteren Inseln Gebirgsspitzen eines untergegangenen Continentes mit älterer Besiedelung sehen kann. Mehr derartige Schlüsse treffen wir in der zweiten Abtheilung des Werkes, welche die mit 12 Tafeln erläuterten Resultate der Schädel- und Skeletunter- suchungen, ebenfalls mit Voranstellung einer allgemeinen Einleitung giebt. Nach seinen sehr sorgfältigen, nach Iukrıng’s Methode vorgenommenen Schädelmess- ungen will Dr. R. Krause die Micro- nesier als besondern Typus nicht mehr gelten lassen; er vereinigt sie mit den Polynesiern, die er als im allgemeinen brachikephal bezeichnet, und mit WAırrz und GERLAnp von den Malayen Süd- Litteratur und Kritik. asiens ableitet, die in einem Bezirk mit dolichokephaler Grundbevölkerung eingewandert seien, und sich mit letz- terer vielfach vermischt hätten. Die letztere, Negritos, Papuas oder Mela- nesier, deren Schädelbau er sehr dem- jenigen der Neger der Loangoküste ähn- lich findet, möchte er von einem unter- gegangenen südoceanischen Welttheil der Tertiärzeit, also dem Lemurien ScuAarter’s ableiten, auf dessen Exi- stenz letzterer aus dem. vermeintlich engen Verbreitungsbezirk der Lemuren geschlossen hatte, eine Begründung, die aber dadurch erschüttert worden ist, dass man in der Neuzeit auch in Europa und Nordamerika zahlreiche fossile Reste tertiärer Halbaffen gefunden hat. Die Unterschiede der beiden in Betracht kommenden Rassen fasst Dr. R. KrAusE S. 567—68 wie folgt zusammen: »Die polynesische Rasse ist von mittle- rer Grösse, besitzt einen breiten Kopf, flaches breites Gesicht, orthognath, mit etwas hervorstehenden Backenknochen; Nase kurz und breit; eine in verschie- denen Abstufungen gelbbraune Haut, glattes, grobes, schwarzes Haupthaar und geringen Bartwuchs. Die Papuas zeichnen sich aus durch einen langen, schmalen Kopf, mehr zusammengedrück- tes, vorspringendes Gesicht, hervorge- wölbte dicke Augenbrauen, grossen, mit- unter schnauzenartig hervorgetriebenen Mund, grosse, meist gebogene Nase, deren Spitze nach unten gezogen, mit breiten Nasenlöchern und dickem Nasen- rücken; die Hautfarbe ist dunkel, mehr in's Schwarze neigend, das Haar ist wollig, schwarz, neben reichlichem Bart- wuchs. Ihre Gestalt ist im Allgemei- nen grösser und ihr Körperbau kräftiger, alsbeiden Polynesiern. Ebenso wiein an- thropologischer Richtung unterscheiden sich die beiden Rassen auch ganz bestimmt ethnologisch.h Die Polynesier tätto- wiren sich durch Nadelstiche, die Me- lanesier durch Einschnitte in die Haut mit nachfolgender Narbenbildung. Die 475 | Polynesier bereiten das berauschende Kavagetränk, welches der Papua nicht kennt; letzterer kaut dafür Betel, was wiederum der Polynesier nicht thut. Der Gebrauch irdener Geschirre ist nur den Melanesiern eigen, den Polynesiern nicht. Der Anwendung des Tabu bedien- ten sich ursprünglich nur die Polyne- sier, indessen ist in letzterer Zeit diese Sitte auch auf einigen melanesischen In- seln eingeführt worden. Die Papuas ge- brauchen Bogen und Pfeil als Kriegs- waffen, während die Polynesier sich nur der Speere, Keulen und Schleuder be- dienen. Nach allen diesen tiefgreifenden Unterschieden, wird es uns nicht Wun- der nehmen, dass auch geistig, wie mo- ralisch diese beiden Rassen wesentlich von einander abweichen. Der Polynesier steht an Civilisation jedenfalls dem Pa- pua voran, was ja selbst physisch sei- nen Ausdruck in der bedeutend höheren Schädelcapacität von 1481 C. C. gegen- über 1283 bei den Papuas gefunden hat.» Diesen mit einem höheren Grad von Bildung, als sie heute aufweisen, in die polynesische Inselwelt eingewanderten Malayen schreibt Dr. R. Krauss auch die vieldiskutirten Denkmäler der Oster- insel und anderer Inselgruppen zu. Seine Ansichten verdienen jedenfalls eine ein- gehende Berücksichtigung, und über- haupt muss das gesammte Werk als eine der besten Quellenschriften für dieses in ethnologischer Beziehung so sehr wichtige Gebiet gelten. Die typo- graphische Ausstattung ist eine vor- zügliche und das bildliche Anschauungs- material in Anbetracht des Umstandes, dass es nur bisher unveröffentlichte Ob- jekte darstellt, ein doppelt werthvolles und sehr reichhaltiges. Beiträge zur Biologie niederster Organismen von Dr. Karı Roskr, Assistenzarzt an der chirurgischen Klinik in Marburg. 