COLUMBIA UWIAMiS OFFSITE HX00020184 RECAP Digitized by the Internet Archive in 2010 with funding from Open Knowledge Commons http://www.archive.org/details/lehrbuchderphysi02funk LEHRBUCH PHYSIOLOGIE AKADEMISCHE YOELESUNGEN ZUM SELBSTÜDIUM. HKGRÜXDKT VON Rri). WACiXKR, FORTnEFl'lIRT VON' OTTO FUXKK, XKIJ HKRAUSGKGERF.X VON D'^ A. GRUENHAGEN, l'ROFKSSOR DER MEDIZIN. THYSIK AN PER UNIVERSITÄT 7X KÖNIGSBERG I,PR. SIEBENTE, NEU BEARBEITETE AUFLAGE. ZWEITEE BAND. MIT HUNDERTUNDKCNF IN DEN TEXT EINGEDRUCKTEN HOLZSCHNITTEN HAMBURG UND LEIPZIG, VERLAG VON LEOPOLD VOSS. 1886. Ü,V i" QT34 Alle Rechte vorbehalten. INHALTSVEIIZEICHNIS DES ZWEITEN BANDES. ZWEITES BUCH. PHYSIOLOGIE DER NERVENTHÄTIGKEIT. ZWEITER ABSCHNITT. SPEZIELLE NERVENPHYSIOLOGIE. Seite Allgemeines. § 74 1 EESTES KAriTEL I,KTSTUXOEN DER MOTORISCHEN NERVEN. Physikaliscli-cliemische Analyse der Muskeln. § 75 3 Vom chemischen Verhalten der Muskeln. § 7(5 15 Vom elektrischen Verhalten der Muskeln. § 77 26 Physiologisches Verhalten der quergestreiften Muskeln. Allgemeine Charakteristik der Muskelthätigkeit. Erscheinungen der Muskel- thätigkeit. § 78 40 Veränderungen der i)hysikalischen Eigenschaften des Muskels bei der Thätigkeit. §79 53 Zeitlicher Verlauf der Muskelzuckung. § 80 59 Von der Erregung und der Erregbarkeit der Muskeln. § 81 71 Von der Leistungsfähigkeit der Muskeln. § 82 91 Von der Arbeit der quergestreiften Muskeln § 83 103 Thätigkeit der glatten j\Iuskeln. § 84 113 ZWEITES KAPITEL. LEISTUNGEN DER SENSIBELX NERVEN. Allgemeines. § 85 123 Gefühlssinn. Allgemeines. § 86 136 Histologie der Hautnerven. § 87 141 Tastempfindungen. § 88 150 Das Gemeingefühl. § 89 191 GeschmacTxSsinn. Allgemeines. § 90 199 Histologie der Geschmacksorgane. § 91 203 Die Geschmacksempfindungen. § 92 20 < IV TNflALTS\'RRZET('HNrS DE8 ZWEITEN BANDES. Spito GerucJu^sinn. Allgemeines. J; ^^^' 212 Histologie des Genichsorgans. § 94 214 Die Geruchseinpfiiulungen. § 95 218 Gehörssiun. Allgemeines. § 96 224 Histologie der Gehörorgane. § 97 229 Physiologische Akustik. § 98 241 Äufsere SchalUcitungsapparate des Gehörgangs. § 99 24B Schallleitungsapparate des Mittelohrs. § 100 253 Die Muskeln der Gehörknöchelchen und die Resonanz des Trommel- fells. § 101 260 Paukenhöhle und Eustachische Trompete. § 102 268 Die Schallleitung im Laliyrinth. § 103 271 Die Gehörsempfindungen. § 104 277 Die Klangempfindungen. § 105 280 Kombinationstöne, Schwebungen und subjektive Gehörsempfindungen. § 106 299 Die Gehörsvorstellungen. § 107 307 Gesichtssinn. Allgemeines. § 108 311 Histologie des Sehorgans. § 109 314 Physiologische Optik. § 110 335 Optische Eigenschaften des dioptrischen Apparats. § 111 339 Gang der Lichtstrahlen im Auge, Dioptrik des Auges. § 112 349 Spiegelung der Lichtstrahlen im Auge, Katoptrik des Auges. § 113 360 Von der Akkommodation des Auges. § 114 370 Der Akkommodationsmechanismus. § 115 385 Irradiation. § 116 405 Monochromatische Abvi'eichungen des Auges. §117 415 Chromatische Abweichung des Auges. §118 425 Funktion der Iris. § 119 429 Die Gesichtsempfindungen. § 120 432 Die Qualitäten der Lichtempfindung. § 1 21 443 Farbenblindheit. § 122 476 Kontrastfarben, Farbeninduktion. § 123 • 481 Von den zeitlichen Verhältnissen der Lichtempfindungen und den Nachbildern. § 124 491 Die Intensität der Lichtempfindungen. § 125 512 Von den Gesichtswahrnehmungeu. § 126 523 Von der Schärfe des Sehens. § 127 526 Die primitiven räumlichen Wahrnehmungen. § 128 545 Der erzogene monokulare Kaumsinn. § 129 554 Von den binokularen Wahrnehmungen. § 130 579 Die Identität der Netzhäute. § 131 582 Der Horopter. § 132 612 Vom stereoskopischen Sehen. § 133 624 Die entoptischen Gesichtswahrnehmungen. § 134 650 ZWEITER ABSCHNITT. SPEZIELLE NERVENPHYSIOLOGIE. ALLGEMEINES. § 74. Dieser grofse Abschnitt ist bestimmt, die Leistungen des ganzen Nervenapparates in seinen gegebenen Verbindungen mit anderweitigen somatischen Einrichtungen genau zu zergliedern, die Aufgabe, welche jedem einzelnen Teile desselben zugefallen ist, nachzuweisen, Er- scheinungen und Gesetze ihrer Lösung zu ermitteln. Denken Avir uns den Xervenapparat isoliert von allen nicht nervösen Gebilden des Körpers (abgesehen von seinen Ernährungsanstalten), mit denen er in Verbindung steht, Muskeln und Sinnesvorbaue ihm entzogen, so wären seine Leistungen im Dienste der Seele so ärmlich und einseitig, dafs das Vorhandensein der Seele in einem solchen Orga- nismus auf keine Weise zur äufsereu Erscheinung kommen könnte, seine Leistungen für das physische Leben natürlich auf Null reduziert. Die Seele, welche auf einen solchen Nervenapparat angewiesen wäre, würde zwar zuweilen gewissermafsen zufällige Empfindungen er- halten, wenn dieser oder jener im Gehirn in Empfindungsapparaten endigende Nerv durch einen Stofs oder elektrischen Schlag oder irgend einen andren allgemeinen Nervenreiz in Erregungszustand versetzt würde ; sie wäre aber aufserstande, die Oszillationen des Licht- äthers in Lichtempfiudungen,' der Schallwellen in Tonempfindungen umzusetzen, kurz irgend eine jener .spezifischen Bewegungen, welche ihr die mannigfachsten Belehrungen über Sein und Geschehen in der Aufsenwelt bringen, -wahrzunehmen. Ein Druck auf einen Gefühlsnerven würde Schmerzempfindung erzeugen, von einer Lokali- sierung dieser Empfindung aber, d. h. von der Bildung einer Vor- stellung über den gedrückten Ort des Körpers wäre ebensowenig die Rede als von einer Objektivierung der Empfindung, von einer Beziehung derselben auf äul'sere Gegenstände. Gänzlich unfähig wäre die Seele, auf die Aufsenwelt in irgend welcher AVeise ver- ändernd einzuwirken; der Wille, jedes ihm gehorchenden Apparates beraubt, wäre eine nutzlose Kraft. Es bedarf keiner weiteren Aus- führung dieser Betrachtung, um zu zeigen, dafs der physiologische Wert des Nervenapparates wesentlich durch dessen mannigfache Verbindung mit andern somatischen Einrichtungen bedingt ist, ohne welche der Nutzen der ihm innewohnenden Kräfte und Leistungs- GRIENHAGEN, Phvsioloeic. 7. Aufl. II. l 2 DIE SPEZIELLEN NERVENLEISTUNGEN. §74. mügliclikeiten ebenso illusorisch wäre, als der technische Wert des im Kessel gespannten Wasserdampfes ohne Kolben, Schieber und die übrigen Maschinenglieder. Es , liegt uns daher vor allem ob, Natur und Eigenschaften eben dieser mit den peripherischen Enden der Nervenröhren organisch verbundenen Gebilde zu untersuchen, um /um Verständnis der reellen, durch sie bedingten Leistungen des Nervensystems zu gelangen. In der allgemeinen Nervenphysiologie ist vielfach von motorischen Nervenfasern die Rede gewesen, es gibt jedoch keine Faser, welche an sich, vermöge gewisser ihr selbst angehörender spezifischer Eigenschaften und Kräfte als motorische andern gegenüber stände; die Nervenfaser wird lediglich dadurch zur motorischen, dafs ihr Ende oder ihre Enden in bestimmter Weise mit den als Muskelfasern bezeichneten Gewebselementen verwachsen sind, in denen ihr Thätigkeitszustand den Vorgang der Verkürzung bewirkt. Ebenso ist keine Faser an sich eine Empfindungsfaser; sie wird es zunächst dadurch, dafs sie in den Zentralorganen mit solchen Apparaten verbunden ist, in denen ihr Thätigkeitszustand einen Empfindungsvorgang veranlafst; allein dadurch wird sie nur zur Empfindungsfaser im allgemeinen, nicht aber zur Sinnesnervenfaser. Die nackten Fasern des Sehnerven würden, selbst wenn sie frei zu- tage lägen, durch die intensivsten Lichteindrücke im ruhenden Zu- stande gelassen werden, geschweige dafs sie der Seele aus räumlich getrennten Lichteindrücken ein Bild zuführen könnten; für die nackten Fasern des Hörnerven wäre die Schallwelle kein Reiz, geschweige dafs sie die AVahrnehmung von Tönen verschiedener Höhe vermitteln könnten. Die Vorbaue an den peripherischen Enden der sensiblen Nerven , der komplizierte dioptrische Apparat des Auges, der komplizierte Schallleituugsapparat des Ohres, die eigentümlichen Bewaffnungen dieser Nervenenden selbst sind es, welche eine Nerven- faser zur Erregung durch Licht- oder Schallwellen geschickt machen, aus deren Einrichtungen die Möglichkeit räumlicher "Wahrnehmung, der Unterscheidung von Tonhöhen und Schallnüancen erklärlich wird. Von der Betrachtung der Leistungen motorischer und sensibler Nervenfasern ist demnach selbstverständlich die Untersuchung der Gebilde, in welchen ihre Leistungen zur Aufserung kommen, oder durch welche sie zu gewissen Leistungen fähig gemacht werden, unzertrennlich. Ebenso verhält es sich bei den übrigen physiologi- schen Nervenklassen; der elektrische Nerv des Zitterrochens z. B. besteht aus gleichbeschaffenen Fasern, wie der motorische Nerv irgend welchen Tieres; zum elektrischen wird er lediglich durch die An- lötung der elektrischen Platten an seine peripherischen Faserenden u. s. w. Wir beginnen mit der Erörterung der Leistungen der moto- rischen Nerven, d. h. mit andern Worten, mit der Physiologie der Muskeln. §7n VON DEN MOTORISCHEN NERVEN. ERSTES KAPITEL. LEISTUNGEN DER MOTOßISCHEN NERVEN. PHYSIKALISCH-CHEMISCHE ANALYSE DER MUSKELN. !^[iiskel arten. Zweierlei Gewebselemeute von verschiedenem Bau führen den Namen Muskeln, weil sie die physiologische Fähigkeit o^emein haben, auf Reizung der mit ihnen verbundenen Nervenfasern oder auch auf direkte Reizung ihrer Substanz sich zu verkürzen. Diese beiden Muskelarten bezeichnet man ihrer histologischen Be- schaffenheit nach als quergestreifte Muskelfasern und als glatte Muskelfasern oder kontraktile Faserzellen. Aufser ihnen be- sitzt kein andres Gewebselement die Fähigkeit, auf Einwirkung irgend eines Agens sich aktiv in dem umfang und mit der Kraft, wie die Muskelfasern, zu verkürzen und dadurch Lage und Formver- änderungen einzelner Teile oder mittelbar Ortsbewegung des ganzen Körpers hervorzubringen. Jene ältere Anschauung, welche eine be- sondere Art von Bindegewebe als kontraktil gelten und z. B. die Steifung der Brustwarze, die Erhebung der Haarbälge, die Er- weiterung und Verengerung der Pupille bewirken liefs, ist namentlich durch Koellikers Forschungen für immer beseitigt worden. Wir wissen jetzt, dafs auch die eben genannten BeAvegungs- vorffänge durch wahre Muskelelemente von demselben Bau und den- selben Eigenschaften, wie anderwärts, hervorgebracht werden. Bei gewissen niederen Tieren ist das Vermögen der Kon- traktilität an eine zähflüs.sige , von Dujardin Sarkode ge- nannte Substanz gebunden. Dieselbe zieht sich freilich nicht in einer bestimmten Richtung, wie die Muskelfasern, sondern nach allen möglichen Richtungen zusammen und verleiht deshalb jedwedem aus ihr gebildeten Formelement die Fähigkeit, wie knetbares "Wachs alle möglichen Gestalten anzunehmen. Ein ganz analog gebauter Stoff ist es auch, welcher die bereits früher erwähnten amöboiden Bewegungen der farblosen Blut- und Lymphzellen bedingt, den Bewegungen der Samen- und Flimmerzellen und endlich den- jenigen des Protopla.smas vieler Pfianzenzellen zu Grunde liegt. Man wird daher M. Schcltze unbedingt beipflichten müssen, wenn er die von Düjardin ausschliefslich der Sarkode zugeschriebenen BAU DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. .1 physiologisclien Eigenschaften allgemein dem Zellprotoplasma zuer- kennt und in der Sarkode nur eine Modifikation des letzteren erblickt. Da nun aber der Inhalt der Muskelfasern nichts als umgewandelter Zellstoff ist, wie histologisch und entwickelungsgeschichtlich nach- gewiesen werden kann, so folgt hieraus weiter, dafs Muskelkontrak- tilität, Flimmerbewegung, amöboide Beweglichkeit nur Entwickeluugs- stufen eines und desselben physiologischen Vermögens darstellen, deren höchste in dem am feinsten ausgearbeiteten, am kompliziertesten gebauten Elemente, den quergestreiften Muskelfasern, zum vollen- detsten Ausdruck gelangt. Es ist klar, dafs die physiologischen Theorien der Muskelkon- traktion mit der Struktur der kontraktilen Substanz in Einklang stehen müssen, und ebenso klar auch, dafs die für die physiologische Leistung wesentlichste Formentwickelung am schärfsten in denjenigen histologischen Elementen hervortreten mufs, welche die ihnen erteilte Aufgabe am vollkommensten lösen. Wir sind daher genötigt, dei' später folgenden physiologischen Betrachtung eine gedrängte Dar- stellung der wichtigsten histologischen Verhältnisse der Muskelsubstanz voranzuschicken und werden unsern Bericht mit der Beschreibung des Baues der quergestreiften Muskeln beginnen. Mikroskopisches Verhalten der Muskelsubstanz. Bau der quer- gestreiften Muskeln. Die anatomisch getrennten, die verschiedenen Glieder des Skelettes verbindenden gröberen Muskelmassen zeigen schon dem blofsen Auge eine deutliche Längsfaserung und lassen sich leicht durch Präparation in gröbere und feinere Bündel spalten ; die nächste Grenze der Teilbarkeit ist er reicht bei Fasern, welche mit unbewaffnetem Auge eben noch als äufserst zarte Fädchen wahrzunehmen sind. Diese Fädchen, welche man Muskelfasern oder Muskelprimitivbündel nennt, erscheinen unter dem Mikroskop als schwach gelblichgefärbte oder farblose, durchscheinende Fasern, von rundem, ovalem oder auch polygonalem Querschnitt mit variablem Querdurchmesser; nach KoEM.iKER^ schwankt derselbe bei Fasern verschiedener Muskeln, aber bis zu gewissen Grenzen auch in einem und demselben Muskel, zwischen 11 und 67 lt. Bei den kui'zen Muskeln gröfserer und bei sämtlichen Muskeln kleinerer Tierarten, wie z. B. der Frösche, erstreckt sich jedes solche Primitivbündel durch die ganze Länge des Muskels und heftet sich zu beiden Enden desselben mit je einer abgerundeten oder facettenartig (Du Bois-Reymond'^) konstruierten Kuppe an die Sehnensubstanz fest. Bei den langen Muskeln gröfserer Tiere existiert indessen eine solche direkte Verbindung der Ursprungs- und Ansatz- sehne durch je ein Primitivbündel nicht. Hier laufen, wie Rollett^ zuerst gezeigt hat, die von den sehnigen Enden entspringenden Primitivbündel im Innern des Muskelkörpers in freie Spitzen aus, von welchen die gegenüber- stehenden durch Einschaltung sei es eines einzigen beiderseits zugespitzten, also im ganzen spindelförmig gestalteten Primitivbündels oder mehrerer solcher Muskelspindeln untereinander verlötet werden. Letztere erreichen nach W. Kratse'*, welcher die Roi.LETTschen Befunde in umfassender Weise prüfte und • KOELLIKER, Ilundh. d. Gewebelehre. 5. Aufl. Leipzig 18C7. p. 157. '^ E. Du BOIS-ReyMOND, Monatsber. KOELLIKEK, Handb. d. Geivebelelirf. 5. Aufl. Leipzig 1867. p. lö" u. 158. BAU DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. § 75. ein Aggregat von den eigentlichen Elementarteilchen des Muskels, indem sie aus einer einfachen Schicht nebeneiuandergelagerter und ebenfalls durch eine ßindesubstanz mit ihren Seiten aneinandergekitteter rundlicher Primitivpartikel- chen, .,sarcoHS elemeiits,'''' Fleischteilchen, zusammengesetzt ist. Mit andern Worten: nach Bowman besteht die Muskelfaser aus einer Unzahl solcher rund- licher Fleischi:)artikelchen, welche durch eine indifferente Grundsubstanz ver- klebt und so angeordnet sind, dafs sie in der Längsrichtung streng hinterein- ander in Reihen, den Primitivfibrillcn, und in der Querrichtung streng in gleichen Ebenen, den discs, liegen. Eine grofse Zahl von Mikroskopikern Bruecke,Roij.ktt, Haeckkl, Budgk, MuxK, AV. Krause u. a. ^ teilt, gewisse Modifikationen abgerechnet, diese An- schauung, insofern die genannten Forscher sämtlich als letzte Elemente des Muskels kleine rundliche oder längliche sarcoiis elements und eine diese Teil- chen in der Längs- und Querrichtung verkittende Bindesubstanz annehmen. Auch CoHNHEiM hat sich ihnen auf Grund seiner oben erwähnten Untersuchungen »•efrorener Muskeln angeschlossen, da er der allerdings von ihm nicht weiter bewiesenen Meinung ist, dafs sich die Kittsubstanz, welche die von ihm ge- sehenen polygonalen Felder des Faserquerschnitts seitlich umgrenzt, allerorts, also auch ober- und unterwärts, um dieselben ergiefst, letztere mithin das Durchschnittsbild kleiner, unregelmäfsig gestalteter, solider Prismen darstellen, welche in einer weichen, zähflüssigen Grundmasse eingebettet liegen. Eine dritte von Kühne und Berlin'- aufgestellte Ansicht endlich nimmt keinerlei Gliederung in dem Inhalte der Muskelfaser als vorgebildet an, sondern erblickt in derselben eine homogene flüssige oder „festweiche" Masse, in welcher sich unter LTm- ständen Fibrillen oder Plättchen durch einen Gerinnungsakt nach erfolgtem Tode abscheiden. Es ist klar, dafs die Frage, ob ein anatomisches Strukturverhältnis schon während des Lebens präformiert gewesen oder erst nachti-äglich durch Zer- setzuno-svorgänge irgend welcher Art bedingt worden ist, nur so lange in der Schwebe erhalten werden kann, als Mittel und Wege fehlen, das Bestehen des- selben auch im lebenden Gebilde mit Sicherheit nachzuweisen. Eine solche Lücke der Untersuchungsmethoden existiert alier für das Muskelgewebe nicht. Drei Thatsachen namentlich sind es, welche der Betrachtung frischer lebender Gewebsteile abgerungen, dem Schwanken der histologischen Auffassung ein Ende machen und derselben eine durchaus einsinnige Richtung erteilen müssen. Die eine ist von G. Wagener ^ bei der Beobachtung kleiner Insektenlarven ( Corethra plumicornis) gefunden worden, deren Durchsichtigkeit das Spiel ihrer Leibesmuskeln klar zu erkennen gestattet. Während der Kontraktion der platten Kopfmuskeln dieser Tiere soll es sich nicht selten ereignen, dafs die querge- streiften Primitivbündel sich fibrillär zerspalten, ohne dabei in ihrer späteren Funktionierung beeinträchtigt zu werden oder auch nur die Fähigkeit zu ver- lieren in erschlaft'tem Zustande zu ihrer ursprünglichen Anordnung zurück- zukehren, eine Wahrnehmung, wie man sieht, welche einen ganz unmittelbaren Beweis für die Präexistenz der Fibrillen enthält. Auch Hensen •* ist es geglückt lebende Primitivbündel in Fibrillen zu zerlegen. Dafs der faserige Zerfall der kontraktilen Masse in den von ihm beobachteten Fällen nicht auf einem vor- ausgegangenen Gerinnungsprozefs beruht haben könne, bew^ies er aus einem sehr auffälligen Reaktionsunterschied der aus totenstarren und der aus leben- den Muskeln isolierten Fibrillen, von welchen jene bei Zusatz schrumpfend 1 BrueCKE, Denkschriften d. Akacl. d. Wiss. zu TK(en. Matli.-ntw. Cl. 1858. Bd. XV. p. 69.— RüLLETT, a. a. O. — HÄCKEL, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1857. p. 469. — MUNK, Nachr. von d. Univ. u. d. }c(j!. Ges. d. Wi.ix. zu Göttingen. 1858. Nr, 1, u. De fihra viusculari. Diss. Berol. 1859. — W. Krause, Nachr. von d. Unit), u. d. kql. Ge.i. d. TTm. zu Gottingen 1858. Nr. 17 u. 18; Zischr. f. rat. Med. III. E. 1868. Bd. XXXIII. p. 265, Bd. XXXIV. p. 110. 2 KÜHNE, Arch. f. Anat. u. Phijsiol. 1859. p. 418 u. 564. — BERLIN, Arch. f. d. holtand. Bei- träge zur Natur- u. Heilkunde 1^857. Bd. I. p. 417. 3 G. WAGENER, St:ber. d. Gex. :iir Reförd. d. gen. Natura}, zu Marburg. 1872. Nr. 2. März ji. 25; Arch. f. mikrosk. Anat. 1874. Bd. X. p. 303. * Hensen, Arbeiten aus d. Kieler physiol. Instituf. 1868. §75. BAU DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 9 wirkender Chemikalien unter dem Mikroskope ihre Form unverändert beibe- hielten, diese sich schon bei Zusatz kleiner Mengen Serum, Salzlösung oder Speichel fast augenblicklich zu einem unentwirrbaren Knäuel zusammenrollten. Die zweite hier in Betracht zu ziehende Thatsache ist von Kühne ^ zuerst be- richtet worden und Ijetritft das Verhalten der quergestreiften, lebenden Muskel- substanz während des Aufenthalts kleiner durch das Sarkolem in dieselbe ein- gedrungener und sich bewegender Parasiten [Myoryctes Weismanni). Selbst- verständlich ist die Beobachtung eines solchen Ereignisses stets nur eine zufällige und daher aufser Kühxe bisher nur noch einem einzigen andren Untersucher, Eberth ■-, geglückt. Beide sahen übereinstimmend, dafs der Itewegliche Parasit in der Muskelsubstanz alle möglichen Lageveränderungen der dunkeln Quer- streifen hervorrief, dafs letztere aber sofort auch in ihre frühere Stellung zurück- schnellten, sobald die störende Ursache sich aus ihrer Nachbarschaft entfernt hatte. Während Kühne aber in diesem Verhalten der Muskelmasse einen zweifel- losen Beweis für seine oben angeführte histologische Auflassung derselben er- blickt, vermag Eberth die ganze Erscheinung auch mit der eventuellen Anwesenheit fibrillärer Elemente im Muskelinneren zu vereinen und weist Henle * in seinem Bericht über die KüHNE-EBERTHschen Beobachtungen mit Recht darauf hin, dafs die feste Lagerung, welche den dunklen Querstreifen (sarcous elenients) nach jenen Beobachtungen zukomme, viel leichter verständlich werde, wenn man sich den eingedrungenen Parasiten zwischen feinen, biegsamen Fäden durchschlüpfend, als wenn man sich denselben mit Kühne in einer Flüssig- keit mit lose suspendierten Körnchen umherschwummend vorstelle, wobei eine bleibende Lageveränderung der letzteren doch unvermeidlich sei. Die letzte und wichtigste Thatsache endlich, welcher hier gedacht werden mufs, verdanken wir den schönen Untersuchungen E. Brueckes. Aus denselben geht hervor, dafs die dunklen, nach Bowmans Annahme aus den sogenannten sarcous elemeuts zusammengesetzten Querstreifen der Primitivbündel nicht allein ein stärkeres Lichtbrechungsvermögen als die hellen besitzen, das einzige bis auf Brüecke bekannt gewesene physikalische Unterscheidungsmerkmal beider Zonen, sondern wesentlicher noch darin voneinander abweichen, dafs die dunklen Zonen aus einer doppeltbrechenden (anisotropen), die hellen Zwischenglieder aus einer einfach l)rechenden (isotropen) Substanz bestehen. Diese wichtige Entdeckung gilt auch für zweckmäfsig konservierte und erhärtete, quergestreifte Muskelfasern, sei es dafs die letzteren noch in Gestalt unversehrter Primitiv- bündel oder nacb Zerlegung in ihre Primitivfibrillen unter das Polarisations- miskroskop gebracht werden. Brueckes Methode und Beweisführung hier wieder- zugeben fehlt der Raum, von gröfserer Bedeutung ist es, einige Ergebnisse derselben, zu welchen die genauere Zergliederung des bereits erwähnten Grund- faktums geführt hat, in kürze hervorzuheben; Bruecke hat zunächst die Ai't der Doppelbrechung physikalisch genauer bestimmt und bewiesen, dafs sich jedes sarcous dement wie ein doppelt brechender, positiv einachsiger Körper verhält, dessen optische Achse stets der Längsachse der Phaser parallel liegt. Auf Grund gewisser Erscheinungen, insbesondere der wechelnden relativen Breite beider Zonen oder des gänzlichen Mangels dieser Gliederung, nimmt Bruecke weiter an, dafs jedes sarcous element nicht aus einem einzigen doppeltbrechenden Körper, sonde^-n aus einer Gruppe aufserordentlich kleiner doppeltbrechender Teilchen, welche er mit den Namen Disdi aklasten bezeichnet, bestehe. Diese Disdiaklasten betrachtet er als feste Moleküle von unveränderlicher Gröfse, Ge- stalt und Lage der optischen Achse, welche nur durch eingreifende chemische Einwirkungen zerstört, ihrer doppeltbrechenden Eigenschaften beraubt werden. Das verschiedene Ansehen der Muskelfasern, die verschiedene Breite der Zonen rührt nach Bruecke von einer verschiedenen Verteilung der Disdiaklasten in der isotropen Grundsubstanz, von einem „Aufmarschieren derselben in verschieden ' KÜHNE, Arcli. f. puth. Anat. 1863. Bd. XXVI. p. 222. ä Eberth, 7.tschr. f. wiss. Zimlopie 186:^. Bd. XII. y>. 530. •' Hksi,E, Jahresbei: üb. d. Fortschr. d. Anat. 1862. p. 24 u. 25. 10 BAU DER QUERGESTREIFTEX MUSKELN. § 75. tbnnierten Koluiinen" her, während eine ganz gleichiiiäisige ^'erteilullg der- selben das Vorschwinden der Querstreifen (und den gänzlichen Mangel derselben in den unten zu betrachtenden glatten Muskelfasern) bedingen sull. Ausgerüstet mit diesem Vorrat positiver Kenntnisse fällt die lieantwortung der Frage nach der elementaren Struktur der Muskelfaser weniger schwer; handelt es sich doch nur darum, sämtliche in vorstehendem mitgeteilten Thatsachen zu einem einheit- lichen Bilde zusammenzufassen. Diese Aufgabe scheint uns aber gelöst, wenn wir die von Sarkolem umhüllte (juergestreifte Masse aus weichen« Priniitivfibrillen zusammengesetzt annehmen, welche im lebenden Gewebsteile durch ein ebenfalls ungemein weiches Bindemittel untereinander verlötet und aus zweierlei physi- kalisch diöerenten Substanzen, einer doppelt- und einer einfach brechenden, auf- gebaut sind. Liegen die kleinen Moleküle, aus welchen die erstere nach Brueckk besteht, gruppenweise vereint in Querreihen nebeneinander, so er- teilen sie der Längsansicht der Muskelfaser die bekannte Querstreifen-Zeichnung. Die gleichmäfsige Tüpfelung, welche die Querschnittfläche von Säugetiermuskeln zeigt, und die CoHXHKiMsche Mosaik, welche man auf dem Querschnitte der Frosch-, Krebs- und Insektenmuskehi walirnimmt, hingegen entsjjrechen quer- durchschnittenen Fibrillen-Gruppen, welche durch eine Kittsubstanz, Rolletts Sarkoplasma, voneinander getrennt, dort aus einer geringen und im ganzen gleichen Anzahl von Elementen, hier aus dickeren und der Zahl nach wech- selnden Fäserchen zusammengefügt sind. Was endlich die von Koeli.iker zuerst beschriebenen Körnerreihen und die Kerne anbelangt, welche letzteren heutzu- tage wohl unbestritten als Abkömmlinge der embryonalen Bildungszellen des Muskelrohrs (Remak) angesprochen werden dürfen\ so ist das Vorkommen dieser beiden unbeständigen, physiologisch übrigens wenig bedeutsamen Form- bestandteile auf die Kittsubstanz jjeschränkt, welche die Grupjien der Primitiv- fibrillen umhüllt und voneinander scheidet. Unberücksichtigt blieben in unsrer Dar- Pj„ -^ legung des Muskelbaues bisher nur die feineren Strukturdiiferenzen, welche das einfache Bild der .„, Querstreifung komplizieren, die dunkle Querlinie « . v. Phnxioi. 1861. p. 41. 3 Eberth, Arch. f. path. Anut. 1866. Bd. XXXVII. p. 100. •• Koelliker, MitHieil. d. nului-f. Ge.s. in Zürich. 1847. 1. Heft. p. iS; Zl.iclir. f. wixr.'lixdog'«-. 1849. Bd. I. p. 48; Hundb. d. Gewebelehre. 5. Aufl. Leipzig 1867. p. 85. 12 üAT T)E]\ GLATTEN MUSKELN. §75. glattes, homogenes Aussehen, bisweilen jedoch eine feine unterltruchene paral- lele Längsstreifnng. Gar nicht selten glaubt man auch eine deutliche Qner- streil'ung wahrzunehmen. Genaueres Zusehen lehrt jedoch, dafs dieselbe durch l)isweilen sehr regelmäfsig aufeinander folgende (s. Fig. 76) Verdickungen der Zellsubstanz, erstarrte Kontraktionswellen, bedingt ist, welche der Natur der Saclie gemäfs weniger Licht passieren lassen, als die dazwischen befindlichen dünneren Partien der Wellenthäler. Eine echte Querstreifung geht den kdutraktilen Faserzellen ab, und zwar nach Brukckk deshalb, weil ihnen die doppelt- l)rechenden Mole- !•''?• "'"'■ küle (Di^idiaklasten) gänzlich fehlen oder weil letztere in der isotropen Grundsub- stanz absolut gleich- niäfsig verteilt sind. Sämtliche Faser- zellen ermangeln einer vom Inhalt ge- sonderten Membran. Was das Verhalten der kontraktilen Faserzellen gegen Reagenzien be- trifft, so ist hervorzuheben, dafs in Essigsäure ihre Substanz aufquillt und voll- kommen hyalin wird, die Kerne aber deutlicher und schärfer hervortreten ; dasselbe bewirkt Atznatron und sehr verdünnte Salzsäure. Verdünnte Salpeter- säure dagegen verdichtet die Zellsubstanz, so dafs die Kerne unsichtbar werden und färbt sie gelb ; aus Muskelhäuten, welche entweder nach Reicheiit mit 20V'> Salpetersäure oder noch besser nach Moleschott mit 35 — 38% Kalilösung einige Zeit behandelt worden sind, lassen sich die Zellen leicht isolieren.' In den aus glatten Muskeln gebildeten Geweben findet man die Faser- zellen dicht aneinander gelagert und durch eine mit verdünnten Höllenstein- lösungen schwarz zu färbende Kittsubstanz innig verbunden. Die letzte morphologische Frage, welche zu erörtern bleibt, bezieht sich auf das Endverhalten der motorischen Nerven, die Art ihrer Verknüpfung mit den verschiedenen Formen des Muskelgewebes. Eine lange und in gewisser Hinsicht noch keineswegs abgeschlossene Diskussion hierüber hat ergeben, dafs für die quergestreifte Muskulatur ein doppelter Typus der Nervenendigung in- sofern existiert, als das mehrfach zerklüftete Achseucylinderende der motorischen Nervenfaser, die Nervenendplatte {e e Fig. 77, 78) entweder vollkommen nackt (Fig. 77, Versilberungspräparat, Frosch), oder von einer besonderen proto- plasmaähnliclien, mit mehrfachen (in der Abbildung fehlenden) Kernen durch- säten Umhüllungsmasse (w Fig. 78, Goldpräparat, Eidechse), den sogenannten Nervenhügel überdeckt, der kontraktilen Inhaltsmasse des Muskelprimitiv- bündels {c c) aufliegt. Diese Variabilität in der äufseren Bildung darf jedoch keineswegs als Beweis für eine innere physiologische Differenz angesehen werden, da Übergänge zwischen den beschriebenen beiden Endigungstypen nicht zu den Seltenheiten gehören.- Die nackte Endplatte ist der häufigste Fall beim Frosch und überhaupt bei den nackten Amphibien, die zweite kom- pliziertere Form findet sich durchgehends bei Insekten, beschuppten Amphibien, Vögeln, Säugetieren und Menschen. Über die histologische Bedeutung des Nervenhügels stehen zwei Ansichten einander gegenüber. Nach der einen wäre derselbe ein sjjezifisches zur Endplatte gehöriges Gebilde, nach der andren nur eine lokale Anhäufung des zwischen den Primitivfibrillen ausgegossenen Sarko- ' REICHKRT. Areh. f. Anat. n. Phi/slol. 1849. )). 517. — LEHMANN, Lehrh. ä. plimiöl Chemie. 2. Aufl. Leipzig' ISö.^. ßd. III. p. 55, u. Hdbch. ä. phi/sml. Chemie. 2. Aufl. Leipzig 1860. p. 215. — Paulsen, Obuere. microchem. circa nonnullas animaiiuin teltis. Diss. Dorpat 1848. ä Bremer, Arch. f. mik-rosk. Anat. 1882. Bd. XXI. p. 165. §75. BAU DER GLATTEN MUSKELN. 13 plasraas (Rolle tt).^ Für die Richtigkeit der letzteren Anschauung würde die ältere Angabe Waldeyers -, wonach der Nervenhügel der Krebsmuskeln die ge- samte Oberfläche des Primitivbündels allseitig umscheidet, eine nicht un- wichtige Stütze abgeben. Physiologisch bedeutungsvoller ist jedenfalls der Nachweis, dafs ein Muskelbündel mit mehreren Endplatten ver- sehen sein kann.' Die Kenntnis des ersten schon von R. Wagner für wahrscheinlich ge- haltenen Typus ist erst seit Kühnes * Arbeiten Gemeingut der Forschung ge- worden; die Entdeckung des Nervenhügels verdanken wirDoYERE, welcher den- selben bei Insekten (Tardigraden) auffand, und Rouget,^ welcher nachwies, dafs auch bei den Säugetieren und Vögeln die Zutrittsstelle des motorischen Nerven an das Muskelprimitivbündel durch ein dem DoYERESchen Nervenhügel entsprechendes Gebilde bezeichnet werde. Kühnes fernere Behauptung, dafs die Endausbreitung des motorischen Froschnerven mit spezifischen Endorganen (Nervenendknospen) versehen sei, kann als beseitigt angesehen werden, da Kühne *' selbst die fraglichen Elemente (K K Fig. 77) mit Engelmann' als Reste der embryonalen Bildungszellen des Achsencylinders deutet. Aufser den beschriebenen Endigungstypen unzweifelhaft motorischer Nervenfasern begegnet man aber auch noch einem dritten, welcher von viel schmäleren Nervenfasern hergestellt wird, und bei welchem der Achsen- cylinder dolden- oder pinselförmig in kurze Endäste zerfährt. Der Entdecker ** dieser dritten x\rt muskulärer Nervenendigung (der Endtrauben oder Enddolden) glaubte dieselbe als eine unentwickelte embryonale Form der echten motorischen Endplatte ansprechen zu dürfen, nach einer andren Anschauung^ hätte man es dagegen mit einem besonderen Endapparat sensibler Muskelnerven zu thun. Darf nun aber auch als unzweifelhaft festgestellt angesehen werden, dafs die motorischen Nerven innerhalb des Muskels mit einer eigentümlichen End- verzweigung an das Primitivbündel herantreten, so gewährt diese histologische Thatsache an und für sich immer noch keinen Aufschlufs über den inneren Zusammenhang von Nerven- und Muskelthätigkeit, welche nach physiologischen Erfahrungen die eine in die andre unmittelbar übergehen. Vielmehr deutet im Gegenteil alles, was die mikroskopische Technik geleistet hat, viel eher darauf hin, dafs nirgends ein Verschmelzen von Nei-ven- und Muskelsubstanz ' ROLLETT nach V. EBNER, Protokolle des internut. inedicln. Congressen. Kopenhagen 1884. Sektion f. Anat. 2 Wald?;ver, Cfrlbt. f. d. med. Wissensch. 1863. p. 369. 3 KÜHNE, Periph. Endorg. d. niotor. Nerven. Leipzig 1863. — FÖTTINGEK, Arcli. de biologie. 1880. T. I. p. 279. — BREMER, a. a. O. * KÜHNE, ihiolog. Unters. Leipzig 1860; Cpt. rend. 1861. T. LH. p.316; Über die peripher. Kndorg. d. rnotor. Nerven. Leipzig 1862; Arch. f. pathol. Anat. 1846. Bd. XXX. p. 187, 1865. Bd. XXXIV. p. 412. - R. WAGNER, Hdwörtbch. d. P/n/siol. 1846. Bd. III. Abth. 1. p. 388. " DOYKRE, Annal. des .tciences nutur. Zoologie. 1840. II. Sdr. T. XIV. p. 346. — ROUGET, Cpt. rend. 1862. T. LV. p. 548; Journ. de la physiol. 1864. T. V. p. 574. 6 KÜHNE, Unters, aus d. physiol. Instit. d. Universität Heidelberg. 1880. Bd. III. p. 1 (121j. ' Engelm.ANN, Unters, üb. d. Zusammenhang ron Nerp v. Muskelfaser. Leipzig- 1863. 8 TSCHIRJEW, Cpt. rend. 1878. T. LXXXVII. p. 604; Arc/i. d. physiol. norm, et pathol. 1879. II. S(?r. T. VI. p. 89. — RANVIER, Truite technique d'histologie. 1882. Fascicule VI. p. 835. 0 Bremer, Arch. f. mikro.'l- 't''«- -" Göttinfien. ISGl. Nr. 1'); :S62. Nr. lü. 2 O.Nasse. Pfluegers Arcli. 1869. Bd. n. p. 97: 1877. Bd. XIV. p. 47:1 (480). — BRUECKK, Wiener St:her. Math.-ntw. Cl. 1871. 2. Abth. Bd. LXUI. n. 214. — S. WEISS, ebond.i. 2. Abth. Bd. LXIV. p. 284. 2* 20 CHJIMISCHKS VKJJIIALTEX DKI! MI'SKKIA. §70. stens im vuhciHleii, frisch au.sjj:eschiiitteneii Muskel fehlt. In betreff der Muskelgtise, des Simerstoffs und der Kohlensiuiro, endlich Avissen wii- von ersterem nur, dafs er sicher aus dem Blute '/Aim Muskelparencliyni übertritt, dort aber sogleich chemisch gebunden wird, von letzterer, dafs nur kleine Anteile derselben im ruhenden, frischen Muskel vor- kommen. Ausgeschnittene, miiglichst unveränderte Muskeln vom Frosche geben daher uumittell)ar nur wenig CO» (in einem Falle 2,74 Vol.'Vo bei 0^' und 1 m Hg ü.), gar keinen O an die ToRiu- CELLische Leere der GEissLERschen Gaspumpe ab (L. Hermann).^ Niehtsdesto wenige]' knüpft sich gerade an diese lange Zeit nur wenig beachteten, stickstofffreien Bestandteile aus dem oben an- geführten (li'unde das regste ])hysiologische Interesse. Der erste Versuch, das Stattfinden eines chemischen Umsatzes im ]\[uskel während seiner Thätigkeit nachzuweisen, rühi't von Helmiioltz- her. Helmholtz fertigte Avässerige und alkoholische F]xtrakte aus Froschmuskeln au, von welchen die einen durch häufig wiederholte Kontraktionen stark ermüdet, die andern frisch und aus- geruht waren. Verglich er alsdann die Rückstände der verschiedenen Extrakte untereinander, so stellte sich regelmäfsig heraus, dafs das alkoholische Extrakt der ei'müdeteu Muskeln reichhaltiger, das wässerige ärmer an gelösten Bestandteilen wai-, als die entsprechenden Extrakte der nicht in Thätigkeit gewesenen Muskeln. Diese Beobachtung, welche später mehrfach bestätigt wurde ^, ist wichtig, gibt aber selbstverständlich keinen Aufschlufs über die Beschaffenheit der Stoffe, deren chemische Umgestaltung das verschiedenartige Ver- halten der Extraktrückstände bedingt. V^on ganz besonderer Bedeutung war es daher, als Du Bois-Reymoxd'^ die chemische Veränderlichkeit der Muskelsubstanz während ihrer Thätigkeit au einem ganz be- stimmten chemischen Körper darzuthun vermochte und durch den Nachweis, dafs die neutrale oder schwach alkalische Reaktion frisch ausgeschnittener, ruhender Muskeln, sowohl infolge anhaltender, aber nicht die Lebensfähigkeit vernichtender Kontraktionen, als auch infolge des Absterbens, durch Entwickelung von Fleisch milch- säur e in eine deutlich saure übergeht, den Stoffumsatz des thätigen Muskels zum ersten Male klarlegte. Die haui^tsäcliliclien Beweise liefern folgende Yersuche Du Bois-Retmonds. Trennt man einem lebenden oder soeben ohne vorhergegangene heftige Be- wegungen gestorbenen Tiere (z. B. einem durch Pfeilgift getöteten) einen Muskel ab, so findet man die Reaktion eines frisch angelegten Querschnittes desselben ausnahmslos neutral oder schwach alkalisch, auch dann, wenn man vorher durch Ausspritzen der Gefäfse mit Wasser oder Zuckerlösung das Blut entfernt hat, um den Einwand zu beseitigen, dafs die alkalische Reaktion des Blutes ' L. Hermakn, i'nfers. üb. d. Stoffwechsel cl. Muskeln. Berlin 1867. j). 1 (g. 2 Helmholtz, Arch. f. Anat. «. 'piiysiol. 1845. p. 72. '' J. Ranke, Tetanus, eine p/njsiol. Studie. Leipzig 1865. * E. D[l ]}0IS-REYM0NÜ, De ßb/-ae muscular. reuctione, ut cliemici-s rixa est acida. Herl. 1S59; Monatsber. d. kgl. pyeuf.i. .ikad. d. Wiss. :u Berlin. 1859. p. 288. § 7(5. CHEMISCHES VEEHALTEX DER 3[CSKEL.\. 21 die saure des Pareiichynisaftes verdeckt habe. Läfst mau einen solclien durch - schnittenen Muskel vor dem Vertrocknen geschützt liegen, so findet man nach einiger Zeit den früheren Quer.schnitt lebhaft sauer gewoi'den, während ein frisch an einer andren Stelle angelegter noch neutral reagiert, nach einer weiteren Frist aber ebenfalls sauer erscheint, bis eine Zeit kommt, wo auch jeder frische Querschnitt unmittelbar sauer reagiert. Das Sauerwerden eines anfangs neu- tralen Querschnitts rührt nicht von einer an der Luft eintretenden Oxydation, sondern von dem durch die mechanische Verletzung bedingten schnellen Tode her, da der Erfolg derselbe ist, wenn man die ]\[uskeln vmter Quecksilber durch- schneidet und aufbewahrt. Alle Einwirkungen, welche den Eintritt der Toten- starre des Muskels herbeiführen, setzen die alkalische Keaktion seines Inhalt.s in eine saure um, mit einer einzigen Ausnahme. Während nämlich frische Muskeln, wenn man sie wenige Minuten einer Temperatur von 45 — 50 " ('. aus- setzt, augenblicklich sauer werden, erscheinen Muskeln, welche kurze Zeit der Siedehitze ausgesetzt wai'en, zwar starr, aber alkalisch und bleiben alkalisch. Sauer reagierende Muskeln werden, wenn die Fäulnis bis zu einem gewissen Grade fortgeschritten ist, endlich alle durch Bildung von Ammoniak wieder alkalisch. Was die lebendige Säuo'ung des Muskels durch erschöpfende Thätigkeit anbelangt, so beobachtet mau dieselbe am besten an Tieren, welche nach Strychuinvergiftung unter anhaltenden heftigen Krämpfen gestorben, oder au Muskeln, welche bis zur Erschöpfung mit Induktionsströmen von ihren >»erveu und dann von ihrer eignen Substanz aus tetanisiert worden sind; jeder frisch angelegte Querschnitt der so angestrengten Muskeln reagiert lebhaft sauer. Durchschneidet man vor der Strychninvei'giftung oder vor dem anhaltenden Tetanisieren des Eüekenmarks den nerrus ischiadiciis- der einen Seite, so dafs die Ihiterschenkelmuskeln dieser Seite an den Krämpfen nicht teilnehmen, so bleiben diese Muskeln auch alkalisch, während die der andren Seite durch die genannten Eingriffe sauer werden. 3Iit diesen neuereu ßeobachtungeu Du Bois- REYMoxns steht auch eine ältere, von Lehmann referierte Angabe von Bebzelius, dafs das Fleisch gehetzter Tiere nach dem Tode eine auffallend grofse Menge freie Säure enthalte, im Einklang. Die nächsteu Fragen , welche die Pliysiologie au die.se That- saclieu knüpfen niufs, sind folgende: Ans M'elclieni Bestandteil des Muskels und wie entstellt die Milchsäure V Ist ihre Bildung durch die Thätigkeit und ihre Entstehung nach dem Tode derselbe Prozefs? Auf keine von ])eiden Fragen läfst sich zur Zeit eine entscheidende Antwort geben. Dafs die Milchsäure nicht etwa aus der Xahrung, (1. h. aus in Milchsäure umgewandelten Kohlenhydraten stammt und vom Blute in das Muskelparenchym transsudiert, bcN^eisen zur Genüge die Thatsachen, welche die Säuerung nach dem Tode, avo sie selbst in blutleeren Muskeln eintiitt, betreffen. Die Säuerung nach dem Tode durch die beginnende Fäulnis, und die Säuerung Avährend des Lebens durch übermäfsige Thätigkeit als verschiedene Prozesse aufzufassen, liegt bis jetzt nicht der mindeste Grund vor. Es i.st daher auch anzunehmen, dafs die Quellen der Säure und ihre Bildungweise in beiden Fällen dieselben sind. Keineswegs aber darf daraus gefolgert werden, dafs die Bildung der Säure im Leben zusammenfalle mit einem durch die Thätigkeit bedingten Absterben des Mu.skels, oder dafs auf der andren Seite die Totenstarre, welche von der Säuerung begleitet wird, auf einer vitalen Thätigkeit des Muskels, einer letzten anhaltenden Kontraktion desselben beruhe. Beide Schlüsse sind durch Thatsachen, deren Erörterung nicht hier- ■>•> ciiKMisciiKs \KunAi/ri<:.\ hki; mi:skki,n. §70. lier geb(')rt, ciitscheidi-iHl widei'U'^t. Höchst wahi'sclKMnlicli wii-d jede Muskelkontraktion im Leben von einer mit SäuiTd)ildung ver- knüpften Zersetzung liegleitet. T)afür spricht die von .1. IIankk- ermittelte Thatsaclie, dals jedem frischen Muskel ein bestimmtes Maximum der Silurebildung zukommt, welches seiner Leistungsfähig- keit proportional ist, und der von K. Hkijjenhaix ' gefühi'te Nach- weis, dals der Säueruugsgrad des jMuskels bis zu gewissen (jrrenzeu mit der ihm übertragenen Arbeit \\ächst. Der G rund, dals wir die Silure nur nach starken Anstrengungen des uicht ausgeschnittenen Muskels in demselben nachweisen können, liegt wohl darin, dals die geringen Mengen, derselben, welche bei mäl'siger Thätigkeit ge- bildet werden, im lebenden Körper schnell durch das alkalische Blut neutralisiert und fortgeschafit Averden. Wenn nun aber auch zweifel- los entschieden ist, dafs die Milchsäure im Muskel selbst entsteht, so herrscht über die Art und die Quelle ihres Ursprungs noch keines- wegs die wünschenswerte Klarheit. Der nächstliegende Gedanke wäre, das Glykogen oder den aus ihm hervorgegangenen Zucker, vielleicht auch den [nosit, kurz die Kohl(Mihydrate des Muskelsaftes als ihre Muttej'substauzen anzusprechen. Wis.sen wir doch durch Maly^, dafs minde.stens die ersteren beiden Stoffe unter be.stimmten Fermentationsbedingungen nicht nur, wie lange Zeit geglaubt wurde, ü-ewöhnliche Milchsäure, welche bekanntlich in der sauer gewordenen Tiermilch enthalten ist, liefern, sondern mitunter sogar grol'se Men- gen der isomeren Fleischmilchsäure bilden. Einen Avii'klichen Be- weis für die angedeutete Möglichkeit besitzen wir indessen noch nicht; dieser würde erst gegeben sein, wenn es zu zeigen geläuge, dals, sei es Inosit, sei es Glykogen, während der Muskelthätigkeit in einem der neu entstandenen Milchsäui'e äquivalenten Verhältnis verschwänden. Wäre derselbe aber auch geliefert, so bürden sich daran die M'eiteren Fragen knüpfen, welche Agenzien jene Gärungsmetamorphose der Kohlenhydrate in Gang setzen, und wie die Gegenwart der letzteren im Muskel chemisch zu erklären ist. Auf die erste Frage ist so wenig eine genügende Antwort zur Zeit möglich, als auf die Frage nach der Z^atur und Wirkungsweise irgend eines sogenannten Fer- mentes; wir können auch hier nur als wahrscheinlich hinstellen, dafs irgend ein eiweifsartiger oder den Albuminaten nahestehender Stoif die Rolle des Fermentes spielt. Nicht besser steht es mit der zweiten Frage. Es haben allerdings die Lutersuchungen über die Zersetzungsweise der Eiweil'skörper und ihre Produkte zu der Ver- mutung geführt, dafs in den Albuminaten neben stickstoffhaltigen Atomkomplexen eine Atomgruppe, welche zu den Kohlenhydraten zu rechneu ist, in irgend Avelcher Form präformiert enthalten sei, und ' K. HICIDKXIIAIX. Mechaii. t,eisfun;i, Wünneentwickelung u. Slojfiini.ia': hei >l. Miixki-ltliüti^Krll. Leipzig 1864. - MAI.V, neridit,' -/. (leutxcli. cliem. (:,:■<. zu Rorlin. 1874. I5cl. VIT. p. 1507. § 7(3. CHEMISCHES YEEHALTEN DER MUSKELN. daran knüpft sicli die -weitere Yennutuug-, daJ's aucdi im Orgunisnins bei der Umsetzung der Muskelalbuminate neben den notorisch ent- stehenden, im Muskelsaft zu findenden, stickstofi'haltigen Derivaten (Kreatin) jene kohlenhydratartige Atomgruppe in der Form von Glykogen etc. sich abspalte. Allein es fehlt noch viel, inn diesen Vermutungen einige Sicherheit zu geben, und namentlich für das Grlykogen liefse sich auch die Möglichkeit denken, dafs dasselbe, an einem andren Orte des Organismus, innerhalb der Leber, produ- ziert, erst durch den Blutstrom dem Muskelparenchyme zugeführt und in letzterem zum Yerbrauche abgelagert würde. Die Abnahme freilich des Glykogengehalts bei gesperrter, die Zunahme bei ge- steigerter Blutzufuhr zu den Muskelgefäfsen, wie sie von Chandelon ^ gefunden wurde, gibt keinen eindeutigen Beweis für die zweite Eventualität, seit A. Schmidt und Grubert erwiesen haben, dafs Durcbleitung von Blutplasma durch die Gefäfse des Muskels kom- plizierte Spaltungsprozesse in demselben unter Bildung von Fibrin- ferment hervorruft. ' Wir bescheiden uns demnach ein endgültiges Urteil hier zu fällen und Avenden uns der Besprechung des zweiten Körpers zu, für welchen gleichfalls der direkte Yersueh eine bei der Muskelkontraktion stattfindende Vermehrung dargethan hat. der Kohlensäure. Für den vom Blute durchströmten Muskel des lebenden Tieres wurde die in Rede stehende Thatsache von Ludwig und SczELKOW ^ erwiesen. Ihre mühevollen Untersuchungen führten unmittelbar zu dem Schlüsse, dafs jede Muskelkontraktion von einer sehr beträchtlichen CO.,-Produktion begleitet ist, welche sich darin ausspricht, dafs das Venenblut des ruhenden Muskels erheblich ärmer an CO2 ist als dasjenige des thätig gewesenen. Berechnet mau aus den von ihnen mitgeteilten Zahlen einen Mittelwert, so findet sich, dafs der CO.,-Gehalt des zum Muskel geleiteten, arteriellen Blutes (26,71 Vol. "/o bei ö" und Im Hg D.) im austretenden venösen Blute des ruhenden Organs um 24,29 %, in demjenigen des thätigen um 38,45Vo zugenommen hatte. Die normale COo-Produk- tion des ruhenden Muskels hatte demnach eine Steigerung um 08,2970 erfahren. Die nächstliegende Frage nach dem Orte der muskulären CO.,-Bildung, ob derselbe in der Muskelsubstanz zu suchen sei oder im Blute, wohin etwa leicht oxydierbare Stoffe aus dem er- regten Gewebe übergetreten und erst nachträglich durch den Sauei-- stofi" des Hämoglobins zu CO., verbrannt sein könnten, ist mit Hin- blick auf die einander widersprechenden experimentellen Ergebnisse vorläufis: nicbt zu beantwoi"teu. Aus den Versuchen L. Hermanns ■^ • Ch.^SDELOX, PFLUEGKRs Arcli. 1876. Bd. XHI. p. 626. '•* Grubekt, Ein Beitrag zur P/ii/siot. d. Muskeix. Diss. Dorpat 1S83. ^ LUDWIG u. SCZELKOW, Wiener Stzber. Math.-ntw. Ol. 2. Abth^ 1861. Bd. XLV. p. 171 . — I.TDWIG u. A. Schmidt, Arbeiten ans d. phi/siol. Anstalt zu Leipzig. 1868. p. 1. •» L. Hermann, a. a. O. — Vgl. ferner G. LiEBIG, Arch. f. Anat. u. Phmiol. IS.jO. p. oO:'.. — VALENTIN, Arch. f. phmiol. Beilk. IS.öö. Bd. XIV. p. 431 ; 1857. N. F. Bd. I. p. 28.5. — MATTEICCI. Ann. df rhtm. et de ph>ls. HI. Svv. IS.IÖ. T. XI.VII. p. 120. 24 CHEMISCHES VKK HALTEN DKK MI SKELX. § TCj. welcher iiusgeschuittene Frcscliniuskelu, uucli voiuusgeguugeuer Aktion au das Vacuum der Gasj)umpe unter Umständen den sechsfachen Betra^^ [1 ß(^ Vol. % und bei 0" und 1 m Hg D.) der im ruhen- den Muskel nachweisbaren ('0^, al)ge))en sah, würde allerdings ge- folgert werden müssen, dafs der (X)^ l)ildende Pro/eis in der kon- traktilen Substanz selbst und nicht im Blute der Muskelgefälse ab- laufe. Dieser Schlufs verliert aber an Sicherheit, Avenu man die entgegengesetzten Beobachtnngsresultate Stintzings * an Muskeln von Warmblütern (Kanichen) bei'ücksichtigt, aus welchen im Widersprucli mit dem Befunden Hermanns hervorg E. Di; B()IS-KEY.Mi>ND, r«'('/-.v. f'h. thierUche FJeltrkität. Berlin 1S4S— 1;0. I5d. I. ii. H. Abth. 1. II. 2. 1. Hälfte. § 77. MUSKELELEKTEIZITÄT. 27 siichungen in fast gleiclier Weise. Wie beim Nerven unterscheidet man am Muskel Längsschnitt, Querschnitt und Äquator. Denken wir uns einen langen Muskel von einfach cylindrischer Form, so be- zeichnet man die Oberfläche des Cylinders, an welcher die äuiseren Scheiden einer Summe einzelner Fasern zu Tage liegen, als deu natürlichen Längsschnitt; führen wir der Richtung der Fasern parallel einen Schnitt, so erhalten wir in der Schnittfläche, welche von den Oberflächen andrer inne]"er Fasern gebildet wird, einen künstlichen Längsschnitt. An die natürlichen Enden der Fasern sind Sehnenbündel angeheftet, welche bei der gewöhnlichen Form der Muskeln die geradlinige Fortsetzung der Muskelfasern bilden; die Summe dieser natürlichen Enden, also die Basis des Muskelcylinders, welche von den Grundflächen aller einzelnen Fa.sern gebildet wird, nennt man den natürlichen Querschnitt. Da nun die Sehnenfasern elektromotorisch unwirksam sind, aber leitende Über- züge der Muskelfaserenden darstellen, so bildet die Sehne selbst den natürlichen Querschnitt. Die Oberfläche, welche jeder senkrecht auf die Faserrichtung geführte Durchschnitt des Muskels bildet, nennt man den künstlichen Querschnitt. Der Ä([uator hat dieselbe Bedeutung Avie beim Nerven. Um das elektrische Verhalten des ruhenden Muskels zu er- mitteln, bedient man sich eben jener Apparate, deren man zum Nachweis des Nervenstromes bedarf (s. Bd. I. p. 534 ff.). Ebenso wie den Nerven bringen wir auch den Muskel auf die mit unpolarisier- baren Elektroden versehenen Enden eines NoBiLischen oder eines Spiegelgalvanometers und bestimmen die dabei eintretenden Ab- lenkungen der Magnetnadel nach Gröl'se und Richtung. Greuau in derselben AVeise, wie beim Nerven finden wir, dafs sich auch beim Muskel der innere Kern (Querschnitt) negativ elektrisch 7ur äufseren Peripherie (Längsschnitt) verhält, und dafs . Arc/i. f. Anal. ii. P/iimlol. 1803. p. 521 u. 649. §77. GESETZ DES MUSKELSTROMES. 29- allein von der grölseren odergeringeren Ungleichmäfsigkeit der Faserverteiliiug abhängig, ob der elektrische Äquator gänzlich beseitigt, wie beim Frochgastro- cnemius, oder nnr nach dieser oder jener Richtung verschoben wird, wie bei andern Muskeln. Der ruhende Muskelstrom kann aufser durch das Galvanometer oder die andern früher (Bd. I. p. 534 fg.) erwähnten physikalischen Hilfsmittel auch durch den Muskel selbst nachgewiesen werden, sofern man für eine möglichst gute Ableitung von Längs- und Querschnitt Sorge trägt. Die beste Methode ^ ist die folgende: man präpariert den parallelfaserigen Sartorius de.s Frosches seiner ganzen Länge nach aus, befestigt ihn durch Einklemmen des Beckenknochens, von welchem er entspringt, und sehneidet den vertikal herabhängenden isolierten Muskel oberhall) seines unteren Sehnenendes mit einer scharfen Schere der Quere nach durch. Nunmehr schiebt man unter den freischwebenden künstlichen Querschnitt ein mit 0,fi "/o Kochsalzlösung gefülltes Gläschen und senkt den verschiebbar aufgehängten Muskel vorsichtig auf die Oberfläche der Lösung herab. Im Augenblicke der Berührung erfolgt jedesmal eine deutliche Zuckung, der Muskel «chnellt empor, fällt wieder zurück, um sich aufs neue zu ver- kürzen, sobald sein Querschnitt die Lösung berührt. Die Ursache der Zuckungen ist nachweislich der Eigenstrom des Muskels, welcher in der Kochsalzlösung eine gute Schliefsung findet, wenn Querschnitt und eine schmale Zone des Längs- schnitts in jene eingetaucht werden. Die Zuckungen bleiben daher dem allge- meinen Erregungsgesetz von Nerv und Muskel gemäfs aus, wenn man statt einer momentanen Stromschliefsung eine dauernde eintreten läfst, z. B. wenn mau den Muskelquerschnitt so tief in die Kochsalzlösung versenkt, dafs die erste Zuckung ihn nicht aus derselben herauszuheben vermag. Die elektrisehe Differenz zwischen Qner- und Längsschnitt, deren Vorhandensein den Muskelstrom hedingt, findet sich bei allen Muskeln aller Tierklassen ausgesprochen und ist von Du Bois-Reymond nicht allein für die Muskeln verschiedener Repräsentanten sämtlicher vier AVirbeltierklassen , nicht allein für die Muskeln verschiedener wirbelloser Tiere (Flulskrebs, Weinbergschnecke, Regenwurm), sondern auch für den menschlichen Muskel nachgewiesen Avorden. Querschnitt und Längsschnitt des tihialis anticus eines amputierten Schenkels auf die Bäusche gelegt, schickten einen so intensiven Strom in der gesetzmäfsigen Richtung von Längsschnitt zu Querschnitt durch den Mul- tiplikatordraht, dafs die Nadel anfangs mit Gewalt an die Hemmung geworfen wurde und noch anderthalb Stunden nach der Amputation der stromprüfende Froschschenkel durch Zuckungen diesen Strom zur Erscheinung brachte. Der elektromotorisch wirksame Teil im Muskel ist das Primitivbündel, wie Du Bois-Reymond nach Isolierung eines solchen durch den direkten Versuch bewiesen hat, und zwar der kontraktile Inhalt desselben allein. Dafs nicht der Kontakt der quergestreiften Inhaltsniasse mit dem Sarkolem den Muskelstrom verursacht, ist darum zweifellos, weil sich das elektrische Verhalten der sarkolemfreien Muskell)ündel im Froschherzen in keiner Hinsicht von demjenigen der sarkolemführenden Stammesmuskulatur uuter- .'^cheidet. AVelche Vorrichtungen den kontraktilen Inhalt des Primi- tivbündels zum Elektromotor machen, ist C4egenstand der Hypothese. • E. HEiaxc. wiener S':',/-,-. Math.-utw. Cl. lU. .\l)tli. 1S70. Bd. I,.\XIX. i). 7. U) THEOIUE DES MUSKELSTEOMKS. §77 1 AV^ie beim A'erveu, so bestehen iiucli beim Muskel dieselben drei differenten Anschauungen, -welche wii- bei der physikalischen Deutung des Nervenstromes bereits kennen gelernt haben, und wie dort, so herrschen auch hier verschiedene Ansichten, ob die Muskelelektrizi- tät eine \\esentliche Bedingung der physiologischen Funktion oder nur eine i'elativ gleichgültige Begleiterscheinung des chemischen ErnährungS])rozesses bilde. Die Molekulartheorie sucht die Quelle der elektrischen AVirkungen auch beim Muskel in elektromotoiisch wirk- samen Molekülen von der Form des früher (Bd. I. p. 544) be- schriebenen peripolaren Moleküls oder seiner Spaltprodukte, dei' am gleichen Orte erwähnten dipolaren Molekülgruppe, welche m unmefsbarer xA^nzahl die kontraktile Substanz erfüllen sollen; die Theorie des cylindrischeu Schemas (Gkuenhagen) dagegen verlegt den Sitz der elektromotorischen Kraft an die Berührungsstelle der Ernährungsflüssigkeit, beziehungsweise des Sarkoplasmas (s. o. p. 12) mit den von beiden umschlossenen Primitivfibrillen, und die Altera- tionshypothese Hermanns spricht dem unversehrten Muskel über- haupt jedes elektrische Vermögen ab, betrachtet das nachgewiesene als ein Kunstprodukt, hervorgerufen dui'ch lokale Beschaffenheits- änderungen der Muskelsubstanz infolge mechanischer, chemischer oder anderweitiger Einwirkungen, wobei die ihrer normalen Struktur verlustig gegangene Partie negativ elektrische Spannung gegen die benachbarte normal gebliebene annehmen soll. Es ist hier nicht der Ort diese verschiedenen Theorien einer erneuten Kritik zu unterziehen. Wir verweisen dieserhalb auf unsre frühere Besprechung (Bd. I. § 50). Auf eine mit der HERMANNschen Alterationshypothese unvereinbare Thatsache werden -\\'ir bei einer späteren Clelegenheit (vgl. § 77) auf merksam machen. Der Muskelstrom gehört, wie der Nervenstrom, nur dem leistungsfähigen, lebenden Muskel an und besitzt bei möglichst günstiger Ableitung des Muskels eine elektromotorische Kraft von 0,05^0,08 D.^ Da die elektromotorische Kraft des Nerven- stromes viel geringer ist (s. Bd. I. p. 539), so folgt hieraus beiläufig,. . dafs der Muskel sein elektrisches Vermögen nicht durch die ihn ver- sorgenden Nerven erhält. Lange vor der exakten Erforschung seines Gesetzes kannte man und stritt man über den am lebenden unversehrten Körper des Frosches durch den Multiplikator wahrzunehmenden Strom, den Froschstrom; Matteucci gebührt das Verdienst, das Irrige älterer Theorien, welche seine Entstehung von Un- gleichartigkeiten verschiedener tiei'ischer Gewebe, insbesondere des Muskel- und Nervengewebes (Muskel negativ, Nerv positiv, Nobili) herleiteten, erwiesen zu haben; Du Bois-Reymond hat den Froschstrom zuerst mit physikalischer Schärfe auf einen allgemeinen Muskelstrom zurückgeführt, ihn als das komplizierte Resultat der von den verschiedenen Muskeln des Körpers durch die leitenden tierischen Geweite abgezweigten Ströme nachgewiesen. 1 E. Du BOIS-Rkvmo.ND, .irc/i. f. Anat. n. Pliuxiol. 1807. p. 41'; §77. i^Kl'^ -MüSKELSTROM UNTER VERSCH. VERHÄLTNISSEX. .31 Die Sti'omeutwickeliing erlischt nicht gleiclizeitig mit dem Tode des Tieres oder der Trennung des Muskels vom Körper, nimmt abei' in beiden Fällen allmählich ab und verschwindet früher oder spätei' gänzlich. Nicht selten tritt, wie beim Nerven, vor dem gänzlichen Erlöschen eine Lnikehr der Stromrichtung ein. Was das Ge- setz der allmählichen x\bnahme betrifft, so schliefst Du Bois-Rey- MOND aus Versuchen, dafs die Stromentwickelung um so raschei- nach dem Tode sinkt, je grölser die ursprüngliche Kraft des Muskels war. Die Fortdauer der elektromotorischen Wirksamkeit bei den Muskeln verschiedener Tiere ist sehr verschieden; wir treffen ent- sprechende Verhältnis.se wie beim Nerven. Gleichzeitig mit dem Strome nimmt die physiologische Leistungsfähigkeit, die Fähigkeit des Muskels auf Reizung seines Nerven seine Gestalt zu verändern, sich zu verkürzen, ab; beide erlöschen zu gleicher Zeit, und zwar bezeichnet der Eintritt einer bestimmten eigentümlichen Erscheinung am Muskel das Ende seiner Leistungsfähigkeit und seiner Strom- entwickelung. Diese Erscheinung, welche beiden die natürliche Grenze nach dem Tode setzt, ist die sogenannte Totenstarre des Muskels, von deren Wesen und Bedingungen wir unten handeln werden. Hier sei nur noch so viel von derselben gesagt, dafs man sie im lebenden Tiere durch Abschneidung der Blutzufuhr zu den Muskeln oder durch Erwärmung der Muskeln über 40" C. willkürlich herbei- führen, jederzeit aber auch nach einer allerdings von Kühne be- strittenen Angabe Bhown-S^quards^ und Stannius' wieder aufheben kann, wenn man im ersteren Falle dem Blutstrome von neuem Zu- gang gewährt, im zweiten Falle das geronnene Myosin zuvor mittels 10 % Kochsalzlösung verflüssigt (Preyer).- Auch ausgeschnittene ^Muskeln können, wenn nicht allzu lange Zeit nach ihrem Absterben verflossen ist, durch Zuleitung eines künstlichen Stromes defibrinierten Blutes der Totenstarre entrissen werden (Broavx-Sequard). Untei' allen diesen Umständen kehrt mit dem Schwinden der letzteren auch der Muskelstrom wieder, zum Zeichen, dafs die Existenz des- selben ebenso wie die normale Konstitution der kontraktilen Masse an den Fortbestand des normalen Stoffwechels geknüpft ist. Nach Versuchen von 3Iatteucci und Dr Büis-Eeymoxd ist die Todesart des Tieres für die Fortdauer des Muskelstromes nicht gleichgültig. Am auf- fallendsten ist das schnelle Erlöschen desselben nach Strychninvergiftung, nach welcher BarecKE die Totenstarre achtmal früher als nach andern Todesarteu eintreten sah. Durch Verblutung und Erstickung getötete Frösche zeigen nacli Matteüccis Versuchen ebenfalls weit schwächere Muskelströme. Der zwischen natürlichem Längsschnitt und natürlichem Quer- schnitt unversehrter, frischer Muskeln nachweisbare Strom ist in der 1 BKOW.N-f^KyUAKD, C/jt. ivnd. 1851. T. XXXII. p. 885 u. 897: Jnurn. Ue fa Pliiisiot. 1858. T. I. p. 666. — StaNSUS, Arch. r: p/uixioi . Helik. 1852. XI. ii. 1. — KChnk. Arcli. f. Anat. n. P/u/xiol. 18.59. p. 564 und 748. 2 Pkkyf.U. Cttht. f. d. i,iM. H7.S.V. 1864. p. 769. ■V2 DKR MÜSKKI.8TR0M UNTER VERSCFI ^•|•;l!HÄl;^^•I,s.sK.^. ^5 77. Regel sehr schwacli. Bisweilen kann ei- sogar gilnzlicli fehlen, ja es kommt seihst vor, dafs sich der natürliche (Querschnitt positiv gegen den natürlichen Längsschnitt verhält und der in den Multiplikator- draht ühergehende Strom also in umgekehrter Richtung, wie normal verläuft. Stets aber läfst sich der Muskelstroni in normaler Richtung und Stärke wieder hervorrufen, wenn man den natürlichen (Quer- schnitt (z. B. die Ausbreitung der Achillessehne am Gastrocnemius) sei es durch Messerschnitt in einen künstlichen verwandelt, sei es mit ätzenden Flüssigkeiten benetzt, mögen dieselben nun elektrisches Leitungsvermögen besitzen, wie Kochsalzlösung, Salpetersäure, Kali- lauge, oder nicht, wie Kreosot, sei es mit heifsem Wasser verbrüht oder endlich mit stark erhitzten Spateln versengt. Die Erklärung dieser von Du Bois-Reymond entdeckten Thatsacheu fällt je nach der hypothetischen Vorstellung, welche man sich über den Ursprung der elektrischen Gegensätze in Nerv und Muskel «gemacht hat, ver- schieden aus. Nach der Molekularhypothese entsteht der ruhende Muskelstrom ebenso wie der ruhende Nervenstrom aus einer Anzahl .schwacher Ditferenzströme, welche von Längsreihen dipolarer Moleküle in peripolarer Anordnung erzeugt werden; jede Reihe endigt am (Querschnitt mit einem negativen Pol. Denken wir uns nun an das Ende jeder solchen Reihe, wie sie die Fig. 46 Bd. I. p. 545 darstellt, noch ein halbes System, d. h. nur ein dipolares. Molekül, welches daher den positiven Pol ins freie kehrt, hinzugefügt, so mufs sich selbstverständlich ein solcher Querschnitt positiv gegen den neutralen Längsschnitt verhalten; es mufs im angelegten Bogen ein Strom von ersteren zum letzterem gehen. Die Umkehr des Stromes erklärt sich also durch die Annahme einer solchen am Querschnitt vor- handenen Schicht einfacher dipolarer Moleküle. Denken wir uns nur die Hälfte der Reihen am Querschnitt mit solchen überzähligen dipolaren Molekülen versehen, so wird sich der Querschnitt neutral gegen den Längsschnitt verhaften; i.st endlich weniger als die Hälfte ^ des Querschnitts damit versehen, so wird ein schwacher Strom im Sinne des Gesetzes, d. h. vom Längsschnitt durch den Multiplikator- draht zu dem Querschnitt wahrnehmbar werden. Jede chemische oder thermische Anätzung des Querschnittes oder mechanische Ent- fernung der oberflächlichen Muskellage zerstört oder entfernt diese Schicht dipolarer Moleküle und legt die negativen Pole der peripo- laren Systeme frei. Ihres die Entwickelung des normalen Muskel- stromes hemmenden Einflusses wegen wird sie von Du Bois-Reymond die parelektrouomische Schicht genannt. Einen andren, ebenfalls zum Ziele führenden Weg, das ab- weichende elektrische Verhalten des frischen unversehrten Muskels begreiflich zu machen, gibt das Cylinderschema, der solide mit einem Zinkmantel versehene und in einen feuchten Leiter versenkte Kupfer- cy linder, an die Hand (s. Bd. I. p. 542). Wir wissen, dafs die elek- tromotorische Wirksamkeit desselben sofort erlischt, wenn man auch § 77. DER MÜSKELSTEOM UNTER VERSCH. VERHÄLTNISSEN. -Jo die kupfernen Querlläclieu des negativ elektrischen Kerns mit Zink überzieht. Unter der Voraussetzung, dafs im Muskel der kupferne Kern des Cylinderschemas durch die PrimitiVfibrille, der Zinkmantel durch die Ernährungsflüssigkeit repräsentiert wird, mufs folglich auch der Muskelstroni schwinden, sobald der negativ elektrische Kern von der positiv elektrischen Hülle allseitig umschlossen wird. Sind hin- gegen die Enden einer kleineren oder gröfseren Zahl von Primitiv- fibrillen von umspülender Flüssigkeit entblüist oder erleidet an dieser exponierten Stelle der Ernährungsprozefs auch nur eine Störung, so wird ein schwächerer oder stärkerer Strom von gesetzmäfsiger Rich- tung diesen Defekt anzeigen. Findet die Eutblöfsung der Primitiv- fiibrillen zufällig au einem der beiden Muskelquerschnitte in über- wiegendem Mafse statt, an dem zweiten gar nicht oder nur in sehr unbedeutendem Grade, so wird die Richtung des abgeleiteten Muskel - Stromes nur für jenen dem Nerven entsprechen, für diesen aber ein entgegengesetzes Zeichen annehmen müssen, weil die einsinnige Wirksamkeit des ersten Querschnitts gerade wie ein stark unregel- mäfsiger Bau der Muskeln (s. o. p. 28) den Bestand eines elektri- schen Äquators unmöglich macht. Endlich Averden sich beide natür- liche Querschnitte dem Längsschnitt gegenüber positiv elektrisch verhalten, wenn auf letzterem irgendwo das negative Innere freige- legt ist, ein Zustand, welchen man jederzeit künstlich dadurch her- stellen kann, dafs man den Längsschnitt, sei es mechanisch durch einen Schnitt oder chemisch mittels Anätzung, verletzt. Nach der Alterationshypothese Hermanns endlich erklärt sich die Stromlosigkeit resp. Stromschwäche unverletzter Muskeln aus der ganz oder fast vollkommenen Gleichartigkeit ihrer inneren Zusammen- setzung, anders ausgedrückt aus dem jMangel chemisch alterierter Par- tien, welche durch ihren Kontakt mit andern nicht alterierten elektrische Spannungen zu entwickeln vermöchten, und erst infolge des örtlichen Absterbens sei es nach mechanichen, thermischen oder chemischen Ein- griffen künstlich erzeugt werden. Die Bemühungen Du Bois-Betmonds, auch im lebenden un- versehrten Menschen den Strom der ruhenden Muskeln abzuleiten, sind vergeblich geblieben. Während es beim Frosche nach vorheriger Beseitigung der Strömungen, welche die elektrischen Kräfte der Haut in den Versuch einführen, verhältnismäfsig leicht gelingt, in dem nicht enthäuteten Schenkel einen schwachen aufsteigenden Strom nachzuweisen, ergab sich beim Menschen für alle Ströme, welche nach Anlegung eines Multiplikatorbogens an verschiedene Hautpunkte er- halten werden konnten, dafs sie mit dem Muskelstrome nichts zu thun hatten, sondern durch die Haut selbst produziert würden. Hier- an? darf jedoch nicht etwa geschlossen werden, dafs menschlichen Mus- keln überhaupt kein elektromotorisches Vermögen innewohne; dagegen spricht entschieden der kräftige Strom, welchen die Muskeln amputier- ter Gliedmafsen liefern. Wahrscheinlicher ist, dafs entweder die GRUESHAGEX, Physiologie. 7. Aufl. U. 3 84 I'ER MUSKELSTROM UXTEFv VEESCH. VERHÄLTNISSEN. §77. Anoiduung der menscblichen Muskulatur eiue solche Stromresultante, wie beim Froscli, nictit zustande kommen läi'st, oder es könnte hier der stromlose Zustand unversehrter Muskeln, wie wir ihn auch an Froschmuskeln kennen gelerat haben, in besonders hohem Grade und zwar regelmäfsig vorhanden sein, oder endlich es könnte die Cutis dem Muskelstrom eine so gute Nebenschliefsung bieten, dafs derselbe in ihr eine vollkommene Ausgleichung fände und daher in keinem merklichen Betrage nach aufsen gelangte. Die unter ver- schiedenen Bedingungen von der Haut erhalteneu Ströme, deren Gesetze und physikalische Erklärung ausführlich zu beleuchten, ge- hört nicht hierher. Aufser den bereits genannten Momenten bestimmen auch die Dimension SV erhältnisse des Muskels die Stärke seines Stromes, und zwar wächst dieselbe nach Du Bois-Eeymonds Untersuchungen sowohl mit seiner Länge als auch mit seiner Dicke. Um sichere Aufschlüsse über den Einflufs der Länge zu erhalten, bediente sich Du Bois-Eeymond der Methode der Kompensation, d. h. er schaltete gleichzeitig zwei verschieden lange Stücke von den gleichnamigen Muskeln der beiden Schenkel des Frosches, von gleichem Querschnitt, in entgegengesetztem Sinne in den Multiplikatorkreis ein. Die Wir- kungen der beiden in entgegengesetzter Richtung den Draht durch- laufenden Ströme auf die Nadel heben sich auf, wenn sie gleich stark sind; übertrifft der eiue den andren an Intensität, so lenkt er der Differenz entsprechend die Nadel in seinem Sinne ab. Der Aus- schlag ist stets auf Seiten des längeren Muskels. Einen sehr bedeutenden Einflufs auf den Muskel hat ferner die Temperatur. In bezug auf die niederen Grade derselben wissen wir, dafs das elektromotorische Vermögen der noch im lebenden Körper befindlichen Muskeln, sowie auch dasjenige ausgeschnittener Muskeln durch anhaltende Abkühlung auf 0° erheblich verringert werden kann. Was die höheren Temperaturgrade anbetrifft, so ver- nichtet warmes Wasser von 50 ^ C. in sehr kurzer Zeit Strom und Leistungsfähigkeit des Muskels, weniger rasch Luft von derselben Temperatur; dafs diese Wirkung mittelbar durch die Gerinnung ge- wisser Eiweifskörper des Muskels herbeigeführt wird, wie Du ßois- Reymond meint, wird durch die bereits besprochenen Beobachtungen Kühnes zur Gewifsheit erhoben. Von vornherein war mit Be- stimmtheit vorauszusagen, dafs alle Stoffe, welche die chemische Zusammensetzung des Muskels alterieren, Leistungsfähigkeit und Strom, welche ja lediglich durch eine bestimmte chemische Konstitution bedingt sind, vemichten müssen. Die Versuche be- stätigen diese Voraussetzung vollkommen, wenn auch das Wie der Wirkungsweise nicht immer bestimmt anzugeben ist. Endlich er- wähnen wir noch, dafs elektrische Schläge, anhaltend durch den Muskel geschickt, sehi* bald die Kontraktionsfähigkeit und mit ihr die Stromentwickelung aufheben. §77. .NEGATIVE SCHWANKUNG DES MUSKELSTROMES. 35 Die näcliste wichtige Frage, welche wir zu erörtern haben, oh der Muskel dieselbeu Veränderungen seiner elektromotorischen Wirk- samkeit zeigt, welche wir beim Nerven unter gewissen Umständen als Elektrotonus und negative Stromesschwankung auftreten sahen, ist in bezug auf den ersteren sehr kurz zu beantworten: die Muskeln zeigen keine Spur von Elektrotonus. Dr Bois-Rkymon'D erklärt diesen auffälligen Umstand, welcher den in allen übrigen Punkten zwischen Nerven- und Muskelelektrizität bestehenden Einklang auf so jähe Art stört, durch die Annahme, dafs den elektrischen Muskelmolekülen im Gegensatz zu denjenigen der Nerven die Fähigkeit abgeht, ihre Lageveränderung in der polarisierten, vom Strome durchflossenen Strecke auf die extrapolare fortzupflanzen. Dagegen bezieht die Bd. L p. 556 be- sprochene Stromschleifentheorie des Elektrotonus den Mangel aller elektro- tonischen Erscheinungen beim Muskel darauf, dafs derselbe einen elektrischen Leiter von homogener Beschaffenheit darstellt, nicht aber, wie der Nerv, aus Leitern verschiedener Qualität und eigenartiger Anordnung zusammengesetzt ist. Ein au Thatsachen weit reichhaltigeres Gebiet hat die Unter- suchung des zweiten Teils der von uns aufgeworfenen Frage er- schlössen. Auch hier verdanken wir den Arbeiten Du Bois-Reymoxds die Kenntnis der leitenden Gesichtspunkte, vor allem den Nachweis, dafs dieselbe Veränderung, welche wir beim Nerven als negative Stromesschwankuug kennen gelernt haben, beim Muskel in gleicher äufserer Form zur Erscheinung kommt. Um die negative Schwankung des Muskelstromes zu beobachten, bringt man einen Muskel mit Querschnitt und Längs- schnitt oder mit zwei asymmetrischen Punkten des Längsschnitts im ruhenden Zustande auf die Endbäusche der Galvanometer- vorrichtung und wartet ab, bis die Magnetnadel ihre neue Ruhe- stellung eingenommen hat. Wird der Muskel alsdann von seinem Nerven aus durch unterbrochene Ströme von konstanter oder besser von alternierender Richtung in tetanische Zusammenziehung versetzt, so schwingt die Nadel augenblicklich nach dem Nullpunkt zurück, ohne denselben jedoch jemals zu erreichen. Dieser Rückschwung bleibt aus, wenn der Nerv zwischen Erregungsstelle und Muskel unterbunden oder durchschnitten wird, ist gänzlich unabhängig von der zwischen beiden liegenden Distanz, verkleinert sich, wenn die Kontraktion infolge der Ermüdung von Muskel und Nerv geringer ausfällt, und findet endlich auch statt, wenn man den Muskelnerven auf irgend eine andre Art, z. B. durch chemische Reizmittel, tetanisiert. Es unterliegt demnach keinem Zweifel, dafs er durch den thätigen Muskel selbst hervorgebracht wird und nicht etwa auf einem Herein- brechen des ursprünglich gewählten Reizmittels, des elektrischen Stromes, in den Multiplikatorkreis beruht. Zu untersuchen bleibt die Natur des ihm zu Grvmde liegenden elektrischen Vorgangs. Namentlich ist, wie früher in betreff der negativen Schwankung des Nervenstromes, so auch jetzt für die- jenige des Muskelstromes, festzustellen, ob dieselbe durch eine während des Tetanus stattfindende gleichmäfsige Abnahme der ursprünglich 3* ■JO SEKUNDÄRE ZUCKUNG VOM MUSKEL AUS. §77. vorliaudenen elektroinotorisclien Kraft bedingt ist, oder dadurch, dal's der Muskelstrom in schnell aufeinanderfolgenden Intervallen kurz dauernde, sei es Dichtigkeits-, sei es Richtungsänderungen erfährt. Denn wie sehr sich auch die gedachten Möglichkeiten ihrem Wesen nach voneinander unterscheiden, die Ablenkung der Galvanometer- nadel im dauernd geschlossenen Stromkreise des ruhenden Muskels könnten sie doch alle nur in gleichem Sinne auf die vorhin geschil- derte Art beeinflussen. Um dieser Ungewifsheit ein Ende zu machen, stehen uns mehrere Mittel zu Gebote, das physiologische Rheoskop, der stromprüfende Froschschenkel, das von J. Bernstein kon- struierte Differentialrheotom (s. Bd. I. p. 570), das Telephon^ und das Kapillarelektrometer" (s. Bd. I. p. 535). Die wichtige Erscheinung, durch welche uns das physiologische Rheoskop von dem Vorhandensein diskontinuierlicher elektrischer Ströme im tetanisierten Muskel Kunde gibt, ist die von Matteucci'"^ entdeckte, aber erst durch Du Bois-Reymond* richtig gedeutete se- kundäre Zuckung (vom Muskel aus). Dieselbe wurde von uns schon bei einer andren Gelegenheit (s. Bd. I. p. 601) beiläufig be- sprochen. Hier, wo es sich um ein genaueres Eindringen in das Wesen der sekundären Zuckung handelt, empfiehlt es sich sogleich diejenige Versuchsform mitzuteilen, welche am meisten geeignet ist, den zwi- schen jener Zuckung und der negativen Schwankung des Muskel- stromes bestehenden Zusammenhang zu erläutern. Zu diesem Zwecke legt man auf die Bäusche oder Platten der Multiplikatorvorrichtuug einen Muskel A in wirksamer Anordnung und den Nerven des strom- prüfendeu Froschschenkels B nebeneinander auf. Versetzt man als- dann den Muskel A durch Reizung des zugehörigen Nerven mittels intermittierender Induktionsströme in Tetanus, so gerät, während die Nadel ihre stetige rückgängige Bewegung ausführt, auch der stromprüfende Froschschenkel in Tetanus; unterbricht man die Er- regung des Muskels A, so dafs derselbe erschlafft, so tritt auch im Muskel des zweiten Präparats B Ruhe ein. Diese tetanisierende Einwirkung des primär gereizten Muskels auf den benachbarten Nerven kann der ganzen Anlage des Versuchs nach nur durch Vorgänge elektrischer Natur, und zwar nach dem allgemeinen Grundgesetz elektrischer Nerven reizung nur durch schnell aufeinanderfolgende elektrische Dichtigkeitsschwankungen bedingt sein. Die einzige elek- trische Veränderung, welche der tetanisierte Muskel zeigt, ist aber die negative Schwankung seines Stromes. Hätte dieselbe ihren Grund in einer konstanten Abnahme des letzteren, so müfste der stromprüfende Froschschenkel im obig^en Versuche wähi'end des Tetanus in Ruhe ' BKKNSTKIN u. Schönlein, Slzber. der nuturfcirsch. Gex. zu Halle. 1881. — FREY, Arch. f. Pl,i/sli,l. 1883. p. 43 (55). — WkdeNSKII, ebenda p. :'13. — MARTIUS, ebenda p. 542. - LOVEN, Nord. med. Ark. 1881. Bd. XUI. Nr. 14. — FREY, MARTIUS, a. a. O. ^ MATTEUCCI, P/iiloxop/iical Transactions. 1845. Part. II. p. 303. * E. DU Bois-Reymoxd. Unter-t. üb. Mensche Klektricität. Berlin 1849. Bd. 11. 1. Allh. p. 11 u. 99. i?77 NEGATIVE SCHWANKUNG DES MUSKELSTKOMES. öi A-erhari'en. Im günstigsten Falle könnte er vielleicht das Yerscliwindeu der negativen Schwankung, d. i. die Wiederkehr des normalen Muskel- stromes, durch eine einmalige Zuckung im Augenhlicke der Er- schlaffung anzeigen. In "Wirklichkeit beweist jedoch der Tetanus des physiologischen ßheoskops, dals die negative Schwankung des Muskelstromes durch kurzdauernde und schnell auf- einanderfolgende Dichtigkeitsschwankungen desselben verursacht wird. Wie schon oben angedeutet, sind wir aber in der günstigen Lage das Zeugnis des physiologischen Rheoskops auch noch durch andre physikalische Hilfsmittel bekräftigen zu können. Senkt man der Empfehlung von AVedenskii^ gemäfs zwei Stecknadeln, welche mit den Drahtenden eines SiEMENSschen Telephons leitend verbunden sind, die eine in die Sehne, die andre in den Bauch eines in nor- malen Zirkulationsverhältnissen belassenen, aber von der Haut ent- blöfsten Froschgastrocnemius, so geraten die Eisenplatten des Tele- phons jedesmal in tönende Schwingungen, wenn der hoch im Becken isolierte Hüftnerv durch intermittierende Induktionsströme erregt wird imd der den Telephonkreis schliefsende Muskel in Tetanus verfällt, wiederum ein untrügliches Zeichen dafür, dafs die scheinbar konti- nuierliche Thätigkeit des letzteren mit der Produktion diskontinuier- licher elektrischer Ströme verknüpft ist. Nicht weniger entscheidend fallen ferner auch die Versuche mit den Kapillarelektrometer- aus. Empfindliche Instrumente der Art gestatten die Stromoszillationen des mit ihnen in passende Verbindung gebrachten tetanisierten Muskels direkt an den Oszillationen des kapillaren Quecksilberfadeus abzulesen. Ein klares Bild von dem merkwürdigen Vorgange gibt die folgende graphische Darstellung nach Du Bois-Eeymoxd. Die ge- rade Linie + k h, h,,, stellt die Kurve des ruhenden Muskelstromes, dieAbscissenachse o t die Zeit dar; die auf letztere von der Stromkurve gezogenen Ordinaten geben die vStärke des Stromes in jedem Augen- blicke an. Tetanisieren wir den Muskel, so zeigt uns die Multipli- katoj'nadel eine Stromabnahme, ohne uns zu belehren, wie dieselbe " in jedem Augenblicke sich ver- hält, ob sie eine stetige ist, durch die Linie Ä-, l,, ausdrückbar, oder eine stofsweise. Die Zuckungen des stromprüfenden Schenkels sowie auch die Vibrationen in Telephon ' WEDENSKIl, Are!,, f. F/iii.vol. 1883.'ii. 313. ' " LoVEN, a. a. O. •5S negativa: SCHWANKUNG DES MUSKE1.8TR0MES. § 77. und Ka])illarelektrometer beweisen dagegen, dafs die Gestalt der Strom- kurve während des Tetanus die der periodisch steil abfallenden und sich wieder erhebenden Linie /.•, /.',/ sein, dai's der Strom periodische Schwankungen in kurzen Zeiträumen erleiden mufs. Es fragt sich nur, ob die Einbiegungen wie in A die Abscissenachse nicht erreichen, d. h. also ob der Strom bei der einzelneu Schwan- kung nur um eine gewisse Gröfse sinkt, ohne gänzlich zu verschwin- den, oder ob die Einbiegungen wie in J> die Abscissenachse gerade er- reichen, der Strom also periodisch auf Null sinkt, oder ob die Ein- biegungen gar, wie in C und IJ, die Abscissenachse schneiden, d. h. also ob der Strom bei jeder Schwankung eine Umkehr erleidet, und ob in diesem Falle die Einbiegungen — /: erreichen, d. h. also ob der Strom bei seiner jedesmaligen Umkehr eine der positiven Gröfse, von welcher die Schwankung ausgeht, gleiche negative Gröfse erreicht. Hierüber sagen weder das physiologische Rheoskop noch die beiden andren physikalischen Apparate etwas aus. Das Mittel alle diese Zweifel zu heben, ist uns erst im BERNSTEiNschen Differential-Rheo- tom geboten, einem Apparat, dessen wir uns schon früher bedient haben, um das Verhalten des Nervenstromes in jedem kleinsten Zeit- momente nach vorausgegangener Reizung des Nervenstammes geson- dert zu untersuchen. S. Mayer und J. Bernstein ^ haben gezeigt, dafs das Differentialrheotom auch geeignet ist, die gleiche Aufgabe be- züglich des Muskelstromes zu lösen, und haben ebenso wie beim Nerven gefunden, dafs eine bestimmte Zeit verfliefst, ehe der an dem einen Querschnittsende des Muskels durch einen Induktionsschlag ausgelöste Beweguugsvorgang durch eine Modifikation des vom andren Quer- schnittsende abgeleiteten Muskelstroraes bemerkbar wird. Diese Mo- difikation erscheint stets in Form einer Abnahme des Muskelstromes, erreicht in mefsbarer Zeit ein Maximum und macht nach Verlauf eines wenig gröfsereu Zeitintervalls dem früheren Zustande Platz. Auf dem Höhepunkte des beschriebenen elektrischen Vorgangs ist der Muskelstrom verschwunden; die Zeitdauer der Schwankung beträgt im ganzen bei Fröschen ca. V250, bei Kaninchen V'iooSek. Die negative Schwankung des dauernd geschlossenen Muskelstromes entsteht also dadurch, dafs derselbe periodische Unter- brechungen erleidet, nicht aber, wie vorhin noch als mög- lich zugegeben werden mufste, infolge einer periodisch wiederkehrenden blofsen Intensitätsschwächung oder gar einer periodisch eintretenden Umkehr des Muskelstromes. Man kann die Frage aufwerfen, ob die hier gewonnene An- schauung, deren Hichtigkeit für den durch intermittierende Induk- tionsreizung oder durch die mechanischen Erschütterungen des Heiden- iiAlNschen Tetanomotors unter Vermittelung der Nerven ausgelösten Tetanus aufser Zweifel steht, auch für die übrigen Formen tetani- 1 S. MAYER, Arch. f. Anat. v. Physiol. 1868. p. Cöö. — J. BERXSTKIN, Untern, üh. d. Kr- reijnmjsTorganri im Nerven- u. Muskelsy steine. Heidelberg 1871. §77. NEGATIVE SCHWANKUNG DE8 MüSKELSTROMES. :'59 scher Dauerkoutraktionen, wie sie unter Umständen vom Nerven aus durch den konstanten Strom bei dauernder Schliefsung (s. Bd. I. p. 578) oder durch die diskontinuierlichen, elektrischen Schwellungsreize des V. FLEiscHLschen .Rheonoms (s. Bd. I. p. 577), ferner durch chemische Reize und im unversehrten Körper durch den Wiilensim- puls oder auf reflektorischem Wege (s. Befiexbewegungen) hervorge- rufen werden, Gültigkeit besitzt. Denn alle diese letzterwähnten Tetanusarten vermögen es nicht, den Nerven des stromprüfenden Frosch- schenkels in tetanische Miterregung zu versetzen^ sondern bewirken im Gegensatz zu den zwei erst erwähnten Tetauusformen häufig nur eine einmalige einfache Zuckung, im günstigsten Falle mehrere einfache Einzelzuckungen desselben. Ungeachtet dieses auffälligen Unterschiedes wird aber die Antwort auf die angeregte Frage schwer- lich verneinend ausfallen können, da der oszillatorische Charakter der in zweiter Beihe genannten Tetauusarteu, wenn auch nicht durch das physiologische Bheoskop, so doch durch Kapillarelektrometer und Telephon nachgewiesen worden ist", das Versagen des strom- prüfendeu Froschschenkels dagegen aus mehreren Ursachen erklärt werden kann, von welchen übrigens keine die andre ausschliefst und vor allem keine der Aussage der physikalischen Bheoskope wider- spricht. Wir führen dieselben hier der Beihe nach auf, gedenken aber auf diese Angelegenheit noch einmal zurückzukommen, wenn wir von den zwischen Nerven- und Muskelerreguug notwendig vor- auszusetzenden Beziehungen handeln werden. — Zunächst ist das Ausbleiben des sekundären Tetanus jedenfalls mit bedingt durch die geringere Schwankungsgröfse des Muskelstromes, denn es unterliegt keinem Zweifel, dafs der durch kurzdauernde elektrische Maximal- reize ausgelöste Tetanus alle andren Tetanusformen an Kraft über- trifft.^* Zweitens ist es nicht allein möglich, sondern für den durch Willensreiz, auf reflektorischem AVege und durch chemische Nerven- reizung hervorgerufenen Tetanus auch kaum abzuweisen, dafs hierbei ungleichzeitige gruppenweise Aktionen der einzelnen Muskel- fasern stattfinden*, die Veränderung des elektromotischen Verhaltens also nicht durch relativ mächtige Schwankungen des muskulären Gesamtstromes bedingt wird, sondern sich aus mehreren zeitlich auf- einander folgenden Stromschwankungen einzelner Gruppen von Muskelprimitivbündeln zusammensetzt. Und endlich kann der zeit- liche Verlauf der negativen Schwankung des Muskelstromes in sämtlichen hierhergehörigen Fällen an Blötzlichkeit und infolge davon an Beizkraft verloren haben. ^ ' Vgl. E. Hering u. Friedrich, Wien. Sizher. Math.-ntw. Cl. HI. Abth. 1875. Bd. LXXn. p. 413. — VON FLEISCHL, ebenda. 1877. Bd. LXXVI. p. 1.38. 2 Bernstein u. Schönlein, Stzber.d.nulurforsch.Gen. zu Halle. 1881. —I.OVKN, iVorJ. nwrf. Ark. 1881. Bd. XIII. No. 14. — FREY, Arch. f. Phijsiol. 1883. p. 43. — Wedenskii. ebenda p. 310. ^ Vgl. KRüNECKER, Arb. auH d. phiixiol.An.'it. zu Leipzig. 1871. p. 261 u. 264; Arcfi. f. Phimlol. 1878. p. 22. * E. Bruecke, Wien. Sizher. Matli.-ntw. Cl. III. Abth. 1877. Bd. I,XXVI. p. 237. = V. KRIEP, Arch. f. Physiol. 1884. p. 337. 40 NEGA'i'lVE SCHWANKUNG DES MUSKELSTIlOMES. § 77. Ein /weites wichtiges Ergebnis der BERNSTElNsclien Unter- sucliungen betrifft das elektrische Verhalten stromloser, symmetrischer Punkte der Muskeloberfläche während des Tetanus. Du Bois-Rey- MOND hatte gefunden, dafs dieselben im dauernd abgeleiteten Muskel tiuch bei angestrengtester Thätigkeit des letzteren stromlos bleiben, und behauptet, dal's auch das physiologische Eheoskop von ihnen aus nicht in sekundäre Erregung versetzt würde. Mit Hilfe des Differential-Rheotoms gelang es indessen Bernstein nachzuweisen, dafs auch sie während des Tetanus elektromotorische Wirkungen entwickeln und zwar stets der Art, dafs in bestimmten Zeitintervallen nach erfolgter Reizung zuerst der dem Reizungsort znuächst, darauf der entfernter gelegene Oberflächenpunkt negativ elektrisch wird und somit die Eigenschaften eines künstlichen Muskelquerschnitts annimmt. Die Ströme, welche zwischen symmetrischen Punkten im thätigen Zustande des Muskels auftreten, haben also eine alternierende Rich- tung, woraus sich erklärt, dafs sie in dauernd geschlossenem Galva- nometerkreise keinen Einflufs auf die Magnetnadel ausüben, sondern um zur Greltung zu kommen, erst in dem zum Abfangen kleiner, begrenzter Zeitmomente eingerichteten Galvanometerkreise des Diffe- rential-Rheotoms gesondert werden müssen. Die zweite Angabe Du Bois-Reymonds aber, dafs der JSTerv des stromprüfenden Frosch- schenkels nicht in sekundäre Erregung gerate, wenn er symmetri- sche Punkte der Muskeloberfläche ableitend berührt, wäre mit den erwähnten Untersuchungen Bernsteins nicht zu vereinen. Jedoch lehrt der direkte Versuch das Gegenteil. Jede zwei in der Easer- richtung des Muskels, nicht allzu nahe neben einander gelegene Punkte erhalten im Augenblicke der Muskelaktion die Fähig- keit, einen sie zum Stromkreise schliefsenden Nerven zu erregen (Grueniiagen^). Diese Thatsache ist nicht ohne Wert für die Autfa.ssung des elektrischen Prozesses im thätigen Muskel. Denn allgemein erfahren wir dadurch, dafs elektrisch unwirksame Punkte des ruhenden Mus- kels durch Reizung desselben in elektrisch wirksame verwandelt werden können. Da frische, unversehrte ruhende Muskeln aber fast ausnahmslos, wie angeführt (s. o. p. 31), bei jedweder Ableitungs- art, selbst bei Ableitung von Längsschnitt und Querschnitt, durch das Galvanometer nur schw^ache, nicht selten auch gar keine elek- tromotorische Wirksamkeit entfalten und bei Ableitung durch den Nerven des physiologischen Rheoskops daher auch nicht die galvani- sche Zuckung ohne Metalle geben, im Augenblicke ihrer Erregung dagegen, möge dieselbe nun A'om Nerven oder von einer Reizung ihi'er eignen Substanz ausgehen, stets kräftige sekundäre Zuckungen auslösen, so folgt, dafs letztere im normalen Zustande der Muskeln nicht durch das Verschwinden des Muskelstromes, sondern umgekehrt ■ GKUKXIIAdli.N, PFLUEGEKS .Ijcä. 1872. Btl. V. II. 119. §7^- NEGATIVE SCHWANKUNG DES MUSKELSTROMES. 41 durch das periodische Erscheinen desselben hervorgerufen -werden. Man hat folglich den Muskel als ein Organ anzusehen, in ^velchem die Anfachung der Thätigkeit zur Entfaltung präformierter elektrischer Kräfte führt. Entwickelt sich diese Fähigkeit auf Kosten der anderweitigen physiologischen Funk- tion zu gröi'serem Umfange, so wandelt sich der Muskel zum elek- trischen Organ um, wie wir es bei einigen Fischarten antreifen, und von Avelchem wir durch Babuchin ^ wissen, dafs dasselbe seiner embryonalen Anlage nach in engster Beziehung zum quergestreiften Mu.skelgewebe steht. Einen speziellen Fall von Ableitung- stromloser Punkte durch den Nerven des stromprüfendeu Froschschenkels bietet die Ableitung zweier natürlicher Querschnitte eines frischen Muskels dar. Entstände der die negative Schwan- kung des Muskelstromes bedingende Prozefs genau in der Mitte des Muskel- bauchs und erreichte bei seiner Fortpflanzung nach beiden Seiten hin beide Querschnitte gleichzeitig, so könnte das elektrische Gleichgewicht beider Muskelenden in;: keiner Weise gestört werden, die Auslösung einer sekundären Zuckung von ihnen aus würde unterbleiben. Überall, wo wir eine solche bei Ableitung der muskulären Sehnenenden dennoch auftreten sehen, müssen wir also schliefsen, dafs hier jener Prozefs nicht genau von der Mitte jeder Muskel- faser beginnt und folglich auch dem einen natürlichen Querschnitt später als dem andren die elektrischen Eigenschaften eines künstlichen Querschnitts er- teilt. Dafs es unter dieser Voraussetzung zur Bildung alternierender Ströme zwischen beiden Querschnitten kommen und ein beide zum Kreise schliefsender empfindlicher Nerv erregt werden mufs, ist selbstverständlich. Solche Fälle, in welchen die beiden Sehnenenden frischer Muskeln während der Thätigkeit der letzteren zu elektrischer Erregung befähigt werden, treten regelmäfsig dann ein, wenn die Muskeln von ihren Nerven aus zur Kontraktion gebracht werden. Das Bild, -welches -wir uns nach den eben mitgeteilten That- sachen von dem elektrischen Vorgange innerhalb der erregten Muskelfaser zu entwerfen haben, ist in der beigefügten Zeichnung wiedergegeben. Fin-. so. Wird der Muskelfaser /" / bei r )\ ein Induktionsschlag zugeführt, so entwickelt sich zunächst an der Keizstelle ein moleku- larer Prozefs, die Reizwelle J. Bernsteins, welche nur eine gewisse Strecke der Faser umfafst (nach Bernstein ca. 10 mm) und jeder- 1 BABVCHIN, ClrM. f. d. med. HV.m. lS7i>. p. 545; 1875 p. 129, 145 ti. 101. 42 XKCiATIVp: SCHWANKUNG DES MUSKELSTROMES. §77. seits durcli einen Querschnitt von entwedei- schon oder noch nicht in dem (gleichen Prozels befangen gewesener Muskehnasse begrenzt wird. Diese ßeizwelle ivh\ wandert mit einer bestimmten Geschwin- digkeit im Muskelrohre fort und verhält sich zu jedem aufserhalb ihres Bereichs gelegenen Punkte der Faseroberfläche negativ elektrisch. Gelangt sie daher zu dem ersten Fufspunkte di des Multiplikator- bogens in m^, so ergiefst sich durch denselben ein elektrischer Strom von ftij^ nachni; schreitet sie über wi fort, so schwindet dieser Strom und wechselt sein Zeichen, wenn die Reiz welle ni^ erreicht hat (alternierende Ströme symmetrischer Punkte). In dem Multiplikator- bogen ni., m.^ hingegen bewirkt sie bei ihrer Ankunft in di-.^ ein Ver- schwinden des ursprünglich -s-orhandenen Muskelstromes (negative Schwankung des Muskelstromes). Letzterer entsteht von neuem in alter Kraft, wenn die ßeizwelle m.^ passiert hat. Die negativ elektrische Spannung der Reizwelle braucht weder vom Standpunkt der Molekularhypothese des Muskelstromes noch von demjenigen des Cylinderschemas dem erregten Querschnitt selbst an- zugehören, sondern kann im Sinne beider ausschliefslich den angren- zenden Querschnitten ruhender normaler Muskelsubstanz entstammen, deren präexistierende negative elektrische Spannung von der alte- rierten Muskelpartie als indifferentem Leiter lediglich abgeführt wird. Xach der Alterationshypothese mufs sie dagegen durch die alterierte Substanz selbst, welche erst infolge ihres Kontaktes mit normaler negativ elektrisch wird, bedingt sein. Die weiteren Folgerungen und Reclmungen, welche J. Berxsteix an seine Versuche knüpft, Ijedürfen noch eingehender Prüfung. Bernstein be- stimmt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizwelle in der Muskelfaser (im mittel 2,851 bis 2,927 m in der Sek.) aus dem Zeitintervall, welches zwischen dem Moment der Reizung und dem ersten Eintritt elektrischer Änderungen im 3Iultii3likatorbogen m »(j oder vh^ in^ verfliefst. Dabei macht er aber die An- nahme, dafs die Schwankung der strommessenden Nadel genau in demjenigen Augenblicke beginnt, in welchem die Reizwelle an den Fufspunkten m oder j«^ des Galvanometers anlangt, und sieht von einer zwischen Einbruch des Reizes und Auslösung der Reizwelle eventuell vorhandenen Latenzperiode gänzlich ab. Beide Voraussetzungen sind unerwiesen; die erste ist sogar entschieden unzulässig, da die Reizwelle ihrer elektrischen Wirkung nach einem künstlichen Querschnitte entspricht, und dieser nach dem Gesetze des ruhenden Muskelstromes schon in gar nicht unerheblicher Entfernung von den Fufspunkten eines ableitenden Multiplikatorbogens den Strömungsvorgang innerhalb desselben beeinflufst. Der innere Zusammenhang, welcher zwischen dem eben ge- schilderten elektrischen Prozefs in der gereizten Muskelfaser and ihrer mechanischen Leistung, der Kontraktion, voraussichtlich besteht, ist gänzlich unklar. Nur über das zeitliche Verhältnis beider Vor- gänge sind wir durch Helmholtz^ und im Anschlufs an diesen durch V. Bezold- unterrichtet worden und wissen, dafs die negative Stromesschwankun«: schon vor dem Eintritt der Verkür- 1 HKL.MIKjLTZ. ihmaiaher. d. kp'. preufs. AkoA. d. Wixs. zu H(>r!in. 3854. p. 328. * V. Bbizold, ebenda. 1861. p. 1023. § 77. NEGATIVE SCHWANKUNG DES MüSKELSTROMES. 43 zxiug ihr Ende erreiclit. Hieniacli liegt es nahe die erstere als Ursache der letzteren hinzustellen. Ein Versuch auf diesem Wege vorzudringen ist von Bernstein^ auch gemacht worden. Ausgehend von der Thatsache, dafs die Dauer der negativen Schwankung im Froschmuskel etwa V250 Sek. beträgt, glaubte er schliefseu zu dürfen, dafs ein Muskel, welcher von mehr als 250 Eeizstöfsen in der Sekunde getroffen würde, einen gleichmäfsigen elektrischen Zustand annehmen, d. h. auf demjenigen annähernd beharren müfste, welcher ihm durch den ersten Reizstofs erteilt worden war. Im Falle die Schwankung des elektrischen Verhaltens also die Ursache des Ver- kürzungsvorgangs wäre, liefse sich auch erwarten, dafs bei einer Frequenz von mehr als 250 Reizen in der Sekunde statt einer teta- nischen Kontraktion eine einmalige einfache Zuckung, die sogenannte Anfangszuckung Bernsteins, erscheinen würde. Diese Über- legung ist indessen schwer haltbar, da selbst 2000 — 22000 Beize pro Sekunde einen gleichmäfsigen Muskeltetanus bewirken können, obwohl in diesen Fällen auch den theoretischen Anschauungen Bernsteins gemäfs die Wellenlinie der negativen Schwankung kaum merkliche Kräuselungen anzeigen dürfte." Die zeitliche Beziehung zwischen negativer Schwankung und Muskel- kontraktion ist von Helmholtz auf folgende Weise ermittelt worden. Der Nerv Ä eines Muskels A, welcher letztere mit dem Zeichenstift des Myographions in Verbindung stand, ruhte auf der Oberfläche eines Muskels B, dessen Nerv B durch einen OtYnungsinduktionsschlag gereizt wurde, so dafs die negative Schwankung des Muskelstromes in B eine sekundäre Zuckung des Muskels A hervorrief. Die nach den früher beschriebenen Prinzipien am Myographion mefsbare Zeit, welche zwischen dem Moment des Offnungsinduktionsschlages auf den Nerven B und dem Beginn der sekundären Zuckung von A, also der Erhebung des Zeichenstiftes verging, war die Summe folgender vier Einzel- zeiträume: 1. der Zeit, welche zwischen der Ankunft des zuckungerregenden Vorgangs im 3Iuskel A und dem Beginn seiner Verkürzung lag, also des Stadiums der latenten Reizung von A; 2. der Zeit, welche der Leitungsprozefs im Nerven A vom Reizort bis zum Muskel beanspruchte; 3. des Zeitraumes, welcher zwischen dem Anlangen des nervösen Thätigkeits- zustandes im Muskel B und dem Moment verging, in welchem die negative Stromesschwankung des letzteren den Nerven A erregte; endlich 4. der Zeit, welche die Leitung im Nerven B beanspruchte. Durch Abzug der aus anderweitigen Versuchen bekannten Zeiträume 1 , 2 und 4 von der Summe fand sich die Gröfse des gesuchten Zeitraumes 3, und zwar ergab sich der- selbe zu etwa V200 Sek., d. h. es vergeht nach Helmholtz zwischen dem Moment der Reizung eines Muskels und dem Moment der stärksten elektrischen Änderung (negative Schwankung) des Muskelstromes etwa V200 Sek. ; letzteres Moment fällt also in die Mitte der Periode der latenten Reizung, welche etwa Vioo Sek. umfafst. Eine weniger komplizierte Methode, den völligen Ablauf der negativen Stromesschwankung vor dem Eintritt der Muskelkontraktion darzustellen, ist von Gruenhagen ■' angegeben worden und beruht darauf, dafs ein Muskel A den ihm nur mit einem Punkte aufliegenden Nerven des physiologischen Rheoskops erst im Augenblicke der Zuckung an einem zweiten Punkte berülirt ' Bernstein, Vntei-s. üb. d. Erregunfi«vor(]. im Xereen- n. MmikcUy stein. Heidelberg 1871. p. 100. — Pflukgekr Arch. 1878. Bd. XVIJI. i). 121. — Schönlein, Arch. f. Phrnoi. 1882. p. S57. - Kroneckku II. Stirling, Arch. f. PIvisiol. 1878. p. 1 ; ebenda p. 394. ■' GRIEXHAGEN, Pfluegers Arch. 1872. Bd. V. p. 119. 44 NEGATIVE SCHWANKUNG DES MUSKELSTROMES. §77, und dadurch zum ableitenden Strond. 74. 2 E. Du BoIS-REVMOND, Annales de C/iimie et de Phyuique. 1850. lU. Ser. T. XXX. p. 186; ilonatsber. d. kr/l. preii.fi. Akad. d. Whs. zu. Berlin. 1853. p. ill; unters, üh. thierisclie f'lektricität. Berlin 1860. Bd. II. 2. Abth. p. 151, 291 u. 356. ^ GruknhAGEN, Zt.Khr. /. rat. M-'d. 1867. III. K. Bd. XXIX. p. 285. * E. I)i; Uois-Reymond, Aren. ' .^nat. u. Phmiol. 1871. p. 596, u. 1870 p. 544. §77. NEGATIVE SCHWANKUNG DES MUSKELSTROMES. 45 kung" wahrnimmt. ^ Allein jedesmal läfst sich iu diesen Fällen nachweisen-, dafs der ursprüngliche Strom ein DifFerenzstrom war, dessen einzelne Komponenten nicht zu gleicher Zeit und vielleicht auch nicht in gleichem Grade dem Prozefs der negativen Schwan- kung unterlagen. Verliert aber von zwei entgegengesetzt gerichteten Strömen, deren einer den andren überwiegt, zu irgend einer Zeit ausschlieislich der schwächere an Intensität, so müfs in dem von ihnen beiden durchflossenen Gralvanometer notwendig eine Vergrölse- rung der Ablenkung im Sinne des stärkeren erfolgen, und so erklärt .sich auch die positive Schwankung Meissners, nicht aber aus der Entstehung neuer bisher unbekannter elektromotorischer Spannkräfte, wie ihre Entdecker wollten. Obwohl es, wie wir oben erwähnt haben, nicht gelingt, den Strom der ruhenden Muskeln am lebenden menschlichen Körper zur Anschauung zu bringen, ist es Du Bois-REYMONn ^ doch geglückt, die negative Schwankung ihres Stromes am lebenden Menschen nachzuweisen. Schaltet man asymmetrische Haut- stellen einer Extremität in den Multiplikatorkreis ein, so zeigt die Nadel Ströme an, welche der Haut angehören und mit dem Muskelstrom nichts zu thun haben. Versetzt man darauf die Muskeln des betreffenden Gliedes in energischen will- kürlichen Tetanus, so erfolgt ein positiver Ausschlag, d. h. die Nadel wird in demselben Sinne, wie durch den Hautstrom, weiter abgelenkt. Dieser Ausschlag erklärt sich ungezwungen durch die Annahme, dafs der ruhende dem stärkeren Hautstrome entgegengesetzt gerichtete und ihn daher teilweise kom- pensierende Muskelstrom bei der Thätigkeit der Muskeln schwindet und der mächtigeren Entfaltung des abgeleiteten Hautstromes mithin ein geringeres Hindernis bereitet. Taucht man symmetrische Hautstellen, z. B. die beiden Zeigefinger beider Hände, iu die Zuleitungsgefäfse, so erhält man, nachdem die ersten flüchtigen AVirkungen beim Schliefseu des Kreises vorüber sind, nur sehr schwache Ströme, wenn man sorgfältig die von Du Eois-Reymond* ermittelten Momente, welche die Haut elektromotorisch wirksam machen, vermeidet. Ein Strom von den ruhenden Muskeln ist bei Ableitung von symmetrischen Haut- stellen nicht zu erwarten, weil sich die Muskelströme beider Körperhälften das Gleichgewicht halten müssen. Spannt man aber, nachdem die Nadel auf dem Nullpunkt oder in dessen Nähe zur Ruhe gekommen ist, die Muskeln der einen Körpei-hälfte, also des einen Armes, heftig und dauernd an (ohne dabei die Lage des eingetauchten Fingers zu ändern und infolge dessen die Ent- stehung von Hautströmen zu veranlassen), so erzielt man damit einen Aus- schlag, nach der einen oder der andren Seite, je nachdem die Muskeln der einen oder der andren Körperhälfte zur Verkürzung gebracht worden sind. Auch hier beruht die Ablenkung darauf, dafs von zwei entgegengesetzten Strömen der eine das Übergewicht erhält. Während aber in dem zuvor be- richteten Falle Haut- und Muskelstrom die Komponenten des resultierenden, die Galvanometernadel drehenden Stromes waren, sind es hier die ruhenden Muskelströme beider Körperhälften, welche sich in ihren Wirkungen bekämpfen und auch aufheben. Werden die Muskeln der einen Extremität in willkürlichen Tetanus versetzt, so nimmt der ihnen entstammende Strom ab, der Strom der ruhenden andren Extremität gewinnt die Oberhand und lenkt demgemäfs die Magnetnadel in seinem Sinne ab. 1 Mkissner, Ztschr. f. rat. Med. 1861. III. R. Bd. XI. p. 193, u. MEISSNER n. COHN, ebenda. 1862. III. R. Bd. XV. p. 27. ^ E. Du BoiS-Reymond, Arch. f. Anat. u. P/u/siol. 1873. p. 564. ^ E. DU Bois-ReyMOND, Monuisher. d. kr/l. preufs. Akad. d. Wi.'is. zu Berlin. 1853. p. 70. * E. Du BoiS-RkymOND, Monutsber. d. ktß. preufs. Akad. d. Wlis. zu Berlin. 1853. p. 111 Vnters. üb. thierische Elektricität. Berlin 1860. Bd. h. 2. Abth. p. 186. 46 ERSCHEIJsL'NGEN DKli Ml'SKELTHÄTIGKEIT. § 78. PHYSIOLOGISCHES VP^RHALTEN DER QUER- GESTREIFTEN MUSKELN. ALLGEMEINE CHARAKTERISTIK DER MUSKELTHÄTIGKEIT. ERSCHEINUNGEN DER MUSKELTHÄTIGKEIT. § 78. Wird ein aus quergestreiften Fasern zusammengesetzter Mus- kel durch Reizung seines Nervenstammes oder direkte Applikation reizender Einwirkungen auf seine Substanz in den thätigen Zustand übergeführt, so besteht die auffallendste Erscheinung dieser Thätig- keit in einer Formveränderung, und zwar in einer Verkürzung der Fasern im Längsdurchmesser unter entsprechender Zunahme des Querschnitts. Da die mechanischen Effekte dieser Formveränderung, in deren Leistung die Aufgabe der Muskeln be- steht, überall auf der Verringerung des Längsdurchmessers, nirgends auf der Dickenzunahme beruhen, bezeichnet man die lebendige Thätig- keit des Muskels einfach als Verkürzung, Zusammenziehung, Kontraktion. Wir schicken der speziellen Analyse der dabei in Betracht kommenden Verhältnisse eine allgemeine Charakteristik voraus. Ist die Anregung, welche den thätigen Zustand hervorruft, eine einmalige von verschwindend geringer Dauer, z. B. eine ein- fache schnelle Dichtigkeitsschwaokung eines elektrischen Stromes, besitzt der Muskel seine normale Leistungsfähigkeit und stehen seiner Verkürzung keine Hindernisse entgegen, so tritt die unter dem Namen der einfachen Zuckung bezeichnete rasch ablaufende elementare Tbätigkeitsform ein. Für die unmittelbare AVahrnehmung scheinbar gleichzeitig mit der erregenden Ursache beginnen die davon getroffenen Fasern ihre Kontraktion, erreichen in kürzester Zeit das Maximum der Verkürzung, um, ohne in letzterem zu verharren, ebenso rasch in den erschlafften Zustand zurückzukehren, ihre ursprüngliche Länge wieder anzunehmen. Der Verlauf dieser einfachen Zuckung ist so rasch, dafs es unmöglich ist, durch unmittelbare Beobachtung etwas Näheres über die zeitlichen Umstände derselben und das Ver- halten der Fasern in den einzelnen Stadien der Zuckung zu erfahren, vor allem zu entscheiden, ob die Verkürzung gleichzeitig alle Teile der Länge der Muskelfaser ergreift, oder' ob sie, von bestimmten Stellen ausgehend, successive auf die übrigen Stellen sich fortpflanzt. Für die unmittelbare Wahrnehmung auch mit bewaffneten Augen, für welche die Querstreifen einen Anhaltepunkt zur Beobachtung bieten, I § 78. ERSCHEINUNGEN DER MISKELTHÄTIGKEIT. 47 scheint der fiische Muskel bei jeder Zuckuag sich gleichzeitig in allen Teilen seiner Länge zu verkürzen. Dennoch läfst sich schon a priori behaupten, dal's dies nur scheinbar ist, dafs unter allen Umständen eine Fortpflanzung des Yerkürzungsvoi'ganges von primär zur Thätigkeit veranlaisten TeUchen auf andre stattfinden mufs, aufser wenn es möglich wäre, wirklich allen in der Längsrichtung hintereinander liegenden Teilchen der Muskelfasern direkt den An- stofs zur Thätigkeit zu geben. Erzeugen wir die Zuckung durch Reizung der motorischen Nerven aufserhalb des Muskels, so ist mit Sicherheit anzunehmen, dafs die Verkürzung zunächst an der Be- rühruugsstelle zwischen Nervenende und kontraktiler Substanz aus- gelöst wird und von da aus auf die übrigen Partien fortschreitet. Etwas abweichend könnte der Vorgang verlaufen, wenn wir den Muskel direkt durch einen die ganze Länge desselben durchfliefsen- den elektrischen Induktionsschlag in Thätigkeit versetzt hätten. Würde hierbei wirklich jedes Teilchen der Muskelsubstanz für sich in Erregung versetzt, so müfste freilich eine gleichzeitige Thätigkeit aller die Folge sein. Entschieden ausgeschlossen ist diese Möglichkeit jedoch in dem dritten noch übrigen Falle einer direkten partiellen Muskelreizung, wenn wir z. B. irgend einen Reiz auf das äufserste eine Ende eines langen parallelfaserigen Muskels, wie des Sartorius, wir- ken lassen. Da auch in diesem Falle die Fasern in ihrer ganzen Länge an der Verkürzung sich beteiligen, so bleibt keine andre Annahme übrig, als die, dafs die Verkürzung wie eine Welle von dem direkt gereizten Ende der Fasern aus successive von Teilchen zu Teilchen bis zum andren Ende weiterschreitet, was also be- deutet, dafs der kontraktilen Substanz ein Leitungsvermögen für ihren Thätigkeitszustand innewohnt. Unter besonderen Um- ständen läfst sich das wellenähnliche Fortschreiten der Kontraktion in der Längsrichtung der Muskelfasern aber auch unmittelbar dem Auge wahrnehmbar machen. Ein ganz ausgezeichnetes Feld für Beobachtungen dieser Art bietet die miskroskopische Untersuchung einiger im Wasser lebender durchsichtiger Insektenlarven. Hier kann man an geeigneten Arten [Cordhra 2)lu7nicorms) , namentlich wenn dieselben unter dem Deckgläschen zu ersticken beginnen und dadurch ihre grofse Beweglichkeit verloren haben, einzelne Muskel- bündel mit starken Vergröfserungen überblicken und sich ohne Mühe davon überzeugen, dafs jede Zuckung auf der Bildung eines spindel- förmigen Wulstes beruht, welcher zuerst im Bereich der ebenfalls sichtbaren Nervenendplatte unter Zusammenrücken der dunklen Quer- streifen des Muskelprimitivbündels entsteht, sodann aber mit gröfserer oder geringerer Geschwindigkeit, wie ein Tropfen am Glasstabe, der Faser entlang gleitet, um am Sehnenansatze spurlos zu verschwinden. Ferner gelingt es auch durch rasche Tötung gröfserer Insekten (Käfer) mittels Alkohol absol. oder Überosmiumsäure die Muskeln im Momente ihrer Zuckung zu töten, die Kontraktionswelle in der erstarrten 48 EK.S(^HEINUNGEN DER MÜSKELTHÄTIGKEIT. § 7S. MuskelsuLstanz dauernd /u fixieren und im ei'hilrteteu Zustande nachträglicli der raikroskopisclien Untersuchung zu unterwerfen. Trifft den Nerven eines Muskels oder diesen selbst eine Reihe sich folgender momentaner Einzelreize, von denen jeder für sich eine Zuckung veranlalst, so hängt die Art der Thätigkeitsäufserung desselben von der Grülse der Intervalle zwisclien den einzelnen Reizen ab. Sind diese Pausen so lang, dai's innerhalb jeder einzel- nen ein vollständiger Ablauf der vom vorhergehenden Reiz erzeugten Zuckung möglich ist, ehe der folgende Reiz die neue Zuckung ver- anlnfst, dafs also der Muskel in der Pause wieder zu seiner ursprüng- lichen Länge zurückkehren kann, bevor er aufs neue zur Ver- kürzung gezwungen wird, so zeigt sich deutlich eine diskontinuierliche Thätigkeit des Muskels in dem mehr weniger raschen Wechsel seine]' Länge. Verkürzt man die Pausen allmählich, läfst man also die Einzelreize, z. B. Liduktionsstöfse, rascher und rascher folgen, so sieht mau zunächst, wenn die Geschwindigkeit der Reize nur wenig die oben augedeutete Grenze überschritten hat, scheinbar unmittel- bar mit dem ersten Reiz den Muskel aus seiner natürlichen Länge in das Maximum der Verkürzung, welches die Stärke des Einzel- i'eizes bedingt, übergehen, dann aber bei der weiteren Folge der Reize nicht wieder zu der natürlichen Länge zurückkehren, sondern nur geringe, den einzelnen Pausen entsprechende Längenschwankun- gen ausführen, indem, bevor die dem einen Reiz entsprechende Zuckung abgelaufen, bevor der Muskel Zeit gehabt hat seine natür- liche Länge wieder anzunehmen, der neue Antrieb zur Kontraktion eintritt, ihn in seiner Verlängerung aufhält und ihm wieder das Maximum der Verkürzung aufzwingt. Es entsteht in diesem Falle durch das rasche Hin- und Herschwanken einzelner, das Licht reflek- tierender, glänzender Muskelteilchen das Bild des „Flimmerns'", nicht zu verwechseln mit einer andren Form des Flimmerns, welches dadurch erzeugt wird, dafs nicht gleichzeitig alle Fasern des Muskels eine rasch sich folgende Reihe von Reizen durch Verkürzung be- antworten, sondern im buntem Wechsel bald diese, bald jene einzelne Faser oder Partie von Fasern, je nachdem der zuckungerzeugende Reiz seinen Anstofs auf die eine oder die andre unmittelbar oder durch die zugehörige Nervenfaser beschränkt. Ein solches Flimmern tritt z. B. regelmäfsig im Beginn der Kochsalzreizuug des motorischen Nervenstammes ein, weil die von der Kochsalzlösung hervorgerufenen Difi'usionsvorgänge, auf denen der ReizefFekt voraussichtlich be- ruht, die im Nervenstamme zusammengepackten Fasern successive nacheinander, nicht wie der elektrische Strom alle gleichzeitig, er- reichen. Steigert man die Geschwindigkeit der Reizfolge noch weiter, so kommt man endlich an die Grenze, wo die mit dem Namen Tetanus, Starrkrampf bezeichnete, scheinbar vollkommen stetige Thätigkeitsform des Muskels eintritt. Der Muskel nimmt dann mit dem Beginn der Reizung das zugehörige Maximum der Verkürzung § 78. ERSCHEINUNGEN DER MUSKELTHÄTIGKEIT. 49 rasch an, und verharrt ohne Schwankungen bei der weiteren Folge der Einzeh'eize geraume Zeit in demselben Grade der Verkürzung, um erst nach längerer Dauer der Reizung ganz allmählich sich zu verlängern, unmittelbar nach dem Aufhören derselben aber rasch zu seiner natürlichen Länge zurückzukehren. Die Zahl der Einzelreize, welche mindestens in den Zeitraum einer Sekunde zusammengedrängt werden müssen, um einen stetigen Tetanus auszulösen, wechselt nicht nur mit der Muskelart, sondern höchst bemerkenswerter Weise auch mit der Beschaifenheit des Reizes. Besteht letzterer aus elektrischen Stromstöfsen von kurzer Dauer, so bedarf es nicht weniger als 19 — 20 Einzelreize pro Sek. um einen unermüdeten Gastrocuemius des Frosches in Tetanus zu versetzen. Beim Kaninchen gibt es zwei wohl unterschiedene Klas.sen quergestreifter Muskeln, solche, die ein rotes, und solche die ein weifses Aussehen haben. Die ersteren ge- raten in ausgesprochenen Tetanus bereits bei 10 Stromstöfsen pro Sek., die letzteren bedürfen deren dagegen 20 — 30.^ Sehr viel gröfsere Zahlen scheinen endlich in Aussicht genommen werden zu müssen für die Flügelmuskulatur mancher Insekten. Denn von der gemeinen Stubenfliege berichtet Marey", dafs sie willkürlich 330 Flügelschläge in der Sekunde mit alternierender Thätigkeit der Flügel- heber und -.Senker vollführe. Hiernach müfsten also in jeder Muskel- gruppe 330 Einzelkontraktionen, ohne tetanisch miteinander zu vei"- schmelzen, ablaufen können. Ganz verschiedenen Verhältnissen be- gegnet man, wenn die tetanische Erregung des Miiskels nicht durch elektrische Momentanreize, sondern durch den konstanten Strom'^ oder durch chemische Reizmittel oder durch die physiologischen sei es der Willensimpulse, sei es der Reflexübertragungen* hervorgerufen worden ist. In diesen Fällen scheint eine geringere Zahl von Einzelreizen (8 — 10- — 15) der ausgelösten Dauerkoutraktion zu Grunde zu liegen. Trotz seiner scheinbaren Stetigkeit ist der Tetanus seinem Wesen nach, welche Art der Reizung ihn auch bedingt baben mag, doch ein diskontinuierlicher Vorgang, nichts als eine Reihe unter- einander verschmolzener Einzelzuckungen. Das Verharren des Muskels auf gleichem Verkürzungsgrade trotz der Diskontinuität der ihm zugeleiteten Reizimpulse resultiert ebenso wie die Ruhe der Magnetnadel des Multiplikators bei Einwirkung rasch alternierender ent- gegengesetzt gerichteter Ströme von gleicher Intensität aus der Trägheit der bewegten Masse. Beim Tetanisieren des Muskels folgen die Einzelreize einander schneller als die Erschlaffungen den Einzel- kontraktionen. Der Muskel mufs mithin die verkürzte Form beibe- halten, obwohl der die Verkürzung bedingende Molekularvorgang in • RAXVIER, Arch. de Phmiol. norm, et patlwl. II. Se'r. T. I. 1874. p. 5. — KRONECKER II. Stirlinq, Arch. f. Phi/.vol. 1878. p. 1. * MAREY, La madiine aniviale. Paris 1873. p. 192 u. 203. ^ Frey, Arch. f. Phijsiol. 1883. p. 43. ^ I.OVEN, Nord. med. Ark. 1881. Bd. XI. No. 14; Centrbl. /. d. 7iied. Wiss. 1881. p. 113. Gruenhagkx. Physiologie. 7. Aufl. II. 4 50 EESCHEINUNGEN DER MUSKELTHÄTIGKEIT § 78. der koiitraktilon Substanz ein periodisch unterbrochener ist. Die allmähliche Verlängerung, welche bei längerem Tetanisieren eintritt, ist die Folge der Ermüdung des Muskels, der durch die Thätigkeil selbst verursachten allmählichen Herabsetzung der Leistungsfilhigkeit , welche sich in einer Abnahme dei- Verkürzungsgnifse ausspricht. Die Diskontinuität der Muskelthätigkeit im Tetanus läl'st sich in bestimmten Fällen aus der Diskontinuität der ihn hervorrufenden Erregung und den beschriebenen allmählichen Übergängen von deut- lichen getrennten Zuckungsreihen bis zur stetigen Kontraktion mit dei' Beschleunigung der Reizfolge erschliefsen, ist aber aufserdem in jedem Falle direkt zu erweisen durch die Diskontinuität der den Tetanus begleitenden Veränderung des elektromotorischen Verhaltens, von der im vorhergehenden § weitläufig gehandelt worden ist, und end- lich dadurch, dafs der in tetanischer Kontraktion begriffene Muskel tönt, d. h. in periodische Schwingungen gerät. Das Tönen tetanisierter Muskeln kann man vernehmen, wenn man in stiller Umgebung das Ohr, sei es direkt sei es unter Einschaltung eines Stethoskops auf die entblöfste Vorderfläohe des eignen oder eines fremden Oberarmes legt und den hiceps humeri willkürlich verkürzt, beziehungsweise verkürzen läfst. Noch deutlichere Resultate erhalt man, wenn man die äufseren Gehörgänge durch Siegellackpfropfen verstopft und sodann sei es durch Willens- impuls, sei es durch Induktionsströme die Kaumuskeln in kräftige andauernde Kontraktion versetzt. Um sich auch von dem Tönen ausgeschnittener, tetani- sierter Froschmuskeln zu überzeugen, befestigt man dieselben an kleine Stäbchen, welche im äufseren Gehörgange eingeklemmt werden und also die ihnen mit- geteilten periodischen Stöfse möglichst direkt dem Hörapparate zuführen. Endlich hat man ..sich mit grofsem Vorteil zu Versuchen dieser Art des Tele- phons bedient. Über die Methode seiner Verwendung haben wir bereits früher (p. 37) das Erforderliche beigebracht. Wie Helmholtz ^ nachgewiesen hat, variiert die Höhe des Muskeltons, d. i. die Zahl seiner Schwingungen, sehr er- heblich, wenn der tetanisierende elektrische Reiz auf den Muskel selbst oder den motorischen Nervenstamm einwirkt. In diesem Falle bemifst sich die Schwingungszahl genau nach der Zahl der Reizschwankungen, welche den Tetanus bedingen. Jedoch existiert eine obere Grenze, bis zu welcher Reiz- und Muskel- oszillationen einander wahrnehmbar korrespondieren. Dieselbe würde nach Wedenskii - sich oberhalb 700, unterhalb "2500 Schwingungen befinden. Wird der Tetanus dagegen bei einem Tiere durch diskontinuierliche Erregung der nervösen Zentralorgane hervorgerufen, so besteht zwischen Reizzahl und Ton- höhe keine Beziehung mehr. Die Tonhöhe bleibt konstant, wie grofs auch die Zahl der dem Gehirn oder Rückenmark zugeleiteten elektrischen Schläge in der Zeiteinheit sein möge. Der vernommene Ton entspricht jedoch nicht dem eigentlichen Grundtone, welcher nach Helmholtzs Messungen nur 19,5 Schwingungen in der Sekunde macht, sondern etwa dem ersten Obertone desselben von 36 — 40 Schwingungen. Eben dieser letztere Ton ist es auch, welcher dem von unsern eignen willkürlich kontrahierten Muskeln hervorgebrachten hörbaren Geräusche zu Grunde liegt (WoLLASTON, Hauühton, Helmholtz*). Da derselbe indessen seiner Höhe nach von dem Spannungszustande unsres Trommelfells abhängig ist, so folgt, dafs ^vir ihn nur als einen durch die Vibrationen des zuckenden Muskels ausgelösten 1 Helmholtz, Monatsher. d. hß. preufs. Akad. d. Wiss. zu Berlin 1864. p. 307; Anut. u. Physiol. 1864. p. 766. 2 LoVilN, Arch. f. Physiol. 1881. p. 363. — WEDENSKII, ebenda 1883. p. 310 (321). ' S HArGHTON. Outlines of « new theory of musciil. action. London 1863 § 78. ERSCHEINUNGEN DEE MUSKELTHÄTIGKEIT. 51 Resüuanzton unsres eignen Ohres anzusehen haben (Hklmholtz)^ Der nicht vernehmbare Eigenton willkürlich kontrahierter menschlicher Muskeln hat die gleiche niedere Schwingungszahl, welche den vom Rückenmark aus tetani- sierten tierischen Muskeln eigen ist, wie man für beide Fälle nach Hei.mholtz dadurch feststellen kann, dafs man die Vibrationen der betreffenden Muskeln in passender Weise auf federnde Körper überträgt und ausprobiert, welche Schwingungsperiode den letzteren eigentümlich zukommen mufs, damit sie durch den thätigen Muskel in das Maximum der Mitschwingung versetzt werden. An willkürlich kontrahierten oder im Strychninkrampf begriffenen Krötenmuskeln hat Lovex mittels des Kapillarelektrometers die Zahl der den ver- schmolzenen Einzelzuckungen entsprechenden elektrischen Stromschwankungen dagegen auf 8 pro Sekunde bestimmt. Die Frage, auf welcheu Formveränderungen der histologisclieii Elemente des Muskels, der Primitivbündel und weiter der Primitiv- fibrillen und deren letzten Elementarteilclien die allgemeine Gestalt- veränderung des thätigen Gesamtmuskels, d. h. die unmittelbar wahr- nehmbare Verkürzung des Längsdurchmessers und Zunahme des Dickendurchmessers beruht, ist durch mikroskopische Untersuchung zu beantworten. Das Mikroskop entscheidet, ob die Fasern durch wellen- oder zickzackförmige Beugung oder durch geradlinige Ver- kürzung bei zunehmendem Querschnitt das Kürzer- und Dickerwerdeu des Muskels verursachen. So unwahrscheinlich von vornherein das erstere Verhalten, eine Beugung der Muskelfasern, erscheinen mufs. wenn man bedenkt, welche beträchtliche Zugkraft der Muskel bei der Verkürzung ausübt, wie grofse Gewichte, welche seine Biegungen auszugleichen streben müssen, er zu heben vermag, so glaubten dennoch Pr^vost und Dumas- durch direkte Beobachtung unter dem Mikros- kop die schon von älteren Autoren mehrfach behauptete Zickzack- beugung der Primitivbündel bei der Kontraktion erwiesen zu haben. Diese Lehre, welche trotz einiger, zur völligen Widerlegung der- selben freilich ungenügenden Einsprüche fast allgemeine Geltung er- langt hatte und durch Autoritäten, wie R. Wagner, Henle, Valen- tin, auf AViederholung der Versuche hin verteidigt wurde, ist zuerst durch Ed. WEBER^für immer beseitigt, die geradlinige Verkürzung zur Evidenz bewiesen worden. Weber hat gezeigt, dafs die richtige Beobachtung, auf welcher Prevosts und Dumas' Lehre fufst, von ihnen und ihren Anhängern falsch gedeutet worden ist, dafs die Zickzackbiegungen, welche die Muskelfasern nach momen- taner Zuckung unter dem Mikroskope zeigen, nicht der Ausdruck der lebendigen Kontraktion, sondern der auf die Kontraktion folgenden Erschlaffung sind, ihre Bildung aber auf sehr einfache mechanische Ursachen zurückzuführen ist. Bringt man einen dünnen Muskel eines eben getöteten Tieres (am besten einen dünnen Hautmuskel oder den Mylohyoideus des Frosches) unter das Mikroskop, und versetzt ihn durch Hindurchleiten eines unterbrochenen elektrischen Stromes in * HELMHOLTZ, Ver/iandl. d. vaturhist.-medicin. Vereins in Heidelberg. 1867. Bd. IV. p. 88 u. 161. * PRÄVOST u. Dumas, Joum. de Phyaiol. 18'23.T. III. p. 301. ' ED. WEBER, R. WAGNERS ffdicrtb. d. Phvsiol. Bd. III. 2. Abth. p. 54. Vgl. .auch Al.LEN Thompson bei BowmAN, P/nlosaphical Transuct. 1840. P. 2. p. 487. 52 ERSCHEINUNGEJv DER MÜSKELTHÄTIGKEIT. §78. anhaltende tetanische Kontraktion, so sieht mau im ]\Ioment des Beginnes der Reizung die vorher geschlängelten oder zickzaekiormig geknickten Fasern sich gerade strecken und dann, wie die Annäherung ihrer Enden zeigt, sich ver- kürzen. Die Fasern bleiben völlig gerade gestreckt, solange der Reiz anhält, im Moment aber, in welchem die Reizung aufhört, „beugen sich, wie mit einem Zauberschlage, die Fasern auf eine ganz regelmäfsige Weise" so, wie es Pkkvost und Dumas beschrieben und abgebildet haljen, „in Zickzack", und behalten diese Form bei, bis erneute Einwirkung des unterbrochenen Stromes sie wieder gerade- streckt u. s. f. Die Zickzackbeugung entsteht auf folgende Weise bei der Er- schlaffung des Muskels. Die Enden der Fasei-n sind durch die Verkürzung ein- ander genähert worden; hört dieJThätigkeit auf, so verlängern sich die Fasern wieder, die Friktion auf der Glasplatte verhindert aber, dafs die genäherten Enden wieder so weit auseinander geschoben werden, dafs die verlängerte Faser geradlinig zwischen ihnen Platz findet; die notwendige Folge davon ist, dafs die Faser, um die zu geringe Distanz der Enden auszufüllen, sich krümmen, zickzackförmig beugen mufs. Prevost und Duma.s hatten die Muskeln nur in momentane Zuckung versetzt, wegen der Schnelligkeit des Vorganges aber die Geradestreckung der Fasern während derselben übersehen und die unmittelbar folgende Beugung als Erscheinung der Kontraktion gedeutet. Hängt man an die beiden Enden des Muskels kleine spannende Gewichte, so entstehen keine Zickzackbeugungen bei der Erschlaffung, weil die Enden der unthätigen Fasern durch die Gewichte auseinander gezogen werden. Zuverlässige Angaben über das Verhalten der hellen isotropen und der dunklen anisotropen Querscheiben des Muskelprimitivbündels während der Kontraktion verdanken wir namentlich Engelmann. ^ Seine Beobachtungen wurden an Muskelfasern (von Insekten) an- gestellt, welche im Augenblicke ihrer Verkürzung durch Übergiefsen mit V-' — -2prozentiger Überosmiumsäure oder 50 — 60prozentigem Alkohol getötet worden waren und die in ihnen ablaufende erstarrte Kontraktionswelle deutlich unter dem Mikroskope erkennen liefsen. Letztere erscheint in Gestalt einer spindelförmigen An- schwellung, deren Mitte von den auf dem Höhepunkt ihrer Thätig- keit angelangten Muskelteilen eingenommen, deren eines Ende von schon zur Ruhe zurückkehrenden, deren andres von zur Thätigkeit übergehenden Muskelelementen gebildet wird. Das Ergebnis der ENGELMANNSchen Untersuchungen war, dafs die isotropen Schichten mit wachsender Verkürzung undurchsichtiger und fester, die anisotropen durchsichtiger und weicher werden, und ferner, dafs die isotropen Schichten während der Kontraktion an Volumen verlieren, die anisotropen an Volumen um fast genau ebensoviel gewinnen. Engelmann schliefst , hieraus, dafs die anisotrope Substanz bei der Thätigkeit des Muskels durch Wasseraufnahme aus der isotropen quelle, der physiologische Vorgang de r ^Muskelkontrak- tion mithin als ein Quellungsphänomen zu bezeichnen sei, bei welchem zeitweilig eine anderAveitige Verteilung des im Muskel enthaltenen Wassers stattfinde. EXOEI-MAXX. PFI.rEUEKf Arrh. 1S73, Bd. VII. n. "•?, u.'^lS-D. ^79. ELASTIZITÄT DES MUSKELS. 53- ExGELMAXX glaubt aus den von ihm beobachteten Veränderungen der anisotropen Substanz weiter noch folgern zu dürfen, dafs dieselbe bei der Kon- traktion allein aktiv beteiligt sei und daher auch allein den Namen der kon- traktilen Substanz verdiene. Wir können dieser Ansicht um so weniger beij^flichteri, als bei dem jetzigen Standpunkte unsres Wissens der gleiche Ausspruch auch für die isotrope Substanz gerechtfertigt werden könnte, sofern man nur die in derselben während der Kontraktion ablaufenden Vorgänge einseitig betonen und als aktive Schrumpfungserseheinungen bezeichnen wollte. VERÄNDERUNGEN DER PHYSIKALISCHEN EIGENSCHAFTEN DES MUSKELS BEI DER THÄTIGKEIT. § 79. Das physikalische Verhalten des Muskels erleidet, sobald er in Kontraktiou gerät, in mehrfachen Beziehungen wesentliche Yer- änderungen. Die den thätigen Zustand des Muskels begleitende Änderung seines elektromotorischen Verhaltens haben wir oben bereits ausführ- lich erläutert und gesehen, dal's dieselbe in einer diskontinuierlichen neffativeu Schwankuno- des in der Ruhe stetig vorhandenen Muskel- Stromes besteht. Eine zweite wichtige Änderung erleidet die Elastizi- tät des Muskels während der Thätigkeit. Ed. Weber hat aus seinen trefflichen, für die Muskelphysiologie bahnbrechenden Untersuchungen den Satz abgeleitet, dafs der Muskel im thätigen Zustand dehnbarer, seine Elastizität geringer wird. Während mau früher aus der Beobachtung der ]\Iuskeln am lebenden Körper bei der Beugung und Streckung der Glieder schliefsen zu müssen glaubte, dafs der Muskel durch die Kontraktion härter werde, hat Weber gezeigt, dafs er im Gegenteil weicher wird, die scheinbare Härte aber die Spannung ist, in welche die Muskelfasern geraten, wenn ihre Verkürzung Widerstand erfährt, wie z. B. wenn Antagonisten gleichzeitig in Thätigkeit geraten und sich entgegen arbeiten. Ein ausgeschnittener Muskel fühlt sich bei der Verkürzung nicht hart an. Der leistungsfähige ,, lebende" Muskel besitzt im ruhen- den Zustande eine geringe, aber sehr vollkommene Elasti- zität, d. h. er leistet der Ausdehnung geringen Widerstand, kehrt aber selbst nach beträchtlicher Ausdehnung zu seiner natürlichen Länge zurück. Sobald der Tod des Muskels erfolgt, derselbe also in den Zustand der Starre getreten ist, nimmt seine Elastizität, wie unten genauer zu besprechen ist, in hohem Grade zu, d. h, er leistet der Ausdehnung beträchtlichen Widerstand, und reifst bei dessen gewaltsamer Überwindung leicht, oder bleibt, wenn er ohne Zerreifsung ausgedehnt ist, dauernd verlängert. Bei allen Muskeln unsres Körpers ist die Entfernung ihrer Ansatzpunkte gröfser, als die natürliche Länge des ausgeschnittenen Muskels beträgt; es befindet sich daher jeder Muskel im unthätigen Zustande in einem gewissen ge- 54 . ELASTIZITÄT DES THÄTIGEN MUSKELS. § 79. ringen Grade von Dehnung und Spannung. Den einfachsten Beweis dafür gibt das Zurückweichen der Muskelenden, welches ohne lebendige Kontraktion jedesmal bei Durchschneidung der Sehne am lebenden Körper eintritt. Dals die durch den l)estehenden geringen Dehnungsgrad gesetzten elastischen Kräfte keine Bewegung der Glieder hervorbringen, begreift sich aus der allerorts vorgenommenen Gegenüberstellung antagonistisch wirksamer Muskeln, Streckern und Beugern u. s. w., deren elastische Kräfte sich das Gleichgewicht halten. Dals die gespannten Muskeln der Bewegung der Glieder keinen irgend beträchtlichen Widerstand entgegensetzen und dafs, wie Weber hervorhebt, das Bein am lebenden Körper trotz der über die Gelenke gespannten Muskelmassen fast in demselben Tempo als Pendel schwingt, wie das tote Bein nach Entfernung der Muskeln, ist Folge der geringen Elastizität der Muskeln; die Span- nung macht dieselben nur fähig und bereit, ihre Enden in jedem Augenblicke unter dem erregenden Einflüsse der Nerven durch Ver- kürzung ihrer Länge zu nähern, ohne erst einen Teil der Kon- traktion zur Geradestreckung und Ausgleichung von Falten ver- wenden zu müssen. Die elastischen Kräfte des iintliätigen Muskels wachsen nach Weber' beträchtlich mit der zunehmenden Ausdehnung ; je weiter ein Muskel ausgedehnt ist, desto beträchtlichere Kräfte gehören dazu, ihn um einen gewissen Bruch- teil der Länge weiter auszudehnen. So fand Ed. Weber z. B., dafs ein Frosch- muskel von 24,95 mm natürlicher Länge durch 1 g Belastung um 5,05 mm aus- gedehnt wurde, bei allmählicher Vermehrung der Belastung um je 1 g nur um 2,3, 1,15, 0,72, 0,43 mm, so dafs also seine Ausdehnbarkeit bei der Belastung mit 1, 2, 3, 4, 5 g sich verhielt wie 0,183, 0,0783, 0,0350, 0,0213, 0,0152. Eine etwas geringere Abnahme der Dehnbarkeit mit der steigenden Belastung fand Wertheim.'- Wuxdt * erklärte diese Differenz zwischen Weber vmd Werthe:m und die gefundene Zunahme der Elastizität bei höheren Belastungen überhaupt aus Fehlern der Methode, aus Veränderungen, welche der ausgeschnittene Muskel nach dem Tode während der Elastizitätsversuche selbst erleidet. Er fand, dafs bei ganz frischen Muskeln in der ersten Zeit nach der Ausschneidung innerhalb niedriger Grenzen die durch Gewichte bewirkten Verlängerungen den Gewichten ziemlich genau proportional sind. In noch höherem Grade zeigte sich diese Proportionalität an Muskeln , welche am lebenden Tiere in unversehrter Verbindung mit ihren Gefäfsen und Nerven geprüft wurden ; zu- gleich fand WuNDT, dafs die Muskeln des lebenden Tieres etwa um Vs dehn- barer, ihre Elastizität also um ebensoviel geringer als die der ausgeschnittenen Muskeln ist. Steigt man mit der Belastung allmählich von kleineren zu hohen Gewichten und wirken letztere längere Zeit auf den Muskel ein, so ändern letztere nach Wuxdt die Elastizität dauernd. Aufserdem bemerkt Wdndt, dafs die Resultate der mit höheren Belastungen angestellten Versuche durch die Einmischung der sogenannten (W. Weber) ,, elastischen Nachwirkung" und der bleibenden Dehnungen, welche sie erzeugen, unsicher werden. Wir haben diese Differenz zwischen den Angaben Webers und Wcndts bereits früher bei der Be- trachtung der Elastizitätsverhältnisse der Blutgefäfswände (Bd. I. p. 88) besprochen, haben darauf aufmerksam gemacht, dafs auch in Wuxdts Versuchen die un- • Ed. Weber, R. WAGNKR.s Udwürth. ,1. Phi/siol. Bd. III. 2. Abth. p. 54 u. 100. ' Wertheim, Annalen de Chimie et Je Phijskjue. III. .Se'r. 1847. T. XXI. p. 385. ' WrjJUT, Die Lelire von Erman, Gilberts Annalen d. Plitiük. 1812. Bd. LX. p. 13. 2 Valentin, Lehrh. d. Physiol. d. Menschen . 2. Xuü. Braunschweig 1847— 50. Bd. II. 1. Abtli. p. 62, u. Moleschotts Unters, zur Naturl. 1866. Bd. X. p. 265. — Vgl. auch FASCE, Giornale delle sciente naturali ed econ/iniche. Palermo 1867. Bd. III. p. 144. — RICHET, Physiol. des muscies et lies nerfs. Paris 1882. p. 41. GO ZEITLICHER VERLAUF DER MUSKELTHÄTIGKEIT. i^ sQ. Helmiioltz^ hat zuerst die Wichtigkeit dieser Aufgabe erkannt imd sie in glücklicher Weise mittels derselben beiden Methoden ge- gelöst, welche ihm gestatteten die Schnelligkeit der Nervenleitung zu messen (s. Bd I. p. 659). Einerseits läfst er demnach den A^ertikal aufgehängten, zuckenden Muskel auf die mit gleichmäfsiger Ge- schwindigkeit vor demselben vorbeibewegte Fläche eines Myographions mittels eines an seinem unteren J]nde befestigten horizontalen Stif- tes Kurven verzeichnen, deren horizontale Abscissen der Zeit, deren vertikale Ordinaten den Verkürzungsgröfsen in jedem Moment pro- portional sind. Anderseits ergibt ihm bei Anwendung der oben er- örterten PouiLLETschen Zeitmessungsmethode die Ablenkung der Magnetnadel die Zeit, welche zwischen dem Moment .der Reizung des Muskels durch einen momentanen, seine Substanz durch- iliefsenden Induktionsschlag und dem Augenblick vergeht, in welchem die Energie des Muskels bis zu dem bestimmten Grade ge-vvachsen ist, dais er vermöge derselben den durch verschiedene Gewichte überlasteten Rahmen des schematischen Apparats (Fig. 69. Bd.I. p.660) zu heben beginnt und im Moment der Hebung den zeitmessenden Strom unterbricht. Fig. 81. AAAA/W/WVVVVVWVV\AA/WVWVWWVWyVWV\W^^ Fis. S2. AAAAA/VWWVWVV\AMVWV\AAAA/VV\AM/VVWWWWV\ 0 S S .5 3 S ö <5 Das graphische Verfahren, welchem die beigefügten Kurven (Fig. 81, 82) ihre Entstehung verdanken, unterscheidet sich von dem durch Helmholtz eingeführten nur in der einen Hinsicht, dafs die rotierende Cylinderfläche, auf welcher der zuckende Muskel zeichnete, keine gleichmäfsige Geschwindigkeit besafs. Um das zeitliche Verhalten letzterer dennoch in jedem Augenblicke bestimmen zu können, war es also nötig, dicht unter der Sckreibespitze des Muskelhebels die zweite einer Stimmgabel anzubringen und deren regelmäfsige 1 HkLMHOLTZ, Aldi. f. Anat. et. PIo/kM. 1850. p. 276: 1852. p. 199; Monuixher. i. Mx'Wn. Leipzig 1861. § 80. ZEITLICHER VERLAUF DER MÜSKELTHÄTIGKEIT. 05 erregung durch den Ketteustrom werden wir unten besonders erörtern; hier interessieren uns nur die Zeitverhältnisse der durch denselben erzeugten Thätigkeit. Wundt^ hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dal's der Muskel bei direkter Reizung durch einen schwachen konstanten Strom nach dem Ablauf der Schliefsungs- zuckung nicht vollständig zu seiner natürlichen Länge zurück- kehrt, sondern in einem geringen allerdings nur mikros- kopisch w^ahrnehmbaren Grade bleibender Verkürzung verharrt, Avährend er vom Strome durchflössen wird. Offnet man den Strom nach kurzer Schliefsungsdauer, während der verkürzte Zustand noch besteht, so nimmt der Muskel entweder, wenn die Öffnungszuckung ausbleibt, unmittelbar, oder, wenn eine solche er- fola:t, nach deren Ablauf seine natürliche Läno'e wieder an. Schickt man den Strom sehr lange Zeit durch den Muskel, so verkürzt er sich nach Wundt bei der (jffhung laugsam um eine geringe Gröfse und nimmt bei erneuter Schliefsung seine natürliche Länge wieder an. V. Bezold hat am Myographion diese Beobachtungen Wundts bestätigt und erweitert. Nach ihm ist jede von einem Kettenstrom erzeugte Schliefsungs- und (jffnungszuckung tetanisch; man kann jedoch Zweifel hegen (Funke), ob es sich hier nicht etw'a um einen nur scheinbaren Tetanus handelt, bei welchem ihrem Wesen nach einfache Zuckungen sich nur ähnlich wie die idiomuskuläre Kontraktion über sehr lange Zeiträume ausdehnen, oder um einen wahren, wäe er durch unterbrochene Ströme erzeugt wird, wonach also jene fraglichen Zuckungen nur scheinbar einfache, in Wirklichkeit aber aus einer verschmolzenen Reihe von Einzel- zuckungen zusammengesetzt wären. Möglicherweise sind beide Thätigkeitsformen kombiniert, d. h. bei der Schliefsung folgt der durch die Dichtigkeitsschwankung erzeugten einfachen Schlielsungs- zuckung ein dauernder schwacher Tetanus nach, den der konstaute Strom als solcher, wie bei dem Nerven, erzeugt, während die an- haltende Kontraktion bei der Öffnung vielleicht auf dieselben Ver- hältnisse wie der RlTTERsche Offnungstetanus vom Nerven aus zurück- zuführen ist. Von Belang für die schliefsliche Entscheidung dürfte es jedenfalls sein, dafs Dauerkontraktiouen von der erwähnten Beschaffenheit, welche übrigens nicht etwa die Bedeutung von Übergangszuständen zur Totenstarre'^ besitzen, sonde-rn Thätigkeits- zustände von eigentümlicher Natur darstellen, auch als Nach- wirkungen von Induktiousreizungen auftreten können, und zwar nicht blofs bei direkter Mu.skelreizimg, sondern auch bei Auslösung der Muskelthätigkeit vom Nerven aus. Zustände dieser Art, deren Intensität mit den Jahreszeiten und den damit im Zusammenhansre stehenden Ernährunffsverhältnissen 1 WlTXDT, Die Lehre fon d. Maskelhewegung. Brauiisclnveijr 1858. p. 121 n. HO. - L. HkrmANN, Illhch. d. PlnjsioL 1879. Bd. I. 1. p. 251. Grukxiiagex. Physiologie. 7. Aufl. II. 66 LEITUNGSGESCHWlNDKiKElT IM MUSKEL. § 80. wechselt, besoiidej'S hochgradig zur Frühlingszeit (Märzfrösche) entwickelt ist, sind von verschiedenen Beobachtern beschrieben und seit Tiegels Arbeiten der eigentlichen Kontraktion als KoutJ'aktiir gegenüber- gestellt worden^ Über die Formen der in Rede stehenden Schliefsungs- und OfFnungszuckungen hat v. Bezold keine speziellen Angaben gemacht, er berichtet nur, dal's die ihnen eigentümlichen Kurven im all- gemeinen langsamer ansteigen als diejenigen der durch OfFnungs- induktionsschläge erzeugten Zuckungen, dafs also die Energie des Muskels langsamer von Null bis zum Maximum anschwillt; nur bei sehr starken Strömen verlief die Verkürzung mit derselben Ge- schwindigkeit wie bei der Induktionsreizung. AVir kommen unten noch einmal auf die Frage nach der Natur dieser Schliefsungs- und (jffnungskontraktionen des Muskels zurück. Weiter hat gleich- falls V. Bezold ermittelt, dafs auch das Stadium der latenten Reizung, sofern darunter die Zeit zwischen erregendem Vorgang und Beginn der Verkürzung verstanden wird, sich wesentlich anders bei Schliefsung und Öffnung von Kettenströmen als bei Induktions- zuckungen verhält. Allgemein folgt dem Moment der Schliefsung oder Öffnung des Kettenstromes die Verkürzung beträchtlich lang- samer nach als dem Einbruch des induzierten Stromes. Bei der Schliefsung konstanter Ströme fand v. Bezold das Stadium der latenten Reizung dreimal, bei der Öffnung sechsmal gröfser als bei Induktionszuckungen. Die Dauer desselben hängt von der Dichtigkeit und der Schliefsungsdauer des Stromes ab v^nd steht zu derselben in umgekehrtem Verhältnis, so dafs es bei sehr starken Strömen oder sehr lauger Schliefsungsdauer ebenso kurz wie bei Induktionszuckungen ausfällt. Die Verlängerung des in Rede stehenden Zeitraums ist nach v. Bezold nicht eine Verlängerung des Stadiums der latenten Reizung im engeren Sinne des Wortes, d. h. der Zeit, welche zwischen dem Moment der Erregung des Muskels selbst und dem Beginn der Verkürzung verfliefst, sondern sie rührt davon her, dafs die Erregung des Muskels nicht im Moment der Schliefsung und ()ffnung des Kettenstromes eintritt. Es vergeht nach der Schliefsung eine kleine von den oben genannten Variablen abhängige Zeit, innerhalb welcher der Strom den Muskel erst vor- bereitet für die Erregung, welche er erst dann auslöst, wenn er be- reits mit bestimmter Dichtigkeit im Muskel strömt; ebenso vergeht nach der Öffnung eine kleine Vorbereitungszeit, ehe der reizende Antrieb, der mit der Rückkehr des Muskels vom polarisierten zum natürlichen Zustande verbunden ist, zur Wirkung gelangt. Nur bei ganz starken Strömen trifft der Moment der Erregung, wie bei » HELMHOLTZ, Arch. f. Anal. n. Phiisiol. 1850. p. 280. — KRONECKER, Monatsber. d. kfjl. preuß. Akurl. d. Wisa. zu Berlin. 1870. p. 629. — TIEGEL, PFUIEGERs Arc/i. 1876. Bd. XIII. p. 71. — Bohr, Arcli. f. PhyuioL 1882. p. 2o3. § 80. LEITUNGSGESCHWINDIGKEIT IM MUSKEL. 67 Induktionssclilägeu, mit dem Moment dei' Schliefsimg oder (3liuuüg des Stromes zusammen, und das eigentliclie unter allen Verhältnissen gleicli lange Stadium der latenten Reizung, der Zeitraum, welchen der eingeleitete Molekularvorgang der Muskelthätigkeit braucht, um zum sichtbaren Ausdruck zu gelangen, kommt allein am Mvo- graphion zur Erscheinung. Diese Auslegung der Thatsachen bedarf einer erneuten Prüfung, da J. Koeniö (s. Bd. I. p. 671) gezeigt hat, dafs die analoge Verzögerung der Nervenleitung bei Reizung mit schwachen konstanten Strömen wahrscheinlich auf einen langsameren Ablauf des Leitungsprozesses selbst zurückzuführen ist, und folglich auch hinsichtlich des Muskels vermutet werden darf, dafs die Ab- laufsgeschwindigkeit des der eigentlichen Verkürzung vorau.sgehenden Vorbereitungsstadiums, Bernsteins sogenannter ReizAvelle, in gleicher Weise von der Reizstärke abhängt. Eine Verlangsamung des musku- lären Leituugsvermögens für schwache im Gegensatz zu starken Kontraktionswellen scheint übrigens direkt von Biedermann ^ beob- achtet worden zu sein. Die bisherigen Erörterungen bezogen sich ausschliefslich auf den allgemeinen zeitlichen Verlauf der Muskelthätigkeit, das Resultat der gleichzeitigen oder ungleichzeitigen Thätigkeit aller durch den Reiz direkt oder indirekt zur Teilnahme veranlal'sten Einzelteilchen der kontraktilen Substanz. Eine damit zusammenhängende, aber Avesentlich verschiedene zweite Zeitfi'age betrifft die Fortpflanzungs- gescliAvindigkeit des muskulären Thätigkeitsvorganges aus einer primär gereizten Muskelstrecke in und durch die angrenzenden Abschnitte derselben. Dafs der Muskelsubstanz ein solches Leitungs- vermögen wirklich zukommt, wurde bereits oben erörtert. Aeby- hat zuerst durch eine sinnreiche Anwendung der myographischen Methode die Geschwindio'keit dieser Leituns' bei der einfachen Zuckuno: des normalen Muskels bestimmt, v. Bezold die Änderungen des Leitungsvermögens unter dem Eiuflufs gewisser äulserer Be- dingungen untersucht. Das Prinzip der AEBYschen Methode ist in kürze folgendes. Da der Muskel bei seiner Thätigkeit ebensoviel an Dicke zunimmt, als er sich verkürzt, so wird ein dem horizontal auf fester Unterlage ausgespannten Muskel irgendwo vertikal aufgesetztes Stäbchen in dem Moment gehoben , in welchem die von ihm berührte Stelle in Thätigkeit gerät und demgemäfs sich verdickt. Setzt man zwei solche Stäbchen an zwei voneinander entfernten Stellen auf, so werden sie nach einander gehoben werden, w^enn die Kontraktion den Fixationspunkt des einen später als den des andren erreicht, und zwar um das- jenige Zeitintervall später, welches die Leitung der Thätigkeit durch die zwischen beiden liegende Muskelstrecke beansprucht. Um dieses Zeitintervall mefsbar zu machen, verband Aeby jedes der Stäbchen mit einem Schreibhebel des HF.LMHOLTZschen Myographions. Beide Zeichenstifte lagen derselben Trommel in > Biedermann, Wienpr SUber. Math.-ntw. Gl. III. Abth. 1879. Bd. LXXIX. p. 289 ("309). - AeBV, Arcli. f. Anat. iu. Phvsiol. 1860. p. 253, 1867. p. 688, u. Unters, üb. d. Fort- pf!an:un(/.il. 1882. p. 23.3. * HelmhOLTZ, Monatslier. d. hrjl. preufi. Akad. d. Wiss. zu Berlin. 1854. p. 328. §81. ELEKTRISCHE REIZUNG DES MUSKELS. 73 Effekt uur dann, wenn die dem zweiten Liduktionsschlag entsi3recheude Zuckung genau auf dem Gipfel der vorangegangenen, dem ersten Induktions- schlag zugeliörigen, eingesetzt hatte. In allen andern Verhältnissen, in welchen der Anfang der zweiten Kontraktion auf frühere oder sj^ätere Zeitmomente der ersten fiel, sah er die Höhe der Gesamtzuckung zwar auch zunehmen, aber immer nur um den entsprechend geringeren Betrag der schon bestehenden Hubhöhe. Hieraus folgt also, dafs zwei ma'ximale Zuckungen sich rein mechanisch in jedem möglichen, allein von ihren zeitlichen Beziehungen zu- einander abhängigen Verhältnisse summieren. Demgemäfs findet ferner auch keine gegenseitige Verstärkung beider Reizwirkungen statt, der Effekt der zweiten wird gleich Null, wenn das zwischeneingeschaltete Zeitmoment erheblich kürzer ist, als das latente Reizstadium (s. o. p. 61), nach Hei.mholtz ungefähr auf Veoo Sek. bemessen wird, anders ausgedrückt, wenn die erste Zuckung beim Eintreffen der zweiten Anregung noch gar aiicht begonnen hat. Aus dieser letzteren Thatsache wäre also zu entnehmen, dafs, wenn tetanisierende Ströme von maximaler Reizkraft in Pausen von Vtsoo Sek. und weniger den Muskel treffen, immer nur ein Teil derselben (bei 600 Reizungen in der Sekunde viel- leicht nur 300) auf die Gröfse des Tetanus von Einflufs sein, der Rest an der unempfänglichen Muskelfaser spurlos vorübergehen wird. Etwas abweichende Zahlenwerte für die hier in Rede stehenden Ver- hältnisse haben später Kkoneckkr und Hall ^ ermittelt. Ihnen zufolge erreicht die gegenseitige Unterstützung zweier maximaler Doppeh-eize einen etwas höheren Betrag, als das von Helmholtz aufgestellte Summatiousgesetz fordert, wenn die zweite Zuckung im ersten Sechstel der vorausgegangenen eingreift, einen etwas geringeren, w^eun sie nahezu vom Gipfel der ersten anhebt. Eine annähernd genaue Übereinstimmung zwischen wirklicher und gesetzmäfsig berechneter Zuckungshöhe findet nur im zweiten und dritten Sechstel der primären Zuckung statt. Das Stadium der Indifferenz zweier Maximalreize verlegen sie in ein viel früheres Zeitiutervall zwischen Vms— Vaso Sek. Hiermit ist natürlich nur eine schärfere Präzision des HELMHOLTZschen Gesetzes gewonnen, nicht etwa ein prinzipieller Einwand gegen dasselbe erhoben. Ganz anders als bei maximalem Doppelreize gestalten sich die gegen- seitigen Beziehungen bei submaximalem oder minimalem. Für diese gibt Helm- holtz an, dafs sie bei jeder, auch der kleinsten Zwischenzeit sich summieren. Hier handelt es sich aber zweifellos nicht mehr um einfache mechanische Superposition zweier Zuckungen, sondern um eine Sumraation von Erregungen. Der erste Reiz hinterläfst eine Nachwirkung, welche dem zweiten zugute kommt (s. u. p. 100). Ganz dasselbe, uas von den Indiiktiousströmeu anso-esaart wurde gilt auch für konstante Ströme von kurzer Dauer, voraus- gesetzt, dafs die Zeit, wälirend welcher ihre Dichtigkeitsschwankung abläuft, nicht allzu klein ist. Denn in diesem Falle können ihre Wirkungen entweder ganz ausbleiben oder erfahren mindestens eine mehr weniger grofse Einbufse. Um die Abhängigkeit der Muskelerregung von der Zeitdauer des elek- trischen Reizes nachzuweisen, bedient man sich der nämlichen Versuchs- methoden, welche war früher (Bd. I. p. 581) bei_ Erörterung der gleichen Frage bezüglich des Nerven beschrieben haben. In Übereinstimmung mit den dort mitgeteilten Ergebnissen findet man auch für den Muskel, dafs, Avenn die Zeit, während welcher sich der elektrische Strom in konstantem Flusse durch die kontraktile Substanz ergiefst , auf ein gewisses von der Stromintensität ab- hängiges Minimum herabsinkt, die erz'egende Kraft dieses Stromes entweder ganz erlischt oder doch geschwächt wird. 1 KROXECKER u. hall, Ardi. f. PInjs'iol. 1S79. p. 1. (23). 74 ZIJCKUNGSGESETZ DER MUSKELN. §81. Seliickt man encllicli durch den Muskel einen konstanten Sti'om von mittlerer Stärke und lauger Schliel'sungsdauer, so zeigen sich bei Schliefsung uud Öffnung desselben Zuckungen, welche für die unmittelbare Wahrnehmung mit den durch Induk- tionsschläge erzeugten vollkommen identisch erscheinen, bei der Prüfung mit zeitmessenden Hilfsmitteln dagegen die schon oben er- örterten und hinsichtlich ihrer möglichen Deutungen besprochenen Abweichungen erkennen lassen, insofern sie 1., solange die Strom- stärke unter einer gewissen Grenze bleibt, später nach dem Moment der Schliefsung und Öffnung eintreten, als die luduktionszuckung- nach dem Moment der Reizung, 2. langsamer ansteigen, und insofern 3. der Muskel nach ihrem Ablauf nicht zum Zustande vollkommener Unthätigkeit zurückkehrt, sondern noch kürzere oder längere Zeit im Zustande geringer Verkürzung verharrt. Es fragt sich weiter, ob bei der direkten elektrischen Reizung des Muskels der Eintritt und die Stärke der Schliefsungs- und ()fFnungszuckungen in gleicher Weise von der Richtung des Stromes im Muskel, seiner Stärke uud der Leistungsfähigkeit des Muskels abhängt, wie bei der elektrischen Reizung des Nerven, kurz also, ob ein dem Nervenzuckungsgesetz entsprechendes, vielleicht kon- formes Muskelzuckungsgesetz existiert. Heidenhain ^ hat zu- erst diese Frage einer Experimentaluntersuchung unterworfen, indem er aufgehangene Muskeln, und zwar teils Curaremuskeln, bei welchen die intramuskulären Nervenfasern ihres erregenden Einflusses auf die von ihnen versorgten Muskelbündel enthoben waren (s. u. Curare- wirkung), teils unvergiftete , mit auf- und absteigend in ihnen ge- richteten Strömen von verschiedener Stärke reizte und die Stärke der hierbei eintretenden Schliefsungs- uud OfFnuugszuckungen ver- glich. Das Resultat seiner Versuche war, dafs die elektrische Er- regung der Muskeln andern Gesetzen als diejenige der Nerven unter- worfen sein müsse. Es ergab sich bei Reizung von Curaremuskeln Unabhängigkeit der rela- tiven Stärke der Schliefsungs- und Offnungszuckung von der Richtung des in ihnen verlaufenden Stromes, bei aufsteigender wie bei absteigender Richtung desselben Überwiegen der Schliefsungszuckung. Wui'de das Präparat durch oft wiederholte Schliefsung und Öffnung ermüdet, so schwanden zuerst die Öffnungs-, später die Schliefsungszuckungen (nur bei langer Schliefsungsdauer blieb zu- weilen infolge der Modifikation der Erregbarkeit durch den Strom die Offnungs- zuckung länger erhalten). Wurde die Reizung mit den schwächsten Strömen Ijegonnen, so trat zunächst bei beiden Stromrichtungen (und zwar bei beiden ungefähr bei demselben Minimum der Stromdichte) Schliefsungszuckung ein ; diese wuchs mit der wachsenden Stromstärke; dann trat, ebenfalls bei gleicher Stromstärke für beide Richtungen, die Offnungszuckung hinzu, und wuchs eben- falls mit der weiteren Verstärkung des Stromes. Wenn Heidexhaix an nicht vergifteten Präparaten gleichzeitig die Muskeln und ihre motorischen Nerven 1 R. HEIDKXHAIX, Arch. f. plnjxiiji. UeVkunde. 1857. N. F. Bil. I. p. 4(34. I §81. ZUCKUNGSGESETZ DER MUSKELN. 75 in den Stromkreis einschaltete, so beobachtete er dasselbe eben für die Curare- muskeln erörterte Zuckungsgesetz, sobald die Stromdichte in den Muskelfasern Ijeträchtlicher als in den zugehörigen Nervenfasern war, dagegen das früher erörterte Nervenzuckungsgesetz (Bd. I. p. 587), sobald die Stromdichte in den Nerven viel gröfser als in den Muskeln war. Koelliker und Pelikax, Wundt und FrxKE haben diese Beobachtungen bestätigt. Betraclitet man indessen die Bedingungen, unter welchen sich die gereizten Muskeln in Heidenhains Experimenten befanden, ge- nauer, so ero:ibt sich, dafs diese andre als bei der Reizung des Nerven durch Kettenströme sind, und dafs sämtliche Differenzen der Reaktion somit vielleicht nur auf der Verschiedenheit des Reizver- fabrens beruhen. Wir haben für den Nerven bewiesen, dafs jede Schliefsung und Öffnung eine Erregung auslöst, erstere an der Kathode, letztere au der Anode, dafs das Ausbleiben dei" Schliefsuugszuekung bei starken aufsteigenden Strömen lediglich da- her rührt, dafs zwischen dem Ort der Erregung und dem Muskel Nervenstrecken liegen, in welchen die Leitung unterbrochen ist. Es ist' demnach a priori wohl möglich, dafs auch bei direkter Reizung des Muskels bei der Schliefsung im Bereich der Kathode, bei der Öffnung im Bereich der Anode die Erregung stattfindet, und dafs folglich auch die Zuckung zunächst nur au diesen Stellen ausgelöst wird, vielleicht sogar lokal beschräukt bleibt, wenn sie bei gewisser Stärke der Polarisation in der schlecht leiten- den intrapolaren Strecke brandet. An dem freihängenden Muskel wird aber auch jede solche lokale Zuckung eine Hebung des unteren Endes bedingen, da ihrer Erscheinung keinerlei Hindernisse ent- gegenstehen, wie sie für die durch Nervenreiznng mittelbar hervor- gerufene Zuckung existieren. Mit Recht hat daher v. Bezold her- vorgehoben, dafs, wenn man ein dem Nervenzuckungsgesetz ver- gleichbares Muskelzuckungsgesetz finden wolle, man den Muskel in dieselben Verhältnisse wie den Nerven bringen, den direkt erregten von dem die Erregung durch Zuckung anzeigenden Teil trennen müsse. Das hat v. Bezold auf folgende Weise erreicht. Der obere Teil eines Froschsartorius wurde durch die als Elektroden des konstanten Stromes dienenden Drähte so auf einer Korkrinne be- festigt, dafs zwar der physiologische Zusammenhang des unmittelbar gereizten Teils mit dem unteren frei herabhängenden Muskelstück gewahrt blieb, nicht aber die Formveränderung des ersteren letzterem sich mitteilen konnte, dafs also der obere befestigte Abschnitt gewissermafsen den Nerven des unteren repräsentierte. Unter diesen Verhältnissen fand v. Bezold genau die gleichen Erscheinungen, also das gleiche Zuckungsgesetz wäe beim Nerven. Bei starken aufsteigenden Strömen blieb die Schliefsuugs- zuekung, bei starken absteigenden die Of fnungszuckung in dem mittelbar erregten freien unteren Teil des Muskels, der am Myographien zeichnete, ans. Wurde mit aufsteigenden Strömen gereizt, deren Stärke allmählich waichs, so trat die Schliefsungs- 70 ZUCKUNGSGESETZ PEK MUSKELN. §81. /Aickimg erst ein, wenn die Stromstärke eine gewisse Höhe erieiclit hatte, um wieder zu verschwinden, wenn eine gewisse höhere Stärke ühersclnitten wurde, während die Schliefsungszucknug des absteigen- den Stromes früher eintrat, und erst mit der Erregbarkeit des Präparats wieder verschwand. AVie beim Nerven, ist die am regel- mälsigsten und Ulngsten in den extrapolaren Abschnitten des Muskels erscheinende Zuckung die Schliefsungszuckung des absteigenden Stromes, ihr zunächst kommt die Ofihungszuckung des aufsteigenden Stromes, weit vergänglicher ist die Schliefsungszuckung des aufsteigenden, am vergänglichsten die OfFnungszuckung des ab- steigenden Stromes. Diese mit den Thatsachen des Nerveuzuckungs- gesetzes konformen Erscheinungen finden nach v. Bezolds Unter- suchungen in demselben allgemeinen Erregungsgesetz und denselben Leitungsverhältnissen im polarisierten Zustande wie jene ihre Er- klärung. V. Bezold mafs mit Hilfe des Myographions an den auf die angegebene Weise in eine erregte und eine zuckende Strecke ge- schiedenen (Curare-) Muskeln die Zeiträume, welche zwischen dem Moment der Schliel'sung imd Öffnung eines auf- oder absteigenden Stromes und dem Beginn der Verkürzung der extrapolareu Strecke verflossen. Es ergab sich konstaut, dafs der Zeitraum zwischen der Schliefsuug des absteigenden Stromes und dem Beginn der Zuckung beträchtlich kleiner war, als der zwischen der Schliefsung des auf- steigenden und dem Zuckungsanfang. Umgekehrt war die zwischen der (jffnvmg und dem Beginn der Verkürzung verfliefsende Zeit bei aufsteigenden Sti'ömen beträchtlich kleiner als bei absteigenden. Daraus schlols v. Bezold, dafs auch bei der elektrischen Erregung des Muskels die Schliefsungsreizung an der negativen, die Offnungsreizung an der positiven Elektrode stattfindet, gerade so wie beim Nerven. Wenn diese Hypothese richtig ist, so müfste bei einem Ab.stand der Elekti'oden von 4 mm die Schliefsungszuckung des aufsteigenden Stromes, wo die negative Elektrode um 4 mm ferner von der zuckenden unteren Muskelpartie liegt, mindestens um den Zeitraum, welchen die Mu.skelzuckuug zur Fortpflanzung durch die 4 mm lange Muskelstrecke braucht, später eintreten als die Schliefsuugs- zuclumg des absteigenden Stromes, wo die negative Elektrode die untere, dicht an den zuckenden Muskelabschnitt grenzende ist. Die wirklich beobachtete Zeitdifferenz beti'ug aber im Durchschnitt sogar das dreifache dieses Zeitraumes. Diese Vei'zögerung erklärt V. Bezold aus der oben besprochenen Herabsetzung der Leitungs- geschwindigkeit in der intrapolaren Strecke, daher wuchs die Differenz auch mit der Stromstärke. Bei der Ofthungszuekung Avar die Differenz sogar fünf mal gröfser als die berechnete normale Fortpflanzungszeit in der intrapolaren Strecke, d. h. die Zeit, um welche die Offnungszuckung des absteigenden Stromes später als die des aufsteigenden Stromes eintrat, war fünf mal gröfser als die Zeit, mit welchen sich die muskulären Thäticrkeitsvorsränafe in einer normalen Muskelstrecke ^81. ZUCKUNGSGESETZ DER MUSKELN. 77 von der Länge der zwisclieu die Elektroden eingeschalteten fort- pflanzen; das erklärt sich aus der ebenfalls erwiesenen Zunahme der Leituugsverschlechteruug mit der Dauer der Schliefsung des Stromes. Das Ausbleiben der Schliefsungszuckung bei starken aufsteigenden Strömen erklärt sich natürlich daraus, dafs bei einer gewissen Strom- stärke die Leitungswiderstände der polarisierten Strecke so grofs werden, dafs die an ihrem oberen Ende bei der Kathode ausgelöste Erregung gar nicht mehr passieren kann, in der intrapolaren Strecke brandet. Dasselbe gilt für das Ausbleiben der Offnungszuckung des starken absteigenden Stromes. Für den einen Teil dieses Reizungs- gesetzes, für die Auslösung des Schliefsungsreizes an der negativen Elektrode führt v. Bezold noch eine ältere ScHiFFsche Beobachtung ^ an, die Ausbildung eines sogenannten idiomuskulären Wulstes an der negativen Elektrode stärkerer galvanischer Ströme. Da der idiomuskuläre AVulst (s. o. p. 69) nichts andres als eine lokal beschränkte, sehr langsam verlaufende Zuckung ist, so hat diese Thatsache allerdings ein sehr bedeutendes Gewicht für V. Bezolds Theorie. Die Ermittelungen v. Bezolds sind denn auch bei späteren Nach- prüfungen •^ mit vei-bessertem Experimentierverfahren, namentlich auch mit An Wendung unpolarisierbarer Elektroden (Herin«, Biedermvxx), nicht nur ver- schiedenfach bestätigt worden, sondern haben dabei einesteils durch Beseitigung eines gewichtigen von Aeby ^ erhobenen Bedenkens, andernteils durch Auf- deckung neuer Beweisgründe an Sicherheit gewonnen, Aeby hatte möglichst (17 mm) langen Muskelstrecken konstante Ströme von verschiedener Siärke zugeführt und dicht neben die beiden zuleitenden Elektroden seiner oben (p. 67) erläuterten Methode gemäfs je einen Fühl- hebel auf der Muskeloberfläche befestigt. Nach v. Bezolds Theorie stand zu erwarten, dafs bei jeder Stromschliefsung der Fühlhebel an der Kathode, bei jeder Stromöffnung derjenige an der Anode zuerst gehoben werden mufste; statt dessen fand aber Aeby, dafs beide Signale in beiden Fällen vollkommen gleichzeitig in Bewegung gerieten und folgerte dementsprechend im Widei'- spruche mit v. Bezold, dafs bei Reizung der Muskelfasern mit Ketten- ströraen die Kontraktion stets gleichzeitig auf allen Quer- schnitten der durchflossenen Strecke erfolgt. Hiergegen haben nun Hering und Biedermann begründeten Einspruch erhoben und die verborgenen Fehlerquellen des AEBYschen Versuchs aufgedeckt. Wie derselbe geplant war, konnte nicht vermieden werden, dafs an den Be- festigungsstellen der Fühlhebel und der mittleren Klemme (s. o. p. 67) Ein- l)iegungen der Muskelbündel erfolgten. Damit waren aber offenbar alle Be- dingungen gegeben, um den parallelen Verlauf der elektrischen Stromfäden zu stören und folglich ihren Austritt aus der kontraktilen Substanz an ver- schiedenen im Bereich der Einbiegungsstellen gelegenen Punkten zu bewirken. Mithin entstanden also ebensoviele heue Strompole, welche ihrerseits Zuckungen auslösen konnten, und da sie unterhall) beider Fühlhebel selbst gelegen waren. > SCHIFF, Moleschotts, Cnfei-s. zur Natur/. 18.58. Bd. V. ]i. 181. - ENGELMANX, Jenuisdie Zt.tc/ir. f. Med. u. Nulurw. 1867. B(L III. p. 445, u. 186S. Rd. IV. r. 295. — E. HEKING, Wiener Si-.her. Math.-ntw. Cl. III. Abth. 1879. Bd. LXXIX. p. 7. — BIEDER- MANN, ebenda, p. 289, u. Bd. LXXX. p. 367. — Engelmann, Pfluegers, .ircA. 1881. Bd. XXVI. ).. 97. — v. KrieS u. SewALL, Arcli. f. P/ii>swl. 1881. p. 66. 3 AeB^-, Arcfi. f. Anat. u. P/ii/.siol. 1867. n. 688 78 CHEMISCHE REIZUNG DER Ml^SKELX. §81. auch (.'ine glciclizi'itige Hubung derselben bewerkstelligen mulsten. Es führt aber sogar der AKBVsche Versuch zu einer vollkommenen IJestätigung der V. BEZOi.Dschen Angaben, wenn man ihm zur Vermeidung der erwähnten Fehlercjuellen die von Hkiuxc; cmiifohlene Form erteilt. Die neue Unterstützung ferner, welche die Lehre von dem i)olaren Ursprung auch der Muskelerregung durch BiEnERMANN gewonnen hat, beruht auf dem A'er- halten örtlich verletzter Muskeln gegen den konstanten Strom. Präpariert man den parallelfaserigen Sartorius eines Frosches seiner ganzen Länge nach mit Erhaltung beider Knochenansätze au Becken und Femur sorgfältig aus und zerquetscht sodann einen seiner natürlichen Querschnitte, so erleidet die Beizwirkung des Stromes eine auffällige Modifikation. Es bleibt die Schliefsungszuckuu^ oder dieOffnungszuckung aus, resp. es erscheinen beide Zuckungsarten in sehr abgeschwächtem Grade, wenn im ersten Falle die Kathode, im zweiten Falle die Anode der verletzten Muskelpartie anliegt, während Schliefsungs- und üffnungszuckung in l)ekannter Weise und mit unveränderter Intensität erscheinen, wenn die Kathode be ziehungsweise die Anode dem unverletzten Muskelquerschnitt appliziert .sind. Durch eine lokale, im Bereich der Strompole gelegene Alteration der Muskelsubstanz wird also das Entstehen einer Erregung gehemmt. Dieselbe kann folglich nur im Bereich der Pole erfolgen. Zu ergründen bleibt nur noch das Wesen dieser Hemmungswirkung. Es wäre namentlich zu i)rüfen, ol) nicht der Eigenstrom der Muskeln den künstlichen am Quetschorte herge- stellten Querschnitt, ebenso wie der Eigenstrom des Nerven denjenigen des letzteren (s. Bd I. p. 592), in den Zustand des Anelektrotonus versetzt und damit zugleich die fragliche Erregbarkeitsabnahme bedingt. Auf eine solche Beziehung der eignen elektromotorischen Kraft des Muskels zu der in Rede stehenden Erscheinung weist mindestens sehr entschieden der Umstand hin, dafs alle jene Agenzien, welche durch Zerstörung der ]\Iuske]substanz gerade- so wie die mechanische Zerquetschung den Längsquerschnittstrom hervorrufen, z. B. lokalisierte Erwärmung auf 40 — 45" C. bis zur Ausbildung der Wärmestarre und lokalisierte Benetzung mit Säuren oder mit Kalisalzen, die Polwirkungen des Reizstromes in dem alterierten Muskelquerschnitt ebenfalls beeinträchtigen, andre Agenzien dagegen (0,5 prozentige NajCOg-Lösungen), welche lediglich als Er- reger wirken, aber keine elektromotorischen Gegensätze von Belang produzieren, die Polwirkungen des Reizstromes gerade umgekehrt erhöhen. ' Ein letzter Beweis für die Richtigkeit der Anschauungen v. Bezolds, welcher hier Erwähnung verdient, beruht auf der Thatsache, dafs bei direkter Tetanisierung von Muskeln mittels schwacher Tnduktionssti'öme "^ die tetanische Kontraktion immer nur die Nachbarschaft der Kathode ergreift. Endlich bleibt noch einer besonderen Art von Bew"egung zu gedenken, welche im lebenden Muskel durch den konstanten elektrischen Strom hervorgerufen wird, trotzdem aber in keinem erkennbaren Zusammenhange mit den eigent- lichen Kontraktionsvorgängen steht, es ist das die von Kühne ^ unter dem Namen des PoRRETSchen Phänomens beschriebene Bewegungserscheinung. Schickt man durch einen parallelfaserigen Muskel einen konstanten Strom, so sieht man nach der ersten Schliefsungszuckung während der Dauer des Stromes eine flutende Bewegung der Muskelmasse von dem positiven Pol nach dem negativen hin, wobei der Muskel in der Gegend des letzteren allmählich an-, in der Nähe der positiven Elektrode abschwillt. Bei der Öffnung bewegt sich die Muskelmasse nach der Anode zurück. Kühne betrachtet diese Erscheinung als analog der von Porret entdeckten, von Wiedemanx näher untersuchten Bewegung von Flüssigkeiten durch galvanische Ströme. Beiläufig sei noch der Vollständigkeit halber erwähnt, dafs die Muskelfasei-n aufser durch den ge- » Biedermann, Wien. St-.her. Math.-ntw. Cl. III. Abth. 1879. Hd. LXXX. p. 367, u. ISbO. Bd. LXXXI. p. 74. - V. KrieS u. SEWALL, Arch. f. PhimoK 1881. p. C6. ä KÜHNE, Arch. f. Anat. u. Plnjsiol. 1860. p. 512. ^81, CHEMISCHE EEIZUNG DER MUSKELN. 79 scblossenen konstanten oder induzierten Strom auch durch freie Spannungs- elektrizität auf dem "Wege unipolarer Induktionswirkung (s. Bd. I. p. 598) zu Zuckungen veranlafst werden können (Gkuexh.\gen ^). Wir gehen zur chemisclieu Reizung- des Muskels üljer. Voraussetzung derselben ist die Lösliclikeit der Reizmittel in der Parenchymflüssigkeit des Muskels, in welche sie auf dem Wege der Diffusion entweder durch das Sarkolem oder bei Applikation auf den künstlichen Querschnitt durch die nekrotisierte Grenzschicht des letzteren eindringen. Hierbei werden sie meist aber auch als Elek- trizitätsleiter Verbindungen zwischen negativ elektrischem Kern und positiv elektrischer Oberfläche der muskulären Primitivbündel her- stellen, also eine Schliefsung des Mnskelstromes bewirken, von welchem wir wissen, dafs derselbe allein für sich genügt Muskel- zuckungen auszulösen. Bei der Reizung des Muskels auf chemischem Wege sieht man sich folglich stets der Frage gegenüber, ob der er- haltene Effekt dem Reizmittel als solchem oder etwa dem gleich- zeitig zur Schlielsung gebrachten Muskelstrome zuzuschreiben sei (E. Hering). Als Kriterium für das Bestehen einer chemischen Reizung kann indessen im allgemeinen gelten, das Auftreten anhaltender übrillärer Unruhe des Muskels bei ununterbrochenem Kontakt der ange- M'andten Lösung mit den benetzten Quer- oder Läugsschnittsflächen, d. h. also bei dauernd geschlossenem, mithin physiologisch unwirk- samem Muskelstrome, und ferner das Verhalten der glatten durch ihren schwachen Eigenstrom nicht erregbaren Muskulatur nach Benetzung mit den gleichen Agenzien (s. u. § 84). Bei Beobachtung dieser Vorsichtsniafsregeln kommen freilich viele ältere ohne Rück- sicht auf das elektrische Verhalten der Muskeln gewonnene Ver- suchsergebnisse in Fortfall, unter ihnen namentlich die Angaben Kühnes über die reizenden Wirkungen stark verdünnter mit dem künstlichen Querschnitt in Berührung gebrachter Säuren, sowohl der Mineral- als auch der organischen Säuren, des Kalkwassers und viel- leicht auch des Ammoniaks. Es bleibt dagegen der allgemeine Satz bestehen, dal's die chemischen Reizmittel des Muskels mit denjenigen des Nerven im grofsen und ganzen übereinstimmen, womit aber keineswegs gesagt ist, dafs die physiologische und histologische Ver- schiedenheit von Nerv und Muskel nicht in gewissen Differenzen zutage treten könnte, welche man sich freilich in jedem Falle hüten mufs für prinzipielle anzusehen, und dafs es nicht auch Sub- stanzen gebe, welche nur den Muskel und nicht den Nervenstamm oder umgekehrt in Erregung versetzten. Zu den chemischen Reiz- mitteln des Muskels gehört demgemäfs die grofse Mehrzahl der uns bereits bekannten chemischen Nervenreize (s. Bd. I. p. 604), und zwar ausnahmslos bereits bei erheblich fferinfferer Konzentration ihrer 1 GRUENH.\GEN, 7Jachr. f. rat. Med. 3. R. I-Gö. Bd. XXIV. p. ISo. 2 Vgl. KÜHNE, iIonutsf>er. d. ki/l. preufn. Akad. d. HV.ss. zu Bfilln. 1850. p. 186. u. Arrh. f. Anat. u. Physwl. 1859. p. 315. — e! HERING, Wier.fr Sizher. Math.-ntiv. Ci. UI. Abth. 1S79. r.d. LXXIX. p. 7. 80 THERMISCHE REIZUNG DER MUSKELN. §81. Lösuiig-en, als für den Nerven erforderlioli i,st, sänitliclie Mineral- s.äuren, die organischen Säuren (Milch-, Essig-, Oxalsäure), die Alkal ieu (Natron und Kali), die Salze der schweren Metalle (Eisenchlorid, Zinkvitriol, Kupfervitriol, Chlorzink, salpetersaures Silheroxyd, essigsaures Bleioxyd, Sublimat), die Lösungen neutraler Alkalisalze, Galle (gallensaure Salze), Glyceriu, Alkohol und Äther, letztere beiden mit sehr unsicherer Wirkung. Aufserdem begegnen wir aber auch einigen neuen Agenzien, dem destillierten Wasser^ und zwei Giften dem V^eratrin und Digitalin.^ Ersteres ruft, in die Blutkapillaren der Muskeln injiziert, heftige anhaltende Muskelkrämpfe hervor, während der Nervenstamm durch noch so innige Durchtränkung mit Wasser nicht wahrnehmbar er- regt wird; letztere beiden verhalten sich ebenfalls indifferent bei Applikation auf den Nerven, versetzen dagegen die in ihre schwachen Lösungen eingetauchten Muskeln alsbald in Zuckungen. Das eigent- liche AVesen der chemischen Muskelreizung, Angriffspunkt und Wirkungsart, ist unbekannt. Ein besonderes Interresse kommt nach den mehrfach bestätigten Beob- achtungen Biedermanns* einem der chemischen Reizmittel, dem Na2C03 zu. Bringt man einen sorgfältig ohne jegliche Verletzung seiner Oberfläche oder seiner Sehnenenden auspräparierten Froschsartorius in eine schwache Lösung dieses Natronsalzes (Aq. destill. 1000 g, NaOl 5 g, Na,HPO^ 2 g, Na^COg 0,4 — 0,5 g, so entwickelt sich nach Ablauf einiger Zeit ein eigentümliches Schau- spiel, der Muskel gerät in rhythmische Zusammenziehungen, welche bei niedriger Temperatur des Beobachtungsraumes mitunter tagelang fortbestehen. Hieran knüpft sich die Frage, oIj innerhalb des Muskels selbst etwa Vorrichtungen anzunehmen seien, welche einen kontinuierlichen Reiz mit periodischer Reaktion beantworten müfsten, oder ob und wie der kontinuierlich scheinende Reiz vermöge seiner Wirkungsweise thatsächlich in einen diskontinuierlichen verwandelt wird. Eine Antwort ist zur Zeit unmöglich. Wir bemerken nur beiläufig, dafs rhyth- mische Tetanusformen auch für andre Muskeln (Scherenmuskeln des Krebses, Schenkel muskeln von Käfern) und hier sogar bei anhaltender elektrischer Reizung mit alternierenden Induktionsströmen gesehen worden sind.* Ein zweiter be- merkenswerter Punkt der BiEDERMANNschen Beobachtungen ist der Nachweis, dafs die chemische Reizung im vorliegenden Falle ohne jede Anätzung der Muskel- substanz erfolgt; denn die zum Versuche dienenden Sartorien blieben in ihrem elektromotorischen Verhalten unverändert, was beweist, dafs nirgends eine künstliche Querschnittsbildung infolge lokaler Zerstörung stattgefunden haben konnte. Über die thermische Reizung des Muskels ist nur weniges zu berichten. Berührung eines Muskels mit einem rotglühenden Metalldrabt bewirkt Kontraktion. Allmähliche Erwärmung eines abgekühlten Muskels ruft innerhalb gewisser Temperaturgrenzen eine langsam wachsende Verkürzung hervor, über deren Beziehung zum 1 V. WITTICH, F.xper. qiiaed. ad HALLERI rloctrin. de inuscul. irrilabilitate j)rohundum. Progr. Koenigrsbersr. 1857; Arch. f. pntliol. Anut. 1858. Bd. XUr. p. 421. ■^ BIKDKRMAXN, Wiener SUher. Jlath.-ntw. Cl. HI. Abth. 1880. Bd. LXXXII. p. 257. ä Biedermann. Wiener Stzber. Math.-iitw. Gl. HI. Abth. 1880. Bd. LXXXU. p. 257. — W. KÜHNE, Unters, aus dem jilnimol. Instit. d. ünisemität HeJdelbero- 1880. Bd. lU. p. 16. ■* RiCHET, Arch. de phy.siol. norm, et palhol. 11. S^r. 1874. T. I. p. 262 (289). — SCHÜN- LEIN, Arch. f. PhysM. 1882. p. 369. §81. MUSKELKEIZBARKEIT. 81 Zuckungsvorgange nichts Sicheres ermittelt ist.^ Was endlich die mechanische Reizung des Muskels angeht, so ist sicher, dafs dieselben mechanischen Angriffe, welche den Nerven erregen, auch den Muskel reizen. Die Empfindlichkeit gegen mechanische Erregung wird bei Froschmuskeln ungemein gesteigert, wenn man dieselben auf 0" abkühlt oder auch durch all- mähliche Vertrocknung eines Teiles ihres Wassers beraubt. Im ersteren Falle ruft jede leise stofsweise Berührung mit der Fingerspitze sofort eine kräftige Kon- traktion, im zweiten einen lange anhaltenden, kräftigen Tetanus hervor, mit den gleichen sekundären tetanisierenden Wirkungen auf den strornj^rüfenden Schenkel, als wenn es sich um einen durch intermittierende Xervenreizung mittels kurz- dauernder Induktionsschläge ausgelösten Tetanus handelte (Gkuexhagen). Die Mannigfaltigkeit der Reizmittel, welche bei direkter Appli- kation auf den Muskel seine Thätigkeit hervorrufen, findet sich im lebenden Körper unter normalen Verhältnissen auf ein einziges reduziert. Es erfolgen sämtliche Muskelkontraktionen der Regel nach nur unter Vermittelung von Nerven. Eine klare Vorstellung über das AVesen der physiologischen Beziehung von Nerv und Muskel besitzen wir nicht und können eine solche auch nicht haben, da über die anatomische Beziehung beider Organe zueinander das letzte Wort noch nicht gesprochen, namentlich nicht entschieden ist, ob die histologische Verbindung der motorischen Nerven mit den Muskelfasern auf einem Verhältnis der Kontinuität oder auf einem solchen der Kontiguität beruht (s. p. 14). Die Theorien über die Natur des Xerveneinflusses auf den Muskel haben alle nur den Wert von Vermutungen und sind sämtlich auf die Vorstellung basiert, dafs die letzten Enden der motorischen Nerven der kontraktilen Mus- kelsubstanz nur anliegen, nicht aber in dieselbe übergehen. Mit besonderer Vorliebe wird die Elektrizität herangezogen, und die reizende Wirkung des in Aktion versetzten Nervenendes auf Schwankungen seines elektrischen Zustandes zurückgeführt. Bald sollte die motorische Endplatte im Augenblick der Aktion analog dem elektrischen Organe der Fische elektrische Spannkräfte neu produzieren (EntladungshyiDothese)^ bald sollte die negative Stromesschwankung der End- platte das gesuchte elektrische Reizmoment abgeben (modifizierte Entladungshypo- these).^ Hierbei wird stillschweigend vorausgesetzt, dafs die supponierten elek- trischen Vorgänge hinreichend stark seien, um die benachbarte Muskelsubstanz zu erregen. Wäre letzteres der Fall, so liefse sich schwer verstehen, woher bei Reizung einzelner Nerven2)rimitivfasern unter dem Miskroskope immer nur die unmittelbar von ihnen versorgten Muskelfasern, nicht aber die dicht daneben liegenden gleichzeitig in Zuckung geraten (S.vciis).* Würde gar die negative Stromesschwankung als solche kraft ihrer am Nervenstamme ermittelten Gröfse genügen, um Muskelsubstanz in Erregung zu versetzen, was übrigens geradezu 1 SCHMULEWITSCH, Wiener medicin. Jahrbücher. 1808. Bd. XV. p. 3; Cpt. rend. 1867. T. LXV. p. 358. — Samkowy, Pfluegers Arch. 1874. Bd. IX. p. 399, u. Dissert. Berlin 1875. ^ Krause, Die mot. Endplutten d. quergestreiften Muskel/usern. Hannover 1869; Arch. f. mikrosh. Anat. 1875. Bd. XHI. p. 170. ä E. Du BOIS-Reymond, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1878. p. 517; Monalsber. d. kgl. preiijs. Akad. d. TIV.s.s. zu Berlin. 1874. p. 519. — SACHS, Unters, am Zitteraal, bearbeitet von E. Du BOIS- Reymoxd. 1881. p. 417. — KÜHNE, Unters, aus d. physiol. Listit. d. Universität Heidelberg. 1880. Bd. m. p. 1 (125). * Sachs, Arch. f. Anat. n. Physiol. 1874. p. 57. GUUENHAGEN, Physiologie. 7. Aufl. II. 6 82 » MUSKELREIZBARKEIT. §81. verneint werden nnifs, so wäre al)solut unverständlich, weshalb sich eben dieser Prozefs nicht auch innerliall) der Nervenstämme und der Zentralorgane von Nerven- faser auf Nervenfaser übertragen sollte, womit natürlich eine isolierte Leitung von Sinneseindrücken oder Willensimiiulsen unmöglich gemacht sein würde. Beide Hypothesen stofsen auf noch gröfsere Schwierigkeiten, wenn man sie auch zur Erklärung der Nervenwirkung auf glatte Muskeln heranziehen wollte. Denn obwohl die physiologische Beziehung zwischen Nerv und kon- traktiler Substanz bei letzteren prinzipiell keine andre als bei den querge- streiften Muskeln ist, findet man allgemein, dafs die glatte Muskulatur weder durch Nerven von besonders starkem elektromotorischen Vermögen, noch durch vorzugsweise mächtig entwickelte Nervenendplatten ausgezeichnet ist, trotzdem dafs dieselbe nachweislich viel intensiverer elektrischer Reizungen bedarf, um zur Thätigkeit veranlafst zu werden, als die quergestreifte J^luskulatur. Auch ist in glatten Muskelmassen keine Spur von Elektrizitätsproduktion während ihrer tetanischen Erregung vom Nerven aus wahrzunehmen. Legt man den Nerven des stromprüfenden Froschschenkels auf den Pylorusteil eines Kaninchen- magens und reizt den Halsstamm des Vagus, so kontrahiert sich die glatte Muskulatur des Pylorus auf das kräftigste, das physiologische Rheoskop verharrt indessen in völliger Ruhe. Unter diesen Umständen mufs offen bekannt werden, dafs Avir über die Natur des Vorgangs, durch welchen die Thätigkeit des Nerven sich auf den Muskel überträgt, nichts wissen. Was von Seiten der Physiologie beigebracht ist, um das Dunkel dieses Geheimnisses zu lüften, hat einen durchaus fragmentarischen Charakter und gestattet keine Schlüsse von positiver Bedeutung. Die Thatsachen, welche bestimmt zu sein scheinen, auf das zwischen Muskel und Nerv bestehende physiologische Verhältnis Licht zu werfen, sind aber die folgenden. 1. Die einzelnen Kontraktionswellen einer Muskel- faser, welche durch Nervenreizung ausgelöst werden, nehmen sämtlich ihren Ausgang von der Sohlenfläche der motorischen Eudplatte.^ Der Nachweis dieser fundamentalen Thatsache ergibt sich aus der direkten Beobachtung durchsichtiger lebender Insektenlarven unter dem Mikroskope. 2. Die Übertragung des Thätigkeitszustandes der motorischen Endplatten auf die Muskelsubst auz bedarf mutmafslich einer mefsbaren Zeit, im mittel von 0,0031 — 0,0032 Sek.^ Diese Zahl ist dadurch gewonnen, dafs man von dem experimentell gefundeneu latenten Reizstadium des vom Nerven aus in Thätigkeit gesetzten Muskels einmal die Zeit abzog, welche die Nervenleitung von dem Beizorte bis zur motorischen Endplatte vor- aussichtlich in Anspruch genommen haben konnte, sodann auch die wiederum experimentell ermittelte Dauer des latenten Beizstadiums bei direkter Beizung des Versuchsmuskels. Einer der Bechnungsfaktoren, die Leitungsgeschwindigkeit der intramuskulären • Dieses Lehrb. p. 47. — ARNDT, Arc?i. f. mikrosk. Anut. 1878. Bd. IX. p. 504. — FOETTINGER, Arch. de biologie. 1880. T. I. p. 504. 2 Bernstein, Arch. f. Phmiol. 188-.2. p. 329. §81, MUSKELREIZBARKEIT. Nervenfasern ist liiernacli anfechtbar, weil er nicht durch den Ver- such selbst sich ermitteln läfst, sondern auf dem unsicheren Wege der Schätzung. 3. Nervenreizungen, welche in gewissen kurzen Inter- vallen nacheinander zummotorischenNervenende gelangen, summieren sich entweder in ihrem motorischen Effekt oder heben sich gegenseitig auf, interferieren miteinander.^ Um den vorstehenden wichtigen Satz zu beweisen, ist niclit nur erforderlich das zeitliche Verhältnis beider Reize genau zu regulieren, sondern auch dafür Sorge zu tragen, dafs keiner derselben die Er- regbarkeitszustände am Reizorte für den andren modifiziert. Es kann daher nicht daran gedacht werden, zwei durch ein bekanntes Zeit- intervall getrennte Reize nacheinander ein und demselben Nerven- querschnitt zuzuführen, weil der spätere Reiz dann eine Nachwirkung des früheren antreffen müfste; der Versuch ist vielmehr so einzu- richten, dafs zwei gleichzeitige Momen taureize zwei verschiedenen, durch eine gemessene Distanz getrennten Nervenpartien zugeleitet werden. Derjenige Momentaureiz (Induktionsstrom), welcher einen peripherischer gelegeneu Nervenpuukt in Erregung versetzt hat, mufs die Aktion der motorischen Endplatte früher auslösen, als derjenige, W' elcher mehr zentralwärts eingewirkt hat, die Zeitdifferenz ist aber aus der bekannten Distanz beider Reizorte und der ebenfalls be- kannten Geschwindigkeit der Nervenleitung zu berechnen. Das Er- gebnis solcher Experimente läfst an Bestimmtheit nichts zu wünschen übrig; der Effekt des früheren Reizes wird durch den des späteren verlöscht, wenn die Reizorte 12 — 13 mm, gesteigert wenn sie ca. 22 mm auseinander liegen. Nehmen wir die Leituugsge- schwindigkeit der Nerven gleich 27 m pro Sek., so erfolgt also eine Summation der Reizwirkungen, wenn die beiden miteinauder zu- sammentreffenden Thätigkeitszustände um 0,0008 Sek., eine Ver- nichtung oder Interferenz, wenn sie um 0,0004 Sek. zeitlich gegen- einander verschoben sind. Nach der ganzen Anlage des Experiments kann aber die frühere Reizwirkuug von der späteren nur an einem Punkte eingeholt und daselbst gesteigert oder vernichtet werden, in welchem die nervöse Thätigkeit eine Verzögerung erleidet, gleichsam brandet, d.i. innerhalb der Nervenendigung, der motorischen Eudplatte. Das hier berührte Problem, die Wirkungsweise zweier gleichzeitiger jedoch örtlich getrennter Nervenreize zu bestimmen, ist schon öfters in Angriff genommen worden", aber niemals mit entscheidendem Erfolg, weil niemals mit einer Methode, welche so streng allen Anforderungen genügte, wie die zuletzt von Gruenhagen in Vorschlag gebrachte. Auch ist schon zu wiederholten Malen das Stattfinden von Interferenz- beziehungsweise von Summationser- scheinungen mehrfacher Nervenerregungen behauptet, von Sewali. dagegen die bald störende, bald fördernde Einwirkung zweier gleichzeitiger elekti'ischer 1 GRÜKNHAGEN, PFLUEGERS Arcli. 1884. Bd. XXXIV. p. 301. 2 V. Fleischl, Wiener Sizber. Math.-utw. Gl. HI. Abth. 1880. Bd. LXXXII. p. 133. — V. Kries, Arcfi. f. Pliijsiol. 1884. p. 337 (368;. 6* 84 MUSKELREIZBARKEIT. §81, Nervenreizuiifjren aufeinaiuU'v allgemein auf den Einflufs der bekannten Pflue- GERschen Polwiikungen des An- und Kateloktrutonus zurückgeführt worden. Gerade der letzteren sehr verführerischen Annahme wird aber durch die Ver- suchsergebnisse (truknhagkns bestimmt widersjirochen. Die von ihm ange- wandte Experimentationsmethode besteht im wesentlichen darin, zwei getrennte Induktionsajjparate durch eine einzige konstante Stromquelle zu speisen und jede sekundäre Spirale für sich mittels unpolisierbarer Elektroden mit dem Nerven des zuckenden Muskels in Verbindung zu setzen. Bei diesem Verfahren durfte allerdings mit Bestimmtheit auf eine nahezu absolute Gleichzeitigkeit der beiden differenten Induktionsreize, welche im vorliegenden Falle also durch Öffnung oder Schliefsung eines einzigen Stromkreises ausgeh'ist wurden, gerechnet werdend 4. Der Erreguugsanstofs, welchen der Nerv dem Muskel erteilt, ist kein fest präformierter, nur von Inten- sität und Frequenz der Reize abhängiger Vorgang, sondern besitzt eine gewisse Variabilität des zeitlichen Verlaufs, welche ihrerseits wiederum von dem zeitlichen Verlauf der Reizung abhängt. Es ist bereits bei einer andren Gelegenheit (s. o. p. 39) darauf aufmerksam gemacht worden, dafs nicht alle Arten des Mus- keltetanus sekundären Tetanus des stromprüfenden Eroschschenkels zu bewirken vermögen. Unter den mehrfachen Gründen, welche diesen Unterschied im Verhalten bedingen können, nimmt hier unser be- sondres Interesse derjenige in Anspruch, welcher die Abhängigkeit des zeitlichen Verlaufs der negativen Schwankung des Muskelstromes, d. i. der muskulären Reizwelle, von dem zeitlichen Verlauf des dem Nervenstamme zugeführten Reizstromes zur Voraussetzung hat. Eine solche Beziehung ist durch v. Kries gesucht und mittels des Ka- pillarelektrometers als bestehend nachgewiesen worden, nachdem schon vorher v. Fleischl die differente Natur des Rheonomtetanus, welcher durch Stromreize von gedehntem zeitlichen Verlauf hervor- gerufen wird, von dem durch momentane luduktionsreize zu er- zielenden betont hatte. Die Dauer der negativen Schwankung des Muskelstromes kann nach v. Kries bei zeitlich gedehnten Reizen bis zum Gfachen des von Bernstein für Momentanreize ermittelten Wertes variieren. Um zu wissen, ob und welch eine Rolle hierbei dem motorischen Endapparat des Nerven zugesprochen werden kann, müfste vor allem aber erst festgestellt sein, inwieweit etwa auch der zeitliche Ablauf der negativen Schwankung des Nervenstromes durch das zeitliche Verhalten des Reizes beeinflufst wird, und ferner, da eine und dieselbe Muskelfaser mit mehreren motorischen Endapparaten versehen sein kann (s. o. p. 13), ob nicht auch die Zahl der gleichzeitig innervierten Endplatten einen bestimmenden Einflufs auf den zeitlichen Ablauf der Reizwelle ausübt. Die Erledigung dieser Vorfrage scheint aber schon deshalb geboten, weil auch das Zahl- • Von einschlagiger Litteratur faliren wir hier an HARLESS, Henles u. MEISSNERS Jalircxher. üh. d. Furlschr. Terg.\ST, Arch. f. mikrosk. Anal. 1S73. Bil. IX. p. 3ö. - Unter d. Arb. üb. d. Wirk. d. Curare sind hervorzuheben: BERXARD, Cpf. rend. 1850. T. XXXI. p. 53:-); L''<^ons xur les effets dei ■■ntbst. toxiquex et med'icanwnteusex. Paris 1857. p. 238. — Koelliker, SUher. d. phi/sik.-med. Ges. :u Wärzhurg vom 29. März u. 12. April 1S56: Arch. f. patho!. Anat. 1S5G. Bd. X. p. 3 u. 235; 7-Uchr. f. «im. Zoologie. 1858. Bd. IX. p. 431. — PELIKAN, Arch. /". palhol. Anal. 1857. Bd. XI. p. 401. — PELIKAN u. KOELLIKER, Verhandl. d. plii/sik.-med. Ges. zu Würzburg. 1859. Bd. IX. p. 66. — KÜHNE, Monatsher. d. kgl. preufs. Akad. d. WIss. zu Berlin. 1860. p. 44; Arch. f. Anal. u. P/i>/siol. 1860. p. 477. — HABER. Arch. f. Anat. u. Phtisiol. 1859. p. 98. 3 GL. Bersard, Cpt. rend. 18.50. T. XXXI. p. 533, u. Le<;ons sur les effels des subst. toxiques et medicamenleuses. Paris 1857. p. 282. 80 WIRKUNG DES PFEILGIFTES. § 81. der Untersclieukelimiskelu. Ist die Quantität des verabreichten Curare grofs genug, so findet man aucli die Einwirkung derjenigen Nerven, welche die unwillkürlichen Bewegungen auslösen, auf die betreffen- den Muskeln aufgehoben, und ebenso ist dann auch, wie Koelliker l)ewiesen hat, die Fähigkeit der erst später zu betrachtenden Hem- mungsnerven, bei Heizung die Bewegung der unter ihrem Ein- flüsse stehenden motorischen Apparate zu sistieren, erloschen. Da- gegen hat eine direkte Applikation von Reizen auf die Mus- kelsubstanz nach Avie vor Kontraktionen der letzteren zur Folge. Es war möglich, die geschilderten Vergiftungserscheinungen durch die Annahme zu erklären, dals die motorischen Nerven in ihrer ganzen Ausdehnung gelähmt wären, die kontraktile Substanz der Muskeln aber ihre Erregbarkeit bewahrt hätte (Cl. Bernard). Als man aber mit schärfer eindringenden Methoden darauf ausging, die einzelnen Abschnitte der motorischen Nerven, jeden für sich ge- sondert, dem Verkehr mit dem vergiftenden Blute auszusetzen, er- kannte man bald, dafs die erwähnte Deutung sehr erheblicher Ein- schränkung bedurfte, um mit dem wirklichen Verhalten in Einklang ■Zw stehen. Unabhängig voneinander zeigten Koelliker und Ber- nard, letzterer unter Aufgabe seiner früheren Ansicht, dafs die motorischen Nervenfasern nicht in ihrem ganzen Verlaufe, sondern dafs zunächst wenigstens nur innerhalb des Muskels selbst be- findliche Partien derselben dem lähmenden Einflüsse des Griftes unterliegen. Die wesentlichsten Facta sind folgende: Durchschneidet man bei einem Frosch den Ischiadicus des einen Beines, so tritt die Lähmimg des peripherischen Teiles dieses Nervenstammes ganz gleichzeitig mit der des Ischiadicus der andren unversehrten Seite ein; unterbindet man dagegen die Blutgefäfse, welche zu einem Beine gehen, so bleiben die Nerven dieses Beines ungelähmt, beides zu- nächst Beweise, dafs das Gift nicht etwa auf die Zentralorgane des Nerven- systems einwirkt und von da aus die Stämme der motorischen Nerven ergreift, sondern dafs es direkt und primär auf die peripherischen motorischen Nerven wirkt. Unterbindet man bei einem Frosche die aorta abdominalis oder beide arcus aortae, und bringt dann das Gift unter die Haut der vorderen Körper- hälfte, so treten die Lähmungen nur in der vorderen Körperhälfte ein, nicht in den hinteren Extremitäten, zu deren Nerven dem Gift die Zufuhr durch das Blut abgesperrt ist. Der Frosch hüpft noch spontan mit den Hinterbeinen bei gelähmten Armen, die nn. ischiadici reagieren normal auf Reize, während Reizung der n)i. brachiales keine Zuckung der Armmuskeln bedingt. Kneipt man aber die Haut des einen gelähmten Vorderarmes, oder betupft sie mit Essigsäure, so entstehen energische Abwehrbewegungen in den ungelähmten hinteren Ex- tremitäten, keine Spur von Zuckung in den vorderen, ein sicherer Beweis dafür, dafs die Mifshandlung der gelähmten Gliedmafsen Schmerzempfindung verur- sacht, und dafs das Kurare weder die sensiblen Fasern noch die zentralen Enden der motorischen in ihrer Leistungsfähigkeit schädigt. Es bleibt ferner zu prüfen, ob vielleicht die Stämme der motorischen Nerven sich einer ähnlichen Immunität wie diejenigen der sensiblen erfreuen, und ob der lähmende Effekt des Giftes also nicht vielleicht allein auf die Endausbreitung der Bewegungs- nerven beschränkt ist. Zur Entscheidung dieser Frage hat Koelliker folgende Versuche augestellt. Unterbindet man an einem Oberschenkel des Frosches die arteria cruralis und vergiftet dann das Tier vom Rücken aus, so bleiben, wenn §81. MUSKELREIZBARKEIT. 87 der unversehrte Schenkel schon vollständig gelähmt ist, iiiclit nur die unter- halb der Unterbindungsstelle vom Stamm abgehenden Nervenäste, sondern der ganze Stamm des Ischiadicus der unterbundenen Extremität noch sehr lange Zeit, mehrere Stunden hindurch, vollkommen reizbar, obwohl die Zufuhr des Giftes zu dem Stamm nicht abgesperrt ist. Unterbindet man nur die Gefäfse eines einzigen Muskels, eines Wadenmuskels des Frosches, so dafs also nur von den darin verlaufenden Nervenfasern, nicht aber von allen aufserhalb verlaufenden Zweigen und Stämmen der Giftzutritt abgesperrt ist, so bleiben diese Zweige und der Stamm ebenfalls noch lange erregbar, wenn die entsprechenden Nerven des andren Beines längst vollkommen reaktionslos sind. Aus diesen und ähn- lichen Versuchen ist also zu entnehmen , dafs das Curare zunächst auf die peripherischen Enden der motorischen Nerven lähmend einwirkt, dafs demnach das Nichteintreten von Zuckungen auf Reizung des Stammes nicht Folge der verlorenen Erregbarkeit des Stammes, sondern der Lähmung der unterhalb liegenden peripherischen Faserpartien ist. Wichtige Stützen für diese Ansicht hat Fuxke ^ durch den Nachweis ge- liefert, dafs die peripherischen Nervenfasern, und zwar sowohl die motorischen als auch die sensiblen, zu einer Zeit, in welcher die Reizung der ersteren von keiner Zuckung mehr gefolgt wird, nicht allein eine ungeschwächte, sondern so- gar eine gesteigerte elektromotorische Wirksamkeit besitzen ; die Ischiadici, die vorderen und die hinteren Rückenmarkswurzeln, welche letzteren als Repräsen- tanten motorischer und sensibler Nerven gewählt wurden, gaben nach der Ver- giftung unerwarteter Weise beträchtlichere Ausschläge für den Strom in der Ruhe und beträchtlichere negative Schwankungen als unvergiftete Nerven. Alle diese Angaben Fuxkes sind leicht zu bestätigen. Die Zunahme, welche die elektromotorische AVirksamkeit der Nerven und, wie mit Valentin'" hinzuzu- fügen ist, der Muskeln erfährt, hat Roeber ^ mit einem durch Gefäfslähmung bewirkten gröfseren Blutgehalt derselben in Zusammenhang zu bringen versucht. Eine genaue anatomisclie Bestimmung desjenigen Nervenstücks, welches dem verderbliclien Einflüsse des Curare so vorzugsweise unterworfen ist, läfst sich zur Zeit nicht geben. Wir wissen nicht, ob die lähmende Wirkung des Giftes die letzten Enden der motori- schen Nerven oder vielleicht eine oberhalb zwischen diesen und dem übrigen Faserverlauf gelegene intermediäre Zone betrifft, und räumen damit einen Mangel unsrer Erkenntnis ein, welcher sich um so empfindlicher bemerkbar macht, als durch denselben dem Andringen einer seit Hallers Zeiten fortwährend diskutierten und bis heute noch nicht zum Austrag gebrachten Frage Vorschub geleistet wird, der Frage nämlich, ob dem Muskel überhaupt eine eigne Irritabilität zukommt, oder ob die mannigfachen Reizmittel, bei deren direkter Applikation auf seine Substanz Zuckungen ent- stehen, die muskuläre Thätigkeit nicht vielleicht indirekt durch Ein- wirkung auf die intramuskulären Nervenenden auslösen.'^ Es ist freilich wahr, dafs die gegenw^ artigen Anschauungen der Physiologen fast ohne Ausnahme dahin neigen, der Muskelmaterie eine eigne Irritabilität zuzugestehen. Nichtsdestoweniger darf man sich nicht verschweigen, dafs gerade der Fortschritt unsres Wissens, welchen 1 Funke, Ber. d. kgl. säc/is. Ges. d. Wiss. Math.-phys. CI. 1859. Bd. XI. p. 1. 2 G. Valentin, Pfluegers Arch. 1868. Bd. I. p. 494. ä ROEBER, Arch. f. Anut. u. Physiol. 1869. Heft 6. p. 633. * HALLER, ^feln. sur les pari, sensibles et irritables. Lausanne 1756, u. Elemenia iihijsiijhiijiai> corp. hum. Lausanne 1762. T. IV. p. 440: Opera minora anat. argum. Lausanne 1762. T. I. 88 MUSKELREIZBARKEIT. §81. wir dem Studium der Curarewii-kuug verdfinken, der Nachweis, dafs das pliysiologische Verhalten der motorischen Nervenfasern inner- halb ihrer intramuskulären Bahn wesentliche Änderungen erfährt, uns aller Mittel beraubt hat, die schwebende Frage zum Ab- schlufs zu bringen. Die AVege, auf welchen eine sichere Entschei- dung derselben zu hoffen steht, sind allerdings leicht vorzuzeichnen. Es liegt auf der Hand, dafs eine selbständige Muskelirritabilität unwiderleglich dargethan ist, wenn es gelingt, durch direkte Reizung eine Muskelpartie zur Thätigkeit zu veranlassen, welche entweder von Haus aus entschieden vollkommen nervenlos ist, oder in welcher unzweifelhaft die Nerven bis zu ihren allerletzten Enden getötet oder wenigstens der Einwirkung des betreffenden Reizes vollkommen unzugänglich gemacht sind ; dafs eine solche ferner mit gleicher Sicherheit dargethan wäre, wenn sich ein bei direkter A])plikation auf die Muskelsubstanz wirksamer Reiz fände, für welchen sich der unanfechtbare Beweis führen liefse, dafs er den Nerven unter keiner Bedingung zu erregen imstande sei; dafs eine solche endlich wenig- stens eine gewisse Wahrscheinlichkeit erlaugte, wenn sich heraus- stellte, dafs ein bestimmter Reiz eine wesentlich andre Reaktions- weise des Muskels erzeugte, wenn er unter sonst ganz gleichen Bedingun- gen die Muskelsubstanz selbst trifft, als wenn er mittelbar vom Ner- ven aus wärkt. Aber so leicht es ist die Forderungen aufzustellen, von deren Erfüllung die Lösung des hier behandelten Problems ab- hängt, so schwierig ist es ihnen Genüge zu leisten. Denn weder ist die Natur der motorischen Nervenendigung bereits so völlig ge- klärt, dafs man berechtigt wäre, irgend ein Stück eines Muskels oder eines isolierten Muskelbündels für absolut frei von nervösen Ele- menten zu erklären, noch ist man im Besitze von Mitteln, welche zweifellos die motorischen Nerven bis zu ihren letzten Enden lähmen, noch endlich darf man in dem Umstände, dafs irgend ein Reizmittel nur bei Applikation auf den Muskel, nicht aber bei Applikation auf den Nerven Zuckungen bedingt, einen Beweis für die eigne Irritabilität der kontraktilen Substanz erblicken. Denn nichts hindert den positiven Effekt des Reizmittels im ersteren Falle auf die eigen- artige Reaktion der Nervenenden, und nicht auf eine solche der Mu.skelbündel zu beziehen. Welch enge Grenzen unsrem Wissen histologischerseits gezogen sind, ergibt sich aus den früheren (s. o. p. 14) Mitteilungen über das anatomische Verhalten der motorischen Nervenenden; die letzte Einschränkung, welche wir in betreff der sogenannten spezi- fischen Muskelreize (destilliertes Wasser) geltend gemacht haben, gründet sich auf den durch die Folgen der Curarevergiftung beige- brachten Beweis, dafs die Nervenenden thatsächlich auf bestimmte Einflüsse anders reagieren als die im Nervenstamme enthaltenen Fasern, wobei es natürlich ganz gleichgültig ist, ob die beobachteten Reaktionsunterschiede nur quantitative oder vielleicht sogar qualita- §81 MüSKELREIZBARKEIT. 89 tive sind. Eine etwas eingehendere Rechtfertigung bedarf jedoch der zweite Teil des von uns gefällten Urteils, in welchem der phy- siologischen Technik wenigstens gegen^\ärtig das Vermögen abge- sprochen wird, für irgend eines der ihr zu Gebote stehenden Läh- mungsmittel motorischer Nerven den Beweis zu liefern, dafs sich dasselbe im gegebenen Falle wirklich auch bis auf die äufsersten Enden des intramuskulären Nervennetzes erstreckt. — In bezug auf das Curare selbst haben wir soeben eingeräumt, dafs über die anatomische Lage der von ihm affizierten peripheren Nervenstücke nichts Sicheres ausgesagt werden kann ; hierzu kommt nun aber noch, dafs wir nicht einmal wissen, ob die von den Giftwirkungen be- troffenen Partien auch wirklich ihre Erregbarkeit eingebüfst haben. Ermittelt ist im Grunde doch nur, dafs dieselben der Durchleitung einer von irgendwo oberhalb ausgelösten Nerventhätigkeit Wider.stand leisten, und wir haben früher gesehen, dafs Nervenleitung und Nervenerregbarkeit getrennte Fähigkeiten sind, welche durchaus nicht immer gleichsinnig verändert werden. Es wäre folglich immerhin noch möglich, dafs die Enden der Nerven ti-otz der Curarevergiftung bei direkter Reizung erregt M'ürden und ihre Erregung au die un- mittelbar angrenzende kontraktile Substanz übertragen könnten. Direkte Beweise dafür, dafs das Curare das Leitungsvermögen der I^eripheren Nervenenden in lioliem Grade beeinträchtigt, hat v. Bezold * ge- sammelt. Er bestimmte mit Hilfe des Myographions den zeitlichen Verlauf der Muskelzuckungen in verschiedenen Stadien der Urarivergiftung, und zwar ein- mal solcher, die durch direkte Reizung des Muskels mit Induktionsschlägen, zweitens solcher, die darch Reizung des Nervenstammes in verschiedenen Ent- fernungen vom Muskel ausgelöst waren. Es ergab sich dabei, dafs der zeit- liche Verlauf der Zuckungen bei direkter Reizung in allen Stadien der Vergiftung- genau der gleiche wie bei unvergifteten Muskeln war, dafs ebenso das Stadium der latenten Reizung ungeändert blieb. Sehr erhebliche Differenzen stellten sich dagegen bei der indirekten Reizung heraus. Erstens nahm mit dem Vor- schreiten der Giftwirkung sehr schnell das durch die stärksten Reize zu er- reichende Verkürzungsmaximum bis zu Null ab, d. h. bis ü])erhaupt kein Reiz mehr eine Zuckung hervorrief. Zweitens deh.nten sich die Zuckungen mit der Abnahme ihrer Intensität über gröfsere Zeiträume als bei unvergifteten Muskeln oder bei direkter Reizung der vergifteten aus. Drittens wuchs, bevor die Nervenreizung überhaupt unwirksam wurde, die zwischen dem Moment der Reizung des Nerven (1—2 cm oberhalb des Muskels) und dem Beginn der Zuckung liegende Zeit mit der zunehmenden Giftwirkung bis zu der siebenfachen Gröfse von derjenigen Zeit an, welche zwischen dem Moment der direkten Reizung und dem Zuckungsanfang lag. Es fragte sich, wo die Ursache dieser enormen Verzögerung der AVirkung des Reizes auf den Muskel gelegen sei; im Muskel selbst konnte sie nicht liegen, da der zeitliche Verlauf seiner Thätigkeit bei direkter Rei/^ung ungeändert blieb; sie mufste also im Nerven liegen, und es galt nun zu entscheiden , ob lediglich eine Veränderung der intramuskulären Ver- zweigungen die Fortjjflanzung der von oben kommenden Erregungen hemmte, oder ob auch das Leitungsvermögen der Fasern im Stamm abgenommen hatte. Es ergab sich evident, dafs im Anfang der Giftwirkung die verzögernde Ver- änderung ausschliefslich die intramuskulären Verzweigungen betrifft, und erst i V. Bezold, ifonatiber. d. kgl. preufs. Akad. d. Wlss. :u Berlin. 1853. p.698; Arcli. f. Amt f. u. P/iijsiol. 1860. p. 168. 90 MUSKELREIZBARKEIT. §81. bei starker Giftwirkung mehrere Stunden nach der Vergiftunpf eine merk- liche Abnahme der Leitungsgüte der Fasern im Stamm eintritt, a))er bei weitem nicht in dem (irade, um einen erlieblichen Teil der beobachteten Gesamtver- zögerung zu erklären. Ob sie schliei'slich denselben Grad erreicht, wie der Leitungswiderstand in den intramuskulären Zweigen, läfst sich mittels der durch V. Bkzold in Gebrauch gezogenen grajjhischen ühjfhode nicht nachweisen, weil die eintretende totale Leitungsunfähigkeit jener Zweige den zeitmessenden Versuch unmöglich macht. Aus Untersuchungen über die Leitungsgesohwindigkeit der negativen Schwankung mittels des DifTerentialrheotoms '■ ist jedoch zu ent- nehmen, dafs das Curare die Leitungsfälligkeit der Nervenstämme zu keiner Zeit gänzlich aufzuheben vermag, sondern immer nur in verhältnismäfsig sogar unbedeutendem Grade herabsetzt. Das Wesen der Giftwirkung besteht demnach jedenfalls in der Einführung eines beträchtlichen Leitungswider- standes in intramuskuläre Abschnitte der motorischen Nerven, welcher all- mählich in zentripetaler Richtung auf die extramuskulären Fasern fortschreitet. Ob aber die zunächst betroffenen Nervenabschnitte den letzten Enden der Nerven entsprechen oder in oberhallj derselljen gelegenen Nervenpartien gesucht werden müssen, wird auch durch diese Versuche nicht entschieden. Ein andrer Yersucli, die Funktionsfälligkeit der intramuskuläreu Nerven bis in ihre äufsersten Enden zu vernichten, liefse sich auf die früher (Bd. I. p. 629) besprochene Eigenschaft des konstanten elektrischen Stromes, die Erregbarkeit der Nervenfaser auch aufser- halb der durchflossenen Strecke im Bereiche der Anode aufzuheben, begründen. Eckhard ^, welcher diesen Gedanken zuerst in Aus- führung brachte, schickte durch einen motorischen Nerven ganz nahe seiner Eintrittsstelle in den Muskel einen starken aufsteigend ge- richteten Strom und sah nach Schlufs desselben jedesmal die von einem schwachen durch die Muskelsubstanz selbst geleiteten zweiten Strom erzeugten Schliefsungs- und Offnungszuckungen ausbleiben. Er sprach deshalb dem Muskel jedwede eigne Reizbarkeit ab. Man wird Eckhard zugeben können, dafs die von ihm beobachtete Ab- nahme der Muskelerregbarkeit durch den Anelektrotonus der intra- muskulären Nerven bedingt ist; dafs aber das intramuskuläre Nerven- netz durch einen noch so starken, dem eintretenden Muskelnerven applizierten Strom bis in seine äufsersten Enden absolut unerregbar gemacht werden könnte, läfst sich nicht begründen. Denn abgesehen davon, dafs wir nicht wissen, ob sich die Nervenenden dem kon- stanten Strome gegenüber genau so wie die Nervenröhren des Stammes verhalten, ist vor allem doch zu bedenken, dafs der Annahme einer so weiten Ausbreitung des Anelektrotonus jede thatsächliche Stütze fehlt. Die Erfahrung lehrt, dafs der Anelektrotonus nur auf relativ kurze extrapolare Nervenstrecken einen absolut lähmenden Einflufs ausübt. Es kann also nicht fraglich sein, dafs die von der makroskopisch sichtbaren Eintrittsstelle der motorischen Nerven infolge von Plexusbildung (s. Bd. I. p. 520) oftmals Aveit entfernt liegenden, nur mikroskopisch wahrnehmbaren Endstücke desselben fast ganz der anelektrotonisierenden Wirkung des Stromes entzogen sein Averdeu. ' Steiner, kühnes ünterxnch. ans dem phijsiol. Instit. d. Unieersit. Heidelberg. 1880. Bit. HI. p. 394. 2 Eckhard, Beitr. z. Anat. v. Fhysiol. Gicfsen 1855. Bd. I. p. 47. § 82. LEISTUNGSFÄHIGKEIT DER MUSKELN. 91 Die Verminderung der muskulären Erregbarkeit gegen elektrische Reizung, welche sich bei dem EcKHARDschen Versuche regelmäfsig kundgibt, ist von I. Rosenthal ^ für den kurarisierten Muskel gleichfalls konstatiert worden. Wie Bruecke " ferner gezeigt hat, bedürfen Muskeln der letzteren Art aber noch zu ihrer Erregung Ströme von läogerer Dauer als normal- beschaffene. Es wäre zu untersuchen, ob nicht Muskeln, welche nach Eckhards Verfahren behandelt worden sind, das gleiche Verhalten zeigen. Somit gewährt uns die Anwendung des konstanten elektrisclien Stromes ebensowenig wie diejenige des Curare eine sichere Bürg- schaft dafür, dals der beiden Agenzien eigentümliche Uihmende Ein- flufs die äufsersten Enden der motorischen Nerven erreicht und den Muskel in einen der Einwirkung des Nervensystems gänzlich ent- zogenen Apparat verwandelt. AVir verfügen also thatsächlich über kein zuverlässiges Mittel, die eigne Irritabilität der Muskeln ent- scheidend darzuthun, allerdings aber auch über keines, durch welches wir das Gegenteil zu erhärten imstande wären. Ein letzter Ausw^eg, diesem unbefriedigenden Schlufs zu entgehen, könnte vielleicht noch in dem Umstände erblickt werden, dafs es kontraktile Substanzen gibt, insbesondere die Protoplasmamassen kontraktiler Zellen, in welche Nerven zweifelsohne nicht eintreten. Aber auch hieraus ist wenig Gewisses zu entnehmen. Denn wer könnte mit Gründen widerlegen, dafs der Zellleib in nicht differenzierter Form nervöse und muskuläre Elemente ebenso in sich birgt, wie die kontraktilen Zellmassen des embryonalen Herzens, welches sich schon zu einer Zeit rhythmisch zusammenzuziehen beginnt, in welcher unsre Technik weder Muskelbündel noch Nervenfasern in ihm zu unter- scheiden vermag? VON DER LEISTUNGSFÄHIGKEIT DER MUSKELN. ' . . . . -§ ^^- Die Leistungsfähigkeit des Muskels oder, was dasselbe sagen Avill, der Grad seiner Irritabilität, hängt, wie zum Teil bereits aus dem vorhergehenden folgt, von zwei wesentlichen Bedingungen ab, von der Erregbarkeit der mit ihm verbundenen Nerven und von der normalen physikalisch-chemischen Konstitution seiner eignen Substanz. Nur dann, wenn als erwiesen anzusehen wäre, dafs dem Muskel eine eigne Irritabilität zukomme, würde das erste der genannten Mo- mente wegfallen. In diesem Falle bliebe eben der Muskel leistungs- fähig, obwohl die ihn versorgenden Nerven bis zu ihren letzten Enden ohne Alteration der kontraktilen Substanz vernichtet oder auf irgend einem Wege paralysiert wären. — Das einzig sichere Merkmal der vorhandenen normalen Konstitution des Muskels ist der Muskelstrom; sobald derselbe erloschen ist, hat auch die Kontrak- tionsfähiffkeit des Muskels ihr Ende erreicht. 1 I. Rosenthal, Moleschotts Unters, z. Naturi. 1857. Bd. ni. p. 185. 2 BRi:.ECKE, Wiener Stzber. Math.-ntw. CI. 2. Abth. 1867. Bd. LVI. p. 594, u. ebenda, 1868. Bd. LVIII. p. 125. <)2 TOTENSTARRE. § 82. Zur Erhaltung der normalen Beschaffenlieit des Muskels, welche ihn zur Reaktion auf die Nervenerregung befähigt, ist, wie heim Nerven, ebensowohl eine ungestörte Ernährung durch das Blut, als auch eine zeitweilige Unterbrechung der Ruhe durch Thätigkeit er- forderlich. Aufgehobener ßlutzuflufs führt auch am lebenden Tiere den Muskel in den toten Zustand über; der infolge mangelnder Erregung oder Entartung seiner Nerven längere Zeit unthätige Mus- kel atrophiert und degeneriert allmählich. Die Ernährung allein ist imstande, alle unter physiologischen Verhältnissen eintretenden, mit Herabsetzung der Koutraktionsfähigkeit verknüpften chemischen Alterationen der Muskelsubstanz wieder auszugleichen, und die ge- sunkene Leistungsfähigkeit auf ihr ursprüngliches Mafs zurückzu- führen; ihr Stillstand nach dem Tode und im ausgeschnittenen Muskel bedingt das allmähliche Sinken und endliche Erlöschen der physiologischen Fähigkeit; das völlige Erlöschen bezeichnet die Totenstarre des Muskels, der Ausdruck einer eigentümlichen inneren Veränderung desselben, welche sich als Tod des Muskels hauptsächlich auch durch das Verschwinden der elektromotorischen AVirksamkeit charakterisiert. Eben dieses Verschwinden des er- wiesenermafsen der Muskelsubstanz selbst angehörigen Stromes be- weist, dafs die Einbufse der Kontraktionsfähigkeit in der Starre nicht allein Folge der abgestorbenen Erregbarkeit der Nerven ist, sondern gleichzeitig auf einer tödlichen Veränderung der Muskel- substanz selbst beruht. Untersuchen wir zunächst die Erscheinungen und das Wesen der als Totenstarre bezeichneten Veränderung des Muskels, welche beiden histologischen Muskelarten, den quergestreiften wie den glatten, gemeinsam ist. Die Erscheinungen der Totenstarre, des rigor mortis, sind bei den quergestreiften Muskeln folgende: Die unmittelbar nach dem Tode leicht beweglichen Glieder werden nach einiger Zeit steif und setzen der Drehung in den Gelenken beträchtlichen Widerstand ent- gegen ; diese Steifheit hält längere Zeit an und verschwindet dann wieder allmählich. Wird während der Dauer der Starre, nach ihrer vollständigen Ausbildung, ein Glied gewaltsam gebeugt oder gestreckt, so bleibt es leicht beweglich. Die Ursache der Unbeweg- lichkeit der Glieder liegt in den Muskeln ; die Muskeln werden steif, leisten grofsen Widerstand gegen die Ausdehnung, fühlen sich derber, fester an; durchschneidet man die Muskeln einer Extremität vor dem Eintritt der Starre, so bleibt das Glied zwar beweglich, allein die durchschnittenen Muskeln werden nichtsdestoweniger starr. Der Rigor ergreift die Muskeln der verschiedenen Teile des Körpers in einer gewissen, ziemlich konstanten Reihenfolge; er beginnt in den Muskeln des Kopfes und Halses, geht am Rumpfe abwärts zunächst auf die Muskeln der oberen Extremitäten über, welche von oben nach unten, die einen nach den andern befallen werden, und ergreift § 82. TOTENSTAERE. 93 zuletzt die Muskeln der unteren Extremitäten. In derselben Ordnung in welcher er eingetreten ist, verläJ'st der Rigor die Muskeln wieder, verschwindet zuerst in denen des Kopfes, zuletzt in denen der Beine. Die Zeit des Eintrittes der Starre nach dem Tode und die Dauer derselben sind verschieden bei dem Menschen und den verschiedenen Tieren, aber wechseln auch bei verschiedenen Individuen in weiten Grenzen. Nach Nystens, Guentzs und Sommers' statistischen Beob- achtungen variiert die Eintrittszeit der Starre beim Menscheu zwischen lU Minuten und 7 Stunden nach dem Tode; über die Ursachen, Avelche den Eintritt beschleunigen oder verzögern, wissen wir so gut wie gar nichts, der zeitige Eintritt findet am häufigsten bei lange vor dem Tode völlig uuthätigen Muskeln (bei Typhusleichen z. B.) statt, nach andern Angaben sollen indessen auch lebenskräftige, vor dem Tode angestrengte Muskeln schnell der Starre anheimfallen. Die Dauer des Rigor schwankt zwischen 2 und 6 Tagen, er hält im allgemeinen um so länger an, je später nach dem Tode er die Muskeln befiel. Bei den verschiedenen Wirbeltierklassen trefi'en wir sehr verschiedene Verhältnisse in bezug auf Eintrittszeit und Dauer, am zeitigsten tritt die Starre bei den Vögeln, am spätesten bei den Amphibien ein, und hält bei letzteren auch nur sehr kurze Zeit an. "Wie bereits früher erwähnt, haben Stannius und Brown- SiiQUARD- gefunden, dafs auch Muskeln eines lebenden Tieres jeder- zeit in den Zustand der Totenstarre ver.setzt werden können, wenn man ihnen durch Unterbindung der zuführenden Arterien den Zu- flufs des ernährenden Blutes abschneidet, dafs man aber einige Zeit nach dem Eintritt der Starre die normale Beschafi'enheit des Muskels durch Lösung der Ligatur und Freigeben der Zirkulation Aviederher- zustellen vermag. Der erste Teil dieser Beobachtung ist an warra- blütio-en Tieren leicht zu bestätis-en, schwierio^er an kaltblütio:en, deren Muskeln erst nach mehrtägiger Absperrung des Blutes rigid werden und ihre Reizbarkeit verlieren. In betreff" des zweiten Teils der von Stannius und Brown-SiiIQUArd gemachten Angaben (s. o. p. 31) hat Kühne gezeigt, dafs dieselben nur eine sehr be- schränkte Gültigkeit besitzen und höchstens für einen gewissen niederen Grad von Starre zutreffend sind, bei welchem die Muskeln noch nicht alle Erregbarkeit für direkte Reize verloren haben. Bei vollkommen au.sgeprägtem Rigor und völliger Reaktionslosigkeit der Muskeln ist dagegen keine Restitution durch erneute Blutzufuhr weder bei Warm- noch bei Kaltblütern zu erzielen. Es gibt eine Anzahl von Substanzen, welche, in die Blutge- fäfse der' Muskeln injiziert, auf den Prozefs des Starr werdens einen 1 Nysten, Recherches de physinl. et de chimie pal/i. Paris 1817. — GUEKTZ, Der Leichvam d. Menschen in seinen pht/.i. Verwandt. 1. Th. Leipzig 1827. — SOMMER, De signis mortem hom. absolut, ante putredinis uccessum indic. H.ivniae 1833. - StanSIIS, Arcli. f. physiol. Heilk. 1852. Bd. XI. p. 1. — BkOWN-S^QUAKD, Cpi. rend. 1S51. T. XXXII. p. 855 u. 897. ' 94 TOTENSTARRE. § 82. besclileuuigeudeu Einfluls ausüben. Hierbin gebort das destillierte AV asser und eine Anzabl von Giften, unter letzteren nacb KoELLiKERs Versucben Veratrin und Blausäure, nacb Kussmaul^ und nacb Rankk'-^ aucb das bis zur tödlicben Wirkung eingeatmete Cbloroform, nacb Jon annsen und nacb Schmiedebbkru'' das Koffein. Unter den Kalisalzen, welcben vielfacb eine eigentümlicbe läbmende AVirkuug auf die kontraktile Substanz zugeschrieben wird"*, ist nur für das Rbodankalium von Bernard und Setschenow direkt be- hauptet Avorden, dal's es zur Entwickelung der Totenstarre beiträgt, und zwar namentlich dann, wenn es in unmittelbare Berührung mit den Muskeln kommt. Bringt man daher Rbodankalium unter die Haut eines Frosches, so findet man, wenn die Intoxikation vollstän- dig eingetreten ist, die den Lympbräunien zugekehrten Oberflächen der Muskeln rigid, die darunter befindlichen vor dem Zutritt des Giftes geschützten Fasern noch unverändert und reizbar, wie Setsche- now durch sorgfältige Versuche erwiesen bat. Weiter führen wir noch au, dafs der Eintritt des Rigor be- schleunigt wird durch exzessive Thätigkeit der Muskeln, anhaltenden Tetanus, sei es, dafs dieser durch anhaltende elektrische Reizung, sei es, dafs er durch die Wirkung gewisser später zu betrachtender Gifte : Strychnin, Opium, auf das Rückenmark hervorgebracht ist; der gleiche Einflufs, und zwar in sehr hohem Mafse, kommt ferner der Wärme zu, wenn sie über gewisse bei den verschiedenen Tier- gattungen Avechselnde Grade gesteigert wird; und endlich begegnet man auch Angaben^, welche dem motorischen Nerven einen direkten Einfluls auf die Entwickelung der Totenstarre zuschreiben. Die- selbe zeigt sich in Muskeln, deren Nerven zuvor dicht an der Eintritts- stelle durchschnitten worden sind, meist später als bei solchen, welche man mit mehr weniger langen Stücken ihrer Nerven in Zusammen- hang gelassen hat. Zum Verständnis des Wesens der Totenstarre ist eine genaue physikalisch-chemische Analyse der starren Muskeln er- forderlich; reicht unser Wissen in dieser Beziehung auch noch nicht zu einer sicheren Erkenntnis der Natur des fraglichen Phänomens aus, so gewährt es doch wenigstens allgemeine Aufschlüsse und unum.stöfslicbe Beweise gegen ältere einstmals gültig gewesene Theorien des Rigor (s. p. 96). Wegen des Unterschiedes, welcher mikroskopisch zwischen starrem und lebendem Muskelgewebe besteht, verweisen wir auf das früher (o. p. 8) gesagte. Die wesentliche physikalische Eigentümlich- keit des starren Muskels ist seine verminderte Ausdehnbarkeit, seine ' A. KUSSMAUL, Aldi. f. pathol. Anal. Bd. XUI. p. 2S9. 2 ,J. RANKE, Buchners Neues Repertor. f. d. Pliuiwacie. Bd. XVI. p. 374. 3 JOHANNSEN, Über d. Wirk, des Kaffein. üiss. Dorpat. 1869. — SCHMIEDEBERG, Über d. Verschiedenheit der Coffeinwirk. an Ranu lemporuria L. u. Rana e.iciilenta. L. Strafsburg 1873. * VrI- Ranke, Ai-ch. f. Amit. u. Phi/siol. 1864. — WeylAND, ECKHARDS Beitr. z. Anut. u. Phijsiol. Giefsen 1869—70. Bd. V. p. 43 u. 47. — BUCHHEIM u. Eisenmengek, ebenda, p. 75. 5 MUNK, Altgem. medicin. Centrulztg. 1860. p. 57 ; Arch. f. Phi/siol. 1880. p.l69. — v. ElSELS- BERG, Pfluegers Arch. 1881. Bd. XXIV. p. 229. — V. GENDRE, ebenda. 1884. Bd. XXXV. p 45. — Vgl. dagegen TAMASSIA, Rivista sperim. di freniatriu. 1882. § 82. TOTENSTAERE. 95 Mürbheit und Zerreifsbarkeit, von Wichtigkeit ferner zur ßeur- teilunof der Natur der Starre das bereits erörterte Aufhören der elektromotorischen "Wirksamkeit (oft nach vorausgegangener Ihnkehr der normalen Stromrichtung) beim Eintiitt derselben. In betreff der chemischen Veränderungen, welche den totenstarren Muskel kennzeichnen, hat man aus Kühnes Untersuchungen vielfach geschlossen, dafs die hauptsächlichste derselben in der Koagulation eines im Muskelplasma gelöst enthaltenen Eiweifs- körpers, des Myosins, besteht (s. o. p. 16). Der erste Teil dieses Satzes ist gewifs unanfechtbar, zumal ein ziemlich strenger Beweisgrund für seine Richtigkeit sich gewinnen läfst, wenn man die Gefäfse frisch getöteter Tiere zur Entfernung des Blutes mit verdünnten Zucker- oder Kochsalzlösungen (1%) ausspritzt und die blutleeren Muskeln sodann rasch und kräftig auspreist. Die trübe, neutral reagierende Flüssigkeit, vrelche man nach diesem von KüHNE^ angegebenen Verfahren erhält, M'ird zu derselben Zeit, wie ein nicht ausgeprefster Muskel, starr, setzt flockige, derbe Gerinnsel ab und nimmt saure Reaktion an. Es wird ferner die Koagulation des ausgeprefsten Albuminats ganz in derselben Weise durch äufsere Agenzien beeiuflufst, wie- die Starre des unversehrten Muskels. Wie diese, so tritt auch die Koagulation der ausgeprefsten Flüssigkeit bei Fröschen weit langsamer ein, als bei Säugetieren und Vögeln ; ebenso wie Froschmuskeln bei 0° viele Tage, ohne starr zu v/erden, aufbewahrt werden können, aber dann in der Wärme rasch erstarren, ebenso verhält es sich mit der Gerinnung der ausgeprefsten Flüssigkeit. Er- wärmt mau Froschmuskeln auf 40*^ C, so tritt die Starre augenblicklich ein ; ebenso setzt die Flüssigkeit bei dieser Temperatur augenblicklich dicke Flocken eines derben Gerinnsels ab. Dafs also innerhalb des lebenden Muskels ein Eiweifsstotf gelöst existiert, desseu Ausschei- dung im Tode die Totenstarre bedingt, kann kaum zweifelhaft er- scheinen. Als fraglich ist jedoch anzusehen, ob dieser gerinnungs- fähige Stoff Kühnes Myosin entspricht. Um dies zu erweisen, müfste vorerst entweder die Irrigkeit aller jener durch A. Schmidt und seine Schüler gesammelten Erfahrungen dargethan werden, denen zufolge die Totenstarre die Bedeutung eines Fermentationsvorgaugs besitzt, bei welchem ein gelöster Eiweifskörper nach Analogie der fibrinogenen Substanz des Blutes kraft eines besonderen Ferments und zwar des auch im Muskel erweislich vorhandenen Fibrinferments (s. o. p. 18) in einen unlöslichen verwandelt wird, oder gezeigt werden, dafs auch das Myosin durch Fibrinferment aus seinen Lösungen ausfällt. Keine von beiden Forderungen ist zur Zeit erfüllt. Der Totenstarre nahe verwandt, vielleicht nur eine stärker ausgebildete Form derselben, ist die sogenannte Wärme starre, d. h. ein mit völligem Verlust der Erregbarkeit verbundener Starrezustand, in welchen der Muskel bei * KÜHNE, ilonutsher. d. l;'jl. preujs. Akad. d. WUs. zu Berlin. 1859. p. 493. 96 TOTENSTARRE. § 82. Eimvirktnig höherer Temperaturgrade gerät. Setzt man einen bereits toten- starren Muskel einer Temi^eratur von 45 — 55 " C. aus, so wird derselbe härter und undurchsiehtiger , als er bereits vorher war, ebenso verhält sich ein Muskel, welcher durch eine Temperatur von 40*^ C. totenstarr gemacht war. Die Temperatur, bei welcher die Wärmestarre eintritt, ist etwas verschieden bei Muskeln verschiedener Tiere, sie liegt nach Kühne für Froschmuskeln bei 45 '^ C, für Säugetiermuskeln bei 50 ", für Taubenmuskeln bei 53 ". Dafs auch diese Wärmestarre durch Koagulation von Albuminaten, welche bei dem spon- tanen Eintritt der Totenstarre oder bei der Temperatur von 40 " noch gelöst im Muskel bleiben, bedingt ist, ergibt sich unmittelbar aus dem schon früher (s. o. p. 17) geschilderten Verhalten des Muskelserums bei der Erwärmung. Eine zweite wesentliche chemisclie Veränderung des Muskels, welche sich zwar nicht mit dem Beginne der Starre, aber in ihren späteren Stadien hemerklich macht, ist die von Du Bois-Reymond nachgewiesene, bereits an einem andren Orte (s. o. p. 20) be- sprochene Thatsache, dafs die neutrale Reaktion des Muskels durch BilduDg freier Milchsäure in eine saure übergeht. Hiermit schliefsen aber auch unsre Kenntnisse über die bei der Totenstarre ablaufenden chemischen Prozesse ab. Die wichtigen Fragen, welche chemischen Vorgänge primär den Koagulationsprozefs und die Säuerung des Muskelserums bewirken, welche Konstitution der gerinnenden Substanz zukommt, und welche morphologische Bedeutung dieselbe besitzt, müssen vor der Hand noch unbeantwortet bleiben. Bei den glatten Muskeln ist der rigor mortis weniger deutlich ausgesprochen, seine Erscheinungen aber auch noch weniger genau beobachtet; die bedingenden Ursachen desselben werden indessen vermutlich keine andern als die für die quergestreifte Muskulatur ermittelten sein. In älterer Zeit war man allgemein geneigt, die Starre des Muskels als das Resultat einer lebendigen Kontraktion desselben, oder wenigstens eines derselben nahe verwandten Zustandes zu betrachten. Es genügt darauf hinzu- weisen, dafs die physikalischen Eigenschaften des starren Muskels denjenigen des -kontrahierten geradezu entgegengesetzt sind, um dieser Anschauung jeden Boden zu entziehen. Während die Elastizität des ersteren vermehrt ist, ist diejenige des letzteren vermindert, der starre Muskel besitzt kein elektro- motorisches Vermögen, der kontrahierte dasjenige des ruhenden Muskels. Eine Identität oder nur Verwandtschaft beider Zustände ist mithin völlig unmöglich. Orfila, welchem sich andre Physiologen, so auch J. Mceller ^, an- schlössen, leitete die Starre von der Gerinnung des Blutes in den Gefäfsen des Muskels ab. Indessen wissen wir erstens durch Sommer, dafs die Starre sich auch häufig vor dem Eintritt der Blutgerinnung ausbilden kann, können uns ferner leicht davon überzeugen, dafs andre nicht weniger blutreiche Organe als der Muskel keine der Starre entsprechende Erscheinung darbieten, und ver- mögen endlich nachzuweisen, dafs die Starre auch an solchen Muskeln eintritt, welche durch Ausspritzen ihrer Blutgefäfse vollkommen blutleer ge- macht worden sind. Der erste, welcher die Starre auf die Gerinnung eines im Muskelrohre selbst enthaltenen Stoffes zurückzuführen versuchte, war Bruecke.