30 S. mit einer 476 . lithographirten Tafel. Marburg, N. G. Elwert’sche Verlagsbuchhandlung, 1881. Der Verfasser hat eine Reihe von Versuchen über die Gewöhnung von Süsswasser-Infusorien an salzhaltige Sub- strate (Harn, Milch und Blut) angestellt, woraus er beachtenswerthe Schlüsse über die Anpassung der Krankheits-Erreger knüpft. In der Regel benützte er die in ihren Lebensverhältnissen durch die Arbeiten von CoHn, SCHNEIDER und STEIN bekannte Polytoma wvella und fand, dass sobald zu dem lebenden Objekte unter dem Mikroskope ein Tropfen Harn ge- bracht wurde, die Geisseln ihre Beweg- ungen einstellten, während der Zellin- halt zusammenschrumpft und sich von seiner Hülle zurückzieht. Die Flagel- late geht durch Wasserentziehung in den Zustand der sogenannten Trocken- starre über. Sie wird aber dadurch keineswegs getödtet, sondern lebt bei Zusatz von reinem Wasser wieder auf, Ja sie entwickelte sich in einer Flüssig- keit, welche den achten Theil Harn ent- hielt, besser als in salzfreiem Wasser. Allmälig konnte sie aber an einen grös- seren Salzgehalt gewöhnt werden und in 5 Wochen war sie demselben soweit angepasst, dass sie sich in unvermisch- tem Blute mit fabelhafter Geschwindig- keit vermehrte. Dr. Roser glaubt aus seinen Versuchen schliessen zu dürfen, dass es bei der Umzüchtung der niede- ren Organismen zu im lebenden Körper gedeihenden Krankheitserregern, weni- ger an eine Gewöhnung an alkalische Substrate (wie Grawırz glaubt), son- dern an eine Gewöhnung an die salz- haltigen thierischen Flüssigkeiten han- Litteratur und Kritik. dele. Auch bei Pflanzensamen (Bohnen und Erbsen) überzeugte sich der Ver- fasser davon, dass sie in Harn oder Hydrocele-Flüssigkeit nur anschwellen, ohne zu keimen. Er schliesst daraus, dass solche Samen, die in Luftröhre, Nasen oder Ohrgang gelangen, trotz der günstigen Bedingungen von Feuch- tigkeit, Wärme und Sauerstoff, dort des- halb nicht keimen, weil sie, oder viel- mehr ihre Mutterpflanzen, nicht an den Salzgehalt des Blutes angepasst sind. Damit kommt er zu dem Hauptsatz seiner Arbeit: »Nur derjenige Schma- rotzer oder Infektionspilz kann im thie- rischen Körper haften, der zuvor an den Salzgehalt des Blutes des letzteren „angepasst“ ist. Jede Zelle muss schrum- pfen, wenn sie aus einem salzarmen Medium, z. B. gutem Trinkwasser (salz- reiches Trinkwasser ist schlecht, d.h. in- fektionsgefährlich), direkt in Blutserum übertragen wird.< Hierdurch würden sich manche der von NÄGELI, WERNICH, Buchner und GRAWITZ ausgesprochenen Ansichten über Konkurrenz und Ver- drängung, Anpassung und Haftbarkeit modificiren und als die erste Bedingung einer erfolgreichen Impfung oder An- steckung würde sich ergeben, dass die zu übertragenden Zellen in dem neuen Medium nicht in Trockenstarre verfallen, durch Wasserentziehung in salzhaltige- ren Lösungen. Der Verfasser erörtert in seiner kleinen Schrift noch mehrere andere, mit dem Eindringen der Para- siten in fremde Organismen zusammen- hängende Fragen und seine Arbeit ver- dient die Aufmerksamkeit aller mit die- ser wichtigen Angelegenheit beschäftig- ten Mediziner und Physiologen. Be ER I RR 132 N ANY oe ii Ha, DR u 3 9088 00876 3880