- Stützen für seine Ansicht lieferten ihm die mannigfachen Analogien, welche zwischen dem Phänomen der Blutgerinnung und dem des rigor mortis bestehen. 1 J. MUELLER, Hdbch. d. Physwl. d. ilennchen. Coblenz 1844. Bd. H. p. 43 ^ Bruecke, Arch. f. Anat. u. Phyxiol. 1842. p. 178. § 82. LEISTUNGSFÄHIGKEIT DES MUSKELS. 97 und unter welchen]^ er namentlicli folgende hervorhob : Das Blut gerinnt zu einer Gallerte, sobald gewisse unbekannte Lebensbedingungen, welche nur im kreisenden Blute erfüllt sind, aufhören ; die Gerinnung in den Muskeln tritt ein, wenn sie ihre Lebeuseigenschaften , die Kontraktionstähigkeit, verlieren. Blut und Muskelsubstanz gerinnen beide ohne jede Volumenveräuderung ; der geronnene Blutkuchen kontrahiert sich, die häufig bei der Starre eintretenden Bewegungen der Glieder (Louis) lassen sich aus einer Verdichtung des Muskel- koagulums erklären; der sich kontrahierende Blutkuchen prefst Serum aus, in späteren Stadien sammelt sich in queren Einschnitten des Muskels ebenfalls Flüssigkeit an ; beginnende Fäulnis erweicht den festen Blutkuchen, die Lösung der Totenstarre ist ebenfalls entschieden Folge der eintretenden Sepsis. Alle diese von Bruecke vorgebrachten Analogien, zu denen sich jetzt noch andre hin zufügen liefsen, machten jedenfalls in hohem Grade wahrscheinlich, dafs die Totenstarre eine der Blutgerinnung analoge Vei-änderung der Muskelsubstanz sei ; allein bei aller Wahrscheinlichkeit war diese Ansicht doch eben nur eine Hypothese und mufste eine solche bleiben, solange die Gegenwart eines sjiontan koagulierbaren, dem Blutfibrin in dieser Hinsicht gleichenden Allmminats im lebenden Muskel und die Koinzidenz der Koagulation desselben mit dem Ein- tritt der Starre nicht direkt erwiesen war. Bruecke nahm an, dafs das Muskel- gewebe aus „organisiertem Faserstoff", und zwar direkt aus Blntfibrin, welches zu diesem Behuf aus dem Blute in den Muskel transsudiere, entstehe, die Starre demnach durch die Gerinnung des zwischen den organisierten Fibrillen befind- lichen vorrätigen, noch flüssigen Faserstoffs bedingt sei. Abgesehen von der nicht erwiesenen Identität zwischen Blut- und Muskelfaserstoff imd eines di- rekten Übergangs des einen in den andren, liefs sich entgegenhalten, dafs Brueckes eigne Versuche, durch Auspressen lebender Muskeln das gerinnbare Albuminat derselben darzustellen, stets gescheitert waren, wenn wir freilieh jetzt auch wissen, dafs Bruecke recht hatte, als er das Mifslingen dieses Be- weises aus der während der Operation des Fressens eintretenden Gerinnung erklärte. Wir haben gesehen, dafs Kühne diese Lücke ausgefüllt und die prinzipielle Richtigkeit der BRUECKESchen Theorie aufser Zweifel gesetzt hat. In der Eeihe äiifserer Eiuflüs.se, welche auf die Leistung.sfähig- keit des Muskels bestimmend einwirken können, gebührt ebenso wie in Hinsicht des Nerven dem elektrischen Strome eine hervor- ragende Stellung. Die Art und AVeise, wie derselbe die musku- läre Leistungsfähigkeit verändert, ist durch v. Bezold^ näher untei'- sucht worden. Er prüfte zunächst die Veränderung der Erregbarkeit der vom Strome selbst durchflo.ssenen intrapolaren Muskelstrecke nach dem- selben Prinzip, nach welchem Pflueger die totale Erregbarkeit der intrapolaren Xervenstrecke ermittelt hat (s. Bd. I. p. 636). Der ganze (mit Curare vergiftete) Muskel wurde zwischen zwei Elektroden ein- geschaltet, welche gleichzeitig den polarisierenden konstanten Strom und den reizenden Schliefsuugsinduktionsschlag zuführen konnten, so dafs sich der letztere einmal durch den Muskel ergofs, Avährend sich dieser bei Ausschaltung des Kettenstromes im natürlichen Zustand befand, und uhmittelbar darauf, während er von einem gleich oder entgegengesetzt gerichteten Kettenstrome von bestimmter Dichtigkeit durchflössen wurde, die Induktionsschwankung sich also im IMu.skel einmal von der Dichtigkeit 0 aus , das zweite Mal von der be- ' V. Bezolu, Unters, üb. d. elektr. Krreijunj d. Sciren u. Muskeln. Leipzi;.r ISGl. Gruenhagex, Physiologie. 7. Aufl. II. < 98 LEISTUx\GSFÄHIGKP]lT DES MUSKELS. § 82. stimmten , durch die Stärke des polarisierenden Stromes gegebeneu Diclitigkeitsgröi'se erhob. Die Gröfse der vom Muskel am Myographion verzeichneten Zuckung diente als Mafs der Erregbarkeit. Es ergab sich, dal's durch den Muskel geleitete konstante Ströme, solange sie eine gewisse Dichtigkeit nicht überschreiten, die Er- regbarkeit der durchflossenen Strecke erhöhen, bei gröl'serer Dichtigkeit herabsetzen. Die erhöhende Wirkung nimmt bis zu einer gewissen Grenze mit der wachsenden Stromstärke nnd Schlielsungsdauer zu, jenseits denselben mit Zunahme dieser beiden Veränderlichen ab. Dieser Wendepunkt tritt früher ein, wenn der ])olarisiereude Strom dem erregenden entgegengesetzt ge- richtet ist, als wenjj^ beide gleich gerichtet sind. In den exti-a- polaren, vor und hintei' der vom konstanten Strom durchflossenen Strecke liegenden Muskelpartien zeigte sich keine Veränderung der Erregbarkeit. Eine direkte Bestimmung des Verhaltens der partiellen Erregbarkeit der intrapolaren Muskelstrecke ist durch V. Bezold nicht ausgefühi't worden. Derselbe schliefst indessen aus der Analogie mit dem Nerven, dafs auch die intrapolare Muskel- strecke unter dem Einflufs des konstanten Stromes in zwei Zonen zerfällt, in eine an die negative Elektrode grenzende Zone erhöhter Erregbarkeit und eine an die positive Elektrode grenzende Zone herabgesetzter Erregbarkeit, beide getrennt durch einen Querschnitt unveränderter Erregbarkeit, einen Indiiferenzpunkt, welcher mit der Zunahme der Stromstärke und Schliefsungsdauer vom positiven gegen den negativen Pol hin wandert und dadurch die beschriebene Ände- rung der totalen Erregbarkeit hervorbringt, wie dies beim Nerven ausführlich erörtert worden ist. Die strenge Begrenzung der Erregbarkeitsänderung im polarisierten Zu- stand auf die intrapolare Strecke hat wahrscheinlich einen rein physikalischen Grund, darin bestehend, dafs die Muskeln zu derjenigen Art feuchter Leiter (s. Bd. I. p. 556) gehören, bei welchen es zur Bildung elektrotonoider Stronischleifen zur Seite des ihnen zugeführten Stromes nicht kommt, und bei welchen also der elektrische Strom ausschliefslich auf die intrapolare Strecke beschränkt bleibt. Die Annahme , dafs die fragliche Thatsache durch eine physiologische Differenz von Nerven- und Muskelmaterie bedingt sei, deren erstere im Gegen- satz zu letzterer allein befähigt sei, den intrapolar erzeugten elektrotonischen Zustand extrapolar fortzupflanzen, entbehrt jeder Begründung. Auf eine zweite die Leistungsfähigkeit des Muskels betreffende Wirkung des konstanten Stromes hat Heidenhain ^ aufmerksam ge- macht, welcher fand, dafs die dui'ch Ermüdung verloren gegan- gene Reaktionsfähigkeit des Muskels gegen Reize dadurch wiederhergestellt werden kann, dafs man einen konstanten Strom längere Zeit durch seine Substanz leitet. Die nähe- ren Data sind folgende: Hat man einen ausgeschnittenen Muskel durch anhaltendes Tetanisieren mit Induktionsschlägen, oder durch ' R. Heidenhain, ilonatsher. a. k;/l. preufs. Akad. d. Wiss. zu Berlin. 1856. p. 129, u. Physinl. Studien. Berlin 185G. p. 55. § 82. LEISTUNGSFÄHIGKEIT DES MUSKELS, 99 längeres Eintauchen in Avarmes AVasser, oder durcli anhaltende Deh- nung mittels starker Belastungen „seiner Leistungsfähigkeit so weit beraubt, dals er weder auf Schliefsung und Öffnung einer Daniell- schen Batterie von 25 Elementen, noch auf die stärksten Schläge des Magnetelektromotors mit einer leisen Spur von Zuckung ant- wortet, so erlangt er seine verlorene Leistungsfähigkeit in geringerem oder gröfserem Mafse wieder, wenn er kürzere oder längere Zeit von dem Strome der oben bezeichneten Batterie in ab- oder aufsteigender B,ichtung durchflössen worden ist." Die restituierte Leistungsfähig- keit äufsert sich in der Weise, dafs der Muskel bei der Öffnung des restituierenden konstauten Stromes wieder zuckt, ebenso bei der Schliefsung, aber nicht bei der Öffnung eines gleich starken Stromes von entgegengesetzter Richtung, und drittens bei der Ein- wirkung der Liduktionsschläge des Magnetelektromotors. Je länger der konstante Strom geschlossen war, desto stärker fallen die wieder erwachten Zuckungen aus. Die Restitvition der Leistungsfähigkeit ist jedoch keine anhaltende; letztere vergeht nach der Öffnung sehr schnell wieder. Hat man den Strom längere Zeit durch den Muskel geleitet, so erhält man eine starke ()ffnungszuckung, schliefst man dann nach einer Pause denselben Strom aufs neue und öffnet ihn momentan darauf wieder, so erhält man wieder eine schwache Öffnungszuckuug, welche ausbleibt, wenn der Strom das erste Mal nur kurze Zeit geschlossen, oder die Pause vor der zweiten momen- tanen SchlieCsung zu lang ausgedehnt Avar. Die Restitution der Leistungsfähigkeit kann durch wiedeiholte Schliefsung des konstanten Stromes sehr oft an demselben Muskel wiederholt werden: es macht sich aber das allmähliche Absterben des aus dem Organismus ent- fernten Muskels insofern geltend, als die Restitution immer unvoll- kommener, die Offuungszuckung nach jeder neuen Schliefsung von gleicher Dauer immer schwächer ausfällt. Die restituierende Wir- samkeit des auf- und absteigenden Stromes ist verschieden; ceteris 2Mrihus wirkt der aufsteigende Strom schneller und kräftiger als der absteigende; bei öfterer Wiederholung der Restitution an demselben Muskel erlischt endlich die AVirkamkeit des absteigenden Stromes, während der aufsteigende noch wirksam ist. Weiter beobachtete Heiuenhaix, dafs die Wiederherstellung im Sinne des NoBiLischen Zuckungsgesetzes erfolgt, d.h. wie nach Nobim mit der allmählich sinkenden Erregbarkeit des sich selbst iiberlassenen ausgeschnittenen Nervmuskelpräparates die Offnungs- und Schliefsungszuckungen des auf- und ab- steigenden Stromes in einer gewissen, früher (Bd. I p. 6'25) erläuterten Reihenfolge verschwinden, so stellen sich bei Steigerung der Erregbarkeit des Muskels durch wachsende Schliefsungsdauer des konstanten auf- oder absteigenden Stromes die Zuckungen in der entgegengesetzten Reihenfolge ein. Um dies zu beweisen, setzte Heidenhain den Muskel abwechselnd auf gleich lange Zeit auf- und absteigenden Strömen aus und steigerte allmählich die Schliefsungsdauer. Wie nach Nobilis Gesetz in der letzten niedrigsten Erregbarkeitsstufe nur die Schliefsungszuckung des absteigenden Stromes übrig bleibt, so tritt auch diese Zuckung zuerst, nach der kürzesten Schliefsung: der konstanten Ströme, also nach der unvollkommen- jOO LEISTUNGSFÄHIGKEIT DES MUSKELS. §82. steu Iveytitulion der Erregbarkeit wieder ein. Weiter tritt dem Gesetze ent- sprechend die Ütfnungszuckung des aufsteigenden Stromes, sodann die Scliliefsungszucknng des absteigenden Stromes, sodann die Öffnungszuckung des absteigenden, endlich die Schlielsungszuckung des aufsteigenden Stromes ein, so dafs zuletzt alle vier Zuckungen wie in Nobilis erster Erregbarkeitsstufe vorhanden sind. Wenn Heidenhaix von häufigen Unregehnäfsigkeiten spricht, welche sich hierbei, wie bei der Prüfung des Nerveuzuckuugsgesetzes zeigen, so wissen wir jetzt, dafs wir den Grund derselben in den gleichen Momenten, wie die Ursache der früheren W^idersprüche über das Zuckungsgesetz , vor allem in Nichtbeaclitung der Stromstärke zu suchen haben. AVas nun die Erklärung der von Heidenhain beobachteten Thatsaclien betrifft, so handelt es sich, wie Rosenthal^ richtig an- gibt, nicht um eine Wiederherstellung völlig erloschener Erregbarkeit, wie Heiden HAIN glaubte, sondern nui- um eine Modifikation der auf ein Minimum herabgesunkenen Erregbarkeit, und zwar offenbar um dieselbe Art von Erregbarkeitsmodifikatiouen, welche auch der Nerv unter ähnlichen Verhältnissen wahrnehmen läfst, und welche wir für diesen auf die polaren Nachwirkungen des konstanten Stromes zurückgeführt haben (s. Bd. I. ]). 643). Die Anodenregion gerät nach Oflfnung eines solchen im Mu.skel wie im Nerven in einen Zu- stand erhöhter Erregbarkeit, so kommt es zur (jffnungszuckung des restituierenden Stromes, und wird ferner aus dem gleichen Anlasse von jedem neuen Reize leichter angesprochen, daher die Schliefsungs- zuckung bei Umkehrung der ursprünglichen Stromriohtuug, wenn also die frühere Anodenregion dem Einflüsse dei' Kathode, d. h. der Er- regungsw'irkung des Katelektrotonus verfällt. Von den alternierenden Strömen eines Induktionsapparates , bei deren schnellem zeitlichen Verlauf überhaupt nur die wirkungsfähigeren Schliefsungsreize an der Kathode (s. Bd. I. p. 592) zur (jeltung gelangen können, v/ird aber notwendig immer der eine oder der andre sich im Falle des umgekehrten konstanten Stromes befinden, und so erklärt sich die scheinbare Wiederlebung für Induktionsreizung im allgemeinen. Nachwirkungen von entsprechender Beschaffenheit, d. h. an- dauernde Erregungen, hinterlassen aufser dem konstanten Strome aber auch kurzdauernde Induktionsströme'^, ja vielleicht selbst die- jenigen Erregungen, welche durch die Muskelnerven übermittelt werden, und hier wie dort resultieren daraus Erscheinungen, welche man am besten zusammeufafst unter dem Namen der Erregungs- summationen und wohl unterscheiden mufs von den uns schon bekannten Zuckungssummationen (s. o. p. 72). Das wesentliche Merkmal aller hierhergehörigen Fälle ist, dafs der gleiche submaximale Reiz, wenn er nach Ablauf eines kurzen Zeitintervalls von übrigens inkonsteinter Gröfse zum zweiten Male den Muskel entweder direkt oder indirekt bei Reizung; der motorischen Nerven trifft, eine stärkere » 1. Rosenthal, Ztschr. f. rat. Med. HI. R. 1858. Bd. IV. p. 117. '•^ Vp:l. V. KRIES U. SEWÄlI., Arcli. f. P/il/.liol. 1881. p. 66. — KUONECKEU u. Stirling, ebenda. 1879. p. 1. — BOHK, ebenda. 1882. p. 233. §82. LEISTUNGSFÄHIGKEIT DES MUSKELS. 101 Verkürziiüg iils das erste Mal erzielt. Wie es scheint, ist der erste ßeiz auch ersetzbar durch gewisse reizend wirkende Chemikalien und zwar speziell Natronsalze, welche letzteren die Empfindlichkeit der von ihnen durchtränkten Muskelpartien gegen die Polwii'kungen elektrischer Ströme zunächst ungemein zu steigern vermögen.^ Dal's andre chemische Reizmittel, die Kalisalze und die Säuren, unge- achtet ihrer erregenden Kraft gerade umgekehrt einen dej^rimiereuden Einflufs auf die Erregbarkeit der mit ihnen benetzten Muskelpartie ausüben, beruht vermutlich auf der Konkurrenz andrer Umstände, deren bereits früher von uns gedacht worden ist (s. o. p. 78). Früher oder später vernichtet freilich jedes chemische Agens, welches, mit dem Muskel in Berührung gebracht, die Substanz desselben ver- ändert, auch die Leistungsfähigkeit desselben, und v\^ie hinzugefügt werden mufs, gleichzeitig diejenige der motorischen Nervenenden. In bezug auf den letzteren Punkt soll zwar die Möglichkeit nicht geleugnet werden, dafs es Stoffe geben möchte, welche den Nerven chemisch intakt und daher leistungsfähig erhalten, nur dem Muskel seine physiologische Konstitution und damit seine Reaktionsfähigkeit rauben; mit welchen Schwierigkeiten aber der Beweis für einen solchen spezifischen Wirkungsunterschied verknüpft ist, und wie un- sicher daher die Begründung aller Angaben über spezifische Muskelgifte ausfallen mufs, folgt unmittelbar aus den Erwägungen des vorigen Paragraphen. Eine chemische Substanz, welche um- gekehrt die Kontraktionsfähigkeit allein erhält oder hebt, kann Aviederum nicht wohl existieren ; denn dies zu leisten vermag nur eine chemische Mischung, das arterielle Blut des lebenden Or- ganismus, und auch dieses nur unter der Bedingung der stetigen Erneuerung. Als Aveseutlicher Unterhalter des Muskellebens ist unter den Blutelementen aufser den Stoffen, welche direkt zur Um- bildung in Mukelsubstauz verwendet werden, der Sauerstoff zu bezeichnen, Avahrscheinlich weil er eben bei dieser Umbildung eine unentbehrliche Bolle spielt. Ludwig und A. Schmidt^ haben durch Versuche erwiesen, dafs ausgeschnittene und infolge irgend welcher Ursachen erschöpfte Muskeln bei Durchleitung defibrinierten, sauerstoffhaltigen Blutes durch ihre Gefäfse einen erheblichen Teil ihrer Leistungsfähigkeit wiedererlangen, und nach Kronecker^ kann sogar indifferenten Kochsalzlösungen die gleiche erfrischende Kraft erteilt werden, wenn man in ihnen gewisse anorganische Salze (übermangansaures Kali) auf- löst, welche ihren 0 leicht an oxydable Substanzen abgeben. Aller- dings ist betreffs der zuzweit erwähnten Versuche hinzuzufügen, dafs dieselben aus bisher unbekannt ffebliebeneu Gründen keineswegs 1 Biedermann, Wiener Stzher. Math.-ntw. Cl. HI. Abth. 1879. Bd. LXXX. p. 3G7. 2 Ludwig u. A. Sohmidt, Arh. «. d. pht/siol. Anstalt zu Leipzi'j. J.ihrg. 1863. p. 1. ^ Kkonecker, ebenda. Jahrgr. 1871. p. 177. 102 LEISTUNGSFÄHIGKEIT DES MrSKP]LS. §82. ausnahmslos geÜDgen. Die älteren Angaben G. v. Liebigs^, wonach es schon genügen sollte, ausgeschnittene ]\Iuskelu mit einer Atmos- phäre von 0 zu umgeben, um zu erkennen, dafs dieselben sich in diesem Gase auf einen Reiz von bestimmter Gröfse lebhafter und kräftiger zusammenziehen als in CO.,-, N- oder H- Atmosphären, sind als widerlegt anzusehen.^' Das Wichtigste über den Einflul's verschiedener Temperatur- grade auf die Leistungsfähigkeit des Muskels ist in dem enthalten, was über die erregende Wirkung niederer oder hoher Wärmegrade und über die Beziehungen gesagt wurde, welche zwischen der Temperatur des Muskels zu seinem elektrischen Vermögen und zur Wärmestarre bestehen (s. o. p. 34 und 95). Des verderblichen Einflusses mechanischer Beleidigungen wurde ebenfalls bei Er- örterung der sogenannten idiomuskulären Kontraktion gedacht. Die tägliche Erfahrung am lebenden Körper und die Versuche am ausgeschnittenen Muskel lehren, dafs derselbe durch die Thätig- keit selbst ermüdet, seine Leistungsfähigkeit durch die Thätigkeit herabgesetzt wird, umsomehr, je intensiver und anhaltender dieselbe war, weniger bei dem im lebenden Körper befindlichen als bei dem ausgeschnittenen Muskel. Zum Teil beruht die Ermüdung gewifs auf verminderter Reizbarkeit des motorischen Nerven, aber wegen der uns bereits bekannt gewordenen (s. Bd. I. p. 527) grofsen Ausdauer, welche dieselben auch sehr lange anhaltenden Erregungen gegenüber bekunden, nur zum kleinsten Teil. Die hauptsächlichste Ursache der Muskelermüdung ist jedenfalls im Muskel selbst zu suchen und zwar in seiner durch die Thätigkeit bedingten stofflichen Veränderung, als deren untrügliche Anzeichen wir die allmähliche Abnahme seiner elektromotorischen Kraft, die früher besprochene Modifikation seiner Elastizität und seiner chemischen Konstitution sowohl während der Thätigkeit als auch im Zustande der Ermüdung anzusehen haben. Das Auftreten freier Säure infolge der Muskel- thätigkeit und ihre dem Grade der Muskelaustrengung proportionale Zunahme (Heidenhain) lassen keinen Zweifel übrig, dafs die lebendige Aktion des Muskels notwendig Mischungsänderungen be- dingt, welche rückwärts ihrer Intensität entsprechend die an eine bestimmte normale Mischung gebundene Leistungsfähigkeit des Muskels herabsetzen. Die erholende Wirkung der Ruhe beruht auf der Ausgleichung dieser Mischuugsänderungen und der damit parallel gehenden physikalischen Alterationen; vollständig vermag nur das kreisende arterielle Blut die Muskelkonstitutiou in integrum zu restituieren. Rankes ^ Ansicht, dafs die Ermüdung wesentlich durch ' G. V. Liebig, Arck. f. Anat. u. Plii/siot. 1850. p. S93. - L. HkrMANN, Unters, üb. d. Stoffwechsel d. Muskeln etc. Berlin 1S67. p. 28 u. ffr. ä J. Ra.\KK, Tetanux. Leipzig 1865; Arc/i. f. Anat. u. P/ii/siol. 1863. p. 422; 1864. p. 320; C'tihl. f. d. med. Wiss. 1865. p. 18 u. 577. — Vgl. dagegen U. ROEBER, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1870. p. 615. — KRONKCKER, a. .a. O. p. 19S, u. Meuunowicz, Ber. d. kgl. süchs. Ges. d. Wiss. Math.-iitw. (1. 1875. p. 297. § 83. MUSKELARBEIT. 103 die Anhäufung von Zersetzungsprodukten des tliätig gewesenen Muskels, durch die blofse Gegenwart derselben bedingt sei und demnach auch durch Ausspülung der Muskelkapillaren mit indifferenten Kochsalz- lösungen absolut beseitigt wercien könne, beruht auf sehr fraglicher Unterlage. Der Grad einer nach wiederholten Reizungen eintretenden Muskelermüduug, gleichviel ob dieselben Reihen von Einzelzuckuugeu oder anhaltenden Tetanus auslösen, ist nach Kronecker ^ allein von der Frequenz der Reizungen abhängig, unabhängig aber innerhalb gewisser Grenzen von der Gröfse der Widerstände, welche der Muskel während seiner Verkürzung zu überwinden hat, d. h. also von der Gröfse der Arbeit, welche derselbe bei jeder einzelnen Kontraktion leistet. VON DER ARBEIT DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. § <^3- Der Muskel leistet dadurch, dals er bei seiner Verkürzung ein ihn belastendes Gewicht auf eine bestimmte Höhe zu heben vermag, eine Arbeit im Sinne der Mechanik; in der mannigfachsten Ver- Avendung dieser Arbeit besteht die Aufgabe der j\[uskeln im lebenden Körper. Die Gröfse der von einem Muskel zu leistenden Arbeit hängt nach bekannten Prinzipien ab von der Gröfse des Gewichts, welches derselbe zu heben vermag, von der Höhe, bis zu welcher er es heben kann , und von der Zeit, welche er dazu beansprucht, mit andern Worten davon, wie oft er in gegebener Zeit ein be- stimmtes Gewicht zu einer bestimmten Höhe erheben kann. Alle diese einzelnen Faktoren der Muskelarbeit hängen selbst wieder von andern Momenten, von der Länge der Fasern, von dem Querschnitt des Muskels, seinem Ermüdungszustand in einer zuerst durch Ed. Weber festgestellten gesetzmäfsigen Weise ab; nur einer der Fak- toren, die Zeit, hat noch nicht in genügender Schärfe mit in Rechnung gebracht werden können. Jeder Muskel ist aller möglichen Grade der Verkürzung bis zu eiuem gewissen Maximum, welches er auch bei der gröfsten Leistungsfähigkeit und intensivsten Erregung nicht überschreiten kann, fähig und kann, wie die Beobachtung unsrer Glieder lehrt, in jedem Verkürzungsgrad längere Zeit verharren. Kein Muskel kann bei seiner natürlichen Befestigung am Körper das Maximum seiner Verkürzung erreichen, die gröfstmögliche Verkürzung beträgt immer nur einen kleinen Bruchteil des Maximums, welches der freie aus- geschnittene Muskel erreichen kann. Die Ursache dieser für die Bewegungsmechanik aufserordentlich wichtigen Beschränkung liegt in dem Umstand, dafs die Enden der Muskeln (unmittelbar oder ' KrOXECKEK, n. a. U 11. Arc/i. f. rhiisiol. 1880 p. 4:^8. 104 MI'SKK1.ARI5KIT. §83. mittelbar duicli Seliiicu) überall sich ualie um Hypoiuocliliou der durch sie zu bewegenden Hebel ansetzen, so dafs schon eine geringe Verkürzung das Maximum der Drehung, welches die Einrichtung der Gelenke gestattet, bewirkt.^ Die grofse Exkursion des I'nterarms bei dem l'bergange aus der gröfsten Beugung iu die gröfste Streckung wird durch eine relativ sehr kleine Verkürzung des musc. triceps hrachii hervorgebracht. Der ausgeschnittene Muskel erreicht bei vollkommener Leistungsfähigkeit das mögliche Maximum der Verkürzung, wenn erstens der erregende Reiz die hinlängliche Stärke besitzt und zweitens, wenn der Verkürzung kein erheblicher AViderstand entgegensteht. Ed. WEBPm ^ hat zuerst dieses Maximum an vertikal vor einer Skala aufgehängten Froschmuskeln, welche er durch den magnetoelektrischen Rotationsapparat iu Tetanus versetzte, gemessen und bewiesen, dafs alle früheren Angaben über diese Gröfse bei weitem zu niedrig sind. Der geringe AViderstand, welchen das eigne Gewicht des Muskels bei vertikaler Aufhängung der A^er- kürzung entgegensetzt, scheint dieselbe in keiner merklichen AV'eise zu beeinträchtigen, nach Valentin soll sogar eine geringe Belastung des Muskels (die auch AVeber verw^endete, da zur genauen Alessung nach seiner Methode eine gewisse Spannung erforderlich war) die Verkürzungsgröfse erhöhen. Selbstverständlich sind die in Rede stehenden AVerte sicherer und bequemer mit Hilfe der viel- besprochenen graphischen Methoden zu bestimmen. AVebers zahlreiche Messungen haben zu folgenden Resultaten geführt: Die Gröfse der möglichen Verkürzung ist (aufser von der Leistungsfähigkeit) lediglich von der Länge der Aluskel- fasern abhängig, nicht von der Zahl der Fasern, also dem Quer- schnitt des Muskels. Zwei gleichlange Muskeln zeigen annähernd dasselbe Verkürzungsmaximum, auch wenn der eine einen zehnmal gröfseren Querschnitt besitzt; zwei Aluskeln von sehr verschiedener Länge geben sehr verschiedene absolute Zahlen für die fragliche Gröfse, aber dieselben oder ziemlich gleiche relative, auf die Länge bezogene AVerte. Man drückt demnach die Verkürzungsgröfse in Prozenten der Länge aus. Bei zwölf Froschmuskeln [musc. Jiyoglossus) schwankte ihr Maximum zwischen 65 und 85 % der Länge, das Mittel betrug 72 7", also fast V* der Länge. Die erwähnten aufserordentlich hohen Yerkürzungsgröfsen erreicht der Muskel nur bei dauernder tetanischer Kontraktion, also einer Reihe inein- ander verschmolzener und sich untereinander summierender (s. o. p. 72) Zuckungen, nicht bei einer einfachen elementaren Zuckung, und verharrt auch keineswegs trotz andauernder elektrischer Reizung auf dem ei-langten Kontrak- tionsmaximum, sondern beginnt sich alsbald wieder zu verlängern, anfangs mit beschleunigter, dann aber mit immer mehr verzögerter Geschwindigkeit. Weber setzte bei einem Muskel von 42,1mm Länge die Reizung 476 Sek. fort; der- selbe verkürzte sich in den ersten 9 Sek. bis auf 19,7 mm, verlängerte sich so- ' Ed. Webek, R. WAGNERS Hdwörth. d. Phniol. Bd. UI. Abth. 2. p. 70 u. fg. § 8;-]. YEEKÜEZUNGSGRÖSSE QUEEGESTREIFTER MUSKELN. 105 dann bis zur 45. Sek. mit steigender Gescliwindigkeit, so dafs die Zeit, welche er zur Verlängerung um 1 mm brauchte, von 8 Sek. auf 3 Sek. fiel, von da ab bis zum Ende des Versuches mit beträchtlich abnehmender Geschwindigkeit, so dafs schliefslich während der Verlängerung um 1mm 126 Sek. verflossen; selbst nach 476 Sek. hatte der Muskel seine natürliche Länge, wie er sie im unthätigen Zustande besafs und nach Unterbrechung der Reizung augenblicklich wieder annahm, noch nicht erreicht. Es läfst sich nach Webers Zahlen zur besseren Veranschaulichung dieser Verhältnisse leicht eine Kurve auf die Zeit als Abscissenachse bezogen konstruieren, deren Vei'lauf sich nach dem Gesagten nicht sfleichmäfsio- gestalten kann, sondern mit einer steilen Ansteigung Itis zur 9. Sek. beginnen, darauf einen relativ jähen Abfall erfahren und endlich eine sehr allmählich zunehmende Senkung erkennen lassen wird. Genauer analysiert ist bisher nur der erste von dem noch unermiideten Muskel entworfene Abschnitt der Tetanuskurve. Dieser Kurventeil besitzt in reinen Fällen die mathematischen Eigenschaften einer Hyperbel.^ Ist der Muskel bei anhaltender ßeizunsf infolsre der zunehmen - den Ermüdung, trotz der fortdauernden Thätigkeit, ziemlich bis zur ursprünglichen Länge vom Verkürzungsmaximum zurückgekehrt, so erholt er sich durch Ruhe einigermal'sen wieder, so dafs er nach einiger Zeit auf erneute Reizung sich wieder verkürzt, wenn er auch das vorhergehende Maximum nicht wieder erreicht, um so weniger, je gröfser die Erschöpfung, je öfter die Anstrengung schon wiederholt war. Nur im lebenden Körper ist unter den erörterten Bedingungen die Erholung vollständig. Nachdem wir somit die Maximalgröfse der Verkürzung, wenn derselben kein Widerstand geleistet wird, kennen gelernt haben, haben wir jetzt zu untersuchen, wie grofs die Verkürzung bei verschiedenen Graden des Widerstandes ausfällt. Genau mefsbare und vergleichbare Widerstandsgrade erhält man dadurch, dafs man den Mu.skel mit verschiedenen Gewichten belastet; es ergibt sich, dafs die Verküi-zungsgröfse (bei gleicher Erregungsstärke) mit der Zunahme der Belastung sinkt und endlich bei einer gewissen Belastung Null wird, mit andern Worten, dafs der Muskel bei seiner Thätigkeit gröfsere Gewichte weniger hoch als kleinere hebt, ein gewisses Gewicht gar nicht mehr zu heben imstande ist. Beschwert man den Muskel bei hintereinander folgenden Kontraktionen mit wachsenden Gewichten, so wird die Erniedrigung der Verkürzungs- gröfse nicht ausschliefslich durch den zunehmenden Wider.stand, sondern in hohem Grade auch durch die zunehmende Ermüdung verursacht; um daher vergleiohuugsfähige Werte für die ver- schiedenen Widerstaudsgröfsen (Belastungen) entsprechenden Ver- kürzung.sgrade zu erhalten, müssen wir den Einfliifs der Ermüdung eliminieren, die für verschiedene Belastungen gefundenen Verkürzungen auf gleiche Ermüduugsstadien reduzieren. Dies geschieht durch eine höchst einfache von Weber an2:eo:ebene Rechuunof. Um zu erfahren, welche Verkürzungsgröfse einem Muskel bei 10 g, welche bei 20 g Belastung zukommt, belastet man ihn zuerst mit 20g, dann mit > BOHR, Arch. f. Vhys'iol. 1S82. p. 233. 1()() KRAFT DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. §83. lüg, (lauu wieder mit 20 g, und mifst die jedesmalige Verkürzung. Im ersten Versuclie war der Muskel weniger, im dritten mehr als im zweiten ermüdet, nimmt mau aber das Mittel aus den im ersten und dritten Versuclie gefundenen Werten, so erfährt man, welche Verkürzungsgrofse bei 20 g Belastung bei gleicher Ermüdung der bei 10 g gefundenen entspricht. Einige der auf diese Weise umgerechneten Werte für die Verkürzungs- gTÖfsen bei verschiedener Belastung entnehmen wir aus Webeus zahlreichen Beobachtungen an verschiedenen Exemjjlaren des musculas hyoglossus des Frosches (s. d. untenstehende Tabelle). Die Verkürzungsgröfsen sind in Milli- metern angegeben, die für das Ermüdungsstadium angegebene Zahl bedeutet, bei dem wievielsten Kontraktionsversuche der betreffende Wert gefunden wurde. Es ist diese Zahl natürlich nicht als genaues Mafs des Grades der Ermüdung zu betrachten, noch weniger sind gleiche Zahlen bei verschiedenen Muskeln als Ausdruck einer und derselben (absoluten) Ermüdungsgröfse anzusehen. Die Zahlen können nur dann bei einem Muskel dem Ermüdungsgrade proportional sein, wenn alle Kontraktionsversuche, welche in einer Reihe hintereinander an- gestellt worden sind, mit derselben Stärke des Reizes, mit derselben Belastung, von gleichlanger Dauer und von gleichlangen Erholungspausen unterbrochen gewesen sind. Ermaduiifrs- stadium. Verkilrzungsgröfse bei Belastung- mit: Ursprilngliclie Länge des Muskels. 5 g 10 g log 20 g 25 g 30 g 35 g mm / 39,8 \ 2 4 8 12 18 22 33,8 29,9 20,9 10,5 4,1 3,0 30,9 27,0 10,7 4,5 1,9 1,8 — — — — — 43,0 ■ 3 8 18 28 48 27,1 25,4 22,3 20,3 17,2 27,0 24,8 19,7 14,8 7,4 27,0 23,9 15,7 9,5 4,0 22,8 12,3 6,7 J,9 21,3 9,2 4,8 1,7 18,7 7,2 3,9 1,3 — 48,0 .| 4 10 31 40 27,6 27,3 3,8 2,1 — 25,1 11,8 0,7 0,4 — 11,4 4,3 0,3 0,2 — 6,3 2,8 0,2 0,1 48,0 j 3 11 21 28,3 22,8 18,4 — — 16,4 6,2 0,8 — — 5,4 2,6 0,1 Der Muskel übt, während er sich verkürzt, eine Kraft aus, welche am gröfsten im Beginn der Verkürzung ist, mit der Zunahme der Verkürzung abnimmt und endlich im höchsten Grade derselben Null wird (s. o. p. 57). Ein Mafs § 83. KRAFT DER QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 107 für die Kraft, welche der Muskel in jedem Stadium der Kontraktion besitzt, gibt uns das Gewicht, welches er bis zu der betreffenden Höhe hebt; er hebt das Gewicht so hoch, bis die verkürzenden Kräfte, welche ihn in die zweite, dem thätigen Zustande entsprechende natürliche Form überzuführen streben, und die Schwerkraft des Gewichtes sich dn,s Gleichgewicht halten. Die gröfste im Beginn der Kontraktion vorhandene Kraft des Muskels drückt dasjenige Gewicht aus, welches er, in Thätigkeit versetzt, gar nicht erhebt, durch welches er aber auch nicht ausgedehnt wird. Will man die Kraft verschiedener Muskeln vergleichen und bestimmte Werte für dieselbe aufstellen, so führt man die der Maximalkraft ent- sprechenden Gewichte auf. Ed. Weber hat erwiesen, dafs die Gröfse der Kraft, welche ein Muskel auszuüben imstande ist, lediglich von der Gröfse des Querschnittes, also von der Zahl der nebeneinander ver- einigten Fasern, nicht aber von der Länge der Fasern abhängt. Zwei Muskeln von gleicher Beschaffeüheit, gleicher Leistungsfähigkeit, gleicher Ermüdung, besitzen genau dieselbe Kraft, wenn sie denselben Querschnitt haben, auch wenn die Fasern des einen zehnmal so lang sind, als die des andren. Das Gewicht, welches jeder derselben eben nicht mehr zu heben vermag, ist bei beiden dasselbe, geringere Gewichte wird der zehnmal längere Muskel auf die zehnfache Höhe heben, als der kürzere. Es leuchtet daher ein, dafs, wenn wir als Mafs für die Maximalkraft eines be- stimmten Muskels das Gewicht angeben, welches er eben nicht mehr heben kann, welches der im Beginn der Thätigkeit wirkenden ver- kürzenden Kraft das Gleichgewicht hält, wir die Gröfse des Quer- schnittes hinzufügen müssen, um einen vergleichungsfähigen , die Kraft der diesen Muskel konstituierenden Muskelsnbstanz bezeichnen- den Wert zu erhalten. Zwei gleichnamige Muskeln verschiedener Individuen können infolge verschiedener Dicke sehr verschiedene ab- solute Werte für ihre Maximalkraft geben und doch die gleiche relative Kraft besitzen, d. h. auf gleiche Querschnitte reduziert, dieselben Gewichte ceteris parihus gleich hoch heben. Umgekehrt, wenn wir bei zwei Muskeln von gleichem Querschnitt die gröfste Kraft verschieden grofs finden, wissen wir, dafs in beiden die Muskel- substanz an sich verschiedene Kraft haben mufs, sei es infolge ver- schiedener ursprünglicher Befähigung, sei es infolge verschiedener Ermüdungsgrade oder von Einwebung fremder Elemente in ver- schiedenem Grade. Um also ein allgemeines Mafs der Muskelkraft zu erhalten, hat mau nach Weber die für einen gegebenen Muskel gefundene Kraft auf eine bestimmte Querschnitts- einheit, auf einen Gern Querschnitt zu reduzieren, indem man das der Kraft des Muskels gleiche Gewicht durch dessen Querschnitt dividiert. Die Gröfse des Querschnittes, welche sich nicht unmittelbar messen läfst, findet man, wenn man das Volumen des 108 KRAFT DER QUERCfESTEEIFTP]N MUSKELN. §83. Muskels durch seiue Lauge dividiert; das Volumen des Muskels erhält man, wenn man sein absolutes Gewicht mit dem spezifischen Gewicht der Muskelsubstanz dividiert. Die Bestimmung der Kraft eines Muskels wird auf folgende Weise ausgeführt. Es gilt, das Gewicht zu finden, welches der aufgehängte Muskel, nachdem er im unthätigen Zustande durch das- selbe ausgedehnt worden ist, bei der Thätigkeit so hoch hebt, dafs er gerade seine natürliche Länge, welche ihm in der ünthätigkeit im unausgedehnten Zustande zukommt, erlangt. Wollte man so lange mit verschiedenen Belastungen experimentieren, bis ein Gewicht, Avelches genau den Anforderungen entspräche, gefunden wäre, so würde man falsche Werte erhalten, da der Muskel schnell ermüdet, und folglich bei einer Reihe von Kontraktionen mit jeder Kontraktion das der Maximalkraft entsprechende Gewicht geringer werden mufs. Weber belastet daher im ersten Versuche den Muskel mit einem Gewicht, welches nach ungefährer Sehätzung dem gesuchten gleich- gehalten wird; hebt der Muskel dasselbe bei der Thätigkeit nicht so hoch, dafs er seine natürliche Länge erreicht, so wird im zweiten Versuche ein um so viel kleineres Gewicht ihm angehängt, dafs er sich damit über seine natürliche Länge verkürzt; durch einfache Rechnung findet man sodann das zwischen beiden Gewichten liegende, Avelches der Muskel zu der gesuchten Höhe durch Verkürzung auf seine natürliche Länge gehoben haben würde. Auf diese Weise ergibt sich als Mafs der Kraft für einen □cm des imiscnJas liyoglossus vom Frosche ein Gewicht von 682,2 g. Folgendes Beispiel erläutert die Bestimmung der Maximalkraft des Muskels. Ein Hyoglossus des Frosches besafs im unthätigen, unausgedehnten Zustande eine Länge von 25 mm. Bei Belastung mit 31,9 g, welche ihn im un- thätigen Zustande auf 47,6 mm ausdehnten, verkürzte er sich bei Tetanisierung auf 10mm, also über die natürliche Länge; er wurde daher im zweiten Ver-' suche mit 4:1,2 g beschwert, welche ihn im unthätigen Zustande auf 48,2 mm dehnten, mit welchen er sich während seiner Thätigkeit nur auf o3 mm, also nicht bis zur natürlichen Länge, verkürzte. Daraus berechnet sich das Gewicht, mit welchem er sich gerade auf 25 mm verkürzt haben würde, welches also das Mafs seiner gröfsten Kraft nach Weber ist, auf 36,2 g. Der Muskel wog 0,265 g. Sein sp. Gewicht zu 1,058 angenommen, ergibt sich demnach auf die oben er- wähnte Weise sein Volumen = ' = 0,2504 ccm, sein Querschnitt bei 36,2 g l,0oo 0,2504 Belastung, durch welche er auf 4,79 cm ausgedehnt werden würde, = ' ^„ = 0,05227 n cm. Folglich beträgt das Mafs der Muskelkraft für einen □ cm '"''' = 682,2 g-. 0,05227 Fragen wir nach dem Werte dieser Zahl, so müssen wir der- selben die Bedeutung als allgemein gültiger Gröfse für die Kraft eines □ cm Muskelsubstau z überhaupt absprechen; sie drückt zitnächst eben nur die Kraft des muscidus Iiyoglossnf^ vom Frosche aus, und § 8o. KRAFT DEli QUERGESTREIFTEN MUSKELN. 109 zwar nur die des ausgeschuitteueu Muskels. Es ist mit Bestimmtheit vorauszusetzen, dafs die Kraft desselben Muskels im lebenden Körper gröfser, dafs der gefundene Wert infolge der schon bei der zweiten Kontraktion bei so beträchtlicher Belastung eingetretenen erheblichen Ermüdung auch für den ausgeschnittenen Muskel etwas zu niedrig ausgefallen ist. Sicher ist ferner, dafs die Kraft gleicher Querschnitts- eiuheiten verschiedener Muskeln desselben Tieres nicht unbeträchtlich verschieden ist, so dafs die G82,2 g nicht einmal als Kraftmafs eines □ cm Froschmuskels überhaupt gelten können. Valentin \ welcher nach- Weber sich vielfach mit Kraftbestimmungen beschäftigt hat, fand bei Versuchen an verschiedenen Froschmuskeln enorme Differenzen der nach AVeber bestimmten Maximalkraft (welche Valentin GleichgeAvichtskraft nennt) ; so erhielt er für einen □ cm des Hyoglossus 747 g (also mehr als Weber), für dieselbe Einheit des Sartorius 1091 g, für den □ cm des Gastrocnemius aber gar 1 805 g, also beinahe die dreifache Kraft von der des Zungenschild- knorpelmuskels. Zu alledem kommt aber noch, dafs das Kraftmafs eines Muskels ferner auch von der Beschaffenheit des tetauisierenden Reizes abhängt, und zwar, maximale Reizungen vorausgesetzt, von der Frequenz derselben.^ Um wirklich vergleichbare Werte zu erhalten, müfste also auch in der letzterwähnten Beziehung das möglichst günstigste Verhältnis durchgeheuds gewählt werden, welches bei ca. 50 Heizen in der Sekunde gegeben sein dürfte. Die höchsten Werte für die Querschnittseiuheit des Froschgastrocnemius (2300 — 3000 g) erhielt 1. Rosexthal,^ als er das maximale Gewicht bestimmte, mit welchem ein gestützter Hebel belastet werden mufste, um durch den zuckenden Muskel nicht mehr von seiner Unterlage entfernt zu werden. Hebel und Unterlage stellten eine gut leitende Nebenschliefsung zu einem Stromkreise dar, in welchem sich ein elektromagnetischer Glockenapparat eingeschaltet be- fand. Jedes Losreifsen des Hebels von seinem metallischen Stützpunkt mufste somit durch ein Tonsignal angezeigt werden. Die relativ geringe Kraft des Hyoglossus ist nach Yalentix durch seine beträchtliche Dehnbarkeit bedingt, und diese wiederum dadurch, dafs ein D cm Hyoglossus weniger Muskelfasern und mehr beigemengtes Bindegewebe enthält, als der gleiche Querschnitt des Sartorius oder Gastrocnemius. Neben der von Weber sogenannten Maximalkraft eines Muskels (Gleich- gewichtskraft A^ALENTiNs) hat Valentin noch eine zweite Mafsgröfse als Maximal- kraft bezeichnet, das Gewicht nämlich, welches dem ruhenden Muskel angehängt und ihn dehnend bei Reizung desselben nicht mehr gehoben wird. Valentin fand diese Kraft für 1 Q cm des Hyoglossus = 3,508 kg, für 1 D cm des Sartorius = 5,59 kg in einem Falle. Wir erfahren auf diese Weise die gröfste Kraft, deren ein Muskel überhaupt fähig ist, während wir nach Weber nur diejenige Kraft berechnen, welche der thätige Muskel ausübt, zur Zeit wenn er die Länge des ruhenden hat. Selbstverständlich darf man den für einen Froschmuskel ge- fundenen Kraft wert nicht ohne weiteres auf die Muskeln andrer • VALENTIN, Lehrb. d. P/ii/siol. d. Vemchen. 2. Aufl. Braunschweig 1847— 50. Bd. II. Abtli. 1. p. 228. 2 Bernstein, Arch. f. Phy.iiol. Supplbd. 1883. p. 88. 3 I. ROSENTHAL, Cpt. rend. 18G7. T. LXIV. p. 1143. HO KRAFT r)p]R QUERGESTREIFTEN MUSKELN. §83. Tiere oder des MenscLeü übertragen, da die Muskelfaser eines Säuge- tieres selir wohl an sich zu gröl'seren Kraftäufserungen befähigt sein kann, als die des Frosches. Direkte Bestimmungen der Muskelkraft höherer Tiere fehlen noch gänzlich, weil bei ihnen Leistungsfähigkeit der Muskeln nach dem Tode oder nach der Entfernung aus dem Köj'per allzu rasch erlischt. Einen indirekten Weg, die Maximalkraft der menschlichen AVadenmuskeln im lebenden Körper zu messen, hat Ed. Weber an- gegeben. Er fand dieselbe = 0,836 k, hält aber einen gröfseren Wert von etwas über 1 kg für richtiger. Henke und Knorz be- rechnen dagegen unter Korrektur eines von Weber übersehenen Fehlers aus den Versuchsdaten Webers einen vierfach gröfsei-en Wert von ca. 4 kg. Eigne Bestimmungen der Gewichtsgröfsen, welche die Dorsalflexion des Fufses und die Beugung des Unterarms verhinderten, ergaben ihnen als muskuläre Maximalkraft pro Q cm im ersteren Falle für die Strecker des Fufses einen Wert von 5,9 kg; im zweiten Falle für die Beuger des rechten Unterarms einen solchen von 8,991 kg, für diejenigen des linken endlich einen Wert von 7,38 kg. Sie schliefsen hieraus allgemein, dafs die Extensoren des Fufses ab- solut schwächer seien als die Flexoren des Unterarms.^ In allen diesen Fällen gab jedoch stets der Wille den Eeiz ab, Avelcher die Muskulatur zur Verkürzung brachte, ein Reiz also, welchen Avir nach keiner der oben p. 109 angegebenen Richtungen hin als maximalen ansehen dürfen, welcher also auch nicht geeignet ist, uns über die Maximalkraft unsrer Muskeln ausreichenden Aufschlufs zu verschaffen. Die Methode, nach welcher Weber die Kraft der Wadenmuskehi am lebenden Menschen mafs, ist kurz folgende: Wenn wir auf dem Boden stehend uns auf die Zehen erheben, so hebt die Kraft der Wadenmuskeln, welche an der Ferse ziehen, die Last des Körpers, welche auf die x\chse des Fufsgeleukes im Sprungbeine drückt, dadurch, dafs sie den einarmigen Hebel, welchen der Fufs von der Ferse bis zum Zehengelenk bildet, um das Hypomochlion in diesem Gelenk dreht. Der Hebelarm, an welchem die Kraft wirkt, hat die ganze Hebellänge, der Arm, auf welchen die Last drückt, dagegen nur die Länge vom Zehen- bis zum Fufsgelenk. Yergröfsert man nun die Last des Körpers allmählich dadurch, dafs man an einem die Leibesniitte um- fassenden Gürtel immer schwerere Gewichte anhängt, so kommt man notwendig zu einem Punkte, wo die Wadenmuskeln die Ferse nicht mehr vom Boden ab- zuheben imstande sind, wo sich also Last und Kraft das Gleichgewicht halten. Nach bekannten Regeln berechnet man nun, wie grofs die Last sein würde, wenn sie an demselben Hebelarme wie die Kraft wirkte; das gefundene Gewicht gibt alsdann das Mafs für die Ki-aft der Wadenmuskeln beider Beine. Durch Messungen und Wägungen an Leichnamen Ijestimmte Weber den mittleren Durchschnitt der drei Muskeln : Gastrocnemius, Plantaris, Soleus, und berechnete daraus die oben angegebene Kraftgröfse für 1 □ cm menschlicher Waden- muskeln. 1 Vgl. Henke, ZUchr. f. rut. Med. 1865. lU. R. Bd. XXIV. p. 217, u. cbeiid.n. 1808. Bd. XXXIII. p. 108. — Knorz, Ein Beilr. :. Best. d. absolut. .Vuskelkr. Diss. Mailnirg 1865. — HAUGHTON, Proreedinr/s of tlie Rot/al Societii of London. 18G7. Vol. XVI. p. 10. — KüSTER, Nederlandsc/i Ärchief voor Genees- en Natuurh. 1867. Bd. III. p. 31. § 83. NUTZWIEKUNG DEE QUERGESTEEIFTEX MUSKELN. 1 1 1 Die erwähnte Korrektur, welcher Henke und Knorz das WERERSche Mefsverfahren unterworfen haben, bezieht sich im wesentlichen auf die Bestim- mung der Hebellängen für die Kraft und der Lage des Drehpunktes. Ihnen zufolge ist letzterer im Sprunggelenke und nicht im Köpfchen des Metatarsus zu suchen, und der Hebelarm, an 'velchem die Kraft wärkt, nicht gleich dem horizontalen Abstand von Ferse und eben jenem Köpfchen, sondern nur gleich dem horizontalen Abstände von Ferse und Talusachse, also viermal kleiner als nach der WEHERSchen Annahme. Es handelt sich sclilieislicli darum, die Nutzwirkuug der sich verkürzenden Muskeln zu bestimmen. Das vom Muskel erhobene Gewicht erlangt nach bekannten physikalischen Begriflen einen mit der Erhebungshöhe zunehmenden Nutzeffekt, insofern das- selbe von dieser Höhe herabfallend eine zu beliebigen Zwecken ver- wendbare lebendige Kraft gewinnt; die Gröfse dieser Kraft hängt von der Schwere des Gewichtes und von der Höhe, bis zu welcher es gehoben war, ab ; man erhält daher einen Ausdruck für den Nutz- effekt, wenn man das Gewicht mit der Erhebungshöhe multipliziert. Erhebt ein Muskel 10 g 20 mm hoch, und 30 g 5 mm, so beträgt der Nutzeffekt in ersterem Falle 200, im zweiten 150. Auch hier ist es die klassische Arbeit von Ed. Weber, durch welche wir genaue Aufschlüsse über die Gröfse des Nutzeffektes und deren Ab- hängigkeit von verschiedenen umständen erhalten haben. Wie das Kraftmafs, um vergleichbare Werte zu erhalten, auf die Querschnitts- einheit zu reduzieren war, so hat Weber auch das Mals für den Nutzeffekt auf solche Einheiten reduziert, und zwar auf die Quer- schnittseinheit = 1 □ cm und die Längeneinheit =^ 1 cm, da das Gewicht, welches ein Muskel hebt, der Gröfse des Querschnitts, die Höhe, zu der er es hebt, der Länge seiner Fasern proportional ist. Man hat demnach im gegebenen Falle die Hubhöhe durch die Länge des Muskels, das gehobene Gewicht durch den Querschnitt zu dividieren. Untersuchen wir zunächst, unter welchen Verhältnissen der Nutzeffekt eines Muskels steigt und sinkt, bei welcher Belastuugs- und Kontraktionsgröfse er sein Maximum erreicht, so belehren uns darüber folgende obiger Tabelle entnommene Zahlen: Bei dem zweiten Muskel betrug im 8. Kontraktionsversuche:. die Hubhöhe in mm 25,4 24,8 23,9 22,8 21,3 18,7 die Belastung in g 5 10 15 20 25 30 der Nutzeffekt also: 127 248 358,5 456 532,5 561,0 im 18. Kontraktionsversuche: die Hubhöhe in mm 22,3 19,7 15,7 12,3 9,2 7,2 die Belastung in g 5 10 15 20 25 30 der Nutzeffekt also: 111,5 197 235,5 246 230 216 Es geht aus diesen Zahlen hervor, dafs der gröfste Nutz- effekt nicht mit dem gröfsten Grade der Verkürzung zusammen- fällt; es tritt derselbe aber auch nicht dann ein, wenn der Muskel seine gröfste Kraft entwickelt, sondern bei mittleren Graden der 112 NUTZWIKKUNG ]WÄl QUERGESTßKIFTKN MUSKELN. §83 Verkürzung und Belastung, ein Ergebnis, zu Avelchem nach den verschiedenartigsten Untersuchungen auch alle späteren Forscher ^ gekommen sind. Im Moment der gröfsten Kontraktion ist die Kraft gleich Null, im Moment der gröfsten Kraftiiufscj'ung die Kontraktion gleich Null, der Nutzeffekt ist aber das Produkt aus beiden, mufs also Null sein, wenn eines von beiden gleich Null ist. Es geht ferner aus den oben p. 111 für die Abnahme von Verkürzungsgröfse und Kraft ermüdeter Muskeln beigebrachten Zahlenbelegen liervor^ dafs die Ermüdung den Nutzeffekt beträchtlich ändert. Wir haben gesehen, dafs Verkürzungsgröfse und Muskelki-aft er- niedrigt werden mit der zunehmenden Ermüdung des Muskels, allein nicht in gleichem Grade, die letztere fällt weit schneller ab als die erstere. Während der zweite Muskel obiger Tabelle im unermüdeten Zustande 5, 10 und 15 g fast genau gleich hoch erhob, zeigen sich mit der Ermüdung schnell zunehmende Differenzen der Verkürzungs- gröfse bei verschiedenem Widerstände, so dafs der Muskel im 48. Kon- traktionsversuche 10 g wenig über ein Dritteil so hoch als 5 g erhob; die Verkürzungsgröfse bei 5 g war durch die Ermüdung von 27 auf 17 mm, bei 10 g aber von 27 auf 7 mm erniedrigt. Setzt man die Kontraktionsversuche noch weiter fort, so tritt endlich der Fall ein, dafs der Muskel, während er sich bei der kleineren Be- lastung noch beträchtlich verkürzt, bei der gröfseren sich gar nicht mehr verkürzt oder sogar verlängert, wie Webers Versuche lehren. Fragen wir nun, in welcher Weise die Gröfse des Nutzeffektes bei dieser ungleichen x^bnahme von Kraft und Hubhöhe sich ändert, so ergibt sich folgendes: Für dieselbe Last, also für 5 g z. B., wird der Nutzeffekt mit der Ermüdung der x\bnahme der Hubhöhe pro- portional kleiner; bei verschiedenen Belastungen dagegen findet man, dafs anfangs im unermüdeten Zustande das Maximum des Nutz- efiektes erst bei ziemlich hohen Lasten, mit der zunehmenden Er- müdung aber bei immer niedrigeren Lasten eintritt. So findet sich im 8. Ermüdungsstadium unseres Beispiels das Maximum des Nutz- effektes erst bei einer Belastung von 30 g, im 18. Stadium bereits bei 20 g; im 43. Stadium erreichte derselbe Muskel sogar schon bei der kleinsten Last von 5 g seinen gröfsten Nutzeffekt. Daraus folgt nach AVeber, dafs die Muskeln im ermüdeten Zustande „bei leichterer Arbeit unverhältnismäfsig mehr zu leisten imstande sind, als wenn sie zu schwerer Arbeit verwandt werden.'' Vergleichen wir die Gröfse des Nutzeffektes bei verschiedenen Muskeln und zwar, um vergleichbare Zahlen zu haben, auf die Volumeneinheit des Muskels berechnet, so ergibt sich aus den Beob- achtungen Webers am musc. hyoglossus, dafs sogar ein und derselbe ' R. Heidenhain, Median. Leist., WürmMntwickel. u. Stoffwechsel hei d. Muskelthätif/kei t Kcipzifr 1864. — A. FiCK, ünlern. üb. ifuskelarheit. Basel 1867. — TIEGEL, PFLUEGERs Arch. 1876. Bd. XII. p. 133. — I. Rosenthal, Arch. f. Physhl. 1880. p. 187. — RICHET, Phmlol. des muscle-i: et des ncrfs. Paris 1882. p. 192. §84. THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. 113 Muskel bei verseliiedenen Individuen beträchtliclie Differenzen zeigt; der eine hebt geringe Lasten, der andre grofse Lasten höber, als der andre, mit andern Worten: das Verhältnis der Kraft, mit welcher ein Muskel sich zu verkürzen strebt, zur Länge, um welche er sich verkürzt, ist bei verschiedenen Muskeln ein verschiedenes; bei dem einen ist die Kraft gröfser, insofern er gröfsere Lasten noch zu heben fähig ist, bei dem andren die Kontraktionsgröfse, insofern er geringere Belastungen höher zu heben vermag. Die Werte, welche man am ausgeschnittenen Muskel für die Gröfse des Nutzeffektes erhält, können nicht genau denen gleich sein, welche dem Muskel im lebenden Körper zukommen; die Leistungsfähigkeit ist hier an sich gröfser, der EinÜufs der Ermüdung geringer und durch Ruhe vollkommen eliminierbar. Es ist schon oben erörtert worden, dafs die Hebelverhältnisse der Muskeln am Körper nicht gestatten, das mögliche Maximum der Verkürzung zu erreichen, sondern dafs die gröfste Verkürzung weit unter demselben zurückbleibt; das Maximum des Nutzeffektes fällt also notwendig auf einen bestimmten Grad dieser beschränkten Kontraktionsgröfse imd wahrscheinlich nicht einmal auf das Extrem derselben, welches der Muskel bei der gröfsten Exkursion der zu bewegenden Hebel erreicht. Valentin suchte die Nutzwirkung der mit ihren Hebeln in natürlicher Verbindung gelassenen Muskeln zu bestimmen und fand, dafs wenigstens der Wadenmuskel des Frosches das Maximum seiner Nutzwirkung nicht bei dem Extrem seiner Verkürzung erreicht, bei welchem er die gröfste Streckung des Fufses bewirkt. THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. § 84. Die Physiologie der glatten Muskeln liegt noch in ihrer ersten Entwicklung. Denn man hat weder das elastische, elektrische, thermische Verhalten der verkürzten kontraktilen Faserzelle, noch die mechanischen Verhältnisse ihrer Kontraktion so gründlich auf bestimmte Gesetze zurückgeführt, als dies bei den quergestreiften Muskeln der Fall ist. Im allgemeinen jedoch steht fest, dafs ein wesentlicher Unterschied in der Thätigkeit quergestreifter und glatter Muskeln nicht existiert. Nicht einmal die Trägheit, mit welcher die letzteren auf einen Reiz zu reagieren pflegen, das Maximum ihrer Verkürzung erreichen . und in ihren früheren Erschlaffungs- zustand zm-ückkehren, ist geeignet, eine strenge physiologische Son- derung beider Muskelarten zu rechtfertigen. Kennen Avir doch auch echte quergestreifte Muskeln mit erheblich verlangsamtem Thätigkeits- verlauf, so das Herz aller Wirbeltiere und gewisse durch ihre rote Farbe ausgezeichnete Körpermuskeln des Kaninchens (Semiten- Gruexhagex, Physiologie. 7. Aufl. II. 8 114 THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. §84. dinosus), Meerscliweincliens , Hausliuhnes und der llochen.^ Die glatten Muskeln, deren Verkürzung den ursäclilichen Reiz um mehrere Sekunden überdauert und die quergestreiften Flügelmuskeln der Insekten, welche sich hundej-t und mehr mal in der Sekunde kontrahieren '^, sind nur Grenzfälie einer zahlreiche Mittelstufen auf- weisenden Entwickeluugsreihe kontraktiler Gebilde. Die träge Reaktion glatter Muskeln auf Reizungen, welche entweder ihre Substanz direkt oder die an sie herantretenden Nervenstämme treffen, spricht sich auf doppelte Weise aus, insofern zur Erzielung deutlicher Erfolge nicht nur die Intensität sondern auch die Zeitdauer der Erregung beträchtlicher sein mufs als bei den meisten quergestreiften Muskeln. Am sichersten verfährt man, wenn man sich zur Auslösung von Kontraktionen glatter Muskeln der diskon- tinuierlichen Ströme eines Schlittenapparates bedient. Es hat daher den An- schein, als ob irgend welche Wirkungen der Reizung sich erst summieren niüfsten, ehe ein quantitativ ausreichender Anstofs zur Verkürzung der Faser- zellen aus ihnen hervorgeht. Ganz im Einklänge mit dieser Vermutung stehen auch die Beobachtungen, welche Bowditch ^ an dem der glatten 3Iuskulatur in mannigfacher Hinsicht verwandten Herzmuskel, Mosso * an den glatten Muskeln der Speiseröhre gemacht haben, und aus welchen hervorgeht, dafs bei pei'iodischer Erregung der genannten kontraktilen Organe mit elektrischen Induktionsschlägen von gewisser konstanter Stärke, die erste schwache Kon- traktion eine Reihe mehr und mehr an Umfang gewinnender Kontraktionen zur Folge hat, bis eine gewisse maximale Grenze erreicht worden ist, von welcher die Kontraktionen bis zum völligen Erlöschen wieder abnehmen. Eine jede solche Reihe zusammengehöriger Kontraktionsstufen wird kurz als „Bo WDiTCHsche Treppe" bezeichnet. Einen wesentlichen Unterschied in der Thätigkeitsweise beider Klassen von Muskelfasern hat man auf folgende Thatsachen zu be- gründen gesucht. Reizt man eine beschränkte Anzahl von Fasern eines quergestreiften Muskels, so zucken nur diese, die übrigen bleiben in Ruhe; reizt man dagegen eine kleine Stelle einer glatten Muskel- haut, so schreitet sehr häufig die Kontraktion Avellenförmig in be- stimmter Richtung auf andre vom Reize nicht direkt getrofiene Stellen fort. Ein wesentlicher Unterschied der Thätigkeitsweise liegt indessen in diesem Faktum nicht, wie schon der Umstand beweist, dafs auch die quergestreifte Muskulatur der abgeschnitteneu Herzspitze ein ganz ähnliches Verhalten zeigt. Wodurch es möglich gemacht wird, eine an beschränkter Stelle hervorgerufene Kontraktion auf benachbarte und von diesen auf ferner liegende kontraktile Elemente, bisweilen in solcher Regelmäfsigkeit zu übertragen, dafs daraus jene Avellen- förmigen, sogenannten peristaltischen Bewegungen der Speiseröhre und Därme, des Uterus, der Harn- und Samenleiter resultieren, ist freilich nicht für alle Fälle klar. Nur bezüglich des wellenförmig sich fortpflanzenden Bewegungsvorgangs der Speiseröhre ist sicher 1 RANVIER, Cpt. rend. 1873. T. LXXVU. p. 1030; Arch. de Physiol. norm, et pathol. 1874. p. 1 u. 446. — E. Meyer, Arch. f. Anat. u. PIniMol. 1875. p. 217. - H. LANDOIS, Ztschr. f. 'iviss. Zoologie! 1807. Bil. XVII. p. 105. — MAREY, Du Mouvement dans les fonctions de la vie. Paris 1868; La Maclüne unimale. Paris 1873; Pkysiol. experimentule, travaux du luboratoire de M. MAREY. 1875. p. 157. ä BoWDITCH, Arb. a. d. plitisiol. Anstalt zu Leipzif/. 1871. p. 139. ^ Mosso, Moleschotts Unters, z. Naturi. 1874. Bd. XI. p. 4. §84. THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. 115 daXs derselbe durch, einen aufserhalb des in Thätigkeit gesetzten Organs gelegenen Nervenapparat bedingt wird, dessen gangliöse Centra in bestimmter Reihenfolge nacheinander in den erregten Zustand übergehen und die von ihnen abhängigen Abschnitte des Oesophagus zu entsprechenden Zeiten in gesetzmälsiger Folge zur Aktion veranlassen. Denn nach Mossos Untersuchungen kann man die Speiseröhre unterbinden und sogar durchschneiden, ohne den regelmäfsigen Ablauf einer reflektorisch ausgelösten Schlingbe^^-egung zu hemmen und den abwärts gerichteten Gang der am Schlundkopfe beginnenden Kontraktionswelle zu unterbrechen. Es wäre möglich, dafs die allen Beobachtern von jeher auffällig gewesene Übertragung der Muskelthätigkeit von der einen Faserzelle auf die andre auch in den übrigen hier genannten Organen nach dem gleichen Prinzipe vor sich geht, eine Annahme, welche allerdings nur unter der Voraus- setzung statthaft wäre, dafs sie die erregungvermittelnden Xerven- elemente in ihren eignen Wandungen eingeschlossen enthielten. Denn nur so würde sich dann noch erklären lassen, dafs Darm-, Harn- und Samenleiter auch nach ihrer Entfernung aus dem Tier- leibe peristaltische Bewegungen in ungeschwächtem Grade zu ent- wickeln vermögen. Aber wenn wir auch mit Bestimmtheit wissen, dafs die Wandungen der Därme ungemein reicli an gangliösen Nervenplexus sind, so wissen wir anderseits auch, dafs in Harn- und Samenleitern ähnliche anatomische Vorrichtungen in ent- spreckender Ausbildung fehlen. Exgelmann will sich sogar kin- sichtlick des Harnleiters (Kaninchen) überzeugt kaben, dafs derselbe auf grofse Strecken hin völlig nervenfrei ist, und glaubt daraus schliefsen zu müssen, dafs die Faserzellen des Harnleiters den irgendwie in ihnen ausgelösten Erregungszustand direkt, ohne jeg- liche Vermittelung von Nerven, aufeinander zu übertragen imstande sind. Es wird indessen abzuwarten sein, ob diese Angaben Exgel- MAXNs auch den vervollkommneten Methoden gegenüber Stich halten werden, mit welchen man die periphere Ausbreitung der Nerven mit immer wachsendem Erfolge aufzudecken begonnen hat. Und umsomehr dürfte es geraten erscheinen, mit der Aufstellung einer bestimmten Theorie der Peristaltik zu zögern, als in einigen Fällen die Fortpflanzung der Zusammenziehuug von gereizten auf nicht gereizte Faserzellen unterbleibt, und unter Umständen also die Kon- traktion sich ebenso genau auf den Ort des Reizes beschränkt, wie bei den quergestreiften Fasern. So berichtet Weber, dafs bei Kaninchen flüchtige Berührung einer kleinen Stelle des Dünndarms mit den Elektroden des E,otationsappaj.'ates fast konstant nur eine ringförmige Einschnürung der getroffenen Stelle zur Folge hat, während bei Hunden und besonders bei Katzen die Einschnürung wellenförmig ein Stück über die getroffene Stelle hinaus sich fort- pflanzt. Weber und Ludwig beobachteten ferner, dafs die Kon- traktion der Magenmuskeln sich noch viel strenger an das gereizte 8* 116 THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. §84. Terrain liindet. Streicht man mit den genäherten Drahtenden des Rotationsapparates in einer Linie von beliebiger Richtung über den Magen, so prägt sich genau die getroffene Linie in einer linien- förmigen Einschnürung aus. Dasselbe findet nach Ludwig statt, wenn man mit einer stumpfen Kante Linien auf dem Magen frisch getöteter Tiere zieht ; es folgt die Einschnürung genau dem Gange der mechanischen Reizung und geht nicht über deren Grenzen hinaus. Legt man die Elektroden eines unterbrochenen Stromes an zwei diametral gegenüberliegende Punkte eines Blutgefälses, so bildet sich eine ringförmige Einschnürung lediglich an der vom Strome durch- laufenen Stelle, ebenso auch, wenn man den Rücken eines elfen- beinernen Papiermessers der Quere nach über eine oberflächlich ge- legene kleine Arterie (z. ß. die mittlere Ohrarterie des Kaninchens) hinwegzieht. ^ Welche genaue Übereinstimmung glatte und quergestreifte Muskeln in bezug auf ihr chemisches und elektromotorisches Ver- halten zeigen, ist früher dargelegt. Dafs auch hinsichtlich der Gesetze, welche die Wirkungsweise des konstanten elektrischen Stromes auf beide Klassen kontraktiler Elemente bestimmen, völliger Einklang herrscht, hat Exgelmann - bewiesen. Ob die Elastizität der glatten Muskeln in gleicher Weise durch die Thätigkeit ver- ändert ward, ist nicht untersucht ; ebenso fehlt es an Beobachtungen, welche Formveränderung die Faserzellen bei der Verkürzung erleiden, ob dieselbe mit einer Verdichtung verbunden ist. Aus begreiflichen Gründen ist es ferner bisher nicht möo^lich o^ewesen, g-enaue Be- Stimmungen über die Gröfse der Kontraktion der glatten Muskeln auszuführen, insbesondere über das Verhältnis derselben bei ver- schiedenen Graden von Widerstand. Dafs dieselben sehr hohe Ver- kürzungsgrade zu erreichen imstande sind, lehren die beträchtlichen Durchmesserveränderungen verschiedener röhriger Organe und der Pupille bei Kontraktion ihrer ringförmigen Muskeln. Valentix beobachtete, dafs der Durchmesser eines in lebhafter peristaltischer Bewegung begriffenen Kaninchendünndarms zwischen 7,9 und 2,5 mm wechselte, woraus sich eine Verkürzungsgrölse der Kreis- fasern um 68 Vo ihrer Länge ergibt; es läfst sich indessen leicht berechnen, dafs bei völligem V^erschlufs des Darmlumens die Längen- abnahme der Ringfasern noch weit gröfser sein mufs, vielleicht bis Vio der ursprünglichen Länge beträgt. E. H. und Ed. AVeber^ und nach ihnen viele andre beobachteten, dafs die Blutgefäfse, wenn ein imterbrochener elektrischer Strom quer hindurchgeleitet wird, sich ringförmig bis zum völligen Verschwinden des Lumens kontrahieren; KoELLiKER ^ sah an der Leiche eines Enthaupteten das Lumen der • Vgl. VULPIAN, Leqon.t sur l'uppareil vaso-moteur. Paris 1875. T. I. p. 45. - Th. w. Engelmann, Pfluegers Arch. 1869. Bd. 11. p. 24.3. = E. H. u. Ed. Weber, Ber. üb. d. Verh. d. kgl. süchs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. Cl. 1847. 3. Heft. p. 9.5; Arch. f. Anat. u. Pliy.iiol. 1847. p. 232. * KOELLIKER, ferk. d. phnsik.-med. Ges. zu Würzhurg. 1854. Bd. V. Heft 1. p. 20. §84. THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. 117 aorta abdominalis auf elektrische Reizung im Durchmesser von 16 mm auf 1 mm sich verengern, den dnctus thoracicus sich bis zum völligen Verschwinden der Lichtung kontrahieren. Es unterliegt dem- nach keinem Zweifel, dafs die glatten Muskeln mindestens einer ebenso beträchtlichen Verkürzung, wahrscheinlich sogar einer noch beträcht- licheren fähig sind, als die quergestreiften. Ob, wie einige für möglich halten, den ersteren neben dem Vermögen der Kontraktion, d. h. sich auf Reizung der Länge nach zusammenzuziehen, auch noch unter Umständen ein Vermögen der Elongation, d. h. sich auf Reizung zu verlängern, innewohnt, bedarf noch weiterer Prüfung. ^ Die Verhältnisse der Ermüdung und der Erholung durch Ruhe sind ebenfalls bei den glatten Muskeln nicht genau untersucht. Es scheint aber in dieser Beziehung ein Unterschied zwischen ihnen und den quergestreiften Muskeln zu bestehen. Denn erstens ist ihre Lebenszähigkeit im allgemeinen und im besonderen gröfser."^ Es gibt glatte Muskeln [Sphincter pap. des Rindes), welche bei Aufbewahrung in Eis ungeachtet der beginnenden Fäulnis ihrer Umgebung und bei längst erfolgtem Absterben aller gleichzeitig aus- geschnittenen quergestreiften Muskeln sogar noch am 10. Tage nach ihrer Entfernung aus dem lebenden Körper elektrisch reizbar befunden werden (Grüenhagex). Und während zweitens die quergestreiften Muskeln im Leben nur auf besondere Anregung in zeitweilige Thätigkeit geraten und in derselben wegen rasch eintretender und sich steigernder Ermüdung nur kurze Zeit verharren, sehen wir die glatten Muskeln im lebenden Organismus an gewissen Stellen ihres Vorkommens, besonders in den arteriellen Gefäfswänden, durch eine kontinuierliche Anregung von selten der grofsen Zentralorgane des Nervensystems in einem Zustande mittlerer Kontraktion stetig erhalten werden. Man bezeichnet diese stetige Kontraktion mit dem Namen Tonus. Die Thatsachen, welche zur Aufstellung des Tonusbegriffs genötigt haben, können erst später in einem andren Zusammenhange vorgeführt werden; es empfiehlt sich daher auch, die nähere Erläuterung des in Rede stehenden eigentümlichen Thätigkeitszustandes bis dahin zu vertagen. Was uns gegenwärtig noch übrig bleibt zu besprechen, bezieht sich auf die verschiedenen Agenzien, welche die Thätigkeit der glatten Muskeln, sei es bei Applikation auf den zutretenden motorischen Nerven, sei es bei Applikation auf die kontraktile Substanz selbst, auszulösen beziehungs- weise zu unterbrechen vermögen. Dieselben verdienen eine ganz besondej-e Aufmerksamkeit nicht nur des allgemeinen Interesses wegen, welches dem von ihnen auso:elösten Effekt als solchem zukommt, sondern auch der kontrollierenden Bedeutung halber, welche manche der hier sehr exakt zu ermittelnden Thatsachen für die mittels der 1 Gruexhagen 11. SäMKOWT. PflueGERs Arch. 1875. Bd. X. p. 165. — PFALZ, über d. Verhalten glatter Muskeln ■eerschiedener Thiere gegen Temperaturdi,feremen u. elektr. Rehe. Dissert. Koenigsberg 1882. 2 LEGROS et OXIMLS, Journ. de l'unat. et de la physiol. 1869. T. VI. p. 413. 118 THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. §84. gleiclieri Agenzien betreffs der quergestreiften Muskulatur gesammelten, weniger unzweifelhaften Ergebnisse besitzen. Ganz kurz dürfen wir uns bezüglich des elektrischen Stromes fassen. Für diesen wurde bereits angegeben, dafs es Länger anhaltender und intensivea-er Ein- wirkungen als bei quergestreiften Muskeln bedürfe, damit die Aktion glatter Muskeln in Erscheinung trete. Kurzdauernde luduktions- schläge oder schwache konstante Ströme erzeugen nur dann Kon- traktionen, Avenn sie in mehrfacher AViederholung rasch hintereinander, sei es die glatte Muskulatur selbst oder den dieselbe versorgenden Nervenstamm treffen, nur also, wenn die Möglichkeit gegeben ist, dafs Erregungssummationen innerhalb der kontraktilen Substanz stattfinden. Wie stark oder wie schwach aber auch im gegebenen Einzelfalle die Wirkungen des elektrischen Stromes ausfallen mögen, es unterliegt erfahrungsgemäfs (s. o. p. 116) nicht dem geringsten Zweifel, dafs dieselben für glatte und quergestreifte Muskeln nach absolut gleichem Gesetze erfolgen. Ein zweiter Punkt, der ebenfalls nur kurz berührt werden darf, bezieht sich auf das physiologische Verhalten der Nervenenden gegenüber demjenigen des Nervenstammes. Auch im Gebiete der glatten Muskulatur begegnen wir denselben Erscheinungen, welche uns in dem der gestreiften nötigten den intramuskulären Nerven- enden andre physiologische Eigenschaften als den Nervenfasern der Stämme zuzuerkennen. Jene reagieren auf bestimmte Gifte abweichend von diesen; während die ersteren durch viele lähmende sowohl als auch durch reizende Gifte sehr intensiv augegriffen werden, erfahren die letzteren entweder dauernd oder mindestens auf längere Zeit keine merkliche Veränderung ihres physiologischen Zustandes. So verhält es sich beispielsweise mit dem Physostigmin, welches die Nervenenden im glatten Sphiucter pupillae, nicht aber die Stammes- fasern des Oculomotorius erregt und dadurch die Pupille im Auge verengt; so verhält es sich mit dem Atropin und verwandten Al- kaloiden, welche umgekehrt die Oculomotoriusenden im Sphiucter pupillae lähmen, letzteren zur Erschlaffung bringen und dadurch Pupillenerweiterung bewirken. Unterschieden ist das Verhalten der Nervenenden bei glatten und quergestreiften Muskeln nur insofern, als diejenigen Gifte, welche die Nervenenden der ersteren besonders heftig angreifen, keineswegs immer auch diejenigen der letzteren mit gleicher Intensität beeinflussen müssen und umgekehrt. Hierhin ge- hört z. B. die Thatsache, dafs viele s-latte Muskeln bereits bei schwacher Vergiftung mit Atropin nicht mehr durch EiTcgung ihrer Nerven in die verkürzte Form übergeführt werden können, während die quergestreifte Muskulatur in gleichem Falle keine solche Einschränkung ihres Wirkimgskreises erfährt, und dafs umgekehrt das Curare (s. o. p. 85) nur die Fähigkeit der meisten quergestreiften Muskeln, beiReizung ihrer Bewegungsnerven sich zu kontrahieren, vernichtet, nicht aber, oder doch nur bei viel höheren Vergiftungsgraden, diejenige der §84. THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. 119 glatten. In wieweit der lähmende oder reizende Einflnls bestimmter Gifte anf die Nervenenden mit oder ohne Beteilignng der kontraktilen Substanz selbst Platz greift, lälst sich, schwer abmessen, und zwar aus den gleichen Gründen , von welchen wir oben (p. 88) zeigten, dafs sie die Frage nach der eignen Irritabilität der Muskeln über- haupt jeder absoluten Beantwortung wenigstens für jetzt entziehen. So theoretisch die Natur der dort erhobenen Bedenken scheinen mag, die Zulässigkeit derselben ist nicht abzuweisen, und man darf sich ihrer nicht nur nicht in den eben behandelten Fällen eigenartiger Giftwirkungen entschlagen, sondern hat sie auch im Auge zu be- halten bei der neuen Thatsachenreihe , Avelche jetzt von uns berücksichtigt werden mufs und die Ergebnisse chemischer sowie thermischer Reizungen^ der glatten Muskulatur zum Inhalte hat. Chemische Reizungen glatter Muskeln sind weniger mit experimen- tellen Bedenken verknüpft als diejenigen von quergestreiften. Die störende Einwirkung der elektrischen Gegensätze von Längs- und Querschnitt, welche bei letzteren leicht zu Täuschung Anlafs geben können, ist bei ersteren, deren elektromotorische Kräfte und elektrische Erregbarkeit verhältnismäfsig unbedeutend sind, kaum jemals zu befürchten. Es können daher die positiven Erfolge, welche man hier erzielt, sogar zur richtigen Beurteilung und eventuell als Stütze derjenigen dienen, welche man mittels gleich beschaffener Agenzien an der immerhin doch aufs nächste verwandten kontraktilen Substanz der quergestreiften Muskeln erreicht hat. Von diesem Standpunkte kommt mithin der allgemeinen Erfahrung, dafs alle von uns auf- gezählten chemischen Reizmittel der quergestreiften Muskeln sich auch als unfehlbare Reizmittel der glatten erweisen, eine erhöhte Bedeutung zu. Das Präparat, welches sich am besten zum Versuche eignet, ist der ungemein lebenszähe Sphincter pupillae des Rindes. Man trägt denselben als geschlossenen Ring in dem geöffneten Bulbus eines frisch getöteten Tieres konzentrisch zum Pupillarrande ab und hängt ihn sodann in einem besonders zu diesem Zwecke von Gruen- HAGEX konstruierten Apparate (Thermotonometer -) auf, innerhalb dessen der freischwebende Muskelring, vor jeder Eintrocknung ge- schützt, bequem auf Bluttemperatur erwärmt, elektrisch gereizt und ferner mit den ebenfalls auf Bluttemperatur gebrachten Lösungen überflutet werden kann, deren Reizeffekt ermittelt werden soll. Das im Texte erwähnte Thermotonometer besteht aus zwei konzentrischen Räumen (Fig. 83 B, p, B c), einem peripherischen und einem zentralen, welche am besten derart hergestellt werden, dafs man abgesprengte, oben und unten offene Segmente von Glascylindern mit dem einen ihrer kreisrunden Quer- 1 Vgl. SAMKOWY, PFLUEGtRs Arc7i. 1874. Bd. IX. p. 390, u. hber d. Einfl. versch. Tempe- ratiirr/r. auf d. physiol. Eigensch. d. Nerven n. Muskeln. Diss. Berlin 187.5. — GrUENHAGEN, frotok. d. Intern, med. Cong'r. London 18S1. Vol. I. p. 269. — PFALZ, Über d. Verhalfen glatter Muskeln verschiedener Tliiere gegen lemperdturdifferenzen u. elektr. Reize. Diss. Koeuigsberg 1882. 2 Grueuhhagen, Pfluegeks Arch. 1883. Bd. XXXIII. p. 59. 120 THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. §84. schnitte in die entsprechend j?eformten Rinnen einer nur im Zentrum bei 0 mit Öffnung versehenen Messingplatte (P) lose einpafst. Nur der kleine zen- trale Raum {11 c) ist oberwärts verschlossen, und zwar durch einen Metalldeckel {!)), welcher an seiner unteren Fläche einen kurzen Metallhaken trägt und aufserdem zwei Bohrlöcher enthält, von denen das eine zur Aufnahme eines empfindlichen Thermometers {T), das andre zur Aufnahme einer oben offenen und hier mit einem Gummischlauche [G] verbundenen, unten in eine recht- winkelig umgebogene fein ausgezogene Spitze mit kapillarer Öffnung auslaufenden Glasröhre (L) dient. Auf dem Boden beider konzentrischen Räume befindet sich eine ca. 1cm hohe Schicht Wasser; dasjenige des peripheren wird durch Erhitzung der unten geschlossenen, an der Bodenfläche des peripheren Raumes dagegen frei ausmündenden ebenfalls mit Wasser angefüllten Metallröhre (J?) direkt erwärmt, dasjenige des zentralen indirekt durch Leitung von selten der metallenen Bodenfläche. Die ausgeschnittenenMus- Fig. 83. kelringe der Irissphinkteren werden mittels zweier leichter Aluminium- oder Platinhäkchen einerseits an dem Haken des den Zentralraum abschliefsen- den Deckels (7J), anderseits durch die zentrale Boden- öffnung {()) hindurch mit der aufserordentlich leicht gearbeiteten Hebelvorrich- tung (H) des Thermotono- meters in Verbindung ge- bracht. Um die gröfst- mögliche Leichtigkeit zu erzielen, ist der Hebelarm derselben aus einem sehr kurzen Aluminiumstücke (S) hergestellt, dessen zwei freie Enden ausgehöhlt sind und das eine in einen dünnen langen Glasfaden (£), das andre in einen hakenförmig gekrümmten , zur even- tuellen Anhängung eines Gegenwichts bestimmten Platindrahts (TF) übergehen. Sobald die ausgeschnitte- nen Muskeln auf die be- schriebene Art in den Zentralraum eingebracht worden sind, wird, falls es sich um Muskeln von Warmblütern handelt, das Wasser der Röhre (JR) durch Untersetzen einer Gas- oder Spiritusflamme erhitzt, bis das Thermometer des Zentralraumes eine Temperatur von 38 — 39 " C. anzeigt. Alsdann ist die elektrische Erregbarkeit des Präparats festzustellen. Hierzu dienen die Klemmschrauben {K A'i), im Deckel {D) und am Hebelfufse (F), welche durch Drähte mit der sekundären Spirale eines In- duktionsapparates in Verbindung stehen, und von denen die erregenden Ströme auf der Bahn der oben beschriebenen Metallhäkchen unbehindert zu dem zwischen § 84. THÄTIGKEIT DER GLATTEN MUSKELN. 121 letzteren ausgespannten Muskelringe gelangen können. Um über die Wirkung chemischer Reizmittel Aufschlufs zu gewinnen, wird die rechtwinkelig gebogene Glasröhre (L) in Gebrauch gezogen. Diese ist von vornherein mit einigen Tropfen der zu prüfenden Lösung anzufüllen. Soll dieselbe über den Muskel aus- geschüttet werden, so genügt es, durch Drehung die kapillare Ausflufsößnung des Röhrchens dem oberen Aufliängungspunkte des Muskels anzulegen und hierauf den Gummischlauch, in welchen das freie äufsere Ende des Rölirchens ausläuft, zusammenzudrücken. Die austretende Flüssigkeit, welche der Anlage und Ausführung des Versuchs gemäfs natürlich die Temperatur des Yersuchs- raumes angenommen haben mufs, überrieselt sodann die gesamte kontraktile Substanz und ruft alsbald den durch Emporsteigen der Hebelspitze angezeigten charakteristischen Yerkürzungs Vorgang hervor, Avenn sie ein Muskelreiz- mittel enthält. Der Übereinstimuiuug halber, welche zwischen den uns bereits bekannten chemischen Reizmitteln der quergestreiften Muskeln und denjenigen der glatten herrscht, dürfen wir davon absehen, das spezialisierte Verzeichnis noch einmal zu wiederholen und verweisen statt dessen auf das früher (p. 80) gegebene. Besondere ErA\'ähnung verdient nur der gerade hier sehr bemerkbare Unterschied m den Reizwirkungen der neutralen Kali- und Natronsalze, von denen ausschliefslich die letzteren sich als einfache Reizmittel erweisen, die ersteren aufserdem nachträglich rasche und tödliche Lähmung hervorj'ufen, sowie ferner die hochgradige Empfindlichkeit des glatten Muskelgewebes gegen Galle und gegen destilliertes Wasser, Agenzien, von welchen das erste möglicherweise eine physiologische Rolle bei der Anregung der Zottenkontraktionen im Darme spielt (s. Bd. I. p. 228), das zweite in dem uns gegenwärtig beschäftigenden Gre- biete noch niemals Berücksichtigung gefunden hat. Als ein neues Er- gebnis von allgemeiner Bedeutung stellt sich dagegen heraus, dafs die glatten Muskeln ungeachtet der Gleichförmigkeit und Einfachheit ihres histologischen Baues in verschiedenen Tierarten und in verschiedenen Organen der gleichen Tierart bezüglich ihres physiologischen Verhaltens auf- fällige Differenzen beobachten lassen, also physiologisch ungleichartige Bildungen repräsentieren. Wenn diese Diffe- renzen auch nicht qualitativer Natur sind, sondern im wesent- lichen auf gröfsere oder geringere Intensität der Reizwirkungen hin- aus kommen, so bestehen sie doch in sehr auffälligem Mafse und nötigen deshalb zu dem gezogenen Schlüsse. Ganz entsprechende Erfahrungen treten uns endlich entgegen hinsichtlich der letzten noch zu besprechenden Kategorie von Reiz- mitteln, den thermischen. Die Wirkungen, denen wir auf diesem Felde begegnen, tragen ein eigentümliches Gepräge. Fortwährend drängt sich die Frage auf, ob man es mit physikalischen oder mit physiologischen Vorgängen zu thun hat, und überblickt man die ganze Reihe der Erscheinungen, so gewinnt man die Überzeugung, dafs eine scharfe Grenze in der angedeuteten Richtung nicht zu ziehen ist. Erwärmt man be- 122 THÄTKiKEIT DER GLATTEN 3IUSKELN. § 84. stimmte Arten isolierter glatter Muskeln von Warmblütern in dem oben erwähnten Tliermotonometer allmäblich von 0^ bis zur Blut- temperatur (o7*^ — 40'' C), so siebt man dieselben zunäcbst eine mehr minder starke Verkürzung erfahren, je nach der Tierart bis hinauf zu 21", 28 '^ oder 30'^ C, von dem eben bezeichneten Wendepunkt ab dagegen bei weiter fortgesetzter Temperatursteigerung bis zu 40" C. sich dauernd verlängern. Diese Wärmewirkung ist eine Lebenserscheinung, denn sie findet nur bei elektrisch reizbaren lebenden glatten Muskeln statt, niemals bei abgestorbenen toten. Aber ist die beschriebene thermische Verkürzung der echten physiologischen Kon- traktion zu vergleichen? Wir haben nur einen Grund anzuführen, welcher dafür spricht: die Wärmekontraktion wird beschleunigt und verstärkt durch gleichzeitige elektrische Tetanisierung. Die skizzierten Erscheinungen trifft man durchaus nicht bei allen glatten Muskeln an. Sie sind stets scharf und deutlich nach- zuweisen an dem Sphincter pupillae aller warmblütigen Tierarten, sie fehlen aber dem sonstigen glatten Muskelgewebe derselben (Detrusor vesicae, Darmwandmuskeln, Gefäfsmuskeln) und dem ge- samten glatten Muskelgewebe bei dem kaltblütigen Frosche und wahrscheinlich bei den Kaltblütern überhaupt. In allen Fällen der zweiten Kategorie bewirkt allmähliche Erwärmung von 0" bis auf 40" C. nur Erschlaffung. Dort wie hier wächst jedoch infolge der Erwärmung die elektrische Erregbarkeit, bei Kaltblütern selbst- verständlich schon von niedrigeren Temperaturen an als bei W^arm- blütern. Eine obere Grenze, bei welcher die Muskeln unerregbar und starr werden, liegt oberhalb 50" C. Ganz anders gestaltet sich das Bild thermischer Beeinflussung, jedoch auch wieder nur bei bestimmten Muskelarten (Sphincter pup.) und zwar mit besonders starker Ausprägung beim Sphincter pup. des Rindes, wenn man statt allmählicher plötzliche Temperatur- veränderungen vornimmt. Ein auf 36" C erwärmter Sphincter pup. vom ßinde schnellt kräftig zusammen, wenn man ihm plötzlich durch Öffnung der Wärmekammer des Thermotononieters einen Luftstrom von 16 — 20" C. oder weniger zuführt, und erschlafft langsam, wenn man die früheren Wärmeverhältnisse wiederherstellt. Es scheint demnach die plötzliche Abkühlung als ein besonders starkes Beizmittel mindestens für gewisse glatte Muskeln angesehen werden zu müssen. ]^ichts Ähnliches findet sich bekanntlich (s. p. 80) bei quergestreiften Muskeln. Von einer Beteiligung der intramuskulären Nerven an den beschriebenen Erscheinungen kann kaum die Rede sein, da alle hier mitgeteilten Thatsachen nicht nur für frisch isolierte sonst unveränderte Muskeln gelten, sondern auch für atropinisierte, also für solche, in welchen die intramuskulären Nerven gelähmt sind. A 85. EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. 123 ZWEITES KAPITEL. LEISTUNGEN DER SENSIBLEN NERVEN. ALLGEMEINES.! § Öö. Wie zahlreiclie Nervenfasern cladurcli zu motorisclien werden, dafs sie ihren Tliätigkeitszustand gewissen Apparaten, den Muskeln, übermitteln können, welche ihrerseits den empfangenen Impuls in mechanische Leistung umzusetzen befähigt sind, so Averden zahlreiche andre Nervenfasern dadurch zu sensiblen, dafs sie einen gleichen Thätigkeitszustand auf Vorrichtungen übertragen können, welche den überkommenen Impuls in abweichender Art zur Erzeugung jener mannigfachen lediglich subjektiv wahrnehmbaren Vorgänge ver- werten, denen wir allgemein den Namen der Empfindungen bei- legen. Die Apparate der ersteren Art sind, wie bekannt, den peripheren Enden der motorischen Nerven verbunden, diejenigen der letzteren befinden sich dagegen an den zentralen Enden der sen- siblen Nerven. Die Reize, welche die sensiblen Fasern in Erregung versetzen, sind sehr verschiedener Natur; aufser den allgemeinen Nervenreizen, den elektrischen, chemischen, mechanischen, welche wir im früheren weitläufig besprochen haben, und welche in jedem Nerven, gleichviel ob motorischen oder sensiblen, den Erregungs- zustand hervorrufen, sobald sie die Substanz der Nerven treffen, gibt es für die sensiblen Nerven eine Anzahl eigentümlicher Reize. Es sind dies gewisse, ihrer Natur nach teils bekannte, teils unbekannte, unter sich wesentlich verschiedene Einwirkungen von selten der Aufsenwelt, welche nur dadurch zu Reizen werden, dafs sie auf be- sondere, für verschiedene Einwirkungen verschieden eingerichtete, an den peripherischen Enden der Nerven angebrachte Apparate wirken und erst durch diese in gewisser Weise umgearbeitet an die Nerven- enden herantreten. Die Schwingungen des Lichtäthers, die Schall- wellen der ponderablen Materie, die unbekannten Qualitäten gewisser Körper, welche das Riechbare und Schmeckbare bedingen, sind keine unmittelbaren Nervenerreger, nur mittelbare, insofern sie nur durch Vermittelung jeuer Vorbaue auf die Enden der Nerven wirkend dieselben in Erregungszustand versetzen. Ein sensibler Nerv wird dadurch zu einem spezifischen Sinnesnerven, dafs er mit einem 1 E. H. Weber, R. Wagners Handwrth. d. Phiskd. Bd. ni. Abth. 2. p. 481. Art. „Der Tastsinn und das Gemeingefnhl." — LOTZE, Medicin. Psychologie. Leipzig 1S52. — FECHNER, Elemente d. Psijchophijstk . Leipzig 1860. — E. HERING, Wiener Stzber. Math.-natw. Ol. 1875. 3. Abth. Bd. LXXII. p. SlO. ] 24 EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. § 85. Vorbau für die Aufnahme eiuer bestimmten Art jener äufseren Ein- Avirkungen, die ihn unmittelbar nicht erregen A\'ürde, an den peripheiischen Enden seiner Fasern ausgerüstet ist, und an seinem zentralen Ende mit entsprechenden Apparaten zur Umsetzung seines Erregungszustandes in eine bestimmte Art der Em])findung, eine Sinnesempfinduug, in Verbindung steht. Durch die Begabung mit einem bestimmten peripherischen Vorbau, Sinnesorgan, ist dem sensiblen Nerven seine physiologische Bestimmung vorgeschrieben ; die Art der äufseren Einwirkuno: , für deren Umsetzuno: in einen . . . Nervenreiz dieser peripherische Endapparat eingerichtet ist, bildet den adäquaten Reiz des betreffenden Nerven. So sind für den Sehnerven die "Wellen des Lichtes, für den Hörnerven die Schall- wellen der adäquate Reiz, weil ersterer und er allein unter allen Nerven durch seine besondere Endigungsweise in dem komplizierten Apparat der Retina sowohl, als auch durch die vor seiner Endausbreitung befindlichen durchsichtigen Medien , welche den Zutritt der Licht- wellen zu seinen Enden möglich machen, zur Erregung durch Licht- wellen befähigt ist, weil ebenso der Acusticus allein durch seine eigentümliche Endigungsweise und die komplizierten Schallleitungs- apparate, welche die Vorbaue seiner peripherischen Enden bilden, einer Erregung durch Schallwellen fähig ist. Licht- und Schall- wellen bilden aber nicht die einzigen Reize für den Seh- und Hör- nerveu; wie jeder Nerv sind sie den allgemeinen Nervenreizen unterthan, reagieren mit ihrem empfindungerzeugenden Erregungs- zustand auf elektrische, mechanische Reize, die ihre Fasern treffen. Welcher Reiz indessen auch sie erregt, das Resultat ihrer Erregung bleibt immer die eine spezifische Sinnesempfindung, das was wir Lichtempfindung beim Sehnerven, Schallempfindung beim Hör- nerveu nennen; und zwar müssen wir den Grund dieser Konstanz der Wirkung verschiedener Erreger in der unbekannten, für jeden Sinnesnerven spezifischen Beschaffenheit des zentralen End- apparates, in welchem der Empfindungsvorgang zustande kommt, suchen, ebenso Avie die Verbindung der motorischen Nerven mit ]\[uskeln bewirkt, dafs das Resultat aller Art a-ou erregenden Einwirkungen eben Muskelzuckung ist. Es bedarf keines weit- läufigen Beweises, dafs die Lichtwellen den adäquaten Reiz des Opticus bilden, dafs die Zentralendorgane desselben bestimmt sind, aus dem durch Lichtwellen und nicht aus dem durch Elektrizität erzeugten Thätigkeitszustand seiner Fasern eine Lichtempfindung zu erzeugen: man bezeichnet daher alle neben den Lichtwellen Licht- empfindung erzeugenden Reize als inadäquate oder fremdartige für den Sehnerven. Der Empfindungsapparat am zentralen Ende eines Sinnesnerven s^estattet zwar unter allen Umständen nur eine und dieselbe Empfindungsart, diese vermag er aber stets in sehr vielfachen Modifikationen nach Intensität und Qualität zur Wahrnehmung zu bringen. Unser Gesichtssinn ruft in uns nicht nur die Empfindung § 85. EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. 125 von Licht im allgemeinen wach, sondern er befähigt uns aucli erstens, Grade desselben in zahllosen Übergängen von hell zu dimkel, vom höchsten blendenden Glänze bis zum völligen Lichtmangel, zweitens aber zahlreiche Lichtqualitäten, welche wir mit dem Namen der Farben bezeichnen, zu unterscheideu. In ganz entsprechender Weise verschafft uns der Sinnesapparat uusers Ohres innerhalb gewisser Greuzen einerseits Kenntnis von allen erdenklichen Schallgröfsen, anderseits von Tönen verschiedenster Höhe, unterrichtet uns ferner der Sinnesapparat unsrer Haut ebensowohl von dem Grade gewisser uusre Oberfläche treffenden äufseren Einflüsse, als auch über die Be- schaffenheit der letzteren, ob sie durch die Molekularbewegung der Wärme bedingt worden sind, wo sie dann zur Entstehung einer Temperaturempfindung Veranlassung geben, oder durch die Wirkung der Schwerkraft, in welchem Falle sie die Empfindung der Berührung oder des Druckes hervorrufen. Diese Leistungen der Sinnesapparate können nur zu einem Teile aus den bekannten Sätzen der allgemeinen Nervenphysiologie abgeleitet werden. Von dort her ist uns 2:eläufig, dafs die negative Schwankung des Nervenstromes und die Muskel- zuckung innerhalb gewisser Grenzen mit der Reizgröfse zu- und ab- nehmen. Es ist somit auch nicht schwierig zu begreifen, wie es kommt, dafs wir Intensitätsdifferenzen von Reizen auch mit uusern nervösen Sinnesvorrichtungen aufzufassen imstande sind. Die Qualitätsunterschiede unsrer Empfindungen ihrem Wesen nach zu verstehen, liefert uns dagegen die allgemeine Nervenphysiologie kein positives Material; nur einen Fingerzeig von negativem Wert gibt sie uns durch den Nachweis, dafs ein Abschnitt der nervösen Sinnes- organe, der die zentralen und peripheren Endpunkte A'erbindende Sinnesnerv, zu der Entstehung qualitativer Empfindungsuuterschiede an sich nichts beiträgt. In dieser Hinsicht kann als festgestellt au- gesehen werden, dafs der Thätigkeitszustand sämtlicher Nervenfasern unsers Körpers gleichartiger Natur ist, die qualitativ verschiedenen Funktionen derselben folglich nur durch eine besondere Einrichtung derjenigen Organe verursacht sein können, in welchen der Thätigkeits- zustand der Nervenfaser, sei es objektiv als Mnskelbewegung oder Sekretion, sei es subjektiv als Empfindung zur Aufserung gelangt, gerade so wie die mannigfaltigen und ihrer Natur nach so erheblich von einander differierenden Effekte eines und desselben elektrischen Stromes nur durch die verschiedene Konstruktion der Apparate be- dingt werden, in welchen die elektrische Kraft bald zum Läuten von Glocken, bald zur Sprengung von Pulverminen, bald zur Ab- lenkimg von Magnetnadeln Verwendung findet. Die Empfindung von blau und von rot, von hohen und von tiefen Tönen wird so- mit nur unter der weiter nicht zu erklärenden Annahme begreiflich, dafs in unserm nervösen Zentralorgane gewisse Vorrichtungen existieren, welche die Thätigkeit der an sie herantretenden Nerven mit einer ihnen eigentümlichen Farben- oder Tonempfindung be- 126 EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. § 85. antworten. Diimit sind wir aber wieder auf dem Ausgangspunkt unsrer Ausführung angelangt, zu der Voraussetzung besonderer mit spezifischen Sinnesenergien ausgerüsteter Zentralapparate, Avelche ihrerseits und allein die verschiedenen allgemeinen Qualitäten einer Licht-, Schall- und Gefühlsempfindung produzieren. Wenn von einigen Seiten ^ der Versuch gemacht worden ist, diese den Namen JoH. Müllers ^ tragende Lehre zu erschüttern und durch die An- nahme qualitativ verschiedener Erregungsvorgänge in dem gesamten peripheren und zentralen Nervenapparat der verschiedenen Sinnes- organe zu ersetzen, so scheint uns dabei dem Umstände nicht mit genügender Schärfe Rechnung getragen zu sein, dafs mindestens für die verbindenden Nervenstämme das Vorkommen differenterThätigkeits- vorgänge ausgeschlossen ist. Die Forderung zentraler, in besonderer "Weise reagierender End- punkte der Sinnesapparate, welcher auch wir beitreten, bedingt ferner aber auch mit Notwendigkeit die zweite nach besonderen peripherischen Endpunkten, welche ausschliefslich oder wenigstens vorzugsweise für die den differenten Qualitäten einer Schall-, Licht- u. s. w. Empfindung entsprechenden ebenfalls difii'erenten objektiven Reize empfänglich sind. Wäre dem nicht so, wäre jedes Endorgan allen möglichen Licht- oder Schallschwingungen in gleichem Mafse zu- gänglich, so würde das zugehörige Zentralorgan ebensowenig zur qualitativen Unterscheidung seiner adäquaten Reize geeignet sein, als wenn es überhaupt nur für die Perzeption einer einzigen all- gemeinen Empfindungsqualität eingerichtet wäre. Jedes Sinnesorgan, welches qualitative Differenzen seiner adäquaten Reize zur Wahr- nehmung bringt, wird also erstens aus einer Anzahl peripherer End- apparate aufgebaut sein müssen , welche von verschieden gearteten Reizursachen in imgleichem Grade, die einen gar nicht, die andern besonders stark angegriffen werden, zweitens über leitende Nervenfasern verfügen müssen, welche die in den peripheren Endapparaten modi- fizierte Reizbewegung übertragen erhalten, und endlich drittens über ge- sonderte mit spezifischen Energien begabte psychische Zentralapparate, welche den ihnen von selten des zuleitenden Nerven übermittelten Impuls eigenartig zu einer Empfindung umgestalten. Nur in diesem Falle ist es denkbar, dafs wir eine einigermafsen sichere Kenntnis von der Mannigfaltigkeit der Farben-, Ton- und Gefühlsreize er- langen. Wie in der Verschmelzung mehrerer gleichzeitigen, quali- tativ verschiedenen Erregungsvorgänge in unserin Bewufstsein, von welchen jeder einzeln für sich eine eigenartige Empfindung auszu- lösen imstande ist, ein Moment gegeben ist, qualitativ neue Empfindungen zu produzieren, werden wir bei der Besprechung der einzelnen Sinne öfters zu untersuchen haben. Hier erwähnen Avir 1 W. WUNDT, Grunihü'-ie der phisiol. Psiicholofjie. 2. Aufl. Leipzig ISSO. Bd. I. p. 31-1 u. fg.; ebenda p. 321 die Citatiou andrer gegnerisclier Scliriften. 2 JoH. MÜLLER, Handb. d. PItijsiol. Koblenz 1840. Bd. II. p. 219 u. fg.; Zur vergleich. Phijslol. d. Gesichtssinnes, p. 39. §85. EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. 127 dasselbe nur kurz, da es jetzt allein von Wichtigkeit ist, das Zustandekommen wirklich einfacher, qualitativ verschiedener Empfindungen, nicht aber dasjenige gemischter, nur scheinbar ein- facher dem Verständnis näher zu bringen. Ausdrücklich mufs je- doch schon an dieser Stelle hervorgehoben werden, dafs alle die genannten Vorgänge, nach deren Ablauf die Empfindung entsteht, nicht etwa ohne weiteres mit dem Akte des Empfindens identifiziert werden dürfen. Zweifellos sind sie uuerläfsliche Voraussetzungen desselben, aber die Art der Beziehung, welche zwischen den Be- ^A^egungen der Nervenmaterie und einer von uns als Empfindung be- zeichneten Bewulstseinsänderung besteht, bleibt für Physiologie und Psychologie gleich dunkel. Indessen, wenn bei dem jetzigen Stand- punkte iTusres Wissens auch zuzugeben ist, dafs dieses letzte Problem sich jeder Beantwortung entzieht, so ist damit der Forschung auf dem Gebiete der Sinnesphysiologie zwar eine Schranke gezogen, aber kein Stillstand geboten. Zwei Richtungen sind es namentlich, nach welchen sich die Bestrebungen der Physiologie ganz unbeengt äufsern können, und in welchen ihr noch grofse Aufgaben zur Lösung aufbehalten sind. Einmal steht ihr frei, die materielle Bahn, auf welche sie allein angewiesen ist, fortzugehen und den allmählichen physischen ümformungsprozefs der äufseren physi- kalischen ßeizursachen durch die einzelnen Teile unsrer Sinnes- apparate von den peripheren Aufnahmevorrichtungen durch die leitenden Nervenfasern zu den psychischen Zentralorganen klar zu legen, anderseits die Mafsbeziehungen festzustellen, welche zwischen den Bewegungsvorgängen der von äufseren Reizen beein- flufsten organischen Materie und der psychischen Reaktion der letz- teren off'enbar bestehen. In bezug auf den ersten Punkt soll das uns bis jetzt bekannt gewordene bei der Besprechung der einzelnen Sinnesorgane mitgeteilt werden, in bezug auf den zweiten halten wir es für zweckmäfsig, einige Sätze von allgemeiner Bedeutung dem speziellen Teile unsrer Darstellung vorauszuschicken. Die Aufgabe, welche unsrer wartet, läfst sich kurz dahin zu- sammenfassen: einen Weg zu finden, auf welchem ein objektiver Messung fähiger, äufserer Bewegungsvorgang, der Reiz, in ein durch Zahl werte ausdrückbares Verhältnis zu dem rein subjektiven psychischen Vorgange einer Empfindung, gleichgültig von welcher Qualität, gebracht werden kann. Wie schwierig es sein mufs, dieser Aufgabe zu genügen, leuchtet jedem ein, der dem fortwährend schwankenden Gehalt seiner eignen Empfindungen einige Auf- merksamkeit geschenkt hat. Nichtsdestoweniger kann es nicht fraglich sein, dafs den Empfindungen nicht nur überhaupt ein Gröfsenwert, sondern sogar unter gegebenen Verhältnissen auch immer ein ganz bestimmter Gröfsenwert zukommen mufs. Denn eine alltägliche Erfahrung lehrt, dafs wir ein ziemlich sicheres Mafs besitzen für den Grad von Kraft, welche wir zur Erzielung gewisser 128 EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. §85. Effekte iinserm Muskelsysteme erteilen. Jedermann weils, dafs es nach einiger l-lmug leicht gelingt, verschieden schwere, d. h. ver- schieden starke Druckempfindungen auslösende, Körper mit richtig bemessener Kraftausgabe an dasselbe Ziel zu schleudern, oder den Stimmbändern des Kehlkopfs diejenige Spannung zu erteilen, bei welcher dieselben durch den Luftstrom unsres Atems in die von unserm Ohre gerade verlangte Zahl von Tonschwingungen versetzt werden können. Eine unbefangene Beobachtung sagt uns ferner, dafs die genannten Fertigkeiten nur erworben werden können, wenn in dem einen Falle der Gefühlssinn unsrer Hand, in dem andern iinser Gehörssiun normal funktioniert, dafs es somit beide Male in erster Linie nur gewisse Empfindungen gewesen sind, aus welchen wir ims über den erforderlichen Grad der heranzuziehenden Muskel- kraft unterrichteten. Wir erfahren somit, dafs wir in der irgendwie erfolgten Verwertung subjektiver Empfindungen einen jVIafsstab zur Erzielung eines mechanischen Effektes von richtigem Werte besitzen, eine Thatsache, welche sich nur begreifen läfst, wenn zwischen den physikalischen Kräften der Aufseuwelt und den mittelbar durch die Sinnesorgane von ihnen ausgelösten Prozessen ein konstantes Mafs- verhältnis existiert. Zugleich weist die nämliche Erfahrung aber auch auf das Bestehen einer direkten Proportionalität zwischen Reiz und Empfindung hin. Denn ohne eine solche dürfte es schwer fallen, jene Sicherheit unsers Handelns zu erklären, welche im Grunde doch nur begreiflich ist, wenn man annimmt, dafs die Gröfse und Stärke unsrer Empfindungen, welche das einzige Malsmittel unsrer Seele für die uns treftenden Einwirkungen der Aufsenwelt bilden, mit letzteren selbst genau harmoniereu. Dieser denkbar einfachsten Anschauung, welche wir uns von der Beziehung zwischen physischem imd psychischem Geschehen machen können, darf indessen vor der Hand nur ein günstiges Vorurteil entgegengebracht werden, Gewifs- heit darüber, ob dasselbe empirisch gerechtfertigt werden wird, be- sitzen wir nicht; geraume Zeit hindurch glaubte man jede solche An- sicht sogar als entschieden irrtümlich von der Hand weisen zu müssen und unwiderleglich darthun zu können, dafs das Verhältnis objektiv mefsbarer Peizgröfsen untereinander durchaus verschieden wäre von dem subjektiven der zugehörigen Empfindungsgröfsen. Der Begründer dieser fast allseitig anerkannten Lehre Avar Fechner; die Stützen dafür glaubte er in gewissen von E. H. Weber aufgestellten Sätzen zu finden, welche über die Empfindlichkeit unsrer Seele gegen Reiz- unterschiede eine sehr umfassende und, wie es schien, mit allen bekannten Thatsachen in völligem Einklänge stehende Auskunft er- teilten. Webers Untersuchungen, auf welche hier kurz eingegangen werden mufs, knüpften an das Faktum an, dafs wir zwar nicht im- stande sind, von zwei verschieden starken Empfindungen anzugeben, um wievielmal die eine stärker als die andre sei, jedoch mit Sicherheit §85. EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. 129 beurteilen können, ob zwei Empfindungen einander gleich sind oder nicht. Lösen wir durch einen Reiz von bestimmter, genau ge- messener Gröfse eine Empfindung aus und vermehren oder ver- mindern dann unter ganz gleichen Bedingungen diesen Reiz all- mählich, so können wir genau ermitteln, bei welchem Werte des positiven oder negativen Reizzuwachses die zugehörige Empfindung eine eben merkliche Verstärkung oder Abschwächung gegen die ursprüngliche erfährt. Ermitteln wir nun in einer Sinnessphäre für alle möglichen absoluten Reizgröfsen, von der schwächsten, welche überhaupt empfunden wird, ausgehend, die Gröfsen der Reizzuwüchse, welche erforderlich sind, um einen eben merklichen Empfindungs- unterschied zu erzeugen, so ergibt sich, und das ist der Inhalt des TVEBERschen Gesetzes, dafs diese Gröfsen der Reizzuwüchse dem zunehmenden ursprünglichen Reize proportional ansteigen, oder auch, wie E. Hering es ausgedrückt hat, dafs der wirkliche Unter- schied zweier eben merklich verschieden erscheinenden gleichartigen Gröfsen proportional mit den Reizgröfsen wächst. Belasten wir also einen Teil unsrer Haut mit einem Gewicht von der Schwere 1, und bedarf es einer Vergröfserung dieses Gewichts um ViOj damit wir einen Druckunterschied empfinden, so ist bei einem Gewichte von der Schwere 2 der doppelte, bei einem Gewicht von der Schwere 3 der dreifache Zuschlag, also ^lo, Vio der angenommenen Gewichtseinheit er- forderlich, um eine eben merkliche Änderung unsrer Empfindung zu bewirken. 2 Decigramm stellen aber für 2 Gramm denselben relativen Reizzuwachs dar, wie 1 dg für lg und 3 dg für 3 g. Ähnliche Ergebnisse erzielte Weber auch im Bereiche des Gesichts- und des Gehörssinns, als er den kleinsten Unterschied zu ermitteln suchte, welchen unser Auge bei der Vergleichung von Längendimensionen, unser Ohr bei der Vergleichung von Tonhöhen eben wahrzunehmen vermag, und diese weder sehr zahlreichen noch, wie sich später ergeben wird, in grofsem Umfange sichergestellten Thatsachen waren es, in welchen Fechner die Spuren eines Gesetzes zu erkennen glaubte, welches über die lange gesuchte Mafsbestimmung zwischen psychischem und physischem Gebiete Aufschlufs gäbe, eines Gesetzes freilich, dessen Gültigkeit anfechtbar bleiben mufs, weil es die Daten der WEBERschen Untersuchungen nicht in ihrer rein er- fahrungsmäfsigen Gestalt enthält, sondern einer zwar möglichen, aber keineswegs notwendigen Deutung unterzieht. Denn statt dieselben in der bereits mitgeteilten allein korrekten Form zusammenzufassen, legt es die Ermittelungen Webers dahin aus, dafs die eben merk- lichen subjektiven Empfindungsunterschiede, welche durch den Reiz- gröfsen proportional wachsende, also verschieden grofse objektive Reizzuwüchse bedingt werden, einander an Gröfse gleichzusetzen seien. In bezug auf das im früheren ausgeführte Beispiel sollte demnach die durch 2 oder 3 dg bewirkte Steigerung einer Druck- Gruknhagkn, Phyaiologie. 7. Aufl. 11. 9 130 EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. § 85. empfindung der durch 1 dg bewirkten gleich werden können, wenn im ersten Fall 2 oder 3, im zweiten 1 g den ursprünglichen Reiz bildeten. Damit wäre nun allerdings ein Satz gewonnen, welcher eine bestimmte Aussage über das Verhältnis von Empfindungs- und Reizgröfsen enthielte, in kürzerer Form lauten würde, dafs gleichen relativen Reizzuwüchsen gleiche Empfindungen entsprächen. Allein diese von Fechner mit Unrecht als WEBERsches Gesetz be- zeichnete Aufstellung ist keineswegs eine unmittelbare Folge der von Weber gefundenen Thatsachen, sondern nur das Ergebnis einer Spekulation, welche auf der höchst zweifelhaften (Lotze, E. Hering) ^ Prämisse fufst, dafs eben merkliche Empfindungsuntei'schiede unter allen Umständen, möge die absolute Gröfse der verglichenen Reize sein, welche sie wolle, einander ihrem objektiven Mafs werte nach absolut entsprechen müfsten. Ein zweiter Einwand, welcher eben- falls die logische Notwendigkeit der FECHNERschen Unterstellung in Zweifel zieht, basiert auf einer ganz andren Überlegung. Es ist nämlich wohl zu beachten, dafs der Mafswert einer Empfindung dieser nicht etwa an und für sich schon beiwohnt, sondern erst durch einen eigenartigen psychischen Prozefs, den der vergleichsweisen Schätzung, gewonnen wird. Demnach könnte die Empfindung als solche ihrer Intensität nach gar wohl mit der Reizgröfse proportional wachsen, dagegen der letztere Vorgang, die Schätzung, mit einem Fehler verbunden sein, welcher seinerseits mit den Reizgröfsen in direktem Verhältnis zunimmt, d. h., statt eines Gesetzes über den Mafswert von Empfindungen Avürde sich aus den empirischen Daten "Webers nur ein Gesetz über die Fehlergröfse unsers Schätzungs- vermögens ableiten lassen. Und hier begegnen wir uns wohl mit WuNDTs - Ansicht, nach welcher das FECHNERsche Gesetz nicht so- wohl auf die reinen Empfindungen (Perceptionen), als vielmehr auf jene von letzteren ausgelösten psychischen Vorgänge Bezug hat, aus welchen sich in uns die Relationen der verschiedenen seelischen Zustände zueinander feststellen, kurz auf die Apperceptionen Wundts. Allgemein scheint also aus den beiden hier berührten Gründen gefolgert werden zu müssen, dafs ein notwendiger innerer Zusammen- hang zwischen Fechners Deduktion und dem eigentlichen Inhalt der WEBERschen Untersuchungen nicht besteht. So richtig daher die weiteren Folgerungen Fechners sind, und so unbestreitbar es ist, dafs sich, A^enn die gemachte Voraussetzung richtig wäre, die Gröfse unsrer Empfindungen nicht den Reizgröfsen direkt, sondern nur den Logarithmen derselben proportional verhalten müfste, so wenig kann die Grundlage dieser von Fechner sogenannten psycho- physi sehen Mafsformel für gesichert augesehen werden, und so wenig ist also auch durch letztere die Möglichkeit einer direkten 1 E. Hering a. a. O. — H. Lotze, Medicin. Psuchnioaie. Leipzig: 1852. p. 211. ^ WUNPT, Grundzüge der phi/siol. Psychologie. 2. Aufl. Leipzig 1880. Bd. I. p. 351. § 85. EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. 131 Proportionalität zwischen physischem und psychischem Geschehen erschüttert. , Die mathematische Ableitung der psycho-physischen Mafsformel ergibt sich nach den Grundsätzen der Inflnitesimal-Rechnung sehr einfach, wenn man das von Feghxer sogenannte AVEBERsche Gesetz zimächst wie folgt als Gleichung schreibt: dß dy ^ K-j- (1) WO dy den eben mei'klichen Empfindungsunterschied, ß den ursprünglichen Reiz, dß den Reizzuwachs, welcher den Empfindungsuuterschied dß bedingt, und K eine Konstante bedeutet. Nimmt man alsdann dy und dß als kleinste Teile von y und ß und erteilt ihnen dadurch den Wert von Difierentialen dieser Gröfsen, so führt die Integration der Gleichung (1) unmittelbar zu der zweiten y = K log. ß -j- Konst (2) Wie die alltägliche Erfahrung lehrt, gibt es Reize, deren Gröfse zwar noch bestimmbar, deren Wirkung auf die sensiblen Nerven aber gleich Null ist. Nennen wir einen solchen Reiz, welcher gerade schwach genug ist, um sjnirlos aii unsern empfindungvermittelnden Organen vorüberzugehen, die Reizschwelle Fechxers, b, und führen denselben in die Gleichung (2) ein, so erhalten wir eine neue Gleichung o = X log. b — Konst (3) und nach Subtraktion beider y = K log. ß — K log. b - t^ log. |- (4) Für einen andren Reiz ß^ würde sich auf demselben Wege ergeben y, = A log. ^ und folglich y_ _ log, ß r.-iog.ß, ^^^• Insofern das psychophysische Gesetz Fechners durch die schein- bare Sicherheit seiner Fundamente ein wesentliches Hindernis bilden mufste, die Möglichkeit einer zwischen Reiz und Empfindung be- stehenden direkten Proportionalität auch nur zu einer diskussions- fähigen zu machen, ist durch die Aufdeckung der Bedenken, welchen gerade der Haupt- und Vordersatz jenes Gesetzes unterliegt, und welche auch durch spätere gegnerische Ausführungen ^ keineswegs fortgeräumt worden sind, der Sinuesphysiologie offenbar ein Dienst erwiesen worden. Anderseits ist derselben jedoch zugleich auch das einzige Mafsprinzip geraubt "worden, w^elches einer objektiven Hand- habung in dem vorliegenden Gebiete fähig war, und uns somit jede Möglichkeit abgeschnitten, die Frage nach der zwischen Eeiz und Empfindung bestehenden Mafsbeziehung einer exakten Lösung ent- gegen zu führen. Hieraus folgt, dafs jede Ansicht über das in Rede stehende Verhältnis zur Zeit nur von selten ihrer gröfseren oder ' Fechxer, In Sachen der Psychophysik. Leipzig 1877. p. 42 u. 45. — S. EXKEK, HERMANNS, Hdbch. d. Physiol. 1879. Bd. II. 2. p. 241 u. ifg. — G. E. MiJLLER, Zur Grundlegung d. Pschychophysik. Berlin 1878. 9* 1 32 EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. § 85. geringeren Wahrscheinliclikeit beurteilt werden kann, einer strengen Ansprüchen genügenden Gewifsheit dagegen notwendig ermangeln mul's, und erklärt sich, warum wir auch der von uns oben befür- worteten Anschauung ausdrücklich nur eine sehr bedingte Berech- tigung zuerkannt haben. In wie engen Grenzen selbst die WEBERschen Prinzipien Geltung besitzen, wird sich bei der speziellen Erörterung der einzelnen Empfindungsqualitäten heraus- stellen. Die Zergliederung der psychischen Effekte, welche durch die Sinnesreize hervorgerufen w^erden, lehrt, dafs dieselben nicht auf diejenigen nächsten Vorgänge, welche als reine Empfindungen zu bezeichnen sind, beschränkt bleiben, dafs vielmehr jede der letzteren sich mit geAvissen Vorstellungen und Urteilen verknüpft, welche der Laie allerdings irrigerweise mit zu dem Inhalt der eigentlichen Empfindungen zu rechnen, ja sogar als deren wesentlichen Inhalt zu betrachten pflegt. Es ist femer leicht erweislich, dafs die Empfindungen lediglich durch die Vorstellungen, mit welchen sie sich kombinieren, durch die Auslegung, welche die Seele mit ihnen vornimmt, die Dienste leisten, für welche sie bestimmt sind. Die Lichtwellen, welche von einem Baum in unser Auge dringen, erzeugen zunächst allerdings nur einen solchen Zustand unsers Bewufstseins , den wir eine grüne Empfindung nennen, allein scheinbar gleichzeitig mit dieser tritt vor die Seele ein sehr mannigfacher Komplex von Vor- stellungen, die Beziehung der Empfindung auf einen aufserhalb unsers Ichs befindlichen Baum, die Vorstellung von der Form, Gröfse, Entfernung dieses Baumes; und diese sekundären Interpretationen sind es, welche aus der einfachen grünen Lichtempfindung eine zur weiteren psychischen Verarbeitung brauchbare Gesichtswahrneh- mung machen. Unter allen den Vorstellungen, welche die Seele an die Empfindung knüpft, ist die wichtigste und verbreitetste die Vor- stellung von der Äufserlichkeit der Empfindungsursachen, die Ob- jektivierung der Empfindungen; sie verlegt, wie das citierte Bei- spiel lehrt, ihre Lichtempfindung mit ihrer grünen Qualität in den äufseren Baum, sie verlegt die Wärmeempfindung, welche bei Be- rührung eines warmen Körpers entsteht, in diesen, die Ton- empfindung in die schwingende Saite oder Luftsäule der Orgelpfeife. Die Wahrnehmung der Objektivität der Empfindungsursachen ist durchaus nicht Inhalt der Empfindung selbst, jede Empfindung in jeder Sinnessphäre ist an sich etwas rein Subjektives; die Objekti- vierung ist nicht einmal eine angeborene, von selbst mit zwingender Notwendigkeit vor sich gehende psychische Verarbeitung der Empfin- dung, sie ist auf einem langen mühsamen Erfahrungswege, in welchen freilich die Seele bei ihrer Erziehung unvermeidlich hineingedrängt wird, erlernt. Die Seele des neugeborenen Kindes kennt noch gar nicht den Gegensatz zwischen dem empfindenden Ich und der Aufsen- welt, sie mufs erst durch Erfahrungen zu dem Schlufs getrieben § 85. EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. 133 werden, dafs dieser Gegensatz existiert, ehe sie lernen kann, die von Anfang an vor ihr Bewufstsein tretenden Empfindungen auf Aufsen- dinge zu beziehen. Welcher Art diese Erfahrungen sind, die zur Erkenntnis des Gegensatzes zwischen Ich und Aufsenwelt führen, wird bei der speziellen Sinneslehre zur Sprache kommen. Einen Einblick in die selbsterzieherische Thätigkeit unsrer Seele verschafft uns die sorgfältige von Tag zu Tag fortgesetzte Beobachtung Neu- geborener ^ und die mögliche Zerlegung der völlig ausgebildeten seelischen Leistungen in ihre Elemente.^ Jedenfalls wird es der Seele im Anfang schwer, ihre Empfindungen zu objektivieren, sie wird die Übertragung derselben in die Aufsenwelt mit einer gewissen Zaghaftigkeit vornehmen und sich des Denkaktes, welcher sie dazu veranlafst, deutlich bewufst werden. Allmählich, wenn tausend und aber tausend zufällige und absichtlich herbeigeführte Erfahrungen sie in ihrer Schlufsfolgerung bestärkt haben, wird sie sicherer und gelangt endlich dahin, dafs sie ohne Überlegung unmittelbar die Ob- jektivitätsvorstellung der Empfindung anschliefst und die zwischen beiden liegende Kluft, welche sie mühsam zu überbrücken gelernt hat, ganz übersieht. Der erzogenen Seele erscheint Empfindung und Vorstelluns: dem Inhalt nach und zeitlich so inniof zu Einem ver- schmolzen, dafs sie nicht mehr imstande ist beide auseinander zu halten, selbst dann nicht, wenn sie weifs, dafs diese Verschmelzung ein an- gelernter Irrtum ist. Ja sie geht so weit, dafs sie die Qualitäten der subjektiven Empfindungen den äufseren Objekten, welche sie als Ursachen der ersteren erkennt, als Eigenschaften andichtet, dafs sie die Qualität der Farbe den lichtausstrahleuden Objekten, das Grün der Lichtempfindung den Blättern des Baumes, den Ton der schwingenden Saite, die Wärme dem Tastobjekt vindiziert, dafs sie sich dem un vertilgbaren Wahn hingibt, die Farbe dringe als etwas Fertiges von aufsen in das Auge, der Ton als solcher in das Ohr, dafs ihr die physiologische AVahrheit, nach welcher die Gesichts- empfindung leuchtet und die Hörempfindung tönt, unfafsbar erscheint. Sie kehrt das Verhältnis zwischen Sinnen- und Aufsenwelt um, ver- gifst, dafs die Aufsenwelt durch die Pforten der Sinnesorgane zur Seele hereindringt, und meint, dafs die Sinne nach aufsen wirken. „Nicht durch empfangenes Licht der Gegenstände", sagt Lotze treffend, „glauben wir im Sehen gereizt zu sein, sondern mit nach aufsen strahlender Sehkraft des Blickes sie in der Ferne leise zu be- tasten. Die Empfindung däucht uns eine in die Ferne wirkende Spürkraft, welche die entlegenen Objekte aufsucht und sie unserm Bewuftsein annähert." Dafs diese Li'tümer so fest einwurzeln, ist keine Beeinträchtigung der Sinnesleistungen: im Gegenteil verdanken wir gerade diesen Irrtümern die prompten mühelosen Belehrungen ' Preyer, Die Seele des Kindes. Leipzig 1882. 2 E. H. WEBER, a. a. O. (dies Lehrb. Bd. H. p. 121.) 134 EMPFINDUNGEN IM ALLGEMEINEN. § 85. über die Beschaffenheit der Aufsenwelt, für welche die Sinne über- haupt angelegt sind. Es wäre Zeit- und Kraftverlust, wenn wir lebenslänglich jede Empfindung zunächst isoliert als subjektiven Vorgang auffassen und dann erst durch eine weitläufige Geistes- operation, welche der ]\Iitwirkung des Willens und der Aufmerksam- keit bedürfte, in eine objektive Vorstellung übersetzen müfsten. Nicht alle Empfindungen objektivieren wir, es gibt solche, die wir aus- nahmslos auf unser empfindendes Subjekt beziehen, wie z. B. den Schmerz. Berühren wir einen warmen Körper, so verlegen wir die empfundene Wärme in das berührte Objekt, ist letzteres aber heifs, so suchen wir den empfundenen Schmerz in dem berührenden Teil unsrer Haut. Eine nähere Begründung dieses wesentlichen Unter- schiedes zwischen objektivierbaren und nicht objektivierbaren Empfindungen folgt bei der Lehre vom Tastsinn. Eine zweite äufserst wertvolle Kategorie von Vorstellungen, welche regelmäfsig an gCAvisse Empfindungen sich anschliefsen, bezieht sich auf die räumlichen Verhältnisse der Reizobjekte, oder zunächst der Sinnesorgane, und durch diese mittelbar der R.eizobjekte. Jede Lichtempfindung verlegen wir nicht nur überhaupt in die Aufsen- welt, sondern auch in eine ganz bestimmte Richtung, versetzen sie an einen ganz bestimmten Ort des vorgestellten äufseren Raumes. Dadurch dafs Avir die diski'eten Lichtempfindungen, welche die ein- zelnen leuchtenden Punkte erzeugen, aus denen wir uns jedes Seh- objekt mosaikartig zusammengesetzt denken können, in ganz derselben relativen Anordnung, welche die Leuchtpunkte des Objektes wirklich einnehmen, nach aufsen projizieren, erhalten wir die umfassenden Wahrnehmungen über Gröfse, Eorm, Lage und Entfernung der sicht- baren Aufsendinge. Berührt ein Körper einen Teil unsrer Haut, so steht im Augenblick mit der Tastempfindung verschmolzen vor der Seele eine genaue Vorstellung von der Lage, Form und Gröfse der gereizten Hautfläche und mittelbar von der Form und Gröfse der berührten Fläche des Tastobjektes. Hören wir einen Ton, so ver- legen wir ihn in die Schallquelle und suchen diese in bestimmter Richtung und Entfernung von unserm Ohi\ Auch diese räumlichen Vorstellungen sind nicht angeborene Attribute der betrefi'enden Empfindungen, sondern erlernte Auslegungen derselben, auf demselben mühsamen Erfahrungsweg in der ersten Kindheit erlernt, wie die zuerst besprochenen Objektivitätsvorstellungen, aber auch eben so fest durch Übung angewöhnt, dafs sie schliefslich scheinbar Eins mit der Empfindung werden, dafs der erzogenen Seele die Tastempfindung wirklich in der berührten Hautstelle zu liegen scheint. Ja sie ist so pedantisch darauf eingeschult, die Tastempfindungen in die Stellen der Haut zu verlegen, an welchen die gereizte Nervenfaser endigt, dafs sie diese Lokalisierung auch dann noch vornimmt, wenn die betreffende Hautstelle gar nicht mehr da ist und die zugehörige Nervenfaser an einer beliebigen Stelle ihres Verlaufs gereizt wird, §85. EMPFI^'DUXGEN DI ALLGEMEINEN. 135 (lafs der Amputierte die Empfindung, welclie durcli Druck auf den sensiblen Nervenstumpf in der Wunde erzeugt wird, noch in die Haut der niclit mehr vorhandenen Gliedmafsen, in welchen jene Nerven endigten, verlegt. V^on einer vorläufigen Besprechung anderweitiger Vorstellungen und Urteile, welche sich an die einfachen Empfindungen knüpfen, sehen wir ab: es gilt für ihre Entstehung und Bedeutung im all- gemeinen dasselbe, was für die besprochenen gilt. Auch in betreff einer allgemeinen Wertschätzung der Sinnes- leistungen glauben wir uns auf wenige Andeutungen beschränken zu dürfen; es gibt ja die alltägliche Elf ahrung selbst dem oberflächlichen Beobachter reichen Aufschlufs darüber. Unsre Sinnesorgane sind die offenen Pforten, durch welche die Aufsenwelt der Seele über Sein und Geschehen in ihr, über Zustände und Veränderungen der nah und fern uns umgebenden Dinge die unendlich mannigfachen Botschaften zuträgt, welche nicht allein Grundlage und Inhalt unsers ganzen geistigen Lebens bilden, sondern auch in der Er- haltung unsrer körperlichen Existenz eine tiefeingreifende Bolle spielen. Die Sinne sind es, mit denen wir unsre Nahrung aufsuchen, erkennen und prüfen, Empfindungen sind es, welche den Trieb dazu wecken und die Gröfse der Zufuhr, wie sie das Bedürfnis erheischt, regulieren; Empfindungen belehren uns in der feinsten Weise über die qualitativen und quantitativen Verhältnisse aller äulseren Lebens- bedingungen, z. B. Temperatur des umgebenden Mediums, Ver- unreinigung der Atemluft u. s. w. , Empfindungen sind die Trieb- federn für die Ausübung der Zeugungsgeschäfte. All unser Denken, ja all unser willkürliches Handeln fliefst mittelbar oder unmittelbar aus der einen Quelle der Empfindungen. Entweder sind es reelle zufällige, oder absichtlich herbeigefühi-te Empfindungen, welche die Seele denkend verarbeitet, oder sie stellt sich Empfindungen vor, mit deren Hilfe sie ihre ununterbrochenen Gedankenlcetten fortspinnt; ja selbst im Schlaf, wo die Thore der Sinne mehr weniger fest den Einwirkungen der Aufsenwelt verschlossen sind, träumt sie sich sehend, hörend, fühlend, und vermifst sogar die geträumten Licht- empfindungen, wenn sie die wandelbare Laune eines Traumes in einen dunkeln Raum führt. Prüfen wir aufmerksam und vorurteils- frei den ganzen Kreis unsrer sogenannten freiwilligen Handlungen,^ so werden wir überall, ofi'en oder versteckt, nahe oder fern liegend in Empfindungen die vis a tergo finden, welche sie hervorruft; von den ersten unbewufsten zwecklosen Reflexbewegungen des Neu- geborenen an .sind alle unsre Handlungen direkte oder indirekte Reaktionen auf Sinneseindrücke. Dafs wir überhaupt erst dann willkürlich in die Aufsenwelt eingreifen können, nachdem uns die Sinne zur Erkenntnis der Aufsenwelt verholten haben, versteht sich von selbst; es ist aber auch in jedem einzelnen Fall die Entwickelung lebendiger Willenskraft an einen Impuls, den die Sinne von aufseu 136 GEFÜHLSEMPFINDUNGEN. § 86. zuleiten, gebunden, sei es, dafs die Auslösung der Reaktion durch diesen Impuls unmittelbar erfolgt, sei es, dafs zwischen Reiz und Reaktion eine kürzere oder längere Denkoperation eingeschaltet liegt. Geht einer dieser kostbaren unersetzlichen Lehrer und Leiter im Leben verloren, erlischt der Gesichtssinn, so engt sich, trotzdem dafs die Resultate seiner früheren Leistungen als Erinnerungsschätze bleiben, der Ideen- und Handlungskreis in auffallender Weise ein; fehlen aber von Geburt an ein oder mehrere wichtige Sinne, so vegetiert die Seele zeitlebens in trübseligem Stumpfsinn dahin, und keine Kunst der Erziehung kann ihren freien Willen der Lethargie enti'eifsen, zu welcher ihn der Mangel der Empfindungsimpulse verdammt. G E F Ü H L S S I N N. ALLGEMEINES. § HO- Charakteristik der Gefühlsempfindungen. Es lassen sich die verschiedenen Empfindungsqualitäten, die man unter dem gemein- schaftlichen Begriff der Gefühlsempfindungen zusammenfafst, ebensowenig wie irgend eine andre Empfindung definieren; die Angabe der erregenden L^rsachen und der zu ihrer Erzeugung be- stimmten Organe definiert die Empfindungen selbst nicht, der Mangel aller objektiven Merkmale macht eine ihrem Wesen entlehnte Definition vorläufig unmöglich. Man unterscheidet als Arten der Gefühlsempfindung: Schmerz, Hunger, Durst, Wollust, Kitzel, Schauder, Druck-, Temperaturempfindung, das Muskel- oder Anstrengungsgefühl, endlich' das Gleich- gewichtsgefühl, alles Empfindungen, welche unter sich ebensowenig direkt vergleichbar sind, wie die Empfindung des roten und blauen Lichtes, und nur darum von uns unter einem gemeinschaftlichen Gattungsbegriffe zusammengefafst werden, weil sie uns subjektiv eine gewisse Verwandtschaft untereinander zu besitzen scheinen. Man hat wiederholt versucht, die uns inwohnende Fähigkeit, das Bewegte vom Unbewegten zu unterscheiden und überhaupt den Begriff der Bewegung zu bilden, auf eine unmittelbare Sinnesthätigkeit unsrer Haut und unsers Auges zurückzuführen.^ Hiernach würden wir aber in der Bewegung irgend eines Objektes als solcher eine Reizursache zu erkennen haben, wie sie das Licht, der Schall u. s. w. darstellt. Abgesehen davon aber, dafs sich eine solche An- schauung schwerlich rechtfertigen lassen dürfte, leiden speziell die Vikrordt- schen Experimente, welche die Auffassung der Bewegung von selten unsers Tastorgans als Akt eines einfachen direkten Empfindungsvorgangs darthun sollen, an dem Fehler, dafs sie absolut nicht gelingen. Führen wir einen leicht drückenden Gegenstand mit der einen Hand quer über die Druckfläche eines 1 EXNER, Wiener Stzber. Math.-ntw. CI. .3. Abth. 1875. Bd. LXXU. p. 156. — VIERORDT, y.tschr. f. Biologie. 1876. Bd. XIL p. 226. § 86. GEFÜHLSEMPFINDUNGEN. 137 festgehaltenen Fingers der andren hinweg, so erscheint letzterer unserm Gefühl bei objektiver Beobachtung stets in Euhe verharrend, nicht, wie Yierordt will, in entgegengesetzter Richtung fortbewegt. Wie die Dinge augenblicklich liegen, ist daher kaum eine Veranlassung vorhanden, die alt hergebrachte Vor- stellung, dafs die Auffassung der Bewegung als ein Akt der Wahrnehmung zu bezeichnen ist, welcher wie immer auf einem Urteil über das Verhältnis zweier verschiedener, im gegenwärtigen Falle zeitlich verschiedener Empfindungen zueinander beruht, aufzugeben. W^ir haben demgemäfs auch bis auf weiteres absehen zu müssen geglaubt, den hier aufgezählten Gefühlsqualitäten eine neue, das Bewegungsgefühl, hinzuzufügen. Eine der genannten Gefühlsqualitäten, der Schmerz, kann durch Erregung der verschiedensten Nervenbahnen erzeugt werden, die andern, mit Ausnahme der Empfindungen des Hungers und des Durstes, deren peripherer Ursprung überhaupt bezweifelt werden kann, entstehen dagegen infolge der Thätigkeit gewisser auf bestimmte Ab- schnitte unsrer Körperoberfläche beschränkter Nervengebiete. Die Gefühlsempfindungen werden zw^eckmäfsig seit E. H. Webers Vorgang in z-svei grofse Klassen gesondert, insofern sie sich entweder mit einer Yorstellung von der objektiven Erregungsursache unauflöslich verknüpft zeigen, oder nur Zustände des empfindenden Subjekts zum Inhalt haben. Die erste Kategorie umfafst die eigent- lichen Sinnesempfindungen, die zweite die sogenannten Gemein- gefühle. Zu jenen rechnet man die Druck- und die Temperatur- empfindung, welche beide zusammen als Tastempfindungen bezeichnet werden, zu diesen alle noch übrigen Gefiihlsempfindungen. Ton wie abweichender Beschaffenheit die in uns irgendwie hervor- gerufenen Gefühle aber auch sein mösren, unserm Bewuistsein scheinen sie, wie gesagt, dennoch verwandter Natur. Hieraus erklärt sich, dafs wir sämtliche Teile unsers Körpers, von welchen unter dem Ein- flüsse äufserer Erreguugsursachen , sei es Tastempfindungen, sei es Gemeingefühle, sei es beide zugleich, in uns ausgelöst werden, in bezug auf dieses Vermögen mit dem einzigen Worte sensibel, d. i. empfindlich, zu charakterisieren pflegen. Fast alle Teile unsers Körpers sind empfindlich, denn fast alle sind mit Nerven versorgt, deren Reizung einen sich zentripetal fort- pflanzenden Thätigkeitszustand und in letzter Instanz eine Gefühls- empfindung zur Folge hat. Aufser den nervenlosen Oberhautanhängen der Haare und Nägel und den aus reinem Knorpelgewebe zusammen- gesetzten Gebilden können daher auch sämtliche Organe unsers Körpers bei Einwirkung von Reizungen, welche ihre Substanz und die in letzterer verborgenen sensiblen Nerven trefieu, unter Umständen die Quelle lebhafter Schmerzempfindungen werden. Die willkürlichen Muskeln enthalten neben motorischen Nervenfasern auch sensible. welche bei der Verkürzung der Muskelfasern wahrscheinlich einen Druck erleiden und, hierdurch erregt, die Entstehung des oben er- wähnten Muskel- oder Anstrenguugsgefühls vermitteln, eines Gefühls, welches uns nicht nur zu einer srenauen Vorstellung von dem f? 138 GEFÜHLSEMPFINDUNGEN. § 86. Thätigkeitsgrade der Muskeln und indirekt von der Art und Gröfse der ausgeführten raechauischen Bewegung verhilft, sondern uns aucli von einer Menge äui'serer, zur Art und Gröl'se der ausgeführten Be- wegung in direkter Beziehung stehenden Verhältnisse, z. B. der Schwere gehobener Gewichte, der Form und Gröfse von Objekten, über welche wir den tastenden Finger oder den Blick hinbewegen, Kunde verschafft. Überschreitet die Thätigkeit unsrer Muskulatur ein gewisses Mais, sei es, dafs wir dieselbe in zu anhaltenden oder in allzustarken Gebrauch ziehen, so entwickelt sich aus dem ge- steigerten Anstreugungsgefühl das Ermüdungsgefühl, Avelches in seiner höchsten Ausbildung vom eigentlichen Schmerzgefühl kaum unter- schieden werden kann und von unsrer Seele ebenso wie das Muskel- gefühl in die überarbeiteten Organe selbst verlegt wird. In den Schleimhäuten ferner, in den serösen Häuten, in den Drüsen breiten sich sensible Nerven aus, welche gewisse Zustände der von ihnen er- regten Organe durch Erwecken einer Schmerzempfindung verraten, ohne dal's dieselbe immer zu einer deutlichen oder richtigen Vor- stellung vom Ort der Schmerzerregung führte. Die ganze Ober- fläche der äufseren Haut endlich und die Oberfläche der Eingangs- höhle des Verdauungskanales, der Mundhöhle, werden mit Nerven versorgt, welche nicht allein gewisse Arten ihrer Erregung durch das Gemeingefühl des Schmerzes und andre Qualitäten des Gemeingefühls beurkunden, sondern auch zwei qualitativ verschiedene echte Sinues- empfindungen, Tastempfindungen, bei Ansprache ihrer peripherischen Enden durch gewisse äufsere Reize erzeugen. Wirkt Druck auf die Haut, und übersteigt dieser Druck eine gewisse minimale und maxi- male Intensitätsgrenze nicht, so entsteht die nach der erregenden Ursache als D ruck emp findung bezeichnete spezifische Empfindung. Wird der Haut Wärme zugeführt oder entzogen, so entstehen die sogenannten Temperaturempfindungen, die wir in Wärme- und Kältegefühl scheiden; ersteres wird durch Wärmezufuhr, letzteres durch Wärmeentziehung erzeugt. Druck- und Temperatur- empfinduugen veranlassen die Seele zu Vorstellungen von den er- regenden Ursachen als äufseren Objekten, beide verknüpfen sich mit genauen Vorstellungen von den erregenden Ursachen als äufseren Objekten, beide verknüpfen sich mit genauen Vorstellungen von dem Ort, der Stelle des Tastorgans, auf welche der ursächliche Reiz ge- wirkt hat. Durch diese vor allen andern wahren Gefühlsnerven sie auszeichnenden Leistungen sind die Nerven, welche in der Haut und Mundhöhle endigen, als Tastnerven chai'akterisiert ; sie allein sind imstande, uns die spezifischen Druckempfindungen und Temperatur- empfiudungen zu verschaffen, zwei gleiche an verschiedenen Stellen erregte Empfindungen räumlich wahrnehmen zu lassen und Vor- stellungen von äufseren Objekten zu erwecken. Die wesentliche Be- dingung, welche die Tastnerven zu diesen Leistungen befähigt, liegt in ihrer Endigungsweise in der Haut. Die Haut mit teils bekannten, § 86. GEFÜHLSEMPFINDUXGEN. 139 teils uubekaunten Apparaten imd Einrichtungen an den peripliei'isclien Enden der sensiblen Nerven, bildet für diese das Sinnesorgan. Druck- und Temperatureinwirkungen sind die adäquaten Reize desselben und verursachen demgemäfs nur dann Druck- und Temperaturempfindungeu , wenn sie durch die Haut zu den peri- pheren Enden der Hautuerveu gelangen; treffen dieselben Reize die- selben Nerven an irgend einer Stelle ihres Verlaufes, also z. B. den Nervenstamm, welcher alle von einer bestimmten fiautprovinz kommen- den Tastnervenfasern enthält, so erzeugen sie niemals jene spezifische Sinnesempfindung, sondern bei gewisser Intensität der Einwirkung nur Schmerz. E. H. AVeber hat dies durch folgende schöne Versuche ei-wiesen. Taucht man den Ellenbogen in eiskaltes Wasser, so ent- steht zunächst infolge der Einwirkung der Kälte auf die Nervenenden in der Haut des Ellenbogens das spezifische Kältegefühl ; einige Zeit darauf, nachdem die Kälte allmählich durch die bedeckenden Teile hindurchgedrungen ist, entsteht durch unmittelbare Einwirkung der- selben auf den Stamm des ncrvus ulnaris Schmerz, welcher mit dem Kältegefühl nichts gemein hat, welcher ebenso durch starken Druck auf den Ulnarnerven erzeugt wird, bei welchem aufserdem nicht der Ort der Schmerzerregung zum Bewulstsein kommt, indem wir den Schmerz nicht im Ellenbogen, sondern vielmehr in der Haut des Unterarmes und der Ulnarseite der Hand, also in den Teilen, in welchen die getroffenen Nervenfasern endigen, empfinden. Wird Wasser von 4~ 6 ^is -|- 15 ° E.. durch ein Klystier in den Mast- darm gespritzt, so empfindet man am After die Erregung der dort endigenden Nerven als Kälte ; allein im Inneren des Leibes entsteht kein Kältegefühl, obwohl das Wasser entschieden durch die Darm- wand hindurch den sensiblen Easern der Lenden- und Sakralnerven Wärme enzieht. Dafs das geringe Kältegefühl, welches nach kalten Klystieren nachträglich zuweilen an der vorderen Bauchwand ent- steht, durch die Enden der daselbst verbreiteten Hautuerven. bis zu denen die Wärmeentziehung vom Darm aus vorgedrungen ist, ent- steht, hat Weber bestimmt erwiesen. Ebensowenig sind die sen- siblen Fasern andrer Organe imstande, gleichviel ob ihr Stamm oder ihre Enden Druck- imd Temperatureinwirkungen ausgesetzt werden, die entsprechenden spezifischen Empfindungen zu erzeugen. Druck, Kälte oder Wärme auf die sensiblen Nerven der ]\ruskeln, Schleim- häute oder Drüsen appliziert, erregen, wenn sie überhaupt ein Gefühl hervorrufen, Schmerz. Die Empfindungen, welche die Erregung der Enden der Hautnerven erzeugt, unterscheiden sich noch in andrer Weise, nicht blofs durch ihre Qualität, von denen, welche Erregung derselben Nerven im Verlauf oder andrer sensibler Nerven hervor- bringt. Berühren wir mit einem Finger ein äufseres Objekt oder auch einen andren Teil unsers Körpers, so tritt vor das Bewulstsein nicht die Empfindung des durch Druck veränderten Zustandes der berührenden Fingerspitze, sondern ohne weiteres die Vorstellung des 140 GEFÜHLSEMPFINDUNGEN. § 8(). berührten äufseren Objektes, wir fühlen den berührten Gegenstand, wie der gewöhnliche auf einer Verwechselung ^'on Empfindung und Vorstellung beruhende Ausdruck lautet. AVir fühlen dagegen, wie Weber entgegenstellt, mit unserm Zwerchfell nicht den Magen, ob- wohl es denselben bei seinem Niedergang mit Kraft drückt, wir fühlen durch einen Muskel nicht einen andren Muskel oder einen Knochen, auf den er drückt; der durchschnittene Muskel schmerzt, erweckt aber nicht die Vorstellung vom schneidenden Instrument als äufserem Objekt. Die Ursache dieses Unterschiedes liegt nach Weber in folgendem: „Die Empfindung führt nur da zur Unterscheidung der äufseren Objekte von den empfindenden Teilen, wo die Bewegung der empfindenden Teile entweder, oder der zu empfindenden Objekte eine hinreichend bemerkbare Abänderung der Empfindung hervor- bringt.'' Die Abänderung der Empfindung durch Bewegung der Tastorgane gegen das Objekt, oder des letzteren gegen die empfinden- den Teile ist doppelter Art. EntAveder Avird die Empfindung quan- titativ verändert; bewegen wir uusern Finger senkrecht gegen ein Objekt, so entsteht bei der ersten Berührung ein leises Druckgefühl, suchen wir die Bewegung fortzusetzen, so verstärkt sich das Druck- gefühl infolge des Widerstandes, welchen das Objekt dieser Bewegung entgegensetzt. Oder der „empfundene Ort" verändert sich; vermöge des Raumsinnes, welcher als ein besonderes Vermögen des Tastsinnes zu unterscheiden ist, erkennen wir den Ort unsrer Haut, auf welchen ein äufseres Objekt einen Druck ausübt, erkennen die Veränderung dieses Ortes, wenn sich das Objekt auf der tastenden Fläche ver- schiebt, erkennen daher die Bewegung des Objekts, sobald wir aus dem Mangel des entsprechenden Muskelgefühls entnehmen, dafs unser Tastorgan ruht. Wir werden die Bedingungen dieses ßaumsinnes alsbald genauer kennen lernen, hier nur so viel, dafs wir zwei neben- einander stattfindende Eindrücke als räumlich getrennt unterscheiden, sobald sie die Enden von zwei verschiedenen sensiblen Fasern treffen, von denen jede in den Zentralorgane u eine mit einem nicht zu defi- nierenden Lokalmerkmal versehene Empfindung erregt. Zwei Ein- drücke, welche zwei verschiedene Punkte des Verlaufes derselben Faser treffen, können niemals doppelt, niemals räumlich getrennt empfunden werden. Es ist sogar völlig undenkbar, dafs eine räum- liche Unterscheidung von zwei Eindrücken, welche zwei verschiedene Endpunkte derselben (sich teilenden) Nervenfaser in der Haut treffen, möglich ist. Durch diesen Raumsinn und das aus dem Gemeingefühl der Muskeln hervorgehende Bewufst werden unsrer Bewegungen ge- langen wir zu räumlichen Anschauungen und zur Objektivierung unsrer Tasteindrücke; Raumauschauungen und Beziehung unsrer Tastempfindungen auf äufsere Objekte hängen auf das innigste zu- sammen. Indem wir unsre Tastorgane bewegen, erhält die Seele durch das Muskelgefühl Kenntnis von diesen Bewegungen; während derselben erhalten wir nun entweder keinen Tasteindruck, oder Tast- § 87. HAUTNERVEN. 141 eindrücke verschiedener Art; dasselbe Muskelgefülil kann von den verschiedenartigsten Tastempfindungen begleitet sein. Wäre dasselbe Muskelgefühl stets von gleichen Tastempfindungen begleitet, so würde kein psychischer Zwang zu einer Sonderung beider existieren. Ge- rade der Mangel aller gesetzmäfsigen Beziehungen zwischen den Muskelgefühlen und den ihnen associierten sonstigen Empfindungen ist es nach Lotze \ wodurch unsre Seele die einen von den andern zu trennen und in den ersteren das Mittel zu gewahren veranlafst wird, ^nermöge dessen sie von dem Gegensatz zwischen den ewig wechselnden äufser liehen Empfindungen und ihrem eignen konstanten Selbst, zwischen objektiver und subjektiver Welt Kunde erhält. AVir lernen von diesen als äufserlich erkannten Empfindnugsobjekten die uns selbst angehörigen, nur relativ für den tastenden Teil äufseren Teile unterscheiden, indem bei Berührung einer tastenden Fläche mit einer andren eine Doppelempfindung entsteht. Jeder der beiden Flächen erscheint die andre als äufseres Objekt, dessen Wahrnehmung die mit dem Muskelgefühl sich verbindende Tast-(Druck-)Empfindung bedingt. Auch ohne Hilfe des Gesichtssinnes erkennen wir daher alle Berührungsobjekte, welche selbst die berührenden Teile wiederum als Objekte empfinden, als Teile unsers Selbst. Auf welche Weise wir mit Hilfe des Raumsinnes und der Bewegungsgefühle zu Vor- stellungen von der Gröfse, Gestalt und Lage der Objekte im Kaume gelangen, werden wir unten erörtern. Es galt hier nur zu zeigen, auf welchen Ursachen es beruht, dafs die von den Nerven der Haut vermittelten Empfindungen von der Seele objektiviert werden, regel- mäfsig und ohne dafs wir uns der geistigen Operation, durch welche diese Verknüpfung der einfachen Empfindung mit einer Vorstellung bewirkt wird, bewufst werden. Aufser den beiden hier im allgemeinen besprochenen Sinnesempfinduugen der Haut glaubt G. Meissner ^ noch eine dritte von ihnen verschiedene auf- gefunden zu haben, welche von ihm als „einfache Tastempfindung" bezeichnet wird und durch die blofse Berührung eines körperlichen Objektes mit der Fingerhaut, unabhängig von allen dabei zur Wahrnehmung gelangenden Druck- oder Temperaturempfindungen, entstehen soll. Vor der Hand finden wir in- dessen weder in irgend welchen physiologischen Thatsachen, noch in der Re- aktion unsers eignen Bewufstseins eiuen Grund, die Empfindung, welche die Berührung eines beliebigen Teils unsrer Körperfläche mit Einschlufs der Finger in uns hervorruft, für qualitativ different von einer Druckempfindung zu erachten. HISTOLOGIE DER HAUTNERVEN. § 87. Die grofse Mannigfaltigkeit der Gefühlsempfindungen, welche die Nerven unsrer Oberhaut dem Bewufstsein übermitteln, kann nach * H. LOTZE, Medicin. Psycholoriie. Leipzig: 1852. p. 421. 2 G. Meissner, Beitr. z. Aniit. v. Physiol. J. Haut. Leipzig 1853; ZUchr. f. rat. Medicin. 1854. N. F. Bd. IV. p. 2fi0. — Vgl. O. FUNKE, SCHMIDTS VaArft. d. Med. 1853. Bd. LXXIX. p. 342, u. 1854 Bd. LXXXII. p. 287. 142 HAUTNERVEN. § 87. früheren Auseinandersetzuugeu (s. o. p. 124) ihre Ursache nicht in einer qualitativ verschiedenen Reaktionsweise der in der Haut sich ausbreitenden und hier wie überall nur als Leitungsapparate dienen- den Nervenfasern haben. Sie wäre indessen physiologisch nicht be- greiflich, Avenn nicht das Vorhandensein peripherer und zentraler Nervenendapparate angenommen werden dürfte, von welchen die ersteren nur durch bestimmte Erregungsmittel zur Thätigkeit veran- lafst werden können, die letzteren den ihnen auf der Bahn der "Nervenfasern zugeführten Impuls in eigenartiger \Yeise umgestalteten, um die gleichzeitig wachgerufene Psyche mit einem besonders ge- arteten Eindrucke zu versehen. Ein tieferes Verständnis der Leistungen, welche den sensiblen Hautnerven obliegen, ist folglich nur erlangen, wenn vorerst das histologische Verhalten der letzteren im Zentrum und an der Peripherie klar gelegt sein wird. Leider mufs jedoch von vornherein zugestanden werden, dafs bezüglich des zweiten Punktes die zu lösenden anatomischen Fragen noch gar keine Beantwortung gefunden haben und voraussichtlich auch so bald nicht finden werden; was hinsichtlich des ersten Punkes er- mittelt worden ist, wird sich aus der folgenden histologischen Dar- stellung ergeben. Die sensiblen Nervenfasern der menscliliclien Haut, welche uns später in den hinteren Rückenmarkswurzeln vereinigt und einem Teil der Gehirnnerven beigemengt begegnen werden, tragen die gleichen anatomischen Merkmale an sich, welche wir bereits bei einer andren Gelegenheit (s. Bd. I. p. 511) als Ge- meingut der Nervenfasern überhaupt kennen gelernt haben. Sie treten in kleinen Stämmchen allerorts an die Cutis heran, durchsetzen als solche das Corium derselben und bilden in einiger Entfernung unter den Papillen (s. Bd. I. p. 436) mehr weniger dichte Plexus. Von diesen Plexus, in welchen vielfach meist dichotome Teilungen der Faserelemente vorkommen, lösen sich marklose sowohl als auch markhaltige Fibrillen ab und steigen aufwärts zu der Epithel- grenze der Epidermis empor. Die ersteren dringen, sich fein verästelnd, zwischen die Zellen des Rete Malpighii bis hoch in die esteren Zellenschichten der Epidermis hinein, wo sie mit freien häufig knopffönnig angeschwollenen Spitzen enden, die letzteren treten in enge Beziehung zu eigenartigen Gebilden von cellulärer Natur, welche bald vereinzelt in den tiefsten Schichten des Stratum Malpighii, Merkels Tastzellen, bald zu Gruppen vereinigt in den Corium- papillen liegen, die von G.Meissner entdeckten Tastkörperchen. Eine der zweiten Endigungsart äufserlich sehr verwandte Form sind die von W. Kr.^.use sogenannten Endkolben, deren vollkommenste Repräsentanten in der binde- gewebigen Grundlage einiger der Oberhaut dicht angrenzenden Schleimhäute der Conjunctiva bulbi, der Lippen, der Vagina und der Glans penis angetroffen werden. An letzteren beiden Orten haben sie von Krause einen besonderen Namen, den der Genitalnerven- oder Wollustkörperchen, erhalten. Ein kleiner Teil der die Cutis versorgenden Nervenstämmchen endlich erreicht sein definitives Ende schon vorher innerhalb des subkutanen Bindegewebes in Apparaten, welche, zuerst von Vater beschrieben, nach langem Vergessensein von Pacini wieder entdeckt worden und als VATERSche oder PACixische Körper bekannt sind. Aus dem gesagten ergibt sich allgemein, erstens, dafs sämtliche Arten der Hautnervenendigung durch mehr weniger dicke Schichten darüberliegenden Gewebes vor einem direkten Angriffe reizender, namentlich mechanischer Ein- wirkungen geschützt sind, zweitens, dafs nur eine von den aufgezählten Endigungs- weisen, die an oder vielleicht sogar in Terminalzellen stattfindenden. Ein- § 87. HAUTNERVEN. richtungen erkeuuen läfst, welche dazu dienen könnten, bestimm! faser selbst nicht erregende Reizimpulse von erregender Kraft ul gerade so wie die Nervenenden der Retina die Ätherschwingungen welche keinerlei Wirkung auf die Opticusfibrillen selbst haben, in*^ nehmen und in verwandelter Form den mit ihnen irgendwie TbiiÖd Nervenfasern übertragen. Die fi-eie Endigung der Achsencylinder da^ogeri' nach den Gesetzen der allgemeinen Nerveuphysiologie durch alle Ne'veTi*e'/ mittel, falls dieselben die nötige Intensität besitzen, in Thätigkeit versöfej'J/ werden; iind wenn gleichartige Reize etwa dennoch durch Vermittelung so'lcK freier Enden an verschiedenen Körpergegenden spezifisch vergchiedene Gefühls- empfindungen auszulösen vermöchten, so würde eine Erklärung für den ab- weichenden psychischen Effekt allein darin gesucht werden können, dafs die verschiedenen peripherischen Körperabschnitten entsprechenden psychischen Zentralpunkte ungleichartig beschaffen wären und darum zur Entstehung- qualitativ verschiedener Empfindungen Anlafs gäben. Die freie Endigung von Gefühlsnerven zwischen Epithelzellen der Körper- oberfläche ist von CoHNHKiM mit Hilfe des Chlorgolds zuerst zweifellos in der Hornhaut des Auges nachgewiesen und ebenda von zahlreichen Mikroskopikern ^ für eine grofse Reihe von Wirbeltierklassen und für den Menschen bestätigt, späterhin auch unter Anwendung des gleichen Tinktionsverfahrens in ver- schiedenen Regionen der Körperhaut wiedergefunden worden. Und gegenwärtig kann die Existenz knopfförmiger x'lchsencylinderenden zwischen den Zellen des Rete Malpighii sowohl bei Säugetieren als auch beim Menschen keinem be- gründeten Zweifel mehr unterworfen sein.^ Weiterhin ist ein ganz analoges Verhalten der Nerven in betreff vieler Schleimhäute (Conjunctiva, Gaumen-, Vagina-, Oesophagus-, Magenschleimhaut) beschrieben worden, allerdings vor der Hand nur bei Tieren.^ Es scheint somit, als ob die sogenannte freie Nerven- endigung eine sehr weite Verbreitung im gesamten Organismus besitzt. Ob gewisse von Laxgerhaxs und Eberth beschriebene, zwischen den Retezellen liegende, sich in Chlorgold schwarz färbende verästelte Zellen mit dem intrae- pithelialen Nervennetz kontinuierlich zusammenhängen, ist dagegen höchst zweifelhaft. Denn erstens geben beide Beobachter an, dafs sie eine solche Verbindung direkt nicht gesehen haben, anderseits ist bekannt, dafs bei vielen Tieren an demselben Orte nicht selten Pigmentzellen von entsprechendem Aus- sehen angetroffen werden. Es liegt deshalb wohl nahe, die fraglichen Gebilde trotz ihres Pigmentmangels in ungefärbten Hautbedeckungen den in andern Fällen an gleichem Orte und in gleicher Form vorkommenden Pigmentzellen homolog zu setzen, womit selbstverständlich ihre eventuelle Beziehung zum Nervensystem erst recht an Wahrscheinlichkeit verliert (Palladixo, Merkel).'' Die zweite näher zu besprechende Endigungsart der Hautnerven ist in ihrer typischen Bedeutung wohl erst von Merkel richtig erkannt worden. Einzelne Stimmen waren zwar schon früher zu gunsten der Ansicht laut ge- worden, dafs Nervenfasern mit zelligen Elementen der Oberhaut in Verbindung träten. So hatte bereits Hensex mitgeteilt, einen solchen Zusammenhang mit den Epithelzellen in der Haut der Froschlarven direkt beobachtet zu haben. > COHNHEIM, Ärch. f. pathol. Avat. 1867. Bd. XXXVIII. p. 343. — KOELLIKER, EMch. d. Gewebel. 5. Aufl. Leipzig: 1867. p. 2-17 u. 650. — HOYER, Arch. f. mikro.ik. Anut. 1873. Bd. IX. p. 220. — Waldeyek, Hdhch. d. ges. Augenheilk. von GkAEFE u. SAEMISCH. 1874. Bd. I. p. 200 u. fg. 2 P. LANGKKHANS, Arch. f. pathol. Anat. 1868. Bd. LXIV. p. 325. — PODCOPAEW, Arch. /. mikrosk. Anat. 1869. Bd. V. p. 506. — EBERTH, ebenda. 1870. Bd. VI. p. 225. — MERKEL, ebenda. 1875. Bd. XI. p. 636. — CybüLSKY, Ztschr. f. wiss. Zool. 1883. Bd. XXXIX. p. 653. ä P. LANGERHANS, a. a. O. p. 330. — Helfreich, ÜI). d. Nerv. d. Conjunctiva u. Sclera. ■Würzburs 1870. — MORANO, Ctrlbl. f. d. med. Wiss. 1871. Ko. 15. — ELIN, Arch. f. mikro.-ik. Anat. 1871. Bd. VII. p, 382. — Chrschtschonowitsch, Wiener Stzber. Math.-ntw. Cl. 1871. 2. Abth. Bd. LXm. p. 301. — GONIAEW, Arch. f. mikrosk. Anat. 1875. Bd. XI. p. 479. ■* PALLADINO, Bulletino dell' aasociuzione dei naturulisti e medici di Nupoli. 1871. No. 10. — Merkel, Arch. f. mikrosk. Anat. 1875. Bd. XI. p. 636; 1878. Bd. XV. p. 415; Üb. d. Endig. . sensiblen Nerven in d. Haut d. Wirbelthiere. Rostock 1880. 144 ^, ^ HAUTNERVEN. §87. W. ,]jli> ^.,v:, ■.G einen solchen in den Fühlern von Landschnecken gesehen, und Toj([^ ' ■ eine Macerationsmethode (Kochen mit salzsäurehaltigem Alkohol) b^fv velche die Terminalzellen der Hautnerven zu isolieren gestatten sr^l . ' sseh haben doch erst die Arbeiten Merkels nach dieser Richtung vr ^ INI' iiile und zugleich sichere Grundlage geschaffen; erst durch seine gj^Y ' ' I ■"■■■■-'" wurde der Nachweis geliefert, dafs ein Teil der Hautnerven i|i{deri verschiedensten Tierklassen und auch beim Menschen an Gebilde von ^»ifellos cellulärem Charakter herantritt, und dal's die von Meissner ent- deckten Endapparate , die Tastkörperchen , nur eine besondere Form dieses Ei'digungstypus vorstellen. Die endständigen Zellen, zu welchen sich eine Anzahl ausnahmslos mark- haltiger sensibler Hautnerven begibt, von Merkel kurzweg Tastzellen genannt, gleichen in ihrem Aussehen Ganglienzellen. Sie besitzen dasselbe feinkörnige Protoplasma wie diese und enthalten ebenso, wie diese, einen durch besondere Gröfse und durch ein deutlich entwickeltes Kernkörperchen ausgezeichneten Kern. In vereinzeltem Zustande traf sie Merkel im Schweinerüssel in den tiefsten Schichten des Rete Malpighii und der äufseren Wurzelscheide der Haare an, wo übrigens vor Merkel schon Dietl ''■ bei andern Tierklassen birnförmige, mit markhaltigen Nervenfasern zusammenhängende Bildungen beschrieben und gezeichnet hat, welche nichts Andres als die von Merkel hier aufgefundenen Tastzellen sein können. Eine ganz besondere Gröfse erreichen sie in der Schnajbelhaut und Zunge einiger Schwimmvögel, namentlich der Ente, wo man ihnen in Form der sogenannten GRAXDRYschen Körper, freilich nicht in dem epithelialen, sondern in dem oberflächlichen Bindegewebestratum der Cutis untermischt mit VATERschen Körpern begegnet. Denn das wesentliche Element der GRANDRYschen Körj^er ^ sind eben die Tastzellen, welche meist zu zweien oder dreien in ihnen vereinigt und von einer derben Bindegewebskapsel um- hüllt, von Merkel als Zwillings- und Drillingstastzellen angesprochen worden sind. Der Nachweis eines Zusammenhangs der Tastzellen mit Nervenfasern ist bei Tieren (Schwein, Ente) insofern unzweideutig gelungen, als man eine mark- h altige Nervenfaser bis zu den Zellen selbst mit Leichtigkeit verfolgen kann. Weiterhin sehen wir den seiner Markhülle beraubten Achsencylinder an ein scheibenförmiges Gebilde, die sogenannte Tastscheibe*, herantreten, welche letztere stets zwischen je zwei Tastzellen eingeschoben liegt, ohne jedoch mit deren Substanz nachweislich zu verschmelzen. Es besteht also hier ein ähnliches Verhältnis vielleicht nur scheinbarer Kontiguität, wie zwischen motorischer Endplatte und Muskelfaser. Beim Menschen, wo Merkel in dem Rete Malpighii des Oberschenkels und des Nagelfalzes Tastzellen ähnliche Bildungen aufgefunden hat, ist überhaupt noch nichts Bestimmtes über eine Beziehung derselben zum Nervensystem ermittelt worden. In den Haaren der menschlichen Gesichtshaut hat Jobert * die Nervenfasern zwar bis zu der äufseren Wurzelscheide verfolgen, ihren weiteren Verbleib aber nicht weiter eruieren können. Nur die von Meissner entdeckten Tastkörperchen (Fig. 84 a b), corpuscula tactus, welche eben nichts Andres als Aggregate zahlreicher von einer derben Bindegewebskapsel umschlossener Tastzellen sind, lassen keinem Zweifel über ihre direkte Beziehung zu markhaltigen Nervenfasern Raum. Man findet diese kleinen, meist oval gestalteten, mitunter jedoch auch rund- lichen Organe vorzugsweise in der Haut der vola manus und der planta pedis, spärlicher schon in der Dorsalhaut der Finger, der Haut der Brustwarze und der 1 Merkel, a. a. O. — Hensen, Arch. f. puthol. Anut. 1864. Bd. XXXI. p.' 51 u. Arch. f. mikrosk. Anut. 1868. Bd. IV. p. 111. — W. Flemming, ebenda Arc/>. f. mikrosk. Anat. 1870. Bd. VI. p. 439. — TOMSA, Wiener med. Wochenschr. 1865. No. 53. 2 Dietl, Wiener Stzber. Math.-ntw. CL 3. Abth. 1872. Bd. LXVI. p. 62. ' GrANDRV, Journ. de V anett, et de la phvsiol. 1869. T. VI. p. 390. i{ANVlER,-C' rend. 1877. T. LXXXV.'p. 1020. — A. KEY u. EetziüS, Studien in d. Anat. des Nervensijst. u. des Bindegewebes. 2. Heft. Stockholm 1876. — JZQUIEUDO bei WALDEYER, Arch. f. mikrosk. Anat. 1881. Bd. XVII. p. 367. — KULTSCHIZKY, ebenda. 1883. Bd. XXIII. p. 358. ^ Jobert, Cpt. rend. 1875. T. LXXX. p. 274. §87. HAÜTNERVEN. 145 Lidräncler äufserst schwierig nachwei'sbai- in der Armhaut. ^ Sie liegen nicht in dem Epithelstratum der Cutis, sondern nehmen einen Teil der Coriumpapille für sich in Anspruch, deren äufserste Spitzen sie mit ihrem oberen Rande erreichen und last vollständig ausfüllen. Alle diejenigen Papillen, -welche Tastkörperchen führen, enthalten, weil eben der Raum dazu fehlt, keine Blutgefäfsschlingen und werden daher häufig den in der Mehrzahl befindlichen gefäfshaltigen, den Gefäfspapillen , als Nervenpapillen gegenübergestellt. Die Gröfse der Tast- körperchen schwankt je nach dem Orte des Vorkommens und dem Alter des Individuums, von welchem sie entnommen wurden, in weiten Grenzen. Reduziert man die Mafsangaben Meissners auf die jetzt gebräuchliche Mafseinheit, so ergibt sich die Länge der Tastkörperchen in der vola manus der Erwachsenen zwischen 120 bis 150 bis 180//, während ihre Breite 45 — 56// beträgt; auf der Dorsalfläche der Finger sind sie dagegen schon merklich kleiner, nur 32 — 37 /< lang und ungefähr ebenso breit. An den gröfseren Tastkörperchen nimmt man nicht selten 1 — 2 Ein- schnürungen wahr, durch welche sie in 2 bis 3 übereinander liegende Ab- teilungen, Stockwerke, zerlegt w^erden (Meissner, Thin). In bezug auf den feineren Bau der Tastkörperchen haben die Meinungen der Histologen lange differiert. Jetzt darf man w'ohl behaupten, dafs die ursprüngliche Beschreibung, welche ihr erster Entdecker, Meissner, von ihnen gegeben hat, im ganzen als richtig anerkannt wird. Die abweichenden Ansichten, welche ehemals in betreff derselben vouKoeluker, Gerlach, Nühn und Ecker- aufgestellt worden sind, haben folglich einen lediglich historischen Wert und können hier übergangen werden. Nur in einer Beziehung haben uns die verbesser- ten Hilfsmittel der mikroskopischen Tech- nik einen Schritt weiter geführt. Der Inhalt der Tastkörperchen besteht nicht, wie Meissner und viele andre nach ihm annahmen , aus einer formlosen molekularen Materie, in welche sich die eintretenden Nerven- fasern versenken, sondern aus gruppenweise über- geordneten membranlosen Zellen (L.vngerhans, Thin) ^, Tastzellen (Merkel) *, zwischen welche sich die markhaltigen Nervenfasern nach Durchbohrung der äufseren Kapsel in gewundenem, unvollkommene Zirkelturen an der Peripherie des Organs bildendem Verlauf hinein begeben, um daselbst an den vorhin er- wähnten intercellulär gelegenen Tastscheiben zu enden. Diese Übereinander- schichtung zelliger, übrigens durch Bindegewebssepta voneinander getrennter Zellen, und dazu noch die zahlreichen Si^iraltouren der die Tastkörperchen um- spinnenden markhaltigen Nervenfasern führen notwendig dahin, denselben ein der Quere nach gebändertes Ansehen zu erteilen. und nebeneinander 1 G. Meissner, Beitr. :. Anut. V. PJinitiol. d Haut. Leipzig 1853. — W. KRAUSE. Anat. Unters. Hannover 1861. — KOELLIKER. Bamlb. d. Gewebel. 5. Aufl. 1867. p.'106. — KRAUSE, Handb. d. mensc/il. Anal. 3. Aufl. 1876. Bd. I. p. 5Ü9. - KOELLIKER, Ztsdir. f. wiss. Zool. 1853. Bd. IV. p. 43; Handb. d. Gewebel. 2. Aufl. p. 105; 5. Aufl. p. 106. — NUHN, Illus'tr. med. Ztg. 1852. Bd. II. — J. GERLACH, ebenda; ferner i7««rf6. d. Gewebel. 2. Aufl. Wien 1853. p. 528, u. Mikrosk. Stud. a. d. Geb. d. nienschl. Morphol. Erlangen 1858. p. 39. — Ecker, Icon. phmol. Text zu Taf. XVIL Fig. 6—8. 3 P. LANGERHASS, Arch. f. mikrosk. Anat. 1873. Bd. IX. p. 730. — Thjn, Wiener Stzber. Math.-natw. Cl. 1873. 3. Abth. Bd.' LXYII. p. 130. vgL d. Abbild. * Merkel, a. a. O. Gruenhagen, Physiologie. 7. Aufl. II. 10 146 HAUTNERVEN. § 87. Die Zahl der ein Tastkörperchen versorgenden Nervenfasern ist verschieden grofs und variiert zwischen 1 — 4, wobei zu bemerken ist, dal's an die mit Ein- schnürungen versehenen Kör2:)erchen regelmälsig eine mehrfache Zahl von Fasern herantritt (Tnix). Folgt man dem Verlauf einer einzelnen Nervenfaser, so sieht man dieselbe sich entweder wie ein Stiel an den untersten Kand des Körperchens ansetzen oder auch mehr weniger hoch, mitunter bis fast zur Spitze, empor- steigen oder sich auch auf eine kleine Strecke spiralig um das Körperchen herumwinden; sind mehrere Nervenfasern vorhanden, so durchbohren dieselben au sehr verschiedenen Stellen die bindegewebige Hülle des Tastkörjierchens; immer dringen sie aber thatsächlich in letzteres ein. Innerhall) der Kapsel bleiben sie entweder einfach oder teilen sich, die Aste verlaufen gerade oder gebogen bis zu verschiedenen Höhen in dem Tastkürpei'chen aufwärts, wo sie dann spitz zu endigen scheinen oder sich dem Blick entziehen. In einzelnen Fällen sieht man deutlich, dafs von dem Punkte aus, an welchem die Faser spitz zu enden scheint, ein Büschel quer zur Achse des Körperchens verlaufender Fasern entspringt und in dasselbe ausstrahlt. Der Anblick einer solchen Stelle erinnert auffallend an das Bild, welches eine sich teilende Nervenfaser darbietet, wobei sich bekanntlich die Mutterfaser beträchtlich einschnürt und auf der zu- geschärften, einem R.vxviERSchen Schnürringe entsprechenden Spitze die Tochter- fasern aufsitzen. Alle hier beschriel)enen Abschnitte des Nervenverlaufs erweisen sich durch die tiefschwarze Färbung, welche sie nach Behandlung mit Uberos- miumsäure (Fig. 84 b) annehmen, als myelinhaltig (P. Langerhaks). Erst die mit den Tastscheiben sich verbindenden Achsencylinderenden entbehren der Markhülle. Nach dem Gesagten sind folglieh die Tastkörperchen als in gewisse Hautpapillen eingebettete, geschlossene und mit einer Zellenmasse gefüllte Bläschen zu bezeichnen, in welche ein Teil der Hautnerven eintritt, um sich darin zu verästeln und nach mehr weniger komi^liziertem Verlauf an einem besonderen Endapparat, der Tastscheibe, zu enden. Was das Vorkommen der Tastkörperchen anlangt, so ist dem' bereits Mitgeteilten hinzuzufügen, dafs die von ihnen eingenommenen Papillen namentlich an den letzten Fingergliedern oft grupi^enweise nebeneinander stehen. Bei Tieren sind sie von Meissner in der Hand und in der Fufssohle einiger Affenarten, von Leydig ^ auch in der Haut der Amphibien (Kröte, Unke und Laubfrosch) aufgefunden worden. Hinsichtlich ihrer Quantität liegen Zählungen von Meissner vor, nach welchen sich für einen Quadratmillimeter Haut des letzten Zeigefingergliedes ca. 74 Papillen, worunter 21 tastkörper- haltige, berechnen. - Es bleibt noch übrig, der andern beiden Endigungsformen sensibler Hautnerven kurz zu gedenken, welche allerdings nicht mehr in der Cutis selbst vorkommen , aber doch wenigstens in nächster Nachbarschaft derselben anzu- treffen sind. Was zunächst die sogenannten KRAUSEschen Endkolben ^ anbelangt, so stellen sie ovale oder rundliche Gebilde dar, welche von einer dünnen, kern- haltigen, aus fibrillärem Bindegewebe bestehenden Kapsel umschlossen werden. Letztere wird von einer oder auch von mehreren, dann aber wohl stets durch Teilung aus einer einfachen Faser hervorgegangenen, markhaltigen Nerven- röhren durchbohrt und beherbergt einen in der Regel nicht aus zelligen Elementen zusammengesetzten grobkörnigen Inhalt (Innenkolben) (Fig. 85). Präjiarate, wie das von Loxgworth gezeichnete (Tab. XLIV, Fig. 6), in 1 Lf.YDIG, Arch. f. mikro.ik. Anut. 1876. Bd. XII. p. 152. ^ Neuere, mit grofser Sorgfalt ausgeführte Untersuchungen tlber die Verteilung der Tast- körperchen in der Hand finden sich bei KOLLMANN, Der Tustapparat der Hund etc. Hamburg u. Leipzig 1883. * W. Krause, Ztxchr. f. rat. Med. III. R. 1858. Bd. Y. p. 28; Die terminalen Körperchen. d. einfach sensiblen Nerven. Hannover 1860. p. 112, u. Anat. Unters. Hannover 1861. — LONGWOETH, Arch. f. mikrosk. Anat. 1875. Bd. XI. p. 653 (mit guter Litteraturilbersicht). — AXEL KEY u. G. RETZIüS, Studien in d. Anat. d. Nervensnst. u. d. Bindegewebes. Stockholm 1376. 2. Hlfte. 1. Abth. p. 225. §87. HAUTNERVEX. 147 welchem der ganze Kolben aus einer Anzahl enge aneinander gelagerter, kernhaltiger Zellen aufgebaut erscheint, sind jedenfalls als höchst seltene Aus- nahmen zu betrachten. Die eintretende Nervenfaser umkreist nicht selten die ganze Peripherie ihres Endapparates, bildet meist an der Eintrittsstelle sowohl durch gewundenen Verlauf als auch infolge mehr- facher Teilungen ein schwer zu entwirrendes '°' ^ '^' Flechtwerk und geht nach Verlust ihrer Mark- scheide in ein dichtes Konvolut markloser in- einander geschlungener Fibrillen über. Bisweilen sieht es so aus, als ob ein feiner Faden in eine relativ grofse birnförmige Anschwellung ausläuft. Es ist indessen fraglich, ob dieselbe einem wirk- lichen Ende entspricht, da auch Anschwellungen ähnlfcher Art im Inneren des Innenkolbens vor- kommen, von denen ein fernerer Abgang feiner Äste nachzuweisen ist. Zwischen den feinen Fibrillen, aus denen die Substanz des Innen- kolbens im wesentlichen zusammengesetzt er- scheint, liegen unregelmäfsig zerstreut kleine, in Überosmiumsäure sich tief schwarz färbende Körnchen, wahrscheinlich Eeste von Jlyelin, welche dem Verlauf der terminalen Achsencj'linder ( Achsen- fibrillen) noch hier und da ankleben. Um das beschriebene Bild der KRAUsEschen Endkolben zu erhalten, bedarf man ganz frischer menschlicher Konjunktiven, \yelche nach der Methode von Loxg'worth 12 — 16 Stunden in Vsprozentiger Überosmium- säure erhärtet und sodann nach 24stündigem Verweilen in alkoholischer Eosin- lösung und Aufhellung in Nelkenöl in Kanadabalsam eingeschlossen worden sind. Am leichtesten aufzufinden und bezüglich ihres Baues zu studieren sind die Endkolben in der Coujunctiva bulbi, wo sie an den Nervenfibrillen der subkonjunktivalen Plexus wie Beeren an einem Stiele sitzen. Beim Menschen haben sie meist eine rundliche, bei Tieren (Kalb) eine entschieden längliche Gestalt. In der menschlichen Conjunctiva beträgt nach An- gaben von W. Krause ihre Länge 32 — 72 ,t/, ihre Breite 32 — 37 ,w. Aufser in der Conjunctiva findet man diesen Endkolben sehr ähnliche Bildungen beim Menschen in der Zunge, im weichen Gaumen, in den Lippen, in der Schleimhaut der glans i:)enis et clitoridis, bei manchen Säugetiei-en eben- falls an den gleichen Orten, bei der Maus auch in der äufseren Haut des Eumpfes und beim Meerschweinchen an der Volarfläche der Zehen. Ob die birnförmigen , res^j. ovalen Anschwellungen, welche beim Frosche als Nervenenden in der Blasenschleimhaut ^ beim Menschen als Nervenenden der Trachealschleimhaut ^ beschrieben worden sind, eine vereinfachte Form der Endkolben darstellen, mufs weiteren Prüfungen überlassen bleiben. Die letzte Klasse peripherischer Endorgane an sensiblen Nerven, welche hier zu besprechen ist, bilden die PACixischen oder VaterscIicu Körperchen. ^ Wenn dieselben, wie es beim Menschen und den Katzenarten regelmäfsig der Fall ist, eine Länge von 1 — 4mm erreichen, sind sie auch dem unbewafiiieten Auge sichtbar und erscheinen dann als ovale, gestielte Bildungen von bläschenförmigem Bau. Unter dem Mikroskop erkennt man (vgl. Fig. 86 a), dafs die Wandung der Körperchen aus einer beträchtlichen Anzahl kon- 1 KISSELEW, Ctrbl. f. d. med. Wiss. 1868. p. 337. - Luschka, Arch. }'■ mikrosk. Anat. 1868. Bd. V. p. 126. — LINDEMANN, ZUchr. f. rat. Med. III. R. 1S6S. Bd. XXXVI. p. 148. — BOLDYREW, Arch. f. mikrosk. Anat. 1871. Bd. VII. p. 166. 3 Vater (s. J. G. Lehm.VNN, De consent part. corp. hum. Vitembergae 1741). — PACINI, Nuovi orrj. scojterli nel corpo mnano. Pistoia 1840. — KOELLIKER u. Henle, Üb. d. Pucinisclien KiJrperchen d.. Menschen u. d. Tfiiere. Zürich 1844. 10* 148 HAUTNEKVEN. §87. Fig. S6. zentrisch ineinander geschachtelter, durch helle Zwischenräume, Inter- lamellarräume, voneinander getrennter membranöser Kapseln, welche einen länglichen, ovalen Achsenraum, den Innenkolben, umgeben, zusammengesetzt ist. Jede Kapsel besteht aus einer einfachen Lage regel- mäl'sig 5 — 6eckig gestalteter Zellplatten, welche nach Art eines Pflaster- epithels aneinander gereiht und durch eine mit Höllensteinlüsungen schwarz zu färbende Kittsubstanz unterein- ander verklebt sind.^ Die rundlichen, münzenförmigen Kerne dieser Zellen liegen sämtlich von einem kleinen Reste fein- körnigem Protoplasma umkleidet auf der konkaven Seite der Kapsel, dem Inter- lamellarraume zugewandt, wo sie bei mikroskopischer Betrachtung des xm Ver- sehrten Körperchens besonders nach Behand- lung desselben mit Essigsäure, besser noch mit konzentrierter Oxalsäure, im optischen Durchschnitt als lokale elliptische Ver- dickungen der Kapselwand deutlich her- vortreten. Die Interlamellarräume sind von einer alkalisch reagierenden Flüssig- keit erfüllt und von feinen Fibrillen durchzogen, welche sämtlich ringförmig zur Achse der Körperchen verlaufen und denselben ein quergefasertes Aussehen ver- leihen. Zellplatten imd Fibrillen der Kapseln gleichen in ihrem morphologischen und mikrochemischen Verhalten voll- kommen den gleichbenannten Form- elementen des fibrillären Bindegebes. Man pflegt daher dasKapselsystemderVATKRSchen ' Körperchen als ein bindegewebiges Produkt zu bezeichnen, in welchem die Binde- ' gewebszellen enge aneinander gereiht, die Saftkanäle durch die Interlamellarräume, die faserige Grundsubstanz durch die er- wähnten quer verlaufenden Fibrillen re- präsentiert sind. Der Stiel des Körperchens besteht aus einer in der Achse verlaufenden, markhaltigen Nervenfaser und mehrfachen dieselbe lamellös umhüllenden Bindegewebs- scheiden, deren unmittelbare Fortsetzung die Kapseln sind, und in welchen spärliche Blutkapillaren eingebettet liegen. Der Innenkolben erscheint als ein homogener trüber Strang, dessen Achse ein blasser, von parallelen Konturen begrenzter Faden einnimmt. Letzterer geht an dem einen Pole des Innenkolbens kontinuierlich in die markhaltige Nerven- faser über; an dem andren Pole desselben endigt er entweder direkt oder auch nach vorangegangener Spaltung in zwei, mitunter mehrere Ästchen mit einer , beziehungsweise mehreren knopfförmigen Anschwellungen. Über die Deutung dieser Elemente des Zentralraums schwebt noch eine Diskussion. Den zarten Achsenstreifen des Innenkolbens erklären fast alle Beobachter für die Fortsetzung der Nervenfaser des Stiels, die meisten als Fortsetzung: ' HOYEK, Arch. f. Anut. u. Pliysiol. 1864. p. 213. — P. O. MICHELSON, Arch. f. mikrosk. A-nat. 18G9. B. V. p. 145, u. Zur Histologie der Vater- Pacinischen Körperchen. Dissert. inaug. Königsberg 18GS. §87, HAUTNERVEN. 149 Fig. 86. des Achsencylinders ; Koelliker dagegen und einige andre ^ sind der Ansicht, dafs er die Fortsetzung der ganzen markhaltigen Nervenfaser sei, also möglicherweise auch Mark und Primitivscheide führe, und Leydig fafst gar den gesamten Innenkolben als verbreiterte Yerlängerungdes Achsencylinders allein auf, während er den zentralen Streifen in ihm für einen Kanal erklärt. Koelliker und die Mehrzahl der Histologen halten ferner die Substanz des Innenkolbens für eine Art Bindegewebe ; Exgelmans hat dagegen wahrscheinlich zu machen gesucht, dafs sie eine Fortsetzung des Markes der das Körperchen versorgenden 'Nervenfaser seil Wenn sich die Anschauungen Letdigs und Engelmaxxs nun zwar auch in der angegebenen Form nicht halten lassen, so mufs auf der andren Seite zugegeben werden, dafs die von Koelliker vertretene Ansicht zum mindesten eines positiven Beweises entbehrt. Bilder, wie das in Fig. 86 b gezeichnete, welches einem PACixischen Körperchen aus der Schnabelhaut der Ente angehört, bisweilen aber auch in ähnlicher Weise von den PACiNischen Körperchen der Katze erhalten werden kann, deuten darauf hin, dafs der Innenkolben ein aus zelligen, kernhaltigen Gebilden zusammengesetztes Organ eigner Art darstellt. Was den Achsenfaden des Innenkolbens anbelangt, so kann an die von Leydig gegebene Deutung desselben wohl kaum ernstlich gedacht werden. Höchstens kann noch Gegenstand des Zweifels sein, ob man in ihm einen blofsen Achsencylinder oder eine markhaltige Nervenfaser vor sich habe. Obschon nun zwar nicht geleugnet werden soll , dafs in einigen Fällen eine streckenweise Umhüllung des fraglichen Ge- bildes mit Myelin thatsächlich gesehen worden ist, so mufs anderseits doch auch mit Entschiedenheit betont werden, dafs eine solche in der überwiegenden Mehr- zahl der Fälle ohne Frage fehlt. Es wird daher wohl nichts Erhebliches dagegen eingewandt werden können, wenn man aus den vorliegenden Daten den Schlufs zieht, dafs der Achsenfaden des Innenkolbens der Regel nach allein dem Achsencylinder der zutretenden mark- haltigen Nervenfaser entspricht. Im ganzen läfst sich das PACiNische Körperchen folglich als ein aus konzentrisch geschichteten Kapseln gebildetes Bläschen schildern, dessen Achsenraum von einer ver- mutlich aus besonders gearteten Zellen hervorgegangenen Füllmasse ein- genommen und zentral von einer knopÄörmig endigenden Nervenfaser (meist Achsencylinder) durchzogen wird. Den Tastköri^erchen vergleichbar durch die Füllmasse, welche den hier verschmolzenen Tastzellen, und das kolbige Achsen- cylinderende, welches der Tastscheibe homolog zu setzen wäre, unterscheidet sich dasselbe von ihnen nur durch die gröfsere Zahl der bindegewebigen Kapseln und die geringere Komplikation der Nervenverästelung. Schliefslich mag noch erwähnt werden, dafs bei der irgendwie, sei es pathologischen oder experimentell ei'folgten Trennung der die Tast- oder die PACixischen Körperchen versorgenden Nervenfaser vom Zentrum immer nur die als solche erkennbaren direkten Fort- setzungen der letzteren im Binnenraume des Endapparats fettig degenerieren, nicht aber der übrige Inhalt desselben (G. Meissner, W. Krause, Räuber, » Koelliker, Ztsdir. f. wisn. Zoologie. 1854. Bd. y. p. 118. — RAUBER, Unters, üb. d. Vor- kommen u. (i. Beileiit. d. Vaterachen Körperchen. Müucheu 1867. — AXEL KEY ii. RETzrus, Arch. f. mikrosk. Anut. 1878. Bd. IX. p. 370. - VgL Koelliker, Ztschr. f.whx. Zoologie. 1854. Bd. V. p. 118 u. Handb. d. Gewebe!. 5. Aufl. I.eipziff 1867. p. 109. — Keferstein. Nachr. v. d. G.-A.- Univeraitüt z. Göttingen. 1838. No. 8. p. 85. — Leydig, Ztschr. f. wiss. Zoologie. 1854. Bd. V. p. 75, Lehrb. d. Histologie. l.eiVM^l^bl. p. 193 : Arch. f. mikrosk. Anut. 1868. Bd. IV. p. 195. — Th. W. ENGELMANN,' Ztschr. f. wiss. Zoologie. 1863. Bd. xm. p. 475. — JACUBOWITSCH, Cpt. rend. 1860. T. L. p. 859. — ClACOIO, Cirbl. f. d. med. TI7ji.s. 1864. p. 401. 150 TASTEMPFINDUNGEN. § 88. P. Michklson'. Es wäre zu untersuchen, ob sich das Gleiche auch für die Zwillings- und Drilling'stastzcllen Merkels im Entenschnahcl konstatieren liefse. Beim Menschen findet man die P-VCixischen Kürperchen in grofser Anzahl an den Hautnerven der Handvola und der Ful'ssohle, und zwar vor dem Eintritt der letzteren in die eigentliche Cutis im Unterliautzellgewebe. Aufserdem trifft man sie, wenn auch spärlicher, in den Hautnerven andrer K()ri)erteile an, z. B. des Armes, des Halses, der Brustdrüse, der (jlan.'i pciiis, nach Hyktl ferner in der Bahn des n. infraorhitalis, endlich, wie Räuber "■' namentlich nachwies, ganz allgemein im Verlaufe derjenigen Nerven, welche über Gelenkbänder, Fascien und Periost hinwegzichen. Im Tierreiche ist namentlich das Nervensystem der Vögel reich versehen mit PACiNischen Körperchen, dann aber auch dasjenige der Katzen, bei welchen sie unter anderm frei im Mesenterium vorkommen und wegen dieser günstigen Lage einen besonders bequemen Angriffspunkt für mikroskopische Untersuchungen darbieten. § 88. Die beiden Emplinduügsqualitäten, welche die Tastnerven als .solche zum Bewiilstseiu bringen, sind, wie erwähnt, Druck- und Temperaturempfindung; die Wahrnehmung des Ortes, an welchem die Nervenenden in der Peripherie erregt sind, bildet keine besondere, den beiden genannten koordinierte dritte Empfindungs- qualität, es ist nur eine Eigenschaft jeder Tastempfindung, gleichviel, ob sie die spezifische Qualität der Druck- oder Temperaturempfindung hat, dafs sie die Vorstellung von dem gedrückten oder erwärmten Hautteil erweckt. Wir müssen daher wohl mit E. H. Weber den Raumsinn, Drucksinn und Temperatursinn als drei Vermögen des Tastsinnes unterscheiden, dürfen aber von einer unmittelbaren Orts- empfindung ebensowenig reden, als von der Empfindung eines Ob- jektes. Dafs diese drei Vermögen nur dem Tastsinne zukommen, dafs nur die mit nervösen Tastorganen versehene Cutis und die auf gleiche Weise ausgerüstete Mundhöhlenschleimhaut imstande sind, die Empfindungen des Druckes, der Wärme oder Kälte zu verschaffen, ebenso wie nur das Auge die Empfindung des Lichtes vermitteln kann, hat zuerst E. H. Weber, wie schon oben angedeutet, durch schlagende Versuche erwiesen und damit eine strenge Grenze zwischen Tastsinn und Gemeingefühl gezogen. Ist an einem Teile des Körpers die äufsere Haut mit ihren Tastorganen zerstört, durch Verbrennung z. B., so erzeugt zwar eine leise Berührung der Wundfläche schon Schmerz, aber nicht Druckempfindung, ein kalter Körper wird nicht als kalt, ein warmer nicht als warm empfunden. Die Temperatur einer Speise empfinden wir deutlich durch die Tastnerven der Lippen, der Zunge, des Gaumens; aber wenn dieselbe in die Speiseröhre und in den Magen übergegangen ist, hört die Empfindung auf, oder es entsteht nur ein Schmerzgefühl, wenn die Speise so heifs war, 1 G. Meissner, Beitr. z. Anat. u. Phijsiol. d. Haut. Leipzig 1853. p. 17. — W. KRAUSE, Die terminalen Körperchen d. einfach sensiblen Nerven. Hannover 1860. — RAI'BER, Unters, üb. d. Vorkommen u. d. Bedeut. d. Vaterschen Körperchen. Mfluchcn 1867. — P. MICHELSON, a. a. O. ^ RACBEK, a. a. O. 11. Vatersche Körper der Bänder- u. Periostnerven. Neustadt a/H. 1865. § 88. TASTEMPFINDUNGEN. 151 (lafs sie aiicti bei Berührung mit eleu Tastorganeu Schmerz statt Wärmegefühl hervorruft. Ebeuso macht Weber darauf aufmerksam, dal's bei Einführung eines kalten Eisenstäbchens in die Nasenhöhle nur am Eingange und am Boden derselben Druck und Kälte, in den höheren Regionen dagegen nur das Gemeiugefühl des Kitzels oder Schmerzes empfunden wird.^ Es fragt sich nun vor allem, wie diese Erfahrungen physiologisch zu verstehen sind. Haben wir aus ihnen zu entnehmen, dafs der- jenige nervöse Apparat, welcher in uns das Gemeingefühl des Schmerzes erweckt, allerorts, also auch in der oberen Haut, von dem- jenigen verschieden ist, welcher die Tastempfindungen vermittelt, und ist auch hinsichtlich der letzteren vielleicht eine anatomische Sonde- rung zwischen den Druck- und Wärmegefühl verursachenden Nerven vorauszusetzen? Oder dürfen wir der Vorstellung Baum geben, dafs ein und derselbe nervöse Apparat sämtliche genannten Gefühls- qualitäten zu produzieren vermag, falls seine Enden nur erregbar genug sind, um nicht nur durch relativ starke Beize, welche unbedingt Schmerzempfiuduug hervorrufen, sondern auch durch die schwächeren Druck- und Wärmeeinwirkungen zur Thätigkeit veranlafst zu werden? Im ersten Falle wäre die qualitative Differenz der hier in Betracht gezogenen Gefühlseiudrücke durch eine qualitative Differenz des empfindungerzeugenden Apparates bedingt; Druck-, Temperatur- und Schmerzgefühl hätten ebensowenig etwas miteinander gemein, wie Licht- und Schallenipfindung. Im zweiten Falle würde dagegen die Verschiedenartigkeit jener Gefühlseindrücke auf blofsen Thätigkeits- modifikationen eines und desselben nervösen Apparats beruhen, und ihre Zusammengehörigkeit, welche bisher nur auf einem subjektiven Urteile und dem rein äufserlichen Umstände basiert war, dafs man der Bequemlichkeit des Ausdrucks halber die gesamte Haut, auf welcher von jedem Punkte aus sowohl Druck- als auch Wärme- und Schmerzempfindungen ausgelöst werden können, als ein Tastorgan bezeichnete, wäre damit direkt erwiesen. Der Weg, zwischen beiden Möglichkeiten zu entscheiden, ergibt sich aus den Forderungen, von weichen wir bereits früher erkannten, dafs sie bei der Anlage eines Sinnesorgans im allgemeinen erfüllt sein mufsten, wenn dasselbe korrekt funktionieren soll, und welche in der Existenz eines nur zur Aufnahme bestimmter Beizursachen eingerichteten Vorbaues an der Peripherie, eines mit spezifischer Energie begabten Zentralorgans. (s.o. p. 124) und eines beide verbindenden Leitstranges, der Nerven- faser, bestanden. Ganz zweifellos würde also eine qualitative- Differenz zwischen Wärme-, Druck- und Schmerzempfindung dargethan sein, wenn es gelänge, den verschiedenen Empfindungskategorien an Zahl entsprechende Nervenapparate von der angegebenen Einrichtung- nachzuweisen. Den gewünschten Einblick in den wirklichen Sach- 1 E. H. Weber, a. a. 0. p. 513. 152 TASTEMPFINDUNGEN. § Sg. verhalt können wir also zu erlangen hoffen, wenn es gelingt, mit Hilfe der Histologie festzustellen, oh z. B. in der Cutis nervöse Endapparate vorhanden sind, deren Bau eine bestimmte physiologische Bedeutung erschliefsen liü'st, und wieviel verschiedene Formen derselben existieren. Physiologischerseits mufs sodann noch untersucht werden, ob die Reizursachen, welche von den Hautbedeckungen aus Gefühle bestimmter Art hervorrufen, den Rang adäquater Reize besitzen, d. h., ob sie eben nur durch Vermittelung der Endvorrichtungen und nicht auch bei direkter Applikation auf die von letzteren aus- gehenden Nervenfasern die Entstehung der fraglichen Empfindungs- qualitilt veranlassen, und endlich, ob die direkte Erregung der End- und Zentralorgan verbindenden Nervenfaser durch allgemeine Nerven- reize ebenfalls Gefühlsempfindungen von gleicher Qualität auszulösen vermag, was das Vorhandensein eines in spezifischer Weise reagierenden Zentralorgans aufser Zweifel setzen würde. Die Ergebnisse, welche wir der histologischen Forschung ver- danken, haben wir soeben kennen gelernt. Soweit unser Wissen reicht, sind in der eigentlichen Cutis, auf die es hier allein an- kommt, nur zwei verschiedene Arten der Nervenendiofuno: vorhanden, die freie Endiguug und diejenige in Zellen. Nur eine derselben, und zwar die zuletzt genannte, gestattet den Schlufs, dafs sie den Zweck habe, bestimmte physikalische Bewegungsformen in Nerven- reiz umzuwandeln, wobei die gröi'sere oder geringere Zahl ihrer kon- stituierenden Elemente lediglich den Grad ihrer Reizempfänglichkeit bestimmt. AVeitergehende Folgerungen lassen sich jedoch leider aus dem Bau der in ihr Bereich fallenden Tastzellen, Tastkörperchen, Endkolben und PACiNischen Körperchen nicht ziehen, namentlich ist absolut nichts Sicheres darüber auszusagen, welchen physikalischen Bewegungsformen sie wohl vorzugsweise adaptiert sein möchten. Kkause ^ hat allerdings für die PACiNischen Körperchen den Versuch gemacht, aus einer direkten Analyse ihrer anatomischen Verhältnisse den Beweis zu führen, dafs sie „äufsere mechanische Einwirkungen in einen nach dem Innern des Körperchens hin successive wachsenden Druck umsetzen''; allein wir müssen mit vielen andern bekennen, dafs uns sein Unternehmen vom physikalischen Gesichtspunkte aus zu wenig gesichert erscheint, um schon jetzt als unbedingt geglückt bezeichnet werden zu können. Was die freie Nervenendigung in der Cutis betrifft, so ist kaum zu bezweifeln, dafs sie von allgemeinen Nervenreizen aller Art erregt werden mufs. So karg diese Ergeb- nisse scheinen mögen, einige Fingerzeige zum tieferen Eindringen in das uns beschäftigende Problem enthalten sie dennoch. Nicht nur weisen sie darauf hin, dafs die Bedingungen zur Auslösung von mehr als zwei qualitativ verschiedenen Empfindungen mindestens nicht in dem Nervenapparat der Oberhaut vorbereitet sind, insofern diese eben » W. KrAVSE, ZHchr. f. rat. Med. 1SC3. III. R. Bd. XVII. p. 278. g 88. TASTEMPFINDUNGEN. 153 nur über zwei auatomiscli verschiedeue Arten der Xerveuendigung- verfügt, sondern sie gehen uns auch eine ganz hestimmte Frage- stellung an die Hand, insofern in ihnen die Aufforderung liegt, vor- erst zu entscheiden, ob gewisse physikalische Bewegungsformen, welche unsre Epidermis treffen, nicht vielleicht von der Reihe der allgemeinen Nervenreize auszuschliefsen sind, obwohl sie den empfiüdungerzeugenden Vorgang konstant auszulösen vermögen. Finden sich solche, so würden wir kaum fehl gehen, wenn wir ge- rade sie als diejenigen Impulse ansprächen, zu deren Empfang und Verarbeitung die komplizierter gebauten Endorgane der Oberhaut, insbesondere die Tastzellen und Tastkörperchen, dienten. — Auf den ersten Blick freilich scheint Bemühungen nach der angegebenen Richtung hin wenig oder gar keine Aussicht auf Erfolg eröffnet werden zu können. Denn es ist bekannt, dafs die mechanischen und thermischen Einflüsse, denen unsre Körperoberfläche der Regel nach allein ausgesetzt ist, und über welche unserm Bewufstsein stets Kunde zugeht, zu den allgemeinen Nervenreizen gehören. Nichts- destoweniger läfst sich jedoch gerade in bezug auf die erwähnten Einwirkungen darthun, dafs sie unter Umständen und zwar unter solchen, welche hier allein in Betracht zu ziehen sind, die Bedeutung allgemeiner Nervenreize nicht besitzen. Offenbar dürfen sie den letzteren nämlich nicht mehr zugerechnet werden, wenn sie sich in Intensitätsgraden bewegen, welche zwar noch durch Vermittelung der Endausbreitung unsrer Hautnerven als Temperatur- und Druck- empfindung zur Wahrnehmung gelangen, die Fasern eines Nerven- stammes hingegen bei direkter Applikation nicht mehr in den erregten Zustand überzuführen vermögen. Nachweislich gilt dies aber in vollem Mafse für alle jene Temperatur- und Druck- schwankungen, welche in uns die Empfindungen der Wärme, der Kälte und des Druckes erwecken. Erst wenn jene Reizursachen so stark gewählt werden, dafs sie schmerzhaft empfunden werden, dann erst sind sie nach den Erfahrungen der allgemeinen Nerveuphysiologie auch imstande die Nerven selbst in Thätigkeit zu versetzen. Ganz im Einklänge damit steht, dafs die feinen, bei jeder leisen Berührung schmerzhaft reagierenden Nervengeflechte unsrer Conjunctiva, wenn diese zarten Membranen mit abgekühlten Metallstäbchen oder selbst mit der stumpfen Spitze eines kleinen Eissplitters berührt werden, kein Gefühl örtlicher Temperaturabnahme in uns wachrufen, ein Gefühl, welches unmittelbar in uns entsteht, sobald wir den Cutis- überzug der benachbarten Lidränder einer gleichen Behandlung imterwerfen, und- dafs die erwähnten Körperteile ebensowenig eine leichte Kompression als Druckgefühl zur Wahrnehmung bringen. In Übereinstimmung damit befinden sich ferner die bereits öfters citierten Beobachtungen E. H. Webers, welche die Unfähigkeit imsrer Darmschleimhaut, Druck und Temperaturempfindungen zu ver- mitteln, beweisen. An allen hier angeführten Orten läuft mindestens 154 TASTEMPFINDUNGEN. § 88. die überwiegende Mehrzahl der Nerven in freie Spitzen zwischen den die Oberfläche bekleidenden Epithelzellen ans, ohne mit Apparaten A'on eigenartigem Ban in Verbindung zu treten. AVo die Zahl der nervösen Endpunkte relativ S})arsam ist, wie auf der Darraschleimhaut, werden in engeren Grenzen eingeschlossene Druck- und Temperatur- Schwankungen gar nicht zum Bewufstsein gebracht; wo solche End- punkte massenhaft beieinander liegen, wie in der Cornea, und die in vielen von ihnen gleichzeitig hervorgerufenen schwachen Er- regungen zentripetal fortgeleitet eine Summierung im psychischen Zentralorgan erfahren, veranlassen die gleichen schwachen Reizungen hingegen eine Schmerzempfindung. Um deutliche Druck- und Temperaturgefühle zu vermittelu, bedarf es aber stets besonderer Vorrichtungen, und als solche können in der Cutis, welcher dieses Vermögen in hohem Grade eigen ist, einzig und allein die Tastzellen und Tastkörperchen gelten, wobei stillschweigend die allerdings noch nicht direkt erwiesene Annahme gemacht wird, dafs mindestens den ersteren ein weiter über die ganze Cutis sich erstreckender Ver- breitungsbezirk zukommt. Die freien, keineswegs so zahlreich wie in der Cornea vertretenen Nervenenden unsrer Oberhaut werden von schwachen Druck- und Temperaturschwankungen ebenso w^enig tangiert, wie diejenigen vieler Schleimhäute und wie ein beliebiger Nervenstamm; die mechanischen und thermischen Einwirkungen, denen sie unaufhörlich imterM^orfen sind, müssen erst relativ hohe Intensitätsgrade erreichen, ehe ihre Thätigkeit beginnt. Ist dieser Fall aber eingetreten, so läfst sich nicht bezweifeln, dafs das psychische Resultat ihrer Erregung demjenigen unähnlich sein wird, welches die übrigen komplizierter gebauten Endorgane zu produzieren vermögen, und dafs es die Form einer Schmerzempliudung annehmen wird, analog derjenigen, welche die freien Nervenendigungen der Cornea und gewisser Schleimhäute vermitteln. Die Erwägung der bekannten, die sensible Nervenendigung betreifenden histologischen Daten hat uns demnach dahin geführt, für jene beiden Empfindungsqualitäten, welche wir früher unter dem Begriff der Tastempfindungen zusammengefafst haben, besonders geartete peripheiische Endorgane in Anspruch zu nehmen und dem Gemeingefühl des Schmerzes einen getrennten Entstehungsort in einem anders beschafifenen nervösen Endapparat anzuweisen. Es bleibt zu prüfen, ob sich diese Gruppierung auch noch anderweitig begründen läfst. Wie ersichtlich wird der gewünschte Aufschlufs nicht mehr von seifen der Histologie, deren Errungenschaften von uns bereits vollkommen ausgenutzt worden sind, erfolgen, sondern steht von seifen der Physiologie zu erwarten. Dem physio- logischen Experiment kommt es jetzt zu, die eben entwickelten Anschauungen ihres hypothetischen Charakters zu entkleiden und darzuthun, erstens, dafs die das Schmerzgefühl vermittelnden Nerven- fasern gesondert von den die Tastempfindungen hervorrufenden ver- g88. TASTEMPFINDUNGEN. 155 laufen, zweitens aber auc"h darüber Klarheit zu bringen, ob Druck- und Wärmegefübl als blofse Modifikationen einer und derselben Empfindungsqualität aus einem und demselben Endapparate infolge einfacher Reizmodifikationen entspringen, oder ob beide Gefühlsarten auf verschiedenen Empfindnngsqualitäten beruhen, mithin ungeachtet des Mangels einer histologischen Stütze, in Gemäfsheit jedoch mit dem Gesetze der spezifischen Sinnesenergieu verschiedenartige, sei es zentrale oder periphere, Endapparate zur Voraussetzung haben. Hinsichtlich des ersten Punktes verweisen wir auf einen späteren Abschnitt dieses Werkes, wo einige Experimente von Schiff, aus Avelchen hervorgeht, dafs bei Tieren nach Durchschneidung gewisser Rückenmarksteile das Schmerzgefühl in allen hinter dem Schnitt gelegenen Körperregionen erlöschen kann, während leichte Be- rührungen der gegen die heftigsten Eingrifie unempfänglich gewordenen Körperteile deutlich wahrgenommen werden, eingehendere Berück- sichtigung finden sollen. Hier mag noch geAvisser Angaben gedacht werden, aus welchen hervorgeht, dais auch die Hautsensibilität des Menschen unter Umständen Gelegenheit zu ähnlichen Wahrnehmungen gibt. Die auffällige Erscheinung, bei völlig erhaltenem Tastgefühl gegen Eindrücke schmerzhafter Natur unempfänglich zu sein, die sogenannte Analgesie, kann während jeder nicht allzu tiefen Chloroformnarkose beobachtet werden. In der Regel äufsern sich in solchen Fällen die operierten Kranken dahin, dafs sie während der ganzen Operation wohl die Berührung ihrer Haut mit dem schneidenden Instrument und den Druck desselben gefühlt hätten, aber frei von Schmerzempfiudungen geblieben wären. Diese That- sache dürfte im Zusammenhang mit den von Schiff mitgeteilten Experimenten hinreichende Bürgschaft dafür gewähren, dafs einerseits der Schmerz, anderseits das Druck- und Wärmegefühl als durchaus difierente und in gesonderten Nervenapparaten zur Entwickelung ge- langende Empfinduugsqualitäten angesehen werden müssen. Bezüglich des zweiten Punktes fällt die Entscheidung viel schwerer. Denn hier gilt es wohlbegründete Thatsacheu gegeneinander abzuwägen, von denen einige identische Endapparate für die Yer- mittelung der Wärme- und Druckempfindungen zu fordern scheinen, einige wiederum differente. Mehrfach bestätigte Versuche haben ge- lehrt, dafs Erwärmung von Gewichten eine Abschwächung der von denselben erzeugten Druckempfindung, Abkühlung umgekehrt eine Steigerung bewirkt.^ Druck- und Wärmeempfinduugen können also gewissermafsen untereinander interferieren, w^as eindringlich für ein örtliches Zusammenfallen der sie bedingenden Erregungsvorgänge spricht. Als ein fernerer Beweis für die grofse physiologische und folglich auch histologische Übereinstimmung der fraglichen End- apparate kann angeführt werden, dafs schwache mechanische Haut- ' E. H. Weber, a. a. O. — Szabadföldi, Moleschotts Unters, z. Nuturl. 1865. Bd. IX. p. esi. 156 TASTEMPFINDUNGEN. § 88. reizungeu unter Umständen Wärmeempfin düngen auslösen ^, und iimgekelirt thermische Hautreize in gewissen Fällen einer Ver- wechselung mit r)ruckem])finduugen unterliegen/"' Dem gegenüber sind nun aber auch Erfahrungen zu verzeichnen, welche zu gerade entgegengesetzten öchlulsfolgerungeu Anlafs gegeben haben. Hierhin gehört namentlich der Nachweis örtlich getrennter thermischer Punkte, und zwar von Kältepunkten, welche bei Wärme- entziehung Kälteempfindungen, sowie von Wärmepunkten, welche bei Wärmezufuhr Wärmeem])findungen verursachen, und ferner der Nachweis thermo-anästethiseher Hautbezirke, in deren Bereich Unempfindlichkeit gegen thermische Reize bei erhaltener Druck- empfindlichkeit besteht.^ Von experimentellen Belegen für die obigen allgemeinen Sätze heben wir namentlich folgende hervor. Legt man einem Unbefangenen bei geschlossenen Augen einen kalten Thaler auf die Stirn und dann auf diesel])e Stelle zwei er- wärmte Thaler übereinander, so wird er das Gewicht des ersteren für ebenso grofs oder für gröfser als das der beiden letzteren halten. Die Empfindung der Kälte hat also hier die Druckemi^findung verstärkt, die der Wärme hat sie ver- mindert. Der umgekehrte Fall tritt nach SzABADFöLDi^ein, wenn Vei'suche der be- schriebenen Art bei relativ hohen Temperaturgraden angestellt werden. Ver- gleicht man die Gewichte zweier Holzscheiben von verschiedenem Umfang untereinander, nachdem man die kleinere auf 50 und mehr Grade Celsius erwärmt hat, so wird diese stets schwerer taxiert als die gröfsere nicht erhitzte. Hier haben sich also die Empfindungen der gesteigerten Wärme und des Druckes im Gegensatz zu dem früheren Experiment summiert. — Verwechselungen beider Empfindungskategorien untereinander finden am leichtesten statt, wenn man die von Wuxderli gewählten Versuchsbedingungen herstellt. Wunderli be- deckte bei unbefangenen Personen, deren Augen verbunden waren, verschiedene Hautflächen verschiedener Körperregionen mit einem Papierblättchen, welches in der Mitte durchlöchert war, und berührte entweder den unbedeckt gebliebenen zentralen Hautabschnitt mit Baumwolle oder näherte demselben ein erwärmtes Metallstäbchen. Die Personen mufsten, während er mit beiden Reizungsarten beliebig abwechselte, jedesmal angeben, ob sie eine Berührungs- oder eine Temperaturempfindung hatten. Es ergab sich, dafs, wenn die Versuche an der Haut der Handvola oder des Gesichts angestellt wurden, nie eine Täuschung vorkam, nie auf Anwendung des AVärmereizes ein Berührungsgefühl und um- gekehrt angegeben wurde, dafs dagegen bereits bei Versuchen am Handrücken, der Streckseite des Vordei'arms u. s. w. zuweilen Verwechselung eintrat, sehr häufig aber bei Versuchen an der Haut des Rückens. Ausnehmend einfach ist das Verfahren zur Ermittelung der Wärme- und Kältepunkte. Man hat dazu hohle Messingcylinder in Vorschlag gebracht, welche an dem einen Ende in eine kurze, gut geglättete Spitze auslaufen, an dem andren mit einem Pfropfenverschlufs versehen sind, und je nach Bedarf mit heifsem Wasser, mit Eisstücken angefüllt, eine schnelle und leichte toj)o- graphische Aufnahme des Temperatursinns gestatten. Diese „Kälte- resp. Wärmereizer", wie sie der Kürze halber genannt worden sind, werden an einem um die C'jdinderseite herumgelegten Gummiring gehalten vmd mit leichtem Tupfen über die verschiedenen Hautregionen hinweggeführt. 1 GOLDSCHEIDER, Monatxhcfte f. prakt. Dermafol. 18S4. Bd. IH. p. 198, 225. 2 WUNDKRLI, RIOLESCHOTTs UnUrs. z. iXaturl. ISüO. Bd. VU. p. 393, u. bei A. FICK, Lehrb. d. Anat. u. Anat. u. Plnjxiol. d. Sinnesorr/ane. Lahr 1864. p. '.'9. ^ Blix, Expfrim. Beitr. :. Lö.innr/ d. Fru(ie über d. spezilische Enernie der Hautner vn. Upsula lükarefören förhandl. 188.3. Bd. XVUI. 2., p. 87. ref. in Schmidts Jahrb. 1883. Bd. CLXLVH. p. 117. — GOLDSCHEIDEK, a. a. O. u. Die Lehre v. d. spe:if. Energien der Sinnesnerven. Berlin 1881. § 88. TASTEMPFINDUNGEN. 157 AVir haben soeben erfahren, zu welchen divergierenden An- schauungen die experimentellen Ermittelungen geführt haben, und man könnte hiernach fast zweifeln, ob zur Zeit sich überhaupt ein Gesichtspunkt gewinnen lassen möchte, welchem sich alle jene widerspruchsvollen Thatsaehen zwanglos unterordneten. Dennoch existiert eine solche Möglichkeit, wenn man nämlich die Hypo- these aufstellt, dafs den einzelnen Tastnerven zwar gleichartig angelegte periphere, aber ungleichartig angelegte zentrale Enden zukommen. Unter dieser Voraussetzung wird erkl.ärlich sovrohl jene erste Kategorie von Beobachtungen, aus welchen die qualitative "Identität von Wärme- und Druckempfindung erschlossen, als auch die zweite, deretwegen sie geleugnet wurde. Bei gleich- beschaffenen peripheren Endapparaten, welche für thermische und für mechanische Reize gleich gut erregbar wären, denen jedoch zentrale mit verschiedenen spezifischen Energien begabte Endapparate entsprächen, könnten die erwähnten Interferenzerscheinungen der Wärme- und Druckempfindungen, die Auslösung von thermischen Empfindungen durch mechanische Beize und von Druckempfindungen durch thermische Beize ohne inneren Widerspruch neben einer scharfen (Ertlichen Unterscheidung punktförmiger thermischer Er- regungen bestehen. Indessen wird diesem Erklärungsversuch solange nur ein bedingter Wert beizumessen sein, als die Entdeckung neuer bisher unbekannter Nervenendapparate in der Cutis noch im Bereiche des Möglichen liegt. Angezeigt ist derselbe, weil gegenwärtig statt der erwarteten vier Arten von Hautnervenendigungen nur zwei auf- gefunden worden sind, und weil nach Entdeckung der thermischen Empfindungspunkte auch der Gedanke aufgegeben Averden mufs, Druck- und Wärmegefühl als Modifikationen einer und derselben Sinnesqualität darzustellen. Es kommen mithin auch alle jene Ver- suche in Fortfall, welche die qualitative Difierenz dieser beiden Gefühlskategorien auf Modifikationen von Reizwirkungen, namentlich auf Verschiedenheiten in der räumlichen Ausbreitung der letzteren zurückführen wollten. Die Unterscheidung zwischen thermischen und mechanischen Erregungen, wie sie unser Bewufstsein macht, ist nicht länger aus der Annahme differenter, hypothetischer Lokal- zeichen zu erklären, mit welchen die räumlich eventuell ungleich- artig verteilten Erregungsvorgänge an der Feripherie versehen werden, und mit denen beladen sie gleichsam vor das Forum des Bewufstseins treten, sondern die Unterscheidung erfolgt unstreitig nach dem Gesetze der spezifischen Energien, welches fortan mit aller Strenge in der einen oder andren Form auch für die Sinnes- nerven der Haut durchzuführen sein wird. Eine wie grofse Beweiskraft für die Existenz besonderer, allein die Temperaturempfindung vermittelnder Nervenfasern klinische Beobachtungen haben könnten, dui'ch welche entweder gänzlicher Mangel des Temperatursinna bei erhaltenem Drucksinn, oder umgekehrt fehlender Drucksinn bei vorhandenem 158 TASTEMPFINDUNGEN. §88. Temperatur.sinn sicher konstatiert ^väre, bedarf tceiiier Auseinandersetzung. Solche Krankheitstalle sind nun zwar auch beschrieben worden^ lassen aber an Evidenz zu ■wünschen ülirig. Einen letzten Entscheiduugsgrund für die Frage nach der Zahl der von den Hautnerven im Zeutralorgan ausgelösten spezifischen Energien bieten, wie früher erörtert (p. 152), schlielslich die psychischen Folgen einer direkten Reizung der Nervenstämme. Gewöhnlich wird in bezug hierauf gelehrt, dafs das einzige Resultat Schmerz- empfindungen seien. Indessen hat schon FiCK - auf die Ungenauig- keit dieses fast zum Axiom gCAvordenen Satzes aufmerksam gemacht. Thatsächlich steht fest, dafs mechanische Reizungen eines sen- siblen Hautnerven, z. B. ein Stofs gegen den n. nlnaris am Ellen- bogengelenk, wie ihn fast jedermann zufällig einmal erleidet, leb- hafte Prickelempfindungen in den von jenen Nerven versorgten peripheren Hautpartien auslöst, Empfindungen, deren nahe Verwandt- schaft mit Berührungsempfindungen kaum in Abrede zu stellen sein dürfte. Aufserdem ist bekannt, dafs entzündliche Prozesse im Rückenmark, welche notwendig mit Reizungen der durchtretenden Nervenfasern vei'knüpft sein müssen, zur Entstehung lebhafter Druck- empfindungen Anlafs geben. Das lästige Gefühl eines bestimmte Rumpfabschnitte umfassenden und zusammenschnürenden Ringes ist bei vielen solcher Rückenmarkskranken regelmäfsiger Gegenstand der Klage. Hiermit ist aber erwiesen, dafs Zentralorgane existieren müssen, welche die irgendwie erzeugten Thätigkeitszustände ihi'er zuführenden Nerven in spezifischer Weise zu einer Berührungs- oder Druckempfindung umgestalten. Ebenso ist das frühere Vorurteil auch hinsichtlich der Temperaturempfindungen zum Schwinden gebracht, seit der Versuch gelang ^, durch Reizung von oberflächlich gelegenen Hautnervenstämmchen charakteristische, im Bewufstsein auf den peripheren Verbreitungsbezirk bezogene Temperaturempfiudungen hervorzurufen. Das Auftreten endlich von Schmerzempfindungen bei Reizung von Hautnervenstämmen, von welchen wir oben erfahren haben, dafs sie wahrscheinlich eine Sonderstellung für sich in An- spruch nehmen dürfen und keineswegs als blofs graduelle Modifi- kationen der beiden Kategorien des Tastsinnes anzusehen sind, ist niemals bezweifelt worden. Im ganzen begünstigen also auch die in letzter Reihe mitgeteilten Erfahrungen die Annahme, dafs die von unsrer Oberhaut vermittelten Empfindungen zwei verschiedenen Klassen angehören, deren eine die sogenannten Tastempfindungen, deren andre als einzigen Repräsentanten das Gemeingefühl des Schmerzes enthält. Diese Begründung des von uns befürworteten allgemeinen Standpunktes vorausgeschickt, steht nichts mehr im Wege, die physiologischen Eigentümlichkeiten der einzelnen Empfindungsqualitäten nacheinander einer gesonderten Betrachtung 1 Vgl. Nothnagel, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1866. Bd. H. p. 259. ^ A. FiCK, Lehrb. d. Anat. u. Plnisiol. d. Sinnesorgane. Lahr 1864. p. 39. 3 GOLDSCHEIDEK, Monalshe/te f. j^rukt. Dermatol. 188-1. Bd. lU. p. 231. § 88. DRUCKSIXX. 159 zu nuterwerfeu. Wir beginnen mit der BesprecLang des als Drucksinn bezeichneten Vermögens unsrer Haut. Berührt ein Körper unsre Haut, so entsteht eine Druck- empfindung, gleichviel, ob die Berührung dadurch zustande kam, dafs der Körper gegen die ruhende Haut bewegt wurde, oder da- durch, dafs wir mit Hilfe unsrer Bewegungsorgane die Tastfläche gegen den Körper bewegt haben. Die nächste Ursache der Druck- empfindung ist in beiden Fällen eine bis zu den Xervenenden fort- gepflaazte Kompression der Haut, diese aber wiederum die unmittel- bare Folge des Widerstandes, welchen der ruhende Teil der Be- wegung des andren bei erfolgter Berührung entgegensetzt. Damit eine Druckempfiudung bei der Berührung einer Tastfläche mit einem äufseren Körper entstehe, ist ein bestimmter Grad des Widerstandes, also der dadurch bedingten Kompression der Haut, erforderlich; wir fühlen die Berührung eines leichten Stäubchens oder einer in der Luft schwebenden Flaumfeder nicht, wenn wir den Finger gegen sie be- wegen, oder wenn dieselbe auf unsern Finger fällt. Der Minimaldruck, welcher nötig ist, um eine Druckempfiudung zustande zu bringen, ist sehr verschieden grofs an verschiedenen Stellen des Ta.st- organes, aber auch bei verschiedenen Personen. Gregen den niedrigsten Druck ist nach Kammler die Stirnhaut empfindlich; während an dieser bereits ein Gewicht von 0,002 g eine Druckempfindung er- zeugt, sind dazu an den Fingern z. B. schon 0,005 — 0,015 g er- forderlich.^ Die Ursachen dieser Empfindlichkeitsunterschiede können in anatomischen Momenten mannigfacher Art gesucht werden: erstens in der Menge der in einer Hautfläche von bestimmter Gröfse endigenden Nervenfasern, da, M'ie wir noch näher sehen werden, die Intensität der Empfindung mit der Zahl der durch eine gegebene Druckgröfse gereizten Ner\eneDdeu wächst, zweitens in einer ver- schiedenen Empfindlichkeit der Nervenendapparate, drittens in der verschiedenen Dicke der Epidermis, welche den Sinnesreiz letzteren zuleitet, viertens in solchen Momenten, wie Spannung der Haut, Nähe fester knöcherner Unterlagen unter ihr, Behaarung und so fort. Goltz ', welcher sich eines andren experimentellen Verfahrens als Kammler bediente, hat sehr abweichende Resultate erhalten. Ausgehend von der Frage, woher der Puls der Radial- und Temporalarterien von dem tasten- den Finger leicht, von der jene Gefäfse deckenden Haut in der Regel gar nicht wahrgenommen werde, untersuchte er die Emj^findlichkeit verschiedener Haut- regionen gegen Druckschwankungen in der Art, dafs er in einem mit Wasser gefüllten Kautschukschlauch durch Kompression Wellen von verschiedener Gröfse erregte und die zu prüfenden Hautpartien mit gleich langen Strecken der Schlauchwand in Berührung brachte. Im allgemeinen ergab sich, dafs das Vermögen, Druckschwankungen von der beschriebenen Beschaffenheit anzuzeigen, an verschiedenen Stellen unsrer Körperoberfläche graduell erheblich differiert. Weiterhin ist aber aus den von Goltz gemachten Mitteilungen zu entnehmen. ' O. Kammler, Exper. de var. cutia region. minim. pondera sentiendi virtute. VratisL 1S58. Diss. inauff., u. AUBERT u. KAMMLER, MOLESCHOTTs Unters, z. Naturlehre. 1859. Bd. V. p. 145. - Goltz, Ctrlbl. f. d. med. Wiss. 1863. •>:o. 18. 160 • DRUCKSINN. §88. dafs ganz im Gegensatz zw den Angaben Kammlers der Stirnhaut eine geringere Emptindlicljkeit als der Haut der Fingerspitzen zukommt. Der hier zu tage tretende Widerspruch ist jedoch nur scheinbar und erklärt sich daraus, dafs Goltz nicht, wie Kammlek, reine Druckempfindungen, sondern einen viel kom- plizierteren Vorgang, in welchem sich Druckempfindungen und Bewegungs- gefühle kombiniert haben, zum Gegenstand seiner Messungen gemacht hat. Für den umgekehrten A'orwurf, dafs Kammlkus Versuche gar nichtDruckempfindungen, sondern qualitativ von denselben unterschiedene Berührungsempfindungen be- träfen, läfst sich imsers Erachtens kein stichhaltiger Grund geltend machen. Denn die Berülirungsempfindungen sind eben nichts Andres als Druck- empfindungen von minimaler Intensität. Dafs mit ihnen im Gegensatz zu den letzteren die Vorstellung eines aufserhalb der Haut gelegenen Objekts als Eeiz- ursache nicht verbunden sein sollte \ können wir nicht zugeben. Aufser'den zwei genannten Faktoren, welche für das Zustande- kommen einer Berüliruugs- oder Druckempfiudung eine zweifellos mafsgebende Bedeutung besitzen, einem bestimmten Intensitäts- grade der Reiznrsachen und einem bestimmten von mannig- fachen Umständen abhängigen Erregbarkeitsgrade der nervösen Endapparate, mufs es jedoch noch einen dritten von erheblicher Bedeutung geben. Denn keineswegs vermag jeder mechanische Druck, selbst wenn er eine hinreichende Stärke besitzt und auf hinlänglich erregbare Endapparate einwirkt, die ihm in andern Fällen entsprechenden Empfindungs- qualitäten auszulösen. Die Kenntnis der Thatsachen, auf welche sich dieser Satz stützt , verdanken wir Meissner ^, welcher zuerst darauf aufmerksam machte, dafs, wenn wir unsre Hand in Wasser oder Quecksilber von der Temperatur der Hand eintauchen, auf keinem Teil der versenkten Tastfläche eine Druckempfindung ent- steht, auch wenn der Druck der darauf lastenden Flüssigkeitssäule weit beträchtlicher ist als der eines kleinen festen Körperchens, dessen Applikation eine deutliche Empfindung veranlafst. Nur da, wo der untergetauchte Finger die Flüssigkeitsoberfläche schneidet, kommt es zu einer Druckempfinduug, aber auch diese fehlt an der Dorsalseite der Hand. Es mufs also offenbar ein Unterschied be- stehen in der Druckeinwirkung eines festen Körpers, welcher Druck- empfindung erzeugt, und einer Flüssigkeit, welche bei gleichem oder selbst gröfserem Gewicht keine erzeugt, ferner eine Eigentümlichkeit der Einwirkung der Flüssigkeit an der bezeichneten Grenzlinie, wo sie Empfindung hervorbringt. Das überraschende Resultat, zu welchem uns Meissners Beobachtungen geführt haben, büfst nur wenig von seinem auffälligeu Charakter ein, wenn wir erfahren, dafs die Verschiedenheit der von festen und von flüssigen Körpern aus- geübten Druckwirkungen lediglich dadurch bedingt ist, dafs die Kontaktfläche der ersteren sich im Gegensatz zu der der letzteren nicht genau genug der berührten Hand anschmiegt. Wirklich lehrt der direkte Versuch, dafs nach Beseitigung dieser rein äufserlichen 1 BASTELBERGER, Experim. Prüfung d. z. Lrucksinnmessunfj avrjewandten Methoden u. s. iv. Stuttgart 1S79. ^ G. MEISSNER, Ztschr. f. rat. Med. 1859. HI. R. Bd. VII. p. 92. §88. DRUCKSINN. 161 Differenz der feste Körper ebensowenig Druckempfiudimgen auszu- lösen vermag wie eine beliebige Flüssigkeit. Am einfachsten über- zeugt man sich, von der Richtigkeit des Glesagten, wenn man sich von einem seiner Finger nach Meissners Vorgang einen Paraffin- abgufs anfertigt. Wird letzterer über das zu ihm passende Glied gestreift, so schwindet in demjenigen Augenblicke, in welchem die entsprechenden Unebenheiten beider einander genau decken, jedes Gefühl von Druck oder Berührung von selten der Hülle. In diesem Verhalten ändert sich nichts, wenn man die äufsere Fläche des Paraffinabgusses mit Gewichten belastet, augenblicklich aber wird die Gegenwart desselben wahrgenommen, sobald man ihn auch nur wenig auf dem Finger verschiebt. Obwohl die eben beschriebenen That- sachen bisher noch keine ausreichende Erklärung gefunden haben, soviel ist " aus ihnen dennoch zu entnehmen, dafs das Versuchsmoment, dessen künstliche Änderung die Natur der jedesmaligen Wirkung bedingte, einzig und allein die Richtung des mechanischen Druckes war. Demgemäls haben wir die Richtung des mechanischen Druckes gegen die Hautoberlläche den beiden schon genannten Fak- toren, von welchen das Zustandekommen einer Druckempfindung ab- hängt, als dritten hinzuzufügen. Wo den pressenden Kräften eine zur belasteten Hautääche allerorts genau senkrechte Richtung erteilt wird, nimmt man ihnen auch die Fähigkeit, als ISTervenreize zu funktionieren. Die oben erwähnte Druckempfindung, welche der in eine Flüssigkeit getauchte Finger in der Niveauhöhe derselben hat, erklärt sich somit lediglich daraus, dafs die sonst überall senkrecht zur Hautfläche gerichteten Druckkräfte der Flüssigkeit hier eine seitliche Komponeute besitzen, weil die komprimierten Partien nach der Seite des geringsten Widerstandes ausweichen können. Es sieht demnach fast so aus, als ob Lageveränderungen bestimmter Art, seitliche Verschiebungen der Nervenenden, die eigentliche Erregungs- ursache des mechanischen Druckes bilden, die einfache allseitige Kompression ohne gleichzeitige Lageveränderung dagegen kein reizen- des Moment enthält. Selbstverständlich erhebt diese Umschreibung des Thatbestandes keinen Anspruch darauf, eine Erklärung desselben zu sein, vielmehr wird bereitwilligst anerkannt, dafs eine solche vor- derhand gänzlich fehlt. Als Fingerzeig für eine zukünftige Lösung des vorliegenden Problems kann aber vielleicht die Bemerkung dienen, daJ's die irritablen mit drüsigen Vorrichtungen versehenen Blatthaare gewisser Pflanzenarten (Droseraceen) ein ganz analoges Verhalten gegen Druckwirkungen verschiedener Art wahrnehmen lassen, wie die irritable Substanz unsrer Tastnerven. Die Ver- wandtschaft beider hier zusammengestellten Erscheinungen ergibt sich von selbst, wenn wir von Ch. Darwin^ hören, dafs ein äufserst leichter fester Körper, wenn er auf die empfindliche Spitze eines 1 CH. DARWIN, Insektenfressende Pflanzen, .nus il. Eng-1. übersetzt v. J. V. CARUS. Stuttgart 1876. Gkuenhagen, Physiologie. 7. Aufl. H. 11 162 DRUCKSINN §88. solchen Drüsenhaares gebracht wird, alsbald eine Beugung desselben nach dem Zentrum des Blattes hin hei'vorzurufen vermag, die Be- lastung mit einem viel schwereren Wassertropfen untei- gleichen Umständen dagegen ohne jede Wirkung bleibt. Anders als soeben geschehen hat Meissner im Einklang mit Lotzk' die von ihm aufgefundenen Thatsachen verwertet. Auch er gelangt allerdings zu dem Schlufs, dafs bei der Erregung unsrer Hautnerven durch Druck die Eich- tuug des letzteren von wesentlicher Bedeutung sei; eine ganz abweichende An- sicht äufsert er jedoch über die Natur der eigentlich wirksamen Kräfte. Meissner analysiert zunächst die mechanischen Folgen eines Stofses oder an- haltenden Druckes, welcher unsre Haut trifft, und findet, dafs man hierbei zweierlei zu unterscheiden hat, einmal eine mit Spannungszunahme verbundene gegenseitige Annäherung der Hautteilchen, welche, solange als der Druck w^ährt, konstant bleibt, zweitens eine gegehseitige Verschiebung der Hautteilchen, wie bei den Teilchen einer gedrückten Flüssigkeit. Letztere, nimmt Meissner an, wird aber nicht blofs in einer einmaligen , beim Beginn des Druckes statt- findenden Bewegung bestehen, sondern in einer Reihe wiederkehrender solcher Bewegungen, „Oszillationen", welche mit abnehmender Exkursion fortdauern, bis die Teilchen in einer neuen Gleichgewichtslage zur Ruhe kommen. Von diesen Iteiden Wirkungen einer Druckkraft soll ausschliefslich die zweite als Reiz für die Hautnerven zu betrachten sein, zumal ja auch bei andern Sinnen, wo die Natur des äufseren Reizes genau bekannt ist, beim Gesichts- und Gehörssinn, Oszillationen die Erregung der Nei-ven bewirken, und überhaupt, wie in der allgemeinen Nervenphysiologie erörtert ist, jede dauernde Nervenerregung nicht durch stetige Zustände, sondern nur durch eine Reihe mit gewisser Geschwindig- keit sich folgender Veränderungen erzeugt wird. Meissner analysiert nun auf Grund dieser aprioristischen Sonderung der Druckeinwirkung die Verhältnisse bei der Berührung der Haut mit einem festen und mit einem flüssigen Körper, und zwar an der rola manus , und kommt zu folgenden Anschauungen. Es findet zunächst ein Unterschied in der Berührungsweise insofern statt, als die Flüssig- keit alle Punkte der Tastfläche gleichförmig bedeckt, während der feste Körper nur die Scheitel der Hautleisten berührt, nicht aber die zwischen diesen be- findlichen Hautteilchen. Dieser Unterschied bedingt nun zwar keinen qualitativen Unterschied in der konstanten Spannungserhöhung, in welche zu beiden Malen die Hautteilchen versetzt werden, welche daher überhaupt nicht den Nervenreiz bilden könne, wohl aber einen Unterschied in den durch die Haut bis zu den Nerven fortgepflanzten Oszillationen. Meissner sucht aus der Lage der Tast- körperchen in den Spitzen der Papillen zu beweisen, dafs der Druck einer die Hautfläche gleichförmig bedeckenden Flüssigkeit nur solche Oszillationen zu erzeugen fähig sei, welche die Papille und das Tastkörperchen der Längsachse parallel, senkrecht zur Cutisoberfläche durchsetzen, während der Druck eines festen Körpers, wo die freien Thäler zwischen den Hautleisten ein seitliches Ausweichen gestatten, stets überwiegend Oszillationen von querer Richtung zur Längsachse des Tastkörperchens hervorbringen müsse. Für die Zulässigkeit der Auff"assung, dafs die verschiedene Richtung der Oszillationen die Ui'sache des verschiedenen Erfolges der Druckeinwirkung flüssiger und fester Körper ist, führt Meissner als Beweise die oben besprochenen Versuche an. Die letzte Frage , warum senkrechte Oszillationen der Hautpapillen die Nerven nicht er- regen, wohl aber quere, sucht Meissner aus den anatomischen Verhältnissen zu beantworten, indem er darauf aufmerksam macht, dafs die Nervenenden im Tastkörperchen sämtlich quer, mehr weniger rechtwinkelig gegen die Längs- achse gelagert sind, quere Oszillationen die Nerven also in der Richtung ihrer Längsachse treffen, senkrechte Oszillationen dagegen rechtwinkelig zu dieser 1 H. LOTZE, Medicin. Psvcholooie. Leipzig 1852. p. 198 u. 199. — G. MEISSNER, Ztschr. f. rat. Med. 1859. III. R. Bd. VII. p. 92.' §88. DRUCKSINN. 163 Achse. Das Hauptergebnis, zu welchem Meissner durch seine Deduktion geführt wird, ist also, dafs die Eichtung der durch einen mechanischen Druck erzeugten Bewegungskräfte eine grofse Bedeutung für die Erregung der Hautnerven liesitzt. Dies wird unbedingt zugegeben werden können. Gegen die Ansicht, dal's nicht die dauernde Lageveränderung sondern Oszillationen der Hautmoleküle um die Gleichgewichtslage das Reizmoment abgeben sollen , spricht aber erstens die Zusammensetzung unsrer Cutis aus zum grofsen Teil halbtlüssigen und noch dazu voneinander gesonderten Formelementen, ein Umstand, welcher solchen Oszillationen, wenn überhaupt, doch jedenfalls eine nur äufserst kurze Dauer in Aussicht stellt (Fick'). Zweitens wäre nach der MEis.?XERschen Hypothese zu erwarten, dafs wir eine Belastung unsrer Haut nur in den ersten Augenblicken ihres Bestehens oder Vergehens wahrnehmen könnten, während dieselbe be- kanntlich doch in der Regel einen sehr anhaltenden Eindruck hervorzurufen pflegt. Meissner, welcher die Möglichkeit dieses Einwurfs wohl vorausgesehen hat, hat zwar dagegen geltend gemacht, dafs der Druck eines Gewichts auf unsrer Haut schwerlich dauernd konstant bleiben werde, da schon durch den Puls fortwährend kleine Änderungen desselben bedingt werden müfsten. Aber auch zugegeben, dafs dem so sei, so bleibt immerhin schwer zu begreifen, weshalb diese kleinen Andei'ungen einen annähernd ebenso kräftigen Reiz für die Hautnerven abgeben sollten, wie das erste Auflegen des ganzen Gewichtes. Er hat ferner daran erinnert, dafs wir die Gegenwart drückender Körper, welche mit der Haut in dauernder Berührung bleiben, unter Umständen wirklich nicht empfinden. Legen wir z. B. den Finger mit der Dorsalseite auf den Tisch und auf die Yolarseite des ersteren ein kleines Gewicht, so entsteht eine deutliehe Berührungsempfindang, welche aber sehr schnell vergeht, wenn Gewicht und Finger ganz unbewegt bleiben, und wir ganz unbefangen den Zustand unsers Sensoriums prüfen. Die Thatsache mufs zugegeben werden, allein sie beweist nicht, dafs die Reizursache erloschen war; oder man müfste auch schliefsen können, dafs ein konstanter elektrischer Strom, welcher nur im Augenblicke seines Entstehens oder Vergehens, nicht aber während seines gleichmäfsigen Fliefsens einen motorischen Nerven in Thätigkeit versetzt, im zweitgedachten Falle eigentlich dennoch aufgehört hat zu existieren. Hier wie dort ist es nicht das Verhalten der Reizursache, sondern entweder das Adaptationsvermögen der Nervensubstanz an dieselbe oder auch die Ermüdung der Nervensubstanz, welche den fraglichen Zustand der Reaktionslosigkeit bedingt. Die meclianisclien Einflüs.se, welche unsre Oberhaut treffen, tragen nicht immer den Charakter der Kompression, sondern häufig genug den entgegengesetzten der Traktion, des Zuges. Selbstverständlich können sich die in beiden Fällen entstehenden mechanischen Folgen qualitativ nicht voneinander unterscheiden, in beiden Fällen werden also auch dieselben Nerven »attuno^en erreg-t werden müssen. AVenn wir trotzdem in der Regel zu erkennen vermögen, ob Druck oder Zug auf unsre Hautoberfläche einwirkt, so folgt daraus jedoch nicht, dal's gleiche Reizursachen in gleichen Nervengebieten Empfindungen ungleicher Qualität auszulösen imstande sind — ein solcher Schlufs stände im schneidenden Widerspruch mit allen Erfahrungen der all- gemeinen Nervenphysiologie — , das Mittel, welches uns die psychische Unterscheidung zwischen jenen beiden Applikationsweisen mechanischer Reizungen ermöglicht, haben wir vielmehr darin zu .suchen, dafs bei Einwirkung von Zug- und Druckkräften auf die Haut nicht blofs die ihnen entsprechende Qualität von Empfindungen entsteht, sondern ^ A% FiCK, Lehrh. d. Anat. u. Phvnwl. d. Sinnesorriave. Lahr 1864. p. 33. 164 DRUCKSINN. § 88. nebenher noch nndn» ausgelöst werden, welche sich jenen ersteren in ungleicher Zahl nnd Beschaffenheit zugesellen. Dieser Unterschied in der Empfindungskombination aber ist es, welcher eine in jedem Falle abweichende Afiektion unsers Bewufstseins bedingt. Wird an einem unsrer Körperteile ein Zug ausgeübt, und wollen wir durch unsre Muskeln AViderstand leisten, so verwenden wir eine andre Gruppe derselben dazu, als wenn wir uns bestreben, einer auf die gleichen Körperteile ausgeübten Kompression entgegenzuarbeiten. Die dort und hier vorhandenen Druckempfindungen paaren sich jedesmal also mit andern Muskelgefühlen. Bei einer Kompression, Avelche unsre Haut erführt, nimmt ferner die Intensität der Reizung rings um die Druckstelle sicherlich in einem andren Verhältnis ab, als beim Zug im Umkreis der von ihm betroffenen Stelle. Indem wir vermöge des Raumsinnes die stark und schwach gereizten Punkte voneinander unterscheiden, verbinden sich folglich mit den Druck- empfindungen beim Zug andre Lokalempfindungen als mit den durch die Kompression ausgelösten. Auf dem zuerst oder zuzweit genannten Wege empfängt unser Bewufstsein somit verschiedene Botschaften und hat unter normalen Verhältnissen keine Ursache sie miteinander zu verwechseln. Wie innig- Empfindungen verschiedener Qualität miteinander verschmolzen zu werden pflegen, lehrt die alltägliche Erfahrung. Der Laie glaubt z. B., dafs eine eiserne Kugel eine spezifisch andre Empfindung als eine gleich grofse von Holz oder Gummi mache, weil wir ohne Hilfe des Gesichtssinnes aus der Empfindung, die wir beim Umfassen der Objekte erhalten, das Matei'ial er- kennen. Es ist leicht ersichtlich, auf welche Weise wir diese Kenntnis durch Kombination eines Urteils aus verschiedeneu Empfindungen erhalten. Wir er- kennen auf eine unten zu erörternde Weise mit Hilfe des Raumsinnes der Haut, aus der Vorstellung, welche wir von dem Abstände der verschiedenen empfindenden Punkte haben, die Gröfse der Kugel, erkennen durch den Druck- sinn und das Muskelgefühl die Schwere der Kugel, den Widerstand, welchen sie der Kompression entgegensetzt, erkennen durch den Temperatursinn die gute Wärmeleitung, vermöge welcher die eiserne Kugel der Haut schnell Wärme entzieht, und wissen aus Erfahrung, dafs diese Empfindungen und das relative Ver- hältnis der empfundenen Schwere und Gröfse bei metallischen Körpern zusammen- treffen. Es sind also zahlreiche Unterlagen für ein Urteil, welches sich, ohne dafs wir uns der geistigen Operationen bewufst werden, unmittelbar an die Empfindung anschliefst und daher von uns für Empfindung selbst gehalten wird, vorhanden. Die Intensität der Druckempfindung .steigt und sinkt mit der Intensität der äufsern Einwirkung des Druckes. Immer mufs die letztere aber eine gewis.se Höhe, den von Fechner so- genannten Schwellen wert (s. o. p. 131), überschritten haben, ehe sie in unserni Bewufstsein einen merklichen Eindruck hervorbringen kann. AVie bereits mitgeteilt wurde, variiert der minimale Druckreiz, welcher eben gerade empfunden wird, auf den verschiedenen Körper- gegenden nicht unerheblich; das Grieiche mufs natürlich auch für den Schwellenwert Fechners gelten. Man könnte denselben somit zur Anfertigung einer Sensibilitätsskala 'benutzen, in welcher der- jenige Körperteil, für welchen jener FECHNERsche Wert am kleinsten §88. DEUCKSINN. 165 ausfällt, die oberste Stufe einnehmen und als mit dem feinsten Druck- sinne begabt zu bezeichnen sein würde. Obwohl dieses Klassifikations- priuzip an und für sich nicht unberechtigt wäre, so hat man doch ein andres vorgezogen. Nicht die Fähigkeit, Druckreize als solche überhaupt wahrzunehmen, sondern die Fähigkeit, Grölsenunterschiede zweier Druckreize deutlich zu erkennen, wird allgemein zur Mals- bestimniung des Drucksinnes verwendet. Fechner ^ bezeichnet den Punkt, wo die Merklichkeit eines Reizunterschiedes beginnt, als die U n t e r s c h i e d s s c h w e 1 1 e . Bei der Messung der Feinheit des Druck- sinnes wird es sich demnach um die Feststellung des letztbezeichneten Schwellenwertes handeln. Der Drucksinn ist um so feiner, je geringer die Differenzen zweier Druckgröfsen gemacht werden können, ohne dafs die Differenz der zugehörigen Empfindungen unmerklich wird, mit andern Worten, je geringere Druckdifferenzen wir mit diesem Sinn noch aufzufassen vermögen. Nach diesem Prinzip hat E. H. Weber die Feinheit des Drucksinnes gemessen, die Grenzen derselben und die Bedingungen, an welche sie geknüpft ist, festgestellt."^ Will, man die Feinheit des Drucksiunes prüfen, so kommt es vor allem darauf an, dafs die Druckempfiuduugen isoliert, unver- mischt mit andern Gefühlen, welche uns zur Unterscheidung und Schätzung der nämlichen Reizgröfsen dienen, vor das Urteil treten. Im vorliegenden Falle werden wir also darauf zu achten haben, dafs die gleichzeitige An-wesenheit von Muskelgefühlen ausgeschlossen ist, deren Intensitätsverhältnisse uns einen mindestens ebenso grofsen Malsstab zur Bestimmung der Schwerkraft von Gewichten, d. i. ihrer Druckkraft, liefern, wie diejenigen der eigentlichen Druckempfindung. Denn bekanntlich pflegen wir, um die Schwere eines Körpers zu erfahren, denselben zu heben und sein Gewicht nach dem Grade der uns bewuist Averdenden Muskelau strengung, oder, kürzer ausgedrückt, des Muskelgefühls zu taxieren. Die erforderliche Beseitigung des letzteren gelingt nach Weber, wenn der zu prüfende Körperteil, z. B. die Hand, auf einer festen Unterlage gestützt ruht, während die. Gewichte auf die Tastfläche gelegt werden. Um auf der andren Seite die Leistungen des Muskelgefühls in der Taxation von Ge- wichten isoliert zu prüfen, bindet Weber die Gewichte in ein Tuch und läfst den Beobachter die zusammengeschlagenen Zipfel desselben beim Heben anfassen. Der Druck des Gewichtes auf die Tastfläche ist dabei eliminiert, der Druck, welchen die Hand gegen das Tuch durch Muskelkraft übt, um das Herausgleiten zu hindern, erzeugt allerdings Druckempfindung, allein diese kann uns nicht über die Gröi'se des Gewichtes belehren, da wir sie willkürlich bei demselben Gewicht vergröfsei'n können. Vermöge des Raumsinues unsrer Haut empfinden wir zwei gleichzeitig auf verschiedene Teile derselben ausgeübte Druck- ' Fechkkr, Eleni. cl. P.i>/cliophi/sik. Leipzig ISUO. Bd. I. p. 238. 2 E'. H. WEBER, a. a. O. p. 513. 16(3 DRUCKSINiN. §88. einwirkungen getrennt und vermögen durch abwechselnde Richtung der Aufmerksamkeit auf die eine oder die andre Empfindung bis zu einem gewissen Grade ihre relative Grofse zu erkennen. Es erscheint daher am einfachsten die angedeutete Prüfung der Feinheit des Drucksinnes so auszuführen, dafs man die zu vergleichenden Gewichte gleichzeitig je eines auf je eine Hand legt. AVeber hat indessen gefunden, dafs wir zwei gleichzeitige Erregungen verschiedener Tastflächen weit weniger genau zu vergleichen und gegeneinander ab- zuwägen imstande sind, als zwei nacheinander auf dieselbe Tastfläche wirkende Eindrücke. Die Thatsache ist sehr überraschend, da man a priori das Gegenteil vermuten würde. Es ist merkwürdig, dafs wir eine Tastempfindung, nachdem sie vorüber ist, eine Zeitlang so treu ihrer Qualität wie ihrer Intensität nach im Gedächtnis behalten, dafs wir sie mit einer späteren reellen Empfindung nach dem Ei-- innerungsbild genau vergleichen können, genauer als zwei gleichzeitige reelle Empfindungen, und zwar ist nach Webers Beobachtungen die Zeit, welche zwischen beiden Eindrücken verfliefsen kann, ohne dafs jenes Erinnerungsbild des ersten zu sehr geschwächt und zur Yergleichung untauglich wird, eine nicht unbeträchtliche; sie kann um so gröfser sein, je grölser die Intensitätsdiff'erenz der zu ver- gleichenden Empfindungen ist, so dafs man, wenn die zu vergleichenden Gewichte sich wie 4 : 5 verhalten, selbst bei einem Intervall von 100 Sekunden zwischen dem Auflegen des einen und des andren noch mit Leichtigkeit die Difierenz erkennt und anzugeben imstande ist, ob das zuerst oder zuletzt aufgelegte das schwerere ist. Bei allen diesen Versuchen ist zur Bildung eines richtigen Urteils notwendig, dafs die zu vergleichenden Gewichte die Tastfläche in derselben Aus- breitung drücken, dafs sie dieselbe Temperatur haben, dafs sie nur durch ihre Schwere drücken, nicht beim Auflegen aufgedrückt werden oder auffallen. Als äufserste Grenze der Leistungen des Drucksinnes in der Unterscheidung zweier Empfindungen von verschiedener Intensität gibt Weber au, dafs man zwei Gewichte, welche sich wie 29 : 30 verhalten, wenn sie nacheinander auf dieselbe Tastfläche gelegt werden, noch unterscheidet. Da er zu dem gleichen Zahlen- verhältnis als Unterscheidungsgrenze kam, gleichviel ob er mit Loten oder Unzen als Gewichtseinheiten expernientierte, sprach AVeber als Gesetz aus, dafs nicht eine bestimmte absolute Gewichtsdifiereuz, sondern eine für alle absoluten Gewichtsgröfsen gleichbleibende relative Gewichtsdifferenz als Grenzwert für die Feinheit des Drucksinnes aufzustellen sei, oder, wie es früher (s. o. p. 129) von uns nach E. Hering ausgedrückt wurde, dafs die wirklichen Unter- schiede zweier eben merklich verschieden erscheinender B-eizgröfsen in direktem Verhältni.sse mit letzteren wechseln. Die Interpretation, welche dieses WEBERsche Gesetz durch Fechner erfahren hat, und die Angabe Webers, dafs sein Gesetz auch in den anderweitigen Empfindungsgebieten des Ohres und Auges § 88. DßUCKSINN. 167 eine ausgedehnte Clültigkeit besitze, haben demselben eine funda- mentale Bedeutung verliehen. Es bedurfte der oben erwähnten Kritik Herings, um den bis dahin für unanfechtbar gehaltenen Deduktionen Fechxers ihrend anscheinend sicheren experimentellen Boden zu entziehen und den thatsächlichen , auf dem ÄYege des di- rekten Versuchs erlangten Ergebnissen, welche ältere Beobachter dazu veranlafst hatten sich gegen eine Verallgemeinerung des WEBERschen Prinzips zu erklären, die erforderliche Beachtung zu verschaffen. Was zunächst den Drucksinn anbelangt, so hatte man sich schon sehr bald gefragt, ob AVebers Ermittelungen für die ganze Breite aller in das Bereich jenes Sinnes fallenden Empfindungs- intensitäteii, oder ob sie vielleicht nur innerhalb beschränkter Grenzen als zutreffend zu erachten seien. Mochte sein Gesetz auch für Unzen und Lote gelten, so Avar damit noch nicht bewiesen, dafs wir mit dem Drucksinn auch 29 von 30 Milligramm und 29 von 30 Pfund zu unterscheiden imstande sind. Lotze imd Meissner^ haben in diesem Sinne zuerst Bedenken gegen Webers Gesetz ausgesprochen, und aufserdem lehren Fechxers " eigne Versuche, welche übrigens nicht mit Ausschlufs des Muskelgefühls angestellt worden sind, dafs von einer unbedingten Gültigkeit jenes Gesetzes im Gebiete des Druck- .sinns wohl kaum die Hede sein kann. Endlich haben LoEWiT und Biedermann auf Veranlassung von E. Hering ^ die hier ventilierte Frage in Angriff genommen. Das Ergebnis ihrer sehr umfassenden Untersuchungen war, dafs die Feinheit unsers Drucksinns, gemessen durch das Verhältnis zwischen Haupt- und Zusatzgewicht, mit den Druckgraden stetig variiere, im allgemeinen bis zu einer gewissen absoluten Gröfse der verglichenen Belastungsgewichte wachse, um sich bei weiterer Steij^eruns: derselben wieder rasch zu verringern. Es scheint hiernach, als ob Webers entgegengesetztes Resultat nur durch ein Zusammentreffen von Zufälligkeiten bedingt worden ist, an deren richtiger Würdigung er durch die verhältnismäfsig geringe Zahl seiner Versuche verhindert wurde. Fechvers Mefsverfahren bestand darin, dafs er zwei gegebene Gewichte, von denen das eine um einen bestimmten Bruchteil gröfser als das andre war, nach Webers Methode zu öfteren Malen hintereinander aufhob und die Zahl der Fälle, in welchen er ihren Unterschied richtig durch Muskel- und Haut- gefühl erkannt hatte, notierte. Der Quotient aus der gesamten Beobachtungs- r zahl n in die Zahl der richtig beobachteten Fälle r = — gestattete ihm als- n dann zu beurteilen, ob die Differenz der verglichenen Gewichte einen hohen oder einen geringen Grad von Merklichkeit besäfse. Denn offenbar mufs r einen um so beträchtlicheren, n folglich einen um so kleineren Wert erreichen und der r Quotient — aus beiden mithin um so gröfser ausfallen, je deutlicher dieselbe 1 Lotze, a. a. O. p. 208. — Meissner, Beitr. zur Anat. u. Physiol. der Haut. Leipzig 185?). p. 33. 2 Fechner, Kle/n. iJ. Psiichop/iijsik. Leipzig 1860. Bd. I. p. 182 u. flg. 3 £. Hering, a. a. O. Iö8 DRUCKSINN. § 88. empfunden wird. Nach dieser Methode, welche man die Methode der richtigen und falschen Fälle zu nennen pflegt, hat Fechner mit be- wundernswerter Sorgfalt für Hauptgewichte verschiedener Höhe (P) von 300, 500, 1000, 1500, 2000, 2500 und 3000 g, denen relativ gleiche Zusatzgewichte (D) von 0,04 oder von 0,08 D hinzugefügt wurden, aus tausenden von Einzel- versuchen den Merklichkcitsgrad gleicher relativer Gewichtszuwüchse D eruiert. Es fand sich, dafs (derselbe beim Aufsteigen von 500 g zu 3000 g stetig w^uchs, von 1500 g ab eine Tendenz sich auf gleicher Höhe zu erhalten zeigte, beim Aufsteigen von 300 zu 500g dagegen eine Abnahme erfuhr, während er bei unbeschränkter Gültigkeit des WEBERschen Gesetzes durchaus konstant hätte bleiben müssen. Fechner sucht und findet freilich einen Grund, welcher diese geringe Übereinstimmung der Thatsachen mit den Forderungen des Ge- setzes nicht nur erklärt, sondern sogar als notwendig erscheinen läfst. Er glaubt, dafs das Eigengewicht des hebenden Armes den gehobenen Gewichten überall hinzuzufügen sei, da w^ir faktisch doch mit letzteren gleichzeitig immer auch den ersteren in Bewegung setzen. Hierdurch wHirde sich natürlich das Verhältnis von 0,04 oder von 0,08 P für sämtliche Gewichte in Wirklichkeit verkleinern, für die niedrigen jedoch in höherem Grade als. für die schwereren, und die Zunahme seiner Merklichkeit bei steigender Belastung sich folglich aus seinem eignen absoluten AVachstum begreifen. Abgesehen davon aber, dafs Fechner^ selbst für zw'eifelhaft hält, ob das Eigengewicht des Armes in der- selben Weise in Anschlag zu bringen ist, wie ein äufseres ihm angehängtes Gewicht, so lehren die von Herixg mitgeteilten Versuche Loeavits und Biedermanns, dafs auch bei möglichstem Ausschlufs des Muskelgefühls und des Armgewichts der gleiche variable Gang der Unterschiedsempfindlichkeit für Gewichte statthabe. Loewit und BiEDERM^NN'benutzten bei ihren Experimenten nicht die FECHNERsche Methode der richtigen und falschen Fälle sondern die Methode der eben merklichen Unterschiede, d. h., sie ermittelten für gegebene Gewichtsgröfsen P das kleinste mit Sicherheit an der fühlbaren Gewichtszunahme erkennbare Zusatzgewicht D. Aus dem Quotienten P/D ergab sich sodann direkt der gesuchte ihm umgekehrt proportionale Merklich- keitsgrad. Unter den von ihnen angestellten Versuchsreihen verdient namentlich die zw^eite, in welcher eine kleine Pappscheibe an einem feinen zwischen Daumen und Zeigefinger gefafsten Holzgriff nach Beschwerung mit verschiedenen Gewächten gehoben wurde, besondere Berücksichtigung, weil hier die variierenden Gewichte lediglich mittels der an den Fingerspitzen entstehenden Empfindungen untereinander verglichen wurden, das Muskelgefühl des Armes, obwohl der- selbe ungestützt blieb, also kaum in Betracht kam. Ein Blick auf die bei- gefügte Tabelle, deren erste Kolumne die Hauptgewichte P in Gramm, deren zweite die eben merklichen Zusatzgewichte D ebenfalls in Gramm, dei-en dritte endlich den Quotienten P/D aus beiden erhält, zeigt sofort, dafs sich der letztere bis zu einer gewissen Gröfse des Hauptgewichts verkleinert, um dann wieder zu wachsen, worau^s sich umgekehrt für den Merklichkcitsgrad der Zusatzgewichte ergibt, dafs derselbe mit steigenden Gewächten bis zu einer gewissen Grenze zu-, nachher aber wieder abnimmt. P. D. Q. 10 0,7 Vu 50 1,7 V-io 100 2,4 V42 200 3,6 V56 300 4,6 Ves 400 5,2 Vv7 450 6,5 V'g3 500 25,5 V20 1 Fechxek, .1. a. O., u. In Sachen der Psuchoijlojsik. Leipziir 1877. \^. 190. §88. DRUCKSINN. 169 Wollte man gegen diese Versuche den Einwand erheben, dafs in ihnen aller- dings nicht das Eigengewicht und Muskelgefühl des Armes, wohl aber das Eigengewicht und Muskelgefühl der Hand mit in Eechnung zu bringen sei, so wäre darauf zu erwidern, dafs eine dritte Versuchsreihe Loewits und Bieuer- MAXNs, bei welcher die Gewichte einem FECHXERschen ^ Vorschlage gemäfs auf die passend unterstützte Fingerspitze aus stets gleicher, jedoch nur minimaler Höhe herabfielen, ebenfalls keine Übereinstimmung mit dem WEBEKschen Gesetze ergab. Der Vollständigkeit wegen erwähnen wir an dieser Stelle noch die älteren Versuchsergebnisse Dohrxs '-, welche eine Cailtigkeit des V/EBERschen Gesetzes für sehr niedrige absolute Druckgrade gänzlich in Abrede stellen. Während nach letzterem bei Belastung der Haut mit Unzen und Loten schon Vau des Mehrgewichts unterschieden wird, gehören nach Dohrn bei Belastung mit 1 g an den verschiedenen Stellen des Tastorgans Mehrgewichte von 0,2 — 3,8 g, am Rücken z. B. beinahe eine Vervierfachung der ursprünglichen Reizgröfse dazu, um eine merkliche Steigerung der Empfindung hervorzubringen. Man kann in- dessen mit Fic'k"' bezweifeln, ob die Versuchsmethode Dohrns überhaupt geeignet ist, zuverlässige Resultate zu liefern. Dohrx legt das Hauptgewicht auf die zu prüfende Hautstelle und fügt solange Zusatzgewichte hinzu, bis eine Gewichtszunahme meiklich wird. Es ist klar, dafs bei diesem Verfahren eine Ermüdung des empfindungvermittelnden Nervenapparats durch die kon- tinuierliche Reizung desselben nicht ausbleiben kann, folglich auch die Empfindlichkeit desselben direkt geschädigt wird. Weber, Fechner, und ebenso Herings Schüler verglichen dagegen die zu unterscheidenden Gewichte nacheinander und arbeiteten also mit nahezu intakten Nervenapparaten. Die Feinlieit des I'utersclieidungsvermögens für verschiedene Dnickgröfsen ist niclit gleich groi's au allen Stellen uDsers ausge- breiteten Tastorgaues. Weber hat auch hierüber ausführliche Ver- suchsreihen angestellt, indem er teils von den zwei zu vergleichenden Gewichten das eine auf die eine Stelle, das andre auf die andre Stelle der Haut, teils beide Gewichte nacheinander zuerst an der einen Stelle, dann an der andren Stelle auflegte und verglich. Er fand, dafs an den Stellen der Haut, welche, wie wir unten sehen werden, durch feineren Raumsinn ausgezeichnet sind, vor allen an den Fingern, die Feinheit des Unterscheiduugsvermögens von Druckgraden ebenfalls etwas weiter geht, als an Stellen, deren Eaumsiun weniger fein ist, dafs aber die Unterschiede des Druck- sinnes verschiedener Hautpartien bei weitem nicht so beträchtlich ausfallen, wie die des Eaumsinnes. Eine sehr ausführliche Versuchsreihe über diesen Punkt hat Dohrn an- gestellt, welche im allgemeinen den zuletzt ausgesprochenen Satz vollkommen bestätigt. Obschon die von ihm erhaltenen Zahlen wiegen der oben erwähnten Mangelhaftigkeit seiner Methode absolut keinen Anspruch auf Genauigkeit er- heben dürfen, wird denselben eine relative Bedeutung doch nicht abgesprochen werden können. Er bestimmte das Mehrgewicht, welches er anwenden mufste, um an den verschiedenen Hautstellen die von 1 g erzeugte Druckempfindung eben merklich zu steigern, und fand, dafs dieses Mehrgewicht im mittel aus zahlreichen Versuchen für die dritte Fingerphalanx 0,499 g, für die zweite 0,771, für die erste 0,820, für den Mittelfinger und kleinen Finger im Durch- schnitt etwas mehr als für die übrigen Finger, für den Handrücken 1,156, für 1 Fechner, a. a. O. Bd. I. p. 199. 2 DOHRN, Ztschr. f. rat. Med. 1860. III. R. Bd. X. p. 3o9. 3 Fl'CK, a. a. O. p. 53. 170 DRUCKSIN^. §88. die Hanelvola 1,018, für tlcii Vorderarm 1,990, für den Rücken seitlich vom Brustwirbel 3,8, über dem Öternuni 3,0, für die Nabelgegend 3,5, für die Vorder- fläche der Oberschenkel und die Kniescheibe 1,5, für den Unterschenkel 1,0, für den Fufsrücken 0,5 g u. s. f. betrug. Von der zur Vergleicliung zeitlich getrennter Empfindungen benutzten Fortdauer einer Druckempfindung in der Erinnerung nach. dem Aufhören der ilufsereu Einwirkung ist die Thatsache, dafs jede Empfindung den äufseren Reiz um ein kleines Zeitteilchen überdauert, M'irklich nach dem Aufhören des Druckes fort- besteht, streng zu unterscheiden. Im ersteren Falle dauert nicht der empfindungerweckende Nervenerregungszustand bis zum Eintritt des neuen fort; es erhält sich nur die Vorstellung von dem vergangenen Eindrucke, ohne dafs wir ahaen können, auf welchem Prozefs in unserm Seelenorgan diese Gedächtnisproduktion beruht, in welchem Verhältnis dieser fragliche Prozefs zu dem der reellen Empfindung zu Grunde liegenden Vorgange in den zentralen Endapparaten der betrefi'enden Tastnerven steht. Dafs die Erinnerung an eine Em- pfindung nicht auf AViedererweckung jenes letzteren Vorganges selbst beruht, folgt daraus, dafs wir uns während der Erinnerung des nicht gedrückten Zustandes der entsprechenden Hautstelle bewufst werden. Die reelle Nachempfindung dagegen beruht auf der Fortdauer des Erregungszustandes der Tast nerven, welchen das drückende Gewicht selbst in deren Enden hervorruft. Ob diese Fortdauer der Nervenerregung auf dem Fortbestand äufserer Reiz- ursachen beruht oder darauf, dafs die einmal in Thätigkeit versetzte Nervensubstanz selbst kraft des ihr innewohnenden Trägheitsmoments in dem erregten Zustande auch nach Verschwinden der erregenden Ursache verharrt, mufs unentschieden bleiben. Denn einerseits ist nicht zu bestreiten, dafs die gedrückten Hautteilcheu nach Entfernung des drückenden Körpers wieder in ihre alte Ruhelage zurückkehren und vermöge ihi'er Bewegung einen Reiz auf die zwischen ihnen be- findlichen Nervenendapparate ausüben können; anderseits besitzen wir von andern Sinnesgebieten her, namentlich aus dem des Auges, Erfahrungen genug, welche keinen Zweifel darüber aufkommen lassen, dafs ein einmal vorhandener Erregungszustand der Nervenmaterie auch nach gänzlichem Erlöschen des Reizes mit merklicher Intensität noch fortzubestehen pflegt. Die Dauer der Nachempfindung des Druckes ist sehr klein; ihre Gröfse ist nicht genau bestimmbar. Valentin^ hat eine Versuchs- methode angegeben, dieselbe ungefähr zu bestimmen. Hält man die Finger gegen den mit stumpfen Zähnen in regelmäfsigen Abständen besetzten Rand einer Drehscheibe, so empfindet man bei langsamer Drehung derselben jeden Zahn gesondert, jede Druckempfindung ist durch eine deutliche Pause, welche der Zeit, in welcher der Zwischen - 1 VALENTIN, Arch. f. physlol. Heilkunde. 1852. Bd. XI. ji. 438 u. 587, u. Griiwlrifs d. Pliysiol. d. Menschen. 4. Aufl. Braunschweig 1855. p. 679. §88. DRUCKSINN. 171 räum zwischen zwei Zähnen an der Tastfläche vorübergeht, entspricht, von der folgenden getrennt. Bei mehr und mehr beschleunigter Drehung grenzen die einzelnen Zahneindrücke näher und nähei" aneinander, bis sie endlich ohne Pause einander sich auschliefsen und der Zahnrand dem tastenden Finger völlig glatt erscheint. Es tritt dies Glättegefühl ein, wenn die Zeit zwischen den Ein- drücken zweier sich folgender Zähne so klein geworden ist, dafs sie der Dauer der Nachempfindung gleich ist (nach Valentin unter ^/gao Sek.). Verschiedene Umstände vergröfseru und verkleinern nach Valentins ausführlichen Versuchsreihen diese Dauer. Er fand z. B., dafs dieselbe wächst, wenn die Epidermis der betreffenden Körperstelle in Wasser aufgequollen ist, oder wenn durch Umschnürung des betreftenden Fingers die Spitze infolge der Blutstockung turgesziert; dafs sie abnimmt, wenn ein fester I^rper (dünnes, geöltes Papier) zwischen die Tastfläche und den Rand der Scheibe gebracht wird u. s. w. Hinzuzufügen wäre diesen Angaben, dafs auch die absolute Zeit- dauer der Druckreize und ihr zeitliches Verhältnis zu den Reizpausen einen Einflufs auf die Dauer der Nachempfindung ausübt. Denn wir können mit unsrer Fingerspitze viel mehr als 640 Eindrücke in der Sekunde gesondert unterscheiden, vorausgesetzt dafs die Zeitdauer der Reize kurz und derjenigen der Reizpausen gleich ist. Ein solcher Fall tritt jedesmal ein, wenn man die tönenden Saiten eines Klaviers oder Monochords, besser noch die Saitenstege, jnit dem Finger leise berührt. Die in regelmäfsigen Intervallen wiederkehrenden Schwingungen desselben werden von uns dann nicht blofs durch den Gehörssinn als Ton, sondern auch durch den Grefühlssinn als Vibration, d. h. als eine intermittierende Reizung unsrer Hautnerven wahrgenommen. Da nach v. Wit- tich und Gruenhagen in Versuchen dieser Art noch 1506 — 1552, nicht, wie Funke angibt, höchstens nur 522 Schwingungen in der Sekunde (c) ein deut- liches Vibrationsgfcfühl verursachen, so folgt, dafs die Dauer der Nachempfindung für Druckreize unter den bezeichneten Umständen viel geringer als Vsio Sek. sein mufs, höchstens Viäoe — Vi52-2 beträgt. In Versuchen mit diskontinuierlichen elektrischen Strömen von hinreichender Intensität fand Gruenhagen, dafs sogar 10000 Einzelreize in der Sekunde noch das Gefühl einer intermittierenden Erregung (auf der Zungenspitze) hervorrufen, also gesondert aufgefafst werden.^ Schliefslich noch einige Worte über eine Kategorie von Vor- stellungen, welche sich regelmäfsig an die Druckempfindungen au- schliefsen. Im gewöhnlichen Leben spricht man davon, dafs man die Richtung, in welcher ein Druck oder Zug gegen die Tastfläche ausgeübt wird, empfinde. Die Wahrnehmung der Richtung kann aber nie Inhalt einer Empfindung sein, ebensowenig beim Tast- als beim Gesichts- oder Gehörssinn, ebensowenig als die Objektivität der erregenden Ursache. Über die Art und Weise, wie wir zur Vorstellung der Richtung kommen, verdanken wir ebenfalls AVebers Scharfsinn treffliche Aufklärungen.^ Das Genieingefühl der Muskeln und die durch Erfahrung gewonnene Kenntnis von der Bewegung unsrer Glieder belehrt uns über die Richtung der Kraft, welche eine Druckempfindung erzeugt, wie folgende Thatsachen 'FUNKE, Lehrb. d. Phiixiol. 4. Aufl. 1864. p. 45. — V. WlTTICH u. GRUENHAGEN. PFLUEGERs Arch. 1809. Bil. II. p. 340. — GRUENHAGEN, ebenda. 1872. Bd. VI. p. 175. 2 E.- n. Weber, a. a. O. p. 542. 172 TEMPERATURSINN. §88. beweisen. Zielit uns jemand ungesehen an den Haaren, so erkennen wir die Riclitung des Zuges aus dem Gemeingefühl der Muskeln, welche der Drehung des Kopfes durch den Zug AViderstand leisten, indem wir aus Erfahrung wissen, in welcher Richtung die Mu.skeln den Kopf drehen müssen, um jener BeM^egung Widerstand zu leisten. Hält jemand unsern Kopf fest und verhindert die Verschiebvmg der Haut, so hört das Vermögen, die Richtung des Zuges zu be- stimmen, auf, weil mit der Bewegung des Kopfes und der Haut auch die Gegenanstrengung der Muskeln ausbleibt. Welchen Schatz geistiger Erkenntnis wir dem Drucksinne verdanken, hat Weber treffend bezeichnet: wir verdanken ihm und dem Gemeingefühl der Muskeln den Begriff der Kraft, wir erhalten durch diese Mittel Kenntnis von unsern eignen bewegenden Kräften und den äuAereu Kräften, welche der Bewegung Widerstand leisten. Drücken wir mit einer Hand gegen die andre, so belehrt uns das Gemeingefühl der Muskeln von dem Grade der Anstrenguug, welche wir machen; die Druckempfindung in der gedrückten wie in der drückenden Hand zeigt uns unmittelbar die Wirkung der bewegenden Kraft, der einzige Fall, wo wir Wirkung und Ursache, Druck und Kraft gleichzeitig empfinden und ihren ursächlichen Zusammenhang an uns selbst ei'kennen. Die zweite hier zu beschreibende Gefühlsqualität des Tastsinnes, die Temperatnrempfindung ^, wird durch besondere mit den früher besprochenen „thermischen" Hautpunkten in Verbindung stehende Wärme- und Kältenerven vermittelt und entsteht jedesmal dann, wenn der unsre Haut in gleichmäfsigem Flusse durchsetzende Wärmestrom eine mehr weniger plötzliche sei es Beschleunigung sei es Hemmung erfährt. Der erstere Fall tritt ein, wenn wir der Haut durch Berührung mit einem kälteren Körper Wärme entziehen, der zweite, wenn wir die Wärmebewegung eines höher temperierten Körpers auf sie übertragen und ihre eigne dadurch steigern. Die physikalischen Veränderungen, welche unter den genannten Ver- hältnissen die Hautteilchen erleiden, müssen geeignet sein, die von den letzteren eingehüllten Nervenapparate zu erregen und unmittelbar also die Auslösung einer Temperaturempfindung herbeizuführen. Wird der im Temperatnrgleichgewicht befindlichen und darum auch keine Temperaturempfindung vermittelnden Haut AVärme entzogen, so entwickelt sich in uns das nicht weiter definierbare Gefühl der Kälte, wird ihr Wärmegrad irgendwie erhöht, das Gefühl der Wärme. In der Vorstellung objektivieren wir diese Empfindungen, wie die Druckempfinduugen, und glauben nicht die Temperatur- veränderung unsrer Tastorgane, sondern unmittelbar Kälte und Wärme als Eigenschaften der äufseren Objekte zu empfinden. Nur wo wir uns bestimmt überzeugen, dafs kein äufseres Objekt als 1 Vgl. E. H. Weber, a. a. O. p. 549. — E. Hering, ^yiener St:ber. Math.-iintw. Cl. 1877. n. Abth. Bd. LXXV. p. 101. § 8g. TEMPEEATUESINN. 173 Ursache der Tempei'atiirempfindung vorhanden ist, kommen wir znr Vorstellung des subjektiven AYärme- oder Kältegefühls. Berührt ein Körper unsre Haut, dessen Temperatur der natürlichen Haut- temperatur gleich ist, so entsteht gar keine Temperaturemplinduug, Aveil der Zustand der Haut unverändert bleibt, weder jene positive noch jene negative Bewegung, welche bei der Wärmezufuhr und Wärmeentziehung den Nervenreiz für die positive Wärme- und die negative Kälteempfinduug abgibt, eingeleitet wird. Wir können auch hier die Natur dieses fraglichen Bewegungsvorganges, welcher den inneren Sinnesreiz bildet, nicht bestimmen, dürfen eine Bewegung aber sicher voraussetzen, da die Physik uns lehrt, dais AVärmeerhöhung mit Expansion, Wärmeerniedrigung mit Volumen abnähme der Körper verbunden ist. Aus dem Gesagten geht schon hervor, dafs unser Temperatur- sinn nur in beschränktem Mafse ein Thermometer ist. Er belehrt uns nicht über den absoluten Wärmegrad eines Objektes, sondern zunächst nur darüber, oIj es wärmer oder kälter ist als unser Tastorgan; die von verschiedenen Variablen abhängige Temperatur des Tast- organes bildet den . Nullpunkt unsers subjektiven Thermometers, indem sie gar keine Empfindung erzeugt. Es ist ferner hervor- zuheben, dafs, während die Quecksilbersäule auf bestimmter Höhe bei gleichbleibender Temperatur verharrt, und diese Höhe für uns das Mafs abgibt unser Tastthermometer uns nur die Veränderung der Hauttemperatur, das Steigen und Sinken, nicht aber einen be- stimmten konstanten Temperaturgrad anzeigt. Nur so lange dauert die Empfindung der Kälte, als der Ausgleichungsprozeis zwischen dem kalten äulseren Objekt und der Avärmeren Haut dauert; sobald Ruhe und Temperaturgleichheit auf beiden Seiten eingetreten ist, hört die Empfindung auf. Verweilen wir in kalter Luft, so hält das Kältegefühl an, solange wir darin verweilen; aber nicht weil die Haut einen bestimmten Kältegrad angenommen, den wir empfinden, sondern weil der Ausgleichungsprozeis fortdauert, die fortwährend aufs neue vom Blute der Tastfläche zugeführte Wärme kontinuierlich an das äufsere kalte Medium abgegeben wird. Tauchen wir die Hand in eine kleine Quantität Wasser von -j- 10*^, so empfinden wir Kälte, solange das Wasser der wärmeren Haut Wärme entzieht, die Empfindung wird Null, sobald das Wasser durch diese Entziehung auf gleiche Temperatur mit der Haut gebracht ist. Es ist allerdings zu verschiedenen Malen behauptet worden, dafs auch nach beendigter Ausgleichung der Temperatur zwischen Haut und äufserem Medium eine konstante hohe oder niedrige Hauttemperatur Wärme- oder Kältegefühl veranlasse; indessen ist von niemand nachgewiesen worden, dafs in einem solchen Fall, wenn wir z. B. in heifser Luft anhaltende Wärmeempfindung haben, wirklich in unserm Tastorgan keine Tem- peraturausgleichungsbeweguug stattfindet. Unser Tastthermometer ist in raehrfacher Beziehung unzuverlässig, es entspricht keineswegs 174 TEMPERATURSINN. § 88. derselben Gröfse des objektiven Wärmereizes stets dieselbe Temperatur- empfindimgsintensität. Dieselbe äufsere Temperatur kann nnter ver- schiedenen Umständen das Gefühl gröi'serer oder geringerer Wäi'uie veranlassen, ja bald eine Wärme-, bald eine Kälteempfindung. Zum Teil erklärt sich die erwähnte Eigentümlichkeit unsers Empfindungs- organs daraus, dafs die Intensität der in ihm ablaufenden Erregungs- vorgänge nicht nur von der absoluten Gröfse sondern auch von der Schnelligkeit der objektiven Wärmeschwankung abhängt. Eine Kugel von Eisen und eine von Holz erzeugen bei gleicher Temperatur sehr verschiedene Temperaturempfindung, und zwar erscheint uns die erstere stets beträchtlich kälter als die letztere. Dies kommt aber lediglich daher, weil das Eisen ein guter Wärmeleiter ist und deshalb auch andern Körpern weit schneller Wärme entzieht als ein schlechter Wärmeleiter wie das Holz. Ein zweiter Grund für die Veränderlichkeit der Empfindung liegt in der wechselnden Gröfse der Hauttemperatur selbst, mit jeder Veränderung derselben durch vermehrte oder verminderte Zufuhr von innen oder dauernde be- trächtliche Aufnahme oder Ableitung nach aufsen, wird der Null- punkt unsers Tastthermometers, von welchem aus wir das Plus und Minus als Wärme und Kälte beurteilen, verrückt. Dies beweist sehr schön folgender Versuch von Weber. Taucht man die Hand eine Zeitlang in Wasser von ~\- 10*^ C, und darauf in Wasser von -j- 20*^ C, so erzeugt letzteres anfangs Wärmegefühl, welches aber bald in anhaltendes Kältegefühl übergeht. Das Wasser von -j- 10^ bat die Temperatur der Haut herabgesetzt, so dafs dieselbe von dem Wasser von -\- 20" anfangs Wärme aufnimmt; da aber die Tem- peratur des Blutes -j-- 37" C. beträgt, so tritt sehr bald ein Punkt ein, wo das Wasser von -f- 20" der von innen erwärmten Haut Wärme zu entziehen und mithin Kälteenipfindung zu erzeugen beginnt. Lassen wir nacheinander Temperaturen von verschiedener Höhe auf dieselbe Tastfläche einwirken, so steigt und sinkt die Intensität der Empfindung mit der Temperaturhöhe; allein wie bei den Druck- empfindungen haben wir auch für die Wärme- und Kälteempfindungen keine direkte Skala, an der wir absolute Empfindungsgröfsen ablesen könnten. Eine Wärmeempfindung erscheint uns intensiver oder schwächer als die andre, aber nicht etwa doppelt oder halb so grofs. Nach Webers Versuchen sind wir vermöge des Temperatur- sinnes imstande, sehr geringe Temperaturdiiferenzen aufzufassen, und zwar auch hier am besten, wenn wir die zu vergleichenden Tem- peraturen nacheinander auf dieselbe Tastfläche, anstatt gleichzeitig auf verschiedene einwirken lassen. In letzterem Fall verschmelzen zwei differente Wärmeeindrücke um so leichter zu einem, je näher die beiden Prüfungsstellen der Haut aneinander liegen. Wir prüfen die Feinheit des Temperatursinnes nach denselben Prinzipien, wie die Feinheit des Drucksinnes nach Webers Methode der „eben merklichen Unterschiede" so, dafs wir nacheinander den Finger 3 88. TEMPERATURSINN. 175 z. B. in Wasser von verschiedener Temperatur tauchen und sehen, wie klein wir die TemperaturdifFerenz raachen können, ehe wir aus der Temperaturempfindung das Wärmere nicht mehr vom Kälteren unterscheiden können. Von Wichtigkeit ist dabei, dafs wir den Finger hei der Yergleichung jedesmal gleich tief eintauchea, eine Oberfläche von derselben Gröfse dem Wärmereiz aussetzen, da Weber gefunden hat, dafs die Intensität der Empfindung mit der Gröfse der Tastfläche, auf welcher sie erregt wird, in geringem Grade zu- und abnimmt. Tauchen wir in dasselbe Wasser einen Finger der einen Hand und die 'ganze andre Hand, so ist die Wärme- oder Kälteempfindung an der ganzen Hand inten- siver, als an dem Finger, das Wasser erscheint der Hand wärmer oder kälter als dem Finger. Es scheint hieraus hervorzugehen, dafs die von den verschiedenen Empfindungsfasern vermittelten Temperatur- eindrücke sich in gewissem Grade verstärken, dafs also auch die Zahl der gereizten Fasern in gewissem Grade die Intensität des Reizes bestimmt. Die Feinheit des Unterscheidungsver- mögens für Temperaturdifferenzen ist sehr grofs: Weber fand, dafs die meisten Menschen mit dem Finger Temperaturdiflerenzen von Vä^, unter Umständen aber auch 75 oder Vc*' noch sicher auf- zufassen imstande sind. Spätere Beobachter haben indessen noch weit höhere Grade von Feinheit •des Temperatursinnes gefunden und die Möglichkeit einer weiteren Verfeinerung desselben durch Übung (Alsberg^) konstatiert. Lindemann '-^ konnte, wenn die verglichenen Temperaturen in der Nähe der Blutwärme lagen, noch Differenzen von 0,05" C. deutlich auffassen, Fechner^ fand bei Temperaturen zwischen 10 und 20 '^ R. eine so hohe Empfindlichkeit für Differenzen, dafs sich die Grenze der Feinheit gar nicht bestimmen liefs. Die an diese Beobachtungen sich anschliefsende Frage, in wie weit das WEBERsche Gesetz etwa für den Temperatursinn zur Gel- tung kommt, ob vielleicht in diesem Empfindungsgebiete die wirk- lichen Unterschiede zweier eben merklich verschieden erscheinender Beizgröfsen in direktem Verhältnis mit der absoluten Gröfse der letztern wachsen, bei intensiveren Temperaturempfindungen aber erst gröfsere Differenzen der Wärmezufuhr merklich werden als bei solchen von geringerer Stärke , ist noch nicht spruchreif.*^ Da unserm Tastthermometer ein absoluter Nullpunkt fehlt, von welchem aus die Temperaturdifierenzen gerechnet werden könnten, so wird ein solcher in derjenigen Temperatur angenommen, welche in uns wieder den Eindruck von Kälte noch von Wärme hervorruft. Fechner bestimmt dieselbe auf 14,77 B. und findet unter dieser Voraus- setzung, dafs sich das fragliche Gesetz innerhalb gewisser Grenzen • Alsberg, Unters, ab. d. Raum- u. Temperatursinn bei versdi. Graden d. Blutzvfuhr. Dissert. Marburg 1863. * Lindemann, De sensu caloris. Diss. Halle 1857. •' Fechner, Elem. d. Psychophysik. Bd. I. p. 202. ■• Fechner, In Suchen d. Psychopliiisik. Leipzig 1877. p. 1G3. ^ 176 RAUMSINN. §88. mittlerer Temperaturen bewährt, entschiedea aber nicht bei sehr kalten und sehr heifsen Temperaturen. Abgesehen davon jedoch, dafs Weber selbst keinen erheblichen Einflufs der absoluten Temperaturhöhe auf die Feinheit des Wärmesinns bemerken konnte, ist auch die Zu- lässigkeit des von Fechner gewählten Nullpunktes keineswegs als erwiesen anzusehen. Im Gegenteil ist auf Grund späterer Nach- prüfungen^ eher anzunehmen, dais derselbe viel höher, in der Nähe der menschlichen Bluttemperatur /wischen 27 und 33*^ C, gesucht werden müsse, da gerade innerhalb dieser Temperaturgrade die kleinsten Temperaturdifi'ereuzen wahrgenommen werden, womit die von andrer Seite^ ermittelte Thatsache gut übereinstimint, dafs jede merkliche Veränderung der Normaltemperatur unsrer Haut die Temperaturempfindlichkeit derselben herabsetzt. Schliefslich bleibt noch zu erwähnen, dafs die Feinheit des Wärniesinnes wie diejenige des Drucksinnes, nicht in allen Haut- teilen gleich grofs ist. Die Ursachen der übrigens nicht erheblichen Unterschiede, welche Weber genauer festgestellt hat, sind in mehreren Verhältnissen zu suchen : erstens in den Nerven, und zwar kommt hier ebensowohl die Zahl der in einer Hautpartie von bestimmter Gröfse endigenden Nerven, d. h. der thermischen oder thermoästhetischen Punkte, als auch die Beschaffenheit der unbekannten Ein- richtungen, welche sie zur Aufnahme von Temperatureindrücken fähig machen, in Betracht; zweitens aber ist die Dicke der Epidermis, welche die Nerven- enden von dem äufseren Wärmereiz trennt, von erheblichem Einflufs. Je dünner die Epidermis, desto eher, desto intensiver kann ein Wärmeeindruck von aufsen das Nervenende erreichen und erregen. Taucht man die ganze Hand in kaltes Wasser, so entsteht das Kältegefühl zuerst auf dem Rücken der Hand, weit später erst in der mit dickerer Epidermis überzogenen Hohlhand, erreicht hier aber eine gröfsere Intensität, sei es weil die Zahl der Nerven- enden hier gröfser als am Handrücken ist, sei es weil die Sinnesorgane für die Temperaturempfindung hier ausgebildeter sind. Den feinsten Temperatur- sinn besitzt nach Weber die zarte Hallt des Gesichts und zwar besonders diejenige der Augenlider und Wangen, ferner die Zunge ; Weber fand ferner, dafs alle in der Mittellinie des Gesichts, der Brust, des Bauches und des Rückens befind- lichen Hautpartien einen stumpferen Temi^eratursinn als die seitlich gelegenen besitzen, so z. B. schon die Nasenspitze einen stumpferen als die Nasenflügel. Gewisse Momente erhöhen, andre erniedrigen die Feinheit des Temperatur- sinnes; so beobachtete Alsberg eine Abstumpfung desselben bei künstlich herbeigeführter Hyperämie der Haut, eine Verfeinerung bei Anämie, ohne eine bestimmte Erklärung der Wirksamkeit dieser Umstände geben zu können. Mit jeder Druck- und Temperaturempfindung verbindet sich regelmäfsig eine Ortswahrnehmung. Unter normalen Verhält- nissen wissen wir daher meist mit grofser Genauigkeit die Stelle des Tastorgans anzugeben, welche vom Sinnesreiz betroffen wurde, sind imstande zwei qualitativ und quantitativ gleiche Heize, welche gleichzeitig auf verschiedene Teile der Haut treffen, als räumlich getrennt zu erkennen und uns bei der gleichzeitigen Nothnagel, Deutach. Arch. f. klin. Med. 1866. Bd. H. p. 284. — EüLENBUKG, Ctrbl f. d. mod. Wiss. 188-1. p. 561. - Goi>DSCHEIDER^.Wonaf.s/(«/(e /. prakt. Dermatologie. 1884. Bd. HI. p. 2.36. §88. RAÜMSINX. 17 7 Erregimg einer Menge nebeneinander liegender empfindlichen Punkte eine Vorstellung von der geometrischen Grestalt der gereizten Tastfläche zu verschaflFen. Die AVahrnehmung des Ortes ist unab- hängig von der Qualität des Reizes und der von ihm ausgelösten Empfindung, beruht also nicht auf einer dritten besonderen Em- pfinduugsqualität neben den spezifischen Druck- und Temperatur- empfindungen. Man hat das Vermögen des Tastorgans, die von ihm vermittelten psychischen Eindrücke zu lokalisieren, kurz als Orts- sinn^ bezeichnet, zweckmäfsiger dürfte es jedoch sein statt dessen den Ausdruck Raum sinn durchzuführen. ünsre Aufgabe ist zu untersuchen, auf welche Weise die Wahrnehmung des Orts zu- stande kommt. Es liegt auf der Hand, dafs die lokalen Verhältnisse der Tast- nervenfasern an sich nicht die Oi'tswahrnehmung bedingen können, d. h. dafs eine Nervenfaser nicht dadurch, dafs sie vom Beine oder Ai-me aus zum Zentrum geht, die Empfindung des gedrückten oder erwärmten Beines oder Armes hervorrufen kann, ebensowenig als z. B. ein Draht des elektrischen Telegraphen dadurch, dafs er von einem bestimmten Orte ausgeht, die Herkunft einer Nachricht ver- raten kann. Die Seele kann unter keinen Umständen die Richtung, in welcher eine Xervenerregung ankommt, empfinden, sie empfindet stets nur den Efiekt, den diese Erregung in den zentralen End- apparaten der Siunesuerven erzeugt. Die Möglichkeit, dafs aus ver- schiedenen Richtungen ankommende Erregungszustände in der Seele mit Hilfe anderweitiger Erfahrungen die Vorstellung der ver- schiedenen peripherisciien Ausgangspunkte der Erregung erwecken können, kann nur dadurch gegeben sein, dafs die Efiekte jener Nervenerregung bei verschiedenen Bahnen etwas andre sind, dafs ein gleicher Reiz zwei etwas abweichende Empfindungsvorgänge er- zeugt, wenn er von einem Finger, und wenn er vom Fufse kommt. Diese qualitativen EmpfindungsdifPerenzen auf räumliche Verschieden- heiten der Einwirkung des Reizes zu beziehen, und somit aus der Qualität einer gegebeneu Empfindung den Ort der Reizung zu er- kennen, ist das Resultat eines aus Tastempfindungen, Gesichts- empfindungen und Muskelgefühlen kombinierten Urteils, welches die Seele erst allmählich bilden lernt. Die Frage, wie dieses Urteil ent- steht, worin zunächst die Verschiedenheiten der an verschiedenen Orten erregten Empfindungen, welche die Grrundbedingungen der räumlichen Auslegung der Tastempfindungen sind, bestehen mögen, hat am' ausführlichsten und scharfsinnigsten Lotze beleuchtet. _ Er bezeichnet jene hypothetische eigentümliche Färbung, welche jede Empfindung vermöge desOi'tes ihrer Erregung erhält, mit demNamen des Lokalzeichens; es besteht dasselbe aus einem für jede Stelle der 1 Vgl. E. H. Webek, Annotationes anatoni. et physiol. Leipzig 1834. p. 48 u. 145. — R. W.A.GNERS Edwrtbch., a. a. O. p. 524. — W. WfNTJT, Ztschr. f. rat. Med. lU. R. 1858. Btl. IV. p. 229. 19 GRUENH.iGEX, Physiologie. 7. Aufl. H. ^^ 178 ,RAUMSINN. §88. Tastuervenendigung konstanten Modus eines Nervenerregungsprozesses, welcher neben dem für alle Stellen gleichen Nervenprozefs der Tem- peratur- oder Druckempfiudung eiuherläuft und jeder Empfindung ihren Platz in dem Raumbilde unsrer Körperoberfläche, welches in der Vorstellung sich gebildet hat, anweist. Eine gleichzeitige Er- regung mehrerer sensiblen Punkte der Haut durch gleichen Reiz erregt eine vielfache extensive Empfindung, nicht eine als Summe der einzelnen verschmolzene intensive Empfindung, weil die gleiche Qualität aller einzelnen von verschiedenen Lokalzeichen begleitet und die Seele durch diese veranlafst wird, die Einzelempfindungen anseinanderzuhalteu. Das Venuögen Raumvorstellungen zu bilden wohnt der Seele a priori inne, und sie kann also nicht umhin ihre Empfindungen nach der Kategorie des Raumes auszulegen; jene Lokalzeichen bringen die Seele nur zur Anwendung dieses ihr an- geborenen Vermögens bei den Tastempfindungen. Es fragt sich nur, welche Beschaffenheit die Lokalzeichen haben müssen, damit die Seele nicht allein zwei Empfindungen auseinanderhalten, sondern auch ihre relative Lage im Räume, ihren Abstand wahrnehmen, zur Erkenntnis der geometrischen Verhältnisse mehrerer gleichzeitig gereizter Haut- punkte zueinander gelangen kann. Um diesem Zweck zu genügen, müssen die Lokalzeichen ein geordnetes System untereinander ver- gleichbarer Glieder bilden. Die Hautnerven allein sind nicht im- stande, ihre Erregungszustände bei Tasteindrücken mit Lokalzeichen, welche ein solches System bildeten , zu versehen ; wiederum ist es hier vor allem das Gemeinfühl der Muskeln, weiches dem Tast- sinn helfend zur Seite steht, welches die Seele räumliche Vor- stellungen mit den einfachen Tastempfindungen verknüpfen lehrt. Da- durch dafs unsre Tastorgane beweglich sind, dai's wir eines gegen das andre bewegen können, gelangen wir dazu, uns über die geo- metrische Anordnung unsrer sensiblen Punkte zu orientieren. Be- wegen wir eine Fingerspitze auf der Volarfläche der einen Hand hin und her, so erhält letztere eine Reihe successiv aufeinander folgender Empfindungen, welche, wie jeder an sich selbst erfahren kann, untereinander nicht völlig gleich sind, sondern etwas verschie- dene Färbung haben. Mit jeder bestimmten Bahn des Fingers und dem damit verknüpften Anstrengungsgefühl der bewegenden Muskeln verknüpft sich eine bestimmte unter denselben Verhältnissen wieder- kehrende Empfindungsreihe; auf diese Weise lernen wir die Lage jedes durch ein der Erinnerung eingeprägtes Lokalzeichen charakterisierten sensiblen Punktes der Haut, sein geometrisches Verhältnis zu andern benachbarten und entfernteren Punkten kennen, so dafs in der Vor- stellung die ganze Tastoberfläche der Haut wie eine bunte Mosaik von besonders gefärbten Einzelempfindungen erscheint, nach welchem Modell wir jede Tastempfindung, ohne die Glieder zu bewegen, ohne Mithilfe des Auges sogar, in die Stelle des Raumbildes unsers Körpers versetzen, welcher sie ihrer Lokalfärbung nach angehört. §88. RAUMSINN. 179 Freilich müssen wir hinziifügeu, dafs das Muskelgefühl uu- mittelbar und an sich jene Belehrung nicht gibt. Das Muskelgefühl ist ursprünglich auch nur eine Empfindung, welche wir erst aus- legen lernen müssen; ebensowenig wie die Objektivität eines Tast- reizes Inhalt der Empfindung ist, kann die Bewegung von bestimm- ter Gröfse und Richtung, welche die Muskeln eines Gliedes aus- führen, Inhalt des zum Bewufstsein kommenden Muskelgefühls sein. Wir müssen zuvor durch Beobachtung mit andern Sinnen, und zwar mit Tastsinn und Gesichtssinn gemeinschaftlich, die Bewegung, welche ein Muskelgefühl von bestimmter Qualität veranlalst, kennen lernen, ehe wir imstande sind, jedes Muskelgefühl ohne Hilfe jener Sinne im Moment seiner Entstehung zu deuten, in jedem Moment aus dem Muskelgefühl, auf welches wir die Aufmerksamkeit richten, die Stellung unsrer Tastflächen, ihren gegenseitigen Abstand zu erkennen. Wir haben bisher von sensiblen Punkten im allgemeinen, welche wir bei gleichzeitiger Erregung räumlich getrennt wahrnehmen können, gesprochen, es ist indessen das Vermögen des Tastsinnes, genaue Vorstellungen von dem durch Temperatur- und Druckein- wirkungen gereizten Ort der Haut zu bilden, nicht unbegrenzt. E. H. Weber hat durch eine geistreich ersonnene Versuchsmethode, welche im Prinzip der Messungsmethode der Feinheit des Druek- und Temperatursinnes analog ist, gezeigt, dafs die Feinheit des Baumsinnes eine gewisse, an verschiedenen Stellen der Haut ver- schiedene Grenze hat, d. h. dafs zwei gleichzeitige und gleiche Tasteindrüeke nur bis zu einem gewissen Abstand einander genähert werden dürfen, wenn wir sie gesondert wahrnehmen sollen, während sie bei gröfserer Annäherung nur eine einfache Empfindung erzeugen, dafs z. B. an der Fingerspitze zwei Eindrücke einfach empfunden werden, wenn sie näher als eine Linie aneinander rücken, in der Haut des Oberarmes und Oberschenkels dagegen schon, wenn sie innerhalb einer Distanz von 30'" die Haut treffen. Die WEBERsche Versuchsmetliode und ihre Ergebnisse sind kurz folgende. Berührt man bei einer unbefangenen Person, deren Augen ver- schlossen sind, gleichzeitig mit den beiden abgestumpften Spitzen eines Zirkels die Haut, so wird die Person je nach der berührten Stelle der Haut und der Öffnung des Zirkels bald eine einfache, bald eine doppelte Empfindung er- halten. Weber stellte für alle Teile des Tastorganes fest, wie weit die Zirkel- spitzen einander genähert werden können, ohne dafs beide Eindrücke zu einer einfachen Empfindung verschmelzen, und erhielt auf diese Weise eine Skala der Feinheit des Raumsinnes für die verschiedenen Stellen der Haut. Es ergab sich, dafs den feinsten Raumsinn die Zungenspitze besitzt, von welcher die beiden Zirkelspitzen noch gesondert empfunden werden, wenn ihr gegenseitiger Abstand nur V2 Par. Linie beträgt; der Zungenspitze am nächsten steht die Volarseite der letzten Fingerglieder, auf welcher die Zirkelspitzen noch bei 1'" Abstand doppelte Empfindung hervorrufen, während bei den roten Lippen und der Volar- seite des zweiten Fingergliedes die Grenze der gesonderten Wahrnehmung bei 2'", am dritten Fingerglied und der Nasenspitze bei 3'" liegt u. s. f. In der WEBERschen Tabelle folgen den genannten Teilen die übrigen Teile des Tast- 12* 180 RAUMSINN. § 88. organes in bezug auf die Feinljeit des Raumsinnes in folgender absteigender Ordnung: Zungenriicken 1'" von der Spitze entfernt, der nicht rote Teil der Lipjicn, Metacarpus des Daumens (4'" Grenzabstand der Zirkelspitzen); Plantar- seite des letzten Gliedes der grofsen Zehe, Rückenseite des zweiten Finger- gliedes, Wangen, Augenlider (5'"); harter Gaumen (6'"); Haut auf dem vorderen Teile des Jochbeins, Plantarseite des Mittelfufsknochens der grofsen Zehe, Porsalseite des ersten Fingergliedes (7'"); Rückenseite der caplt. oss. metacarpi (8'"); innere Oberfläche der Lippen (9'"); Haut auf dem hinteren Teile des Jochbeins, unterer Teil der Stirn, Ferse (10'"); behaarter unterer Teil des Hinterhauptes (12'"); Handrücken (14'"); Hals unter dem Kinn, Scheitel (15'"); Kniescheibe (16'"); Kreuzbein, Gesäfs, Unterarm und Unterschenkel, Fufsrücken (18'"); Brustbein (20'"); Mittellinie des Rückens (24—30'"); Mitte des Überarmes und Oberschenkels (30'"). Die letztgenariDteu Hautteile, Rücken, Oberarm und Ober- schenkel, besitzen den stumpfesten Raumsinn, sind deshalb die schlechtesten Tastorgane, wähi-end der feinste Raumsinn den Teilen zukommt, welche durch ihre Lage, Beweglichkeit und ihre Rolle bei anderweitigen Verrichtungen am brauchbarsten und notwendig- sten zu feinen Tastoperationen sind. Vierordt ^ glaubt diese Er- fahrung sogar in Form eines Gesetzes ausdrücken zu dürfen, wonach die Feinheit des Raumsinns in direktem Verhältnis zu der Exkur- sionsweite der Körperteile stünde. Setzt mau die Zirkelspitzen bei gleichbleibender Öffnung nacheinander auf verschiedene Teile der Haut, welche verschiedene Stellungen in obiger Skala einnehmen, so erscheint uns der Abstand der Spitzen um so beträchtlicher, je feiner der Raumsinn der Stelle ist, an welcher sie aufgesetzt werden. Setzt man z. B. die Spitzen mit einem Abstand von '''A" senkrecht übereinander dicht vor dem Ohre auf und bewegt sodann den Zirkel bei unveränderter Öffnung über die Gesichtshaut hin nach den Lippen und über diese hinweg bis zum andren Ohre, so scheint uns der Abstand der Spitzen zu wachsen, je mehr wir uns den Lippen nähern, erscheint am gröfsten, wenn die Spitzen die Mitte der Ober- und Unterlippe berühren, nimmt wieder ab, je mehr wir sie jenseits dem Ohre nähern, in dessen Nähe entweder nur ein einfacher Eindruck, oder die Spitzen scheinbar dicht übereinander empfunden werden. Es scheinen also bei diesem Versuche die Zirkelspitzen nicht zwei parallele Bahnen über die Gesichtshaut hinweg zu beschreiben, wie doch in Wirklichkeit der Fall ist, sondern bis zur Hälfte der Bahn divergierend auseinanderzuweichen, von da an wieder zu konvergieren. Setzt man den Zirkel bei Q'" Spitzenabstand quer auf die Haut des Unterarmes und bewegt ihn nach abwärts über die Hohlhand bis zur Fingerspitze, so scheint derselbe anfangs eine einfache Linie zu beschreiben, welche sich auf der Hand in zwei scheinbar mehr und mehr divergierende Schenkel teilt. 1 Vierordt, PKLUEGERS Archiv. 1869. ßd. n. p. 297; Z.tschr. f. Biolof/ie. 1S70. Bd. VI. p. 53. — R. KOTTENKAMP u. H. ULLRICH, ebenda, p. 37. — PAULUS, ebenda. 1871. Bd. VH. p. 237. — RICKER, ebenda. 1873. Bd. IX. p. 95; 1874. Bd. X. p. 177. — HARTMANN, ebenda. 1875. Bd. XI. p. 79. — Vgl. dagegen KLUG, Arch. f. Physiol. 1877. p. 275. § 88. EAUMSINN. 181 You grofser Wiclitigkeit für die Deutung dieser Thatsachen sind gewisse Beobachtungen von Yolkmann, welche beweisen, dais die kleinste wahrnehmbare Distanz zweier Eindrücke für eine bestimmte Hautstelle nicht allein bei verschiedenen Personen ver- schieden, sondern auch bei einer und derselben Person eine wech- selnde Gröfse ist, dafs insbesondere die Übung diese Distanz in sehr kurzer Zeit sehr beträchtlich verkleinern kann. Schon vor Volkmann hatte Czermak den Satz aufgestellt, dafs Konzentration der Aufmerksamkeit und Übung des Tastsinnes das Wahrnehmungs- vermögen für kleine Distanzen gleichzeitiger Eindrücke schärfen könne, und hatte auf dieses Moment die von ihm konstatierte That- sache, dafs bei Blinden die Grenzabstände der Zirkelspitzen viel kleiner ausfallen als bei Sehenden, zurückgeführt. Die Beobachtungen Volkmaxxs über die Verfeinerung des Eauni- sinnes der Haut durch Übung sind aufserordentlich interessant und über- raschend. VoLKMAXx ermittelte für eine Anzahl verschiedener Hautstellen in bestimmter Eeihenfolge die kleinste Distanz der Zirkelspitzen, bei welcher eben noch ein doppelter Eindruck bei gröfster Aufmerksamkeit wahrnehmbar war, indem er von einem gewissen grofsen Abstand der Spitzen, bei welchem Duplizität des Eindrucks sicher war, ausgehend denselben so lange verkleinerte, bis der Eindruck entschieden einfach war, und dann wieder vorsichtig ver- gröfserte-, bis die Duplizität bei grofser Aufmerksamkeit wieder erkannt, oder wenigstens eben so oft erkannt als verkannt wurde. ^ Nachdem auf diese Weise unmittelbar hintereinander gewisse Abstände für 6 Hautstellen festgestellt wai'en , wurde ohne Pause die Versuchsreihe von vorn angefangen, aber in umgekehrter Ordnung, zuerst für die 6., zuletzt für die 1. Stelle die kleinste Distanz gesucht, dann abermals die ganze Reihe wieder in aufsteigender Ordnung, dann wieder in absteigender und so fort wiederholt. Wurden sodann die für jede einzelne Hautstelle in den verschiedenen Eeihen ermittelten kleinsten Distanzen untereinander verglichen, so ergab sich konstant eine Verkleinerung derselben mit jeder neuen Versuchsreihe. War z. B. in der ersten Eeihe die kleinste Distanz für die Volarseite einer Fingerspitze = 1'" gefunden, so war dieselbe auf der 4. Eeihe auf 0,8'", in der 6. Eeihe auf 0,7'", in der 7. Eeihe auf 0,6"' herabgesunken, hatte sich also bei fortgesetzter Übung innerhalb weniger Stunden auf die Hälfte reduziert. Andre Hautstellen gaben noch viel erheblichere Differenzen; an der Volarseite der Hand w^ar in derselben Versuchsreihe die kleinste w'ahrnehmbare Distanz von 8'" auf 2'" gesunken, der Eaumsinn also um das vierfache verfeinert. Bei verschiedenen Personen war die Gröfse, um welche ceteris jjaribus die kleinste wahrnehmbare Distanz durch Übung abnahm, ebenso verschieden wie bei derselben Person an verschiedenen Stellen des Tastorganes. Analoges ei'gaben Parallelversuche mit dem Eaumsinn des Auges, welcher ebenfalls durch Übung verfeinert wird, aber bei einer Person mehr als bei einer andren, sehr wenig bei solchen Personen, bei denen das Auffassungsvermögen des Auges für kleine Distanzen schon sehr geübt ist. Entsprechend sind es die schon am meisten geübten Personen und Teile des Tastorganes, welche den relativ geringsten Gewinn von einer solchen ein- maligen kontinuierlichen Übungsperiode, wie sie die beschriebenen Versuchs- reihen darstellen, haben. Volkmanx macht die interessante Bemerkung, dafs der Gang der Ül)ungserfolge in allen Sinnesgebieten ein nahezu übereinstimmender sei, graphisch dargestellt in Form einer Kurve erscheine, welche anfangs langsam, dann plötzlich steil von der Abscissenachse (Übungsdauer) sich erhebend, darauf Volkmann, Ber. d. kgl. säclix. Ges. d. ^Y^ss. Math.-pliys. Ol. 1S58. Bd. X. p. .58. 182 RAUMSINN. §88. wieder sehr langsam steigend,_ endlich keine Erhebung oder gar eine Senkung zeigt; mit Worten: bei jeder Übung zeigt sich im Anfange ein langsamer, dann ein rascher, hierauf wieder ein langsamer Fortschritt in der geübten Thätigkeit, endlich Stillstand oder gar Rückschritt. So auch nach Volkm.wx beim Raum- sinn ; die von ihm auf ürund seiner Übungszahlen konstruierten Kurven zeigen die beschriebene Form ; ungeübte Teile des Tastorgans liefern die ganze Kurve, bei geübten Teilen oder geübten Personen fehlt der Anfangsteil der Kurve in geringerer oder gröfserer Ausdehnung, Die durch eine solche ein- malige Übungsperiode gewonnene Verfeinerung des Raumsinnes ist keine blei- bende; jede Pause der NichtÜbung erniedrigt ihrer Dauer ents^irechend die Ordinaten, welche die Feinheit messen. Liegen Monate zwischen solchen Übungen , so ist bei der zweiten die im Anfang erkennbare kleinste Distanz wieder ebenso grofs, als zu Anfang der ersten. Volkmann überzeugte sich übrigens bei seinen Versuchen, dafs ein bestimmter Wert für die unter ge- gebenen Verhältnissen wahrnehmbare kleinste Distanz nicht aufzustellen ist. Nimmt man den Abstand der Zirkelspitzen, welcher ausnahmslos eine Doppel- empfindung erzeugt, so hat man sich für einen zu grofsen Wert entschieden, da auch noch kleinere Abstände, wenn schon häufig verkannt, doch öfters ganz richtig aufgefafst werden, freilich um so seltener, je mehr sie sich von der zuerst bezeichneten Gröfse entfernen. Von der Fingerspitze z. B. können sowohl Distanzen von 0,5'" als auch solche von 0,9'" erkannt und verkannt wei'den. Um dennoch eine bestimmte Zahl als Mafs für die Feinheit der Empfindung angeben zu können, ermittelte Volkmann, welche Distanz bei, einer gröfseren Anzahl von Versuchen ebenso oft richtig als Doj^peleindruck erkannt als verkannt wird, d. h. bei welcher die Zahl der falschen Beobachtungen 50 "/u der Versuchszahl ausmacht, und bezeichnet die so gewonnene Gröfse als die wahrscheinlich erkennbare Distanz. Für bestimmte Hautstellen und be- stimmte kleine Distanzen sinkt die Fehlerzahl mit der Übung beträchtlich. So wurde in einer Versuchsreihe nach Volkmann von der Fingerspitze die Distanz von 0,5'" in der ersten Reihe in 25 Versuchen 24 mal verkannt, in der zweiten Reihe ebenso oft, in der vierten 21 mal, in der fünften nur 5 mal, in der zehnten nur 3 mal. Dieses Beispiel versinnlicht nicht nur den_ Erfolg der Übung überhaupt, sondern auch die vorhin besprochene Form der Übungskurve. Noch ein Resultat von höchstem Interesse heben wir aus Volkmanns Unter- suchungen heraus. Prüft man zu Anfang einer Übungsperiode die Feinheit des Raumsinnes an zwei symmetrischen Hautstellen, z.B. zwei entsprechenden Fingerspitzen beider Hände, findet sie gleich grofs, und führt dann die Übung nur an der einen, z. B. der linken Fingerspitze durch, so ergibt sich, dafs sich in gleicher Weise der Raumsinn der rechten , nichtgeübten Fingerspitze mit verfeinei't hat. So fand Volkmann zu Anfang einer Übungsperiode die kleinste Distanz für die linke Fingerspitze = 0,75'", für die rechte =^0,85'"; setzte er dann ausschliefslich an der linken die Übung so lange fort, bis die Distanz auf 0,45'" gesunken war, so ergab die Prüfung der rechten Fingerspitze diese Distanz ebenfalls auf 0,4'" herabgesetzt. In weit geringerem Grade findet eine solche Mitübung bei andern nicht symmetrischen Hautpartien statt, und zwar nur bei solchen, welche in der Nachbarschaft der geübten liegen, gar keine merkliche bei entfernten. Ein interessantes Analogon für die von Volkmann beobachtete Mitübung symmetrischer Hautpartien bietet die folgende von E. H. Weber mitgeteilte Thatsache. Üben wir die Muskeln des einen Armes oder der einen Hand, so üben sich in gewissem Grade auch die symmetrischen Muskeln der andren Hand mit, ohne in die entsprechende Thätigkeit versetzt woi'den zu sein. So ist die Übung der rechten Handmuskeln, welche die Schreibbewegungen ausführen, den korrespondierenden Muskeln der linken Hand soweit zu gute gekommen, dafs wir imstande sind, während wir mit der rechten Hand schreiben, mit der linken dieselben Buchstaben und Züge, aber in symmetrischer, nicht in kongruenter Lage, d. h. also verkehrt, mitzuschreiben. Während die rechte Hand von links nach rechts schreibt, schreibt die linke von rechts nach links, § 88. RAUMSINN. 183 vermag aber nicht ohne spezielle Übung von links nach rechts in Harmonie mit der rechten Hand zu schreiben. Dagegen soll es nach Fechxer vorkommen, dafs, wenn die linke Hand längere Zeit geübt hat Zahlen aufzuzeichnen, die rechte Hand, wenn auch ihr einmal die Notierung einer Zahl übertragen wird, dieselbe unbewufst verkehrt symmetrisch mit der Zahl der linken aufschreibt. Es hätte also in diesem Falle die Übung der linken Hand auch die unthätige rechte mitbetroffen.* Aufser der Übung kennen wir noch eine Anzahl äufserer zufälliger Momente, welche auf die Feinheit vmsers Raumsinnes von Einflufs sind. Eine Verschärfung desselben erfolgt nach den Beobachtungen Schmeys^, wenn die peripheren Hautnervenenden anderweitig durch Auflegen eines Senf- teiges in Erregung versetzt worden sind, ferner bei Hyperämie der Haut nach Einatmung von Amylnitrit, sowie auch bei mittleren Graden mechanischer Haut- dehnung, eine Herabsetzung dagegen bei Kompression der die geprüfte Haut- partie' versorgenden Nerven stamme und infolge von Muskelermüdung. Die Erklärung dieser interessanten Thatsaclien, der Nachweis der Bedingungen für die verschiedene Feinheit des Raumsinnes, der Momente, welche auf einer gegebenen Hautfläche die Zahl, Gröfse und Form der durch ein und dasselbe „Lokalzeichen" charakterisierten Empfindungsbezirke bestimmen, dei" Natur dieser Lokalzeichen selbst, ist schwierig. Weber hat mit gewohntem Scharfsinn seine Beobachtungen durch eine Theorie erLäutert, welche trotz vielfacher, zum Teil gewichtig erscheinender Einwürfe doch bis heute noch am besten den Thatsachen entspricht. Weber geht von dem unbestreitbaren Vordersatz aus, dafs eine und die- selbe Nervenprimitivfaser unter allen Umständen nur eine einfache Empfindung auf einmal hervorbringen kann, dafs also, wenn sie gleichzeitig an mehreren Punkten ihres Ver- laufes, oder an mehreren Endpunkten ihrer Endäste erregt wird, doch nur eine einfache Empfindung entsteht, deren Intensität allerdings mit der Zahl der erregten Punkte wächst. Jede Haut- provinz, welche nur von einer Nervenröhre versorgt wird, kann daher eine Mehrzahl sie gleichzeitig nebeneinander treffender Tast- eindrücke immer nur als einfachen Eindruck zum Bewufstsein bringen, eine verschieden intensive, aber nicht verschieden extensive, mosaikartig aus getrennten Einzelempfindungen zusammengesetzte Empfindung erzeugen. Weber bezeichnet die von je einer Nerven- faser versorgten Hautabteilungen als Empfindungskreise und betrachtet die gesamte Hautoberfläche als eine Mosaik solcher stehender, anatomisch begründeter Empfindungskreise von verschie- dener Gröfse und Gestalt; je feiner der Raumsinn einer Tastprovinz, desto kleiner, je stumpfer der Baumsinn, desto gröfser die Empfin- dungskreise. Trefi'en zwei gleichzeitige Eindrücke, also zwei gleich- zeitig aufgesetzte Zirkelspitzen, einen und denselben Empfindungs- kreis, so entsteht nur eine einfache Empfindung. Damit zwei Eindrücke räumlich getrennt, als zwei in einem gewissen Abstand voneinander liegende unterschieden werden können, ist nach Weber ' Vgl. O. Funke, 4. Aufl. dieses Lehrbuchs. 1864. Bd. II. p. 64. « SCHMEY, Arch. f. P/iiishl. 1884. p. 309. 184 RAUMSINN. § 88. nicht allein erforderlich, dafs sie auf zwei verschiedene Empfindnngs- kreise treffen, sondern dafs zwischen diesen noch ein oder mehrere Empfindungskreise liegen, auf welche kein Eindruck gemacht wird. Über die Gestalt der Empfindungskreise läfst sich nur da etwas schliei'sen, wo die Richtung der die Zirkelspitzen verbindenden Linie auf die zur doppelten Empfindung nötige Entfernung von' Einflufs ist; so müssen nach Weber an Armen und Beinen die Zirkelspitzen in der Längsrichtung viel weiter geöffnet werden als in der Querrichtung, um doppelt empfunden zu werden, woraus sich für diese Teile eine längliche Gestalt der Empfindungskreise erschliel'sen läfst. Den Umstand, dafs bei gleicher Zirkelöffuuug der Abstand der Spitzen um so gröfser erscheint, je feiner der Raumsinn, je kleiner die Empfindungskreise, je mehr nicht berührte also zwischeu den berührten liegen, erklärt Weber dadurch, dafs wir auf dem Erfahrungswege, der schon oben angedeutet wurde, ein dunkles Bewufstseiu von der Zahl und Lage der Empfindungs- kreise bekommen. Treffen zwei Eindrücke zwei verschiedene Em- pfindungskreise, so werden wir uns der Zahl der dazwischen liegen- den nicht berührten bewufst und taxieren nach dieser Zahl die Entfernung der beiden Eindrücke, ohne auf die Gröfse der Kreise Rücksicht zu nehmen. Die wirkliche Entfernung der Zirkelspitzen von V erscheint uns auf den Wangen, wo vielleicht nur Avenige grofse Empfindungskreise zwischen den berührten liegen, weit geringer, als auf der Zungenspitze, wo eine gröfsere Anzahl viel kleinerer Empfindungskreise zwischen den berührten liegt. Sehen wir bei diesem Versuche die Zirkelspitzen, so fällt das Urteil aus; wir legen sodann der Schätzung der Entfernung den Mafsstab der Gesichtswahrnehmung zu Grunde und korrigieren durch diesen unbewufst das aus der Tastempfindung gebildete Urteil. Das Prinzip der WEBERschen Hypothese ist klar. Er stellt sich vor, dafs die von verschiedenen Oberflächenpunkten unserm psychischen Zentralorgan übermittelten Eindrücke jeder für sich ein räumlich verschiedenes Gebiet desselben in Erregung versetzen. Geraten von solchen Gebieten zwei oder mehrere eng aneinander grenzende gleichzeitig in Thätigkeit, so entsteht eine einheitliche Empfindung, deren elementarer Aufbau unsrer Wahrnehmung gänzlich entzogen bleibt; befinden sich aber zwischen den in Thätig- keit begriffenen Zentralgebieten mehrere oder vielleicht nur ein einziges in Ruhe, so wird diese Unterbrechung von unsrer Seele erkannt und auf das Bestehen zweier räumlich getrennter Reiz- ursachen bezogen. Die Annahme vielfacher direkter zentraler Er- regungsgebiete schliefst jedoch die Forderung nach einer gleichen Zahl zuleitender Nervenfasern mit bestimmten peripheren Verbrei- tungsbezirken in sich, hieraus ergibt sich dann aber ganz natürlich der Gedanke peripherer Empfinduugskreise. Was die thatsächliche Bewährung der letzteren anbelangt, so ist ungeachtet der feinen §88. RAUMSINN. 185 Ausbildung, welclie die histologischen üntersuchungsmethoden er- fahren haben, von einer objektiven Demonstration derselben keine Rede; ihr Wert als Hypothesengrundlage kann jedoch deshalb nicht in Frage gezogen werden, zumal die vielfachen Angriffe, welche geo-en die reelle Existenz fester peripherer Empfindungskreise gerich- tet worden sind \ sämtlich ihr Ziel verfehlt und nur dazu gedient haben, die räumlichen Beziehungen derselben zueinander zwar nach einem andren Plane, als er E. H. Weber vorgeschwebt hat, zu fixieren, der Idee selbst aber einen verschärften Ausdruck zu verschafien. Die beste allen bekannten Erfahrungsthatsachen Rech- nung, tragende Fassung hat die WEBERsche Hypothese durch CzERMAK - erhalten, obwohl er von ihr abzuweichen glaubte, als er den ihr scheinbar widersprechenden Satz aufstellte, dals die merklich grofsen peripheren Empfindungskreise, in deren Bereich zwei räum- lich getrennte gleichzeitige Reize eine einfache Empfindung auslösen, nicht, wie Webers Empfindungskreise, ausschliefslich von einer und derselben Nervenfaser versorgt werden, sondern auch noch Endigungen vieler andrer Kervenfasern enthalten, und dafs die einzelnen Empfindungskreise einander nicht blofs berühi-en, sondern auch vielfach durchschneiden. Eine Reihe linear nebeneinander gelagerter Empfindungskreise würde hiernach dem Bilde der Fig. 87 ent- sprechen. Nehmen wir der gröfseren Einfachheit halber an, dafs immer nur ein einziarer unerregter Empfindungskreis zwischen zwei gleichzeitig erregten eingeschaltet sein müsse, damit eben gerade eine Doppelempfindung in uns entstehen könne, so folgt erstens, dafs wir den beiden gleichzeitigen Druckreizen, also den prüfenden Zirkelspitzen , mindestens eine Distanz [ab] zu erteilen haben, welche den Durchmesser eines Empfindungskreises um etwas übertrifft ; zweitens ergibt sich aber aus der Zeichnung, dafs, wenn die Ab- schnitte, um welche die einzelnen Empfindungskreise einander über- ragen, möglichst klein, vielleicht wenig gröfser als der Durchschnitt der Zirkelspitzen sind, eine Spannweite der letzteren gleich ah stets zur Umfassung eines ganzen Empfindungskreises genügt, mag die Applikationsweise des Zirkels auf der betrefi'enden Hautstelle sein, welche sie wolle. Der psychische Efi'ekt, welchen die Reizung eines CzERMAKschen Empfindungskreises hat, unterscheidet sich von demjenigen, welcher nach Reizung eines WEBERschen entsteht, nur \ ' Vgl. G. Meissner, Beitr. z. Anat. u. Physiül. d. Haut. Leipzig 1853. p. 39 ii. flg. — LOTZE, a. a. O. p. 402. — KOELLIKER, Mikrosk. Anut. 1850. Bd. II. 1. Hälfte, p. 43. 3 CZERMAK. Wiener Stzber. Math.-natw. Ol. 1855. Bd. XVII. p. 577. — MOLESCHOTTs Unters. :. Nuturl. 1S56. Bd. I. p. 183. — FicK, Lehrh. d. Anat. u. Ploisiol. d. Sinnesorgane. Lahr 1864. p. 35 u. flg. 18fc!iop/msik. Bd. I. p. 212 u. 235. — VOLKMAXX, Phi/xiol. Unters, im Gebiete d. Optik. 1. Heft. Leipzi?'l863. — FECHXER, In Suchend. Psijchophijsik. Leipzig 1877. p. 61 u. 174. 190 RAUMSINN. §88. kreise der berührten Hautstelle sind. Berühii ein Körper nur mit zwei Punkten die ruhende Haut, so vermögen wir, wie aus den Zirkelexperimenten hervorgeht, den Abstand derselben zu schätzen, freilich nach einem veränderlichen Mal'sstab, dessen Einheit der Durchmesser eines Empiindungskreises der betreffenden Huutstelle ist. Drückt ein Kör])er die ruhende Haut nicht an allen Punkten gleichmäfsig, sondern an einzelnen Stellen stärker als au andern, so schlielsen wir daraus, dafs die Oberfläche desselben nicht eben ist, sondern Hervorragungen hat, deren Gröfse, deren Abstand wir, wenn auch unvollkommen, erkennen. Die tägliche Erfahrung lehrt, dafs wir, um uns über die genannten Verhältnisse der äufseren Objekte zu unterrichten, in der Regel die absichtliche Bewegung unsrer Tastorgane zu Hilfe nehmen , dafs wir aber auch ohne Bewegung die Muskelgefühle, welche wir bei den verschiedenen Stellungen der Glieder erhalten, zu Schätzungen von Gröfsen und Entfernungen verw^erten. Wir erfahren ohne Hilfe des Gesichts- sinnes die Länge eines Stäbchens, wenn wir entweder die Tastfläche eines Fingers von einem Ende bis zum andren bewegen und die Gröfse der Bewegung an dem Anstrengungsgefühl der bewegenden Muskeln abmessen, oder indem wir die Enden des Stäbchens mit zwei verschiedenen Tastorganen in Verbindung bringen, entweder mit zwei Fingerspitzen derselben Hand, oder das eine Ende mit einem Teil der einen, das andre mit einem Teil der andren Hand. In letzterem Falle beruht die Gröfsenmessung darauf, dafs wir durch längere Erfahrung bei den absichtlichen Bewegungen der Glieder endlich dahin kommen, dafs wir uns in jedem Augenblicke, ohne zu sehen, der Stellung unsrer Glieder, der gegenseitigen Lage und der Entfernung der einzelnen Tastflächen bewufst werden können. Halten wir Daumen und Zeigefinger einer Hand gabelförmig aus- einander, so sind wir bei verschlossenen Augen imstande, die Ent- fernung beider Fingerspitzen voneinander ziemlich genau anzugeben, indem wir uns des Muskelgefühls, welches mit der Bewegung jedes Fingers in die gegebene Lage verbunden ist, oder des Muskelgefühls, welches die Bewegung beider Spitzen bis zur Berührung erzeugen würde, bewufst werden. Die Gestalt eines Körpers, einer Kugel z. B., erfahren wir, indem wir entweder eine Fingerspitze auf ihrer Oberfläche herumbewegen und aus dem Muskelgefühl die Figur der beschriebenen Bewegung erkennen, oder indem wir die Kugel in die Hohlhand nehmen und die Finger um sie herumschlagen, so dafs wir uns die Kugelform in der Vorstellung aus der uns bewufst werdenden Lagerung und dem gegenseitigen Abstand der verschie- denen berührenden Tastflächen konstruieren. Die Beschaffenheit der Oberfläche eines Körpers prüfen wir, indem wir die Tastfläche des Fingers darauf hin- und herbewegen und aus der Beschaffenheit und Reihenfolge der successiven Eindrücke eine Vorstellung von der Rauhheit oder Glätte der untersuchten Fläche erhalten. ^ 89. .GEMEINGEFÜHL. 191 Beiläufig sei hier noch eines interessanten Verhaltens gewisser durch den Raumsinn und das Muskelgefühl gemeinsam vermittelter Vorstellungen ge- dacht. Berühren wir eine Kugel von zwei Seiten mit der Spitze des Daumens und Zeigefingers, so erhält jede der beiden Tastflächen eine gesonderte Em- pfindung, die nicht mit der andren verschmilzt; dennoch erhalten wir, auch ohne zu sehen, die Vorstellung, dafs beide Empfindungen durch dasselbe einfache Objekt, nicht durch zwei Kugeln veranlafst werden. Die Ursache davon liegt nach Weber darin, dafs wir die Ausfüllung des Raumes zwischen beiden Fingern durch einen soliden Körper erkennen, indem wir mit einem Finger ihn an den andren andrücken. Kreuzen wir dagegen Zeigefinger und dritten Finger einer Hand, indem wür mit Gewalt einen über den anderen hinwegbiegen, und be- rühren nun dieselbe Kugel mit den bei noi'maler Lage voneinander abge- wendeten Rändern beider Finger, so glauben wir zwei Kugeln zu fühlen. Diese Urteilstäuschung, von deren Bestehen wir uns selbst durch Zuhilfenahme der Gesichtswahrnehmung schwer zu überzeugen vermögen, beruht darauf, dafs die Raumvorstellung, welche wir allmählich mit der Berührung der beiden abge- wendeteu Fingerräuder verbinden gelernt haben, ihrer natürlichen Lage ent- spricht, nicht aber jener gezwungenen verkehrten. So oft diese beiden Ränder berührt werden, verknüpft sich daher mit der Empfindung die Vorstellung von äufseren Objekten, welche dieselbe räumliche Lagerung gegeneinander haben, wie die Tastflächen in der natürlichen Lage. Die beiden Abschnitte der Kugel, die wir mit den übereinander gebogenen Fingerrändern berühren, scheinen uns daher auch zwei verschiedenen Kugeln anzugehören, weil bei normaler Lage . der Finger eine einzige Kugel unmöglich die entsprechenden Empfindungen an den abgewendeten Rändern hervorbringen kann. DAS GEMEINGEFUHL. § 89. Unter Gemeiügefülil versteht man diejenigen Gefühlsempfiu- dungeu, welche sich dem Bewufstsein als Zustände der sensiblen Organe unsers Körpers selbst darstellen und von der Seele nicht, wie die Empfindungen des Druckes und der Temperatur, unmittelbar auf äufsere Objekte bezogen werden. Man unterscheidet viele Quali- täten des Gemeingefühls, insofern dasselbe verschieden an ver- schiedenen Erregungsorten, aber auch bei verschiedenen Erregungs- arten ausfällt. Schmerz, Hunger, Durst, Ekel, Anstrengungs- (Muskel-)Gefühl, Kitzel, Schauder, Wollust, Gleichge- wichts-, Schwindel-Gefühl sind solche Qualitäten, von denen sich keine ihrem Wesen nach näher definieren läfst. Das Gefühl des Schmerzes kann, wie schon früher erwähnt, in den verschiedenartigsten Teilen unsers Körpers erzeugt werden, entsteht aber vorzugsweise infolge besonders heftiger Reizungen. Die sensiblen Nerven, welche sich in den Schleimhäuten des Intestinaltractus verbreiten, bekunden ihre Gegenwart unter normalen Verhältnissen in der Eegel gar nicht; wirken aber heftige mechanische, thermische oder chemische Reizmittel auf sie ein, oder haben pathologische Zu- stände irgend welcher Art ihre Erregbarkeit so abnorm gesteigert, dafs schwache Reizungen an Effekt erheblich o-ewiunen, so ist die 192 GEMEINGEFÜHL. § 89. psychische Folge ihrer Thiltigkeit jedesmal Schmerz. In gewissen Fällen können freilich auch Reize von geringer Intensität zur Ent- stehung von Schmerzemplinduugen Anlafs geben, jedoch normaler- weise nur dann, Avenn sie eine grol'se Anzahl benachbart gelegener Nervenenden gleichzeitig erregen und die vielen kleinen Einzeleffekte an der Peripherie sich zu einem einzigen grofsen Effekt im Zentral- organe summieren. So ruft Wasser von einer gewissen Temperatur- höhe nur AViirmeempfindungen hervor, wenn wir die Fingerspitze in dasselbe eintauchen, erweckt aber sehr entschiedene Schmerzempfin- dungen, wenn der ganze Finger oder die ganze Hand in dasselbe versenkt wird. Weil das Schmerzgefühl auch durch intensive Er- regungen solcher Teile wachgerufen werden kann, deren schwächere Erregung echte Sinnesempfindungen auslöst, so pflegt man dasselbe seit J. MüELLER in der Regel als eine nur durch ihre hcihere Inten- sität ausgezeichnete Modifikation der letzteren anzusehen. Sehr deut- lich wechselt die Qualität der Empfindungen mit der Stärke des an- gewandten Reizes namentlich in unsrer Oberhaut. Heftiger Druck auf die Nervenausbreitung derselben erzeugt nicht Druckempfindungen, sondern Schmerz, hohe AVärme- oder Kältegrade rufen nicht Temperatur- empfindungen in dei'selben, sondern ebenfalls nur Schmerzempfindungen hervor. Ähnliches wird auch, wiewohl kaum mit Recht, von den Sinnesnerven, welche die AVahrnehmung des Schalles, Lichtes, des Schmeck- und Riechbaren vermitteln, behauptet. Wir haben indessen schon fi'üher darauf hingewiesen, dafs die Nervenfasern, welche Tast- empfindungen auslösen, wahrscheinlich von denjenigen, welche bei ihrer Thätigkeit das Gefühl des Schmerzes verursachen, gesondert verlaufen, beide Gefühle somit qualitativ, nicht blofs quantitativ, ver- schieden sein müssen, und werden bei einer andren Gelegenheit auf diese Frage zurückkommen. Im gewöhnlichen Leben unterscheidet man eine grofse Anzahl verschiedener Qualitäten des Schmerzes. Zum Teil mögen dieselben auf eine Kombination mit Druck- und Temperaturempfinduugen zurück- zuführen sein, welche durch eine gleichzeitige Miterregung der be- treffenden Tastnerven bedingt worden sind, so z. B. der brennende oder der drückende Schmerz, zu einem andren Teile aber auch, wie Weber^ annimmt, auf Verschiedenheit der Intensität, Ausbreitung und der zeitliehen Verhältnisse des Schmerzes beruhen, so der beifsende, stechende, bohrende Schmerz u. s. w. Denn zweifellos wird ein Schmerz von uns qualitativ verschieden gedeutet, wenn er z. B. lang- samer zunimmt als ein andrer, wenn er einmal gleichzeitig, ein andermal successiv die einzelnen sensiblen Punkte einer Fläche er- greift, einmal kontinuierlich, ein andermal unterbrochen ist, u. s. w. Dafs der Schmerz, wie die Tastempfindungen, nach der verschiedenen Stelle seiner peripherischen Erregung verschieden gefärbte Lokal- 1 E. H. Weber, R. Wagneks Hdu-rtb. a. a. O. p. 569. § 89. GEMEINGEFÜHL 193 zeiclien erhält, ist nicht in Abrede zu stellen und folgt aus denselben Gründen, die wir bei dem ßaumsinn geltend gemacht haben. Ohne diese Lokalzeichen würden wir nicht zur Erkenntnis des Ortes des Schmerzes kommen, welche freilich nicht immer richtig und so bestimmt ist, wie bei den Tastempfindungen. Trifft die schmerzerregende Ursache nicht die peripherischen Enden, sondern die Fasern im Verlauf, so verlegen wir, wie schon in der Einleitung erwähnt, den Sitz des Schmerzes an die Stelle, wo die Fasern endigen, nicht an die Aus- gangsstelle der Erregung Der Amputierte empfindet den Druck und andre Einwirkungen auf den Stumpf der durchschnittenen Xerven nicht an der Schnittfläche dieser, sondern scheinbar in den nicht mehr vorhandenen peripherischen A.usbreitungsbezirken des Nerven, bei Amputationen des Armes z. B. in den Fingern, so dafs er das Ge- fühl hat, als sei das amputierte Glied noch vorhanden. Die lästige Ercheinung des Gesichtsschmerzes, bei welchem der Schmerz in der Haut der Wange empfunden Mard, beruht in der Mehrzahl der Fälle nicht auf schmerzerregenden Einwirkungen auf die Enden des n. in- fmorhitalis, sondern auf solchen, welche den Stamm dieses Nerven innerhalb des Infraorbitalkanals oder gar der Schädelhöhle affizieren. Diese Thatsachen erscheinen weniger auffallend, wenn man bedenkt, dafs von einer unmittelbaren Ortsempfindung niemals die Rede ist; die Empfindung entsteht auch bei unverstümmeltem Nerven und normaler Erregung desselben am peripherischen Ende nicht an diesem, sondern im zentralen Ende der Primitivfaser, und die Seele bezieht durch eine besondere Thätigkeit diese Empfindung auf einen Ort, dessen Lage sie, wie auseinandergesetzt wurde, aus einem bestimmten Lokalzeichen, welches jenen Erregungsprozefs begleitet, erkennt. Um nun erklären zu können, wie der Ort der Empfindung bei einem bestimmten Nerven, mag derselbe an irgend einer Stelle des Ver- laufes erregt worden und selbst sein peripherisches Ende nicht mehr vorhanden sein, von der Seele doch konstant an das peripherische Ende verlegt wird, können wir die Entstehung jenes Lokalzeichens, welches der Seele als Anhaltspunkt der Ortsbestimmung dient, nicht am peripherischen Ende des Nerven, nicht in der Haut, sondern müssen es mit gröfster Wahrscheinlichkeit im zentralen Ende suchen. Die räumliche Anordnung dieser zentralen Enden kann an sich nicht die Ursache der Ortsempfindung sein. Die Seele ist nicht ein Spiegel, in welchem sich die räumlichen Verhältnisse dieser verschiedenen Empfindungspunkte abspiegeln und somit direkt wahrgenommen werden könnten, sondern, da keine Empfindung an sich etwas Extensives hat, mufs die Seele das Extensive erst aus gewissen Qualitäten der inten- siven Empfindung erkennen. Sie kann, wie Lotze sagt, die räum- lichen Verhältnisse nicht direkt auffassen, sie mufs sie erst aus un- räumlichen Empfindungen konstruieren. Worin aber jene Merkmale, die an die intensiven Empfindungsvorgänge in den verschiedenen Endpunkten der Fasern geknüpft sind, aus denen die Seele die ex- GruenhAGEN, Physiologie. 7. Aufl. II. - 13 194 GEMEINGEFÜHL. §89. tensive Vorstellung schöpft, bestehen, können wir hier ebensowenig, als oben bei der Lehre vom Raumsinn entscheiden. Schmerz wird in der Haut erregt durch Wärme, Kälte, Druck, Elektrizität, chemische Agenzien, welche durch die Oberhaut bis zu den Nervenenden dringen. Was zunächst die Wärme und Kälte als Schmerzerreger betrifft, so mufs die Erhöhung und die Erniedrigung der Hauttemperatur einen bestimmten Grad erreichen, damit statt der Tastempfindung Schmerz entsteht. Ist Schmerz eingetreten, so ist das Vermögen der betreffenden Hautstelle, Wärme und Kälte als solche zu empfinden, für einige Zeit aufgehoben. Taucht man nach Weber eine Hand in heifses Wasser, bis Schmerz entsteht, zieht sie dann heraus und berührt einen kalten Körper, so empfindet man die Kälte nicht, erst allmählich stellt sich das Vermögen der Kälte- empfindung wieder her. Webet, betrachtet den Verlust des Vermögens, Kälte und Wärme zu empfinden, als Folge der durch die hohen Wärme- und Kältegrade bedingten Schwächung oder zeitweiligen Aufhebung des Leitungsvermögens der Nerven, und schliefst weiter, dafs, um Schmerz zu erregen, die Temperaturerhöhung oder -erniedrigung der Haut so beträchtlich sein müsse, dafs sie das Leitungs- vermögen der Nerven beschränkt oder aufhebt. Hierzu ist nach Weber eine Wärme von mindestens 39" R. und eine Kälte von 9 — 10'^ R. erforderlich; diese Temperaturen sind imstande, Gemeingefühle und Schmerz hervorzurufen, wenn sie hinreichend lange und auf eine hinreichend grofse Tastfläche wirken. Die Wärme erregt schneller und stärkeren Schmerz als ein entsprechender Kälte- grad; d. h. Einwirkung einer Temperatur, welche 20'^ höher als die des Blutes ist, ist intensiver schmerzerregend als die einer Temperatur, welche 20" nie- driger als die des Blutes ist. Die Intensität des Schmerzes steigt mit Erhöhung respektive Erniedrigung der Temperatur über und unter die genannten Grenzen ; es tritt aber auch der Schmerz um so zeitiger ein, je gröfser die auf die Haut wirkende Wärme oder Kälte ist. Taucht man die Hand in Wasser von + 40" R., so empfindet man zunächst Wärme, erst nach geraumer Zeit entstehen Gemein- gefühle, welche sich zu einem Schmerz steigern, der uns die Hand aus dem Wasser zu ziehen nötigt; tauchen wir dagegen die Hand in Wasser von 50", so tritt dieser Grad des Schmerzes nach wenigen Sekunden ein, in Wasser von 70" und darüber fast gleichzeitig mit dem Eintauchen. Weber hat eine Reihe ge- nauer Versuche hierüber angestellt, indem er bestimmte, wie viel Sekunden ein Finger in heifsem Wasser von verschieden hohen aber genau gemessenen Tem- peraturgraden verweilen konnte, bis der immermehr sich steigernde Schmerz das Herausziehen desselben erzwang. Es scheint ein Maximum des Schmerzes zu geben, welches durch gewisse Hitze- und Kältegrade herbeigeführt wird, über welches der Schmerz durch weitere Vermehrung der Hitze und Kälte nicht ge- steigert werden kann; die Grade, bei welchen dieses Maximum ein- tritt, sind aus begreiflichen Gründen nicht genau bestimmt. Intensität und Eintrittszeit des Schmerzes hängen übrigens nicht ausschliefslich von der Temperatur des äufseren mit der Haut in Berührung ge- brachten Körpers ab ; vor allem übt die Gröfse der berührten Haut- fläche einen beträchtlichen Einflufs aus. Je gröfser dieselbe ist, desto leichter entsteht der Schmerz, desto intensiver ist derselbe. Ein §89. GEMEINGEFÜHL. 195 Finger, in Wasser von 39*^5,. getaucht, empfand bei Webers Ver- suchen keinen Schmerz, auch wenn er noch so lange darin ver- weilte; wurde dagegen die ganze Hand eingetaucht, so entstand sehr bald Schmerz. Von vornherein und aus der täglichen Erfahrung ist ersichtlich, dafs die Beschaffenheit der Oberhaut, durch welche die schmerzerregende Hitze oder Kälte zum Nerven vordringen mufs, insbesondere für die Eintrittszeit des Schmerzes nicht gleichgültig ist. Zarte Epidermis leitet die Wärme viel schneller in nötiger Menge zu den Nervenenden als dicke, schwielige Epidermis. Weber er- klärt aus dieser Verschiedenheit der Oberhaut den Umstand, dal's die Finger der linken Hand, in warmes AVasser getaucht, etM^as früher Schmerz empfanden als die der rechten Hand in demselben Wasser, noch weit früher die Zungenspitze. Aufserdem kann aber auch das wechselnde Verhalten verschiedener Hautpartien gegen schmerzverursachende Temperatureinflüsse durch Schwankungen des Nervenreichtums oder vielleicht der Erregbarkeit der Nervenenden bedingt sein. Endlich ist noch hervorzuheben, dafs der Schmerz, wenn er durch mäfsige Hitze oder Kälte erzeugt worden ist, mit der Fort- dauer der Einwirkung ein gewisses Maximum erreicht, dann aber wieder abnimmt. Während sich die einfache Steigerung wohl am einfachsten aus der allmählichen Erhöhung oder Ei-niedrigung der Hauttemperatur erklärt, beruht die Abnahme auf der Abstumpfung der Empfindlichkeit der Nerven, ist also zu denErmüdungserscheinungen zu rechnen. Die Abnahme der Empfindlichkeit zeigt sich nach Weber auch darin, dafs eine Hautfiäche, wenn sie vorher sehr be- trächtlicher Hitze ausgesetzt war, für die Schmerzerregung durch geringere Hitze unempfindlicher wird. Was die Elektrizität als Schmerzerreger betrifft, so erregt nicht nur die Dichtigkeitsschwankung des elektrischen Stromes, sondern auch der konstante galvanische Strom Gemeingefühle. Dieses Ver- halten der sensiblen Nerven findet seine vollständige Analogie in demjenigen der motorischen (s. o. Bd. I p. 579). Weitere Ver- gleiche aber zwischen der Intensität der beiderseitigen E-eizeffekte, des Schmerzes und der Muskelkontraktion, anzustellen ist entschieden unzuläfsig. Denn offenbar kann der Erregungsprozefs bei derselben Dichte des erregenden Stromes im sensiblen und im motorischen Nerven gleich grofs sein und dabei doch in den sensiblen Zentral- organen eine unter Umständen mäfsig starke Empfindung, in den Muskeln dao-esren dasMaximum der Kontraktion erzielen. DasNämliche gilt selbstverständlich auch für andre Reizmittel als elektrische. Mit der Gröfse der Schwankung des elektrischen Stromes wächst nicht allein die Intensität, sondern auch die Ausbreitung des Schmerzes; während der Schmerz nur in den Fingern empfunden wird, wenn man mit denselben eine Säule von wenigen Plattenpaaren schliefst, breitet er sich über den ganzen Arm aus und wird 13* 196 CtEMEINGEFÜHL. § 89. besonders in den Gelenken heftig empfunden, wenn man die Zahl der Plattenpaare vermehrt. Über die Schmerzerregung durch mechanische Einflüsse ist wenig zu sagen. Welche Grade von Druck auf die Haut erforderlich sind, damit die Druckempfiindung dem Schmerze weiche, wie sich die Intensität des Schmerzes zur Gröfse der gedrückten OberÜäche verhält u. s. av., ist noch nicht durch Versuche ausgemittelt. Ist die Oberhaut zerstört, oder liegt die drückende Ursache innerhalb der Haut, wie z. B. bei entzündlichen Exsudationen in die Cutis, so erregen geringere absolute Druckgrade weit heftigeren Schmerz. Anhaltender mäfsiger Druck auf den Stamm eines Hautnerven bringt oft vorübergehende Lähmung der motorischen und sensiblen Fasern sowie eigentümliche in dem peripherischen Ausbreitungsbezirk der Nerven empfundene Gefühle hervor; dieser Zvistand ist als ..Ein- geschlafensein der Glieder'" bekannt. Für die Gemeingefühle des Hungers, Durstes, Ekels sind uns weder die Nerven, deren Erregung sie hervorbringt, noch die erregenden Ursachen hinlänglich genau bekannt. Das Gefühl des Ekels und der Übelkeit verbindet sich mit andern Sinnesempfiu düngen, mit Geruchs- und Geschmacksempfindungen, aber auch mit Tastempfin- dungen, z. B. bei Heizung der Nerven des weichen Gaumens; es entsteht ferner als Vorläufer des Erbrechens bei gewissen abnormen Vorgängen im Magen; welche Teile des Nervensystems von diesen verschiedenen Angriffspunkten aus erregt die Ekelempfinduug erzeugen, ist nicht mit Bestimmtheit anzugeben. Durst und Hungergefühl scheinen durch gewisse Veränderungen des Blutes, vielleicht direkt in den Zentralorganen des Nervensystems erregt zu werden, der Durst, wenn das Blut durch mangelnde Aufnahme oder über- mäisige Ausfuhr von Wasser durch die Sekretionsorgaue wasserärmer geworden. Man verlegt meistens den Sitz des Durstes und die Nerven, deren Errearunsr ihn ei'zeuo'en soll, ausschliei'slich in den Gaumen, weil mit dem Durst oder als Dui-st die Empfindung der Trockenheit an diesem Teile sich einzustellen pflegt. Das Gefühl der Trockenheit im Gaumen beruht auf einer Erregung der Tast- nerven dieses Teiles, welche eintritt, wenn lokal der Luftstrom beim Sprechen, Singen der Schleimhaut zuviel Wasser entzogen hat, aber auch, wenn das Blut des ganzen Körpers eine gröfsere Konzen- tration erlangt hat. Warum bei letzterer allgemeiner Ursache die Empfindung so lokal und gerade auf diesen Teil beschränkt ist, während doch nicht nur die Nerven der gesamten Darmkanal- schleimhaut, sondern überhaupt aller mit sensitiven Nerven ver- sehenen Organe mit demselben wasserarmen Blute in demselben Verkehr stehen, ist nicht anzugeben, ebensowenig als die Art und Weise, wie ein wasserärmeres Blut überhaupt zum Nervenerreger wird. Der Durst kann bekanntlich durch lokale Mittel, durch An- feuchtuug des weichen Gaumens mit Zitronen- oder Essigsäui-e z. B., §89. GEMEINGEFÜHL. 19^ gestillt werden, ohne dafs dem Gesamtblute die fehlende AVasser- menge zugeführt wird; es scheint daraus hervorzugehen, dafs die nächste Ursache der Durstempfindung mangelnder Wassergehalt des die Gaumennerveneuden umgebenden Schleimhautparenchyms ist. Zu dem gleichen Schlüsse drängen auch pathologische Erfahrungen an Patienten mit künstlich angelegter Magenfistel, bei welchen die Einführung von Speisen in den geöffneten Magen wohl das Hungergefühl, die Einführung von Flüssigkeiten aber nicht das Durstgefühl zu beseitigen vermochte. Letzteres wich erst dann, wenn der Kranke die durstlöschenden Getränke in seine Mund- höhle eingebracht hatte. ' Noch weniger wissen wir von den Verhältnissen des Gemein- gefühles, welches als Hunger bezeichnet wird und sich bekanntlich sogar zu einer schmerzhaften Empfindung steigern kann. Die nächste Ursache ist der Mangel an Nahrungszufuhr, in welcher Weise in- dessen dieser Mangel Nerven erregt und welche Nerven, ist nicht bestimmt zu beantworten. Die Verlegung des Sitzes des Huugers in den Magen beruht weniger auf einer bestimmt lokalisierten Em- pfindung, als auf einer Interpretation derselben aus den bekannten Ursachen und Heilmitteln. Die einzige Thatsache, aus welcher nif^n mit einigem Eechte folgern könnte, dafs dem Hungergefühle eine Erregung sensibler Magennerven zu Grunde liegt, ist ihrer Bedeutung nach höchst dunkel. Denn gesetzt, es wäre richtig, dafs der Hunger, wenigstens zeitweilig, auch durch Einführung solcher fester Subtanzen in den Magen gestillt werden kann, welche überhaujjt unver- daulich und unresorbierbar sind oder doch im Magen trotz längeren Verweilens daselbst nicht verdaut werden, so bliebe dieses Verhalten zu erklären. Die Frage, wie die Anwesenheit indifferenter Fremdkörper im Magen, von welchen anzunehmen ist, dafs sie die Bedeutung mechanischer Reizmittel besitzen, zur Beruhigung .der in Thätigkeit begriti'enen, das Hungergefühl wachrufenden Magennerven beitragen soll, ist aber ebenso mifslich zu beantworten, wie die, in welcher Weise die Leerheit des Magens einen reizenden Einflufs auf die ruhenden Nerven auszuüben vermag. Es scheint jedoch, als ob die Thatsache selbst, deren Deutung solche Schwierigkeiten bereitet, keineswegs zweifellos feststeht. Busch gibt wenigstens für den von ihm geschilderten Krankheitsfall^ an, dafs die Kranke, deren Ernährung von einer sehr hoch gelegenen Darmfistel aus vorgenommen werden mufste, bei Anfüllung des Magens allerdings gewisser lästiger Sensationen in der Gegend des Magens, nicht aber des eigentlichen Hungergefühls ledig wurde. Dieses schwand erst, nachdem eine ausreichende Absorption von Nahrungsstoffen von selten der Darmschleimhaut erfolgt war. Man hat auch den Hunger als durch die Kontraktion der Magenmuskeln erzeugt betrachtet und daher den Gemeingefühlen der Muskeln zugerechnet; es ist dies jedoch eine sehr unwahrscheinliche Hypothese. Von dem Gemeingefühl der Muskeln, dem wichtigsten Unterstützungsmittel des Tastssinnes, ist bei diesem schon vielfach die Rede gew-esen; wir haben die Leistungen dieses Gefühles kennen gelernt und werden denselben noch oft bei andern Sinnen, insbe- sondere dem Gesichtssinn, begegnen, hier daher nur weniges über sein Wesen. Vgl. Bd. I. dieses Lehrb. p. 214. 198 GEMEINGEFÜHL. § 89, Der scheinbare Sitz der Emptiiidungeu, welche mit jeder Kon- traktion unsrer Muskeln Aerknüpft sind, aus deren Intensitätsgraden wir Schlüsse zu ziehen gewohnt sind bald auf Formen, Gröl'se und Gewicht der Tastobjekte, bald auf Richtung des unsre Tastorgane beeinflussenden Druckes und Zuges, ist der bewegte Muskel oder auch seine nächste Umgebung. Strengen wir unsere Muskeln sehr heftig an oder nehmen wir dieselben in relativ kurzen Zeiträumen allzu- häufig in Anspruch, so entwickelt sich an dem gleichen scheinbaren Orte das Gefühl des Muskelschmerzes, dessen gelindere Formen als Müdigkeitsgefühl bezeichnet werden, dessen heftigere in den schmerzhaften Empfindungen des sogenannten AVadenkrampfes den bekanntesten Ausdruck finden. Welche Nerven es sind, deren Erregung die hier aufgezählten Arten der Muskelgefühle bedingt, ist durch den Versuch bisher nicht zu entscheiden gewesen. Es gibt aber dreierlei Arten sensibler Nervenfasern, welche hierbei von Bedeutung sein könnten, diejenigen, welche mit den motorischen Fasern zusammen sich zwischen die Muskelprimitivbündel begeben ^ und dort an letzteren selbst mit pinsel- oder doldenförmiger Zersplitterung des Achsencyliuders zu enden scheinen^, ferner alle jene sensiblen Nervenfasern, welche in die Muskelsehnen eindringen, um hier mit Endapparateu sich zu verbinden, welche von den verschiedenen Beobachtern nicKt ganz übereinstimmend unter dem Namen der Endschollen ^, Endkolben "^i GoLGischen Körper^ beschrieben worden sind, und endlich diejenigen^, welche sich in der Nachbarschaft der muskulären Insertionspunkte zu den daselbst häufig vorkommenden PACiNischen Körperchen (s. o. p. 148) des Periosts, der Gelenkhäute u. s. w. hin begeben. Es ist die Ansicht aufgestellt worden, dafs der Muskelsinn niclit auf wahrgenommenen Erregungen sensibler Nervenfasern beruhe, sondern darauf, dafs der Willensimpuls, welcher durch motorische Fasern einen Muskel in eine Kontraktion von bestimmter Gröfse versetzt, empfunden werde und die Vorstellung von der Art und Gröfse der Muskelanstrengung veranlasse. Nach dem, was wir jetzt übei- die Organe des Willens und der Empfindung wissen, Avürde diese Ansicht so auszusprechen sein, dafs vielleicht in der AVurzelzelle einer motorischen Faser im Gehirn oder Eückenmark derselbe unbekannte Prozels, welcher durch einen Ausläufer eine motorische Faser in Erregung versetzt, durch einen andren einer sensiblen Ganglienzelle sich mitteile und hier den der Empfindung zu Grunde liegenden Prozefs in entsprechender Intensität erwecke. Diese Ansicht, welche von vornherein nicht unwahrscheinlich ist, hat LoTZE^ bereits durch den Hinweis widerlegt, dafs, wenn eine unsrer Glied- mafsen infolge anhaltender Kompression ihrer Nerven und Blutgefäfse gefühl- und bewegungslos geworden ist, sich also im Zustande des sogenannten Ein- geschlafenseins befindet, zwar unsere Willensthätigkeit nach wie vor angestrengt ' Sachs, Ardi. f. Anut. u. Physiol. 1874. p. 57. - Vgl. dieses Lehrb. Bd. \1. p. 13. 3 ROLLETT, Wiener Stzher. Math.-natw. Cl. 1876. III. Abth. Bd. LXXIII. p. 3-1. ■> SACHS, Arch. f. Anut. u. Physiol. 1875. p. 402. — GOLGI, Rendiconli del reale Istit. Lomhurdo. 1878. Fase. IX. p. 445. '" GOLÜI, a. a. O. — MARCHI, Arch. f. Ophthalmol. 1882. Bd. XXVIII. 1. p. 203. ^ RAUBER, Unters, üh. d. Vorkommen u. d. Bedeutung d. Vafer'schen Körper. München 1876. p. 40 u. ffr.; Beitr. z. Biologie, als Festgabe f. BiSCHOFF. 1882. p. 43. ' LOTZE, Med. Pschychologie. Leipzig 1852. p. 310. § 90. GESCHMACKSSINN. 199 werden kann die zeitlich gelähmte Extremität in Bewegung zu versetzen, das Gefühl der Muskelbewegung hierbei aber fehlt und erst mit dem Wiedererwachen der physiologischen Lebensaktionen an der Peripherie zurückkehrt. Ludwig^, welcher ebenfalls den zentralen Ursprung des Muskelgefühls bekämpft, fühi't namentlich dagegen an, dafs isolierte Erregung rein motorischer Fasern (vordere Nervenwurzeln des Rückenmarks), obwohl sich der durch sie bedingte Thätig- keitszustand nach dem Gesetz des doppelsinnigen Leitungsvermögens zu den zentralen Enden dieser Fasern fortpflanzen mufs, doch, soviel wir wissen, keinerlei Empfindung erregt. Indessen besagt dieser Einwand viel weniger als der von Lotze erhobene, da der von Ludwig angezogene Versuch am Menschen nicht anzustellen ist und bei Tieren immer nur das Fehlen von Schmerz- empfinduugen ergibt, jedoch keinen Aufschlufs darüber erteilt, ob nicht Ge- fühle andrer Art entstehen. Dafs der Muskelschmerz durch Erregung peripherer sensibler Nervenfasern bedingt sein mufs, geht besonders aus dem Umstände hervor, dafs dieser Schmerz die Kontraktion, also die Erregung der motorischen Nerven, lange Zeit überdauert. Kitzel uiid Scliauder sind eigentümliche Gemeingefühle, welche an gewissen Stellen der Hant durch leise Berührnng hervor- gebracht werden, ohne dals sich nachweisen läfst, wodurch diese Stellen zu diesen Empfindungen, die im Vergleich mit der Gering- fügigkeit des Reizes aufserordentlich intensiv erscheinen, befähigt sind. Das Gefühl des Schauders beschränkt sich nicht auf die gereizte Stelle, sondern verbreitet sich, allmählich fortschreitend, über grofse Hautstrecken, offenbar durch Übertragung der Erregung in den Zentralorganen auf die Endorgane andrer, wahrscheinlich vasokonstriktorischer Nervenfasern. Ebensowenig wissen wir über die Entstehung der als Wollustgefühl bezeichneten Gemeinempfindung, welches die Erregung der sensiblen Nerven der Genitalorgane begleitet. Wir können nur vermuten, dafs der spezifische Charakter desselben dm-ch die Gegenwart besonderer Centralorgane bedingt wird, welche die unter Yermittelung besonderer Endapparate, der KRAUSESchen AVollustkörperchen (s. o. p. 147), und deren Nerven- faserfortsetzung empfangenen Druckreize in eigenartiger Form zum Bewufstsein bringen. Das Gleichgewichtsgefühl endlich und sein Gegenteil, das Schwindelgefühl, welche in uns richtige beziehungsweise falsche Vorstellungen über das zeitweilige Lageverhältnis unsres Gesamtkörpers hervorrufen, werden zweckmäfsig nicht an dieser Stelle, sondern zusammen mit den Funktionen gewisser zu beiden Gefühlen in Beziehung stehender Zentralorgane abgehandelt. GESCHMACKSSINN. § 90. Allgemeines.- Eine grofse Anzahl flüssiger oder gelöster fester Körper von der verschiedensten chemischen Konstitution sind, sobald sie auf die mit eigenartigen Sinnesorganen ausgerüsteten 1 LUDWIG, Lehrb. d. Phiisiol. Bd. I. 2. Aufl. 1858. p. 489. 2 Vgl. BIDDER, Art. Schmecken, in E. ^VAGNERS Hundwrth. Bd. III. p. 1. 200 GESCHMACKSSINN. § 90. Enden des nervtts glossopharyngeus (vielleicht auch des ramus lingualis nervi trigcmini) in der Schleimhaut des Zungenrückens einwirken, Erreger der sogenannten, ihrem "Wesen nach nicht definierharen Ge- schmacksempfindungen. Man unterscheidet verschiedene Quali- täten der Geschmacksempfindungen, die unter sich ebensowenig ver- gleichbar sind wie die Empfindungen des roten und blauen Lichtes, die wir aber auch nicht einmal, wie die verschiedenen Farben- empfindungen, auf bestimmte physikalische und chemische Differenzen der sie erregenden äul'seren Ursachen zurückzuführen imstande sind. Als solche Qualitäten sind zu bezeichnen der saure, alkalische, bittere und süise Geschmack; von jeder solchen Geschmacksqualität haben wir eine treue subjektive Vorstellung, objektiv lassen sie sich nur durch Nennung solcher Substanzen, welche die eine oder die andre in besonders intensiver Weise erregen, charakterisieren, der süfse Geschmack als der von Zucker erregte u. s. w. Alle diese Empfindungsformen werden schon sehr frühzeitig vom Neugeborenen unterschieden.^ Im gewöhnlichen Leben werden der Geschnjacks- qualitäten noch weit mehr unterschieden, allein ein grofser Teil derselben sind keine wahren Geschmacksempfindungen, sondern entweder Tast- oder Gemeingefühlsempfindungen, oder Kombinationen von Tast- und Geruchsempfindungen. So sind z. B. der brennende, kratzende, scharfe, zusammenziehende Geschmack Tastempfindungen, die zum Teil in Schmerz übergehen können, der kühlende Ge- schmack eine Temperaturempfindung, der aromatische Geschmack zumeist eine reine Geruchsempfindung , welche der gleichzeitigen Tastempfindung auf der Zunge, oder auch einer gleichzeitigen wirklichen Geschmacksempfindung (bitter, süfs, sauer) wegen fälschlich als Geschmacksempfindung ausgelegt werden. Verhindert man beim Genufs aromatischer Substanzen den Zutritt der mit dem Eiechstofi" derselben geschwängerten Luft zur Nasenhöhle, so fällt der aromatische Geschmack weg. Nicht riechbare Substanzen er- zeugen auch keine sogenannte aromatische Geschmacksempfindung. Das Zustandekommen von Geschmacksempfindungen ist auf be- stimmte Teile der Zunge und dej" Mundhöhle beschränkt. Am sichersten lassen sich diese Teile nach einem von E. Neümann^ angegebenen Verfahren feststellen , wenn man die Pole einer kon- stanten elektrischen Kette mit unverändertem Abstand von ungefähr 5 mm auf der Schleimhaut der Mundhöhle herumführt und notiert, wo der positive Pol sauren Geschmack auslöst. Hierbei ermittelt sich bald, dafs diese Wirkung des galvanischen Stromes nur an der Zungenspitze, ferner auf einem ungefähr 4 — 6 mm breiten Saume der Zungenränder und dem hinteren Teile des Zungenrückens, endlich noch am weichen Gaumen und dem unteren Teile des 1 Kussmaul, cUiert nach Preyer, Die Seele d. Kindes. Leipzig 1882. p. 74. 2 E. Neumann, Könisberoer med. Jahrb. 1861. Bd. IV. p. 1, u. Henle-MeisSNERs Der. üb. d. Fortiichr. d. Anat. u. Physiol. im Jahre 1864. p. 554. §90. GESCHMACKSOEGANE. 201 arcus pcäato-glossus erzielt werden kann. Ob die noch hinter der Zungenwurzel gelegenen Teile des Phaiyux und Larynx Geschmacks- sinn besitzen oder nicht, ist durch das Experiment äufserst unbequem zu entscheiden, kann aber auf Grund gewisser weiter unten zu er- wähnenden histologischen Daten kaum bezweifelt werden. Altere Beobachter (Magexdie, Eicherand ^) haben, wie es scheint, zwischen Tast- und Geschmacksempfindungen nicht strenge unterschieden und daher den Sitz des Geschmackssinns nicht nur in die gesamte Schleimhaut der Mundhöhle, des Schlundkoi:)fs und der Luftröhre verlegt, sondern sogar die Zähne als Sitz desselben bezeichnet. Im Gegensatz dazu behaupteten Wagner und Bidder "-', dafs nur der hintere Teil des Zungenrückens wahre Geschmacksempfindungen zu vermitteln imstande sei. J. Mtieller * erkannte indessen dem Geschmacks- sinn wiederum eine gröfsere Ausbreitung zu und glaubte auch den weichen Gaumen neben der Zungenwurzel als Geschmacksorgan ansehen zu müssen, i;nd Valentin'* kehrte fast vollständig w^ieder auf den Standpunkt der ältesten Untersucher zurück, indem er nicht allein der ganzen Zungenoberfläche, also auch ihrer Unterseite, sondern auch den hinteren Gaumenbögen, den Mandeln, der Umgebung des Kehldeckels und dem der Zungenwurzel gegenüberstehenden Teile des Schlundkoi^fes Geschmacksempfindungen zusprach. Schirmer ° ist durch Versuche an sich zu dem Eesultat gelangt, dafs aufser dem hintersten Teile des Zuugenrückens auch die Zungenspitze und Zungenränder, aufserdein auch der obere Teil des w^eichen Gaumens, und in ganz ausgezeichneter Weise der untere Teil des arcus glossopalatinus zur Aufnahme von Geschmacksein- drücken befähigt sei. Klaatsch und Stich*' rechnen ebenfalls zur Geschmacks- provinz aufser dem Zungenrücken im hinteren Dritteil einen 2 — 4'" breiten Saum des Zungenrandes und einen Teil des weichen Gaumens, Driei.sma^ aufser- dem noch Uvula und harten Gaumen. Urbantschitsch* endlich, einer der neuesten Beobachter dieses Gebietes, schliefst sich ziemlich genau den Angaben Valentins an, nur bestreitet auch er mit der Mehrzahl der übrigen Beobachter die Geschmacksfähigkeit des eigentlichen Zungenrückens. Die mannigfachen Abweichungen der von verschiedenen Experimentatoren erhaltenen Eesultate erklären sich zum Teil daraus, dafs die Schmeckstoffe sich bei ihrer direkten Applikation auf die zu prüfende Schleimhautstelle durch Diffusion in den Mund- flüssigkeiten mitunter weiter verbreitet haben mögen, als beabsichtigt war, und folglich ihre Wirkung nicht blofs auf den ursprünglichen Applikationsort be- schränkten. Zum Teil müssen aber auch individuelle Eigentümlichkeiten das Versuchsergebnis beeinflufst haben, wie daraus hervorzugehen scheint, dafs von einigen Seiten, z. B. auch von 0. Funke'', die Geschmacksfähigkeit der aus- gestreckten Zungenspitze gänzlich geleugnet wird, während Eintauchen der letzteren in verdünnte Essigsäure oder Betupfung derselben mit einem Stück- chen Zucker thatsächlich bei sehr vielen Menschen deutliche, auf die _Zungen- spitze selbst bezogene Geschmacksempfindungen zu erwecken pflegt. Überdies scheint auch das Alter der geprüften Personen bei Experimenten dieser Art wesentlich in Betracht zu kommen, denn nach Urbantschitsch sollen Kinder unfraglich Geschmacksempfindungen auch auf der Schleimhaut des harten Gau- mens und der Wangen, wo sie bei Emvachsenen wohl ausnahmslos fehlen, zu erkennen geben. 1 MAGENDIE, Precis elem. de physiol. 4. Edition. 1836. T. I. p. 137. — Richerand, Nouv. eleni. de p/n/siol. T. II. p. 61. 2 R. WAGNER, Lclirb. d. Phyaiol. 3. Aufl. Leipzig 1845. p. 337. — BiDDEK, a. a. O. 3 J. Mueller, Eandb. d. Phmhl. 4. Aufl. 1840. Bd. II. p. 490. * VALENTIN, Lehrb. d. Physiol. 2. Aufl. 1850. Bd. II. p. 551. 5 SCHIRMER, NonniiUae de gustu disquis. Diss. inaug. Greifswald 1856; Deutsche Klinik. 1859. No. 13, 15 u. 18. .« KLAATSCH u. Stich, Arck. f. pathol. Anat. 1858. Bd. XFV. p. 225. ' DriELSMA, Onderzoek. ov. d. zetel v. hei smaukznitinij. Diss. inaug. Groningen 1859. ' * Urbantschitsch, Beob. üb. Anoinalien. d. Geschmacks etc. Stuttgart 1876. 9 O. FUNKE, dieses Lehrb. 4. Aufl. 1864. Bd. II. p. 77. 202 GESCHMACKSORGANE. § 90. Schwieriger als die periphere Ausbreitung der Geschmaoks- nerven sind ihre Bahnen nach dem Zentralorgane hin zu bestimmen. Von den drei Gehirnnerven, welche Zunge und Mundhöhle mit Nervenfasern versorgen, ist zwar der eine, der n. liypoglossus , ent- schieden frei von geschmackvermittelnden Fasern, in bezug auf die beiden noch übrigen, den ii. trigeminus und den n. glossopharyngeus, ist es dagegen lange Zeit höchst zweifelhaft gewesen, ob sie alle beide oder ob nur der letztgenannte Nerv als Geschmacksnerv zu bezeichnen sei. Die Ursache dieser Unsicherheit lag hauptsächlich in dem Umstände, dal's gewisse pathologische Erfahrungen beim Menschen die Beweiskräftigkeit der an Tieren erlangten Ver- suchsergebnisse in Frage stellten. Panizza und nach ihm Valentin^ hatten allerdings experimentell dargethan, dal's stark bittere in Milch gelöste Substanzen (Koloquinten), welche eben nur die Geschmacks- nerven zu erregen imstande waren, nicht etwa sich auch andern Sinnesorganen, Auge, Nase, Tastsinn, kenntlich machten, z. B. einen charakteristischen Geruch besafsen oder unangenehme Tastempfin- dungen, Brennen und Kratzen auf der Zunge, erweckten, nach Durchschneidung der nn. glossopharyngel ohne Zögern von Tieren verschluckt werden, welche in normalem Zustande und selbst nach Durch trennung beider rami Ungacäcs eben diese Stoffe mit Abscheu zurückweisen. Angesichts der pathologischen Beobachtungen an Menschen aber, nach welchen die Beschädigung der im rmn. linguaUs enthaltenen Fasern der chorda tyniptani die Geschmacksfähigkeit des entsprechenden Zungenrandes bis zur Spitze aufhebt oder doch jedenfalls schwächt, war hieraus kaum mit Bestimmtheit zu ent- nehmen, dafs der periphere Stamm des n. glossopharyngeus bei Tieren sämtliche Geschmacksfasern beherberge, geschweige denn, dafs dem ramus lingiialis des Menschen sämtliche fehlen müfsten. Es bedurfte erst einer umständlichen physiologisch -anatomischen Analyse der bekanntgewordenen Krankheitsfälle, um der Überzeugung Raum zu schafi'en, dafs auch in ihnen zum mindesten kein apodik- tischer Beweis gegen die ausschliefsiiche Bedeutung des n. glosso- pliaryngeiis als Geschmacksnerven zu erblicken wäre. Denn wie Carl^, welcher an sich selbst eine einseitige Geschmackslähmung des Zungennerven als Folge einer Mittelohrentzündung zu studieren Gelegenheit hatte , wahrscheinlich gemacht hat , stammen die Ge- schmacksfasern des rmn. lingiialis möglicherweise alle aus den Anastomosen des Glossopharyngeus mit dem dritten Aste des Trigeminus her."^ Hiernach würde also der Glossopharyngeus wenigstens in der Nähe seines zentralen Ursprungs alle geschmackvermittelnden Nervenfasern der Mundhöhle ' PANIZA, Vers. üb. d. Verrichtiinf/en d. Neroen. A. d. Italieiiisclien. Erlangen 1836. p. 43. VALENTIN, Lehrh. d. Ph>/.i!ol. 2. Aufl. Bd.' H. p. 393. 2 Carl, Ardi. f. Ohrenheilk. 1S75. Bd. X. p. 152. ^ HENLE, Handb. d. sijstem. Anal. Bd. lU. p. 418. Braunschweig 1868. § 91. HISTOLOGIE DER GESCHMACKSORGANE. 203 führen und mithin dennoch als alleiniger Greschmacks- nerv anzusehen sein. Was die zentrijjetalleitenden Trigemiuus- fasern des ram. Jingualis anhetrifft, so ermöglichen dieselben nur die eigentlichen Tastempfindungen und wohl auch jene fälschlich soge- nannten Greschmacksempfindungen , welche wir oben zu den Tast- empfindungen verwiesen haben. Der Weg, welcher nach Carl den Fasern des Glossopharyngeus offen steht, um zum ravi. linyualin des dritten Trigeminusastes zu gelangen, ist durch die Nervenbahn zwischen (janxjlion petrosum des Glossopharyngeus, plexus tym- panicus, n. petrosus superficialis minor und ganglion oticum am dritten Aste des Trigeminus bezeichnet. Ein kleiner Teil der Glossopharyngeusfasern scheint sich nach ihm vom plexus tympanicus zum ganglion geniculatum des n. facialis abzuzweigen, steigt sodann in der Bahn des letzteren abwärts, gelangt von da in die vom Facialis abtretende chorda tympani und mit derselben endlich auch zum n. lingualis. Nachdem somit das Gebiet, auf welchem Geschmacks- empfindungen ausgelöst werden können, und die Xervenbahn, welche dieselben vermittelt, annähernd festgestellt Avordeu ist, bleibt uns noch übrig die Histologie nach der Beschaffenheit der peripheren Endapparate der Geschmacksnerven zu befragen, welche zum ersten Empfange der adäquaten Geschmacksreize bestimmt sind, und deren Anwesenheit nach den früher erörterten Grundsätzen der Sinues- physiologie vorausgesetzt werden muls. HISTOLOGIE DEE GESCHMACKSOEGANE. § 91- Die histologische Untersuchung unsers Geschmacksorgans knüpft zweck- mäfsigerweise an die physiologische Thatsache an, dafs unter allen Orten unsrer Mundhöhle der hintere Teil des Zungenrückens unfraglich die gröfste Empfindlichkeit gegen Geschmacksreize zeigt, und sucht zunächst die Ab- weichungen festzustellen, welche zwischen dieser physiologisch so ausgezeich- neten Eegion und den übrigen Teilen der Zungenschleimhaut bestehen. Ver- gleicht man in der angegebenen Absicht verschiedenen Bezii^ken entnommene Gesamtquerschnitte der Zunge, so findet man im allgemeinen, dafs sich die bindegewebige Grundlage ihrer Schleimhaut analog dem Corion der Cutis viel- fach gegen den Epithelüberzug erhebt und Papillen bildet, welchen keines- wegs überall ein gleichartiges Aussehen zukommt. Die verbreitetste Form derselben ist die Pyramidenform der papillae filiformes, deren dünne faden- förmige Spitzen von einem dicken, bei Tieren häufig verhornten E^jithelmantel umhüllt werden und in ihrem Bindegewebsstratum ausnahmslos eine einfache Blutkapillarschlinge beherbergen. In geringerer Zahl zwischen ihnen zerstreut, namentlich aljer über die obere Fläche der Zungenspitze und der Zungenränder verteilt, trifft man die zweite gefäfsreichere Form der Papillen an, welche mit dünnerem Epithelbeleg versehen sind und ihrer pilzförmigen Gestalt halber als papillae fungiformes bezeichnet werden. Ausschliefslich auf das hintere Ende des Zungenrückens beschränkt und dort zu je 4 — 5 in zwei Reihen geordnet, welche sich unter einem spitzen mit dem Scheitel gegen den Pharynx gekehrten Winkel schneiden, begegnet man endlich der dritten Form 204 HISTOLOGIE DER GESCHMACKSORGANE. .§91. Fis. 90. der Zungenpapillen, den ])apülae circumvaUatac (Fig. 00, nach Schwalbe). Aus- gezeichnet durch ihre Gröfse, die zahlreichen klef^ien papillae filiformes, welche ihren platten Gipfel bekleiden, die liingfurche, welche ihre Basis umzieht und auf ihrem Boden mehrfache Öffnungen kleiner Drüsengänge enthält, A'or allem aber durch ihre Lage an dem physiologisch bedeutungsvollsten Punkte der Zunge, fallen sie auch an mikroskopischen Schnittpräparaten durch ihren Reichtum an markhaltigen, be- sonders jedoch an marklosen Nerven- fasern (Schwalbe) auf, deren Herkunft aus dem Glossopharyn- geusstamme unschwer nachzuweisen ist, vmd deren ferneres Ver- halten für uns von dem gröfsten Interesse sein mufs. Wie Re- MAK zuerst entdeckte, KoELLiKER, Schiff, Szabadfoeldi und Schwalbe bestätigten, enthalten sowohl der Stamm als auch die feineren Papillenäste des Glossopharyngeus Ganglienzellen.^ Was den Verlauf der beiden Arten von Nervenfasern inner- halb der umwallten Papillen anbelangt, so steigen die markhaltigen Fibrillen nach ScHWALBEs Beobachtungen divergierend zum flachen Gipfel derselben empor, während die marklosen gleich nach ihrem Eintritte in die Papillenbasis wirteiförmig ausein- anderweichen und vorzugsweise den Seitenflächen der Papille zustreben. Unterhalb des Epithelüberzugs der letzteren scheinen sie beide einen engmaschigen, marklosen End- plexus zu bilden, von welchem eine nähere Beziehung zu gewissen Elementen des Epithelbelegs wohl wahrscheinlich gemacht, aber noch keineswegs direkt erkannt worden ist. Das dünn geschichtete Pflasterepithel der um- wallten Papillen gleicht in allen Punkten demjenigen der übrigen Mundhöhle und gewährt nur insofern ein etwas abweichendes mikroskoiaisches Bild, als sich namentlich auf den Seitenflächen der Papillen zwischen seine zelligen Elemente eigentümliche Gebilde eingelagert finden, welche von G. Schwalbe und von Loven'^ ziemlich gleichzeitig gesehen worden sind und den Namen der Geschmacks- knospen, G e s c h m a c k s b e c h e r , G e s c h m a c k s k o 1 b e n .Ihrer äufseren Form nach erscheinen dieselben als ovale, 77 bis 81 f.1 lange, 33 w dicke, im ganzen tonnenförmig gestaltete Organe (Fig. 91, nach Schwalbe), deren gekrümmte Seitenwandung von spindelförmigen, in der breiteren Mitte einen elliptischen Kern führenden Zellen zusammengesetzt wird, Ol. erhalten haben, beim Menschen ' Kemak, Arch. f. Anai. u. Pf,>/sio!. 1844. p. 469, u. 18-52 p. .58. — KOELLIKER, Ver/idl. d. phnsik.-med. Gex. zu Wurzhurg. 1851. Bd. II. p. 11 u. 12: Handh. d. Gewehelehre. 5. Aufl. 1867. p. 349. — SCHIFF, Arch. f. phiisiol. ffeilk. 1853. Bd. XL p. 377. — SZABADFOELDI, Arch. f. pathol. Anat. 1867. Bd. XXXVIII. p. 182. — G. SCHWALBE, Arch. f. mikro.ik. Anat. 1868. Bd. IV. p. 1.54. » G. SCHWALBE, Arch. f. mikrosk. Anut. 1867. Bd. III. p. 504, u. 1868 Bd. IV. p. 154. — LOVEN, ebenda. 1868. Bd. IV. p'. 96. §1>1. HISTOLOGIE DER GESCHMACKSOEGANE. 205 Wülche wie die Deckblätter einer Blumeuknospe nebeneinander gelagert sind und als Deckzellen (Fig. 9'2rt) beschrieben werden. Das zentrale, oft vielfach gespaltene Ende der letzteren sitzt dem Bindegewebe der Papille unmittelbar auf, das periphere reicht bis zur freien Oberfläche und läuft daselbst, wie es scheint, in kleine aufrecht stehende Härchen aus (Schwalbe); die Körper der Deckzellen grenzen ihrer ganzen Länge nach eng aneinander und lassen nur zwischen ihren peripherischen, fein behaarten Spitzen eine kleine, runde Öffnung- frei, durch welche der innere von ihnen umschlossene Hohlraum der Geschmacks- knospen direkt mit der Mundhöhle kommuniziert und für die Flüssigkeiten derselben zugänglich ist. Dieser Hohlraum ist indessen keineswegs ganz leer, sondern im Gegenteil fast vollständig ausgefüllt von besonderen Zellen, den Geschmackszellen, Fig. 92. welche nach Schwalbe zwei Hauptformen besitzen und demgemäfs von ihm in Stab- und Stift zellen gesondert w^erden (Fig. 92 b, c). Beide Arten der Geschmackszellen sind von langgestreckter Gestalt, schliefsen ovale, in der Mitte zwischen peripherem und zentralem Ende gelegene, nicht immer mit deutlichen Kernkörperchen versehene Kerne ein, und unterscheiden sich von den Deckzellen namentlich dadurch, dafs ihr Körper fast unmittelbar unterhalb des Kernes in einen dünnen, glänzenden, oft un- regehnäfsige Varikositäten zeigenden Fortsatz über- geht . welcher der bindegewebigen Grundlage der Papille öfters mit knopfförmiger Anschwellung aufzu- sitzen scheint, und dafs ihr i^eripheres Ende nicht die Form einer Spitze, sondern die einer abgestutzten Fläche besitzt. Stab- und Stiftzellen differieren nur insofern wesentlich untereinander, als das abgestutzte, sich mitunter gabelig teilende periphere Ende der letztern ein bis zwei feine hellglänzende Stiftchen trägt, welche, wie frische oder gut in Überqsmium- säure erhärtete Präparate lehren, aus der Öfihung der Geschmacksknospen etwas hervorragen , das der ersteren gleichmäfsig breit ohne jeglichen Aufsatz abschliefst. Die Zahl der Geschmacksknospen, welche den Seitenflächen einer umwallten Papille aufsitzen, variiert beim Menschen zu erheblich, um die Angabe eines Durchschnittswertes zu rechtfertigen, beim Schafe und beim Einde, bei \velchen Tieren eine gleichmäfsigere Verteilung der fraglichen Bildungen stattfindet , kommen nach Schwalbe ungefähr 480 bis 1760 Geschmacks- knospen auf eine Papille. Was endlich ihre Verbreitung im Tierreiche anbetrifft, so wurden sie auf der Zunge der Säugetiere, soviel deren überhaupt untersucht worden sind, niemals vermifst; bei den Eeptilien und Vögeln sind Geschmacksknospen bisher nicht aufgefunden worden, ebenso wenig beim ausgewachsenen Frosche. Bei diesem trägt jedoch das abgeflachte Plateau der vom Glossopharyngeus versorgten pilzförmigen Zungenpapillen ein eigentümlich geformtes Epithel, dessen zuerst von Billroth als auffällig erkannte, sodann von Axel Key unter M. Schultzes Leitung näher untersuchte Formen in vielfacher Beziehung den Geschmackszellen der Säugetiere gleichen und den- selben vielleicht auch homolog zu setzen sein dürften/ Merkwürdigerweise ist hingegen nach einer interessanten Beobachtung F. E. Schulzes- die ganze 1 Billroth, Deutsche Klinik. 1857. No. 21: Arcfi. f. Änat. u. Pkysiol. 1858. p. 159. — FlXSEN, De tinquae raninae texluru disqiäs. microscop. Diss. inau?. Dorpat 1857. — AXEL KEY, Arcli. f. Anat. u. Plinxiol. 1861. p. 329. — TH. \V. ENGELMAXN, Ctrbl. f. d. med. Wiss. 1867. p. 785', u. Ztüchr. f. wis.i. Zoologie. 1866. Bd. XVIII. p. 142. 2 F. E. SHCULZE, Arc/i. f. mikrus);. Annt. 1870. Bd. VI. p. 407, vgl. auch S. STRICKER, Wiener Sfzber. Math.-aatw. Cl. 1857. Bd. XXVI. p. 3. 206 HISTOLOGIE DER GESCHMACKSORGANE. § 91. Mundkienienliöhle von Froschenibryonen, solange sie auf Kienienatmung und pflanzliche Nahrung angewiesen sind, mit echten, in spätem Entwickelungs- zuständen untergehenden Geschmacksknospen besät. Bei Fischen hat F. E. Schulz K gewisse von Lkydig zuerst entdeckte becherförmige Eildungen im Epithel der Oberhaut als Geschmacksorgane gedeutet.^ Wie aus dem Gesagten hervorgeht, ist die Auffassung der eben be- schriebenen kleinen Organe als Nervenendorganc des Glossopharyngeus histo- logisch noch keineswegs als gesichert anzusehen. Indessen läfst ihr reichliches Vorkommen gerade auf derjenigen Stelle der menschlichen Zunge, welche an- erkanntermafsen der Sitz der intensivsten Geschmacksempfindungen ist, ganz besonders aber ihr totaler Untergang nach Durchschneidung des Glosso- pharyngeus (ViNTSCHr.AU und Hoionigschmied'^) kaum daran zweifeln, dafs die Bedeutung, welche man ihnen allgemein beilegt, ihnen auch wirklich zu- kommt. Wir werden daher schwerlich fehl gehen, wenn wir alle Orte der Mundhöhle, auf welchen sich Geschmacksknosi^en nachweisen lassen, zur Ver- mittelung von Geschmacksempfindungen für befähigt erachten und die histo- logischen Errungenschaften zur Kontrolle und Präzisierung der physiologischen Ermittelungen über die Ausbreitung des Geschmacksinns in unsrer Mundhöhle verwerten. Es handelt sich eben einfach darum, sämtliche Regionen der letzteren auf die Anwesenheit von Geschmacksknospen zu untersuchen. Stellen wir die von verschiedenen Beobachtern^ in dieser Hinsicht erlangten Resultate zusammen, so ergibt sich, dafs Geschmacksknospen aufser auf den Seitenflächen der papillae circionvcUlatae auch auf der freien Oberfläche derselben und in dem Epithel der gegenüberliegenden Wallseite der Ringfurche, ferner auf der Oberfläche ÖlQY papillae fimgiforvies, in den freien Papillen des weichen Gaumens, auf der unteren Fläche der Epiglottis, den oberen Partien der Hinterfläche des Larynx und der Innenfläche des ^jroc. arytaenoideus aufgefunden worden sind. Hiernach werden also die Angaben derjenigen Forscher aufs beste bestätigt, welche nicht nur dem hinteren Teile des Zungenrückens, sondern auch dem oberen Teile des Larynx, dem weichen Gaumen, den Zungenrändern und der Zungenspitze Gesclimacksfähigkeit zuerkannt haben. Dafs dieselbe an letzteren beiden Orten mitunter fehlt (0. Fx'nke), selbst bei intaktem plexus tyvipanicus im Mittelohre, kann möglicherweise dadurch bedingt sein, dafs die hier auf den pilzförmigen Papillen untei-gebrachten Geschmacksknospen infolge ihrer weniger geschützten Lage besonders leicht beschädigt und infolgedessen in ihrer normalen Funktionierung behindert werden. Die meisten hier genannten Fundorte von Geschmacksknospen erhalten zweifellos neben Fasern von andern Nervenstämmen auch solche vom Glossopharyngeus ; ob alle , oder wenn alle, ob nur Glossopharyngeusfasern zu den epithelialen Endapparaten des Ge- schmackssinns hin verlaufen, bleibt zu untersuchen. Einen Weg, auch über diesen Punkt Aufschlufs zu erhalten, bietet vielleicht das WALLERsche Ver- fahren: man durchschneidet die einzelnen in Frage kommenden Nerven und erkennt die Provinz ihrer peripherischen Ausbreitung an der Anwesenheit fettig degenerierter Primitivröhren. Schliefslich l)edarf noch der Erwähnung, dafs nach A. Hoffmann die Verbreitung der Geschmacksknospen in der Mund- höhle bei zunehmendem Alter Einschränkungen erleidet und namentlich in den früheren AlterseiDochen bei weitem gröfser als in den späteren ist, eine Be- obachtung, mit welcher die oben angeführten experimentellen Ermittelungen von Urbantschitsch in gutem Einklänge stehen. Über das Vorkommen von PACiNischen Körperchen und von Endkolben im Bindegewebsstratum der Zunge, 1 1 F. Leydig. Ztschr. f. wiss. Zoologie. 1851—52. Bd. III. p. 3. — F. E. SCHULZE, ebenda. 1862. Bd. XII. p. 218, u. Arch. f. mikrnsk. Anat. 1867. Bd. III. p. 153. 2 Vintschgau u. Hoenigschmied, Pfluegers Arch. 1876. Bd. XIV. p. 443. ^ Aufser den schon citierten Arbeiten von SCHWALBE u. LOVEN vsrl. V. VerSON, Wiener Stzber. Math.-natw. Cl. 1868. Bd. LVU. p. 1093. — H. V. WYSS, Arc/i. '/. mikrosk. Anat. 1870. Bd. VI. p. 237. — W. Krause, Arch. f. Anat. u. Phyaiol. 1870. p. 25, u. Handh. d. mm.ichl. Anat. 3. Aufl. 1876. Bd. I. p. 190. — Ä. HOFFMANN. Arch. f. paihol. Anat. 1875. Bd. LXII. p. 516. — DAVIS, Arch. f. mikrosk. Anat. 1877. Bd. XIV. p. 158. § 92. DIE GESCHMACKSEMPFINDUNGEN. 207 Bildungen, welche offenbar nur als Endapparate von Tastnerven anzusehen «ind, ist bereits oben (p. 147) berichtet worden. § 92. Die Geschmacksemp finduuge u. Es ist bereits iu der Einleitung erwähnt worden, dafs wir von der Natur der erregenden Ursachen der Geschmacksempfindung äufserst wenig wissen ; wir kennen wohl die Substanzen, welche unter gewissen Bedingungen Geschmacks- •empfindung erzeugen, allein, was ihnen die Qualität des Schmeck- baren gibt, welche charakteristische Beschaffenheit sie von den ge- schmacklosen Substanzen unterscheidet, welche Modifikationen dieser Beschaffenheit die verschiedenen Qualitäten der Geschmacksempfin- dungen bedingen, ist gänzlich unbekannt. Weder die physikalische noch die chemische Analyse der schmeckbaren Körper hat hierüber Aufschlufs gegeben. Wir finden Substanzen von gleichem oder sehr ähnlichem physikalischen Verhalten, von derselben atomistischen Zusammensetzung, von denen die eine intensive Geschmacksempfin- dungen erregt, die andre völlig geschmacklos ist, oder die eine suis, die andre sauer oder bitter schmeckt; zwei süfsschmeckende Körper können die verschiedenste chemische Zusammensetzung haben. So schmeckt Zucker suis, ein andres lösliches Kohlenhydrat, das Gly- kogen, gar nicht; essigsaures Blei schmeckt suis, schwefelsaure Mag- nesia bitter, ebenso bitter aber auch das chemisch mit dem Bittersalz garnicht vergleichbare organische Alkaloid: Chinin. Wie gezeigt wurde, ist auch für den Geschmacksnerven der elektrische Strom Erreger. So Adel indessen über diese Erregung schon in älterer Zeit, insbesondere von Yolta, Pfaff, Lehot, Ritter und später von Rosen- thal experimentiert worden ist, so genau von physikalischer Seite dieser Erreger bekannt ist, so wenig wissen wir doch auch hier über den kausalen Zusammenhang zwischen dem erregenden Agens und der Geschmacksempfindung. Der elektrische Strom bringt eine doppelte Empfindung auf den geschmacksfähigen Mundflächen hervor, und zwar am ])ositiven Pol einen stark sauren Geschmack, am ne- gativen einen alkalischen. Diese Geschmacksempfindungen entstehen, ebenso wie die Gemeingefühle der Haut, nicht blois beim Schliefsen und Öffnen der Kette und plötzlichen Dichtigkeitsschwankungen des Stromes, sondern dauern mit dem konstanten Strome fort. Eine Er- klärung der erwähnten Stromwirkungen ist schwierig zu geben. Es ist wohl denkbar, dafs der elektrische Strom durch Elektrolyse der •die Nervenenden umspülenden Parenchymflüssigkeit Stoffe frei macht, andre an der Kathode, andre an der Anode, welche die spezifische Qualität der elektrischen Empfindung durch ihre Einwirkung auf die Enden der Nerven bedingen. Dafs es nicht die elektrolytische Zersetzung des Speichels durch den Strom ist, welche die dauern- 208 GESCHMACKSERREGER. § 92. den Gesclimacksemplindungen erzeugt, hat bereits Volta bewiesen, indem er zeigte, dafs der saure Geschmack am positiven Pol noch eintritt, Avenn dort die Zunge von einer alkalischen Flüssigkeit benetzt ist (wenn man denselben in Form eines zinnernen mit alkalischer Flüssig- keit gefüllten Bechers zum Munde führt). Ebenso schlagend sind die Versuche, durch welche Rosentiial die Ableitung der sauren und alkali- schen Empfindung aus der elektrolytischen Entstehung von Säure und Alkali an der Oberfläche der Zunge widerlegt hat; alle diese Ver- suche gehen darauf hinaus zu zeigen, dafs jene spezifischen Empfin- dungen auch dann entstehen, wenn der Strom der Zunge durch solche Leiter zugeführt wird, an deren Grenze keine Elektro- lyse stattfindet. Freilich ist die Möglichkeit nicht direkt widerlegt, dafs der elektrische Strom die innere, aus dem Blute abgesonderte Parenchymflüssigkeit in der nächsten Umgebung der Nervenenden zersetzt und dadurch jenen dauernden Geschmack erzeugt, ein Ein- wand, welcher umsomehr Beachtung verdient, als elektrische Erregung der Geschmacksflächen mit alternierenden, gleich starken ,. diskonti- nuierlichen Strömen, wobei die allmähliche Anhäufung elektrischer Produkte fast vollkommen vermieden ist, gar keine Geschmacks- empfindungen auslöst (Gruenhagen).-^ So wenig wir nun die Eigenschaften kennen, welche eine Sub- stanz schmeckbar machen, so kennen wir doch einigermafsen die Bedingungen^ unter welchen sie eine Geschmacksempfindung zu er- regen imstande ist, die Bedingungen ferner, von welchen die In- tensität der Geschmacksempfindung abhängt. Die wichtigste der- selben ist, dafs der schmeckbare Körper in flüssiger Form auf die Geschmacksflächen einwirkt, sei es, dafs er ursprünglich flüssig ist, dafs er in Wasser gelöst in die Mundhöhle eingeführt wird , oder sich erst in der wässerigen Mundflüssigkeit löst. Ein in "Wasser un- löslicher Körper verursacht überhaupt keine Geschmacks- empfindung; anderseits sind aber, wie jeder weife, nicht alle in Wasser löslichen Substanzen schmeckbar. Auch steht die Intensität der Geschmacksempfindung, die ein Körper erregt, durchaus nicht immer in bestimmtem Verhältnis zum Grade seiner Löslichkeit, es gibt schwerlösliche Körper, welche eine aufserordentlich intensive Empfindung erregen, und leichtlösliche, welche nur sehr schwach schmecken. Dagegen hängt die Intensität des Geschmackes bei einem bestimmten Körper von der Konzentration ab, in welcher seine Lösung auf die Zunge gebracht wird. Damit derselbe über- haupt Geschmack erregt, ist ein gewisser Konzentrationsgrad der Lösung erforderlich, bei gewisser Verdünnung hört der Geschmack auf. Dieser Konzentrationsgrad ist bei verschiedenen Geschmacks- objekten aufserordentlich verschieden, manche erregen in der ver- ' Vpl. die Litteraturanfraben bei Du Bois-REYMOND, Unters, üb. thier. Elektricität. Bd. I p. 283 11. 389. — I. Rosenthal, Arch. f. Anut. u. phijsiol. 1860. p. 217. — Gkuenhagex- PFLUEGERs Arch. 1872. Bd. VI. p. 174. § 92. NÄCHGESCHMACK. 209 dünntesten Lösuug noch Geschmack, andre erst bei hohen Konzen- trationsgradeu. Valentin ^ hat durch zahbeiche Versuche für eine Anzahl Substanzen die Grenze der Verdünnung, bei welcher eben noch eine merkliche Geschmacksemptindung entsteht, zu bestimmen gesucht. Die von ihm geprüften Stoffe ordnen sich in folgende Reihe, in Avelcher jedesmal das nächst tiefere Glied, ohne dem Ge- schmack zu entschwinden, eine stärkere Verdünnung verträgt, als das Yoransteheude : Sirup, Zucker, Kochsalz, Aloeextrakt, Chinin, Schwefelsäure. Wodurch diese Verschiedenheiten bedingt sind, von welchen Eigenschaften die Stellung einer Substanz in dieser Reihe abhängt, ist gänzlich unbekannt. Wie kleine Quantitäten gewisser Schmeckstoffe zur Auslösung einer deutlichen Geschmacksempfindung hinreichen, lehren die sorgfältigen Versuche Camereks, nach dessen Berechnung 0,0024 mg Kochsalz gerade noch genügen würden, um auf den pilzförmigen Papillen des Zungenrandes und der Zungen- spitze die Empfindung des salzigen Geschmacks hervorzurufen. Mit der vermehrten Konzentration der Lösung gewinnt die Geschmacks- empfindung, welche dieselbe verursacht, an Intensität. Die Intensität des Geschmackes hängt aulser von der Kon- zentration der Lösung einer schmeckbareu Substanz noch von einer Menge andi-er Umstände ab. Sie wächst mit der Gröfse der Fläche, auf welche die Lösung einwirkt, also mit der Zahl der JS^ervenenden, welche sie erregt; sie Avächst ferner mit der Dauer der Einwirkung. Will man den Geschmack einer Lösuug genau prüfen, so behält man sie längere Zeit auf der Zunge ; die Intensität der Empfindung steigert sich, weil bei längerer Berührung der Lösung mit der Zungeuschleimhaut gröfsere Mengen der schmeck- bareu Substanz sich in die Nervenenden imbibieren und daher inten- siver wirken, vielleicht aber auch, weil mit der Dauer der Erregung das Produkt derselben, die Empfindung, wächst. Es wird ferner die Geschmacksempfindung beträchtlich verstärkt durch Reibung des mit der schmeckbaren Lösung befeuchteten Zungenrückens gegen den harten Gaumen, eine Operation, die wir daher bei dem intendierten Schmecken, dem Kosten, wiederholt auszuführen pflegen. Konzen- triei-te Zuckerlösung, auf den Rücken der ruhenden herausgestreckten Zunge gebracht, erregt erst nach einiger Zeit einen schwachen süfsen Geschmack, augenblicklich aber einen intensiven, wenn wir den Zungenrücken an den harten Gaumen andrücken. Wahrschein- lich beruht die Verstärkung der Empfindung auch in diesem Falle darauf, dafs die Zungenfläche, namentlich die Spitze und die Ränder derselben, in innigere Berührung mit den Schmeckstoöen gebracht werden und sich daher mit letzteren intensiver imprägnieren. Für die Vermutung, dafs die Enden der Geschmacksnerven infolge des 1 VALENTIN, Lehrh. d. Ph'isiol. 2. Aufl. Bd. II. p. 274, — Vgl. aufh CAMEl'.ER, Pfluegees Arch. 1869. Bd. II. p. 322; Ztschr. f. Biotooie. 1870. Bd. VI. p. 440. Gruexhagen, Physiologie. 7. Aufl. II. ^^ 2i0 NACHGESCHMACK. §92. mechaniselien Druckes, welchen sie während der das Kosten beglei- tenden Bewegungen erleiden, an Erregbarkeit gewinnen, lassen sich, thatsächliche Belege nicht beibringen. Über die zwischen Reiz- und Empfindungsgrofse bestehenden Beziehungen liegen auf dem Gebiete des Geschmackssinns nur wenige experimentelle Unter- suchungen vor. Die voi'handenen scheinen im Widerspruch mit dem psycho- physischen Gesetze Fechxers zu lehren, dafs der Quotient aus Reiz und Eeiz- flti Zuwachs — (s. 0. p. 131) für verschiedene Eeizgröfsen keinen konstanten Wert ß . . ^ . besitzt, sondern bei geringen Konzentrationen der Schmeckstoffe, also bei schwachen Reizungen, anfänglich mit Zunahme derselben wächst, nach Über- schreitung einer gewissen Grenze dagegen wieder abnimmt.^ Die Feinheit des Geschmackssinnes kann durch verschiedene Umstände abgestumpft werden. Trockenheit der Zunge vermin- dert den Geschmack, weil es eben an der Feuchtigkeit, welche feste Geschmacksobjekte löst und die schmeckbare Lösung zu den Nerven- enden trägt, mangelt; ähnliche Ursachen bedingen die Abstumpfung des Geschmackes bei Zungenbeleg, Hyperämie, entzündlichen Zu- ständen der Zuugenschleimhaut. Sehr intensive Geschmackseiudrücke vermindern die Empfänglichkeit für nachfolgende, insbesondere für solche von gleicher Qualität. Das Wesen und die Ursachen des Nachgeschmackes, der subjektiven und der häufig zu beobachtenden verkehrten Ge- schmacksempfindungen sind wenig genau bekannt. Was den Nachgeschmack betrifft, so weifs man, dafs die Geschmacksempfindung bei manchen Stoffen mit dem Verschlucken derselben aufhört, bei andern, insbesondere bitteren (Chinin), lange Zeit nach dem Ver- schlucken fortbesteht und selbst durch nachfolgende Geschmacks- eindrücke andrer Qualität nicht gänzlich verdrängt werden kann. Es ist nicht bestimmt zu sagen, ob dieser anhaltende Nachgeschmack rein objektiv, d. h. durch das Zurückbleiben von Teilchen des Ge- schmacksobjektes in den Geschmacksorganen bedingt, oder ob er zum Teil wenigstens subjektiver Natur ist, auf einem Fortbestehen des Erregungsprozesses ohne äufsere Ursache beruht. In ersterem Falle wird der anhaltende Nachgeschmack besonders durch solche Stoffe erregt werden, welche in geringen Mengen noch intensive Empfindung erregen und dabei schwer resorbierbar sind, so dafs sie nur langsam und schwierig durch Resorption aus der die Nerven- enden umgebenden Parenchymflüssigkeit entfernt werden. Bei eini- gen bitteren Substanzen ist diese Deutung des Nachgeschmackes sehr wahrscheinlich. Häufig erregen Substanzen in andrem Sinne einen Nachgeschmack, d. h. einen solchen, welcher von andrer Qualität als der ursprünglich erregte ist, süfse Stoffe z. B. einen bitterea ' VrI. FecHNER, E/etn. d. Psi/cfiop/ti/xik. Bd. I. p. 108, u. In Sachen d. Psyclwpliysik p. 161. — Kepplek, Pfluegers Arch. 1869. Bd. II. p. 449. §92. NACHGESCHMACK. 211 Nacligesclimack, Zucker liäiifig einen sanern. ^ Die Ursachen dieser differeuten Nachwirkungen sind noch nicht ermittelt und können überhaupt erst dann untersucht werden, wenn wir zur Erkenntnis des primären Erregungsvorganges eines Geschmackseindruckes ge- langt sein werden. Es ist nicht einmal mit Bestimmtheit zu sagen, ob diese differenten Nachgeschmackserscheinungen den sogenannten komplementären Nachbildern, welche Avir bei den Gesichtsempfin- dungen kennen lernen werden, analog sind, da wir keine komple- mentären Geschmackserreger kennen. Ebenso mangelhaft ist endlich unsre Kenntnis über die sogenannten subjektiven Geschmacksempfin- dungen; sicher sind die Mehrzahl derselben insofern objektiv, als ein wirkliches Geschmacksobjekt, wenn auch kein von auJsen in die Mundhöhle eingeführtes, sondern vielleicht ein aus dem Blute aus- geschiedenes, die Nerven erregt. Dafs Geschmacksstoff'e vom Blute aus Geschmack erregen können, ist Thatsache; verschluckt man intensiv schmeckende Stoffe in einer Einhüllung (Pillen), so dafs sie direkt auf der Zunge keinen Geschmack erregen, so tritt der- selbe zuweilen einige Zeit darauf ein, wenn die Stoffe im Darm resorbiert durch das Blut zur Zungenschleimhaut getragen, oder vielleicht mit dem Speichel ausgeschieden zu den Geschmacksorganen gelangen. Es ist aber auch sehr wohl denkbar, dafs die Geschmacks- nerven in einen bittere oder süfse Geschmacksempfindung veran- lassenden Erregungszustand geraten können ohne Zugegensein einer Substanz, welche, auf die Zunge gebracht, bitter oder süfs schmeckt, ebenso wie Druck auf den Sehnerven durch Blutkongestion zur Empfindung des Lichtes führt. Die Bedingungen der unter patho- logischen Verhältnissen, oft ohne lokale Erkrankung der Zungen- schleimhaut, zuweilen eintretenden verkehrten Geschmacksempfin- dungen, des bitteren Geschmackes z. B., den die verschiedensten Schmeckstofi'e erregen, sind nicht anzugeben. Die Geschmacksempfindungen verknüpfen sich mit Vorstel- lungen, welche hier ebenso streng, wie bei dem Tastsinn, von dem Inhalt der Empfindung selbst zu trennen sind. Viele solcher Ge- schmacksvorstellungen gewinnen wir nicht einmal aus den Geschmacks- empfindungen selbst, sondern aus den gleichzeitigen Tastempfindungen, welche die Geschmacksobjekte auf der Zunge erregen. Dies gilt von der Vorstellung der Objektivität der Geschmackserreger, wahr- scheinlich auch von der Vorstellung des Ortes, an welchem die Geschmacksempfindung erregt wird. Wir verweisen in dieser Be- ziehung auf die Erörterungen der Entstehung objektiver Vorstel- lungen und räumlicher Wahrnehmungen beim Tastsinn. Dafs eine Geschmacksempfindung an sich nicht unangenehm, widerlich u. s. w. sein kann, wie die gewöhnliche Bezeichnung lautet, sondern dafs wir es auch hier mit Vorstellungen zu thun haben, welche an ' Vgl. HORN, Über d. Geschmackssinn d. Menschen. Heidelberg 1825 p. 95. — IJRBAN- TSCHITSCH, a. a. O. p. 8. 14* 212 GERUCHSSINN. §93. die Geschmacksempfiiidung, sehr häufig aber auch nur an die gleich- zeitige Tast- oder Geruchsempfiudung sich knüpfen, bedarf keiner weiteren Auseinandersetzung. Der Nutzen des Geschmackssinnes ist jedem Laien klar. Die Geschmacksempfindungen im Verein mit den oft fälschlich dafür gehaltenen Tastempfindungen der Mundhöhle liefern uns charak- teristische Merkmale für eine Meuge von Substanzen, welche wir in den Verdauungskanal einführen; wir erkennen an diesen Merk- malen die Gegenwart und sogar die relative Menge jener Substanzen in den Nahrungsmitteln, w^ährend uns auf andern Wegen gewonnene Erfahrungen belehren, ob die durch die Sinne wahrgenommene Art und Zusammensetzung der Ingesta zuträglich oder schädlich ist. Dafs der Geschmack und die mit den Empfindungen desselben sich verknüpfenden Vorstelluugen au sich nicht zur Erkenntnis schädlicher und unschädlicher Substanzen führen, versteht sich von selbst; es gibt bekanntlich eine Menge giftiger Substanzen, welche eine ange- nehme Geschmacksempfindung veranlassen, anderseits aber auch eine Menge völlig geschmackloser Gifte, zu deren Erkenntnis der Geschmackssinn also nicht einmal mittelbar beitragen kann. GERUCHSSINN. § 93. Allgemeines. Wie für die bisher erörterten Siunesempfin- dungen gibt es auch für die sogenannten Geruchsempfindungen keine Definitiou, welche das Wesen derselben ausdrückte; leider kennen wir aber auch hier ebensowenig wie beim Geschmackssinn die Natur der erregenden Ursachen. Die Fähigkeit Geruchsein- drücke aufzunehmen ist auf den Endigungsbezirk des nervus olfac- torius in den oberen Teilen der Nasenschleimhaut beschränkt; es entsteht eine Geruchsempfindung, wenn gasförmige oder feste, aber flüchtige Stoffe, welche jene nicht näher definierbare Qualität des Riechbaren besitzen, der atmosphärischen Luft beigemengt durch die Inspirationsbewegungen an jenen mit Geruchssinn begabten Schleimhautflächen vorbeibewegt werden. Man unterscheidet eine grofse Anzahl verschiedener Qualitäten der Geruchsempfindungen, eine weit gröfsere als bei den Gesckmacksempfinduugen , ohne dafs sich jedoch dieselben so bestimmt, wie letztere, in bestimmte Kate- gorien unterbringen lassen. Einige solche Kategorien, wie die des aromatischen Geruches , sind schwankende Begriffe , und in vielen Fällen bleibt es lediglich subjektivem Gutdünken überlassen, ob man eine gegebene Geruchsempfindung zu den aromatischen rechnen will oder nicht. Begriffe , wie der des fauligen Geruchs, bilden keine Kategorien, da fast allen Geruchsempfindungen, die wir dahin zählen, dasselbe Geruchsobjekt (Schwefehvasserstoft') zu Grunde liegt, § 93. DIE CtERUCHSORGANE. 213 und. die verschiedeBen Nuancen der Empfindung nur durch Bei- mischung verschiedener andrer Riechstoffe in verschiedenen Mengen bedingt sind. Es bleibt uns daher, wenn wir eine bestimmte Qualität einer Geruchsempfindung bezeichnen wollen, meist nichts übrig, als dieselbe nach der Substanz, welche sie eben hervorbringt, oder welche einen ähnlichen Geruchseindruck in besonders inten- siver Weise erzeugt, zu benennen. Übrigens ist von den im ge- wöhnlichen Leben unterschiedenen Geruchsqualitäten, wie von den Geschmacksqualitäten, eine ziemliche Anzahl solcher zu streichen, welche nicht Geruchs-, sondern Tastempfindungen sind. Dies gilt z. B. von dem stechenden, scharfen Geruch, den wir einer Substanz zuschreiben, welche durch die Tastnerven der Nasenschleimhaut Kitzel oder andre Gemeingefühle erzeugt.^ Derjenige Nerv, dessen Erregung die Geruchsempfindungen vermittelt, der nervus olfactorius, verbreitet sich mit seinen Endästen in der Schleimhaut der beiden oberen Nasenniuschelu jeder Seite und der Schleimhaut des oberen Teiles der Scheidewand. Die Grenzen seiner Ausbreitung umschreiben das Geruchsorgan; die untere Nasenmuschel, der untere Teil der Scheidewand, der Boden der Nasenhöhle können keine Geruchseindrücke aufnehmen; sie sind dagegen durch ihre reichliche Versorgung mit Fasern des neivus trigeminus zu Tastempfindviugen, besonders aber zu Gemeingefühlen befähigt. Dafs die untere Nasenmuschel, obwohl sie selbst Geruchs- eindrücke nicht perzipieren kann, dennoch für das Zustandekommen von Geruchsempfindungen unumgänglich notwendig ist, indem sie den empfindenden Teilen den mit Riechstofi'en imprägnierten Luft- strom zuleitet, werden wir unten beweisen. Dafs der nervus olfadorms ausschliefslich der Sinnesnerv des Geruchs ist, lehrt das physiologische Experiment sowohl, als eine Anzahl pathologischer Beobachtungen an Menschen mit völliger Sicherheit. Durchschneiduug des Olfactorius bei Tieren hebt das Vermögen, Geruchseindrücke zu empfinden, ent- schieden auf-; Hunde, an welchen dieses Experiment angestellt wird, weisen Fleisch, welches ihnen in Papier gewickelt dargeboten wird, zurück. Durch den Umstand, dafs diese Tiere durch Reflexbe- wegungen auf die Einatmung von Ammoniakdämpfen antworteten, liefs sich Magendie^ verleiten, auch dem Trigeminus das Vermögen, Gerüche zur Wahrnehmung zu bringen, zuzuschreiben; der Irrtum, den er hierbei durch Verwechselung eines Gemeingefühles mit einer Geruchsempfindung beging, leuchtet von selbst ein. Ebenso haben zahlreiche pathologische Erfahrungen gelehrt, dafs angeborener Mangel, Zerstörung oder Lähmung des Olfactorius, z. B. durch Geschwülste, die auf ihn drücken, mit Verlust des Geruchssinnes konstant ver- 1 Vgl. BIDDEK, Art.: Riechen in R. WAGNERs Handwrtbch. d. PIiijs. Bd. U. p. 916. * Vgl. PreVOST, HENLE u. Meissner, Ber. üb. d. Fortschi-, d. Anat. u. Phijsiol. 1871. p. 351. 2 MAGENDIE, Precis elem, de physiologie. 4. iA. T. I. p. 160: Journ. de physiol. 1824. T. IV. p. 169. 214 HISTOLOGIE DES GERUCHSORGANS. § 94. buuden sind, aucli wenn der Tiigeminus vollkommen unversehrt und leistungsfähig ist.^ Die spezifische Leistung des Olfactorius kann den allgemeinen Prinzipien der Sinnesphysiologie gemäl's nur durch die Gegenwart besonderer peripherer und zentraler Eudapparate erklärt Averden. Wie der nächstfolgende Paragraph zeigen wird, haben die anatomischen Untersuchungen dieser physiologischen Forderung auch wirklich Gre- nüffe sreleistet. HISTOLOGIE DES GERUCHSORGANS. § 94. Mit dem Namen nervi olfactorn belegte man früher die beiden an der Basis des Gehirns zutage tretenden Streifen von Nervenmasse, welche vorn die mit dem Namen biilbi olfactorU versehenen Anschwellungen bilden. Die Struktur dieser Gebilde, insbesondere der Bulbi, die vergleichende Anatomie und Entwickelungsgeschichte lehren gleich überzeugend, dals diese Teile nicht mit den peripherischen Stämmen andrer Sinnesnerveu zu identifizieren sind, sondern als wahre Hirnteile betrachtet werden müssen. Als nervi 'olfactorii können daher nur die aus den Bulbis entspringenden, durch die lamina cribrosa in die Nasenhöhle übertretenden zarten Fäden bezeichnet werden. Die mikroskopische Untersuchung der letzteren ergibt, dafs dieselben von einer dünnen, durclisichtigen, zahlreiche Zellelemente einschliefsenden Binde- gewebshülle umschlossen werden, zwischen deren einwärts gerichteten äufserst zarten Fortsätzen die eigentlichen Olfactoriusfasern eingebettet sind, 3 bis 4 bis 6 bis 7 ,« breite'^, blasse, auf der Oberfläche schwach granuliert erscheinende Fasern, welche nach den ziemlich übereinstimmenden Beschreibungen der verschiedenen Autoren deutlich aus einer strukturlosen, oder fein längsstreifigen mit länglichen Kernen besetzten zarten Hüllenmembran und einem zähflüssigen, aus den Schnitt- flächen tropfenförmig hervorzupressenden Inhalt bestehen. Die Zweifel, welche über die nei'vöse Natur dieser Elemente einstmals laut geworden sind^, haben schon lange jede Berechtigung verloren. Durch M. ScHULTZEs* treffliche Untersuchung ist wohl für immer festgestellt worden, dafs die soeben geschilderten Röhren in Wirklichkeit nicht eine homogene Flüssigkeit, sondern eine Anzahl ungemein zarter, leicht vergänglicher Fäserchen von weniger als 1 ,« Durchmesser enthalten ; die Röhren stellen folglich mit Hüllen versehene sekundäre Nervenbündel, die feinen Fäserchen in ihnen mark- lose Achsencylinder (Achsenfibrillen) der feinsten Art dar, welche an der Peri- pherie frei heraus- und wahrscheinlich mit den gleich zu beschreibenden Epithel- bildungen auf der Oberfläche der Nasenschleimhaut in Verbindung treten. Die Gegend der Nasenschleimhaut, welche vom Olfactorius versorgt wird, die eigentliche Riech Schleimhaut der Autoren, weicht in mehrfacher Beziehung von den übrigen nur mit Tastsinn begabten Schleimhauti^artien der Nasenhöhle ab, zunächst schon durch ihre selbst mit unbewaffnetem Auge erkennbare gelbliche Färbung, sodann aber auch durch die histologische Beschaffenheit der ihr aufsitzenden epithelialen Elemente. Im allgemeinen ' LONGET, Anat. ti. Physiol. d. Nervensystems, übersetzt von HEIN. Leipzig 1849. Bd. II. p. 29. 2 Vgl. KOELLIKER, Eandh. d. Gewehelehre. 5. Auti. 1867. p. 747. * Seeberg, Disquis. microscop. de text. memhr. pifiiit. nasi. Diss. inaug. Dorpat 1856. — Ekichsen, De fexturu nerv, olfact. ejusque rumor. Diss. iuaug. Dorpat 1857. * M. Schultze, über d. Endigungsweise d. Geruchsnerven u. die Epithelialgebilde d. Nasen- schleimhaut, Mitth. von J. MUELLBR, ilonatsher. d. Berl. Akad. 1856. p. 504, u. Abhdl. d. natur- forsch. Ges. m Hcdle. 1862. Bd. VII. §94. HISTOLOGIE DES GERUCHSORGANS. 215 gleichen letztere zwar immer noch bezüglich der äufseren Gestalt dem flimmernden Cylinderepithel ihrer nächsten Umgebungen, zeichnen sich jedoch vor demselben durch ihre auffallende Länge, namentlich aber durch den zuerst von Eckhard und von Ecker unabhängig voneinander entdeckten Umstand aus, dafs zwischen ihnen eigentümlich gebaute, dem übrigen Epithel der ScHNEiDERSchen Haut fehlende Zellformen eingebettet liegen. Ferner zeigt die Epitheldecke der Riechschleimhaut im Gegensatz zu der Schleimhaut der Nachbarregionen bei verschiedenen Tieren ein schwankendes Verhalten bezüglich des Wimi^erbesatzes ihrer Zellen. Während cilientragendes Epithel sonst in der Nasenhöhle aller Tierklassen vorkommt, ermangelt die regio olfactoria bald eines solchen gänzlich, Avie bei den Säugetieren und den Menschen, bald sind ihre cellulären Elemente damit sämtlich oder wenigstens teilweise bekleidet, wie bei Vögeln, Amj^hibien imd Fischen (Plagiostomen).^ Endlich verdient noch erwähnt zu werden, dafs die Becherzellen (vgl. Bd. I. p. 251) der regio olfactoria völlig fehlen, zwischen dem übrigen Flimmerepithel dagegen reichlich eingestreut liegen. Der Schlufs, zu welchem die erwähnten histologischen Befunde führen, dafs die abweichende Beschaffenheit des Epithels oberhalb der die Olfactoriusverästelung bergenden Schleimhautpartien auf eine Beziehung desselben zur Geruchsperception hin- deute, und dafs diese Beziehung wahrscheinlich durch eine direkte Verbindung der Olfactoriusfasern mit den Epithelzellen vermittelt w^erde, ist wohl von allen Forschern gezogen wordeli, welche sich mit der hier berührten Frage beschäftigt haben. Als der erste, welcher die Natur der vermuteten Verbindung genauer festzustellen unternahm, ist jedoch M. Schultze zu nennen, nach dessen Auf- fassung nicht das gesamte Riechepithel, sondern nur eine der von Eckharu und Ecker in demselben entdeckten Zellformen als Endapparat des Olfactorius auf- zufassen ist, die andre dagegen nur eine mechanische Rolle zu erfüllen hat und lediglich zur Stützung der ersteren, physiologisch wichtigeren Zellart dient. Hieraus ergibt sich ihm dann vollkommen naturgemäfs die Scheidung des Riechepithels in Riech- und Stützzellen. Um die wesentlichen Merkmale dieser zarten, leicht zerstörbaren Gebilde kennen zu lernen, bedient man sich am be- quemsten des Frosches als Untersuchungsobjekt, dessen abgeschnittener Kopf nach Eröffnung der äufseren Nasenapertur auf Vs Stunde in V^prozentige Uber- osmiumsäure gebracht und darauf 24 Stunden und mehr in Wasser macei-iert wird. Leicht erhält man dann durch sanftes Abschaben der Nasenhöhlen- schleimhaut mittels einer Präpariernadel Epithelfetzen, deren weitere Zerlegung auf dem Objektträger den gewünschten Einblick verschafft. Auf dem gleichen mechanischen Wege kann man sich auch Isolationspräparate von dem frischen Riechepithel ohne vorangegangene Erhärtung verschaffen. Dieselben dürfen indessen nicht etwa in Wasser, welches sowohl Riech- als auch Stützzellen stark aufquellen macht und namentlich die bei vielen Tieren auf beiden Form- elementen vorhandenen Wimperhärchen sofort zerstört, auf den Objektträger des Mikroskops gebracht werden, sondern sind in indifferenten Flüssigkeiten (hiimor aqiieus) zu untersuchen. Was zunächst die Stützzellen M. Schültzes angeht, so erscheinen dieselben zu einem kleinen Teile als Gebilde von im ganzen kegelförmiger Gestalt, deren peripheres der Nasenhöhle zugewandtes Ende von einem deutlich entwickelten Kutikularsaum mit reichlichem Flimmerbesatz überzogen ist, deren kurzer Zellleib (Fig. 93 ah c) einen kernkörperhaltigen Kern einschliefst und unterhalb des letzteren in einen bandförmigen, mit un- regelmäfsigen Anschwellungen und vielfachen seitlichen Fortsätzen versehenen, den Zellkörper erheblich an Länge übertreffenden Fufs ausläuft. In dem bei weitem gröfsten Teile der Stützzellen (Fig. 93 fZrfr?) zeigt jedoch der eigentliche Zellleib eine stärkere Ausbildung auf Kosten des Fufses ; der kernkörperhaltige ' Vgl. BOWMAN, TODD-BOWMAN, Ciiclop. of anat. and physiol. New edit. Vol. II. — KOELLIKER, Hundb. d. Gewebelehre. 1867. 5. Aufl. p. 746. — ECKHARDT, Beitr. z. Anut. u. Phxjsiol. Giefsen 1855. Bd. I. p. 79. — ECKER, Ber. üb. d. Verhdl. d. Ges. f. Beförd. d. Nuturwln^i. zu Freiburp i/Br. 1855. Bd. I. p. 199; Ztschr. f. wiss. Zool. 1856. Bd. VIII. p. 303. — M. SCHULTZE, a. a. O. 21(3 HISTOLOGIE DES GERUCHSORGANS. §94. Kern, ^vok•lu'r sich auch hier dicht über der Abgangsstelle des Fnfses befindetr liegt demnach weiter von der freien Oberfläche entfernt als bei der vorhin be- schriebenen Zellform, der Zellleib erscheint nicht nach allen Richtungen hin gleichmäfsig entwickelt, sondern von den Seiten zusammengedrückt, also band- förmig, und besitzt an seinem vordem Ende unterhalb der langen zarten, von ihm abgehenden Cilien keinen Kutikularsaum. Beide Arten von Wimperzellen können in dem Protoplasma ihres Fufses sowohl als in ihrem eigentlichen Körper gelbliche Pigmentkörnchen enthalten, deren Anwesenheit die vorhin erwähnte gelbliche Färbung der Riechschleimhaut bedingt. Zwischen diesen Stützzellen liegt die zweite Kategorie von Zellen, trifft man die Riech z eilen M. Schultzes (Fig. 93 e), deren spindelförmiger Körper aus einem spärlichen, eben gerade zur Umhüllung des ovalen kernkörperlialtigeii Kerns ausreichenden Protoplasma besteht und sich an seinen zwei, diametral gegenüberliegenden Polen in zwei zarte Fortsätze aus- ^'" • ^■^• zieht. Der eine dieser Fort- sätze ist von unmefsbarer Feinheitjhäufigmit kleinen Anschwellungen(Varikosi- täten) versehen und läuft, ohne sich jemals zu teilen, nach abwärts zur binde- gewebigen Grundlage der Schleimhaut; der andere dickere und glänzendere strebt dagegen aufwärts zur freien Schleimhaut- oberfläche, wo er auf gleichem Niveau mit den Basen • der Stützzellen endigt und auf seinem freienEnde einen Kranz zarter Flimmerhärchen er- kennen läfst, welche aller- dings feiner, leichter zerstörbar und länger als diejenigen der aufserhalb der Riechschleimhaut befindlichen Flimmerzellen sind, sich aber von denjenigen der Stützzellen durch keine besondern Merkmale unterscheiden. Einen ähnlichen, aus einzelnen oder mehreren Cilien zusammengesetzten Überzug zeigen nach M. ScHULTZE die peripheren Enden der Riechzellen auch bei andern Amphibien und vielen Vögeln, während bei Fischen, Säugetieren und Menschen am gleichen Orte nur sehr kurze stäbchenartige Aufsätze vorkommen, von denen noch zweifelhaft ist, ob sie nicht vielleicht durch die Einwirkung der als Mazei'ations- mittel benutzten 0,057o Chromsäure künstlich erzeugt worden sind. Garnicht selten trifft man auch isolierte Zellen an, welche neben dem Kerne des Zell- körpers noch einen zweiten, ähnlich gestalteten in ihrem Fufsfortsatze ein- schliefsen (Fig. 93«). Die eben besprochene, übrigens von allen Beobachtern gesehene Zellform nun ist es, in welcher M. Schultze die Endapparate des Olfactorius erblickt, deren obere der Nasenhöhle zugewandte Fortsätze die durch den Riechstoff angreif- baren Perzeptionsmechanismen vorstellen, deren untere der Schleimhaut auf- sitzende als die Endfasern des Olfactorius selbst betrachtet werden sollen, eine Anschauung, welche freilich erst dann den Stempel der Hypothese verlieren wird, wenn es gelungen sein wird, den unmittelbaren Zusammenhang der zen- tralen Riechzellenenden mit den ihnen äufserlich völlig gleichenden Achsen- fibrillen des Olfactorius in unzweideutiger Weise zu demonstrieren. Bisher ist jedoch dieser Aufforderung nicht genügt, sondern einzig und allein aus der Identität des Aussehens beider Fasergattungen ihre innere Beziehung erschlossen §94 HISTOLOGIE DES GERUCHSOEGANS. 217 worden, uiicl somit die Möglichkeit von Kontroversen gegeben, deren Tendenz im allgemeinen dahin geht, sämtlichen Epithelzellen der Riechschleimhaut die gleiche physiologische Bedeutung zu vindizieren und den von M. Schdltze statuierten Unterschied zwischen Stütz- und Eiechzellen zu verneinen. Bereits die ersten Untersucher der Riechschleimhaut, Eckhard und Ecker, hatten einen Zusammenhang zwischen Olfactoriusfasern und Epithelzellen vermutet. Während Eckhard aber schwankte, welche der beiden auch von ihm wahrgenommenen Zellformen des Riechepithels die fragliche Verbindung einginge, glaubte Ecker, dafs die Riechnervenfasern an die Füfse der von M. Schultze späterhin als Stützzellen bezeichneten Elemente heranträten, während die schmäleren Zell- formen, die nachmaligen Riechzellen M. Schultzes, die Bedeutung von jungem Nachwuchs, von Ersatzzellen, hätten. In ganz ähnlicher Weise haben sich auch HoYER und Clarke ^ geäufsert vmd die verschiedenen Formen des Riech- epithels als Entwickelungsstufen physiologisch und histologisch gleichartiger Elemente darzustellen versucht. Indessen fanden weder Eckhards noch Eckers Mutmafsungen den Deduktionen M. Schultzes gegenüber viel Beachtung. Denn einmal erhielt der anatomische Begriff des Sinnesepithels, welchen M. Schultze einführte, auf andern Sinnesgebieten die glänzendste Bestätigung, — wir erinnern hier nur an die uns schon bekannten Geschmacksknospen — anderseits schienen die ungemein verfeinerten Untersuchungsmethoden, deren Ausarbeitung sich zu einem grofsen Teile an seinen Namen knüpfen, imd die Eleganz der Präparate, welche mit ihrer Hilfe gewonnen wurden, ein ungemein sicheres Fundament für die von ihm aufgestellten histologischen Prinzipien zu gewähren. Erst nach Ablauf eines ziemlich beträchtlichen Zeitraumes wurde auch an der Hand M. ScHULTZEscher Isolationsmethoden von S. Exner ^ ein Versuch gemacht, die älteren Anschauungen Eckhards und Eckers zu rehabilitieren, und zwar auf Grund von Beobachtungen, welche ihm darauf hinzudeuten schienen, dafs die beiden von M. Schultze so scharf getrennten Typen des Riechepithels durch zahlreiche Übergangsformen untereinander verbunden wären. Den Zusammenhang des Riechepithels mit den Olfactorius- fasern, welchen Ecker für möglich hielt, glaubt Exxer dagegen wirklich einige Male gesehen zu haben, und zwar sollen nach ihm die oben beschriebenen von den Seiten der Stützzellenfüfse abgehenden Protoplasmafortsätze unterein- ander zu einem der Schleimhaut aufliegenden, mit rundlichen Kernen und Pigmentkörnchen versehenen Reticulum verschmelzen, auf dessen Balken sich einerseits die Stütz- und Riechzellen, kurz das ganze Riechepithel, erhebt, und in welches sich anderseits die ganze Fasermasse des Olfactorius in kontinuier- lichem Zusammenhange einsenkt. Eine Schlichtung dieser Kontroverse ist zur Zeit unmöglich. Das Reticulum Exxers einfach zu leugnen, wie es v. Bruxx ^ ge- than hat, geht nicht an, und ebensowenig ist die Existenz der ExxERschen Übergangsformen zwischen Riech- und Stützzellen (vgl. Fig. 93 a — e) kurzweg in Abrede zu stellen, oder aber, weil vielleicht nicht an allen Stellen der Riech- schleimhaut nachweislich (Paschutix ■*), unbeachtet zu lassen. Die Entscheidung kann erst dann erfolgen, wenn die immer noch zweifelhafte Natur der zwischen Riechepithel und Olfactorius vorausgesetzten Verbindung thatsächlich ermittelt sein wird. Über die membrana tectoria v. Brüxn^'s, welche das Riechepithel nach der Nasenhöhle zu bedecken und nur freie Offnungen für die peripheren Aus- läufer der Riechzellen besitzen soll, enthalten wir uns jedes Urteils. Nur eines läfst sich mit Bestimmtheit sagen, dafs eine solche Haut auf dem überall ' HOYER, Arck f. Amil. u. Phtjsiol. 1S60. p. 50. — LOCKHART CLARKE, Ztschr. f. ti'iss. Zool. 1862. Bd. XI. p. .31. 2 S. EXXER, Wiener Stzher. Math.-natw. CI. 1870. II. Abth. Bd. LXITI. p. 44, u. 1872. III. Abth. Bd. LXV. p. 7. — Vgl. auch W. KRAUSE, Handb. d. menschl. Anat. 3. Aufl. 1876. Bd. I. p. 176. 3 V. Bruxx, Arch. f. mi'krosk. Anat. 1875. Bd. XI. p. 46S. ^ PASCHUTIN, Arh. a. d. physiol. Anstalt zu Leipziij. Jahrg'. 1873. p. 41. 218 BEDINGUNGEN DES GERUCHS. § 95. Cilien tragenden Riechepifchel des Frosches nicht vorhanden ist. Die übrigen Eigentümlichkeiten der Eiechschleirahaut, ihr Reichtum an Drüsen, sind vorläufisr für die Lehre vom Geruchssinn ohne Interesse § 95. Die Geruclisempfindungen. Wie bei den Geschmacks- empfindungen müssen wir uns auch hier darauf beschränken, einige Bedingungen, welche für das Zustandekommen einer Geruchsem- pfindung notwendig sind, und die Umstände, von welchen die Inten- sität der Geruchsempfinduug abhängig ist, zu erläutern; die Natur des erregenden Reizes, der physische Prozefs seiner Einwirkung und das Wesen des Resultates dieser Einwirkung, des Nervenprozesses vom peripherischen Perceptionsende bis zu dem zentralen Empfindungs- apparat der Olfactoriusfasern sind jeder physiologischen Erörterung noch unzugänglich. Die tägliche Erfahrung lehrt, dafs Gerüche dann wahrgenommen werden, wenn die betreffenden Riechstoffe mit der atmo.sphärischen Luft durch die Nasenhöhle bewegt werden, um so intensiver, mit je gröfserer Kraft der Luftstrom in die Nase eingezogen wird, wie dies daher bei dem intendierten Riechen, dem Schnopern, Spüren, geschieht. Wollen wir in einer mit Riechstoffen imprägnierten At- mosphäre keine Geruchsempfindung erhalten, so genügt es bekanntlich, dafs wir, ohne den Zugang der Nasenhöhle zu schliefsen, blofs durch die Mundhöhle inspirieren. Diese Thatsachen führen uns auf zwei wesentliche Bedingungen der Geruchsempfindung. Unter gewöhn- lichen Verhältnissen können mit dem inspirierten Luftstrom nur solche Stoffe zur Nasenschleimhaut gelangen, welche entweder ursprünglich gasförmig sind oder sich verflüchtigen. Hieraus allein läfst sich aber noch nicht schliefsen, dafs die Qualität des Riechbaren überhaupt nur gasförmigen und flüchtigen Substanzen zukomme, da mög- licherweise feste oder tropfbarflüssige nichtflüchtige Stoffe nur darum nicht gerochen werden, weil sie nicht mit der Riechschleim- haut in Berührung kommen. Das Experiment löst diesen Zweifel: kein einziger nichtflüchtiger Körper ist unter irgend einer Bedingung imstande die Geruchsnerven zu erregen; anderseits sind aber nicht alle flüchtigen Köi-^^er riechbar. Die fernere Frage, ob flüchtige riechbare Körper nur dann Geruchsempfindungen auslösen, wenn sie in Gasform, oder auch dann, wenn sie in gelöstem Zustande in die Nasenhöhle ^elan^en, ist früher sehr allgemein dahin beantwortet worden, dafs der gasförmige Aggregatzustand em notwendiges Er- fordernis für die Riechbarkeit einer Substanz bilde. Jetzt scheint im Gegenteil auf Grund von Versuchen, auf deren Unerläfslichkeit wir bereits früher^ hingewiesen und von deren Ausführung wir die » Dieses Lehrbuch. 6. Aufl. 1879. Bd. II. p. 89. § 95. BEDINGUNGEN DES GERUCHS. 219 endliche Entsclieidung abhäDgig gemnclit hatten, angenommen M-erden zu dürfen, dafs riechbare Substanzen auch in gelöstem Zustande die Endigungen der E-iechnerven zu erregen imstande sind.^ Was die Anstellung der Eiechversuche mit Lösungen anbetrifft, so ist natür- lich nicht daran zu denken, die Eiechschleimhaut etwa nur mit der Lösung eines Eiechstoffs anfeuchten zu wollen, weil in diesem Falle der letztere zugleich in die daneben befindliche Luft übergehen, mithin die Schleimhaut noch in Gasform berühren könnte. Es mufs vielmehr die Nasenhöhle oder wenigstens der mit Geruchssinn begabte obere Teil derselben von der Eiechstofflösiuig gänzlich aus- gefüllt werden, mit Ausschlufs aller Luft. Dies geschieht auf eine von E. H. Weber- angegebene Weise sehr leicht: legt man sich horizontal axif den Rücken imd beugt den Koj)f so nach hinten, dafs die Nasenlöcher nach aufwärts gerichtet sind, so kann mau die Nasenhöhle vollständig mit Flüssigkeit anfüllen, indem der Abflufs der letzteren in den Eachen durch dieselbe Bewegung und Ein- stellung des weichen Gaumens, welche beim Schlucken das Aufsteigen von Speisen und Getränken in die Nasenhöhle verhütet (Bd. I. pag. 204), verhindert ■wird. In den von Weber selbst ausgeführten Versuchen diente als Füllflüssig- keit Eau de Cologne haltiges (Vii Vol.-Proz.) Wasser. Während diese Lösung vor die Nase gehalten intensiv roch, erweckte dieselbe beim allmählichen Ein- giefsen in die Nasenhöhle nur in den ersten Momenten eine Geruchsempfindung, dagegen nicht die geringste Spur davon, sobald eine vollständige Füllung der Nasenhöhle erreicht war. In der beschriebenen Form ist der Versuch jedoch nicht fehlerfrei und daher auch nicht geeignet, die Möglichkeit einer Erregung der Olfactoriusenden durch gelöste Eiechstoffe auszuschliefsen. Denn es ist dabei die schädliche Wirkung, welche das Wasser auf das Epithel der Eiechschleim- haut (s. o. p. 215) ausübt, unberücksichtigt geblieben. Und wenn wir auch keineswegs wissen, welche physiologische Eolle den Elementen des Eiechepithels zuerteilt worden ist, so haben wir doch volles Eecht iu ihnen diejenigen Appa- rate zu vermuten, welche ii-gendwie durch den äufseren Sinnesreiz zunächst affiziert werden und diese Affektion in irgend welcher Weise zu einem Nerven- reiz verarbeitet den entweder mit ihnen allen oder doch mit einem Teil von ihnen in Beziehung stehenden Olfactoriusfasern übertragen, und müssen ferner jenem die Beschaffenheit des Lösungsmittels treffenden Einwurfe um so mehr Beachtung schenken, als Webers eigne Erfahrungen uns darüber belehrt haben, dafs reines Wasser, auf die vorhin beschriebene Weise mit der Eiechschleim- haut in Berührung gebracht, das Eiechvermögen für mehrere Minuten gänzlich aufhebt. Einwandfreie Versuche lassen sich also nur anstellen, wenn man anstatt des Wassers indifferente, die Nervenendapparate voraussichtlich nicht schädigende Flüssigkeiten, z. B. Blutserum oder 0,6 — 0, 7j)rozentige Koch- salzlösung, wählt, und Versuche der Art haben denn auch zu dem mit der Weber- schen Schlufsfolgerung in Widerspruch stehenden Eesultat geführt^, dafs Eau de Cologne auch in gelöstem Zustande riechbar bleibt. Eine neue für das Zustandekommen einer Riechempfindung wichtige Bedingung, welche hier näher geprüft werden mufs, findet sich in der Bewegung des mit Riechstoflen erfüllten Mediums ge- geben. Es ist Thatsache, dafs eine völlig ruhende Luftschicht, selbst wenn sie mit intensiv wii'kenden Geruchserregern imprägniert ist, in der Xasenhühle nur eine äufserst schwache oder selbst gar keine Empfindung erzeugt, augenblicklich aber, wenn wir einen Strom derselben mittels der Inspirationsbewegungen diu'ch die Nase treiben. > AroXSOHX, Ärch. f. Ph'isiol. 188-1. p. 163. 2 E. H. Weber, Arch. /. Anat. u. Physiol. 1S4". p. 342. 2 ARONSOHX, a. a. O. 220 BEDINGUNGEN DES GERUCHS. § 95. Je schneller die Bewegung dieses Stromes, desto intensiver wird die Geruchsempfindung; es hängt die Intensität der Empfindung aber auch wesentlich von der Richtung, welche dem Luftstrome gegeben wird, ab. Für die Unwirksamkeit ruhender Riechluft haben wir schon die tägliche Erfahrung angeführt. Bringt man eine stark riechende Substanz, z. B. Kampfer, bei angehaltenem Atem in die Nasenhöhle selbst, so entsteht allerdings eine schwache Geruchs- empfindung, wahrscheinlich aber nur deshalb, weil durch die starke Ver- dunstung dieses Stoffes selbst eine schwache Luftströmung hervor- gebracht wird. Lassen wir, ohne durch die Nase zu inspirieren, Ammoniakdämpfe in die Nasenhöhle aufsteigen, so entstehen zwar durch Erregung der Trigeminusenden Gemeingefühlsenipfindungen und die damit verbundenen Reflexerscheinungen der Thränensekretion, allein keine Geruchsempfindung, welche indessen augenblicklich beim Einziehen der Dämpfe eintritt. Auf Avelche AVeise die Bewegung des bei der Inspiration eingezogenen, mit Riechstoffen beladenen Luftstromes zur Entwickelung der Geruchsempfindung beiträgt, ist noch keineswegs so vollständig klar, als auf den ersten Blick scheinen möchte. Erstes Erfordernis ist natürlich, dafs sie den Luftstrom wirklich zur regio oJfactoria emportreibt, und diese Bedingung ist, wie direkte Versuche au Leichenköpfen gelehrt haben ^, wirklich erfüllt. Dafs hiermit aber noch nicht jeglichem Bedürfnis Genüge geschehen ist, zeigt die interessante Beobachtung Bidders ^, nach dessen Angabe keine oder nur sehr schwache Geruchsempfindungen entstehen, wenn man mittels eines in die Nase eingeführten Röhrchens die riechbare Luft direkt gegen die Riechschleimhaut blälst. Es mufs demnach die natürliche, durch verstärkte Inspiration eingeleitete Bewegung des Stromes noch eine andre Eigentümlichkeit haben, welche bedingend für die Geruchsempfindung ist, und zwar weisen einige Thatsachen darauf hin, dafs die untere Nasenmuschel hierbei eine wichtige Rolle spielt. Fehlt die untere Nasenmuschel, so ist auch das Riechvermögen beträchtlich abgestumj)ft oder fehlt gänzlich. Freilich ist mit der Aufdeckung dieser auffälligen Umstände wenig gewonnen und nur ein neues Rätsel geschaffen. Denn die Richtigkeit der Beobachtung vorausgesetzt und die Konkurrenz andrer Defekte als ausgeschlossen angenommen, kennen wir die Gründe nicht, woher die untere Nasenmuschel, sei es den Zutritt der Riechstoffe zu der eigentlichen Riechschleimhaut zu fördern, sei es die Reizbarkeit der aufserhalb ihrer Bereiche gelegenen Olfactoriusenden zu steigern vermöchte. Zwar haben einige gemeint, dafs sie ihrer örtlichen Lage wegen nach Art eines Wehres den Strom der Inspirationsluft ab- und der oberen Muschel zulenken » PAULSEN, Wiener Stzber. 1882. UI. Abth. Bil. LXXXV. p. 348. ' BIDDEK, a. a. O. § 95. . BEDINGUNGEN DES GERUCHS. 221 müsse. Thatsächlich. hat sich aher herausgestellt, dafs der Haupt- strom der durch die Inspiration eingezogenen Luft längs der Nasen- scheidewand aufwärts steigt und von hier in ahwärts gekrümmtem Bogen bei fast yölliger Vermeidung der eigentlichen Nasengäuge Tind also auch der Muscheln nach den Choanen zieht. ^ Wenn ferner von andrer Seite ^ vermutet worden ist, dafs die feine Ver- teilung der riechbaren Luft in kleine Einzelströmchen, wie sie vielleicht durch die zahlreichen Schleimhautfältchen der unteren Muschel bedingt sein könnte, eine vielseitigere Überflutung der oberen Muschel zur Folge haben möchte, so leuchtet hieraus weder ein bestimmter Vorteil für den Geruchssinn hervor, noch ist wahr- scheinlich, dafs die mannigfache Faltenbildung der Schleimhaut der unteren Muschel einen andren Zweck habe, als die mit Tastsinn begabte Oberfläche zu vergröfsern. Eine dritte Ansicht ^ endlich geht dahin, dafs die untere Muschel hauptsächlich durch Einengung des Nasengangs wirke, wodurch die eingezogene Luft unter einen gewissen die Absorption der Riechstoffe befördernden Druck gesetzt würde. Auch dies ist natürlich nur eine Hypothese, der Einflufs des Druckes auf die Intensität der Geruchsempfindung noch nicht direkt erwiesen. Schlagen die Eiechstoffe den umgekehrten Weg durch die Nasenhöhle ein, werden sie mit der Luft exspiriert, so erregen sie weit weniger intensive Empfindungen als auf dem normalen Inspirationswege. Die Thatsache ist leicht zu bestätigen. Personen mit übelriechendem Atem empfinden den Geruch desselben meist gar nicht. Tabaksrauch durch die Nase herausgeblasen erregt zwar heftige Tastempfindungen, Stechen und Kitzel, aber weit schwächere Geruchsempfindung als beim Einziehen in die Nase. Bidder fand, dafs Kampfer, in die Mundhöhle gebracht, nur sehr schwachen Geruch beim Ausstofsen der Luft durch die Nase erregt. Die Ursache hiervon ist schwierig zu bezeichnen, da der Exspirationstrom keinen andren Weg nach Paulsens Beobachtungen einschlägt als der Inspirationstrom, und Hypothesen darüber aufzustellen nicht ratsam. Um so gröfseres Gewicht glauben wir dagegen auf das von Paulsen eingeführte Versuchsverfahren zu legen, von dessen Anwendung jedenfalls bündigere Aufschlüsse zu erwarten sind als von der blofsen Betrachtung der topographisch-anatomischen Verhältnisse. Paulsen stellte seine Versuche an abgeschnittenen in Alkohol aufbewahrt gewesenen Menschenköpfen an, nachdem die Nasenhöhlen derselben zuvor durch Ausspülen mit Wasser sorgfältig gereinigt worden waren. Die Schädel wurden in der Sagittal- •ebene mit Schonung der Nasenscheidewand, des Pharynxansatzes und der ganzen Mundschleimhaut bis zum harten Gaumen durchgesägt, die beiden Kopf hälften so- dann auseinandergebogen und die nunmehr frei zu übersehende eine Nasenhöhle mit kleinen Schnitzeln roten Lackmuspapiers austapeziert. Hierauf wurden die Schnittflächen wieder gegeneinander geprefst, alle äufseren Verletzungen sorg- fältig vernäht oder verklebt und nach Erledigung dieser umständlichen Präpa- rationen von der Trachea aus durch eine einmalige Blasebalgbewegung ein mit Ammoniakdämpfen beladener Luftstrom durch die Nasenhöhle hindurchgezogen. Das Ende jedes Versuches bildete eine kräftige Ventilation mittels reiner Luft, ein Kunstgriff', durch welchen man hoffen durfte, jede Spur rückständigen Ammoniaks aus dem Nasenraume zu entfernen. Bog man die beiden Schädelhälften jetzt » PAULSEN, a. a. o. 2 Bidder, a. a. o. 3 Ludwig, Lehrb. d. Fhysiol. 2. Aufl. Bd. I. p. 3S6. 222 DIE GERÜCHSEMPFINDUNGEN. . § 95. von neuem auseinander, so gestattete die vorl;andene oder fehlende Bläuung des ßeagenspajiiers den von der animoniaklialtigen Luft eingeschlagenen be- ziehungsweise gemiedenen Weg al)zulesen. Eine Kritik dieses experimentellen Verfahrens wäre zur Zeit verfrüht. Man wird indessen nicht umhin können zu prüfen, ob und inwieweit die veränderten Schwellungszustände der in Alkohol erhärteten Schleimhäute geeignet sind von der Norm abweichende Luftbewegungen zu vermitteln. Einen letzten Grund, weswegen Bewegung der Kiechluft für das Zustande- kommen von Geruchsempfindungen überhaupt unerlälslich ist, könnte man endlich in der histologischen Wahrnehmung suchen wollen, dafs an der freien Oberfläche des Riechepithels häufig Gebilde angebracht sind, deren Bestimmung, durch Luftströmungen in Bewegung versetzt zu werden, auf der Hand zu liegen scheint. Die langen zarten Wimpern von den Riech- und Stützzellen des Frosches, die langen Einzelborsten, welche nach M. Schultze auf den Riech- zellen der Vögel vorkommen, machen ganz den Eindruck, als ob sie dazu da wären, durch die eingeatmete Luft in Schwingung versetzt zu werden. Indessen erkennt man bei genauerer Erwägung bald, dafs auf diesem Wege eine Klärung unsrer Anschauungen kaum erfolgen kann. Denn abgesehen davon, dafs bei einer grofsen Anzahl von Tiergattungen die Wimpern auf sämtlichen Elementen des Riechepithels fehlen, würde aufserdem völlig unbegreiflich sein, wie eine mechanische Bewegung dieser Gebilde, welche noch dazu auch durch einen riechstofffreien Luftstrom bewdrkt werden würde, die Erregung der Geruchs- nerven in ihren verschiedenen Qualitäten hervorbringen sollte. Die Intensität der Geruchsempfinduug ist bei verschiedenen rieclibaren Stoffen aulserordentlich verscliieden, variiert aber auch bei demselben Stoff sehr beträchtlich unter verschiedenen Verhältnissen. In ersterer Beziehung können wir nur in beschränkter Weise Vergleiche anstellen ; es ist oft unmöglich zu entscheiden, w^elcher von zwei quali- tativ verschiedenen, nacheinander das Geruchsorgan affizierenden Ge- rüchen intensiver ist. Ein ungefähres Mafs der Wirkungsintensität verschiedener Geruchserreger erhalten wir, wenn wir bestimmen, wie klein die Menge der in der Nasenluft verteilten Riechsubstanz gemacht werden kann, ohne dafs sie aufhört Geruchsempfindungen zu erregen. Doch können auch diese Bestimmungen begreiflicherweise nur unge- fähre sein. Valextin' hat ausführliche Versuchsreihen in diesem Sinne mit ver- schiedenen Substanzen angestellt. Er fand z. B., dafs Luft, welche in 1 com Vsooou mg Brom enthielt, doch noch deutlich beim Einatmen danach roch ; nimmt man an , dafs bis zur Entstehung des Geruchs 50 ccm durch die Nase inspiriert waren, so hatte also etwa ^/eoo mg Brom auf die Riechschleimhaut eingewirkt; wahrscheinlich sind indessen noch geringere Mengen hinreichend, die Geruchsnerven zu erregen. Versuche mit Phosphor- wasserstoff ergaben, dafs unter den gleichen Voraussetzungen wie vorher noch nicht voll Vso mg dieses Stoffes aussreicht, deutlichen Knoblauchgeruch zu erzeugen, und von Schwefelwasserstoff, namentlich aber von ätherischen Ölen, Rosenöl, Pfefferminzöl, Nelkenöl genügten schon weit geringere Mengen. Unendlich klein ist das zur Geruchserregung erforderliche Minimum von Moschus; Valentin fand, dafs 45 mg einer Flüssigkeit, welche nur 7*3500 mg eines Weingeistextraktes von Moschus enthielten, noch einen deutlichen Geruch erweckten; er nimmt die Grenze der Wahrnehmung an, wenn dem Geruchsorgan weniger als Va'jooooo mg jenes Moschusextraktes 1 VALENTIN, Lehrb. d. Physiol. 2. Aufl. Bd. II. p. 279. § 95. DIE GERUCHSEMPFINDUNGEN. 223 dargeboten wird. Diese Zahlen dienen wenigstens dazu, die grofse Empfind- lichkeit der in Rede stehenden Sinnesorgane für gewisse Erreger zu beweisen. Worauf diese Verschiedenheiten beruhen mögen, liegt ganz aufserhalb des Be- reichs der Vermutung. Die Geruchsintensität einer und derselben Riechsubstanz kann durch sehr verschiedene Momente verstärkt und geschwächt werden. Bis zu einer gewissen Grrenze wächst die Intensität der Empfindung, wie die tägliche Erfahrung lehrt, mit der Menge des der Nase zu- geführteo Stoffes; es ist daher von selbst verständlich, dafs alle Ur- sachen, welche diese Zufuhr vermehren, ceferis parihus den Geruch verstärken, und umgekehrt. Erwärmen der Riechstoffe, welches die Verflüchtigung befördert, wirkt daher in demselben Sinne, wie ver- stärkte Inspiration, Kälte beschränkt die Geruchsiutensität, innige Berührung der Riechstoffe mit porösen Körpern, Tierkohle z. B., welche bekanntlich grofses Absorptionsvermögen für dieselben be- sitzen, hebt oft die Riechbarkeit einer Substanz gänzlich auf. Die Dauer der Einwirkung eines Riechstofi'es auf die Schleimhaut ist ebenfalls von Einflufs auf die Empfindungsintensität, und zwar in der Weise, dafs letztere anfangs mit der Einwirkungsdauer wächst, später aber abnimmt; es ist bekannt, dafs die Geruchsempfindung, die beim Eintritt in einen mit Riechstoff geschwängerten Raum sehr intensiv sich entwickelt, bald gänzlich vergeht. Die Schnellig- keit, mit welcher diese Ermüdungsabstufung eintritt, ist für ver- schiedene Riechstofi'e verschieden. Dafs die Intensität der Em- pfindung auch von dem Zustande der Geruch sorgane selbst abhängt, leuchtet von selbst ein. Verschiedene Erregbarkeitsgrade der Geruchsnerven müssen wir schon der Analogie wegen voraus- setzen, es sprechen aber auch Beobachtungen dafür; von genauen Bestimmungen des Erregbarkeitsgrades kann begreiflicherweise keine Rede sein. Krankhafte Zustände der Schleimhaut beeinträchtigen den Geruchssinn, indem sie die Einwirkung der Riechstofi'e auf die Nervenenden hemmen; es wirkt in diesem Sinne ebensowohl krank- haft gesteigerte Sekretion (Exsudation) der Nasenschleimhaut, als krankhaft verminderte Sekretion, Trockenheit der Nase. Bei ver- schiedenen Personen ist bekanntlich die Empfindlichkeit des Geruchs- organes, die Feinheit des Geruchssinnes aufserordentlich verschieden, ohne dafs sich nachweisen läfst, in welchen Umständen die Differenzen begründet sind. Über die Dauer der Geruchsempfindungen im Verhältnis zur Dauer des Reizes läfst sich bei unsrer völKgen Unkenntnis vom Wesen des letzteren noch weit weniger etwas Genaues sagen, als über die Dauer der Geschmacksempfindungen. Ebenso fehlen uns Aufschlüsse über das Wesen und die Ursachen der sogenannten subjektiven, d. h. ohne nachweisbar auf die Nasenschleimhaut wirkende Riechstoffe entstehenden Geruchsempfindungen. Sicher sind auch diese in der Mehrzahl der Fälle objektiv in demselben Sinne, 224 GEHÖRSSINN. § 96. als wir dies für die subjektiven Geschmacksempfiridungen erörtert haben. Es läfst sich aber auch die Möglichkeit nicht leugnen, dafs gewisse Zustände in dem zentralen Enda])parat des Olfactorius den- selben physischen Vorgang erzeugen, welcher sonst durch den von der Peripherie her fortgepflanzten, durch äufsere Reize erweckten Thätigkeitszustand der leitenden Olfactoriusfasern hervorgerufen wird. Nur so entstandene Geruchsempfinduugen können als subjektive be- zeichnet werden, obwohl auch hierbei ein zu den Empfindungs- orgauen äufseres Objekt die Veranlassung der Empfindung ist. Wie alle Sinnesempfindungen, so verknü])fen sich auch die Geruchsempfindungeu mit Vorstellungen verschiedener Art. AVir übertragen dieselben auf die erregenden äufseren Objekte, sprechen von riechenden Objekten, wie von tönenden Körpern; es verbinden sich ferner die Vorstellungen des Augenehmen und Unangenehmen mit ver- schiedenen Geruchseindrücken, bekanntlich nicht in gleicher Weise bei allen Personen, nicht in gleicher Weise zu allen Zeiten. Der Geruch einer Speise dünkt uns angenehm, wenn wir Hunger haben, und er- weckt den Begehrungstrieb, unangenehm wenn wir gesättigt sind, wo er oft Abneigung erzeugt. Dafs Geruchsempfinduugen, bei Tieren insbesondere, die kräftigsten und oft die alleinigen Erreger des Ge- schlechtstriebes sind, dafs die Tiere ihre Nahrung zum Teil, ihre blindgeborenen Jungen die mütterlichen Zitzen ausschliefslich mittels des Geruchssinnes erkennen und aufsuchen, ist eine bekannte That- sache. Viele Vorstellungen, die wir auf Geruchseindrücke beziehen, sind in Wirklichkeit nicht aus diesen allein, sondern aus den mit ihnen kombinierten Gefühlseindrückeu abgeleitet. Über den Nutzen des Geruchssinnes läfst sich dasselbe sagen was wir oben über den Nutzen des Geschmackssinnes gesagt haben; er ist in demselben beschränkten und mittelbaren Sinne ein ,,AVächter der Respiration", als der Geschmackssinn ein Wächter der Ver- dauung, und wird in dieser Funktion wesentlich durch den Tastsinn der Nase unterstützt. * G E H 0 R S S I N N. 1 ALLGEMEINES. § 96. Gehörsempfindungen, Schallempfindungen nennt man eine spezifische, wiederum ihrem Wesen nach nicht näher defiuier- l E. HARLESS, Art. Hören in R. WAGNERS ffandwrthch. Bd. IV. p. 311. — J. MUELLER, Handh. d. Phmiol. 4. Aufl. 1S41— 14. Bd. II. p. 393. — A. RINNE, Prager Vierteljhrschr. f. d. prakt. Heilk. XII. Jahrg. 18.55. Bd. I. p. 71 ; Bd. II. p. 4.3 u. 155. — Helmholtz, d. Lehre von den Tonempnndungen etc. 4. Aufl. Braunschweig 1877. §96. GEHÖESSINN. 225 bare Art von Empfindungen, welche bei Erregung des nervus aciis- ticus eintreten, sobald die eigentümlichen Bewegungen der ponde- rablen Materie, welche die Physik als Schallbewegungeu kennen lehrt, durch die Vorbaue des Nerven fortgepflanzt zu dessen Enden gelangen. Die Schallwellen bilden den adäquaten Reiz für den Gle- hörnerven; sie gehören zu jener Klasse von Reizen, welche nur durch Yermittelung besonderer Hilfsapparate an den Nervenenden zu Erregern werden. Sie erzeugen daher keinen Erregungszustand, wenn sie un mittelbar die Fasern des Acusticus in ihrem Verlaufe treffen, ebensowenig, wenn sie, und dies ist in Wirklichkeit fort- während der Fall, auf die Enden oder den Stamm irgend eines andren Nerven übertragen werden. Dafs der Acusticus mit allen Nerven, welches auch ihre Funktion sei, die Fähigkeit, durch die f]"üher erörterten allgemeinen Nervenreize erregt zu werden, teilt, ist von vornherein mit Bestimmtheit vorauszusetzen; allein auf direktem Wege haben wir noch keine entscheidenden Beweise hierfür. Begreiflicherweise hat nur die Elektrizität auf ihre Fähig- keit, den Gehörnerven zu erregen, geprüft werden können, und wirklich hat man auch gefunden^, dafs Schliefsung und Öffnung eines dem inneren Ohre zugeleiteten konstanten Stromes von hin- reichender Stärke eine Tonempfindung auslöst. Leider ist jedoch damit immer noch nicht festgestellt, dafs dieselbe einer unmittelbaren Reizung von Acusticusfasern ihre Entstehung verdankt und nicht vielleicht mittelbar durch eine Stromwirkung auf gewisse kontraktile Endapparate (Cortische Bögen s. u.) oder gar auf die Binnenmuskeln des Ohres verursacht worden ist^, in jedem Falle nicht ohne weiteres verständlich, warum bei elektrischer Reizung des gesamten inneren Ohres sehr häufig nur ein einziger Ton von ziemlich konstanter Höhe und nicht vielmehr stets ein Gemisch aller möglichen Töne, also vielleicht ein brausendes Geräusch, wahrgenommen wird. Einige ältere Beobachter, insbesondere Volta, haben allerdings auch nur die regelmäfsige Entstehung eines solchen unter diesen Umständen behauptet, indessen ist die Richtigkeit ihrer Angaben durch Versuche von E. H. und Ed. Weber, ferner durch Svcyanko^ zweifelhaft ge- macht. Ob chemische, mechanische (aufser den mechanischen Er- schütterungen der Schallwellen), thermische Reize den Gehörnerven erregen, ob dieser Erregungszustand die spezifische Schallempfindung erzeugt, ob diese Empfindung eine qualitativ andre ist, wenn der betreJÖfende Reiz die Endorgane des Nerven, eine andre, wenn er ihn im Verlauf trifft, alles dies sind für jetzt unbeantwortbare Fragen. 1 BRENNKE, Dtxch. Arch. f. klin. Med. 1868. Bd. IV. p. 436, u. Unters, u. Beobacht. auf d. Gebiete d. Elektrotherapie. Bd. I. Leipzijr 1868. * Anderweitige Vermutungen Ober die Entstehungsursache des BRENNEBschen Phänomens s. bei HENSEN. Hermanns Handb. d. Physiol. 1880. Bd. UI. 2. p. 126. — KlESSELBACH, PFLUEGEBs Arch. 1883. Bd. XXXI. p. 95. s SVCYANKO, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1867. Bd. III. p. 601. Gkuenhagen, Physiologie. 7. Aufl. II. 15 226 GEHÖRSSINN. § 96. Die Physiologie des Geliörssinnes ist in maunigfachen Be- ^iieliungeu vor derjeuigen der zuletzt erörterten Sinne, des Geruchs- imd Gesclmuickssiiiiies, im Vorteil. Denn einmal sind wir von selten der Anatomie und Histologie viel genauer über den Bau der zahl- reichen Leitap])arate der Schallwellen sowohl als auch der eigentlichen Nervenenden unterrichtet, anderseits ist die Natur der äulseren Reiz- ursache, mit welcher wir es hier zu thun haben, physikalisch auf das gründlichste zergliedert und klar gelegt worden. Kein Wunder daher die immer noch Avachsende Sicherheit, nfit welcher wir die Ergebnisse der histologischen Forschung in Einklang zu bringen imstande sind mit den durch die Physik entdeckten Eigenheiten des Schallreizes, mit welcher wir den Modus und die Gesetze seiner Fortpflanzung, zunächst also der Schallbewegungen der uns umgebenden Luft, durch die schallleitenden Vorbaue des Hörorganes bis zu den percipiereuden Nervenenden festzustellen und die Thätigkeit der un- mittelbar an die peripheren Acusticusenden grenzenden Hilfsapparate bei Umsetzung der Schallbewegung in Nervenbewegung ihrem AVesen nach zu bezeichnen vermögen. Jenseits dieser Grenze stofsen wir freilich noch auf dieselben Rätsel ^\'ie bei allen Sinnen. Denn hier wie dort ist die Natur des zum Gehirn geleiteten Thätigkeitszustandes der Acusticusfaser, die Natur und Entstehungsweise des von dem- selben in den zenti-alen Endapparaten ausgelösten Prozesses, die Ver- arbeitung dieses letzteren zu dem psychischen Vorgange der Schall- empfindung dunkel, und vorläufig auch nur auf die Lösung des ersten dieser drei Probleme einige Aussicht vorhanden. Dafs die physische Bewegung, welche der Nerv dem Empfindungsorgaue zuträgt, nicht die Schallwelle selbst ist, dafs die Nervenfasern nicht selbst in tönende Schwingungen geraten, wie man in älterer Zeit annahm, sondern dafs diese Bewegung eine spezifische, lediglich von der Konstitution und den eignen Kräften der Nervenmaterie abhängige ist, welche zu der erregenden Ursache durchaus nicht in notwendigem Affinitäts- verhältnis steht, ist längst über allen Zweifel festgestellt. Allein mit diesem Fortschritt ist im Grunde doch nur ein irriges Vorurteil, eine rohe Anschauung beseitigt, ohne dafs er uns dem Ziele der Erkenntnis wirklich näher gebracht hätte. Die Gehörsempfindungen zerfallen in zwei Hauptkategorien: in Geräusche und musikalische Klänge, welche sowohl ihrer eignen Natur nach, als auch durch die Art der sie veranlassenden physi- schen Bewegungen streng voneinander geschieden sind. Jede dieser beiden Empfindungsklassen umfafst wiederum eine grofse Anzahl ver- schiedener Empfindungsqualitäteu. Die elementaren Empfindungs- qualitäten, welche die zweite Klasse bilden, sind die einfachen Töne verschiedener Höhe. Wie bei den übrigen Sinnen unterscheiden wir beim Gehörssinn verschiedene Qualitäten der Empfindung. Es fragt sich, ob jeder von allen möglichen, wahrnehmbaren Tönen ver- schiedener Höhe eine besondere Qualität der Schallempfindung dar- §96. GEHÖRSSINN. 227 stellt. Strenggenommen müssen wir dies mit demselben Rechte an- nehmen, mit welchem wir die Empfindung des blauen und roten Lichtes als zwei differente Empfindungsqualitäten ansprechen. Hier wie dort lassen sich die reinen Empfindungen an sich nicht vergleichend charakterisieren, zwei Tonempfindungen, die wir als verschieden hoch bezeichnen, ebensowenig als zwei Farben, die wir rot oder grün nennen. Die Bezeichnung der Differenz zweier Töne als Höhen- verschiedenheit ist keineswegs der Empfindung an sich entlehnt, denn keine Empfindung ist au sich räumlich, so dafs wir von einer Dimen- sion der Höhe oder Breite derselben sprechen oder solche Dimensionen vergleichend messen könnten. Es ist hier nicht der Ort zu unter- suchen, welchen äufseren Umständen die Qualitätsbezeichnung hoch und tief für die Tonempfindungen entlehnt sein möge. DaJ's aber zwei Tonempfindungen mit den ihnen zu Grunde liegenden äufseren Reizen, d. h. mit den durch räumliche Länge und Zeitdauer be- stimmten Luftschwingungen der Schallwellen ebenso Avenig etwas gemein haben, wie die Farbenempfindungen mit den erregend wirkenden Wellen des Lichtäthers, dafs überhauptkeine Empfindung, sie sei welcher Art sie wolle, durch Merkmale des äufseren Empfindungsreizes de- finiert werden kann, haben wir in der Einleitung dieses Kapitels genügend urgiert. Es ist im Grunde ebenso falsch, die Empfindungs- qualität dem Reize als Eigenschaft zu vindizieren, und z. B. von blauen Lichtstrahlen oder tönenden Saiten zu sprechen, als umgekehrt Eigenschaften des Reizes für Eigenschaften der subjektiven Empfindung auszugeben. Strenggenommen müssen wir also die Tonempfindung, welche durch die Schwingungszahl 440 erzeugt und in der Musik als a bezeichnet wird, eine andre Qualität der Gehörsempfindung nennen, als die der Schwingungszahl 55, dem musikalischen Zeichen A entsprechende. Aus der Physik ist bekannt, von welchen äufseren Bedingungen diejenige Gehörsempfiudung abhängt, welche man als Ton dem Geräusch gegenüberstellt; wir werden aber nicht imstande sein nachzuweisen, was sich im Erregungszustande unsers Bewufst- seins ändert, wenn sich die Schwingungszahl einer Saite ändert. Dafs die Empfindung allmählich ohne merkliche Grenzen alle Qualitäten der Tonhöhe durchlaufen kann, können wir in jedem Augenblicke prüfen, wenn wir eine schwingende Yiolinsaite z. B. allmählich mehr und mehr spannen, oder wenn wir durch Muskelkraft die Spannung unsrer eignen, in tonerzeugende Schwingimgen versetzten Stimm- bänder stetig wachsen lassen. Man könnte daraus schliefsen wollen, dafs auch in der erregten Acusticusfaser eine entsprechende succes- sive geringe Modifikation des Erregungsprozesses vor sich geht. Es ist aber auch noch eine zweite Möglichkeit vorhanden und diese ■durch sehr gewichtige Gründe zur gröfsten Wahrscheinlichkeit er- hoben worden, dafs nämlich, wie am Klavier für die Erzeugung jedes Tones verschiedener Höhe besondere Saiten gegeben sind, so im Gehörorgane für die Wahrnehmung jedes Tones verschiedener 15* 228 GEHÖRSSINN. § 96. Höhe besondere Nerveufasern vorhanden sind, von denen jede ge- wissermafsen nur für einen Ton bestimmter Höhe gestimmt, auch nur von der entsprechenden SchuUbewegung angesprochen wird und ausschliefslich die eine Empfindungsqualitiit erzeugt. Im gewöhnlichen Leben bezeichnet man als verschiedene Qualitäten der Grehörsempfindung eine sehr grofse Anzahl ver- schieden benannter CTeräusche, es ist aber sehr fraglich, ob wir im physiologischen Sinne z. B. das klappernde, zischende, klirrende Geräusch als verschiedene Emplindungsqualitäten betrachten dürfen. Die meisten Geräusche sind mehr weniger zusammengesetzte Em- pfindungen imd erhalten ihren Charakter durch die Art und Inten- sität der verschiedenen gleichzeitigen oder nacheinander folgenden Komponenten, unter welchen sich meistens auch Tonempfindungen befinden. Eine andre Art von Difierenzen der Gehörsempfindungen be- greift man unter dem Namen der Klangdiff'erenzen. Bisher galt allgemein die Annahme, dafs jede elementare Tonempfindung von gegebener Höhe eine verschiedene Klangqualität erhalten könne. Es ist indessen mit Bestimmtheit nachgewiesen worden, dafs die Klangfarbe durch eine Verbindung des Grundtoues mit verschiedenen, verschieden starken Nebentöneu (Obertönen) bedingt wird, wir daher den einfachen Tonempfindungen kombinierte Touempfindungen unter dem Namen Klänge im engeren Sinne gegenübersetzen müssen. Die Intensität der Gehörsempfindungen schwankt in ebenso weiten Grenzen, als z. B. die der Druckempfindungen; das geübte musikalische Ohr unterscheidet ebenso fein die verschiedenen Grade der Stärke eines Tones von bestimmter Qualität, als ein geübtes Tastorgan die verschiedenen Druckgrade. Über die Mafse der Schall- empfindungsintensität und ihr Verhältnis zur Intensität des äufseren. Reizes, d. h. der Exkursionsweite der schwingenden Teilchen, deren Bewegung die Gehörsempfindung veranlafst, gilt im allgemeinen dasselbe, was wir oben über die Messung der Empfindungsgröfsen überhaupt gesagt haben. So viel im allgemeinen zur Begrifisbestimmung der Leistungen des Hörnerven; die meisten dieser a])horistischen Vorbemerkungen werden bei der speziellen Betrachtung die notwendige genauere Be- rücksichtigung finden, natürlich jedoch mit Ausschlufs der physi- kalischen Akustik, deren Kenntnis wir voraussetzen, imd auf deren Ermittelungen wir nur hindeuten können, wo es sich um ihre Geltung beim physiologischen Vorgange des Hörens handelt. 97. DIE GEHÖRORGANE. 229 HISTOLOGIE DER GEHÖRORGANE. § 97. Den Bau des komplizierten Hörapparates, Form, Lage und Verbindung seiner einzelnen Teile lelirt die deskriptive Anatomie ^; wie wichtig und notwendig es ist, auf das genaueste mit allen anatomischen Einzelheiten dieses subtilen Mechanismus vertraut zu sein, wird die Analyse der Schallleitung zeigen, wo wir Gelegenheit haben werden, wichtige physiologische Lekren aus scheinbar un- wesentlichen anatomischen Vei'hältnissen herzuleiten. Die Aufgabe dieses Paragraphen ist auf die anatomische Untersuchung der eigent- lichen Perceptionsorgane der Schallwellen beschränkt. Fig. 94. Bekanntlich dringt der Hörnerv bald nach seinem Abgange von der Gehirnbasis in die pars petrosa des Felsenbeins ein und begibt sich daselbst zu einem sehr kompliziert gestalteten, mit einer besonderen knöchernen Wan- dung versehenen Hohlorgan, dem knöchernen Labyrinthe. Hier ist es also auch, wo wir die Endausbreitung des Acusticus zu suchen haben. Eröffnen wir die knöcherne Labyrinthkapsel, so finden wir die Innenfläche derselben von einer bindegewebigen Membran, dem Periost, überzogen und mit einer Flüssigkeit, der Perilymphe Breschets, angefüllt. Letztere umgibt wie ein schützender sich enge anschmiegender Mantel den wesentlichen Kern des knöchernen Labyrinths, das häutige Labyrinth, einen membranösen Schlauch, welcher im ganzen die Foi-m seiner knöchernen Kapsel wiederholt, der Wand desselben teils in gröfserem oder geringerem Umfange dicht an- 1 Vgl. HENLE, Handb. d. System. Anat. Bd. II. 2. Aufl. 1875. p. 745. — KOELLIKER, Eundh. d. Gewebelehre. 5. Aufl. Leipzig 1867. p. 706. — KRAUSE, Handb. d. menschl. Anat. 3. Aufl. Hannover 1876. Bd. I. p. 116. — G. RETZIUS, Das Gehörorgan d. Wirbellhiere. 2 Bde. Stockholm 1881/84. 230 DIE GEHÖKORGANE. § 97. liegt teils nur durch zai'te Gewebsfäden verbunden ist. Das knöcherne Labyrinth zerfällt bei Menschen und Säugetieren in drei Abschnitte, die canales semicirculares oder die knöchernen Bogengänge, den Vor- hof und die Schnecke; die ersteren enthalten die ebenso benannten Teile des häutigen Labyrinths (s. d. schematische Fig. 94), die häutigen Bogen- gänge by, der zweite die sackförmig angeschwollenen Teile desselben, den Utriculus oder sacculus ellipticus, e, und den sacculus rotundus, r, die dritte den wiederum schlauchförmig gestalteten ductus cochlearis, de. Alle diese Abteilungen des häutigen Labyrinths kommunizieren untereinander, die Bogengänge und der Utriculus direkt, Sacculus und ductus cochlearis durch den canaiis reuniens, er, Utriculus und Sacculus endlich durch den häutigen aquaeductus vestibuli, av, welcher mit zwei kurzen Schenkeln aus den beiden Säckchen entspringt, durch den knöchernen aquaeductus vestibuli zur dura mater des Gehirns emporsteigt und daselbst blind endigt (Cotugno, Böttcher).^ Dagegen bestehen offene Kommunikationen mit den Subarach- noidealräumen des Gehirns und des Eückenmarks für den perilymphatischen Eaum der Schnecke [seala tympani s. u.) durch den aquaeductus Cochleae^ , für die Endolymphe durch die Arachuoidealscheide des Aousticus.^ Bezüglich der Bogengänge ist zu bemerken, dafs sie von der ihnen entsprechenden knöchernen Labyrinthwand gröfstenteils durch Perilymphe relativ weit getrennt sind. Nur ihr konkaver Rand liegt der konvexen Innenfläche des knöchernen Bogenganges fest an und ist mit derselben durch kurze Binde- gewebszüge verbunden* ; ihr ganzer übriger Umfang wird dagegen in seiner Lage nur durch zarte vom Periost der Wandfläche entspringende Gefäl's- und Bindegewebsstränge fixiert. Sie sind im allgemeinen räumlich so zueinander gestellt, dafs zwei von ihnen senkrecht gegeneinander und zur Horizontal- ebene der Schädelbasis gerichtet sind, der dritte senkrecht zu den beiden ersten und parallel mit der Schädelbasis verläuft. Die zur Horizontalebene des Schädels senkrechten Bogengänge verschmelzen an dem einen Ende kurz vor ihrer Einmündung in den Utriculus zu einem gemeinschaftlichen Gange g, die andern Enden bleiben gesondert, und so kommt es, dafs sich die drei Bogen- gänge statt mit G nur mit 5 Mündungen in den Utriculus öffnen. Drei der letzteren, von welchen jede einem besonderen Bogengänge angehört, zeichnen sich durch ihre aufgebauschte, flaschenförmige Gestalt (o, s, u Fig. 94) aus. Man hat sie deshalb mit dem Namen der Ampullen versehen, während die übrigen beiden, welche ohne auffällige Formveränderung in die Wand des Utriculus übergehen, kurzweg als glatte Enden bezeichnet werden. Die Ampullen sind es, welche im Gegensatze zu den andern Abschnitten der Bogengänge fast den ganzen ihnen angewiesenen Raum des knöchernen Laby- rinths ausfüllen und zugleich auf gewissen alsbald näher zu betrachtenden Vor- sprüngen ihres Lmeren, den sogenannten Cristae, die Endausbreitung eines Teils der im rainus vestibulär is (rani. anterior) des Acusticus enthaltenen Nerven- fasern tragen. Der Rest der letzteren begibt sich an den sacculus ellipticus und rotundus des Vorhofs, wo er bis zu bestimmten ausgezeichneten Stellen desselben, den maculae acusticae, verfolgt werden kann. Der noch übrige Teil des häutigen Labyrinths, der ductus cochlearis, wird in seiner ganzen Ausdehnung von dem zweiten Aste des Acusticus, dem ramus cochlearis (ram. posterior) versorgt, welcher sich in dem dort befindlichen CoRTischen Organe verzweigt. Im ganzen enthält also das innere Ohr des Menschen und der Säugetiere sechs besondere Nervenendstellen. Bei den übrigen Tierklassen er- fährt diese Zahl entweder eine Steigerung, so z. B. bei den mit komplizierter ' COTUGNO, De aquaeduclibus auris. human, intern. Dissert. W^ien 1774. — A. BOETTCHER, Ctrbl. f. d.med. Wiss. 1868. p. 305, u. Arch. f. Anat. u. Phijsiol. 1869. p. 372: Arch. f. Ohrenheilk. 1882. Bd. XIX. — CLASON, Ser. üb. d. Fortschr. d. Anat. u. Pyhsiol. von HenlE u. MEISSNER. 1871. p. 87. — Weber-Liel, Ctrbl. f. d. med. Wiss. 1876. p. 929. 2 G. RetziuS, Du.'i Gehörorgan d. Wirbelthiere. 1881/84. Bd. II. p. 330. 3 HASSE, Arch. f. Ohrenheilk. 1881. Bd. XVII. p. 188. ^ RUEDINGER, Irztl. Intelligembl. 1866. No. 25; ilonatsschr. f. Ohrenheilk. 1867. p. 26. §97. DIE GEHÖROEGANE. 231 Fig. 95. gebauten Hörorgauen versehenen Vögeln und Reptilien bis auf acht, oder eine mehr weniger beträchtliche Reduktion, wie z. B. bei den Fischen und Amphibien und den Wirbellosen. Die nähere Betrachtung der häutigen Bogengänge und der im Labyrinth- wasser des Vorhofs aufgehängten Säckchen ergibt zunächst, dafs alle diese Teile mit einer wässerigen Flüssigkeit (Endolymphe) prall angefüllt sind. Was den histologischen Bau ihrer im frischen Zustande ganz durchsichtigen Wan- dungen anbetrifft, so bestehen dieselben ungeachtet ihrer Zartheit aus mehreren •Schichten, einer äulseren gefäfsführenden bindegewebigen Propria, einer darauf nach einwärts folgenden homogenen Glashaut (Basalmembran) und einem die letztere überziehenden einschichtigen Pflasterepithel. Dicht an der Utrikular- mündung der Ampullen, und zwar an der aus dem konvexen Bogenrande hervorgehenden Fläche derselben, verdicken sich sämtliche der genannten Wand- schichten, in besonders starkem Grade aber die Propria und die Epithelbekleidung, und bilden dadurch einen kammförmig in das Schlauchlumen hineinragenden Vorsprung, die crista acusiiea, welche sich dem unbewaffneten Auge auch schon durch ihre gelbliche Farbe verrät. Ähnliche Veränderungen erleidet auch die Wand des ütriculus und des Sacculus an bestimmten scharf umschriebenen Stellen; indessen besitzen die zwei an beiden letz- teren Orten vorhandenen Wulstbildungen, die macidae acusücae, einen annähernd kreisförmigen Umrifs und fallen dem blofsen Auge durch eine kreideweifse Färbung auf. Die solchergestalt ausgezeichneten Punkte der Ampullen und Vorhofssäckchen sind es nun, wie erwähnt, bis zu welchen die Fasern des ramus vestihularis vom Acusticus mühelos verfolgt werden können, und sie sind es auch, in welchen man das scliliefsliche Ende dieser Fasern gesucht und gefunden hat. Die zu den maculae und crivtae acusticae tretenden Nervenfibrillen sind sämtlich markhaltig, bilden in der Propria einen dichten baumartigen Plexus, nirgends aber, wie ältere Beobachter^ gesehen haben wollten. Endschlingen, und steigen dann alle ohne Ausnahme zu der Basalmembran und ihrem Epithel- überzug empor. Auf diesem Wege, vorzugsweise aber in der Nachbarschaft der Basalmembran, verlieren sie ihre Mark- und Primitivscheide und verlaufen von nun als marklose nackte Achsencylinder. Ihr ferneres Verhalten ist am klarsten bei einigen Fischarten und bei niederen Tieren (Pteropoden) zu über- blicken-' und erläutert sich am einfachsten an der schematischen nach M. ScHULTZEs Untersuchungen entworfenen Zeichnung (Fig. 95). Dieselbe stellt einen Längsdurchschnitt durch die Ampulle eines Rochens dar. Im Äquator der Ampulle springt an der einen Hälfte des t^mfanges der unter dem Namen crista acustica bekannte halbmondförmige Wulst C vor, dessen Querschnitt, wie die Figur zeigt, kegel- oder pilzförmig gestaltet ist. Die pilzkopfförmige Spitze wird gebildet, indem das einfache Epithel «, welches die Ampullenwand bekleidet, an dem freien Rand des Wulstes zu einer dicken, fest aufsitzenden ' VALENTIN, Nov. act. acad. Leop. Carol., s. dies Lehrb. Bd. I. p. 521, u. anfänglich auch R. WAGNEU: WAGNER, Icones phys. 1839. Tab. XXIX. Fig. 14. — HARTMANN, Arch. f. Anal. ii. Phys. 1862. p. 508. 2 M. SCHULTZE, Arch. f. Artat. u. Phiisiol. 1858. p. 3-30. — FR. E. SCHÜLZE, ebenda. 1862. p. 381. — OWSJANNIKOW u. KOWALEWSKI, Über d. Centralnervenspst. u. d. Gehörorf/an d. Cephalopoden. St. Petersburg 1867. — V. Hensen, Ztschr. f. tviss. Zool. 1862. Bd. XIII. p. 319. — BOLL, Arch. f. mlkrosk. Anat. 1868. Bd. IV. p. 375. — J. RANKE, Ztschr. f. ivis.r. Zoo!. 1875. Bd. XXV. Supplementband p. 77. — CLAUS, Arch. f. mikrosk. Anat. 1876. Bd. XII. p. 103. 232 DIE GEHÖRORGANE. §9- Fig. 96. Zellenmasse b anschwillt, von deren Oberfläche lange, steife Borsten c radien- förmio' ausstrahlen. Der Stamm des Ampullennerven N verläuft in dem Teil der Wand, von welchem die Crista sich erhebt. Sobald er in der Basis der letzteren angelangt ist, biegen seine Fasern allmählich in stumpfen oder mehr wenif^er spitzen Winkeln nach innen um und verlaufen als breite, markhaltige Fasern nach dem Rande des Wulstes bis an die Epithelgrenze, an welcher sie sich dem Blick entziehen. Befreit man den Rand von dem dicken Epithel- pilzkopf, so sieht man (Fig. 96) die breiten markhaltigen Fasern c c genau an der Grenze a b zwischen Wulst und Epithel sich plötzlich in dichte besenartige Büschel aufserordentlich zarter, verästelter markloser Fasern d d (Aohsen- cylinder nach Schlltze) auflösen, welche in dem Epithelwulst gegen dessen freie Oberfläche verlaufen. Diese Ano-aben M. Schultzes unterliegen gegenwärtig keinem Zweifel mehr wie am besten die Bestätigung derselben durch die mit so aufserordent- licher Sorgfalt ausgeführten Untersuchungen von Retzius^ ergibt, wohl aber haben einfo-e seiner ferneren Mitteilungen begründeten Einspruch erfahren. Nanfentlich kann seine Auffassung von der Bedeutung der Wimpern oder Borsten f, welche über die freie Ober- fläche der Orista hervortreten, jetzt als eine völlig irrtümliche bezeichnet und zu gunsten der zuerst von Hartmanx aufgestellten , dann von allen folgenden Forschern adoptierten Anschauung, nach welcher jene Wimperhärchen nicht, wie M. ScHULTZE und F. E. Schulze wollten, zwischen den Epithelzellen der Crista wurzeln, sondern denselben fest und un- beweglich aufsitzen, aufgegeben werden. Mit dieser notwendigen Korrektur der M. ScHUi.TZEschen Ansicht kommt natürlich auch seine Vermutung in Fortfall, dafs die fraglichen Gebilde [ als die unmittelbaren Fortsetzungen der über den Basalsaum hervorragenden freien Ächsencyünder (Fig. 96 ddd) zu betrachten wären. Das Vorkommen von Wimperzellen mit unbeweglichen, starren Wimpern ist nicht auf die Cristae der Rochenampullen beschränkt, sondern ist auch für andre Fischarten konstatiert worden (F. E. Schulze) und kehrt in den verschiedensten Tierklassen, endlich auch beim Menschen wieder. Abweichungen von diesem ganz typischen Verhalten existieren nur insofern, als sich bei einigen Geschöpfen (Pteropoden nach Claus und Raxke) eine gröfsere Zahl von Wimpern oder Borsten, bei andern (Fische, Vögel, Säugetiere, Mensch) nur ein einziges Wimperhaar über die freie Zellfläche erhebt. Zum Unterschiede von den echten Wimperzellen mit schwingen- den Wimpern heifst man diese neue Art mit unbeweglichen Cilien auch Borsten-, Haar- oder Stäbchenzellen. Über das weitere histologische Verhalten der Borstenzellen unter- richtet man sich am besten , wenn man frisch geöffnete Vor- höfe von Säugetieren (Katzen) in 0,5*'/o Überosmiumsäure auf ungefähr eine halbe Stunde versenkt, darauf in reinem Wasser aufbewahrt und nach 24 Stunden das Epithel der Ampullen mit ji Präpariernadeln abschabt. Hierbei erkennt man bald, dafs die crista acustica von einem einschichtigen Cylind erepithel überzogen wird, welches sich nicht mit plötzlichem Sprunge aus den Pflaster- zellen der übrigen Ampullenwand emporhebt, sondern sich in allmählichem 1 G. Retzius, Dai Gehörorgan d. Wirbelthiere. Stockholm 1881/84. Bd. 1. p. 134. Fig. 97. §97. DIE GEHÖRORGANE. 233 Übergange avis denselben entwickelt. Die gut ausgebildeten Formen der Cylinder- zellen sondern sich in zwei scharf gesonderte Grupi^en, in eigentliche Epithel- zellen (Stützzellen) ohne Wimperbesatz und in Borstenzellen. Erstere haben die Gestalt kleiner abgestumpfter Kegel, deren stumpfe, häufig gezähnelte Spitzen auf der Bindegewebsgi-undlage festgewachsen sind, ragen mit ihren breiteren Basen frei in den Binnenraum der Ampullen und Säckchen des Yorhofs hinein und zeigen in der Regel nahe dem Fufsende einen ovalen Kern mit Kernkörperchen (Fig. 97 «). Letztere (Fig. 97 b) besitzen eine flaschen- förmige Gestalt, enthalten ebenfalls in der Nähe ihres spitzeren Fufses einen ovalen Kern mit Kernkörperchen, tragen aber als wesentliches Kennzeichen auf dem freien Ende ihres schmalen Halses ein deckelähnliches Gebilde von starkem Glänze (Basalsaum), über welchem sich ein starrer, ebenfalls glänzender, nach Retzius aus vielen kleinen Fasern zusammengesetzter Fortsatz erhebt, das Hörhaar M. Schultzes. Die Körper der eigentlichen Epithelzellen schliefseu nicht selten gelbliche Pigmentköruchen ein und bedingen dadurch das erwähnte gelbliche Aussehen der macidae und cristae acusticae. Beide Zellarlen sind so nebeneinander geordnet, dafs fast regelmäfsig je eine Haarzelle von 5 Cylinder- zellen umgeben wird und umgekehrt auch je eine Cylinderzelle im Zentrum von 5 Haarzellen steht. Die eben geschilderten histologischen Eigentümlichkeiten des Cristaepithels wiederholen sich in dem Epithel der macidae acusticae^, und auch darin gleichen die beiden Endbezirke des Acusticus einander, dafs ihre Cilien von einer halb- flüssigen zähen Substanz eingehüllt werden, welche nach Behandlung mit gewissen Reagenzien in Hautform erstarrt und dadurch zu der Annahme einer besonderen Deckmembran, der cupiäa terminalis Längs"', verführt hat. Als einzige Differenz von Bedeutung läfst sich nur der Umstand bezeichnen, dafs die schleimige Deckmasse der macidae acusticae auf ilii'er von Endolymphe umspülten freien Fläche mit zahlreichen kleinen Konkrementen anorganischer Natur, den sogenannten Hör st einen, Otolithen, übersät ist, welche der- jenigen der Ampullen abgehen. Bei der mikroskopischen und mikrochemischen Untersuchung der Otolithenschicht zeigt sich, dafs dieselbe teils aus zahl- reichen kleinen amorphen und kristallinischen Körnchen, teils aus gröfseren Kristalldrusen kohlensauren Kalks besteht. Ihre Anwesenheit ist es, auf welcher die früher erwähnte Kreidefarbe der macidae acusticae beruht. Bei Fischen, bei welchen die Otolithenbilduugen eine gi'öfsere Massenhaftigkeit erlangen, zeigen dieselben auf ihrer der Bläschenwand zugekehrten Seite eine Vertiefung, welche einen genauen Abdruck der vorspringenden Leiste, in welcher die Nerven endigen, darstellt. Über die Beziehungen der Nerven zu den Cylinderzellen der macidae und cristae acusticae herrschen die gleichen Unklarheiten, wie wir sie überall bei der Frage über den letzten peripheren Verbleib der verschiedenen Nerven- arten antreffen. Man begegnet zwar mehrfach der bestimmten Behauptung eines unmittelbaren Überganges markloser Achsencylinder oder Achsenfibrillen in die Substanz der Haarzellen^, aber auch mehrfach der vorsichtigen Beschreibung eines allerdings sehr innigen Berührungs- nicht jedoch Verschmelzungsver- hältnisses. Sehr beachtenswert ist in dieser Hinsicht die Mitteilung von Retzius, nach welcher die fibrillär gestreiften Achsencylinder häufig mit einer endständigen dreieckigen Verbreiterung, Nervenplatte, die Basen der Haar- zellen becherartig umschliefsen und mit feinsten Achsenfibrillen die Oberfläche 1 Odenius, Arch. f. mikrosk. Anut. 1866. Bd. III. p. 115. - Vgl. LANG, Ztschr. f. wisx. Zool. 1862. Bd. XIII. p. 303. — C. HASSE, Anat. Studien, Leipzig 1869. p. 1. — G. RETZIUS, Das Gehörorgan d. Wirbelthiere. Stockholm 1881/84. Bd. I. p. 135. Bd. II. p. 363 u. fg. 3 O. V. Grimm, Bulletin de l'Academie des sciences de St. Petershourrj. 1869. T. XIV. p. 73; Melanges biologiques. 1869. T. VII. p.92. — HASSE, GöHinger Xuchr. 1867. No. 11, u. Ztschr. f. wiss. Zool. i86S. Bd. XVm. p. 3.59. — JOH. RANKE u. CLAUS, a. a. O. vgl. h. 1. p. 231. 234 DIE (iEHÖRORGANE. §97. Fif?. 98. der letzteren umspinnen (Fig. 98)'. Jedenfalls weisen aber dennoch alle bisher bekannt gewordenen histologischen Thatsachen darauf hin, dafs wir die modifizierten Epithelformen der Borstenzellen als die eigentlichen Endapparate des Acusticus im Vorhofe zu betrachten haben. Aufser dieser Endigung des ramus vestihiilaris des Acusticus im Vorhofe mufs aber noch eine zweite in dem bisher unberücksichtigt gelassenen Teile des häutigen Laby- rinths, der Schnecke, existieren, da derselben eine sehr beträchtliche Zahl markhaltiger Fasern durch einen beson- deren Ast des Höruerven, den ramus cocJtlearis, zu- geführt wird. CoRTis"-' bahnbrechende Arbeiten haben hier denn auch in der That einen wunderbar zusammengesetzten Apparat kennen gelehrt, das seinen Namen tragende CoKTische Organ, dessen schwierig zu entwirrende Ein- zelheiten noch immer zu erneuten Untersuchungen Anlafs geben , ungeachtet mancher noch schwebenden Streitfragen aber zu dem Schlüsse berechtigen, dafs in ihm nicht nur der nervöse Endapparat zu suchen ist, sondern dafs in ihm \. , auch, wie im Vorhof, wiederum Haarzelleii die letzten \_ Ausläufer des betreffenden Acusticuszweiges in sich auf- nehmen. Es kann natürlich nicht unsre Aufgabe sein, die ganze grofse Reihe von Einzeluntersuchungen, welche seit CoRTi über den histologischen Bau der Schnecke an- gestellt worden sind, in historischer Folge kritisch vorzu- führen, in dieser Beziehung mufs auf die unten citiei'ten Lehrbücher und Monographien ^ verwiesen werden ; unsre Aufgabe kann nur darin bestehen, die wichtigsten ana- tomischen Verhältnisse, insbesondere diejenigen, welche nachweisbar oder mutmafslich von besonderer physiologischer Bedeutung sind, soweit sie durch die besten Beobachter richtig erkannt sind oder mindestens für wahrscheinhch ge- halten werden, kurz zu erläutern. Der um den Modiolus, die Spindel der Schnecke, herumlaufende gewundene Kanal, der Schneckenkanal im weiteren Sinne, zerfällt in drei, durch knöcherne oder häutige Scheidewände vollständig geschiedene Räume, deren Gestalt und gegenseitige Lagerung am besten aus Fig. 99, welche einen schematischen Durchschnitt dieses Kanals darstellt, ersichtlich ist. Die Hauptscheidewand ist das Spiralblatt, lamina spiralis, Lsp., welches aus einer vom Modiolus ausgehenden ' V. ElJNEU, Ber. d. naturw.-med. Vereines in Inmhriick. 1872. — G. Retzius, Das Gehör- organ d. Wirbellhiere. Stockliolm 18*-:l/84. Bd. 11. p. 131, 187, 362. 2 COUTI, Ztschr. f. wiss. Zool. 1851. Bd. III. p. 109. ^ KOELLIKEK, Über die letzten Endifpingen de..i nervtis Cochleae und die Function der Schnecke. Wflrzburg 1854; Handb. d. Gewebelehre. 5. Aufl.'l867. p. 706. — CLAUDIUS, Ztschr. f. wiss. Zoologie. 1857. Bd. VII. p. 1.54. — Reissner, .l/xVt. /. Anat. u. Phi/siol. 1851. p. 420. — A. BOETTCHER, Observ. microscop. de ratione qua nerv, cochl. inJc. Anat. 1876. Bd. XIII. p. 50:). * KOELLIKER, a. a. O. — G. Retzius, a. a. O. Bd. II. p. 365. §97. DIE GEHÖEORCtANE. 239 Zellen (ä s Fig. 100) angehören. Die innersten Phalangen sind mit ihren inneren Enden den Gelenkstücken der äufseren CoRTischen Fasern aufgelagert oder aufgewachsen, und zwar je eines einem solchen Gelenkstücke; ihren Ver- lauf bis dahin deckt die helle Platte, welche von den Gelenkköpfchen der inneren CoRTischen Pfeiler entpringt. Der soeben beschriebene Abschnitt der Netz- membran, die membrana reticularis propria, stöfst nach innen auf eine einfache Eeihe ovaler Plättchen (i h Fig. 100, 101) und schliefst hinter denselben mit -einer verhältnismäfsig dicken Leiste [k l nach Retzius) ab. Jenseits dieser trifft man sodann auf oblonge Kittrahmen («« Fig. 100, 101), dann noch weiter einwärts die regelmäfsig polygonalen Kittrahmen der den Boden des sulcus spiralis bedeckenden Epithelien (fü Fig. 100, 101), und endlich am weitesten nach innen eine der hahenula sidcata aufsitzende Lage kernführender Endothelplättchen (s Fig. 101). Es ist dies die membrana reticularis accessoria interna, welcher eine ähnlich beschaffene aus den Kittmassen der äufseren Stützzellen {äs Fig. 100) und dem Epithel der zona pectinata, v, gebildete membrana reticularis accessoria externa gegenübersteht. Für die kernlosen endothelialen Feldchen, welche Lavpo^vsky den äufseren Rand des Sulcus- epithels einfassen läfst, und Retzius irrtümlich mit der erwähnten Leiste am Innenrande der inneren Haarzellen {Ic l Fig. 101) zusammenwirft, fehlt eine klare histologische Grundlage, wenn eine solche nicht etwa in den Füfschen der inneren CoRTischen Pfeiler gegeben sein sollte. Unter den epithelialen Elementen, welche die verschiedenen Abtei- lungen der membrana reticvlaris zusammensetzen helfen oder in ihr Maschen- werk verstrickt sind, haben die schon von Corti gesehenen, aber in ihrer Lagerung nicht richtig erkannten CoRTischen Zellen die höchste physiolo- gische Bedeutung. Dieselben finden sich in doppelter Form als äufsere und als innere CoRTische Zellen vor (Fig. 100, 101, 102 äh, ili). Die inneren CoRTischen Zellen sind zarte, sehr vergängliche, konische Zellen mit grofsem ovalen Kerne und sehr stark gekörntem trüben Protoplasma, welche mit ihren basalen Flächen in Lücken der Netzmembran {ih Fig. 101) eingepafst sind, miit ihrer äufseren Körperhälfte die ihnen zugekehrten hohlkehlenartig ver- tieften Köpfchen [li Fig. 101) der inneren Pfeiler ausfüllen und ihre zugespitzten Fufsenden gegen die Grundmembran richten, ohne dieselbe jedoch zu erreichen. Zur weiteren Sicherung ihrer Lage sind sie nach einwärts, d. h. nach der Seite des sulcus spiralis hin, von einer Anzahl hoch emporgeschossener Ej^ithelzellen {is Fig. 101), innerer Stützzellen, gedeckt, welche unter schneller Höhenabnahme kontinuierlich in das Deckepithel des sulcus spiralis [d Fig. 101) übergehen, also offenljar nur mächtigere Entwickelungsstufen dieser Epithelform darstellen, und deinen Kittgreuzen durch die oblongen Felder [is Fig. 101) der Netzmem- bran nach einwärts von den ovalen der inneren CouTischen Zellen angedeutet werden. Die äufseren CoRTischen Zellen {äh Fig. 101, 102) haben im allgemeinen ein festeres Gefüge als die inneren, sind aber ferner noch vor letzteren durch ■eine Eigentümlichkeit ausgezeichnet, welche zu vielfachen Diskussionen Anlafs gegeben hat, durch die innige Yerl)indung nämlich, welche sie mit einer zwischen ihnen eingeschobenen besondern Zellenart, den nach ihrem Entdecker benannten DEiTERSschen Zellen, eingehen. Einigen Beobachtern' hat diese Verbindung den Eindruck von solcher Festigkeit gemacht, dafs sie eine soli- darisch gewordene Doppelbildung vor sich zu haben glaubten und die kombi- nierten Elemente als einheitliche Zwillingszellen ansjM'achen ; andre, und unter ihnen namentlich Retzius, leugnen dagegen jede wahre Verschmelzung zwischen CoRTischen und ÜEiTERSschen Zellen und halten die räumliche Sonde- rung beider Elemente für eine ausgemachte Sache. Folgen wir der Schilderung des letztgenannten Autors, so erscheinen die äufseren CoRTischen Zellen im frischen Zustande hell und durchsichtig bis auf eine äufserste dünnste Mantel- 1 Gottstein, "VValdeyek, Nuel, lavdowsky, a. a. o. 240 DIE GEHÖRORGANE. §97. schiebt, welche eine feinkörnige Beschafl'enheit besitzt, schUefsen wie die inneren CouTischen Zellen, grofse ovale, ihren Fufsenden nabegelegene, mit 1 — 2 Kernköi'percben versehene Kerne ein, sitzen wie diese mit ihren basalen Flächen in bestimmten Lücken {äli Fig. 101, 102) der Netzmembran fest und reichen mit ihren aljgerundeten Fufsenden bis gegen die Mitte des von Netz- und Grundmembran begrenzten Raumes. Hier aber treffen sie unter spitzen Winkeln mit den schräg gestellten DEiTEKSschen Zelleu (/' Fig. 100, Fig. 102a) zusammen, verschmelzen jedoch mit denselben nicht, sondern senken sich nur in den mittleren Körpei-abschnitt {m m m Fig. 100 und 102a) dieser Elemente ein, ohne jemals ihre Individualität einzubüfsen. Was die ÜEiTERSschen Zellen selbst betrifft, so sind dieselben nach Retzius von ganz eigenartiger Einrich- tung. Von ihrem Entdecker als langgestreckte Spindeln beschrieben, welche mit ihren haarfein ausgezogenen oberen Fortsätzen den Phalangen der Netzmera- ^^' bran, mit ihren unteren der Grundmem- bran angeheftet sind, haben die mit ver- vollkommneten Hilfsmitteln ausgeführten Untersuchungen von Retzius gezeigt, dafs die DEiTERSschen Zellen die Form langge- streckter, in der Mitte ausgebauchter Cylinder besitzen, in ihren verschiedenen .Abschnitten aber ungleich beschaffenes Pro- toplasma enthalten. Am Kopf- und Fufs- ende der Zellen klar und durchsichtig, so dafs es bisher der Beobachtung entging, erscheint es in der ausgebauchten zugleich den grofsen bläschenförmigen Kern mit Kernkörperchen einschliefsenden Zellmitte durch grobe Körnelung stai'k getrübt. Der von Deiters gesehene obere und untere Fortsatz des Zellkörpers gehört dagegen einem soliden glänzenden Faden (/' Fig. 100, 102 «) an, welcher den ganzen Zellleib von dem in die Netzmembran eingefügten Kopfende bis zu dem der Grund- membran aufsitzenden Fufsende durchzieht und folglich in seinem ganzen Verlaufe von bald durchsichtig klarem, bald körnig getrübtem Protoplasma umhüllt wird. Wie grofse Unterschiede aber auch nach dem Gesagten in dem histo- logischen Verhalten der äufseren und der inneren CoRTischen Zellen bestehen, in einem wesentlichen Punkte gleichen sich beide auf das vollkommenste: beide sind an ihrer freien Basis mit glashellen kurzen Stäbchen besetzt. Den ersten Schritt zur Entdeckung derselben hat Deiters gethan, als er an den Stellen, wo die Basen der CoRTischen Zellen der Netzmembran eingefügt sind, halb- mondförmige Reihen feiner Wimperhärchen beschrieb. Erst Koelliker glückte es, letztere als Anhänge der Zellen selbst zu erkennen und damit auch in der Schnecke die Anwesenheit von Haarzellen sicherzustellen. In Fig. 101 »7t erscheinen die DEiTERSschen Wimperkreise von oben gesehen als Bogen dunkler Punkte. Die hohe physiologische Bedeutung der CoRTischen Zellen und ihres aus unbeweglichen Stäbchen gebildeten Aufsatzes leuchtet sofort ein, wenn wir an die verwandten Gebilde auf den maculae und cristae acusticae und die innige Beziehung derselben zu den Achsencylindern der zu ihnen emporstei- genden Nervenfasern erinnern. Denn man darf hiernach auch in den Härchen tragenden CoRTischen Zellen die nervösen Endapparate des Cochlear nerven vermuten. Entscheidende Beobachtungen, welche diese Vermutung bestätigen, sind allerdings noch nicht zu verzeichnen; über das §98. PHYSIOLOGISCHE AKUSTIK. 241 Verhältnis der äufseren CoRTischen Zellen zu den nervösen Endfäserchen fehlt zur Zeit jedes tliatsächliche Material, und über dasjenige der inneren Haarzellen ündet sich nur die isoliert gebliebene Angabe Lavdowskis, dafs ihre Körper seitlich je eine Achsenfibrille empfangen (Fig. 102, ili). Die Zahl der einreihigen inneren Haarzellen wäre nach Eetzius^ beim Menschen auf 3500, •der drei- bis vierreihigen äufseren auf 12000 zu schätzen. Was den gröberen Verlauf des Schneckennerven anbelangt, so liegt der Hauiststamm in der Achse, dem Modiolus der Schnecke. Die von ihm abtretenden Faserbündel dringen in die anastomosierenden Spalten der lamina ossea längs des ganzen Verlaufes der- selben ein und bilden darin einen dichten Plexus, »'elcher gegen den Aufsen- rand der knöchernen Leiste verläuft. Unweit dieses Ptandes findet sich in den Verlauf der Faserbündel eingeschaltet eine mehrfache Eeihe dichtgedrängter kleiner bipolarer Ganglienzellen, Juthcnula ganglionaris oder yanylion spirale (g. sj). Fig. 99), von denen wahrscheinlich je eine von einer Primitivfaser des Nerven durchsetzt wird. Jenseits dieses Ganglions verlaufen die Nervenbündel, anfangs noch netzförmig durchflochten, dann parallel bis zum Eande der lamina ossea fort, treten, wie Koelliker zuerst entdeckt hat, durch die Löcher der hahenula perfurata in den canalis cochJearis ein und erscheinen nun als feinste, variköse, marklose Fäserchen (Achsenfibrillen), wie die äufsersten Enden der Vorhofs- nerven im Epithel der crista acnstica oder der Geruchsnerven in der Nasen- schleimhaut. Ein Teil derselben begibt sich unmittelbar aufwärts, zwischen die inneren CouTischen Zellen und die sie umgebenden Stützzellen, ein andrer vereinigt sich in losen Bündeln zu einem spiralen, den Schneckenwindungen folgenden Zuge, dem äufseren Spiralfaserbündel (n Fig. 100). Von letzterem treten Fäserchen durch die Spalten zwischen den äufseren CoRTischen Pfeilern in den Schneckentunnel über und bilden hier neben den Fufsenden derselben einen zweiten kompakten spiralen Zug, den spiralen Tuunelfaserzug, (/i.^ Fig. 100) welcher seinerseits fort und fort feinere Bündelchen in radialer Eichtung {nr Fig. 100) abgibt. Letztere durchsetzen quer den Tunnelraum {t Fig. 100) und gelangen durch die Lücken zwischen den äufseren CoRTischen Pfeilern zu den äufseren CoRTischen Haarzellen, wo sie wiederum spirale Verlaufsrichtung annehmen, um in drei Gruppen gesondert als sogenannte äufsere Sj^iral- iierven zwischen den äufseren CoRTischen Zellen entlang zu ziehen. Wie bereits erwähnt, ist ihr endlicher Verbleib unbekannt. Ebensowenig ist etwas Bestimmtes über die Bedeutung gewisser Elemente (Kajjseln) auszusagen, welche sich nach Hensen in den oberen Enden der äufseren CoRTischen Zellen regel- mäfsig vorfinden (c Fig. 100, 102). Der äufserste Teil der häutigen Zone schliefslich, welcher an die habenula tecta nach aufsen angrenzt, die zona 2}ectinata, bietet nur insofern ein Inte- resse, als die in ihr enthaltenen, wie Saiten ausgespannten feinen Fasern in «benso viel Gruppen, als CoRTische Bögen existieren, zerfallen (Lavdowsky). Sie setzt sich mit einem im Querschnitt dreieckig erscheinenden, verbreiterten Saum Qigamentum spirale, Lg. sp. Fig 99) an die äufsere Schneckenwand an ^xnd trägt auf ihrer Oberseite ein Lager ähnlicher grofser Epithelialzellen v, wie sie sich nach einwärts von den CoRTischen Bögen im sulcus spiralis vor-' finden. Die Kittsubstanz dieser Zellen ist es, an welche sich der Aufsenrand der lamina reticularis anheftet. PHYSIOLOGISCHE AKUSTIK. § 98. Allgemeines. Der Hörnerv scMckt seine periplierisclien Enden, wie die Anatomie lehrt, nicht an die äufsere Körperober- ' RETZIUS, Das Gehörorgan etc. Bd. H. p. 351 u. 367. GrUEXHAGEN, Physiologie . 7. Aufl IL 16 242 PHYSIOLOGISCHE AKUSTIK. § 98. fläche, an welcher er iu direktem Verkehr mit den schallleitenden Medien der Aufsenwelt stände, sondern er endigt tief im Innern der Schädelknochen, abgeschlossen gegen jede unmittelbare Be- rührung der Luft, welche hauptsächlich die Trägerin der zur Perception kommenden Schallschwingungen ist. Jede Schallwelle mul's daher, um an die Hörnervenenden heranzutreten, an Teile des Organismus übergehen und iu diesen zum Nerven sich fortpflanzen. Den gewöhnlichen, lediglich zur Schallleitung bestimmten Weg bildet ein kompliziertes System von festen, zum Teil membranösen, zum Teil knorpeligen oder knöchernen Apparaten und von Flüssigkeiten, welches zwischen Nervenenden und Luft eingeschoben ist. Die Verdichtungs- welle, als welche der Schall in der Luft fortschreitet, löst in diesem System eine Reihenfolge verschiedener Bewegungs-(Wellen-)Formen in Trommelfell, Gehörknöchelchen' und Labyrinthwasser aus. Die letzte Form, welche als Wasserwelle im Labyrinth fortschreitet, trifft unmittelbar die nerventragenden Membranen des Vorhofes und der Ampullen sowie die Enden des Schneckennerven in der scala media. Dieser hauptsächliche Weg des Schalles, dessen Eingang das äufsere Ohr bildet, ist indessen nicht der einzige, auf welchem Schallwellen zum Gehörnerven geleitet werden können. Die Luftwelle trifft an der ganzen Körperoberfläche auf elastische Teile, welche sämtlich in gröfserem oder geringerem Mafse zur Fortpflanzung des Schalles befähigt sind und sämtlich in mittelbarer Kontinuität mit den. Trägern des Gehörnerven stehen; wenn hieraus von vornherein die Möglichkeit der Zuleitung des Schalles zum Acusticus von der ganzen Körperoberfläche aus folgt, so ist doch ebenso klar und leicht zu beweisen, dafs selbst die stärksten Ijuftwellen, z. B. von der Haut der Extremitäten aus, den Gehörnerven nicht erreichen werden. Als ganz besonders geeignet zur unmittelbaren Zutragung von Schall- wellen zum Nerven erscheinen dagegen die Kopf knocken; allein sicher scheint uns auf diesen Schallleitungsweg ' früher von den Physiologen zu grofser Wert gelegt worden zu sein. Dafs Luft- wellen schwieriger und in viel geringerer Intensität durch die Knochen zum Hörnerven gelangen, als durch äufseres Ohr, Trommelfell, Gehörknöchelchen und Labyrinthwasser, ist aufser allem Zweifel: ob einzelne Teile der Kopfknochen durch Resonanz die auf letzterem Wege fortgepflanzten Bewegungen verstärken, ist eine andre Frage, die wir unten erörtern werden. Dagegen hat man meist als ausgemacht betrachtet, dafs Schallschwingungen fester Körper intensiver zum Hörnerven gelangen, wenn man die schwin- genden Körper in direkte Verbindung mit den Schädelknochen bringe, als wenn man sie ihre Schwingungen erst an die Luft ab- geben und die Luftwellen auf dem gewöhnlichen Leitungswege zum Nerven dringen lasse. Aber abgesehen davon, dafs beim Menscheu nur in sehr wenigen Fällen Gehörsempfindungen durch feste Körper ohne Dazwischenkunft vou Luftwellen zustande kommen, ist sogar § 99. DAS ÄUSSERE OHR. 243 mehr als zweifelliaft, ob selbst unter ersteren Bedingungen die Leitung durch die Kopfknochen jene durch die Luft, Trommelfell, Gehörknöchelchen u. s. w. übertrifft. E,inne^ führt dagegen folgen- den Versuch an: stemmt man eine durch Anschlagen in tönende Schwingungen versetzte Stimmgabel gegen die oberen Schneidezähne, so hört man den Ton infolge der direkten Leitung des Schalles durch die Kopfknochen sehr stark; man erhält sie jetzt aber in dieser Lage, bis der Ton eben unhörbar geworden ist, und bringt man sie dann vor das äufsere Ohr, so wird der Ton wieder mit grofser Intensität und noch längere Zeit fort vernommen. Es ist dies ein überzevigender Beweis, dais die Schwingungen eines festen Körpers auf dem normalen Leitungswege unter Vermittelung von Luftwellen in gröfserer Intensität als bei direkter Abgabe an die Schädelknochen zum Nerven gelangen. Für den Menschen und wahrscheinlich wohl überhaupt für die in der Luft lebenden Tier- arten wird mithin dem letzteren Leitungswege nur die Bedeutung einer zufälligen, gewissermafsen überflüssigen Beigabe zuzuerkennen sein. Anders liegen die Dinge natürlich bei Wassertieren, wo um- gekehrt der Übergang einer Wasserwelle auf die Schädelknochen und durch diese direkt auf die Nervenenden den normalen Leitungs- weg darstellt. Wir betrachten im folgenden die Funktionen jenes kompli- zierten Systems schallleitender Vorbaue vom äufseren Ohr bis zum Labyrinth, indem wir die Schallwellen auf ihrem Wege bis zum Gehörnerven zu verfolgen, die Bewegungsformen, unter welchen sie in den einzelnen Gliedern des Systems sich fortpflanzen, physikalisch zu bestimmen suchen. ÄUSSERE SCHALLLEITUNGSAPPARATE DES GEHÖRGANGS. § ?9. Das äufsere Ohr, eine mit unregelmäfsigen Leisten und Vorsprüngen versehene, von der Cutis überzogene Knorpelplatte, umgibt in trichterförmiger Biegung den Rand des äufseren Gehör- ganges. Seine Winkelstellung zu letzterem kann bei der Mehrzahl der Menschen in irgend erheblichem Grade nur durch äufsere Hilfs- mittel verändert w^erden. Die schwachen Muskeln, welche, von den benachbarten Teilen der Schädelknochen entspringend, sich an seine knorpelige Grundmasse anheften und ihrem Verlaufe nach wohl als Hück- und Vorwärtsdreher und als Heber des äufseren Ohres dienen könnten , sind in der Hegel viel zu wenig entwickelt , um einer namhaften Wirkung fähig zu sein, und gewöhnlich auch jedem direkten Willenseinflusse entzoa-en. Nur bei Tieren treffen wir zum 1 Rinne, a. a. O. p. 72. — Neu best.ltigt durch HESSLER, Ardi. f. Ohrenheilk. 18S1. Bd. XVni. p. 227. 16* 244 DAS ÄUSSERE OHR. § 99. Teil eine selir grofse freie Beweglichkeit des äufseren Olires an, deveu Z-weck wir sogleicli kenneu lernen werden. Die akustisclien Dienste des äufseren Ohres sind durchaus nicht so klar ermittelt, als man von vornherein erwarten sollte; der richtige allgemeine Ausdruck: es dient das Ohr zum Auffangen der Schallwellen, hedarf einer näheren physikalischen Erörterung der Art und Weise, in welcher die Luftwellen aufgefangen und den inneren Schallleitungsapparaten zugeführt werden. Dafs die Ohr- muschel zum Hören nicht unbedingt notwendig ist, Tonempfiudungen durch Luftwellen auch bei fehlender Ohrmuschel zustande kommen, oft sogar dieser Mangel keine erhebliche Beeinträchtigung der Schärfe des Gehörs mit sich bringt, ist eine alte durch Versuche bestätigte Erfahrung. Harless^ setzte in den äufseren Gehörgang ein kurzes Glasröhrchen von gleicher AVeite und umgab dasselbe bis zur vorderen Ofiuung mit einem Teige, welcher die ganze Ohrmuschel einhüllte und selbst infolge seiner physikalischen Beschaffenheit zur Schallleitung wenig tauglich war; dennoch trat keine merkliche Verminderung der Schärfe des Gehöres ein. Das Ticken einer Uhr wurde noch aus derselben Entfernung deutlich vernommen, wie bei freiem Ohr, auch wenn die Mündung des Röhrchens der Schallquelle nicht direkt zugekehrt war. Diese Beobachtung nimmt indessen dem äufseren Ohr keineswegs alle Bedeutung als akustischer Apparat, um so weniger, als andre Beobachter im Gegenteil eine merkliche Schwächung des Gehörs bei gleicher Ausfüllung der Ohrmuschel ge- funden haben." Es ist ein doppeltes Verhalten des äufseren Ohres gegen die ankommenden Luftwellen möglich: erstens ist zu untersuchen, wie weit die Wellen seiner Substanz selbst sich mitteilen, durch Schwingungen seiner Wände auf die Wände des Gehörganges und das Trommelfell übertragen werden; zweitens, wie weit die Ohrmuschel als Reflektor dient, indem sie die Schallwellen, welche ihre Fläche treffen, nach der Luftsäule des Gehörganges zurückwirft. Während man früher geneigt war, die Reflexion als alleinige oder vornehmste Bestimmung der Ohrmuschel zu betrachten, sucht man jetzt umgekehrt in _ derselben beim Menschen nur einen als festen Leiter dienenden Apparat und sieht die Reflexion, die nur in ge- ringem Mafse stattfindet, als eine untergeordnete Nebenleistung an. Nach bekannten physikalischen Gesetzen mufs der steife, elastische, frei ausgespannte Ohrknorpel ziemlich leicht Schallwellen der Luft aufnehmen und fortpflanzen, während er gleichzeitig die- selben teilweise zurückwirft. Die flache Ohrmuschel stellt, abgesehen von ihren Erhabenheiten und Vertiefungen, eine Platte dar; es gelten daher in betreff der Fortpflanzung des Schalles die für Platten 1 HARLESS, a. a. O. p. 350. « Esser, Annales des sciences naturelles. 1832. T. XXVI. p. 8. — SCHNEIDER, Die Ohr- miLschel und ihre Bedeutung heim Gehör. Dissert. Marburg 1855. — RINNE, Zfschr, f. raK Med. III. R. 1865. Bd. XXIV. p. 12. — POLITZER, Wien. med. Woclienschr. 1871. p. 499. § 99. DAS ÄUSSERE OHR. 245 ermittelten Gesetze. Ein Stofs, welcher gegen die Fläche einer Platte trifft, pflanzt sich nach allen Seiten in der Richtung dieser Fläche fort. Die Schwingungen der einzelnen Teilchen der Platte sind am stärksten , wenn der Stofs , also die Luftwelle , senkrecht auf die Platte trifft. Es geht hieraus hervor, dafs die Schwingungen, in welche die Luftwellen unsre Ohrplatte versetzen können, ihren Verlauf sämtlich nach der Wurzel derselben, dem Anfange des Gehörganges, nehmen werden, dafs eine Luftwelle ferner mit um so gröfserer Stärke auf diesem Wege die Wände des Gehörganges er- reichen wird, d. h. dafs die Exkursionen der schwingenden Teilchen der Öhrplatte um so erheblicher sein werden, je mehr das Auf treffen der Welle in senkrechter Richtuno: erfolo-t. Nun ist das Ohr zwar O O keine ebene Platte, kann daher von einem Wellenzuge nie in seiner ganzen Ausdehnung senkrecht getroffen werden; allein eben die mannigfachen komplizierten Erhebungen und Vertiefungen seiner Oberfläche machen es möglich, dafs jede Luftwelle, welche über- haupt diese Fläche erreicht, sie mag kommen aus welcher Richtung sie will, doch wenigstens einen kleineren oder gröfseren Teil der Fläche in senkrechter oder nahezu senkrechter Richtung ti'ifft und diesem sich in möglichst ungeschwächter Intensität mitteilt. Der günstigste Fall für die Fortpflanzung des Schalles wird daher ein- treten, wenn das Ohr mit der Ebene, in welcher die meisten Teile seiner Fläche liegen, senkrecht gegen die Schallquelle gerichtet ist. Diese Ebene direkt zu bestimmen, ist eine schwierige Aufgabe. Ebenso schwierig ist es, die Wege der von einer so unebenen Fläche reflektierten Schallwellen bei allen möglichen verschiedenen Rich- tungen ,der ankommenden Wellen direkt zu bestimmen, und doch läfst sich nur durch eine solche Untersuchung ermitteln, wie weit das Ohr als Reflektor der Schallwellen akustische Dienste leistet. Altere Physiologen, insbesondere Boerhave^, glaubten aus einer oberflächlichen Analyse der Art schliefsen zu dürfen, dafs die Ohr- muschel alle sie treffenden Schallwellen in solcher Richtung reflektierte, dafs dieselben in den äufseren Gehörgang eingeworfen würden. Esser- hat dagegen durch ein sorgfältiges Studium an Wachs- modellen des Ohres bestimmt nachgewiesen, dafs bei allen möglichen Einfallswinkeln der Schallwellen doch immer nur ein sehr geringer Teil derselben dem Gehörgang zugeworfen werden kann, dafs es nur wenige Punkte an der Ohrmuschel gibt, von welchen aus eine Schallwelle diese Direktion erhalten kann. Selbst eine doppelte Reflexion von der Muschel nach dem Tragus und von diesem in den Gehörgang ist nur in so beschränktem Mafse möglich, dafs der einst so hoch geschätzte Nutzen der Ohrmuschel als Reflektor jetzt auf einen unbedeutenden Wert reduziert ist.^ Buchanan"^ hat zu * BOERHAVE, Praelect. academ, Bd. HL p. 1S4. * Esser, a. a. O. 3 Vgl. MACH, Arch. f. Ohrenheilk. 1875. N. F. Bd. m. p. 72. * BUCIIANAN, P/tysiol. illustrat. of the org. of hearing. London 1828. p. 78. — Meckels Arch. f. Anai. u. Physiol. 1828. p. 489. 246 PAS ÄUSSERE OHR. § 99. ermitteln gesucht, in wie weit die Grüfse des Winkels, welchen die Ohrmuschel mit der Fläche der ^Jrtr.s mastoidca des Felsenbeines bildet, von EiiiHuis auf die Gehörsperception sei, und will einen güustigsten Fall für die Schärfe derselben in einer Winkelgröfse von 40" gefunden haben, während eine beträchtliche Abstumpfung des Gehörs eintreten soll, wenn der fragliche Winkel weniger als lö*^ beträgt. So allgemein gefafst müssen diese Angaben wohl als unrichtig bezeichnet werden, da offenbar von einem für sämtliche Schall- richtungen gleich günstigen Winkel niemals die Rede sein kann. Im ganzen zutreffend dürften sie sich dagegen für alle von der Stirnseite her an beide Ohrmuscheln herantretenden Luftwellen er- weisen. Denn zweifellos gewinnen in dem gedachten Falle unsre Gehörswahrnehmungen an Schärfe, wenn wir mit den Händen die Ohrmuscheln nach vorn biegen und ihren Anheftungswinkel an das Hinterhaupt somit vergröfsern. Schwerhörige Ijedienen sich daher auch dieses durch die alltägliche Erfahrung gelehrten Kunstgriffes zur Verbesserung ihres Hürvermögeus fast regelmäfsig und suchen seine Wirksamkeit dadurch noch zu steigern, dafs sie die FJäche der Ohrmuschel durch Anlegen der muschelförmig gekrümmten Hohlhände verbreitern. Im Sinne unsrer früher begründeten An- schauung werden wir diese Thatsache nicht etwa mit Buchanak' darauf zu beziehen haben, dafs die Vorwärtsbiegung des äufseren Ohres unter Umständen eine verstärkte Reflexion der Schallwellen zum Gehörgange bewirkt, sondern dahin deuten müssen, dafs die gerade von vorn zum äufseren Ohre gelangenden Schallwellen eine gröfsere Zahl von Oberflächenpunkten scheitelrecht treffen und folglich in kräftigere Mitschwingung versetzen, wenn der hintere Ansatz- winkel desselben künstlich vergröfsert, als wenn er in seinen nor- malen Verhältnissen belassen wird. Das gleiche Ziel erreicht das leicht bewegliche Ohr der Tiere, wenn es mit seiner Öffnung dem Schalle entgegengekehrt wird. Beim Horchen, wobei wir eine möglichst intensive Wahi'- uehmung einer gewissen Schallbewegung beabsichtigen, pflegen wir uns nur eines Ohres zu bedienen und dieses in die zur Perception günstigsten Verhältnisse zu bringen, was für beide zugleich un- möglich ist. Zu diesem Behufe stellen wir die Achse eines Gehör- ganges möglichst in die Richtung der Schallwellen, so dafs ein möglichst grofser Teil derselben direkt in den Gehörgang und zum Trommelfell gelangt, gleichzeitig steht dabei die Ohrmuschel bei mittlerem Anheftungswinkel zu den Schallwellen in günstigster Richtung, d. h. mit vielen Teilen senkrecht gegen dieselben. Harless' macht darauf aufmerksam, dafs die Reflexion der Schallwellen von den unebenen Wänden der Ohrmuschel noch auf andrem Wege, als durcli » HARI.ESS, a. a. O. p. o6S. — Vgl. dagegen RINNE, ZUchr. f. rat. Med. 1865. lU. R. Bd. XXIV. p. ]2. § 99. DER ÄUSSERE GEHÖRGAXCt. 247 Lenkung- derselben nach dem Geliörgange, eine Verstärkung der "Wahrnelimung herbeiführen könne. Jede das ( Jhr treffende Luftwelle von beliebiger Richtung mufs von einer so unebenen Fläche in den mannigfaltigsten Richtungen re- flektiert werden, die reflektierten Wellen müssen sich häufig diirchkreuzen und demnach, wo Thal und Thal, Berg und Berg der "Wellen aufeinanderfallen, verstärken. Diese Durchkreuzung und Verstärkung der reflektierten Wellen kann indessen nur dann für die Gehörswahrnehmung von Nutzen sein, wenn eben diese Wellen auf irgend eine Weise den schallleitenden Apparaten mit- geteilt werden können, was aber, wie erwähnt, nur in geringem Grade der Eall ist. Die geringe Pi'äzision, -welclie unserni Wis.sen liinsichtlicli der Bedeutimg des ersten Scliallleitungsapparates, der Ohrmuscliel, trotz ilirer Gröfse und Zugängliclikeit innewohnt, wiederliolt sich auch hin- sichtlich derjenigen des zweiten, des äufseren Gehörganges. Bekannt ist uns im wesentlichen nur, dafs Verschlufs der äufseren Ohröffnung die Wahrnehmung der aus der Atmosphäre au uns her- antretenden Schallreize erheblich schwächt» und wir haben daraus 2u folgern, dafs der äufsere Gehörgang vermöge seines Luft- gehaltes die atmosphärischen Schalhvellen, also einerseits die un- mittelbar von der Schallquelle herkommenden, anderseits die geringe Menge der von der Ohrmuschel reflektierten dem über seine innere Eudöffnung ausgespannten Trommelfell zuleitet. Dafs beide Wellen- kategorien auf ihrem Wege dahin, wie in einem Hörrohre, mannig- fache Reflexionen an den Wänden des gekrümmten, an verschiedenen Stellen verschieden weiten Kanals erleiden und sich deshalb "säelfach durchkreuzen werden, ist mit Bestimmtheit anzunehmen; sicherlich dürfte kaum eine einzige Luftwelle von aufsen direkt zum Trommel- felle gelangen, ohne auf eine Stelle der Kanalwandung zu stofsen und reflektiert zu werden. Aufserdem läfst sich noch mit Grund voraussetzen, dafs auch die knorpeligen und knöchernen Wandungen des äufseren Gehörganges an der Schallleitung beteiligt sein müssen, insofern es sich um die Fortpflanzung von Schall- schwingungen handelt, welche in die Substanz der knorpeligen Ohr- platte und der Kopfknochen übergegangen sind. Einen unerwarteten, zuerst von Weber und Wheatstoxe' beschriebenen Effekt hat der Verschlufs des äufseren Gehörganges auf die Wahrnehmbarkeit aller derjenigen Töne und Geräusche, welche den inneren Gehörorganen ganz oder wenigstens zum grofsen Teile durch Kopfleitung übermittelt werden. Das Summen, welches wir mit unsern eignen Stimmwerkzeugen hervorbringen, oder die Töne oszillierender Stimmgabeln, welche zwischen den Zähnen festgehalten werden, hören wir nach Verstopfung eines Gehörganges am intensivsten auf dem verstopften Ohre, und auf beiden verstopften Ohren deutlicher, als wenn beide offen sind. Gegen die nahe liegende Deutung, dafs dieses Anschwellen der Tonstärke auf Resonanz beruhe, hat sich Harless- ausgesprochen. Er glaubte, dafs die Verstärkung nur eine scheinbare wäre, und verwies die ganze Erscheinung in das Gebiet der Urteilstäuschungeu. Wir wüfsten, meinte er, dafs beim ge- ' E. H. Weber, Annot. anaf. et phi/s. 1827. p. 27, ii. WheATSTONE, Quurterl'j Journ. of Science. N. Ser. 1S27. " HARLESS, a. a. O. p. 329. 248 ÜER ÄUSSERE GEHÖEGANG § 99. wohnlichen Hören die Lufttöne im verstopften Ohre schwächer vernommen würden; hörten wir nun bei verstopftem C)hre einen Ton ebenso intensiv als bei offenem, so hielten wir den ersteren für intensiver, weil wir unbewufst die für Lufttöne gewonnene Erfahrung auch auf die durch Knochen geleiteten Töne übertrügen und daher nach Verstopfung des Ohres eine Schwächung derselben erwarteten. Diese HAULE.sssche Hyi^othese wird jedoch widerlegt durch einen von EiNNE^ angegebenen Versuch. Hält man eine oszillierende Stimmgabel gegen die oberen Schneidezähne, bis der Ton eben unhörbar geworden ist, so wird er in dem Moment von neuem deutlich hörbar, wo wir den Gehörgang verstopfen. Hier kann an eine Urteilstäuschung nicht gedacht werden; die Ver- stärkung des Tones durch Einschliefsung der Luftsäule im Gehörgange mufs, da ein verschwundener Ton wieder hörbar wird, eine wirkliche sein. In welcher Weise diese Resonanz zustande kommt, läfst sich nicht genau angeben. Un- denkbar wäre nicht, dafs Schwingungen des Trommelfells, welche auf die Luft des äufseren Gehörgangs übergegangen sind, hierbei eine wesentliche Rolle spielten. Bei geöfi'netem Gehörgange, wo ihrem Austritte aus demselben zur Atmosphäre kein Hindernis entgegensteht, wird ihre lebendige Kraft dem schall- leitenden Apparat fortwährend zu einem nicht unbeträchtlichen Anteile ent- zogen (Mach-), bei geschlossenem werden sie ihre Bewegung zum Teil an die Wandungen des Kanals,- zum Teil an die verschliefsenden Objekte, die Hand oder den vorgebogenen Finger, abgeben, gelangen so aufs neue zu ihrem Ausgangspunkte, dem Trommelfelle, zurück, summieren sich hier mit den dem- selben anderweitig fort und fort zugehenden Bewegungsimpulsen und vergröfsern damit notwendig den durch die Schwingungen des Trommelfells vermittelten Gehöreffekt. ^ Ob diese Erklärung der WEBER-WnEATSTONEschen Beobachtung bei genauerer Analyse der letzteren Stich hält, mufs dahingestellt bleiben; die Voraussetzung jedoch, von welcher sie ausgeht, dafs Schallbewegungen, welche den Gehörorganen durch die Kopfknochen zugeleitet werden, durch das Trom- melfell der Luft des äufseren Gehörganges mitgeteilt werden, ist durch einen von E. Berthold* ersonnenen Versuch leicht zu erbringen. Man führt ein nicht zu enges Glasrohr mit dem einen offenen Ende luftdicht in den äufseren Gehörgang ein. Das andre frei hervorragende Ende ist in einiger Entfernung von der Ohrmuschel mit einem ebenfalls offenen horizontalen Ansatzrohreversehen, welches mit der Gasleitung in Verbindung zu setzen ist, biegt sich vertikal aufwärts und läuft in eine fein ausgezogene Spitze aus. Nach Entzündung des aus letzterer strömenden Gases hat man die hierbei entstehende schmale Spitzflamme in einem rotierenden Spiegel zu betrachten, wo ihr Bild als breites leuchtendes Band mit vollkommen glatten Rändern zur Erscheinung gelangt. Nimmt man als- dann eine hörbar tönende Stimmgabel zwischen die Zähne oder summt mit leiser Stimme, so erblickt man anstatt des früheren glattrandigen Lichtstreifens eine breite Wellenlinie, deren aufeinander folgende Wellenberge ihrer Zahl nach genau den Schwingungszahlen der gerade benutzten Tonquellen ent- sprechen, ein klarer Beweis, dafs die in dem äufseren Gehörgange ein- geschlossene Gasmasse in Mitschwingung vei'setzt worden__ ist. Hat man vor Einführung der Glasröhre in den Gehörgang die innere Öffnung der ersteren durch einen Pfropf geschlossen oder auch den Gehörgang mit Wasser angefüllt, so verursacht weder die eigne Stimme noch die oszillierende Stimmgabel irgend welche Vibrationen der Flamme, zum Zeichen, dafs die im voran- gegangenen Experimente gesehenen nicht durch dem Glasrohr übertragene Schwingungen der festen Wandungen des Gehörkanals, sondern durch die Schwingungen des Trommelfelles erzeugt worden waren. 1 Rinne, a. a. O. p. 114. 2 E. Mach, Wiener Stzber. Math.-natw. Cl. II. Abth. 1803. Bd. XLVIII. p. 28", u. ebenda. 1864. Bd. L. p. 342. ä Vgl. POLITZER, Arch. f. Ohrenheilk. 1864. Bd. I. p. 54 u. 318. 3 E. BERTHOLD, Monatssclir. f. Ohrenheilk. 1872. No. 3. § 99. PAS TROMMELFELL. 249 Eine genauere physikalische Zergliederung des Verhaltens der Schallwellen im Gehörgauge ist zur Zeit noch nicht möglich; wir sind nicht imstande, den Einflufs der verschiedenen Krümmungen, der veränderlichen Weite genau zm berechnen. Die verschiedene Länge des Kanals, die anfängliche organische Verlötung seiner Wandungen hei Neuq-eborenen, die Kürze bei Kindern sind entschieden von Einflufs auf die Intensität, mit welcher die Schallwellen die Trommel- fellmembran erreichen ; ob die Kürze dieses Kanals die relative Schwerhörigkeit von Kindern auch nur mitbedingt, mufs jedoch als höchst fraglich bezeichnet werden. Im Normalzustande wird die innere Oberfläche des Gehör- ganges von dem sogenannten Ohrenschmalz, dem gemischten Sekret der Schweifsdrüsen und Talgdrüsen dieser Hautpartie überzogen. Ob dieses Sekret für das Hören überhaupt einen Nutzen und welchen es haben möge, ist trotz mannigfacher Hypothesen durchaus noch unentschieden. Die ärztliche Erfahrung, dafs bei völlig mangelnder Absouderuncr Schwerhöris^keit und zuweilen ein Brausen eintritt, welches durch Bestreichen der Oberfläche mit Ol gemindert wird, hat zu der Vermutung geführt, dafs der Schmalz vielleicht ein störendes Mitschwingen der Wände des Ganges und die Entstehung jenes Brausens, welches die Luft z. B. beim Einströmen in eine Muschel erzeugt, verhüte. Gegen diese von Linke ^ aufgestellte Hypothese wendet Harless ^ ein, dafs ein vor das Olir gehaltenes Kelchglas das Brausen auch dann noch hören lasse, wenn man seine Wände mit zerlassener Butter überzogen habe. Den wichtigsten und letzten Abschnitt des äufseren Schall - leitungsapparates bildet das Trommelfell, eine gespannte elliptische Membran, welche ringsum mit ihrem Rande angewachsen das knöcherne Ende des äiifseren Gehörganges überzieht und eine ziemlich feste Scheidewand zwischen diesem und der Paukenhöhle herstellt. Die eigentliche Trommelfellmembran ist eine fibröse, aus äufseren Radial- und inneren Zirkularfasern zusammengesetzte Haut, welche mit dem Periost des äufseren Gehörganges und der Paukenhöhle zusammenhängt, auf ihrer Aufsenseite von einer zarten Epidermisschicht, auf der Innenseite von einer dünnen Eorsetzung der Schleimhaut der Paukenhölile mit einfachem Pflaster- epithel überzogen ist. Die Ebene des Trommelfells liegt weder zur Achse des Gehörganges, noch zur senkrechten (von vorn nach hinten gehenden) Halbierungsebene des Kopfes senkrecht. Mit der Achse des Gehörganges bildet es bei Erwachsenen einen Winkel von 75 — 80", so dafs seine äufsere Fläche schräg nach abwärts gegen den Boden des Kanals und zugleich etwas nach vorn sieht. Bei Kindern ist seine Neigung noch beträchtlicher; doch findet man es auch bei Erwachsenen häufig fast ganz horizontal gelagert. Das Trommel- fell hat keine ebene, sondern eine krumme, mit der Konvexität dem äufseren Gehörgauge zugewandte Fläche. Nahe dem Zentrum wird es durch den zwischen seine Platten von oben her eingeschobenen Hammergriff einwärts nach der Trommelhöhle zu gezogen und dadurch im ganzen gespannt. Von i-LiNKE, Handh. d. theoret. u. pract. Ohrenheilk. Bd. I. p. 452. • HARLESS, a. a. 0. p. 352. 250 DAS TROMMELFELL. § 99. der Seite des äufseren Geliörgaiiges betrachtet mufs es demnach die Er- scheinung eines flachen Trichters mit konvex in das Lumen desselben vorsi^ ringenden .Seitenwandungen darbieten. Sein tiefster von der Ohröffnung am weitesten entfernter Punkt, die Trichterspitze, wird als Umbo, Nabel, bezeichnet. Die akustische Bestimmung des Trommelfells im allgemeinen liegt klar zutage. Als gespannte Membran hat es die Eigenschaft, mit Leichtigkeit die Schallwellen der Luft aufzunehmen und an feste Körper, Avelche mit ihm in Verbindung stehen und selbst nur schwierig Luftwellen aufnehmen, abzugeben; es dient daher zur Lbertragung der im Gehürgange ankommenden Luftwellen an die Gehörknöchelchen, welche die empfangene Bewegung durch ihre ge- gliederte Kette hindurch fortpflanzen und unter Mithilfe einer zweiten gespannten Membran später an das Labyrinthw^asser abgeben. Dafs gespannte Membranen durch Schallwellen der Luft leicht in Schwin- gungen geraten, ist eine bekannte physikalische Thatsache und durch einen von Savart^ angegebenen Versuch leicht zu beweisen. Hält man vor eine mit Sand oder Bärlappsamen bestreute Membran eine in tönenende Schwin- gungen versetzte Stimmgabel, so wird der Sand von der Membran abgeworfen. Dafs diese durch Luftwellen erzeugten Schwingungen wiederum leicht an feste mit der Membran verbundene Körper übergehen, lehrt ein schöner A''ersuch von J. MuELLER. Umfafst man mit der Hand einen Ring, über welchen eine Membran gesj^annt ist, und nähert man der letzteren eine tönende Stimmgabel, so fühlt man deutlich die Schwdngungen, welche dem Ringe mitgeteilt werden; entfernt man die Membran und nähert dann die Stimmgabel in gleicher Weise dem Ringe, so fühlt man dagegen keine Erzitterungen desselben. Das Trommelfell steht an zwei Stellen mit festen Körpern in Verbindung, an seinem Rande mit den Wänden des knöchernen Gehürganges und durch diese mit den V^^änden des Labyrinthes, zweitens durch den einsrewachsenen Hammero'rifF mit den Gehör- • • • knöchelchen und durch diese mit dem Labyrinthwasser. Dafs es letztere sind, au welche das Trommelfell seine Schwingungen abzu- geben bestimmt ist, lehrt die einfache Anschauung des Apparates; die Gehörknöchelchenkette erscheint auf den ersten Blick als bestimmt und besonders geeignet, die Schwingungen des Trommelfells isoliert, da feste Körper ihre Schwingungen schwer an Luft abgeben, durch die mit Luft gefüllte Paukenhöhle hindurch zum Labyrinth und den Nerven desselben fortzupflanzen. Dafs die vom Trommelfell auf das Felsenbein übertragenen Schwingungen zum Nerven und somit zur Perceptiou gelangen können, ist unzw^eifelhaft ; es ist indessen diese durch die Elastizität des Knochengewebes bedingte Leitung ebenso als eine zufällige Nebenleitung zu betrachten, wie die Fortpflanzung des Schalls durch die Kopfknochen bei Lufttieren überhaupt. Harless^ hat zum Beweise für die gute Übei'tragung der Trommelfell- schwingungen auf die Felsenbeinwände folgende Versuche angestellt. Er liefs 1 SAVAKT, Annales de physique et de cJiimie. 1S24. Bd. XXVI. p. 5. « HARLESS, a. a. O. p. 361. § 99. DAS TEOMMELFELL. 251 einer Person von einer dritten durcli eine lange in den Gehörgang eingefügte Holzröhre leise in das Ohr sprechen und auskultierte mittels eines Stethoskops die verschiedenen Teile des Schädels. Er fand, dafs an der ganzen Oberfläche des Kopfes deutlich die Stimme aus dem Stethoskop zu kommen schien ; am stärksten vernahm er sie, wenn er das Stethoskop auf das andre Ohr auf- setzte. Letzteren Umstand erklärt Harless daraus, dafs das andre Ohr gerade in der Direktion der primären Schallwellen liegt, und vielleicht die Mitschwin- gungen des zweiten Trommelfelles eine bessere Übertragung des Schalles an die Luft vermitteln. Den Beweis für die gewissermafsen entgegengesetzte Thatsache, dafs die durch die Kopfknochen aufgenommenen und geleiteten iSchalhvellen ebenfalls durch Mitwirkung des Trommelfells zur Perception ge- langen, dafs aber diese Wirksamkeit verloren geht, sobald der äufsere Gehör- gang mit Wasser gefüllt wird, hat Ed. Weber^ durch Versuche geliefert. Es ergab sich, dafs beim Untertauchen im Wasser das Hören einer im Wasser erzeugten und durch das AVasser an die Kopfknocheu abgegebenen Schall- bewegung wesentliche Verschiedenheiten zeigt, jenachdem der Gehörgang mit Luft oder mit Wasser gefüllt ist, das Trommelfell also mitwirkt oder nicht. Im ersteren Falle verlegen wir die Schallquelle nach aufsen, objektivieren also die Empfindung und unterscheiden die Richtung, aus welcher die Schallwellen kommen, im zweiten Falle erscheint uns der Schall als eine Empfindung im Innern des Kopfes, und wir unterscheiden nicht, ob er von rechts oder links kommt. In einem späteren Abschnitte, wo wir die Objektivierung der Gehörs- empfindung und die Wahrnehmung der Schallwellenrichtung behandeln, kommen wir auf diese interessanten Thatsachen zurück. Von welcher Natur sind die Scliwingungen des Trommelfells? Gerät dasselbe durcli die ihm mitgeteilten Schallwellen in Beu- gungswellen (transversale Schwingungen), oder laufen durch seine Substanz nur Verdünnungs- und Yer dicht ungs wellen (longi- tudinale Schwingungen)? In dieser Hinsicht ist wohl als festgestellt anzusehen, dafs die von der Luftsäule des äufseren Gehörganges auf- genommenen Yerdünnungs- und Verdichtungswellen im Trommelfell, wie in allen gespannten Membranen, Beugungswellen hervorrufen, bei welchen dasselbe in einer zu seiner Ebene senkrechten Eichtuug hin und her oszilliert. Der Befestigungsweise des Trommelfells ge- mäfs wird hierbei sein Zentrum, der XJmbo, die gröfsten Exkursionen machen, während die übrigen Oberflächenpunkte um so geringere Lageveränderungen erleiden, je näher sie dem Rande liegen, und letzterer selbst endlich wegen seiner knöchernen starren Anheftung in völliger Ruhe verharrt. AVas diejenigen Schwingungen anbelangt, in welche das Trommelfell durch die vom sulcus tympani her ihm zugeführten Schallbewegungen der Kopf knocken geraten kann, so werden diese freilich wohl den Charakter longitudinaler, in der Richtung der Trommellfellradien fortschreitender Yerdichtungs- und Yerdünnungswellen tragen, ohne deshalb aber gerade einen andren Bewegungseffekt als die Luftwellen auszulösen. Denn wenn sich die zum einwärts gebogenen ümbo hinziehenden Radien des Trommel- fells abwechselnd verkürzen und verlängern, wie sie es im Falle longitudinaler Schwingungen thun müssten, so wird auch hierdurch ' Ed. Weber, Ber. üb. d. Verhandl. d. kql. sächs. Gef.. d. \Yisi. zu Leipzig. Math.-phys. Cl. ISöi. Mai 38. p. 29-31. 252 DAS TROMMELFELL. § 99. eine senkrecht zur Trommefellebene gerichtete Pendelbewegung des Umho, also eine transversale Schwingung desselben, erzeugt werden. Alle diese aus den physikalischen Verhältnissen des Trommelfells gezogenen Schlüsse lassen sich experimentell unschwer bestätigen. Die BeugungSAvellen, in welche dasselbe direkt durch die Schall- bewegungen der Luft versetzt wird, werden auf das deutlichste sichtbar gemacht, wenn man an einem geöffneten Schädel in der oberen Wand des cavuni tympani einen kleinen gläsernen Gasbrenner luftdicht einkittet, von der tuha Eustachii mit Leuchtgas speist und sodann anzündet. Die Erschütterungen des Trommelfells, welche jedesmal bei Angabe irgend eines beliebigen musikalischen Tones im Versuchszimmer entstehen, teilen sich der Gasmasse des cavuni tympani mit und werden durch entsprechendes Vibrieren des in einem rotierenden Spiegel zu betrachtenden Flammenbildes angezeigt (Hensen ^). Sobald man den äufseren Gehörgang fest verschliefst oder mit Wasser anfüllt, verschwinden die Vibrationen. Auf ganz gleichem Wege hat Berthold die Beugungswellen des Trommel- fells bei Erregung seiner Thätigkeit durch die Schallwellen der Kopfknochen nachgewiesen (s. o. p. 248). J. MuELLER- hat einst die zeitweilig von den meisten Physiologen ange- nommene Ansicht ausgesprochen, dafs es von der Stärke des Stofses abhänge, welche Art von Wellen einträte ; sei der Stofs der Luftwelle so intensiv, dafs die Exkursionen, in welche die Moleküle des Trommelfells geraten, gröfser sind, als die Dicke des Trommelfells, so entstehen Beugungswellen, bei geringerer Intensität des Stofses dagegen, sobald die Exkursion der Teilchen kleiner als die Dicke der Membran ist, entstehen nur Verdichtungs- und Verdünnuugs- wellen. Letzteren Fall hält J. Mueller für den normalen, weil nach unge- fähren Berechnungen in der Mehrzahl der Fälle die Exkursionsweite der Luftteilchen geringer sein müsse, als der Durchmesser des Trommelfells. Dieser Rechnung liegt das jjhysikalische Gesetz zu Grunde, dafs bei einer nach allen Seiten kugelförmig fortschreitenden Schallwelle die Dicke der Welle zwar beim Fortschreiten in demselben Medium ungeändert bleibt, die Exkursion der schwingenden Teilchen dagegen proportional dem Quadrat der Entfernungen der Teilchen vom schallerzeugenden Zentrum der Kugel abnimmt. Ist also- z. B. die Schallquelle in der Luft 10 Fufs vom Trommelfell entfernt, und sind die von ihr ausgehenden Stöfse so beträchtlich, dafs die Luftteilcheu in 1 Fufs Entfernung von der Schallquelle eine Exkursion von 1 Zoll machen, so beträgt nach obigem Gesetz die Exkursion der an das Trommelfell grenzenden Teilchen nur noch Vioo Zoll. Diese Schlufsfolgerung J. Muellers ist in ihrer Prämisse nicht richtig; die Exkursionsweite der einzelnen Teilchen kann nicht das die- Wellenform bestimmende Moment sein. Wäre dies der Fall, so müfste, wie Rinne entgegenhält, eine durch Anschlagen zum Tönen gebrachte Stimm- gabel anfangs in Beugungswellen, beim Abklingen dagegen, wenn die Exkur- sionen geringer als der Durchmesser der Gabel werden, in Yerdünnungs- und Verdichtungswellen geraten. Ebenso würde eine gespannte Saite beim schwachen Mitklingen "Verdünnungs- und Verdichtungswellen, beim starken Tönen durch Anschlagen oder Streichen Beugungswellen zeigen. Das wesentliche Moment,, welches die Wellenform bestimmt, ist entschieden in folgendem zu suchen. ' V. Hensex, Arb a. d. Kieler pln/swl. Institut. 1869. p. 30 in den Experim. Stud. zur Physiol. des Gehörorg.ins, mit Zusätzen von V. HexSEN, von SCHMIEDEKAM. ^ J. Mueller, a. a. O. p. 431. ^ 100. DIE GEHÖRKNÖCHELCHEN. 25?> Tropfbarflüssige Körper geraten auch bei der stärksten Exkursion der einzelnen Teilchen nicht in Beugungs-, sondern stets in Yerdünnungs- und Yerdichtungs- wellen, eine an zwei Enden gespannte Saite dagegen stets in Beugungswellen. Warum? Bei einer Flüssigkeit kann jedes einzelne Teilchen in gleicher AVeise dem Stofse der antreffenden Welle folgen; die Lage jedes Flüssigkeits- teilchens in jedem Moment wird nur durch sein in diesem Moment stattfin- dendes Verhältnis zur Welle bestimmt. Anders verhält es sich bei einer gespannten Saite; bei dieser sind nicht alle Teile in gleichen Verhältnissen, nicht in gleicher Weise beweglich. Die Fixationspunkte der Saite sind unbe- weglich, je weiter ein Teilchen nach dem Mittelpunkte zwischen beiden be- festigten Enden liegt, desto gröfser ist seine Beweglichkeit. Denken wir uns nun eine Welle von der Breite, als die Saite lang ist, und diese Welle gleich- zeitig alle Teile der Saite in gleicher Stärke stofsend, so werden die mittleren Teilchen dem Stofse am besten folgen, die gröfste Exkursion machen, die nächstseitlichen schon in geringerem Grade, und so fort mit gegen die Fixationspunkte abnehmender Exkursionsweite. Daraus folgt notwendig, dafs die Saite, indem sie dem Stofse folgt, eine gebogene Form annimmt, von welcher eben die Bezeichnung der Beugungswellen herrührt. Ganz das- selbe Verhältnis findet sich bei einer gespannten Membran, wie das Trommel- fell ist, bei welcher die Beweglichkeit der Teilchen vom Zentrum nach den fixierten Eandteilchen in stetiger Progression abnimmt. Die Bewegung jedes Teilchens hängt hier nicht allein von seinem Verhältnis zur Welle, sondern auch von dem Grade des Widerstandes, welchen seine durch feste Adhäsion mit ihm verbundenen Nachbarn seiner Bewegung entgegensetzen, ab. Dieser Widerstand wächst vom Zentrum nach dem Rande, wie bei der Saite von der Mitte nach den Enden; folglich wird auch bei einer runden Membran die Folge des Wellenstofses, der sie in ganzer Breite trifft, eine kuppeiförmige Wölbung, eine Beugungswelle sein. Es geht hieraus hervor, dafs die haujjt- sächliche Bewegung des Trommelfells, in welche es durch den Stofs der Luft- wellen gerät, wohl jedenfalls eine Beugungswelle ist, und zwar ohne Unter- schied , mag der treffende Stofs stark oder schwach sein , ein schwacher oder starker Ton gehört werden, die Exkursion der Membranteilchen gröfser oder kleiner als die Dicke des Trommelfells sein. Die Scliwingungen des Trommelfells werden modifiziert, je nachdem die Spannung desselben zu- oder abnimmt; der Apparat, durcb welchen dies ausgeführt wird, und seine AYirksamkeit , sowie die Lehre von der Eesonanz des Trommelfells Avird uns später beschäftisren. SCHALLLEITUNGSAPPARATE DES MITTELOHRS. § 100. Die Gehörknöchelchen: Hammer, x^mbos und Steig- bügel, drei kleine, eigentümlich gestaltete, zu einem gegliederten Sy- stem vereinigte Knöcb eichen bilden die Leitungsbrücke für die Schall- wellen von der Trommelfellmembrau zum Labyrinthwasser durch die mit Luft gefüllte Paukenhöhle hindurch. So klar auch hier diese Bestimmung der Knöchelchen in die Augen springt, so mannigfache Schwierigkeiten stellen sich der näheren Analyse ihrer Funktion ent- gegen. AVarum diese eigentümliche Form? AYarum statt eines •einfachen glatten Stäbchens, welches mit einem Ende auf dem 254 DIE GEHÖRKNÖCHELCHEN. §100. Trommelfell, mit dem andren auf der Memhi"an des ovalen Fenster.s ruht, dieses komplizierte, durcli Gelenke verbundene System von drei KnöchelclienV Wozu die Einlenkung dieses Systems mit zwei Armen an den gegenüberstehenden Rändern der Trommelfellein- fassung? Um diese Fragen, soweit es möglich ist, beantworten zu können, müssen wir zuvor einige anatomische Verhältnisse, die Ver- bindung der Knöchelchen, die Beschaffenheit der Gelenke und die Mechanik der möglichen Bewegungen in Kürze erörtern. Die Abbildung Fig. 103 stellt zur Erläuterung das Trommelfell des linken Ohres von innen senkrecht gegen die Trommelfellfläche gesehen dar. Das die Schallwellen vom Trommelfell aufnehmende Knöchelchen ist der Hammer und zwar sein Handgriff h {Hst. Fig. 104 nach Helmholtz), welcher zwischen die Platten des Trommelfells eingeschoben vom oberen Rande bis etwas über das Zentrum herab mit dieser Membran in fester Berührung ist.. Der Hals und der schwere kolbige Kopf d des Hammers ragen frei oberhalb des oberen Randes des Trommelfells Fig. lo."). in die Paukenhöhle hinauf; Hals und Handgriff bilden keine gerade Linie, sondern stofsen unter einem stumpfen Winkel aneinander. Vom Halse geht quer nach vorn über und vor dem Trommelfelle vorbei der lange Fortsatz, Processus Folianus, c, des Hammers (pr. F. Fig. 105). Bei Kindern setzt sich derselbe als dünne elastische Knochen- lamelle bis zur Fissura Glaseri fort, wo er durch derbe Bandmassen an der knöchernen Wand der Paukenhöhle befestigt wird; bei Erwachsenen ist er in der Regel bis auf einen relativ kleinen, dem Hammerhalse aufsitzenden Stumpf geschwunden und letzterer nur durch einen Zug elastischen Fasergewebes, das lig. mallei cuiteritis, dem gleichen Fixationspunkte angeheftet. Dieses Ligament,, welches nach einwärts federt und das Trommelfell mittels des Hammerhand- griffs trichterförmig einwärts spannt, gestattet dem Fortsatz eine beschränkte Drehung um seine Längsachse nach innen; bei dieser Drehung des Fortsatzes be- schreiljen Handgriff und Kopf des Hammers zwei ent- gegengesetzte Bogen, der Kopf nach einwärts, der Handgriff nach auswärts oder umgekehrt; der Bewegung des Handgriffs folgt das mit ihm verwachsene Trommel- fell, welches also bei der Einwärtsdrehung desselben an- gespannt, bei der Auswärtsdrehung abgespannt wird. Gesichert wird die eben geschilderte Bewegung des Hammers noch durch ein zweites Ligament, welches der Ansatzstelle des Ug. mallei anterius gegenüber von einem leistenförmigen Vorsprunge des Hammerhalses [crista, Fig. 104 c.) seinen Ausgang nimmt, sich mit divergieren- den Faserbündeln in breitem Zuge an die gegenüber- liegende Schläfenbeinwand ansetzt und namentlich durch einen hintersten straffsten Faserzug, das lig. mallei posticmn (Helmholtz'), die Drehungssachse des Hammers festzustellen vermag. Man ist daher wohl berechtigt, nach dem Vorgange von Helmholtz beide Ligamente, das lig. mallei posticwn und anterius, zusammen mit dem Namen des Hammerachsen band es zu belegen. Ungeachtet der straffen Befestigungsweise, welche dieses quer zum Hammerhals verlaufende Achsenband bedingt, besitzt dasselbe jedoch immer noch Dehnbarkeit 104. ij r. F Est. 1 Helmholtz, Pflxtegeks Arch. 1868. Bd. I. p. 1. §100. DIE GEHÖEKNOCHELCHEN. 255 genug, um der Bewegung des Hammers kleine Abweichungen, wie sie die Verbindung desselben mit den Gehörknöclielclien , ganz besonders mit dem Ambos, hervorbringt, zu ermöglichen. Bevor wir aber hierauf näher eingehen können, ist die Natur des zwischen Hammer und Ambos bestehenden Kontakts näher ins Auge zu fassen. Die aneinander stofsendeu Endflächen beider Knöchelchen werden von einer keineswegs sehr straffen Kapsel gemeinschaftlich umhüllt und sind ächte mit einem Knorpelüberzug versehene Gelenkflächen. Die Gelenkfläche des Hammers ist eine Art Sattel- fläche von längsovaler Form (s. Fig. 104 g), auf welche diejenige des Ambos natürlich genau pafst. Untersucht man die Art der Bewegung, welche das Hammerambosgelenk gestattet, näher, so findet sich, dafs dasselbe nur in äufserst geringem Grade die mit jeder Einwärtsschwingung des Trommelfells verbundene Eotation des Hammerköpfchens begünstigt, da sich die Kante der Ambosfläche, an welcher die gekrümmta Hammerfläche vorbeigleitet, sehr bald gegen den vorspringenden Rand (Fig. 105 sj) nach Helmholtz) dieses letzteren feststemmt. Anderseits ergibt sich, dafs bei einer nach entgegengesetzter Richtung erfolgenden Trommelfellschwingung die Gelenkflächen beider Knöchel- chen wegen der Schlaffheit der Gelenkkapsel um eine relativ nicht unbeträcht- liche Distanz voneinander abgehoben werden können. Wenn das Trommelfell also aus seiner normalen Lage nach einw^ärts gedrängt wird, so wird es diese Bewegung fast gar nicht ohne eine entsprechende Stellungsveränderung des Ambos zu vollziehen imstande sein, d. h. Hammer und Ambos werden sich dem Bewegungsim.pulse des Trommelfells gegenüber nicht so verhalten, als ob sie zwei durch ein bewegliches Gelenk ver- bundene Knochen, sondern als ob sie aus einer einheitlichen so- liden Masse geformt wären. Dagegen wird das Trommelfell, wenn es über seine Ruhelage hinaus nach auswärts in den äufseren Gehörgang Fig. 105. vorgetrieben wird, zwar den Hammer mitführen, den Ambos aber, soweit es der Spielraum des schlaffen Hammerambosgelenkes erlaubt, in seiner ursprünglichen Lage unbe- helligt lassen. Die feste Verbindung, Avelche im ersteren Falle Hammer und Ambos eingehen, ist es nun, durch welche die oben erwähnten kleinen Modifi- kationen der dem Hammer an und für sich zukommenden Drehbewegung- bedingt werden. Denn sind beide Knöchelchen erst durch die Sperr- vorrichtung ihres Gelenkes in der ge- schilderten Weise aneinander fixiert, so können sich die noch möglichen Stellungsveränderungen derselben nicht mehr allein nach der Drehungs- achse des festgestellten Hammers, sondern müssen sich auch nach derjenigen des Ambos richten. Um diese kennen zu lernen, haben wir uns Gestalt und Lage des letzteren ins Gedächtnis zu rufen. Bekanntlich hat der Ambos ungefähr das Aussehen eines Backzahns mit zwei verschieden langen, ziemlich unter einem rechten Winkel abgehenden Wurzeln. Der kurze Körper umfafst mit seiner gekrümmten Endfläche den Hammerkopf; von den beiden AVurzeln oder Fortsätzen geht der eine, der kurze Fortsatz (e Fig. 103) in gleicher Höhe mit dem Processus Folianus und demselben parallel oberhalb des Trommelfells zur 256 DIE GEHÖRKNÖCHELCHEN. § 100. Wand der Paukenhöhle, um sich dort mit einer sehr unvollkommen entwickelten, von einigen sogar gänzlich geleugneten Gelenkfläche anzuheften. Der lange Fortsatz {/' Fig. 103) verläuft dem Handgriff' des Hammers liarallel, jedoch etwas weiter nach hinten und innen als dieser, und trägt an seiner linsenförmigen, nach oben umgebogenen Apophyse, dem osviculum len- ticnlure SylvH, welches eine schwach konvexe Gelenktläche besitzt, das dritte Gehörknöchelchen, den durch seinen Namen treu charakterisierten Steig- bügel. Derselbe steht beinahe genau vertikal mit nach oben gekehrter Fufs- platte; seine Form ist keine vollkommen regelmäfsige; der nach hinten gelegene Schenkel ist länger und gebogen, der vordere ist kürzer und geht mehr gerade vom Capitulum zur Fufs2)latte. Letztere ist bekanntlich in die fenesira ovalis eingefügt, jedoch nicht fest, sondern durch einen schmalen häutigen Saum, welcher zwischen dem ßande der Platte und dem des Fensters ausgespannt ist, beweglich angeheftet. Nach der so beschaffenen Lage und Verbindung der Gehörknöchelchen kann der Modus ihrer gemeinschaftlichen Bewegungen kein andrer sein, als der von Ej). Webkr angegebene. Hammer und Ambos stellen einen Winkel- hebel dar, welcher sich um eine gemeinschaftliche Achse so dreht, als ob beide Knöchelchen ein einziges Knochenstück wären. Diese Achse entspricht aber Bicht genau der oben ermittelten Drehungsachse des Hammers, dem Achsen- bande, sondern wird durch den nach vorn gehenden processus Foliamis des Hammers einerseits und den nach hinten gehenden kurzen Ambosfortsatz anderseits gebildet, schneidet, wie Fig. 104 zeigt, den Hammer dicht unter dem Halse und geht schräg durch den Körper des Ambos. Die Drehung um diese Achse geschieht in einer Ebene, welche die Ebene des Trommelfells rechtwinkelig schneidet, und zwar in der Weise, dafs der Handgriff des Hammers und der lange Ambosfortsatz gemeinschaftlich einen Bogen nach innen, der Hammerkopf und der oberhalb der Achse liegende Teil des Amboskörpers einen entsprechenden Bogen nach aufsen, oder iimgekehrt bei der Rückwärtsdrehung be- ^'§^- ■^'^''• schreiben. Dem Handgriff des Hammers mufs notwendig das Trommelfell in der Art folgen, ■_ Z' N dafs ersterer dasselbe bei jeder Einwärtsdrehung i^ ^ /^( V einwärts zieht , den von der inemhrana tympani \\ "• >/^^^<:^\^"^'' gebildeten Trichter also vertieft, bei jeder Zurück- h!:^^^/^^^??*^ ' drehung dagegen abflacht. Dem langen Fortsatz ^ ^^^^^^^^^ö des Ambos mufs der an ihm befestigte Steigbügel /X^^^ in der Art folgen, dafs sein Fufstritt in der yy^ fenestra ovalis auf- und niedergeht, bei der Ein- y^ wärtsdrehung gehoben, also tiefer in das Fenster gedrückt, bei der Auswärtsdrehung gesenkt, also etwas aus dem Fenster zurückgezogen wird. Fig. 106 verdeutlicht diese Bewegungen. Sie stellt einen vertikalen Durchschnitt des Trommelfells mit den Knöchelchen von vorn gesehen dar, a ist der Durchschnittspunkt der Achse, die Pfeile be- zeichnen die Richtungen der gleichzeitigen Drehungsbogen der einzelnen Teile des Systems. Bei der Ausführung dieser gemeinschaftlichen Drehbewegung liegt der Angriffspunkt der wirkenden Kraft unter normalen Verhältnissen in der Spitze des Hammergriffs [a Fig. 105), der kurze in die Wand der Trommel- höhle eingefügte Ambosfortsatz [a Fig. 105) bildet das Hypomochlion, die Spitze des Ambosstieles h den Übertragungspunkt des einarmigen aus Hammer und Ambos gebildeten Hebels. Da nun an einem von Helmholtz angefertigten Gehörpräparat die ganze Hebellänge aa B'A mm, der Hebelarm ab 6V3 mm, also -/s des ganzen Hebels mafs, so folgt, dafs wenn die Sperrzähne {sp Fig. 105) am Ambos vind Hammer erst fest ineinander greifen, die Ex- kursionsweite des Ambosstieles h im allgemeinen kleiner ausfallen mufs als diejenige des Hammerhandgrifi'es, und in dem betreffenden Präparate Vs des letzteren betragen haben kann. Die absolute Gröfse der beschriebenen Hebel- § 100. DIE GEHÖRKNÖCHELCHEN. 257 Wirkung ist freilich immer nur äufserst gering zu veranschlagen. Um sie zu messen, haben Politzer und Helmholtz den einen (oberen) Bogengang des Labyrinths geöffnet, ein feines kalibriertes Glasröhrchen in denselben wasserdicht eingekittet und Vorhof und Röhrchen mit Wasser gefüllt. Wurde nun Luft in den äufseren Gehörgang eingetrieben, so drängte der Ambosstiel den Steig- bügel in die fenestra ocalis vor und verursachte dadurch ein Ansteigen des Wassers in dem Glasröhrchen. Aus der Querschnittsgröfse der fenestra ovalis und der Steighöhe des Wassers berechnete Helmholtz die Exkursionsweite der Steigbügelplatte, zugleich also auch diejenige des Ambosstieles auf 0,0726 mm, eine Zahl, welche zweifellos als eine maximale anzusehen sein wird. Die Widerstände , welche die Bewegung der Gehörknöchelchen hemmen und in engen Grenzen eingeschlossen erhalten, sind sehr n:iannigfacher Art. Erstens wird die Einwärtstreibung des Hammergriffes beschränkt durch die Elastizität des bereits nach innen gespannten Trommelfells, die Rückwärtsdrehung durch die Elastizität der Anheftungsmasse des processus Folianus, welche nach einwärts federt. Aufserdem aber beschränkt vor allen Dingen der Steigbügel diese Drehung, einmal durch seine Befestigung mittels eines häutigen Saumes, zweitens mittelbar durch die Elastizität der Membran des runden Fensters. Wäre das Labyrinthwasser vollständig eingeschlossen von starren Wänden, so würde es durch seine Inkompressibilität jedes Eindringen des Bügels in die fenestra ovalis unmöglich machen; dafs es in geringem Grade dem Steigbügel ausweichen kann, ist durch die mit einer elastischen Membran verschlossene Gegenöffnung, als welche Ed. Weber die fenestra roiiinda gedeutet hat, möglich gemacht. Wird der Steigbügel gehoben, dringt er also tiefer in die fenestra ovalis, so drängt er das Labyrinthwasser vor sich her, und dieses spannt in entsprechendem Grade die Membran des runden Fensters nach aufsen, bis deren elastische Kräfte den bewegenden Kräften des Steigbügels das Gleichgewicht halten. Der häutige, nach Hexle vom Periost des Vorhofs gelieferte Saum, welcher zwischen deni faserkuorpeligen Rande der Steigbügelplatte und dem des ovalen Fensters ausgespannt ist, beschränkt natürlich ebenfalls durch seine Elastizität das Eindringen des Steigbügels. Aus dem Umstände, dafs die Befestigung des letzteren nicht an allen Punkten des Fensters gleich straff ist, sich am unteren mehr geraden Rande der Fufsplatte straffer als am oberen gebogenen, am straffsten am hinteren Pole erweist, folgt nach Helmholtz ^ nichts weiter, als dafs der eine Rand der Steigbügelplatte, also der obere, in stärkerem Grade beweglich ist als der untere. Fragen wir nun, in welcher Weise der so beschaiFene Gehör- knöchelchenmeclianismns die Scliallscliwingungen des Trommelfells in Wasserwellen des Labyrinthwassers umsetzt, so haben wir zwischen zwei einander gegenüberstehenden Ansichten zu entscheiden. Nach der einen Ansicht, deren Vertreter Ed. AVeber ist, wird diese Umsetzung lediglich durch die beschriebenen gemeinschaftlichen Winkelhebelbewegungen des Systems zustande gebracht; das trans- versal schwingende Trommelfell versetzt Hammer und Ambos in Oszillationen um die gemeinschaftliche Drehungsachse, der oszillierende lange Ambosfortsatz versetzt den Steigbügel in s])i'itzenstempelartige Auf- und Niederbewegungen in der fenestra ovalis, diese erzeugen Wellenbewegungen des Labyrinthwassers, durch welche endlich die Membran des runden Fensters abwechselnd aus- und eingebogen wird. Nach einer zweiten zuerst von Savart aufgestellten, be- 1 Helmholtz, a. a. O. p. 37. — VgL dagegen HENKE, Ztachr. f. rat. Med. HI. R. 1868. Bd. XXXI. p. 126. — LUCAE, Arch. f. Ohrenheilk. 1868. Bd. IV. p. 36; u. POLITZER, Wochenbl. d. Ztschr. d. GeselUch. d. Ärzte in Wien. 1868. GRUENHAGEN, Phy.^iologie. 7. Aufl. H. 17 258 DIE GEHÖRKNÖCHELCHEN. §100. Fig. 107. K" sonders von J. Mueller und dnrauf von Harless^ gestützten An- sicht überträgt das longitudinal schwingende Trommelfell seine AVellen so an die gegliederte Reihe der Gehörknöchelchen, dafs in allen Teilen gleichgerichtete Verdünnungs- und Verdichtungswellen erzeugt werden und als solche durch die Fufsplatte des Steig- bügels an das Labyrinthwasser übergehen. Savart vergleicht das Gehörknöchelchensystem mit einem System rechtwinkelig unter- einander verbundener Bretchen, wie es Fig. 107 darstellt. An einem solchen System wies er nach, dafs, wenn das Bretchen a in Schwingungen versetzt wird, welche dasselbe in der Richtung der Pfeile, also senkrecht gegen seine Fläche durchsetzen, diese Schwin- gungen durch die übrigen Bretchen in unveränderter Richtung sich fortpflanzen, h also der Fläche parallel, c wieder senkrecht gegen die Fläche, und d wieder der Fläche parallel durchlaufen, wie die Pfeile andeuten. Nach dem vorausgeschickten fällt die Entscheidung nicht schwer. Es leuchtet ein, dafs es sich hauptsächlich um die Natur der Trommelfellschwingungen handelt, Savarts Theorie setzt Verdünnungs- und Ver- dichtungswellen in dieser Membran voraus, d Webers Theorie dagegen Beugungs wellen, ^^t- Da wir nun oben die Notwendigkeit der letzteren nachgewiesen haben, kann keine Frage sein, dafs die Wirkung derselben auf die Gehörknöchelchen kette bei deren gegebener Anheftung am Trommelfell und Einlenkung an der Paukenwand notwendig in den beschriebenen Winkelhebel- bewegungen bestehen mufs. Schwingt das Trommelfell nach ein- wärts, so dafs sein Trichter vertieft wird, so treibt es den Hammer- handgriff nach innen, mit ihm den langen Fortsatz des x\mbos, folglich den Steigbügel tiefer in die fenestra ovalis, während es beim Zurückschwingen, also unter Abflachung des Trichters, die um- gekehrte Bewegung der Knöchelchen hervorruft. Es bleibt sich dabei völlig gleich, wäe grofs die Exkursion des Trommelfells ist; bis zu einer gewissen Grenze steigt die Gröfse der Drehung der Knöchel- chen um ihre Querachse mit der Gröfse der Exkursion des Trommel- fells; auch wenn die Exkursion der einzelnen Teilchen des letzteren geringer als seine Dicke ist, bleibt die Bewegung der Knöchelchen im AVesen dieselbe, wird nur entsprechend verkleinert. Überdies gelingt es auch durch die direkte Beobachtung gut erhaltene!" Gehörpräparate jeden Zweifel an der Gegenwai't transversaler Schwingungen der Gehörknöchelchen zu beseitigen. Kittet man dem Hammer, Ambos oder Steig^- 1 Savarts, s.Biots Experimenfalpftpsik, übers, von FECHNER. Rd. U. p. 128. — J. MUELLER, Sundb. d. Physiol. 4. Aufl. Bd. IL p. 433. — HARLESS, a. a. O. p. 353. §100. DIE CtEHÖRKXÖCHELCHEX. 259 bügel feine Glasfäden auf und legt die freien Enden der letzteren einer rotierenden berufsten Papierfiäclie an, so verursacht das Anschlagen eines musikalischen Tones, das die eben noch eine gerade Linie verzeichnende Schreibespitze eine Wellenlinie entwirft, wie sie nur möglich ist, wenn der zeichnende Glasfaden in transversale SchwingTingen versetzt worden ist (Politzer, Hexsex-Schmidekam'). Noch entscheidendere Eesultate erhält man, wenn man den Gehörknöchelchen kleine stark lichtreflektierende Körnchen von Amylon, Antimon oder Goldbronze aufklebt. Die punktförmigen Licht- quellen, welche man hierdurch gewinnt und leicht unter dem Mikro- skope betrachten kann, verwandeln sich bei Angabe der verschieden- artigsten Töne in feine Lichtlinien, deren Richtung unschwer festzustellen ist und. zu dem Schlüsse führt, dafs die Gehörknöchelchen vom Trommelfelle aus als Continuum auf die beschriebene Art zur Mitschwingung veraulafst werden (BrcK, Helmuoltz, Mach utid Kessel'-^). In einem von Bück näher ge- schilderten Versuche mafs die vom Hammer- und vom Ambosköpfchen be- schriebene Lichtlinie 0,066 mm, die von der Spitze des Hammerstieles und des langen Ambosfortsatzes, von dem einen Steigbügelschenkel und dem Steig- bügelköpfchen gelieferte nur 0,05 mm. Mach und Kessel fanden bei einem der von ihnen beobachteten Gehörpräparate die Exkursiousweite des Umbo unter dem Einllufs eines Tones von 256 einfachen Schwingungen und einer dadurch bedingten Druckschwankung im äufseren Gehörgange von -\- 0,0053 Atmosphären gleich 0,5 mm, diejenige des oberen Hammerkopfrandes gleich 0,32 mm, diejenige des Steigbügelköpfchens gleich 0,06 mm. Wie es scheint schwanken also die Bewegungsgröfsen der Gehörknöchelchen individuell in sehr weiten Grenzen.^ Allgemein scheint den Vibrationen der Gehör- knöchelchen dagegen die Eigenschaft beizuwohnen, dafs ihre Abweichungen aus der Ruhelage in der Richtung nach auswärts erheblich (um das 2 — 3fache) höher ausfallen, als in der entgegengesetzten nach einwärts.^ 'Wenn demnacli unzweifelliaft der normale Scliallleitimgsprozefs durcli die geschilderte Hebelbewegung der Gehörknöclielclieu zu- stande kommt, so ist auf der andren Seite docli nicht zu bestreiten, dafs dieselben, wie andre feste Körper, nicht allein geeignet sind, Yerdünnungs- und A'erdichtungswellen in Savarts Sinne fortzu- pflanzen, soüdern dafs auch in Wirklichkeit diese Wellenform neben den Beugungsschwingungen durch die Substanz der Knöchelchen hin durchlaufen wird. Wir haben bereits für das Trommelfell solche Wellen neben den transversalen statuiert und müsseu dieselben daher auch für die Knöchelchenkette annehmen. Aufserdem Averden solche Wellen aber auch notwendig vom Trommelring unmittelbar auf den kurzen Ambosfortsatz und den processus Folianus des Hammers übergehen, auch wenn diese Leitung ohne Yermittelung des Trom- melfells als eine zufällige zu betrachten ist. Läge aber die Bestim- mung der Gehörknöchelchen in der Leitung von Yerdichtuugs- und Verdünnungswellen, so würden wir schwerlich den frei beweglichen Hebelmechanismus finden, sondern an seiner Stelle vielleicht eine 1 Politzer, Arch. f. Ohrenheilk. 1SG4. Bil. I. r. 59. — SCHMIDEKAM, Experim. Stud. z. Pht/siol. d. Gehörorgans. Dissert. Kiel 1S6S, u. Arb. aus dem Kieler plnisiol. Instiiut. Kiel 1869. p. .30. 2 BUCK, Verhandl. d. naturhist. med. Vereins zu Heidelberg. 1869. B<1. V. p. 68, ii. Arch. f. Augen- n. Ohrenheilk. 1870. Bd. I. p. 121. — MACH u. KESSEL, TTVener Stzber. Matli.-natw. CI. 1874. 3. Abth. Bd. LXIX. p. 221. 3 Vgl. M.VCH u. Kessel, a. a. O. p. 239. 4 Fr. BEZOLD. Arch. f. Ohrenheilk. ISSO. Bil. XVI. p. 1. 17^: 26Ö DIE MUSKELN DER GEHÖRKNÖCHELCHEN. §101. feste auf dem Trommelring rings angewachsene Platte und von deren Mitte aus einen Stab gegen die MemBran des ovalen Fensters ge- stemmt. Dies ist freilich nur eine teleologische Beweisführung, die wir aber doch trotz der herrschenden Antipathie gegen eine solche nicht für ganz wertlos halten können. Nur für die zweite, nach unsrer Ansicht unwesentliche Art der Leitung von Verdünnungs- und Verdichtungswellen kann die Frage in Betracht kommen, ob und in welcher Art die Gehörknöchel- chen die geleiteten Schallwellen durch Resonanz zu verstärken be- fähigt sind. Wir bemerken indessen, dafs die ganze Frage nach einer Resonanz der Gehörknöchelchen sehr in den Hintergrund tritt, sobald wir den Verdichtungswellen in denselben überhaupt keine wesentliche physiologische Bedeutung zuerkennen. § 101. Die Muskeln der Gehörknöchelchen und die Resonanz des Trommelfells. Zwei quergestreifte Muskeln finden ihre be- weglichen Angriffspunkte an dem Gehörknöchelchensystem, an welchem sie Stellungsveränderungen hervorzubringen bestimmt sind. In innig- stem Zusammenhange mit der Funktionslehre dieser beiden Muskeln (andre in älteren Anatomien beschriebene Gehörknöchelchenmuskeln, wie der dihsc. mallei extcrnns s. laxator fiimpani, sind keine Muskeln, sondern Bänder) steht die Lehre von der "Resonanz des Trommel- fells und insbesondere von deren Verhalten bei verschiedenen Span- nungsgraden der Membran. Der mnscnlus tensor fympani ist ein kleiner gefiederter Muskel, welcher in einem knöchernen oberhalb der tuha Eustachii befind- lichen Halbkanale eingesenkt liegt und mit seinen kurzen Primitiv- bündeln einwärts von der unteren Fläche der Felsenbeinpyramide, dem knorpeligen Teile der EusTACHischen Röhre und der inneren konkaven Wand des ihn bergenden Kanals entspringt, anderseits sich in fast scheitelrechtem Faserverlauf an die ihn seiner ganzen Länge nach begleitende Sehne inseriert. Beim Eintritt in die Paukenhöhle schlägt sich letztere über einen kleinen Knochenvorsprung hinweg, welchen die Knochenlamelle des Tensorkanals gegen das cavum tympani bildet, und verläuft nunmehr in veränderter Richtung quer durch die Paukenhöhle zum Hammergrifi", an welchem sie sich vertikal zur Trommelfellebene, dagegen unter einem ziemlich spitzen Winkel zum unteren Ende des Hammergriffes und dem vorderen Teil seiner Drehungsachse befestigt [T. t. Fig. 105). Bei der Kontraktion des tensor tympani mufs also die Sehne durch den queren Zug der ihr aufsitzenden Muskelbündel stark gespannt werden und infolge davon Hammergriff und Trommelfell nach einwärts ziehen. Hierbei wird der Hammerkopf in früher beschriebener Weise sich drehen, dem § 101. DIE MUSKELN DER GEHÖEKNÖCHELCHEN. 261 Ambosköpfchen nähern und an demselben durch die erwähnte Sperr- zahnvorriehtung fixieren müssen. Weiterhin wird dann die Steigbügel- platte in die fenestra oval/s eingedrückt und die normale Spannung des Trommelfells vergröfsert werden. Erschlafft der tensor tympani nach vorausgegangener Thätigkeit, so genügt die elastische Kraft des torquierten Hammerachsenbandes und des 2^>'<^ccssus Foliemus zur Wiederherstellung der ursprünglichen Lageverhältnisse. Der physio- logische Versuch hat diese den anatomischen Verhältnissen entlehnten Schlüsse im wesentlichen bestätigt. An frisch getöteten Hunden vermochten Ludwig und Politzer^ zu konstatieren, dafs Reizung des peripheren Trigeminusstumpfes in der Schädelhöhle die Kontraktion des tensor tympani auslöste, und dafs hierbei die Wassersäule eines kleinen Manometers entsprechend der Einwärtsbewegung der mem- hrana ty^npani angesogen wurde, wenn dasselbe in den äufseren Gehörgang, dagegen herausgetrieben, Avenn dasselbe nach Verschlufs der tuha Eustachn in die Wand der Paukenhöhle oder in einen Bogen- gang des Labyrinths luftdicht eingefügt worden war. Über die Bedingungen, unter welchen der tensor tympani während des Lebens in Aktion tritt, liegen einige direkte Beobach- tungen von Hensen^ vor. An Katzen und Hunden, bei welchen durch Eröffnung der hidla ossea das cavum tympani freigelegt worden war, zeigte sich, dafs fafst jede beginnende Schallbewegung, also das Eintreten einer Trommelfellschwingung, eine einmalige Zuckung des Tensor auslöste, dafs die hiernach sich wiedereinstel- lende Muskelruhe aber durch den fortdauernden Schallreiz nicht weiter gestört wurde. Eine Ausnahme machten nur tiefe Töne von weniger als 200 Schwingungen, welche keine oder nur zweifelhafte Zuckun- gen bewirkten, selbst w^enn sie unmittelbar ins Ohr geblasen wurden. Was für eine Bedeutung dieser rasch erlöschenden einmaligen Ak- tion bezüglich der Trommelfellfunktion zukommen möchte, ist nicht klar. Auch weifs man nicht bestimmt, auf welchem AVege die Erregung des den Tensor versorgenden Trigeminusastes in den er- wähnten Fällen zustande kommt, ob hier ein E,eflexvorgang oder ein Willensakt vorliegt, und wenn ersterer anzunehmen ist, ob der Reiz vom Acusticus oder von den sensiblen Trommelfellnerven den zentralen Ursprüngen des Tensornerven übermittelt wird. Die Beteiligung des Willens an der fraglichen Muskelkontraktion ist freilich höchst un- wahrscheinlich. Denn stände der tensor tympani überhaupt und regelmäfsig unter der Botmäfsigkeit desselben, wie es noch J. Mueller^ glaubte, so müfste es ohne Schwierigkeit gelingen im eignen Ohre eine tetanische Dauerkontraktion des betrefi'enden Muskels einzu- leiten; diese Forderung ist aber nach allem, was wir wissen, nicht oder nur sehr ausnahmsweise erfüllt, da im Gegenteil nur wenige 1 POLTTZEK, Wiener Stzher. Math.-nat. Gl. 1861. 2. Abth. Bd. XLIII. ji. 427. * V. Hensen, Arch. f. Phtjsiol. 1S78. p. 312. — BoCKENDAHL, Arch. f. Olirenheilk. 1880. Bd XVI. 11. 241. ' J. MUELLER, a. a. O. p. 439. 262 r»lE MUSKELN DEK GEHÖKKNÖCHELCHEX. § 101. Individuen es vermögen, die von Ludwig und Politzer als Kenn zeichen der Tensorverkürziing festgestellten Luftdruckscliwankungeu im äufseren Gehörgauge willkürlich hervorrufen ^ , d. h. also , die AVassersäule eines kleinen in letzteren luftdicht eingefügten Mano- meters beliebig anzusaugen oder emporzutreiben, es sei denn, dals man durch kräftige Exspirationsan strengung bei verschlossener Mund- und Nasenhöhle von der EusTACHischen ßöhre aus Luft in die Trom- melhöhle hineinsprefst (VALSALVAScher Versuch) oder durch kräftige Inspirationsanstrengung unter sonst gleichen Umständen aus derselben eutfernt, wodurch mittelbar, jedoch ohne Zuthun des tcnsor tympani, das Trommelfell im ersten Falle nach aul'sen gedrängt, im zweiten nach einwärts gezogen wird. Ebenso kommt es wohl auch nur aus- nahmsweise vor, dafs die Willensthätigkeit sekundär, wenn sie die zentralen Nervenursprünge benachbart gelegener Muskelgruppen, z. B. der Kaumiiskeln, in Erregung bringt, zugleich auf diejenigen des Tensors übergeht. Wenigstens liegen bis jetzt nicht viele solche Beobachtungen ror. Eine derselben rührt von Fick ^ her, welcher bei energischer Kontraktion der Kaumuskeln einen singenden Ton in seinem Ohre vernahm und sich davon vergewisserte, dafs dabei gleichzeitig ein Quecksilbertröpfchen in einem Kapillarröhrchen, welches luftdicht in den äufseren Gehörgang eingepalst war, rasch gegen das Trommelfell hin bewegt wurde; andre verdanken wir den Mitteilungen von Politzer und Hblmholtz^ , welche bei unter- drücktem Gähnen eine auf stärkere Anspannung des Trommelfells zw beziehende Schwächung gewisser Tonwahrnehmungen an sich selbst konstatieren konnten. Hiermit endet aber auch unser Wissen über die Erregungsursachen der Tensorthätigkeit im lebenden Orga- nismus. Schlüsse aus den aufgezählten Thatsachen zu ziehen in der Absicht die physiologische Bestimmung des fraglichen Muskels auf- zuklären, wäre ein vergebliches Bemühen, und wenn wir uns dennoch ein Bild von der letzteren zu verschaffen suchen wollen, so haben wir nicht jene Thatsachen, sondern die anderweitig festgestellte Be- schaffenheit der Tensorwirkung ins Auge zu fassen, von welcher nicht zweifelhaft sein kann, dafs sie im wesentlichen auf einer stärkeren Spannung des Trommelfells beruht ; es gilt daher zu untersuchen, welche akustische Bedeutung die letztere hat, ob und in welcher Weise die Schallleitung mit der wachsenden oder abnehmenden Spannung dieser Membran geändert wird. Durch J. Mueller"^ haben fol- gende zwei Sätze allgemeine Geltung erlangt: erstens wird durch erhöhte Spannung des Trommelfells dessen Rezeptivität für Schallwellen gemindert, die Schallleitung zum Nerven also 1 Vgl. LUCAE, Arch. f. Ohrenhrilk. 1867. Bd. IH. p. 201. — POLITZER, ebenda. 1868. Bd. IV. p. 19. — SCHAPKINOER, Wiener Sizber. Math.-nativ. Gl. 1870. 2. Abth. Bd. LXII. p. 571. '' Fick, Arch. f. Anat. u. Phrmol. 1850. p. 526. ^ POLITZER, Ärch. f. OhrenheUk. 1868. Bd. IV. p. 19. — HELMHOLTZ. Pfluegers Arch. 1868. Bd. I. p. 33. Anm. ■• J. MUELLER, a. a. O. p. 434. §101. DIE KONTRAKTION DES HAMMERMUSKELS. 263 geschwächt; zweitens wird durch höhere Spauunngsgrade das Trommelfell zur Resonanz für hohe Töne, durch geringe Span- nung für tiefe Töne geeignet gemacht. Dementsprechend hat man die Funktion des Hammermuskels in der Dämpfung zu intensiver Schalleindrücke und in der Regulierung der Resonanz heim Hören von Tönen verschiedener Höhe gesucht. Was zunächst die Verminderung der Schallleitung durch Spannung hetriftt, so stützt sich Muellers Satz erstens auf Beob- achtungen von Savart an Membranen überhaupt, zweitens auf folgende Experimente und Erfahrungen am eignen Ohre. Er spannte über die obere Öffnung einer kurzen Holzröhre a (Fig. 108) eine Membran, auf welche ein bis zum Zentrum reichendes, frei über den Rand der Röhre hinausragendes Stäbchen h aufgeleimt war. Durch Hebelbewegungen dieses Stäbchens konnte die Membran, wie das Trommelfell durch die Drehung des Hammers, stärker gespannt werden. Das andre offene Ende c des Röhrchens war so zugespitzt, dafs es genau in den äufseren Gehörgang pafste. Eine kleine Seitenöffnung d war bestimmt das Ausweichen der Luft nach Art der natürlichen tuha Eustachii möo^lich zu machen. _. ,„„ . ~ . . Flg. 108. MuELLER fügte nun diesen Apparat mit c in das eine Ohr, während das andre verschlossen kH^ war, und fand, dafs ein und dasselbe Geräusch (z. B. einer Taschenuhr) um so schwächer gehört wurde, je stärker durch Heben von h die Membran ^\ gespannt wurde. Gegen die Beweiskraft dieses Versuches läfst sich einwenden, dafs die Ver- hältnisse den natürlichen nicht entsprechen; im Ohre handelt es sich darum zu erweisen, dafs bei stärker gespanntem Trommelfell die Schwingungen desselben mit geringerer Intensität auf die Gehürknöchelchenkette und durch diese Hebelkette auf das Labyrinthwasser übergehen; durch Muellers Versuch dagegen wird nur erwiesen, dafs die stärker gespannte Membran ihre Schwingungen schwächer an die dahinter befindliche Luft, welche der Luft der Paukenhöhle entspricht, abgibt. Da indessen diese schwächere Übertragung durch die Exkursions weite der Membran mit der Spannung bedingt ist, da ferner durch die Einwärtsspannung des Trommelfells der Steigbügel fester in das runde Fenster gedrückt und die Drehbarkeit der Hebel- aehse durch die Torsion gemindert wird, so läfst sich mit Bestimmt- heit voraussetzen, dafs die gröfsere Spannung des Trommelfells nach einwärts die Hebelbewegungen der Ivnöchelchen, mithin die Intensität der im Labyrinthwasser erzeugten Wellen wesentlich beschränkt, und somit Schwerhörigkeit eintritt. Man kann, wie oben erwähnt, die Trommelfellspannung bei verschlossener Mund- und Nasenöffnung willkürlich durch zwei Mittel erhöhen, entweder durch Einpressen von Luft in die Pauke bei kräftiger Exspirations- oder durch Aus- 264 DIE RESONANZ DES TROMMELFELLS. § 101. saugen von Luft bei anhaltender Inspirationsanstrengung; in ersterem Falle wird das Trommelfell, wie ebenfalls schon angegeben, durch die komprimierte Luft der Paukenhöhle nach aufsen, im zweiten Falle durch die verdünnte Luft nach innen gespannt, also die Wirkung des Hammermuskels nachgeahmt. In beiden Fällen tritt Schwächung der Schallleitung, Schwerhörigkeit ein, wie zuerst WoLLASTON und nach ihm J. Mueller erwiesen, jeder aber leicht an sich bestätigen kann. Diese Versuche, insbesondere der letztere, sind entscheidend, sie beweisen, dafs die Schallleitung durch Spannung des Trommelfells verschlechtert wird; der Schlufs, dafs die gleiche akustische Wirkung daher auch dem tensor iympani zukommen wird, ist um so eher gerechtfertigt, als ganz direkte Belege für seine Hichtigkeit beigebracht werden können. Politzer^ leitete dem äufseren Gehörgaug eines frisch getöteten Hundes, dessen Schädel- und Trommelhöhle in genügendem Umfange freigelegt waren, die Schwingungen von Stimmgabeltönen (utg von 512 Schwingungen) zu und liefs den Hammer mittels eines ihm aufgekitteten leichten Fühlhebels die ihm vom Trommelfell übertragenen Vibrationen auf einer rotierenden berufsten Trommel aufschreiben (vgl. o. p. 259). Alsdann wurde der Trigeminus in der Schädelhöhle tetanisiert, der tensor tynipani also in Kontraktion versetzt und an der (um das dreifache) verkleinerten Höhe der verzeichneten Hammerschwin- gungen erkannt, dafs die Schallleitung durch Trommelfell und Gehörknöchelchen infolge der Tensoraktion eine sehr auffällige Ab- schwächung erfahren hatte. Versah Politzer ferner die Wand des sonst unversehrten cavum tympani an einem andren frischen Hunde- schädel mit einer BohröfFnung, von welcher ein luftdicht eingefügter Schlauch zu seinem eignen Ohre hinführte, und reizte er w^ährend der Zeit, in welcher er den Stimmgabelton deutlich und klar im Auskultationsschlauche vernahm, den tensor tympani wde vorhin, so erlitt nach seiner Angabe auch die Intensität der eignen Ton- empfindung in Übereinstimmung mit dem Resultat des früheren Versuchs eine ganz unverkennbare Einbufse. Wir werden uns dem- nach vorzustellen haben, dafs der Hammermuskel einerseits durch die gröfsere Spannung, welche er dem Trommelfell erteilt, ander- seits durch die gegenseitige Fixierung der Gehörknöchelchen anein- ander in der fenestra ovalis (s. o. p. 261) die Umsetzung der Schall- schwingungen in Trommelfellschwingungen, Hebelbewegungen des Amboses und Stempelbewegungen des Steigbügels, von deren Inten- sität zunächst die Intensität der Empfindung abhängt, beeinträchtigt. Die zweite Funktion, welche man dem Hammermuskel zu- schreibt, die Veränderung der Resonanz des Trommelfells, fufst zunächst auf der gleichfalls von Wollaston und Mueller gemachten Erfahrung, dafs die Schwerhörigkeit, welche durch stärkere Spannung des Trommelfells eintritt, nicht gleich ist für 1 Politzer, Arch. f. Ohrenhellk. 1861. Bd. I. p. 68. §101. DIE EESONANZ DES TROMMELFELLS. 265 hohe und tiefe Töne, dafs vielmehr in merklichem Grade nur tiefe Töne bei gespannter Membran schlechter gehört werden, hohe Töne dagegen oft ebenso stark als bei normaler mittlerer Spannung, zuweilen sogar noch stärker. Um diese Frage erläutern zu können, müssen wir zunächst untersuchen, ob und in welcher Weise bei dem Trommelfell überhaupt eine Resonanz stattfinden kann. Wird in der Nähe einer gespannten Saite ein Ton erzeugt, welcher der Schwingungszahl der Saite oder eines gröfseren Bruchteils derselben entspricht, so gerät dieselbe in lebhafte Mit- schwingungen und klingt mit. Ganz das nämliche gilt von einer ge- spannten Membran, welche mit grofser Leichtigkeit auf Töne, die ihrem Eigenton gleich sind oder in einfachem Verhältnis zu dem- selben stehen, resoniert. Nähme die Trommelfellmembran nur solche Töne zur Weiterleitung an die ihr anhaftende Knöchelchenkette auf, so wäre die Gehörswahrnehmung auf sehr wenige Töne beschränkt. Der Kleinheit und dem Spannungsgrade gemäfs ist der Eigenton des Trommelfells so aufserordentlich hoch, selbst bei völlig erschlafi'tem Spannmuskel, dafs es auf die Mehrzahl der Töne, die auf dasselbe einwirken, gar nicht mitschwingen könnte. Von einem Mitklingen des Trommelfells kann keine Rede sein, natürlich auch nicht von einer etwaigen Stimmung desselben für jeden äufseren Ton von beliebiger Höhe durch adäquate Kontraktion des Hanimermuskels. Das Trommelfell wird durch jeden Ton von beliebiger Höhe, selbst die tiefsten noch wahrnehmbaren, in Schwingungen versetzt, und zwar ist bei hohen wie bei tiefen Tönen die Exkursionsweite seiner Schwingungen der Intensität des äufseren Tones proportional, so dafs wir aus der Stärke seiner Schwingungen über die Intensität jedes äufseren Tones ein Urteil erhalten. Es ist aber ferner eine für die Exaktheit der Sinneswahrnehmung wesentliche Thatsache, dafs die Schwingungen des Trommelfells die Dauer der Einwirkung der Luftwellen nicht oder wenigstens nicht merklich überdauern, also sicher keine Resonanz in Form des Nachklingens, wie wir dieselbe au jeder frei gespannten Seite beobachten können, vorhanden ist. Damit das Trommelfell auf jeden Ton beliebiger Höhe mit einer der Tonstärke entsprechenden lebendigen Kraft mitschwingen könne, damit ferner die Form der Schwingung des Trommelfells in jedem Fall genau der Schwingungsform des ankommenden Schall- wellenzuges entspreche, damit es endlich nach der Beendigung des letzteren nicht nachschwinge, mufs der Einflufs des Verhältnisses, in welchem die Tonhöhe der Membran zu der des äufseren Tones steht, mehr weniger aufser Spiel gebracht sein. Das Mittel dazu liegt nach Seebecks^ trefflichen Untersuchungen in den Widerständen, welche die mit der Membran verbundenen trägen Massen der Mitschwingung 1 Seebeck, Repert. d. Physik. 1849. Bd. VIH. Akustik; POGGENDORFFs AnnaXen. 1844. Bd. LXII. p. 289. — Vgl. auch POLITZER, Wiener med. Wochenschr. 1871. p. 499, u. Arch. f. Ohren- heilk. 1871. Bd. VI. p. 35. 266 DIE RESONANZ DES TROMMELFELLS. § 101. entgegensetzen; sind diese Widerstände beträchtlich, so wird zwar auch die Stärke der Mitschwingung eutspi'eehend verringert, aber ebendieselbe auch in entsprechendem Grade unabhängig von der Höhe des erregenden äulseren Tones. Einen solchen der Mit- schwingung des Trommelfells beträchtlichen Widerstand leistenden Körper finden wir in dem zwischen seine Platten eingeschobenen Hammerhandgriff und mittelbar in der mit ihm verbundenen Gehör- knöcheichenkette samt dem daran stofsenden Labyriuthwasser. Während das Trommelfell allein, wie jede Membran, nur auf die seinem Eigenton gleichen oder nahe stehenden Töne intensiv mitschwingen, durch alle andern und besonders die tieferen Töne dagegen nur in ganz unverhältnismäfsig schwache Bewegung geraten würde, be- wirkt die Einlagerung des Hammers, dafs es zwar auf alle mcjglichen Töne schwach, aber doch auf alle mit nahezu gleicher Intensität mitschwingt. Die allgemeine Schwächung seiner Exkursionen durch diesen Widerstand ist keineswegs eine Beeinträchtigung, sondern im Gegenteil durch die Beschaffenheit der inneren Perceptionsorgane im Labyrinth geboten. Es sind dieselben so empfindlich, dafs nur äufserst schwache Wasserwellen nötig sind, um eine intensive Empfindung zu erregen, während umgekehrt zu starke Wellen, wie sie bei ungeschwächten Beugungsschwingungen der freien Trommel- fellmembran entstehen würden, nachteilig auf die Nervenenden wirken müssten. Die Einfügung des Hammers in das Trommellfell ist ferner das Mittel, welches jedes störende Nachschwingen desselben und somit jedes merkliche Überdauern der Empfindung über die objektive Ursache verhütet. Es stellt der Hammer einen Dämpfer dar, welcher mit dem Trommelfell jedem von aufsen kommenden Stofse folgt, allein nach dem letzten Stofse einer Wellen- reihe auch sogleich die Exkursion des Ti'ommelfells auf Null reduziert. Der Widerstand, durch den er diesen Dienst leistet, wird besonders vergröfsert erstens durch die Schwere seines Kopfes, zweitens durch den Umstand, dafs der processus Folianus nicht in einem Gelenk frei drehbar ist, sondern nur durch Torsion einer elastischen Masse, und endlich durch die geringe Nachgiebigkeit des Steigbügelsaumes. Vollkommen unabhängig von der Höhe des erregenden Tones ist die lebendige Kraft der Trommelfellmitschwingung nicht; es ist leicht nachzuweisen, dafs wir sehr tiefe Töne trotz beträchtlicher Exkursionsweite der Luftteilchen in der erregenden Yerdichtungs- welle doch nur sehr schwach wahrnehmen, hohe Töne dagegen schon bei sehr geringer objektiver Intensität stark. Diese Ungleichheit wird, wie wir schon gesehen, zu Ungunsten der tiefen Töne noch beträchtlich vermehrt, wenn wir durch eines der genannten Mittel die Spannung des Trommelfells erhöhen. Da dies bei Kontraktion des Hammermuskels geschieht, so hat man gemeint, es sei eine Be- stimmung desselben, das Trommelfell für hohe Tonlagen gleichsam zu stimmen, die Einwirkung tiefer zu dämpfen. Wie wenig Gnmd § 101 . DIE RESONANZ DES TEOMMELFELLS. 267 zu der Annalime ist, dafs die Thätigkeit des Hammermuskels gerade durch das Erkliuc^eu tiefer Tüue waclisferufen werde, lehren die vor- hin (p. 261) mitgeteilten Erfahrungen Hensexs, nach welchen tiefe Töne unter 200 Schwingungen im Gegensätze zu höheren keine Reflexzuckung des Tensors im lebenden Köi'per bewirken. Es fällt somit jede Veranlassung fort in ihm einen Regulator der Trommel- fellresonanz zu erblicken. AVill man seiner Bedeutung als eventueller Dämpfer der Schallleitung überhaupt noch eine andre hinzufügen, so wäre die Vorstellung noch am ehesten zu rechtfertigen, dafs seine häufigen Einzelzuckungen (s. o. p. 261) dazu bestimmt sein möchten, die infolge der naturgemäfs kaum jemals erlöschenden Vibrationsunruhe des Trommelfells entstehenden Lage- und Spannungsänderungen desselben fort und fort wieder auszugleichen. Viel dunkler als die physiologische Aufgabe des Hammermuskels ist die mechanische und akustische "Wirkung der Kontraktion des Steigbügelmuskels; einige betrachten ihn als CJnterstützer des Hammermuskels, andre als dessen Antagoaisten. Noch andre meinen, dafs er dazu bestimmt sei exzessive Bewegungen des Steigbügels in der fenestra ovalis zu verhüten.^ Von einer Anspannung des Trommelfells durch den- selben kann keine Rede sein, da er seinen Zug rechtwinkelig gegen die Drehungsebene des Amboses und Hammers ausübt; die Erfolge so roher Versuche, wie das Anziehen der Sehne a.n der Leiche, auf welche man sich bei der Annahme dieser AVirkung stützt, beweisen nichts. Der Steigbügelmuskel schickt bekanntlich seine Sehne aus der eminentia papilJaris rechtwinkelig gegen die Achse des Bügels A'on hinten her an dessen Köpfchen. Verkürzt er sich, so wird er das Köpfchen nach hinten zu ziehen streben; da indessen die Fufs- platte ihrer Befestigung wegen nicht nach hinten verschiebbar ist, kann dieselbe nur hebelartig bei diesem Zuge bewegt werden, nach der einen Ansicht so, dafs das hintere Ende tiefer in die fenestra ■ovalis gedrückt wird, indem es sich um das vordere Ende als Hypo- mochlion dreht (Harless), nach andern umgekehrt so, dafs das vordere Ende etwas aus der fenestra ovalis herausgehebelt wird (Ludwig). Die zweite Ansicht hat darum mehr für sich als die erste, weil Politzer^ an frisch getöteten Hunden bei Erregung des lebens- fähigen Steigbügelmuskels vom Facialisstamme aus den Druck im Vorhofe vielleicht durch Entspannung des Trommelfells sinken sah. Bestätigt sich diese Beobachtung, so würde die Anschauung derje- nigen, welche in dem nmsculns stapedius einen Antagonisten des musculns tcnsor tympani erblicken, eine bemerkenswerte Stütze ge- funden haben, da die Kontraktion des letztgenannten Muskels, wie erwähnt, den Druck innerhalb des Vorhofs durch Anspannung des ' Vgl. HEXLE, Handb. d. s)/stem. Anat. Bd. U. 2. Aufl. 1S75. p. 781. 2 Politzer, Wiener Stzber. Math.-natw. Cl. 1861. 2. Abth. Bd. XLIII. p. 427; Beitr. z. Anat. u. Ph'isiol. als Festgabe C. LUDWIG gewidmet. Leipzig 1874. Heft 1. p. XXV. 268 PAUKENHÖHLE UND TUBA EUSTACHII. § 102. Trommelfells steigert. Ein endgültiges Urteil zu fällen müssen wir indessen vorderhand ablehnen und ebenso auch von einer Erör- terung der BuDGEschen ^ Mutmal'sungen über die Funktion des Stapesmuskels als Gleichgewichtsregulators absehen, da dieselben seiner eignen Mitteilung gemäls auf keiner thatsächlichen Grundlage beruhen. Wir erwähnen nur noch, dafs von Lucae ^ die willkür- liche Innervation mimischer Gesichtsmuskeln, namentlich des orhi- cularis pcüpchrarum als eine Erregungsursache des Stapedius be- zeichnet worden ist. § 102. Paukenhöhle und Eustachische Trompete. Über die akustische Bedeutung des Hohlraumes hinter dem Trommelfell und seines Ausganges nach der Rachenhöhle besitzen wir eine grofse Anzahl von Hypothesen, von denen der gröfste Teil mit Bestimmt- heit als irrig zurückzuweisen ist.^ Man hat die einfache auf der Hand liegende Bestimmung der Paukenhöhle nicht für ausreichend gehalten und unnötig nach weiteren komplizierteren Leistungen suchen zu müssen geglaubt. Zunächst versteht es sich von selbst, dafs die Hebelkette der Gehörknöchelchen ebensowohl als das Trommel- fell seine Schwingungen nur in einem freien Baume ausführen kann, dafs daher der ganze bisher erörterte Schallleitungsmechanismus ohne Paukenhöhle undenkbar ist. Ein abgeschlossener lufthaltiger Baum, dessen Luft durch jede Einwärtsbeugung des Trommelfells komprimiert würde und dadurch einen mit der Spannung desselben wachsenden Widerstand für seine Schwingungen und für die Aus- wärtsbeugungen der Membran des runden Fensters darböte, hätte nicht genügt, es mufste daher schon aus diesem Grunde die Luft der Paukenhöhle mit der äufseren Luft in Kommunikation gesetzt Averden, und hieraus erklärt sich die Notwendigkeit der tuba Eu- stachii. Aufserdem ist zu bedenken, dafs in einer abgeschlossenen Paukenhöhle nur eine aus dem Blute exhalierte Luft vorhanden sein könnte, deren Zusammensetzung und deren Spannung sich unter verschiedenen Verhältnissen ändern würde; auf der andren Seite des Trommelfells befände sich die atmosphärische Luft, deren Dichtig- keit ebenfalls beträchtlichen Schwankungen unterworfen ist. Es würden also leicht beträchtliche Dichtigkeitsdifferenzen der zu beiden Seiten des Trommelfells befindlichen Luft eintreten, welche not- wendig die Bezeptivität des Trommelfells, die Stärke der Schall- leitung überhaupt modifizieren müfsten. Die Kommunikation der Pauke mit der Atmosphäre erscheint daher auch aus diesem zweiten Grunde als unerläfslich. 1 BUDGE, PFLUEGERS Arcli. 1874. Bd. IX. p. 460. ^ LlTCAE, Berl. klin. Wochenschr. 1874. p. 164. » Vgl. J. MUELLEK, a. a. O. p. 432 u. 441. § 102. PAUKENHÖHLE UND TUBA EUSTACHII. 269 Eine weitere Aufgabe für diese Teile zu suchen ist nicht der geringste Grund vorhanden; die anderweitigen ihnen vindizierten Bestimmungen sind mit Ubergehuug gewisser älterer Fabeln folgende. Die Luft der Pauke soll als Schallleiter dienen. Dafs dieselbe die Trommelfellschwingungen aufnehmen mufs, ist klar; zweifelhaft ist aber, ob diese Luftwellen zur Übertragung auf das Labyriuth- wasser bestimmt sind. Es gab nur einen Weg, auf welchem diese Übertragung denkbar war, und das ist durch die Membran des runden Eensters; dafs aber durch diese keine Aufnahme von Schallwellen beabsichtigt sein kann, ist leicht zu erweisen. Erstens liegt dieselbe so ungünstig, so abgewendet vom Trommelfell, dafs die von letzterem ausgehenden Schallwellen sie gar nicht in der Richtung des ursprüng- lichen Stofses, in welcher sie sich am intensivsten fortpflanzen, treffen können. Zweitens würde ein solcher Wellenstofs die Membran gerade in dem Momente treffen und nach innen zu beugen streben, wo dieselbe durch das Schneckenwasser, welches der Einwärtsdräno-unfi: des Steigbügels ausweicht, nach aufsen gespannt wird; welcher bewegende Einflufs auch überwiegend wäre, es könnte ein solches Entgegenarbeiten immer nur mit Beeinträchtigung der Gehörsper- ception verbunden sein. Dafs übrigens die Schallleituug vom Trommel- fell durch die Luft und die genannte Membran, selbst bei günstiger Lage der letzteren zur Direktiouslinie der Schallwellen, bei weitem schwächer ausfallen müfste als die durch die Gehörknöchelchen, hat J. MuELLER durch einen schönen Versuch erwiesen. Zweitens schreibt man der Paukenhöhle die Bestimmuno' zu, durch Resonanz die zur Perception kommenden Schallwellen zu verstärken. Es kann natürlich nur von einei' Resonanz durch Reflexion die Rede sein; die Luft der Trommelhöhle stellt einen begrenzten Körper dar, die ihr vom Trommelfell übergebenen Schallwellen werden an den Grenzen, also von den knöchernen Wänden der Pauke, zurück- geworfen, nur ein geringer Teil absorbiert, da Schallwellen von Luft schwer auf feste Körper übergehen. Sollen die reflektierten Wellen die primären verstärken, so müssen sie sich mit ihnen derart kreuzen, dafs beide Wellenkategorien die schwingenden Teilchen gleichzeitig imd gleichsinnig zu bewegen streben. Die Teilchen, deren gesteigerte Bewegung allein für die Gehörswahrnehmuug von Nutzen sein könnte, sind aber diejenigen des Trommelfells. Es fragt sich also: sind die Resonanzverhältnisse in der Pauken- höhle so beschaffen, dafs die reflektierten Wellen die Schwingungen des Trommelfells regelmäfsig ver.stärken? Die Antwort ist entschieden: nein. Erstens sind die Wände der Pauke von so unregelmäfsiger unebener Gestaltung, dafs von einer regelmäfsigen Reflexion der Wellen nach dem Trommelfell zurück keine Rede sein kann, die mannigfache Durchkreuzung mit den Luftwellen der Pauke allein kommt für das Hören nicht in Betracht. Gesetzt aber auch, die Wände wären von der Art, dafs alle Wellen res-elmäfsia: nach dem 270 PAUKENHÖHLE UND TUBA EÜSTACHII. § 102. Trommelfell reflektiert würden , so könnte dies Lei dem Verhältnis der Dimensionen der spaltenartigen Pauke zur Wellenlänge nur störend für die Trommelfellscliwingungen sein. Wenn eine Ver- dichtunu:s\velle das Trommelfell durcliscbreitet und durch eine nach einwärts gerichtete Bewegung seiner Teilchen nach innen beugt, so würde die reflektierte Welle lange bevor die primäre mit ihrer ganzen Länge das Trommelfell passiert hätte, dasselbe erreichen und notwendig als Verdichtungswelle dessen Teilchen nach aufsen zu bcM'egen streben, also der Wirkung der primären Welle entgegen- arbeiten. Eine Unterstützung beider Wellen und eine dadurch bedingte Summierung der Bewegungen der Trommelfellteilchen könnte nur dann eintreten, wenn eine i-eflektierte Verdünnungswelle mit nach innen gerichteter Bewegung der Teilchen mit einer primären Verdichtungswelle gleichzeitig das Trommelfell passierte. Dies ist aber, abgesehen von der Zerstreuung der reflektierten Wellen, bei den Dimensionen der Paukenhöhle unmöglich der regelmäfsige Fall. Es würde aber viel zweckmäfsiger erscheinen, wenn sich aus der Form der Pauke erweisen liefse, dafs alle Wellen von ihren Wänden nach der Tuba zu reflektiert würden, um sie zu eliminieren. Eine weitere der fnJ>a Eustachii zugeschriebene Funktion ist die, Schallwellen von der Eachenhöhle aus nach _der Paukenhöhle zu leiten und sie dort dem Trommelfell zur Über- tragung auf die Perceptionsorgane zu übergeben. Dafs es sich hier- bei nicht etwa um einen zweiten Leitungsweg für die Wellen der äufseren Luft handelt, ist leicht erweislich. Das Ticken einer ohne Berührung mit den Wänden in die Mundh()hle gehaltenen Uhr wird um so undeutlicher, je mehr wir sie dem Bachen nähern. Man hat daher behauptet, dafs es die hinter dem Gaumenvorhang erzeugten Schallwellen, also die Töne der eignen Stimme seien, für deren Zuleitung die Tuba bestimmt sei; allein auch dies ist falsch. Beim gewöhnlichen Sprechen mit offenem Ausweg für die Luft durch Mund und Nase hören wir unsre Stimme nicht anders, als die einer zweiten in unsrer Nähe sprechenden Person. Nur bei geschlossener Mund- und Nasenhöhle und gleichzeitig offenstehender Tubamündung erlangt der Ton unsrer Stimme eine aufserordentliche betäubende Intensität und scheint nicht mehr, wie beim gewöhnlichen Sprechen, aufserhalb des Ohres erzeugt, sondern innerhalb der Pauke selbst zu entstehen (Autophonie). Die Bedeutung dieses Verhaltens für die in Bede stehende Frage ist unzweifelhaft. Unsre Stimme wird durch die Tuba sehr intensiv gehört, sobald dieselbe irgendwie wegsam gemacht ist. Im gewöhnlichen Zustande berühren sich die Wände derselben; der normale Exspirations- strom, mithin auch die von den Stimmbändern erzeugten Schall- wellen dringen nicht in sie ein, da die andringende Luft die enge Mündung nicht in günstiger Lage trifft und notwendig leichter nach den vorderen weiten Auswegen abfliefst als durch die enge und § 103. DAS LABYKIXTH. 271 nocli dazu vorn geschlossene Bahn der Tuba. Die Festigkeit des Tiibaverschlusses ist so gering, dafs er das Ausweichen der Luft von der Pauke gegen den Ilachen nicht hindert, wohl aber seiner ventilartigen Anlage halber die umgekehrte Bewegung: das erstere geschieht, sobald der Druck der Luft in der Pauke etwas wächst, das Einströmen von der Rachenhöhle aus erfolgt dagegen nur, wenn die Tubamündung sei es durch Muskelaktion sei es aus andern LTr- sachen klaift, erzeugt jedoch selbst höheren Druck in der Pauke. Die grofse Intensität, mit welcher bei offener Tuba die eigne Stimme vernommen wird, erklärt sich aus denselben Gründen, wie die intensive Empfindung, welche entsteht, wenn jemand von aufsen durch ein Hörrohr in den äufseren Gehörgang spricht. Dazu kommt, dafs bei der Zuleitung durch die Tuba eine Verstärkung der Trommelfellschwingungen durch B-esonanz von den Pauken- wänden sehr wohl denkbar und wahrscheinlich ist. Die A'on der Innenseite der Membran reflektierten Wellen werden von der Pauken- wand aufs neue und zum Teil M^enigstens gegen das Trommelfell zurückgeworfen, müssen dasselbe also in diesem Falle der doppelten Reflexion wegen in eben dem Sinne zu bewegen streben, wie die primäre Welle, folglich seine Bewegung verstärken. AVoher es kommt, dafs durch die Tuba geleitete Töne im Gehörorgan selbst zu entstehen scheinen, wähi'end wir alle durch den äufseren Gehör- gang kommenden in der Vorstellung nach aufsen verlegen, wird unten zur Sprache kommen. DIE SCHALLLEITUNG IM LABYEINTH. § 103. Das Labyrinth stellt, wie schon oben p. 229 geschildert, einen mit Wasser gefüllten, von festen knöchernen Wänden eingeschlossenen Hohlraum von sehr komplizierter Gestalt dar. Die Knochenwandungen desselben besitzen zwei Öffnungen nach dei' Paukenhöhle zu, von denen die eine im Vorhof gelegene, die fcnestra ovalis, durch die Fufsplatte des Steigbügels mit ihrem häutigen Saum, die andre, die den Ausgang der Paukentreppe der Schnecke bildende fcnestra rotunda, von einer Membran, der sogenannten mcmhrana Ujmpani secundaria, geschlossen wird. Innerhalb des knöchernen Labyrinths und an seine Wandungen in beschriebener Weise befestigt liegt das häutige Labyrinth mit den ihm eigentümlichen Nervenapparaten. Zu letzteren können die Schallwellen entweder in Form von Wasser- Avellen gelangen, welche von der Peri- und Endolymphe des Laby- rinths fortgepflanzt werden, oder auch direkt als Verdichtungs- und Verdünnungswellen, welche von den festen Wandungen des knöchernen Labyrinths auf die häutigen denselben ansitzenden Nerventräger übergehen. Da der normale und allein wesentliche Weg des Schalles bei dem Menschen durch das Trommelfell und 272 DAS LABYRINTH. § 103. die Gehörknüchelclien in der frülier bescliriebeneu Weise geht, müssen wir die von den Stempelbewegungen des Steigbügels im ovalen Fenster erzeugten Wellen des Labyrinthwassers als die wesentlichen Erreger der Gehörsperception betrachten. Jede solche Welle wird und mufs sich von der Erregungsstelle, der Steigbügelplatte, aus nach allen Richtungen fortpflanzen, alle Teile des Labyrinthes durchlaufen, nicht allein Vorhof und halbzirkel- förmige Kanäle, sondern notwendig auch den ganzen Schnecken- kanal, indem sie vom Vorhof, die Vorhofstreppe entlang fortgepflanzt und in der Spitze der Schnecke auf das Wasser der Paukeutreppe übertragen, in dieser herab bis zum runden Fenster läuft, teils auch während ihres Verlaufs in der Vorhofstreppe durch den zwischen der REissNERschen Haut und der zona mcmhranacea eingeschlossenen canalis cochlearis hindurch dem Wasser der Paukentreppe sich mit- teilt. Nur dadurch, dafs sie die Membran dieses Fensters nach aufsen spannt, dafs also das Labyrinthwasser einen nachgiebigen Teil der AVandung findet, ist überhaupt das Ausweichen des Was- sers gegen die Exkursionen der Steigbügelplatte möglich. Und eben hierin besteht auch die einzige Bestimmung der Membran des runden Fensters; von einer Aufnahme von Schallwellen aus der Pauken- luft durch dieselbe und Übertragung des empfangenen Stofses auf das Schneckenwasser, wie von einigen geglaubt wurde, kann keine Rede mehr sein. Mit dieser allgemeinen Darstellung ist aber keineswegs die Akustik des Labj^rinths genügend aufgeklärt. Die spezielle Ver- folgung der Wasserwelle, ihrer Form, Kraft, Richtung, Reflexion in den einzelnen Teilen des Labyrinths, ihres Überganges auf die membranösen Nerventräger, ihres Verhaltens gegen die Otolithen, und vor allem ihrer Einwirkungsweise auf die Nerven selbst, ist eine Aufgabe, die noch nicht erschöpfend gelöst ist. Man hat sich vielfach bemüht Bedingungen für die Resonanz in den verschiedenen Abteilungen des Labyrinths aufzufinden, um eine Verstärkung der Schallwellen, wie man sie immer als notwendig vorausgesetzt hat, als wirklich gegeben zu erweisen. Ist nun schon im allgemeinen die Richtigkeit dieser Voraussetzung sehr zweifel- haft, im Ge2:enteil augenscheinlich, dafs an manchen Teilen des Schallleitungsapparates die Bedingungen zur Resonanz, wo dieselbe störend sein würde, geradezu vermieden sind, so ist ganz besonders auch im Labyrinth sehr fraglich, ob hier eine Resonanz durch be- stimmte Form- und Anordnungsverhältuisse beabsichtigt worden ist, ob nicht im Gegenteil das Anbringen einer Anzahl langer gebogener Kanäle, welche sämtlich von dem Räume, in welchem die Wasser- welle erzeugt wird, ausgehen, den Zweck hat, der Welle viel- fache Auswege zu eröffnen, um eine störende Reflexion von einer rings geschlossenen Wand zu vermeiden. Die Ergebnisse aller Versuche, w^elche J. Mueller insbesondere und Harless mit Hinblick auf die Resonanzhypothese angestellt und zu § 103. HALBZIEKELFÜRMIGE KANÄLE. 27:3 gunsten derselben gedeutet haben, dürfen nur mit Vorsicht auf die natürlichen Verhältnisse übertragen werden. J. Mueller wies nach, dafs ein Ton, welcher innerhalb eines mit "Wasser gefüllten, wiederum in Wasser stehenden Glascy linders erzeugt wird, durch Reflexion von den Wänden Aerstärkt, in der Nähe der Wände intensiver gehört wird. Wären jedoch von dem C\'linder relativ ebenso weite Röhren, wie sie der Schneckenkanal und die halbzirkelförmigen Kanäle darstellen, abgegangen, wäre ferner in den Versuchen das Verhältnis der Wellen- länge zu den Dimensionen des mit Wasser gefüllten Raumes dasselbe wie in dem natürlichen Labyrinth gewesen, so fragt sich, ob seine Beobachtungen zu dem gleichen Ergebnis geführt hai)en würden. Dafs nur von einer Resonanz durch Reflexion, nicht aber durch Mitschwinsfen der knöchernen Labyrinthwände die Rede sein kann, versteht sich von selbst, ist aufserdem durch Versuche dargethau. Die spezielle Bedeutung der drei als halb zirkeiförmige Kanäle bekannten gebogenen Röhren ist völlig dunkel. Thatsache ist, dafs mit Luft, in geringerem Grrade auch mit Wasser gefüllte Röhren Schall- wellen ungesehwächt in ihrer Achse fortleiten, und Schallwellen, die in der Achse jeuer Kanäle fortschreiten, müssen also notwendig zu den am Eingänge derselben sich erhebenden Nervenkämmen der Ampullen gelangen; allein es bleibt trotzdem bedenklich, die Be- stimmung der Kanäle in der Zuleitung der Schallwellen zu diesen Ampullen zu suchen, da letztere ja direkt und ungeschwächt vom Vorhof aus die vom Steigbügel erregten Wasserwelleu empfangen, obschon wiederum der Umstand, dafs gerade die Ampullen mit be- sonders gearteten Nervenenden versehen sind, auf eine Beziehung jener Kanäle zu der Perception des Schalles in der denselben eignen Nervenausbreitung hinzudeuten scheint. Rinne schreibt den Kanälen eine Bedeutung zu, welche E. H. Weber einst der Schnecke zuerteilt hatte, und läfst sie die durch die Kopfknochen geleiteten Schallwellen auffangen und dem an ihren Mündungen gelegenen Nervenapparat zuführen. Rinne stützt sich besonders auf die Form und Lagerung der drei Kanäle: letztere ist von der Art, dafs bei jedweder Richtung, in welcher die Schallwellen die Kopfknochen durchsetzen, doch einer der Kanäle in solcher Richtun 2: der Schallwelle entfi:eo:en- steht, dafs er sie mehr weniger unter rechtem Winkel und in möglichster Breite aufnimmt. Ob diese Vermutung das richtige trifft, ist zweifel- haft ; bei dem Menschen, bei welchem die Schallleitung durch die Kopf- knochen nur eine ganz unwesentliche Nebenleitung bildet, hat eine solche Bestimmung der halbzirkelförmigen Kanäle Avenig Wahr- scheinlichkeit. Die Ansicht von Autenrieth und Koerner, dafs die- selben bestimmt seien, die Richtung des Schalles zur Wahrnehmung zu bringen, bedarf jetzt keiner besonderen Widerlegung mehr. Die Richtung des Schalles ist durchaus in keiner Weise Gegenstand der direkten Sinnes Wahrnehmung; die Richtung der erregenden äufseren Luftwellen mag sein, welche sie wolle, der Steigbügel er- GRUli>'HAGEN, Physiologie. 7. Aufl. II. lö 274 SCHNECKE. § 108. 7.(mu;t initer allen Umstiiiulon AVasserwellen von immer gleichem Verlaufe, und kämen liifM' selbst von dem Gange der äulseren AVelleu abhängige Verlaufsschwankungen vor, so könnten wir doch auch die Richtung der Labyrinthwasserwellen unmöglich direkt wahrnehmen. Endlich haben Versuche von Flourens^ gezeigt, dafs die Zerstörung der häutigen Bogengänge von Folgen begleitet ist, welche eine)' ganz andren Sphäre als derjenigen der akustischen Sinneswahrnehmungen angehören und im allgemeinen unter der Form von Schwindel- erscheinuugen auftreten. Hierdurch ist allerdings nicht bewiesen, dafs der Nerven apparat der crisfac ncusticae überhaupt keiner Ver- mittelung von Schallempfindungeu fähig ist, mindestens aber der Vermutung Kaunt gegeben, dafs demselben noch anderweite Funktionen als rein akustische obliegen. Wir gedenken dieser Angelegenheit in der speziellen Physiologie des Acusticus (s. u. Gehirnnerven) näher zu treten. Die Frage, in welcher Weise die Wasserwellen im Vorhofe und den Ampullen die Erregung der daselbst endigenden Acusticus- fasern bewirken, und welche Rolle dabei die eigentümlichen kristal- linischen Körperchen, die Otolithen, in den Vorhofssäckchen spielen, wird im folgenden Paragraphen zur Erörterung kommen. Gehen wir zur Schallleitung der Schnecke über, so ist zu- nächst vorauszuschicken, dafs die oben geschilderten Entdeckungen der freien Nervenendigung innerhalb des CoiiTischen Apparats einer Anzahl von älteren Theorien die Basis entzogen haben. Solange man die percipierenden Nervenenden in der zona ossea des Spiral- blattes vermutete, lag es nahe, als w^esentlichen Leiter der Schall- wellen zu denselben das knöcherne Gerüste der Schnecke zu be- trachten, das Wasser des Schneckenkauals dagegen nur als zufälligen Nebenleiter. Man parallelisierte daher den Modiolus und die knöcherne Spiralleiste ebenso wie die Gehörknöchelchenkette mit einem System von parallelen Platten (Fig. 108), welche in gewissen Entfernungen voneinander auf einem senkrechten Achsenstab auf- sitzen, und wandte auf dieses System das von Savart '"' ermittelte Gesetz an, nach welchem eine Schallwelle, welche z. B. senkrecht die untere Platte trifft, das ganze System in allen seinen Teilen in unver- änderter Richtung als Verdichtungswelle durchläuft, wie die Pfeile andeuten. Fig. 109 stellt einen ver- gröfserten Durchschnitt der Schnecke dar. Die Pfeile zeigen hier, wie nach dieser Anschauung eine vom Vorhof gegen die Basis treffende Schallwelle das ganze System durchlaufend gedacht wird. In gleicher Weise sollten nun auch durch die Kopfknochen fortgepflanzte Schallwellen das Schnecken- gerüst durchlaufen, von den Knochen aus ohne Vermittelung des * FLOUEENS, Rech, experim. nur les proprietes et les fonctions du systhne nervei'x. 1S42. p. 438, u. Comptes rendus. 1861. T. LU. p. 64.3. § 103. SCHNECKE. 275 Labyrintliwassers direkt an die Nerven übergehen; wie bereits er wähnt, bat E. H. Weber ^ in der Perception der durch die Schädel- knochen geleiteten Schallwellen die wesentliche Bestimmnno- der Schnecke gesucht. Allein, so unbestreitbar die Thatsache ist, dafs der geringe Teil der Schallbewegung, welchen das Wasser beim An- treffen der Welle an die feste Schneckenwand an diese abgibt, nach Savarts Gesetz den Modiolus und die Spiralleiste durchläuft, so bestimmt läfst sich jetzt behaupten, dafs in dieser Leitung durch das knöcherne Gerüst nicht die Bestimmung der Schnecke liegt, dafs vielleicht diese geringe Schallbewegung die Nervenenden gar nicht in einer zur Erregung geeigneten Weise und Stärke erreicht. Die Nervenenden liegen nicht auf der zona ossea auf, so dafs sich Fi"'. 109 deren Erschütterungen durch Schall- wellen unmittelbar auf sie fort- pflanzen könnten, sondern, wie wir gesehen haben, auf der zona mem- hranacca, und zwar nicht auf die- selbe aufgewachsen oder in die häutige Platte selbst hineingewachsen, sondern, wie die neueren Unter- suchungen dargethan haben, oberhalb derselben, wahrscheinlich zum Teil eingeklemmt zwischen die Glieder des komplizierten Mechanis- mus des CoRTischen Organs, vielleicht auch in direktem Zu- sammenhang mit gewissen dazu gerechneten (Tebilden. Ed. Weber hat schon vor der Entdeckung der wahren Nervenenden aus dem Umstand, dafs die Öffnung, durch welche an der Spitze der Schnecke Vorhofs- und Paukentreppe kommunizieren, sehr klein ist, den Schluls gezogen, dafs ein Teil der in der Vorhofstreppe sich fortpflanzenden Wasserwellen durch die zona memhranacea hindurch auf die Paukentreppe übergeht, an deren Fufs sich die ausweichende Membran befindet. Jedenfalls erscheinen jetzt die percipierenden Enden des Schneckennerven nicht günstiger gegen die Schwingungen der Kopfknochen gestellt als die der Vorhofsnerven, welche ebenso mittelbar mit den festen Wänden zusammenhängen. Eine genaue physikalische Analyse der Wellenbewegung des Schneckenwassers, ihrer Form-, Intensitäts- und Reflexionsverhält- nisse ist noch nicht ausführbar, die Exaktheit einer solchen kann nur illusorisch sein. Rinne- hat einen Versuch der Art gemacht, allein die Anwendbarkeit seiner theoretischen und schematischen Erörterungen auf die Wellen der Schnecke dünkt uns in manchen ' E. H. Weber, De utilitute Cochleae in organo aiiditus. Annol. unuiomicae et phtj.iiolorjicae- 1827. p. 25. - RINXE, a. a. O. p. 56. 18* 276 SCHNECKE. § 103. Punkten zweifelhaft: die wirkliche Schallbewegung in dem Schnecken- kanale ist wahrscheinlich viel einfacher, im Wesen eben nur eine ein- fache in der Richtung des Kanals fortschreitende Wusserwelle, welche in jeder Beziehung ein genaues Spiegelbild der sie veran- lassenden Tronimelfellschwingung, mithin auch der diese erregenden Schallbewegung der äufseren Luft und in letzter Instanz der Schwingungen des tonerzeugenden Körpers ist. Es liegt nun auf der Hund, dai's eine solche den Vorhofskanul entlang sich fort- pflanzende Wasserwelle auf ihrem ganzen AVege durch die dünne B/EissNERsche Membran hindurch sich dem Wasser, welches den mittleren nerventragenden Schneckenkanal erfüllt, mitteilen und durch das häutige Blatt der Spirulleiste an die Paukentreppe über- gehen wird. Letzteres ist insofern gleichgültig, als dieser Übergang auf das Wasser der Paukentreppe, welcher wegen der Lage der ausweichenden Membran des runden Fensters am Fufse derselben absolut notwendig ist, auch in der Spitze der Schnecke, wo beide Treppen kommunizieren, vor sich gehen kann. Der physiologiscli wirksame Teil der Schallwelle ist selbstverständlich nur derjenige, welcher im mittleren Schneckenkanal zu den in demselben enthaltenen Nervenenden und ihren Hilfsapparaten gelangt. Wozu, fragen wir, ist die Schnecke überhaupt vorhanden ? Warum genügen zur Schallperception nicht die Perceptionsmechanis- men in Yorhof und Ampullen ? Welche spezifische Leistung hat sie vor letzteren voraus? Dafs in der That eine solche vorhanden ist, dafür spricht schon die auffällige Differenz der Anordnung und Kon- struktion der fraglichen Mechanismen in ihr gegenüber derjenigen des Vorhofs. Die regelmäfsige klaviaturartige Nebeneinanderlagerung der- selben auf einer etwa 33 mm laugen Leiste in der Bichtung des Wellenverlaufs mufs eine bestimmte Bedeutung haben. Eine hypo- thetische, aber im höchsten Grade plausible Interpretation des Zweckes dieser eigentümlichen Schneckeneinrichtung hat zuerst Helmholtz auf die Ergebnisse seiner epochemachenden Analyse der Gehörsempfindungen begründet, wenn auch bereits vor ihm dieselbe Hypothese vermutungsweise, aber ohne genügende thatsächliche Be- lege, ausgesprochen worden war. Es ist die Schnecke das musika- lische Gehörorgan, bestimmt die Wahrnehmung der Töne ver- schiedener Höhe zu vermitteln, einen gemischten Schallwellenzug, w^elcher einer Kombination mehrerer gleichzeitiger einfacher Töne ver- schiedener Höhe entspricht, in seine Komponenten zu zerlegen und so das Zustandekommen einer für jede derselben charakteristischen Ton- empfindung zu ermöglichen. Das CoRTische Organ ist eine Klaviatur mit etwa 3800 Tasten, von denen jede bei ihrer Ansprache eine besondere Nervenfaser erregt und dadurch eine Tonempfindung be- stimmter Höhe erzeugt, von denen ferner jede eben nur durch eine dieser Tonhöhe entsprechende Schallbewegung angesprochen wird, wie wir im folgrendeu sfenauer erörtern werden. § 104. EREEGUNG DES HÖRNERVEX. , 277 DIE GEHÖRSEMPFINDUXGEX. § 104. Die Erregung des Hörnerven. Wir haben den äufseren Reiz für den Acusticus, die Schallbewegung , durcli alle leitenden Vorbaue bis zu ihrer Umsetzung in eine Wasserwelle verfolgt. Es fragt sich, ob diese AVasserwelle das letzte Glied der Kette physischer Bewegungen ist, welche zwischen dem Nervenprozefs und den Yer- dichtungswellen der äufseren Luft interponiert sind, ob sie direkt und unmittelbar den Nervenerregungsprozefs auslöst und in welcher Weise sie denselben erzeugt, oder ob sie vielleicht zunächst eine anderweitige Bewegung (inneren Sinne.sreiz) hervorruft, durch welche sie nur mittelbar erregend auf die Acusticusenden wirkt"? Die Antwort hängt von den anatomischen Verhältnissen der Nervenenden ab. Alle Aufklärungen, welche die Neuzeit über die- selben gebracht hat, Aveisen unzweifelhaft darauf hin, dafs es sich in allen Teilen des Perceptiousapparates um eine mechanische Rei- zung der Hörnervenenden durch die von der Schallbewegung er- griffenen Teilchen des Labyrinthwassers handelt. Überall sind die Hörnervenenden mit Vorrichtungen in Verbindung, welche durch ihre Beschaffenheit und Lagerung unzweideutig die Bestimmung verrateu , selbst durch die Schallwellen in Bewegung gesetzt zu werden und durch ihre Bewegung den Nerven mechanisch zu erregen. In den Ampullen ragen aus dem die Nervenenden umschliefsenden Epithel lange steife elastische Borsten, rechtwinkelig zur Richtung der Wellen gestellt, in das schallleitende Wasser. Jede Vor- und Rückwärtsverschiebuug der sie umgebenden Wasserteilchen mufs diese leichtbeweglichen Borsten in pendelartige Schwingungen um ihre den Epithelzellen aufsitzende Basis versetzen. Man darf dem- nach mit einigem Grunde vermuten, dafs die mechanischen Er- schütterungen, welche hierbei die Zellkörper selbst und die mit ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach stets innig zusammenhängenden Nervenenden erleiden, den Reiz ausmachen werden, welcher den nervösen Leitnngsprozefs auslöst. Welche Aufgabe die Otolithen der Vorhof ssäckchen zu erfüllen haben, ist schwer zu sagen. Nach einigen sollen sie dazu bestimmt sein, den mechanischen Effekt der Schallwellen zu verstärken, und zwar derart, dafs sie in ähnlicher Weise wie Sand von einer schwingenden Membran von ihrer vibrierenden Unterlage abgeworfen und wieder aufgefangen werden, bei jeder solchen Bewegung aber notwendig einen reizenden Stofs auf die Nervenenden ausüben^, nach andern sollen sie da- gegen gerade umgekehrt als Schalldämpfer wirken. Letztere An- schauung scheint uns den Vorzug zu verdienen, weil direkte Be- obachtungen an den Gehörblasen niederer Tiere (Heteropoden) er- 1 Vgl. IV. Aufl. dieses Lehrb. 1864. Brt. 11. p. 14S. 278 ERREGUNG DES HÖRNERVEN. § 104. geben habeu^, dafs hier besondere Zellen existieren, deren lange steife Wimpern sich unter dem Einflüsse stärkerer Schallreize blitzgeschwind emporrichten und den Otolithen fest gegen eine Gruppe andersartiger den Borsten/elleu liöherer Tierklassen homolog zu erachtender Zellgebilde ])]'essen. Nicht so einfach und klar zutagetretend sind die Bedingungen der mechanischen Reizung in der Schnecke; indessen hat sich die zuerst von M. ScHULTZE als Vermutung ausgesprochene, von Helmholtz näher ausgeführte und begründete Aon ahme, dafs derCoRTische Appa- rat ein System von mechanischen Reizapparaten darstelle, sehr schnell eine grofse Zahl von Anhängern erworben. Die ur- sprüngliche Idee, nach welcher die Schallwellen namentlich die äufseren elastischen Pfeiler des CoRTischen Bogenapparats in Schwingungen und hierdurch mittelbar die benachbart gelegenen Nervenendzellen in Erregung versetzen sollten, ist von Helmholtz freilich den anatomischen Einwänden Hasses und Hensens gegen- über aufgegeben worden.^ Statt dessen glaubt er aber die saiten- ähnlich ausgespannten Fasern der memhrana hasilaris als die mitschwingenden Schneckenteile ansprechen zu dürfen , welche ihre Vibrationen zunächst den Bügen und durch diese schliefslich den Endzellen übermitteln. Ist dem wirklich so , so mufs weiter vorausgesetzt werden, dal's diese von den Schallwellen veranlafsten Mitschwingungen die Schallwellen selbst an Dauer mindestens nicht merklich übertreffen dürfen, d. h. dafs die Fasern der memhrana hasilaris nicht, wie in Mitschwingung versetzte Stimmgabeln, lange nachschwingen dürfen ; denn im entgegengesetzten Falle würde die Erregung des Hörnerven den äufseren Reiz so lange über- dauern, als die Nachschwingungen anhielten, und alle die sinnreichen Hilfsmittel, die wir in den äufseren Schallleitungsapparaten zur Dämpfung der Nachschwingungen angebracht fanden, wären um- sonst vorhanden. Vom Zweckmäfsigkeitsstandpunkte aus liefse sich sogar eine möglichst genaue zeitliche Übereinstimmung von Reiz- und Kesonanzdauer erwarten , damit unser Gehörssinn uns richtig über die zeitlichen Verhältnisse der äufseren Bewegungen, zu deren Wahr- nehmung er bestimmt ist, belehren könne, was er thatsächlich eben- so sicher vollführt, als sich thatsächlich beweisen läfst, dafs eine erhebliche Nachdauer der Empfindung nicht stattfindet. Denn wäre eine solche vorhanden, so würden wir aufser stände sein die beiden in raschem Wechsel alternierenden Töne eines Trillers gesondert aufzufassen ; die Empfindung des einen Tones würde noch andauern , wenn die des zweiten begänne , und so würden beide Empfindungen ineinander fliefsen. In Wirklichkeit tritt aber eine solche Verschmelzung der Trillertöne erst bei einer ' Vgl. Claus, a. a. O. dieses Lehrb. p. 231. - Vprl. HASSE, Die Schnecke der Vöpel. Leipzig 1866. — HENSEN, Ztschr. f. wiss. Zoolo(/ie. 1863. Bd. Xni. p. 4SI. — HELMHOLTZ, Verhandl. d. naturhistor. med. Vereins zu Heidelberrj. 1869. Bd. V. p. 33. § 104. . ERREGUNG DES HÖRNERVEN. 279 ziemlich beträclitlichen Gescliwindigkeit des Wechsels und mit be- sonderer Deutlichkeit auch nur bei Trillern auf tiefen Tönen ein. Zum Beweise, dafs dieses Ineiuanderklingen tiefer zu rasch aufein- anderfolgender Töne nicht auf einer objektiven Deckung der den Trillertönen entsprechenden Schallwellen beruhen kann, macht Helmholtz geltend, dafs die in Rede stehende akustische Er- scheinung sich an allen musikalischen Instrumenten gleichmäfsig konstatieren liefse, und zeigt weiter, wie dieselbe auch nicht durch Nachschwingungen der äufseren Schallleitungsapparate, insbesondere des Trommelfells, bedingt werde, sondern höchst wahrscheinlich in den kurzen, aber unter den bezeichneten Bedingungen merklich werdenden ISTachschwinguugen der als Nervenerreger gedachten Fasern der menihrana Ijasilaris ihre Erklärung finde. Daraus folgt aber ferner, dafs es verschiedene solche Fasern sein müssen, welche durch Töne verschiedener Höhe in Mitschwinguug versetzt die Perception der betreffenden Töne durch die Erregung der mit ihnen verbundenen Nervenenden vermitteln, dafs also für jede Tonempfindung von bestimmter Höhe ein besonderer Er- regungsapparat und eine besondere Nervenbahn vorhanden ist. Denn wäre es immer derselbe elastische Körper, welcher, durch alle möglichen Töne verschiedener Höhe in Mitschwingung versetzt, nachklänge, so könnte er immer nur in einem und demselben Ton, seinem Eigeuton, nachklingen. Prüfen wir jetzt auf dieses zunächst rein theoretische Ergebnis hin die anatomischen Verhältnisse des CoRTischen Organs, so wird namentlich eine von Hensen zuerst be- merkte Thatsache höchster Berücksichtigung wert, die von der Basis bis zur Spitze der Schnecke allmählich wachsende Breite der memhrana hasilaris. Denn unter der Annahme, dafs die letztere vorzugsweise in transversaler Richtung von der lamina spircdis ossea gegen das hgamentum spircdc hin (vgl. Fig. 99) angespannt wäre, fast unmerklich dagegen in einer dazu senkrechten den Wandungen des Schneckenkanals parallelen Richtung, darf man sie, wie Helmholtz durch Rechnung belegt hat, vom physikalischen Gesichtspunkte aus einem System dicht nebeneinander ausgespannter gesonderter Saiten gleich erachten, von welchen also die kürzeren in der Schneckenbasis befindlichen nur auf bestimmte höhere, die längeren in der Schneckenspitze enthaltenen auf bestimmte tiefere Töne resonieren Averden. In Übereinstimmung damit findet sich denn auch die An- gabe^, dafs Hunde, deren Schnecke auf operativem Wege ver- stümmelt worden war, sich für tiefe Töne unempfänglich zeigten, wenn die Schneckenspitze, für hohe, wenn die Schneckenbasis den zerstörenden Eingriff erfahren hatte. Besteht nun die Aufgabe der CoRTischen Bögen wirklich darin , die Schwingungen der niem- hrana hasilaris auf die ihnen anlieffenden Nervenendzellen zu über- BäGISSKI, Slzber. d. kgl. preufs. Akad. d. Wiss, zu Berlin. 1883. 2. HIfte. p. 685. 280 KLAXGEMPFINDUNGEN. § 105. tragen, so ergibt ihre ungefähr auf 3800 geschätzte Zahl, dafs die laminn mrmhranacca einer Skala von 3800 verschiedenen Tonhöhen entsprechen würde, deren Intervalle allerdings bei den geringen Längen differeii/en der aneiimndergrenzeuden Membrauabteiluiigen nur sehr unbedeutend sein können. Rechnet num mit Helmholtz. von den 3800 Fasern 200 ab für die aufserhalb der musikalischen Grenzen liegenden höchsten und tiefsten Töne, deren Höhe von unserm Ohr sehr unvollkommen aufgefaist wird, so würden für die sieben Oktaven der musikalischen Instrumente 3600, also für jede Oktave 500, für jeden halben Ton 38 Fasern bleiben. Innerhalb des Intervalls eines halben Tones finden sich hiernach Vorkehrungen in unserm Ohr, um 38 Abstufungen der Tonhöhe, also noch sehr geringe Differenzen von Schwingungszahlen mittels der Ansprache besonderer Mitschwingungsapparate aufzufassen. In der Thüt unterscheiden geübte Musiker noch zwei Töne als ver- schieden hoch, die um V^s eines halben Tones auseinander liegen, ja nach E. H. Weber auch noch solche, deren Höhendifferenz nur ^l&i eines halben Tones beträgt, was sich nach Helmholtz daraus erklären läfst, dafs ein Ton, dessen Höhe zwischen den Eigentönen zweier benachbarten CoRTischen Fasern liegt, beide in Mitschwingung versetzt, diejenige stärker, deren Eigenton er näher liegt, deren Empfindungseffekt wir daher auch der Beurteilung seiner Höhe zu Grunde legen werden. Überhaupt müssen wir hinzufügen, dafs nicht etwa jedes kleine Segment der nioiihrana hasüaris ausschliefslich durch diejenigen Töne, deren Schwingungszahl absolut genau mit der seinisren zusammenfällt, in Mitschwinoun? versetzt werden wird, sondern auch noch durch solche, deren Höhe etwas unter oder über der seines Eigentons liegt; aber die Intensität der Mitschv/ingungen wird nur für den genau entsprechenden Ton eine beträchtliche sein und sehr rasch abnehmen, je mehr der erregende Ton sich von der Stimmung des resonierenden Elements entfernt Die Bedeutung, welche die HELMHOLTZsche Hypothese für das Verständnis der Gehörswahrnehmungen hat, beruht, wie aus dem folgenden Paragraphen noch klarer einleuchten wird, im wesentlichen auf der Ausmittelung von Momenten, welche die Annahme separater Perceptiousapparate und Nervenfasern für die Tonempfindungen ver- schiedener Höhe begünstigen. Ob die Hypothese in ihrer jetzigen Form auf die Dauer genügen wird, kann zweifelhaft erscheinen, da sie über den akustischen Wert gewisser histologischer Verhältnisse, insbesondere des Borsten- oder Stäbchenbesatzes der Gehörzellen, gar keine Auskunft erteilt. § 105. Die Klangempfindungen. Bereits in der Einleitung w^urde vorausgeschickt, dafs sich die durch das Ohr vermittelten Empfindungen in zwei Klassen trennen, in Geräusche und § 105. KLANGEMPFINDUNGEN. 281 Klänge. Früher unterschied mau allgemein zwischen Geräuschen und Tönen, eine Einteilung, die wir auch jetzt noch festhalten dürfen, wenn v.^r nur dabei uns erinnern, dafs die meisten Empfindungen, die man sonst als einfache Tonempfindungen betrachtete, Kom- binationen mehrerer gleichzeitiger einfacher Tonempfindungeu dar- stellen. Nach Helmholtz beschränkt man jetzt die Bezeichnung Ton auf eine bestimmte durch die Art der erregenden äufseren Schallbeweguug scharf charakterisierte Art von Klangempfindnngen, welche gewissermafsen die elementare Form derselben ausmacht. AVie bei den übrigen Sinnesempfindungen, so ist auch hier eine auf bestimmte Merkmale der Empfindungen selbst gestützte Defi- nition der beiden Klassen von Schalle ni])findungen unmöglich. Wir können allerdings angeben, dafs die Klänge durch ihr gleich- mäfsiges Fortbestehen in derselben Qualität von den meisten Geräuschen, bei w^elchen ein fortwährender rascher und unregel- mäfsiger Wechsel der Empfindungsqualität stattfindet, sich unter- scheiden. Allein diese Charakterisierung beider Arten von Gehörs- empfindungen trifft den Kern der Sache nicht ; wir müssen daher auch hier zu einer mittelbaren Bezeichnung der Empfindungen durch die Beschaffenheit der sie erregenden äufseren Ursachen unsre Zuflucht nehmen. Die genaue Darstellung der Natur und Gesetze dieser Ur- sachen, der Schallbewe2:une:en, ist Gegenstand der Phvsik; hier kann natürlich nur eine kurze Skizze derjenigen physikalischen Lehrsätze, an welche wir unsre physiologischen Erörterungen unmittelbar an- zulehnen haben, gegeben werden. Die Unterscheidung der Klänge und Geräusche nach der Be- schaffe nheit der äufseren Ursachen lautet folgendermafsen : Klang- empfindungeu werden erzeugt durch regelmäf sige perio- dische BeAvegungen, Schwingungen, der tongebendeu äufseren Körper, Geräusche durch unregelmäfsige nicht periodische Bewegungen. Periodische Bewegungen sind solche, bei denen ein Körper innerhalb gleicher sich folgender Zeitabschnitte immer die gleiche Veränderung seiner Lage oder Form wiederholt. Eine periodische Bewegung hat also z. B. die angeschlagene Stimm- gabel, deren Zinken genau nach demselben Gesetze wie ein Pendel um ihre Ruhelage hin- und herschwängen, und zu jedem solchen Hin- und Hergang, jeder einzelnen Schwingung, genau die gleiche Zeit verbrauchen. Eine periodische Bewegung führt ferner eine an ihren zwei Enden befestigte gespannte Saite aus, wenn sie durch Zerren oder Schlagen in Beugungsschwingungen versetzt oder wenn sie mit dem Bogen gestrichen wird, in welchem letzteren Falle die Saite von dem angedrückten Bogen ein Stück mit fortgenommen wird, dann sich losreifst, und infolge ihrer Elastizität schnell in ihre Ruhe- lage zurückspringt, um vom Bogen wieder erfafst zu werden, bis sie aufs neue sich losreifst u. s. f. Die Formen der Bewegung, das Gesetz, nach welchem innerhalb einer Periode der tonangebende 282 KLANGEMPFINDUNGEN. § 105. Körper sich bewegt, sind, wie schon aus den angeführten Beispielen erhellt, bei den verschiedenen Arten der periodischen Bewegung, welche Klangempfindungen erzeugen, sehr verschieden; von der wichtigen akustischen Bedeutung diqger Differenzen der Schwingungs- form ward alsbald die Rede sein. In welcher AVeise die primären Be- wegungen des tongebenden Körpers sich fortpflanzen, Natur und Gesetze der Schallwellen überhau])t und insbesondere der für das Ohr des Menschen und aller in der Luft lebenden Tiere zunächst in Betracht kommenden Luftwellen, müssen wir als aus der Physik bekannt voraus- setzen. Es genügt, hier daran zu erinnern, dafs die von Nachbar zu Nachbar übertragenen Bewegungen der Luftteilchen im Verlauf der fortschreitenden Schallwelle dieselbe Periodizität wie die Bewegung des primär schwingenden Körpers, dieselbe Dauer der einzelnen Perioden, dasselbe Beschleunigungsgesetz der Bewegung zeigen. Befindet sich irgendwo im Bereich der nach allen Bichtungen des Baumes vom tongebenden Körper sich ausbreitenden Luftwelle ein Ohr, so über- trägt nur der in der Regel verschwindend kleine Teil schwingender Luftmoleküle, welcher an das Trommelfell grenzt, diesem seine von der Schallwelle überkommenen Erschütterungen, versetzt dieses, wie oben erörtert wurde, in Vibrationen, welche wiederum in bezug auf Form, Dauer und Stärke mit den primären Bewegungen der Schall- quellen übereinstimmen und sie mit gleichen Eigenschaften den weiteren Leitungsapparaten bis zu den Hörnervenenden übergeben. Nur dieser verschwäudend kleine Teil der Schallwelle wird, wie der gewöhnliche Ausdruck lautet, tönend, ebenso wie nur der unendlich kleine Teil der Schwingungen des Lichtäthers, M^elcher durch die engen Pupillen unsrer Augen die Netzhaut erreicht, leuchtend wird. Ohne Ohr kein Ton, ohne Auge kein Licht. Die Klangempfindungen, welche durch die periodischen Er- schütterungen der äufseren Körper hervorgerufen werden, unter- scheiden sich untereinande]" durch ihre Intensität, durch ihj'e Höhe und endlich durch ihre Klangfarbe; alle drei Differenzen sind in bestimmten Verschiedenheiten der reizenden objektiven Schall- bewegung ursächlich begründet. Die Intensität der Klangempfin- dung hängt von der Gröfse der Exkursionen, welche die schwingen- den Teilchen ausführen, von der Amplitude der Schwingungen, ab. Je weiter die gespannte Saite beim Anstofs aus ihrer Gleich- gewichtslage abgelenkt wird, je gröfser daher der Weg, den ihre Teilchen beim Schwingen um die Ruhelage zurücklegen, je gröfser der Bogen, w^elchen die Zinken der angestofsenen Stimmgabel 'be- schreiben, desto stärker sind die in uns erregten Empfindungen. Wenn die Schwingungen der einmal angestofsenen Saite oder Stimmgabel, wie wir bei ersterer schon mit dem Auge unmittelbar wahrnehmen können, allmählich immer kleiner werden, so nimmt auch die Stärke des Klanges allmählich bis zu Null ab, der Ton verklingt. Wir hören ferner den Klang eines tongebenden Körpers um so schwächer, je § 105. HÖHE DER KLANGEMPFINDUNGEN. 283 weiter unser Ohr von demselben entfernt ist, weil die Amplitude der Ex- kursionen der Luftteilchen, welelie die fortschreitende Schallwelle er- zeugt, nach bekannten physikalischen Gesetzen mit der Entfernung von der Schallwelle abnimmt. Dafs auch gewisse im Schallleitungs- mechanismus des Ohres selbst gelegene Momente auf die Intensität der Empfindung bei gleicher Stärke der äufseren Schallbeweguug bestimmend einwirken, geht schon aus dem hervor, was wir über die Wirkung der Trommelfellspannung erörterten. Endlich ist sicher auch die Erregbarkeit des Hörnerven eine variable Gröfse, von welcher die Stärke der Empfindungen innerhalb gewisser Grenzen abhängt. Ein direktes Mafs für die Stärke der Klangempfindungeu besitzen wir ebensowenig, als für irgend welche andre Sinnesem- pfindung. Indem wir auf die allgemeinen Erörterungen über die Messungen dei- Empfindung in der Einleitung verweisen, erinnern wir hier daran, dafs wir allerdings zwei gleichzeitige oder besser noch zwei aufeinander folgende Klangempfindungen ziemlich genau hin- sichtlich ihrer relativen Stärke vergleichen können, besonders wenn sie von gleicher Höhe und Klangfarbe sind, dafs wir bis zu gewissen Grenz- differenzen der objektiven Schallstärken herab zu unterscheiden ver- mögen, welche der beiden verglichenen Empfindungen die stärkere, welche die schwächere ist, dafs ^\'ir aber das richtig geschätzte Intensitätsverhältnis nicht unmittelbar in absoluten Zahlenwerten auszudrücken vermögen. Der indirekte AVeg, auf welchem Fechner mit Hilfe des von ihm formulierten WEBERschen Gesetzes (s. o. p. 130) wenigstens ein relatives Mafs zu gewinnen trachtete, hat zwar nach den Versuchen zahlreicher Beobachter ^ eine voll- ständige Bestätigung jenes Gesetzes ergeben, und es hätte hiernach also die Grenze des Unterscheidungsvermögens für ver- schiedene Schallstärken einen konstanten dem Verhältnis der ver- glichenen Schallstärken zueinander entsprechenden Wert. Ob in- dessen aus diesem Verhalten unsers Schätzungsvermögens eine Mafs- beziehung zwischen Beiz- und Empfinduugsgröfse im Sinne des FECH^STERschen psychophysischen Gesetzes abzuleiten ist oder nicht, mufs nach dem früher Gesagten dahingestellt bleiben. Diejenige Qualität der Klänge, welche Avir mit dem Namen Tonhöhe bezeichnen, hängt von der Schwingungsdauer, von der Zahl der Schwingungen, welche der tongebende Körper in der Zeiteinheit ausführt, ab. Je gröfser die Dauer der einzelnen Perioden, je geringer also die Schwingungszahl, desto tiefer ist der empfundene Ton. Eine Definition der Empfindungsqualität selbst, die wir als hoch oder tief bezeichnen, läfst sich, wie schon erwähnt, ebensowenig geben, als die einer süfsen oder bitteren Geschmacks- empfindung. Die Form der Bewegung, das Gesetz der Bewegungs- beschleunigung zwischen zwei Periodenanfängen ist für die Höhe 1 Renz u. Wolf, Fechner u. Volkmann, s. Fechner, Elemente d. Psychophysik 1860. Bd. I. p. 176. — Fischer, Wundts philosop/i. Studien. 1883. Bd. I. p. 49-5. — R. VIERORDT. Ztschr. f. Biologie. 1881. Bd. XVII. p. 361. 284 HÖHE DER KLANGEMPFINDUNGEN. § 105. des Tones vollkommen gleichgültig. Die Erhöhung und Vertiefung der Tonempfindung mit der Verkürzung und der Verlängerung der Schwinguugsdauer ist jedoch keine unbegrenzte; es gibt eine obere und untere Grenze, d. h. sowohl wenn die Schwingungsdauer unter eine gewisse Grenze herabsinkt, als wenn sie eine gewisse Zeit- gröfse übersteigt, kommt gar keine Tonempfindung mehr zustande; mit andern Worten: zur Erregung der Hörnervenenden ist eine periodische Erschütterung von nicht zu geringer und nicht zu grofser Dauer der Perioden erforderlich. Die Zeitgröfsen der letzteren, welche nach oben und unten die Hcirfähigkeit für Töne bestimmen, unter- liegen individuellen Schwankungen. Nach Savart entspricht der tiefste wahrnehmbare Ton einer Anzahl von 14 — 16 Perioden in der Sekunde, der höchste noch wahrnehmbare Ton soll nach Despretz bei etwa 38000 Schwingungen in der Sekunde entstehen; andre ^ haben diese Grenze noch weiter hinausgeschoben, andre weniger weit. Weswegen Vibrationen von noch längerer oder noch kürzerer Dauer, als den gefundeneu Grenzwerten gemäfs ist, keine Tonempfindung verursachen, ist nicht sicher ermittelt; es ist zweifel- haft, ob zu rasch oder zu langsam sich folgende Erschütterungen überhaupt keine Erregung der Nervenenden bewirken^, oder ob der Mechanismus der Schallleitung die Fortpflanzung von Schwingungen, deren Zeitdauer entweder ein gewisses Mafs überschreitet oder unter demselben zurückbleibt, vielleicht versagt. Zwischen den angegebenen Grenzen existiert eine enorme Anzahl wahrnehmbarer Töne von ver- schiedener Höhe, insofern die Tonhöhe mit der kleinsten Änderung der Periodendauer steigt oder fällt. Das Unterscheiduugsvermögen des Ohres für solche Höhedifi'ereuzen ist jedoch nicht unbeschränkt; wenn ?>wei Töne als verschieden hoch erkannt werden sollen, mufs die Differenz der ihnen zukommenden Schwingungszahlen nicht unter ein gewisses Mafs herabsinken. Das Unterscheidungsvermögen kann durch Übung verfeinert werden; nach Seebeck erkennt ein geübtes Ohr zwei Töne noch als verschieden hoch, von welchen der eine 1200 Perioden, der andre 1201 Perioden in der Sekunde zählt. Dafs die Begrenzung des Unterscheidungsvermögens wahrscheinlich für jedes Ohr eine feste, durch die Zahl und Stimmung der die Perception durch Mitschwingung vermittelnden Schneckenteile bedingte ist, haben wir im vorhergehenden Paragraphen besprochen. Ob auf die Feinheit des Unterscheiduugsvermögens verschiedener Tonhöhen das WEBERsche Gesetz Anwendung findet, d. h. ob bei allen möglichen Tonhöhen (SchAvingungszahlen) die Grenze der Unterscheidung vom nächst höheren oder tieferen Tone durch das gleiche Verhältnis der Schwingungszahlen ausgedrückt Avird, ist nach Preyer zu verneinen. Eine einzige Schwingung genügt nicht zur Erzeugung einer Tonempfindung; es müssen sich mindestens zwei der- ' Vgl. Preyer, Über d. Grenzen d. Tonwahrnehmung, Preyers phnsiol. Abhandl. I. Heft. Jena 1876. - Vgl. dieses Lehrbuch. 7. Aufl. Bd. I. p. 581. § 105. KLANGFARBE. 285 selben hintereinander folgen. Der Beweis hierfür läfst sich mittels der bekannten physikalischen Apparate, der Sirene oder des Sayart- sehen Zahnrades, führen. Benutzt man ein solches mit 2000 Zähnen und erteilt ihm eine Uradrehung-sgeschwindigkeit von einer Sekunde, so entsteht der 2000 ganzen Schwingungen entsprechende Ton nach Savart^ nicht nur, wenn sämtliche Zähne in der angegebenen Zeit bei der Stofskante vorüberge führt werden, sondern auch, wenn man die eine ganze Radhälfte ihrer Zähne beraubt hat, und selbst dann noch bleibt der Ton erkennbar, wenn nur noch zwei benachbarte Zähne übrig gelassen worden sind. Hat man endlich alle Zähne bis auf einen einzigen entfernt, so erzeugt dessen Anstofs freilich wohl eine Schall- aber keine Tonempfindung mehr. Bei tieferen Stimmgabel- tönen yon 128 und 64 Schwingungen sind nach den Angaben ExNERs- sogar mindestens 16,9—17,1 Schwingungen erforderlich, um eine deutliche Tonempfindung hervorzurufen. Von der Erörterung der musikalischen Tonhöhen Verhältnisse, welche gewöhnlich in den Bereich der physiologischen Betrachtungen gezogen werden, sehen wir hier gänzlich ab und verweisen auf die betreifenden Kapitel in den Lehrbüchern der Physik und theoretischen Musik. Wir wenden uns zur Erklärung der dritten oben bezeichneten Qualität, welche wir an den Klangempfindungen unterscheiden, der sogenannten Klangfarbe. Es ist aus der täglichen Erfahrung jedem bekannt, dafs ein und derselbe Ton von bestimmter Höhe und Stärke eine Gehörsempfindung von wesentlich verschiedenem Charakter erzeugt, jenachdem er auf einem Klavier, 'oder auf einer Violine durch Streichen mit dem Bogen oder durch Zupfen, oder auf einer Flöte, oder auf einer Trompete u. s. w., oder endlich vom mensch- lichen Stimmorgan hervorgebracht wird, dafs sein Charakter bei letzterem wiederum sich ändert, jenachdem dieser oder jener Vokal gesungen wird. Die notwendig vorauszusetzenden Verschiedenheiten der äufseren Schallbewegungen, welche diesen Differenzen der Em- pfindung ursächlich zu Grunde liegen, und das Wesen der letzteren selbst, d. h. die Art der Veränderung, welche die Erregung des Hörnerven und ihre Effekte bei verschiedenen Klangfarben erleiden, sind erst durch die w^ahrhaft klassischen Untersuchungen von Helmholtz vollständig aufgeklärt worden. Allerdings war schon früher in der Physik der Lehrsatz aufgestellt worden, dafs die Klang- farbe durch das Gesetz bestimmt wird, nach welchem sich die Be- wegung des tongebenden Körpers innerhalb einer Schwingungsperiode verändert, beschleunigt und verzögert, mit andern Worten, dafs sie von der Schwingungsform abhängt, welche man dadurch graphisch veranschaulichen kann, dafs man die Schwingungen in Form einer Kurve konstruiert, deren Ordinaten auf die Zeit als Abscissenachse bezogen die Entfernungen der schwingenden Teilchen von ihrer 1 SAVART, Annales de Chim. et de Phi/s. 1830. T. XLIV. p. 337; 1S31, T. XLVU. p. 69. - EXNER, Pfluegers Arch. 1876. Bd. XIH. p. 228. — Ganz entsprechende Erfaliiungen wieSAVART u. EXNER erhielt auch KOHLRAUSCH, WlKUYMAH^s Annal. d. PInisik. 1880. Bd. X. p. 1. 286 KLANGFARBE. § 105. Ruhelage iu jedem sich folgenden Zeitteilchen messen. Allein dieser Lehrsatz ist weder erschöpfend d. h. alles erklärend, noch voll- kommen richtig, insofern, wie Helmholtz erwiesen hat, allerdings zur Erzeugung jeder verschiedenen Klangfarbe eine andre Form dieser Kurve erforderlich ist, aber doch eine sehr grofse Anzahl ver- schieden gestalteter Schwingungskurven sich mit einer und derselben Klangfarbe decken können. Man hatte ferner bereits früher beobachtet, dafs bei den meisten Klängen neben dem durch die Zahl der Perioden bedingten Grundtou noch eine Reihe höherer Töne in verschiedener Stärke hörbar ist, allein man hatte die Bedeutung dieser Obertöne für die Klangfarbe nicht erkannt. Es war ferner auf dem Wege der Rechnung bereits festgestellt, dafs sich die Schall- bewegungen, aus welchen die musikalischen Klänge hervorgehen, mathematisch zerlegen lassen in eine bestimmte Reihe einfacher Be- wegungen, deren Periodenzahlen dem Grundton und einer Reihe sogenannter Obertöne desselben entsprechen. Allein erst Helmholtzl hat den unanfechtbaren Beweis geführt, dafs wir die Klang- empfindungen im weiteren Sinne zu scheiden haben in einfache Töne und Klänge im engeren Sinne, welche letzteren zusammen- gesetzt sind aus den gleichzeitigen Empfindungen des Grund- tons und einer Anzahl harmonischer Obertöne desselben; dafs ferner die Farbe des Klanges lediglich bestimmt wird durch die Art, Zahl und relative Stärke der mit dem Grundtou kombinierten Obertöne ; dafs endlich nur eine einzige Schallbewegungsform, und zwar diejenige, bei welcher der tongebende Körper nach dem Gesetz des Pendels schwingt, einfache Touempfindungen erzeugt, dafs alle übrigen Schallbewegungen dagegen nach eben demselben Gesetze, nach welchem dieselben mathematisch in eiue Reihe einfacher Schwingungen aufgelöst werden können, im Ohre faktisch in die entsprechende Reihe einfacher Bewegungen zerlegt werden, von denen jede für sich durch Erregung einer besonderen Nerven- faser eine diskrete einfache Tonempfindung erzeugt. Wir folgen in der näheren Begründung dieser Sätze der klaren von Helmholtz selbst gewählten Entwickelungsmethode. Die Fähigkeit unsers Ohres, mehrere gleichzeitig von ver- schiedenen Instrumenten erzeugte Klänge gleicher oder verschiedener Höhe und Stärke gesondert aufzufassen, ergibt sich aus der täg- lichen Erfahrung. Wir siud bekanntlich imstande, aus dem Zusammen- klang einer vollen Orchestermusik jedes Instrument herauszuhören^ unter der Summe gleichzeitiger Töne die Melodie, welche von einem Instrument geführt wird, zu verfolgen, oder auch aus einer Summe gleichzeitiger Töne eines Instrumentes, z. B. aus einem auf dem Klavier angeschlagenen Akkord jeden beliebigen Ton durch eine ge- eignete Anstrengung der Aufmerksamkeit herauszuhören. Dieses gesonderte Hören gleichzeitig erzeugter Töne erscheint unstreitig als ein Analogon der räumlichen Sonderung gleichzeitiger Tast- § 105. KLANGFARBE. 287 oder Gesichtsein drücke; allein eine konforme Erklärung- dieser Sonderung durch das Ohr liegt nicht so eicfach am Tage. Die räumliche Sonderung zAveier Tasteindrücke kommt zustande, wenn einer derselben ganz unabhängig von dem andren auf die Haut einwirkend den Endbezirk einer andren Primitivfaser trifft als der andre, jeder also für sich durch die Erregung der betreffenden Nervenfaser eine diskrete Einzeiempfindung erzeugt. Nun werden wir allerdings beweisen, dafs die gesonderte Wahrnehmung gleich- zeitiger Töne ebenfalls auf der gesonderten Erregung verschiedener Acusticusfasern beruht; es fragt sich aber, wie diese gesonderte Er- regung möglich ist, da doch die den gleichzeitigen Tönen ent- sprechenden Wellenzüge in der Luft nicht gesondert nebeneinander herlaufen, sondern sich zu einer resultierenden Schallbewegung zu- sammensetzen und resultierende Bewegungen des Trommelfells und des übrigen Schallleitungsapparats auslösen. Es mufs also das Ohr offenbar die Fähigkeit haben, diese resultierende Bewegung wieder in ihre Komponenten zu zerlegen. Von welcher Beschaffenlieit diese resultierende Bewegung ist, nach welchem Gesetz sich zwei von zwei verschiedenen gleichzeitigen Tönen herrührende Schallwellen zu einer resultierenden Bewegung zusammensetzen, lehrt die Physik. Die Verschiebung, welche jedes einzelne Luftteilchen unter dem gleichzeitigen Eiuflufs zweier Schallwellenzüge in jedem Augenblicke erleidet, und die Ge- schwindigkeiten desselben sind gleich der algebraischen Summe derjenigen "\ er- schiebungen und Geschwindigkeiten, w^elche ihm jeder Schallwellenzug für sich erteilt haben würde. Es findet also in der Luft dieselbe ungestörte Super- position der Schallwellen statt, wie die zweier sich kreuzender Wellensysteme auf der Oberfläche des Wassers, bei denen sie unmittelbar dem Auge wahr- nehmbar ist. Die Erhebung jedes Punktes der AVasseroljerfläche ist in jedem Moment gleich der Summe der Erhebungen, welche jede Welle für sich bewirkt haben würde. Treffen also an einer Stelle die Berge beider Wellen zusammen, so ist die Erhebung der betreffenden Teilchen gleich der Summe beider Berge, treffen zwei Thäler zusammen, so ist die Vertiefung gleich der Summe der beiden Thalvertiefungen; trifft der Berg der einen Welle mit dem Thale der andren zusammen, so wird die von ersterem herrührende Erhebung um die von dem Thal be^^'kte Vertiefung vermindert. Genau ebenso verhält es sich mit den Veränderungen der Luft durch zwei gleichzeitige Schallwellen. Trifft an einer Luftstelle die dem Wasserwellenberg entsijrechende Verdichtung eines Schallwellenzugs mit der Verdichtung eines andren zusammen, so entsteht eine der Summe beider entsprechende gröfsere Verdichtung, entsprechend addieren sich die Verdünnungen ; trifft die Verdichtung der einen Welle mit der Verdünnung der andren zusammen, so wird der erstere Zustand durch den letzteren vermindert, oder, wenn beide entgegengesetzten Einflüsse gleich grofs sind, ganz aufgehoben, oder, wenn die Verdünnung überwiegt, in eine geringe Verdünnung verwandelt. Ebenso addieren sich die Gröfsen der Verschiebungen und die Geschwindig- keiten der von zwei Schallwellen gleichzeitig in Bewegung gesetzten Luftteilchen, ebenso ist die Richtung der Verschiebung eine nach dem Parallelogramm der Kräfte resultierende , wenn zwei Schallwellen dasselbe Teilchen in verschiedener Richtung zu verschieben streben. Es fragt sich nun: welche Anhaltspunkte bietet eine solche resultierende Bewegung, und zwar die- jenige der verhältnismäfsig so kleinen Luftmenge, welche an das Trommelfell gi-enzt, dem Ohr für die Zerlegung in ihre Komponenten? Welchen charak- teristischen Unterschied zeigt sie einer einfachen Tonbewegung gegenüber? Bilden die gleichzeitigen Klänge keinen konsonierenden Akkord, so wird die 288 KLANGFAEBE. § 105. zusaiinnengesetzte Beweginig nicht mehr periodisch sein, die Luftteilchen können unter dem gleichzeitigen Eintlufs von Schallwellen, deren Poriodenlängen unter- einander nicht in dem Verhältnis von einfachen ganzen Zahlen stehen, nicht regelmäl'sig in gleichen Zeitabschnitten sich wiederholende gleiche Bewegungen zeigen. In solchen Fällen könnte die mangelnde Periodizität der Bewegung das unterscheidende Merkmal darstellen. Allein die residtierenden Bewegungen können auch vollkommen periodisch sein, wenn die Schwingungszahlen der gleichzeitigen Töne ganze Vielfache einer und derselben Schwingungszahl sind, wenn also die Töne harmonische Obertöne desselben Grundtons sind. Bekanntlich versteht man unter harmonischen Obertönen diejenigen, welche durch die doppelte, dreifache, vierfache u. s. w. Anzahl von Schwingungen in der Zeiteinheit wie der Grundton hervorgebracht werden. Der erste Oberton ist demnach die Oktave mit der doppelten Schwingungszahl, der zweite die Quinte dieser Oktave mit der dreifachen Schwingungszahl des Grundtons, der dritte die nächst höhere Oktave, der vierte die grofse Terz dieser zweiten Oktave, der fünfte die Quinte, der sechste die Septime dieser Oktave u. s. f. Dafs die Luftteilchen unter dem gleichzeitigen Einflufs solcher Töne in allen möglichen Kombinationen und Intensitätsverhältnissen in rein periodische Bewegungen geraten müssen, läfst sich leicht an einem einfachen Beispiele durch eine graphische Darstellung anschaulich machen. Wir nehmen an, dafs gleichzeitig zwei Stimmgabeln augeschlagen werden, von denen die eine doppelt so viel Schwingungen in der Sekunde wie die andre macht, also den ersten Oberton, d. h. die Oktave des Tons der andren gibt. Die Stimm- gabeln schwingen nach dem Gesetze des Pendels, also werden auch die von jeder für sich erzeugten Luftbewegungen nach demselben Gesetze erfolgen, und die für die letztere nach dem oben angedeuteten Prinzip konstruierten Kurven die vorstehende Gestalt haben. A (Fig. 110) entsijricht der Luftbe- wegung, welche der Ton der einen, B der Luftbewegung, welche der Ton der zweiten Stimmgabel für sich erzeugen würde. Beginnen beide Stimmgabeln ihre Schwingungen genau in demselben Zeitteilchen, so dafs also die Anfangs- punkte beider Kurven in a übereinander fallen, so erhalten wir durch die Ad- dition der Ordinaten beider Kurven die in C durch die ausgezogene Linie dar- gestellte Kurve, welche die resultierende Luftbewegung unter dem gleichzeitigen Einflufs beider AVellenzüge darstellt, und welche, wie die Betrachtung der Figur ohne weiteres ergibt, wiederum periodisch ist, d. h. in kongruente Stücke a c und c e zerfällt , deren Länge der Länge der kongruenten Stücke a c und c e von A gleich ist. Dafs wir die Berge von A oder B beliebig er- § 105. KLANGFAEBE. 289 Jiöheu, die Thäler beliebig vertiefen köimen, ohne dals die re.^ultierende Kurve aufhört periodisch zu sein, ist leicht ersichtlich. Die Periodizität bleibt aber •auch, wenn wir die Kurve B gegen A verschieben. Nehmen wir an, dafs die ■Stimmgabel, welche die Bewegung S veraulafst, um eine Yiertelschwingungs- -dauer später als die erste Stimmgabel zu schwingen anfinge, demnach die von ihr hervorgebrachte Luftbewegung durch die punktierte Kurve B auszudrücken wäre, so erhalten wir durch die Addition ihrer Ordinaten mit denen von A die punktierte Kurve C, welche zwar eine ganz andre Form als die ausgezo gene Kurve C hat, aber doch wie diese periodisch ist, in kongruente Abschnitte zerfällt. Kurz in allen denkbaren Fällen, in welchen ein beliebiger Ton mit irgend ^inem oder mehreren seiner harmonischen Obertöne gleichzeitig erklingt, entstehen rein periodische Luftbewegungen. In der That kann nun das Ohr diese zusammengesetzten Luftbewegungen zerlegen ; wir sind imstande den Ton jeder der beiden Stimmgabeln, die wir in unserm Beispiel als gleichzeitig er- klingend annehmen, aus dem Zusammenklang herauszuhören. Es ist demnach •schon von .vornherein wahrscheinlich, dafs das Ohr dieselbe Analyse auch in derselben Weise ausführen wird, wenn die gleiche zusammengesetzte Luftbe- wegung von einem einzigen tongebenden Körper ausgeht, und so geschieht es auch wirklich. Die periodischen Luftbewegungen, welche durch die tongebenden Schvdngungen der musikalischen Instrumente hervorgebracht werden, sind sämt- lich solche kombinierte Bewegungen, welche nach Ohms Eegel zerlegt werden können in eine Vielheit einfacher pendelartiger Schwingungen, deren Schwingung.szahleu ein, zwei, drei u. s. w. mal so grofs sind, als die der gegebenen Bewegung. Das Ohr führt diese Zerlegung nach dem ÖHMschen Gesetz faktisch aus, und jede der durch diese Analyse gesonderten «infachen Schwingungen erzeugt eine gesonderte Tonempfindung, deren Höhe der betreffenden Schwingungsdauer entspricht, so dafs die scheinbar einfachen Klangempfindungen aus einer Vielheit gleichzeitiger Tonempfin- dungen und zwar des Grundtons und einer Anzahl seiner harmo- nischen O'bertöne zusammengesetzt sind. Ebenso wie die mathema- tische Theorie jede gegebene, einem bestimmten musikalischen Klang ent- sprechende Bewegung nur in einer einzigen Weise in eine bestimmte Anzahl pendelartiger Schwingungen zerlegen kann, ebenso ist auch dem Ohr ausschliefslich eine einzige Art der Auflösung in Einzelempfindungen, welche bestimmten Partialtönen des Grundtons entsprechen, möglich. Die Fälligkeit einen Klang in seine Partialtöne zu zerlegen, kommt nickt blofs unserm Okre zu. Wir keunen auch einen der- selben ganz analogen pkysikalischen Vorgang, welcher zugleich auf die richtige Erklärung des physiologischen führt. Die einfachen peudelartigen Schwingungen, welche das Ohr als Komponenten aus der periodischen Klanghewegung sondert, können nämlich auch ob- jektiv durch gewisse von ihnen hervorgebrachte mechanische "Wir- kungen zur Erscheinung gebracht werden. Diese Erscheinung ist das Mittönen. Bekanntlich gerät eine gespannte Saite oder Membran leicht in tönende Mitschwingungen, wenn in ihrer Nähe der ihrem Eigenton gleiche Ton von einem andren Instrument stark angegeben wird. Hebt mau von einer Saite des Klaviers den Dämpfer ab und singt den Ton dieser Saite kräftig gegen den Eesonanzboden, so klingt der Ton intensiv aus dem Klavier wieder. Dafs es die^ betreffende Saite. ist, welche durch Mitschwinguug den Nachhall erzeugt, geht daraus hervor, dafs derselbe augenblicklich aufhört, sobald man den Dämpfer fallen läfst. Es kommt das Mit- GRlEXnAGEX, Physiologie. 7. Aufl. 19 21 H) KLANG F AK P.E. § 105- schwiiififeii (liidui-cli zustande, dafs die kleinen periodischen Er- schütterungen, in welche die Luft durch den gesungenen Ton ver- setzt wird, und deren Periode der Sclnviiigung.sdauer der Saite gleich ist, zunächst dpui Resonanzhoden sich mitteilen und von diesem auf die Enden der Saite übertragen werden. Eine einzelne solche Er- schütterung wäre viel zu schwach, um die Saite in Bewegung zu setzen, wenn sich aber viele solche Erschütterungen folgen, sum- mieren sich ibre Wirkungen soweit, dafs eine starke Schwiiigung der Saite zustande kommt. Die MitschA\'ingung kommt um so leichter zustande und fällt um so intensiver aus, je reiner der Ton der Saite in das Klavier gesungen wird, je genauer also die Perioden- dauer der auf die Saite wirkenden Erschütterungen mit der Schwingungsdauer derselben übereinstimmt. Schon bei verhältnismäfsig geringen Differenzen zwischen der Höhe des gesungenen Tons und der- jenigen des Saitentons hört das Mitschwingen der Saite gänzlich auf. Solche elastische Körper, welche, wenn sie in Schwingung versetzt werden, schnell austönen, indem sie ihre Bewegung leicht an die Luft abgeben, werden leichter zum Mittönen gebracht, und zwar auch noch durch solche Lufterschütterungen, deren Periode viel mehr von der Schwingungsdauer ihres Eigeutons differiert, als dies bei Saiten der Fall ist. Die Physik lehrt weiter, dafs Saiten sowohl wie Membranen nicht nur in diejenige einfachste Form der pendelartigen Schwin- gungen versetzt werden können, welche ihrem Grundton entspricht,, bei welcher also die Saite z. B. in ihrer ganzen Länge zM-ischeu den beiden Fixati onspuukteu sich hin und her beugt, sondern dafs beide (und in gleicher Weise auch andre tongebende Kö.i-per)' auch noch eine Anzahl andrer höherer eigner Töne dadurch her- vorbringen können, dafs sie unter Bildung von Schwinguugsknoteu respektive Knotenliuieu in eine Anzahl selbständig für sich schwingen- der Abteilungen zerfallen. Bei Saiten sind diese durch Partial- schwingungen hervorgebrachten höheren Töne harmonische Obertöne' des Grundtous, bei gespannten Membranen sind sie meistens un- harmonisch zum Grundtou. Auf die erwähnte Art kann eine Saite durch einen in ihrer Mitte entstehenden Schwingungsknoten in zwei gleiche Hälften, von denen jede für sich in pendelartige Schwingungen von der halben Periodendauer der Schwingungen der ganzen Saite gerät, geteilt werden und so die Oktave des Grundtons, oder durch zwei Schwingungsknoten in drei gleiche Dritteile zerfallen und die Duodezime, oder durch drei Schwingungsknoten in vier gleiche Abschnitte geteilt die zweite Oktave des Grundtons geben u. s. f. Es werden daher Saiten wie Membranen nicht nur durch ihren Grundton in Mitschwingung versetzt, sondern auch wenn irgend einer ihrer höheren Eigentöne in der Nähe stark angegeben wird,, wobei sie dann in die entsprechenden Partialschwiugun^en geraten. Bestreut man eine gespannte runde Membran mit Sand, so sieht man denselben bei Auffabe des Grundtons durch die Total- § 105. KLANGFARBE. 29 1 Schwingungen der Membran abgeworfen am Rande sich sammeln, hei Angabe eines der höheren Eigentöne dagegen in den Knotenlinien sich anhäufen, welche letzteren ent^^•eder als konzentrische Kreise oder als Durchmesser der Membran erscheinen. Am leichtesten und stärksten werden Membranen wie Saiten durch ihren Grund ton, schwächer durch die höheren Eigentöne in Mitschwingungen versetzt, und zAAar nicht nur "v^'enn ersterer für sich auf sie einwirkt, sondern auch wenn er gleichzeitig mit beliebigen andern Tönen angegeben wird, oder, und das ist es, was uns hier interessiert, wenn in ihrer Nähe ein zusammengesetzter musikalischer Klang hervorgerufen wird, in welchem der 'Grundton oder einer der höheren Eigentöne als Oberton ent- halten ist. Mit andern Worten: trifft die Saite oder die Membran eine periodische Lufterschütterung, welche nach Ohms Gesetz in eine bestimmte Reihe einfacher Pendelbewegungen zerlegt werden kann, so gerät sie in Mitschwdngung , sobald die Periodendauer einer dieser Komponenten mit der Schwingungsdauer ihres Grund- tons oder eines ihrer höheren Eigentöne übereinstimmt. Hat man eine Reihe solcher auf Gruudtöne verschiedener Höhe abgestimmter Membranen oder Saiten, und erzeugt man in deren Nähe auf einem musikalischen Instrument oder mit der eignen Stimme einen Klang, dessen vorherrschender Grundton mit dem Grundton einer jener Klang- vorrichtungeu übereinstimmt, so geraten aufser dieser auch noch eine Anzahl andrer in Mitschwingung, und zwai- diejenigen, deren Grund- töne oder höhere Eigentöne gewissen harmonischen Obertöneu des Grundtons des Klanges entsprechen. Es sondern also die mitschwingen- den Körper aus der periodischen Luftbewegung des Klanges voll- kommen in Übereinstimmung mit der mathematischen Theorie eine Reihe einfacher pendelartiger SchAvingungen aus, welche bestimmten einfachen Tönen entsprechen, und mithin ist die objektive Natur der als Bestandteile eines Klanges nachweisbaren Partialtöne durch diese von ihnen hervorgebrachte mechanische Wirkung unzweifelhaft dargethan. Es entspricht, wie Helmholtz sich treflFend ausdrückt, die Zerlegung einer Klangmasse durch mittönende elastische Körper in eine Summe einfacher Töne vollkommen der Zerlegung des weifsen Lichtes durch ein Prisma in die verschiedenen Farben- strahlen. Dem weifsen Licht liegt ja ebenfalls eine bestimmte Art periodischer Bewegung des hypothetischen Lichtäthers zu Grunde, bei welcher jedes Atherteilchen nach einem bestimmten Gesetz um seine Gleichgewichtslage schwingt, und diese Bewegung wird durch das Prisma in eine Summe einfacher periodischer Be- Avegungen von verschiedener Schwingungsdauer, Avelche zum Auge geleitet die Empfindungen der verschiedenen Farben des Spektrums erzeugen, zerlegt. Die Möglichkeit, mit Hilfe mittönender elastischer Körper eine Klangmasse objektiv in eine Summe einfacher Töne zu zerlegen, gibt die Mittel, experimentell jeden gegebenen Klang zu analysieren. Membranen und Saiten sind jedoch zu diesem Z^veck 19* 21)2 KLANGFARBE. § 105. weni^"er geeignet, weil sie gegen schwäcliere Töne wenig empfiudlicli und ihre Mitscli^\ingungen nicht immer leicht wahrnehmbar sind. Helmholtz hat daher zur Analyse der Klänge andre Resonatoren verwendet; dieselben bestehen aus gläsernen oder metallenen Hohl- kugeln mit zwei gegenüberstehenden Öffnungen, deren eine dem äulseren Gehörgang dicht angelegt wird. Die in den Kugeln ein- geschlossene Luft bildet in Verbindung mit der Trommelfellniembrau des Ohres ein elastisches System, welches wie eine gespannte Saite in bestimmte Schwingungen versetzt werden kann und in denselben mitscliAvingt, wenn Luftwellen von der gleichen Periodendauei" darauf einwirken. Der so durch MitsohAvingen erzeugte Eigenton des Resonators wird von dem Ohr in auiserordentlicher Stärke gehört, während alle übrigen durch die Luft des Resonators einfach fort- gepflanzten Schallbewegungen nur schwache Empfindungen hervor- rufen. Mit einer abgestimmten Reihe solcher Resonatoren ist es verhältuisniäi'sig leicht, die einen Klang konstituierenden Partial- töne aufzusuchen und ihre relative Stärke zu vergleichen. Dafs das menschliche Ohr die Klänge ganz nach demselben Ge- setz in dieselbe Reihe einfachen Pendelschwingungen entsprechender Töne zerlegt, wie dies durch mitschwingende Körper in der Aufsen- welt geschieht, läfst sich bei einem sorgfältigen Studium der eignen Klangempfinduugen direkt wahrnehmen. Es gelingt bei einiger Übung und zweckmäfsiger Leitung der Aufmerksamkeit ohne wei- tere Hilfsmittel aus einem Klange neben dem dominierenden Grundtone wenigstens einzelne harmonische Obertöne desselben herauszuhören. Schlägt man z. B. auf einem Klavier eine bestimmte Taste an, so wird die Begleititug des betreffenden Grundtons durch seine Duodezime, d. i. den dritten Partialton, ziemlich leicht erkannt, ebenso auch das Mitklingen der Terz der zweiten Oktave, d. i. des fünften Partialtons, und allenfalls noch der Septime der zweiten Oktave, also des siebenten Partialtones ; gröfsere Schwierigkeiten bieten dagegen der zweite, vierte und sechste Partialton dar, von denen die beiden ersten den zwei höheren Oktaven des Grundtons entsprechen, der letzte die Quinte der zweiten Oktave ist. Das Heraushören geht leichter von statten, wenn man sich vorher den betreffenden Ton auf dem Klavier angegeben hat, um die Qualität der Empfindung, auf welche die Seele ihre Aufmerksamkeit richten soll, derselben frisch einzuprägen. Am einfachsten läfst sich die Auflösung der Klänge in einfache Schwingungen bei dem physiologischen Vorgange des Hörens aus der Beobachtung schwingender Saiten beweisen. Bringt man eine ge- spannte Saite dadurch zum Tönen, dafs man sie irgendwo zupft oder schlägt, so gerät dieselbe in eine Bewegung, in welcher eine Anzahl einfacher, den Obertöuen entsprechender Schwingungen enthalten ist. Der so hervorgerufene Klang ist verschieden je nach der Stelle, an welcher die Saite den Anstofs empfängt, indem, sobald letzteres an einer Stelle geschieht, wo sich der Knoten- § 105. KLANGFARBE. 293 punkt irgend eines ihrer Obertöne befindet, in dem Klange alle die- jenigen Obertöne fehlen , für deren Pendelscbwingnngeu daselbst ebenfalls ein Knotenpunkt liegt. Schlägt man z. B. die Saite gerade in ihrer Mitte an, so fehlt der zweite, vierte, sechste u. s. w. Oberton, schlägt man sie in einem Dritteil ihrer Länge an, so fällt der dritte, sechste nnd neunte Partialton aus dem Klange weg. Der Wegfall dieser Partialtöne läfst sich objektiv mit Hilfe der Resonanzkugeln nachweisen; in gleicher Weise zeigt sich derselbe aber auch bei der aufmerksamen Prüfung der Klänge mit dem unbewaffneten Ohr. Es ist somit kein Zweifel möglich, dafs das Ohr wirklich jeden Klang in eine Reihe einfacher Tonempfindungen zerlegt, dafs jede Klangempfindung also aus einer Summe gleichzeitiger Tonempfindungen besteht. Dafs für die Art der Klangfarbe ledig- lich die Zahl und relative Stärke der sie konstituierenden Partialtöne bestimmend ist, wird unwiderleglich dadurch erwiesen, dafs wir einen Klang von bestimmter Farbe, wie ihn ein bestimmtes musi- kalisches Instrument hervorbringt, künstlich zusammensetzen können, indem wir gleichzeitig dieselben einfachen Schwingungen in der- selben relativen Stärke erzeugen, welche die mathematische oder die experimentale Analyse mit Resonanzkugeln als Komponenten der Klangbewegung zeigt. Von gröfstem physiologischem Interesse ist in dieser Beziehung die künstliche Bildung der Vokalklänge der menschlichen Stimme, wie sie von Helmholtz ausgeführt worden ist. Jeder Vokal ist, wie in der Lehre von der Stimme näher zu erörtern ist, ein Klang, dessen Charakter wie der aller Klänge durch die Art und Stärke der Partialtöne bestimmt wii'd. Singt man bei aufgehobenem Dämpfer auf einem bestimmten Ton einen Vokal gegen den Resonanzboden des Klaviers, so hallt aus dem- selben der Vokal mit seinem charakteristischen Klange deutlich wieder, indem alle diejenigen Saiten durch die Lufterschütterung zum Mittönen gebracht werden, deren Schwiugungszahlen denen der im Vokalklang enthaltenen einfachen Pendelschwingungen gleich sind. Welche Partialtöne und in welcher Stärke dieselben jeden Vokal zusammensetzen, läfst sich durch die physikalische Analyse nach den erörterten Prinzipien ermitteln. Einfache durch Pendel- schwingungen erzeugte Töne kann mau nach Helmholtz mit Stimm- gabeln erhalten, und zwar versetzte Helmholtz dieselben nach einer hier nicht näher zu beschreibenden Methode durch intermittierende elektrische Ströme in reine Pendelschwingungen und verstärkte die an sich äufserst schwachen Töne in beliebig abstufbarem Cxrade durch vor den Gabeln angebrachte Resonatoren, deren Luftmasse angeblasen denselben Ton wie die zugehörige Stimmgabel gab. Mit einem Svstem solcher Stimmgabeln, deren Töne den Obertönen eines bestimmten Grundtons entsprechen, setzte Helmholtz alle Vokale in ihren charakteristischen Klangfarben zusammen. Mit dem- selben Apparat hat Helmholtz ferner die wichtige Frage entschieden, 294 KLANGFAEBE. § 105. ob die Klangfarbe mit den Phasenunterscbieden der einen Klang bildenden eiufacben Schwingungen sich ändert. Die Bedeutung dieser Frage läfst sich am besten aus Fig. 110 (p. 288) anschaulich machen. Wir haben dort eine periodische Bewegung durch Addition zweier einfacher Schwingungen Ä B, von denen die eine der Oktave der andren entsprach, konstruiert, und zwar für zwei verschiedene Fälle, einmal unter der Annahme, dafs die Schwingungen B genau in dem Augenblick wie Ä begannen, zweitens unter der Annahme, dafs B um eine Viertelperiode später begann. AVir erhielten zwei in ihrer Form sehr abweichende Kurven, die ausgezogene und die punktierte Kurve C. Unsre Frage lautet : Bedingen die.se beiden Kurven, welche jede für sich aus zwei kongruenten Kurven, aber bei verschiedenem zeitlichem Phasenverhältnis derselben, zusammengesetzt sind, die gleiche Klaugempfindung? Die von Helmholtz nach einer äufserst scharfsinnigen Methode gefundene Antwort lautet entschieden bejahend; die Klangfarbe ist von den Phasenunterschieden völlig unabhängig. Es leuchtet ein, dafs Avir die Kurve B noch in sehr verschiedeneu andern Graden gegen A auf der Abscisse verschieben können und jedesmal eine andre Form der resultierenden Kurve erhalten werden, so dafs die Zahl der möglichen Phasenunter- schiede unendlich grofs wird, wenn wir eine gröfsere Anzahl von Partialtönen zu einem Klang verbinden. Alle die so zu erhaltenden ver- schiedenen Formen der resultierenden Bewegung erzeugen Empfin- dungen von völlig gleicher Klangfarbe; dieselben elementaren Schwingungen in gleichbleibender Stärke geben bei allen möglichen zeitlichen Verhältnissen ihrer Zusammensetzungen denselben Klang. Daraus ergibt sich, dafs der früher in der Akustik gültige Satz: die Klangfarbe wird durch die Schwinguugsform bedingt, nicht richtig ist, indem unendlich viele verschiedene Schwingungsformen den gleichen Klang bedingen können, jede gegebene Schwingung.s- form aber nur einem einzigen Klange entspricht, da jede wie durch die mathematische Theorie so auch durch das Ohr nur in einer einzigen Weise in eine Summe einfacher Schwingungen zerlegt werden kann. Das Ohr nimmt von der verschiedenen Form der zusammengesetzten Bewegung nichts wahr, es zerlegt dieselbe schon vor Beginn des nervösen Thätigkeitsvorganges in ihre Elemente, und diese sind es, von denen jedes für sich und unabhängig von dem andren zu einem Empfindungselement umgesetzt wird, welches durch sein gleichzeitiges, aber isoliertes Bestehen neben andern der Gesamt- empfindung dasjenige Gepräge, welches wir Klangfarbe nennen, auf- drückt. Der so von Helmholtz über allen Zweifel erhobene physio- logische Lehrsatz, dafs jede Klaugempfindung aus einer Vielheit für sich be.stehende]' einfacher Tonempfindungen zusammengesetzt ist, hat darum etwas ÜbeiTaschendes, weil sich der unbefangenen Wahr- nehmung die meisten Klänge scheinbar so CA-ident als etwas Ein- §105. KLANGFARBE. 295 faches darstellen, und selbst für deu mit ihrer zusammeugesetzteu Natur theoretisch "\"ertrauteu die sinnliche Sonderung der Kom- ponenten so beträchtliche Schwierigkeiten bietet. Das Über- raschende verliert sich jedoch völlig, wenn Avir der Aufgabe unsers Gehörssinns, deren Lösung er auf einem langen tausendfältigen Er- fahruugsweg gewonnen hat, dem Kreise von Belehrungen, Avelche er der Seele über die Vorgänge der Aufsenwelt zuzuführen bestimmt ist, eine eingehende AVürdigung schenken, wenn wir den in allen Sinnessphären so vielfältig zutage tretenden mächtigen Eiuflufs der Übung auf die Leistungen der Sinnesorgane berücksichtigen. Auf denr Wege der Erfahrung haben wir unsre Gehörsempfindungen aus- zulegen und zwar vor allem nach aufsen zu setzen, zu objektivieren, gelernt. Die Erfahrung hat uns zu dem richtigen Schlul's gebracht, dafs diejenigen Empfindungen, welche wir als einfache musikalische Klänge bezeichnen, von einfachen Tonwerkzeugen ausgehen, und damit ist der Seele auch die begreifliche Veranlassung zu ihrer ein- heitlichen Auffassung gegeben worden. Es fehlt ihr jede objektive Nötigung, die schwierige Souderuug der gleichzeitig vor das Bewufst- sein tretenden Empfindungselemente auszuführen. Ein vollkommenes Analogon einer solchen angewöhnten Überstimmung der Sinnesein- drücke durch Erfahrungsurteile werden Mir in der Lehre vom Gesichtssinn kennen lernen. Der angewöhnten falschen Verschmelzung der Klangelemente entspricht vollständig das angelernte Verschmelzen der Doppelbilder beim Sehen mit zwei Augen zu einer einheitlichen Vorstellung. Die Seele begeht bei dieser Verschmelzung faktisch einen Fehler, aber einen Fehler, der die Feinheit der Leistungen ihrer Sinne nicht beeinträchtigt, im Gegenteil im Interesse der Auf- gaben derselben geradezu zweckmälsig erscheint. Eine Zerlegung der zusammengesetzten Schallbeweguugen durch das Ohr findet nur soweit statt, als notAvendig ist, um die A'erschiedenen einfachen äufseren Sehallquellen, z. B. die einzelneu sprechenden Personen, voneinander zu scheiden, jeder nach dem Gehörseindruck in der Vorstellung ihre Lage im äufseren Räume anzuAveisen u. s. w. Eine weitere Scheidung, eine gesonderte Auffassung der aus einer Quelle stammenden Einzelempfiudungen, könnte die Seele nur in Verlegenheit setzen, sie würde jede für sich zu objektivieren ver- suchen und müfste sich doch jedesmal von neuem die Mühe nehmen, die eingebildeten Einzelobjekte zu einem einfachen reellen Objekt zu kombinieren. Dafs die Aufhebung einer so festgeAvurzelten Gewohnheit, wie die Verschmelzung bestimmter Summen von Partial- tönen zu einfachen Klangwahrnehmungen, das Erlernen der Wieder- auflösung derselben in ihre Elemente grofse Schwierigkeiten hat und nur durch angestrengte Übung der Aufmerksamkeit erreicht Avird, kann nicht Avunder nehmen, wenn Avir in zahllosen Beispielen sehen, Avie zäh und pedantisch die Seele an allen bei der Erziehung •der Sinne eino:eübten Auslegungen ihrer direkten Aussagen 2W KLANGFARBE. § lOÖ- festhillt. Es wird ja nicht einmal in allen Fällen leicht,. • lie Analyse von Znsamnieuklängen mehi-ei'er Instrumente bis zur sichereu Scheidung der einzelnen, objektiven Xlangquellen auszu- führen; nur nach langer Übung erreicht das Ohr des Musikers die^ Fähigkeit, durch beliebige Richtung der Aufmei'ksamkeit sich die Stimme jedes Einzelijistruments aus einer Orcbestormusik zu isolieren^ Es bleibt uns übrig, die letzte Frage zu beantworten: wie bewirkt das Ohr die Zerlegung der Klänge nach dem OHMschen Gesetz? Wo und durch welche Mechanismen wird die zusammengesetzte periodische Bewegung in einfache Pendel- schwingungen, welche einfache Touempfindungen erzeugen, aufgelöst? Wir haben die hypothetische Antwort hierauf bereits im vorher- gehenden Paragraphen angedeutet. Die Zerlegung der Klang- bewegung wird im Ohr nach denselben Gesetzen durch mit- .schwingende Körper ausgeführt wie in der Aufsenwelt. Die Schnecke des Labyrinths besitzt höchstwahrscheinlich in den Fasern der nicmhrana hasilarts ein fein abgestuftes System gespannter Saiten,. von denen jede vermöge ihrer Länge und Spannung zu Pendel- schwingungen von bestimmter Periodendauer befähigt ist und in dieselben durch Mitschwingungen gerät, sobald eine Pendelschwingung von gleicher oder nahezu gleicher Periodendauer von aufsen an sie herantritt, sei es dafs letztere isoliert dem Ohre zugeleitet wird oder als Komponente in einer zusammengesetzten periodischen Bewegung enthalten ist. Jede solche Faser reagiert demnach durch Mit- schwingen lediglich auf denjenigen einfachen Ton, der mit ihrem Eigenton ganz oder nahezu im Einklang ist, überträgt ihre Be- wegung einer besonderen Faser des Hörnerven und erregt diese- mechanisch. Die Eigentöne benachbarter Pasern sind wahrscheinlich in ihrer Periodendauer, also ihrer Höhe nach, sehr wenig voneinander verschieden, wahrscheinlich, wie war schon oben andeuteten, nur um einen geringen Bruchteil eines halben Tons. Daraus folgt einerseits, dafs jeder zum Ohr geleitete einfache Ton eine Anzahl solcher Fasern in Mitschwingung versetzen, also auch eine Anzahl Nervenfasern erregen wird, da absoluter Einklang zur Erzeugung der Mitschwingung nicht erforderlich ist, diejenige Faser aber am stärksten, mit welcher er genau im Einklang ist, die mit Zunahme des Abstandes mehr und mehr dissonierenden Nachbarn in schnell abnehmender Intensität. Zweitens folgt daraus, dafs dem Ohr die Bedingungen zu einer Unterscheidung sehr geringer Tonhöhe- differeuzen gegeben sind, welche sich wahrscheinlich auf noch kleinere Intervalle, als solche zwischen den Eigentönen zweier benach- barten resonierenden Fasern bestehen, erstreckt. Ein Ton, der seiner Höhe nach zwischen zw^i solche Eigentöne fällt, ward beide Fasern erregen, eine, deren Eig-enton er näher liegt, stärker als die andre; die re!a1:ve Stäi'ke der Erregungen der beiden entsprechenden Nerven- l'.isern larnn von der Seele zur Taxierung der Tonhöhe ver^^■eudet § 105. KLANGFARBE. 297 werden. Wir liaben schon früher darauf aufmerksam gemacht, wie M-ichtig es ist, dafs im Schallleituugsapparat des Ohrs keine Teile vorhanden sind, welche merklich nachklingen, deren Schwingungen die sie veranlassenden äufseren Erschütterungen merklich üherdauern. Dieselben Thatsachen, welche beweisen, dafs diese Nachschwingungen in den schallleiteuden Vorbauen des Labyrinths faktisch vermieden oder äufserst gering sind, beweisen auch, dafs die schallaufnehmen- den Teile der Schnecke zu derjenigen Kategorie mitschwingender Körper gehören, welche zwar leicht und selbst noch durch Töne, die nicht absolut mit ihnen in Einklang sincL in Mitschwingungen versetzt werden, aber ihre Bewegung schnell wieder verlieren oder wenigstens schnell bis auf eine den Hönierven nicht mehr erregende Intensitätsstufe reduzieren. Die vorhin erwähnte Beobachtung, nnch welcher die Unterscheidung der Einzeltöne eines Trillers erst bei verhältnismäfsig grofser Geschwindigkeit desselben erschwert zu werden beginnt, und nach welcher namentlich das Trillern auf tiefen Tönen von dieser Erschwerung in besonders merklichem Grrade betroffen wird, deutet also auch bezüglich der Schnecke auf ein rasches Abklingen der in derselben durch Resonanz erzeugten Tonschwingungen. Die Hypothese, dafs das Ohr für die Wahrnehmung jedes Tons verschiedener Höhe einen besonderen Erregungs- und Empfindungsapparat besitzt, und dafs die Wahrnehmung der als Tonhöhe bezeichneten Qualität des äufseren Reizes nicht auf Modi- fikationen des Erregungsprozesses einer und derselben Nervenfaser beruht, befriedigt in vielfacher Hinsicht. Denn sie erklärt die Möglichkeit der gesonderten Auffassung gleichzeitiger Töne, seien sie von verschiedenen Instrumenten erzeugt oder in einem Klange ent- halten, und erklärt in Übereinstimmung mit den Resultaten der objektiven mechanischen Analyse durch Mitschwingen, warum das Ohr die Klangbewegungen gerade in Pendelschwingungen zerlegt. In gutem Einklang mit ihr befinden sich ferner gewisse pathologische Fälle, bei welchen man sei es eine verringerte sei es eine gesteigerte Perceptionsfähigkeit für einzelne ganz bestimmte Töne der musikalischen Skala zu konstatieren imstande gewesen ist, während die Perceptionsfähigkeit für die übrigen Töne keine auffälligen Veränderungen erlitten hatte. ^ Eine interessante zuerst von Fessel gemachte, später von Fechnek und von V. Wittich bestätigte Beobachtung besteht darin, dafs die meisten Menschen einen und denselben Ton auf beiden Ohren nicht gleich hoch empfinden, sondern meistens "mit dem rechten Ohre etwas höher hören als mit dem linken.'^ Die Differenzen sind in der Regel unbedeutend, bei V. Wittich erreichte sie jedoch nach einer Ohrentzündnng das Intervall ' A. MAGXrS, Ardi. f. Ohrenheilk. 1866. Bd. II. p. 268.— V. CZERNV, Arcli. f. pat/i. Anaf^ 1867. Bd. XLI. p. 299. — Moos, ebenda. Bd. XXXIX. p. 289. — SAMELSOHX, ebenda. 1869. Hd. XLVI. p. 509. 2 Fessel, Poggendokffs Anmden. 1860. Bd. XXI. p. 189 u. 510. — FECIlXKli, ebenda, p. 500. — V. Wittich, Königsber;ier med. Jahrb. Bd. III. p. 40. 298 KLANGFAEBE. §105. eines hall)en Tones. Eine bestimmte Erklärung lälst sich niolit geben ; es kann das ungleiche Verhalten beider (Jhren gegen Schallwellen von gleicher Periodendauer in mehreren Momenten begründet sein. Ganz unwahrscheinlich ist die von Ft5s.sEL ausgesprochene Vermutung, dai's der äufsere Gehörgang die Periodendauer der ankommenden Luftwellon modifizieren könne. Wahrschein- licher liegt die Ursache in den für die Wahrnehmung der Tonhöhe bestimmten Perceptionsapparaten der Schnecke, und zwar entweder in einer Verstimmung ihrer pei'ipheren Resonanz- oder ihrer zentralen Empfindungsapparate. Im ersteren Falle würde der gleiche Ton auf beiden Ohren einander nicht ent- sprechende Nervenenden, im zweiten Falle zwar ihrer peripheren Lage, aber nicht ihrer psychischen Wirkung nach korrespondierende Nervenfasern erregen. Auch die Intensität der Empfindung ist, wie Fkchxkr nachgewiesen hat, in der Regel auf beiden (jhren ungleich; ohne dafs krankhafte Veränderungen des Schallleitungsapparates nachweisbar sind, hört bei den meisten Personen das linke Ohr eine Schallbewegung von bestimmter objektiver Stärke etwas intensiver als das rechte. Knokr^ fand im Gegenteil bei den von ihm ge- prüften Personen durchschnittlich die Empfindungen des rechten Ohres inten- siver. Diese Verschiedenheit kann in Verschiedenheiten der Beweglichkeit aller Schallleitungsapparate des Ohres begründet sein, ebensowohl in ungleicher Spannung des Trommelfells, als in verschiedener Beweglichkeit der Gehör- knöchelchenkette, als in verschiedener Nachgiebigkeit der Membranen des ovalen und runden Fensters, als endlich in verschiedener Beweglichkeit der durch die Wasserwellen in Schwingung zu versetzenden Tetanisierapparate des Vorhofs und der Schnecke. Die zweite Kategorie von Schallempfiriduiigen , welche den Tönen und deren Kombinationen zu musikalischen KUlngen gegen- übersteht, bilden die Geräusche. Ihre indirekte der Natur der erregenden Ursachen entlehnte Charakteristik liegt, wie bereits vor- ausgeschickt wurde, darin, dafs sie durch nichtperiodische Be- wegungen erzeugt werden. Ihrem AVesen nach unterscheiden sie sich dadurch von den Ton- und Klangempiindungen, dafs bei den meisten Geräuschen ein rascher unregelmäfsiger Wechsel der Em- pfindungsqualität wahrnehmbar ist. In den meisten Geräuschen, wie in dem Zischen, Brausen, Heulen, Klirren u. s. w., sind Töne oder musikalische Klänge enthalten, die sich entweder unmittelbar heraushören oder mit Hilfe von Resonatoren der Wahnehmung zugäng- lich machen lassen. Ja Avir können Geräusche aus lauter musikalischen nicht konsonierenden Klängen zusammensetzen; die Luftbewegung, welche dabei entsteht und den Hörnerven erregt, ist eben eine nicht periodische. An welchem Orte des inneren Ohres diese Erregung stattfindet, ob in der Schnecke oder auf den cristac und macidac acusticae des Vorhofs, ist nicht zu entscheiden.'^ Letztere Annahme, welche eine Trennung zwischen ton- und geräuschpercipierenden End- organen statuiert, hat darum viel für sich, weil sie uns ein Ver- ständnis eröffnet für die anatomische Thatsache, dafs eine ausgebildete Schnecke nur den höheren Wirbeltieren zukommt, allen niederen Tieren fehlt. Die möglichen Arten nichtperiodischer Schallbewe- gungen sind zahllos und demnach auch die Zahl der möglichen ' Knorr, POGGENDORFFs Annalen. 1861. Bd. XXHI. p. 320. - Vgl. S. EXNER, PFLUEGERs A7-ch . 1876. Btl. XUI. p. 228. — HELMHOLTZ, liie lehre von ■den Tonempßmliinr/en. 4. Aufl. 1877. p. 249. ,§ 106. KOMBINATIONSTÖNE. 299 Geräuscliarten unbegrenzt; die näliere Beschreibung einzelner be- stimmter zu bezeichnender Geräusche, und die Ermittelung der Form ihrer ui'sächlichen Bewegung hat kein Interesse für die physio- logische Akustik ; jene so zu sagen physiologischen Geräusche, welche in der Sprache als Laute Verwendung finden, werden uns in andern Kapiteln ausführlich beschäftigen. § 106. Kombinati ons töne, Schwebungen und subjektiv e Gehörs- empfindungen. Werden auf einem musikalischen Instrument gleichzeitig zwei Töne verschiedener Höhe oder zwei Klänge mit verschiedener Hohe des Grundtons stark angegeben, so hört man aufser den beiden Gruudtunen und ihren harmonischen Obertönen noch andre Töne, deren Höhe sowohl von derjenigen der Grund- ais auch von derjenigen ihrer Obertöne im allgemeinen verschieden ist. Es zerfallen diese mit dem Namen der Kombinati ons töne bezeichneten Töne in zwei Klassen, von denen die eine unter dem Namen SoRCiEscher oder TARTiNischer Töne schon lange Zeit bekannt war, aber früher nicht richtig erklärt wurde, die zweite von Helmholtz entdeckt und auf ihre physikalischen Bedingungen zm-ückgeführt worden ist. Helmholtz hat diese beiden Klassen in Differenz töne und Summationstöne geschieden. Erstere, die früher als SoRGEsche oder TARTiNLsche Töne bezeichneten, sind solche, deren Schwingungszahl der Difierenz der Schwingungszahlen der primären Töne gleich ist, welche daher bei allen weniger als eine Oktave betragenden Intervallen der primären Töne tiefer als der tiefere primäre Ton erklingen. Summationstöne sind solche, deren Schwingungszahl der Summe der Schwiugungszahlen der primären Töne gleich ist, welche daher stets höher sind als der höhere primäre Ton. Beispiele sind folgende. Werden gleiclizeitig die Töne T und 7, deren Intervall eine Quinte ist, deren Schwingungszahlen sich daher wie 2:3 ver- halten, stark angegeben, so hört man als Differenzton c, dessen Schwingungs- zahl der Differenz der Schwingungszahlen vo_n T und ~, d. i. 1 gleich ist. Als Summationston hört man in diesem Falle T, dessen Schwingungszahl dei- Summe der Schwingungszahlen von ~ und ~ d. i. 5 gleich ist. Bei c und e , deren Schwingungszahlen sich wie 4:5 verhalten, ist der Differenzton (= 1) die zweite tiefere Oktave von c , der Summationston (== 9) "7. Da nicht nur zwei einfache primäre Töne einen Summationston und einen Differenzton geben, sondern auch der letztere mit den primären Tönen aufs neue einen Differenzton zweiter Ord- nung, dieser abermals mit den primären Tönen und den Kom- iDiuatioustönen erster Ordnung neue Differenztöne gibt u. s. f.; da ferner bei gleichzeitiger Angabe zweier Klänge nicht allein deren ;300 KOMBINATIONSTÖNE. § 106. Gl'undton, sondern auch die harmonischeu Obertöne untereinander sowohl Differenz- als Summationstöne bilden, so ist die Zahl der gleichzeitig auftretenden Konibinationstöne eine sehr betriuditliche. Die Stärke derselben ist jedoch sehr ungleich. Der stärkste, am leichtesten hörbare ist der Differenzton erster Ordnung zweier ein- facher Töne oder auch zw^eier Klänge, besonders wenn das Intervall der in beiden Fällen gewählten Grundtime weniger als eine Oktave beträgt; eine viel geringere Intensität wohnt dagegen den Summationstöneu höherer Ordnung inne. Zur Zeit als man nur die Differenztöne kannte, schrieb man denselben eine rein subjektive Bedeutung zu, da eine objektive Ursache für diese Töne ausfindig zu machen unter der für alle Fälle angenommenen Voraussetzung einer ungestörten Superposition mehrfacher Tonwellenzüge aus- geschlossen war. YouNG glaubte daher die Wahrnehmung der Kombinationstöne, und zwar der ihm allein bekannten Differenztöne, aus einer anderweitigen akustischen Erscheinung, den im folgenden noch näher zu erläuternden Schwebungen, erklären zu können,, welche zwei nahezu gleich hohe Töne geben, wenn die einander entsprechenden Maxima ihrer Wellenzüge zusammentreffen. Die Zahl der Schwebungen ist, wäe die Schwingungszahl des Differenz- tones, gleich der Differenz der Schwingungszahlen der Grundtöne. Geringfügige Differenzen dieser Art sollte das Ohr nvir als Stöfse oder Schwebungen auffassen, gröfsere, bei welchen eine Sonderung der vorhandenen EmjDÜndungsschwankungen imBewufstsein unterblieb, wiederum in eine einheitliche Tonempfindung verschmelzen. Wir werden später bei der genaueren Besprechung der Schwebungen zu zeigen haben, wie wenig das thatsächliche Verhalten derselben dieser letzteren Annahme gerecht wird. Augenblicklich erscheint es jedoch von gröfserer Wichtigkeit die inneren Widersprüche der YouNGschen Hypothese aufzudecken und die wahre Entstehungsursache der Kombinationstöue nachzuweisen. Abermals ist es Helmholtz, dem wir die klärende Entscheidung verdanken. Auf der einen Seite setzte er die Mängel der YouNGschen Hypothese auseinander, welche erstens ihrer Konzeption gemäfs nur die Differenztöne, da- gegen nicht die von ihm neu ermittelten Summationstöne berück- sichtigt, zweitens gar nicht erklärt, warum die Kombinationstöne nur bei starken, die Schwebungen aber auch bei den schwächsten Tönen wahrgenommen werden, drittens nur auf solche Fälle pafst, in welchen die Differenz der Schwingungszahlen klein ist; auf der andren Seite leitete er mit Hilfe der Mathematik ab, dals eine ob- jektive Entstehung beider Arten von Kombinationstönen gut ver- ständlich wäre, sobald man in Erwägung zöge, dafs dieselben nur während des Zusammenklingens starker Töne, für welche die An- nahme einer ungestörten Superposition der Wellenzüge keine Gültig- keit mehr besitze, auftreten. Eine ungestörte Superposition findet eben nur bei Schwingungen mit unendlich kleiner Amplitude {x) ,g 106. SCHWEBUNGEN. 301 .statt, in deren Kraftgleicliung , B = a x -\- h x' , das die zweite Potenz von x führende Glied seiner verscliwindenden Kleinheit halber vernachlässigt werden darf. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, erreicht infolge von zu erheblichem Wachstum der Schwingungsweite auch h x'^ einen merklichen Wert, dann entstehen jieue Systeme einfacher Schwängungsbewegungen, deren Schwinguugsdauer derjenigen der Kombinationstöne ent- spricht, und die Rechnung ergibt, dafs neben den Schwingungen der beiden Grundtöne sowohl diejenigen der höheren Obertöne der- selben als auch diejenigen der Kombinationstöne, d. h. der Diöerenz- und Summationstöne erster, zweiter u. s. w. Ordnung zur Entwickelung 2:elans:en. Ein weiteres die Merklichkeit von & x'^ förderndes Moment, die uusvmmetrische Befestigung des schwangendeu Massen- punktes, findet Helmholtz in unserm Ohre durch die schräge Ein- fügung des Hammer.stieles in das Trommelfell verwirklicht und auf Grund dieser Auffassung der anatomischen Yerhältuisse spricht er es aus, dafs die Kombinationstöne ihre objektive Quelle in besonderen Schwingungen des Trommelfells und der an demselben befestigten Gehörknöchelchenkette hätten, mit andern Worten, das Trommelfell schwingt dergestalt, als ob es aufser von den Wellenzügen der beiden Grundtöne auch noch von Wellenzügen, welche den Kombinationstönen entsprechen, getrofien worden wäre. Bei gewissen Instrumenten, wie der von Helmholtz konstruierten mehrstimmigen Sirene und der Physharmonika , sind indessen die Kombinatioustöue bereits aufserhalb des Ohres objektiv in der schwingenden Luftmasse vorhanden. Einen experimentellen Beweis für die objektive Existenz der Kombinationstöne in diesen Fällen hat Helmholtz geliefert, indem er dünne Membranen durch dieselben in Mitschwiugungen versetzte. AYir haben im vorstehenden wiedei'holt auf die eigentümliche akustische Erscheinung der SchAvebungen Bezug genommen. Die Bedingungen und Ursachen ihrer Entstehung, auf welche jetzt erst eingegangen werden kann, sind einfach und klar. Treffen unser Ohr gleichzeitig zwei einfache Töne von gleicher Höhe, so werden von denselben die nämlichen Endapparate angesprochen, also auch die nämlichen Acusticusfasern erregt. Die hieraus hervorgehende Empfindung erhält darum aber noch keineswegs mit Notwendigkeit einen verdoppelten Stärkewert, sondern schwankt je nach dem Phasenverhältnis der beiden Beizwellen zwischen einem Maximum und Null. Denken wir uns beide Töne gleichzeitig beginnend, so dafs die Berge und Thäler ihrer AVellenzüge zeitlich genau aufeinander fallen, so entsteht durch Addition beider Schwingungen eine resul- tierende Bewegung mit der doppelten Berghöhe und der doppelten Thaltiefe; zugleich übertrifft die durch diese Bewegung ausgelöste Empfindung an Intensität merklich die durch einen der Töne allein wachzurufende. Lassen wir aber die beiden Wellenzüge in der 302 SCHWEBUNGEN. § 106. Weise imgleichzeitig beginnen, dai's der eine um eine halbe Schwingungsdauer später als der andre anfängt, der Berg des einen Wellenzugs sieh also zeitlich mit dem Thal des andern deckt und umgekehrt, so heben sich die beiden Bewegungen vollständig auf, aus der Deckung beider Schwingungskurven resultiert eine gerade Linie, die Empfindung ist demnach Null. Während der eine Wellenzug die Teilchen in der einen liichtung mit bestimmter Kraft fortzureifser strebt, sucht sie der andre mit gleicher Kraft in der entgegen- gesetzten Richtung zu bewegen, sie bleiben daher unter dem Einflufs dieser gleichgrofsen Kräfte von entgegengesetzter Richtung in liube; es kann also der seiner Stimmung nach den einzelnen Tönen ent- sprechende Faserzug der titcmhrana hasüaris nicht in Mitschwingung geraten, folglich die ^^ugehörige Nervenfaser nicht erregt werden. Treffen dagegen zwei Wellenzüge von nicht ganz gleicher, sondern etwas verschiedener Periodendauer das Ohr, mit andern AV orten: erzeugt man gleichzeitig zwei Töne von wenig verschiedener Höhe, so ent- steht eine Empfindung, deren Stärke in regelmäfsigen Zwischen- räumen anschwillt und wieder abnimmt; diese periodische lütensitäts- änderung bezeichnet mau mit dem Namen Schwebungeu, die periodischen Verstärkungen der Empfindung mit dem Namen der Stöfse oder Schläge. Die Häufigkeit der Stöfse bei zwei gleich- zeitigen Tönen hängt von dem Verhältnis ihrer Schwingungszahlen ab und ist der Zahl nach in gegebener Zeit gleich der Diflerenz der Schwingungszahlen beider Töne in derselben Zeit. Entsprechen dem einen Ton z. B. 100 SchAvino-uno-en in der Sekunde, dem andren 101, so wird das Ohr in jeder Sekunde eine SchM'ebung, einen Stofs wahrnehmen. Die Entstehung der Scliwebungen überblickt man am anschaulichsten, wenn man durch Addition der den beiden Tönen entsprechenden Scliwingungskurven die resultierende Bewegungskurve konstruiert; man sieht an letzterer in den Zeitteilchen, in welchen man die Stöfse hört, dadurch dafs zwei AVellen beider Töne genau aufeinander fallen, steilere Erhebungen entstehen, während in den Zwischenstrecken, dadurch dafs die Berge undThäler beider Kurven mehr weniger gegeneinander verschoben sind und die Berge der einen durch teilweises oder vollständiges Zusammenfallen mit Thälern der andren mehr weniger er- niedrigt werden, entsprechend niedrigere Ordinaten erhalten werden. Bringt man die Schwebungen anstatt durch zwei einfache Töne durch zwei Klänge hervor, deren Grundtöne wenig differierende Schwingungszahlen haben, so hört man auch Schwebungen der Obertöne, und zwar gibt der erste (Jberton zwei, der zweite drei Stöfse in derselben Zeit, in welcher der Grundton einen hören läfst. Die durch Addition der Schwingungen beider Töne zu gewinnende Kurve ist der unmittelbare Ausdruck der Bewegungen derjenigen Endapparate, welche durch beide einander naheliegende Töne gleichzeitig in Mitschwingung geraten, und daher auch der Ausdruck der von der Intensität der letzteren abhängigen Empfindungsstärke. Nur wenn diese eine Bedingung erfüllt ist, wenn die beiden gleichzeitigen Töne um ein so geringes Intervall auseinander liegen, dafs ein und derselbe Faserzug der vioiibrana basilaris, demnach auch eine und die selbe Nervenfaser, oder mehrere nebeneinander liegende gleichzeitig von beiden angesprochen werden, findet eine solche Addition der Empfindungen statt, welche dem in Rede stehenden akustischen Phänomen zu Grunde liegt; liegen § 106. SCHWEBUNGEN. 303 die Töne weiter auseinander, so tritt die oben erläuterte Zerlegung der resul- tierenden Bewegung durch verschiedene CoRTisclie Fasern in ihre Komponenten bei ungestörtem Nebeneinanderbestehen der durch verschiedene Nervenfasern erzeugten entsprechenden Einzelempfindungen ein. Je weiter innerhalb der durch die genannte Bedingung gesteckten Grenzen die beiden Töne auseinander liegen, je mehr ihre Schwingungszahlen differieren, desto gröfser ist die von dem Differenzbetrag abhängige Anzahl der Stöfse in gegebener Zeit, destO' rascher folgen sie aufeinander. Die Frage, bis zu welcher Gesell windigkeit der Aufeinander- folge das Ohr die Stöfse gesondert w^alirzunehmen imstande ist und welcJier physiologisclie Effekt mit der Übersclireituug dieser Grenze eintritt, ist durcli Helmholtz entscheidend beantwortet worden. Früher galt allgemein die von YouNW aufgestellte Ansicht, dafs, wenn die Zahl der Schwebungen in der Zeiteinheit so grofs werde, wie die Minimalzahl der zur Erzeugung einer Touempfindung er- forderlichen Schwingungen eines tongebenden Körpers, auch wirklich durch sie die dieser Schwingungszahl entsprechende Tonempliudung ebenso hervorgerufen werde, wie durch primäre Schallwellen; die so- entstehenden Töne sollten die Kombiüationstöne, die Differenztöne, erster Ordnung, darstellen. Dafs die Erklärung der Kombinations- töne aus den Schwebungen falsch ist, wurde bereits oben aus- geführt. Helmholtz hat aber auch weiter bewiesen, dafs überhaupt niemals eine Touempfindung durch Aneinanderreihung der Stöfse zustande kommt. Es folgt dies mit Sicherheit aus der Thatsache, dafs die Zahl der Stöfse in einer Sekunde, welche noch als solche Avahrnehmbar sind, über das vierfache der Minimalzahl von Schwin- gungen, welche zur Erzeugung der tiefsten Tonempfindung erforderlich sind, hinausgeht. Nach Helmholtz gelingt es, noch 132 Schwebungen in der Sekunde aufzufassen. Selbstverständlich ist es bei einer solchen Anzahl nicht mehr möglich, den einzelnen Stöfsen mit dem Ohre zu folgen, sie zu zählen; dies M-ird schon bei einer Anzahl von höchstens 20 in der Sekunde unmöglich; wohl nimmt man aber deutlich den intermittierenden Charakter der Empfindung wahr, dieselbe erscheint bei geringerer Anzahl der Intermittenzen knarrend, bei gröfserer eigentümlich rauh. Folgen sich die Stöfse noch rascher, so hört die gesonderte AVahrnehmung auf, der Zusammenklang er- scheint nicht mehr intermittierend, sondern kontinuierlich glatt. Das Unhörbarwerden der Schwebungen kann in verschiedenen Um- ständen begründet sein, entweder darin, dafs ihre Wahrnehmbarkeit und ihre Entstehungsbedingungen gleiche Grenze haben, d. h., dafs bei derjenigen Gröfse des Intervalls, bei welcher ihre Gegenwart vom Ohre nicht mehr angezeigt wird, die von beiden zusammen- klingenden Töne in einer und derselben Endvorrichtung des CoRTl- schen Organs ausgelösten Mitschwingungen sei es ganz erlöschen, sei es unter die zur Erregung der Nervenenden erforderliche Gröfse herabsinken, oder darin, dafs die den einzelnen Stöfsen entsprechen- den verstärkten Empfindungen die Pausen zwischen den Stöfsen 304 KONSONANZ UND DISSONANZ. § 10(5. überdauern und sicli zu einer kontinuierlichen Empfindung zu- sammen reilien. DnJ's die letztere Ursache jedenfalls mit im Spiele ist, dafs eine wenn auch noch so geringe Nachdauei' der Gehörs- empfindung über die Dauer des objektiven Reizes hinaus besteht, ist schon nach der Analogie andrer Sinuesnerven nicht zu be- zweifeln. Dem Tastorgau erscheint der gezähnte Rand eines Rades glatt, wenn dasselbe mit so grofser Geschwindigkeit an der tastenden Fläche vorbeibewegt wird, dal's die Empfindung des eben empfaugenen Zalmeiudrucks sich noch erhält, während der folgende bereits ent- steht, mithin durch diese Nachempfindungen die Lücken zwischen den durch distinkte Reize hervorgerufenen Einzeleindrücken ausgefüllt werden. In viel evidenterer Form werden wir beim Gesichtssinn einer solchen Empfindungsnachdauer begegnen; dem Auge ver- schmelzen zwei Lichteindrücke in einen schon bei viel gröfserem zeitlichen Abstand der Reizungen. Dafs beim Ohr die Nachdauer ■der Empfindung keine erhebliche sein kann, beweist die hier eben erörterte Thatsache, dafs es noch 132 Schwebungen in der Sekunde wahrzunehmen vermag, also die Nachdauer der den einzelnen Stöfsen entsprechenden Empfindungen jedenfalls kleiner als Vi32 Sekunde sein mufs. Alle schwebenden Zusammenklänge bringen einen unange- nehmen Eindruck ähnlicher Art hervor wie er den intermittieren- den Eindrücken auf andren Empfindungsgebieten, z. B. des Licht- ucd Tastsinns," den angenehm wirkenden kontinuierlichen Empfindungen gegenüber zukommt. Den unangenehmen Eindrücken der Schwebungen analog ist z. B. das unangenehme Blendungsgefühl, welches wir erhalten, wenn wir rasch an einem engen Gitterwerk vorübergehen und durch dasselbe eine bellbeleuchtete Fläche be- schauen, während das Unangenehme aufhört, wenn wir still stehen oder die helle Fläche ohne Gitter betrachten ; ferner der unange- nehme Eindruck jeder unstäten flimmernden Beleuclitung, sowie die unangenehme Tastempfindung, welche wir erhalten, wenn unsre Haut durch einen rauhen Körper gerieben wird. In allen diesen und ähnlichen Fällen finden rasche AVechsel zwischen Erregung und Ruhe sensibler Nervenfasern oder wenigstens rasche Intensitäts- schwankungen der Erregungsvorgänge statt. Helmholtz führt die un- angenehme Wirkung solcher intermittierenden Eindrücke darauf zurück, dafs jeder Einzeleindruck heftiger erregend wirkt, weil er durch eine Pause, in welcher der Nerv durch Ruhe sich erholt hat, von dem A'orhergehenden getrennt ist, während bei einem kontinuierlichen Eindruck eine allmähliche Abstumpfung der Empfindlichkeit ein- tritt. Die Störung des kontinuierlichen Abflusses zweier zusammen- klingender Töne durch die Schwebungen bezeichnet mau mit dem Namen Dissonanz im Gegensatz zu dem ruhigen gleichförmigen Empfindungsflufs zweier Töne ohne Sch>^ebungen , welchen man als Konsonanz bezeichnet. Schwebungen, mithin Dissonanzen, ent- ,§ 106. SUBJEKTIVE GEHÖESEMPFIXDUNGEX. 305 stehen aber niclit allein dnreli die Interferenz zweier einfaelier Töne von so geringem Intervall, dafs die oben erörterte Bedingung der gleichzeitigen Einwirkung auf dieselben Erregungsapparate der .Schnecke erfüllt ist, sondern auch bei einfachen Tönen von gröfseren Intervallen durch die Konibinationstöne und bei zwei zusammen- klingenden Klängen durch die Obertöne derselben, sobald eben die SchAvingungszahl eines Partialtons des einen Klanges derjenigen eines Übertons oder des Grundtons des andren nahekommt. Von welcher "Wichtigkeit diese Erscheinungen für die theoretische Musik sind, liegt auf der Hand; die in der Musik gebräuchlichen konso- nanten Intervalle sind jedoch nur zum Teil vollkommene Konsonanzen, wie die reine Oktave, Duodezime und Quinte, bei denen infolge des Zusammenfallens der Partialtöne des einen Klanges mit solchen des andern gar keine Schwebungen, zum Teil unvollkommene, bei denen Schwebungen vorhanden sind, aber ihrer grofsen Anzahl wegen be- sonders in hohen Lagen weniger störend wirken. Ein näheres Ein- o;ehen auf diese für die Musiklehre wichtigen Verhältnisse ist hier nicht angezeigt. Der letzte akustische Vorgang, weicher noch einiger kurzer Erörterungen bedarf, sind die subjektiven Gehörsempfindungen. Man wirft unter diesem Namen eine Anzahl in bezug auf ihre Qualität wie auf ihre Ursachen sehr verschiedener Empfindungen zusammen, welche das Gemeinsame haben, dafs die empfindung- erzeugende Bewegung innerhalb uusers Körpers ihren Sitz hat. Die Mehrzahl derselben ist indessen insofern objektiver Natur, als eine zum Gehörnerven äufsere Ursache dennoch vorhanden ist, ebenso wie dies bei den früher besprochenen subjektiven Empfindungen des Tastsinns und Geschmackssinns der Fall war. Bei einigen kennen wir •diese äufsere erregende Ursache, bei andern mutmafsen wir sie nur oder kennen sie nicht; als selbständige, ohne äufseren Reiz entstehende Erregungen des Gehörnerven können nur wenige Erscheinungen gelten, und auch bei diesen ist mehr als wahrscheinlich, dafs dennoch ein äufserer, aber allerdings kein durch eine Schall- bewegung gesetzter Beiz, z. B. ein Druck auf den Nerven, zugegen ist. Nennen wir endlich alle Gehörsempfindungen subjektiv, deren erregende Ursache innerhalb des Köqjers gelegen ist, so mufs auch das Hören der eignen Stimme, mag es nun durch Vermittelung der äufseren Luft, oder der Tuba, oder der Kopfknochen geschehen, den subjektiven Empfindungsvorgängen zugerechnet werden. Eine der am meisten besprochenen subjektiven Gehörs- empfindungen ist das beim Einpressen von Luft durch die Tuba in die Pauke entstehende knackende Geräusch und das anhaltende Summen, welches demselben während der Dauer des Einpressens folgt. Früher auf eine Kontraktion des fensor tympcmi und eine damit verbundene plötzliche Anspannung des 'Trommelfells bezogen, bezweifelt jetzt wohl niemand mehr, dafs die Geuknhagen, Physiologie. 7. Aufl. II. 20 306 SUBJEKTIVE GEHÖRSEMPFINDUNGEN. § 106. • Ursaclie dieser akiistisotien Ersclieiumigen auf die Thütigkeit der Tubeugaiimeniuiiskulatur zurückzufülii'en ist, bei deren Beginn dnrcli plötzliches Abziehen der membranöseu Tubenwand von der knorpeligen ein kurzes knackendes Geräusch, bei deren Andauern der jeden Muskeltetanus begleitende summende Muskelton erzengt wird. ^ Eine weitere leicht zu beobachtende Erscheinung ist das kontinuierliche Summen, welches entsteht, wenn man den Finger in den äufseren Gehörgang einführt, oder letzteren mittels eines Pfropfens von gekautem Papier gänzlich gegen die äufsere Luft abschliefst. Eine ausreichende Erklärung dieser Erscheinung gibt es noch nicht. Gegen die frühere Deutung, dafs das Summen durch Luftströme bewirkt werde, welche der Temperaturunterschied zwischen der Anisen- und der Innenluft des Ohres erzeuge^ dafs diese Luftströme ebenso eine Gehörsempfindung erregten, wie die einer vor das Ohr gehaltenen Muschel, wendet Harless mit Recht ein, dafs das Geräusch auch bei völligem Verschlufs des Gehörganges vernommen wird. Harless macht dagegen darauf aufmerksam, dafs im letzteren Falle das Geräusch Remissionen erleide, welche mit den Pausen in den Respirationsbewegungeu zusammenfallen, bei gänzlichem Anhalten des x\tems aber geschwächt fortdauere und mit den Herz- schlägen Synchronische Verstärkungen zeige; er betrachtet daher diese Geräusche als fortgepflanzte Schalle, w^elche teils von den Stimmbändern, teils von den Strömungen des Blutes herrühren. Letztere sind, wie Füxke bemerkt, wohl unbedingt als die haupt- sächlichen Erreger des Geräusches anzusehen, da dasselbe ununter- brochen fortdauert, mag mau ruhig atmen oder den Atem längere- Zeit einhalten. Warum diese durch die Blutbewegung hervor- gebrachten Erschütterungen bei ofi'enen Ohren nicht vernommen werden, sondern erst bei Verschlufs derselben eine merkliche Inten- sität erlangen, hat den nämlichen Grund, wie jene andre bereits bei einer früheren Gelegenheit erwähnte Thatsache, welche lehrte, dafs alle auf die festen Teile des Schädels übergegangenen Schall- bewegungen intensiver bei geschlossenem Gehörgang empfunden werden, und zwar nicht blofs scheinbar, wie Harless meint, sondern wirklich verstärkt , wie Rinnes Versuch beweist (s. o, p. 248). Liegt man bei vollkommener äufserer Ruhe und etwas verstärkten Herzbewegungen auf einem Ohr, so hört man auf dem- selben sehr häufig die eignen Herztöne ebenso deutlich, wie die- jenigen andrer Personen mittels des der Brustwand aufgesetzten Sthetoskops. Die bekanntesten subjektiven Gehörsempfindungen sind das sogenannte Ohrenbrausen und Ohrenklingeu; letzteres ins- besondere wird als Zeichen einer ohne Mitwirkung irgend welcher 1 Politzer. Wienei- Stzber. Math.-natw. Gl. 1861. 2. Abth. Bd. XLIII. p. 427. — LOEWI'IN- BERG, CtrlbL /. d. med. Wiss. 1865. p. 545. § 107. GEHÖES VORSTELLUNGEN. 307 äufseren oder inneren Schallbewegung erfolgte Acustienserregung be- trachtet. In vielen Fällen mag dies riclitig sein, nnd die Ursaclie der Erregung in Blutdruck auf den Nerven und ähnlichen Umständen liegen; dafs indessen in andern Fällen des Ohrenklingens der an- haltende hohe Ton desselben durch äufsere Umstände veranlafst wird, glaubt Funke daraus schliefsen zu dürfen, dafs bei ihm das Ohrenklingen sehr häufig in dem Moment, wo er Luft in die betreffende Tuba prefst, abgeschnitten wird und nicht wiederkehrt. Eine bestimmte Erklärung der fraglichen entotischen Erscheinung läfst sich nicht geben; es sprechen manche von einem Selbsttönen der Luft bei verschlossener Tuba, ohne jedoch diesen Vorgang näher erklären geschweige physikalisch begründen zu können. § 107. Die Gehörsvorstellungen. Wie die früher betrachteten Sinnesempfindungen, so verknüpfen sich auch die vom Gehörnerven erzeugten mit unzertrennlichen Yorstellungen, und zwar auch hier so unbewufst, dafs Inhalt der reinen Empfindung und konsekutive Vorstellung dem Laien identisch erscheinen, eine Scheidung beider psychischer Vorgänge während ihres gleichzeitigen Bestehens nicht möglich ist. Es begegnen uns hier beim Gehörssinn vor allem zwei Vorstellungen, die wir schon in Verbindung mit einem andren Sinne aus- führlicher betrachtet haben, die Vorstellung von der Objektivität des Schalles, die Objektivierung der Empfindung, und die Vorstellung von der Richtung, in welcher die Schallbewegung zu den Ohren gelangt, also von der Lage und Entfernung der äufseren Schall- quelle. Bei dem gewöhnlichen Hören, wo also die Schallbewegung durch die Luft fortgepflanzt das äufsere Ohr erreicht und mittels des Trommelfells den Hebelapparat der Knöchelchen in Gang setzt, sind wir niemals imstande, unmittelbar die Empfindung als etwas in uns Gelegenes, von ihrer äufseren Veranlassung wesentlich Differentes zu erkennen, sondern wir übertragen unbewufst, aber auch unvermeidlich die Qualität der Empfindung in die Aufsenwelt auf das Objekt, von welchem wir erfahrungsgemäfs wissen, dafs es die Ursache der Empfindung ist. So können wir uns bei dem Hören eines Saiteninstrumentes oder einer Glocke der Vorstellung nicht erwehren, dafs der in unserm Empfindungsorgan erzeugte Ton mit seiner bestimmten Höhe und seinem Klang etwas aufser uns Be- findliches sei, der schwingenden Saite oder der angestofsenen Glocke innewohne, dafs die Glocke oder Saite selbst töne, ebensowenig als wir uns bei der Berühi-ung eines Objektes von der Vorstellung des drückenden oder Widerstand leistenden äufseren Objekts frei zu machen vermögen. Wir wiederholen, was wir schon früher an- deuteten: während die unerzogene Seele erst lernen mufs, ihre 20* 308 GEHÖRS VORSTELLUNGEN. § 107. Erapfinduugeu zu objektivieren, kann die erzogene Seele nur auf Umwegen durcli Überlegung zu der Überzeugung kommen, dafs die Empfindung etwas rein Subjektives ist, ibrem Wesen und Inhalt nacli mit dem als Reiz dienenden äufseren Vorgang nicht das Geringste gemein hat. Ed. Weber hat den höchst interessanten Nach\\'eis geliefert, dafs wir nur solche Gehörsempfindungen aufser- halb des Körpers verlegen, deren ursächliche Schallbewegung unter Mithilfe des Trommelfells an den Hörnerven herangetreten ist. Von dem leicht zu wiederholenden Grundversuch, welcher dies be- weist, ist bereits oben die Rede gewesen. Taucht man in Wasser unter und erzeugt unter Wasser, z. B. durch Zusammenschlagen zweier Steine, einen Schall, so ist die Empfindung wesentlich ver- schieden, jenachdem der äufsere Gehörgang mit Luft oder mit Wasser gefüllt ist. In ersterem Falle ^'erlegen wir die Empfindung aufserhalb uusers Körpers und erhalten ein Urteil über die Richtung, in welcher die Schallquelle sich befindet, d. h. ob rechts oder links von uns; in letzterem Falle dagegen dünkt uns der Schall in uns selbst, in unserni Kopfe erzeugt. Nach Webek Avird durch Erfüllung der Gehörgänge mit Wasser der beiderseitige Trommel- fellapparat gänzlich aufser Wirksamkeit gesetzt; die Schallleitung geschieht lediglich durch die Schädelknochen, welche aus dem Wasser bedeutend leichter als aus der Luft Schallwellen aufnehmen und diese von allen Seiten her auf das Labyrinthwasser übertragen. Das Nachaufsensetzen des Gehörseiudruckes tritt also nur ein, wenn das Trommelfell durch die betreffende Schallbewegung in Schwingungen versetzt und durch diese von der fenestra ovalis aus ein Wasserwellen- zug von regelmäfsigem Verlauf erregt worden ist ; diese Schwingungen der nervenreichen Membran erregen nach Weber eine mit der Ge- hörsempfinduug gleichzeitige Tastempfindung, welche wir auf ein äufseres Objekt in der Vorstellung beziehen; jenachdem diese Tast- empfindung auf dem rechten oder linken Ohre stärker ist, schliefsen wir auf die Lage der erregenden Schallquelle rechts oder links von uns. Auch dann, wenn der zentrale Erregungsvorgang, aus welchem die Ton- empfindung hervorgeht, wegen allzu grofser Schwäche der zugeleiteten Impulse nur bei gleichzeitiger Thätigkeit beider Acustici die erforderliche Intensität er- reicht, also durch einen im Zentralorgan ablaufenden Summationsvorgang zustande kommt, auch in diesem Falle glauben wir den Schall in unserm Kopfe wahr- zunehmen. Bewiesen wird dieser allgemeine Satz durch einen von Tarchanow^ mitgeteilten Vei'such. Derselbe besteht darin, zwei von einer einzigen sekun- dären Induktionsspirale aus in tönende Schwingungen versetzte Telephone gleich- zeitig beiden Ohren anzulegen. Befinden sich die aus jedem einzelnen Telephon hervorklingenden Töne oder Geräusche eben an der Grenze der Hörbarkeit, so ruft die kombinierte Wirkung beider Telephone jedesmal eine Verdeutlichung 1 TARCHANOW, -SY. Petersb. med. Wochevschr. 1878. Separatabdr. Ähnliche Versuche mit gleichem Erfolge sind noch von THOMPSON angestellt worden. Revue scienUßque. 1878. No. 13, cit. nach TAKCHANOW. § 107. GEHÖESVOESTELLUNGEN. 309 der Tonwalirnebmuug hervor, zugleich aber auch die Vorstelhmg, dais die Tonquelle in uuserm eignen Kopfe, und zwar in der vertikalen Mittelebene desselben, ihren Sitz habe. AVill man diesen Versuch ebenfalls aus der Webeh- schen Hypothese erklären, so müfste man die Voraussetzung machen, dafs äufserst schwache Vibrationen beider Trommelfelle, welche nur kraft einer zen- tralen Erregungssummation überhaupt zur Perception gelangen, ohne jede zur Lokalisation des empfangenen Eindrucks nötigende Tastempfindung verlaufen. Bekanntlich lokalisieren aber Geisteskranke, welche infolge zentraler Reizungs- vorgänge an Gehörshalluzinationen leiden, die in ihrem Gehirn ohne Beteiligung des Trommelfells entstandenen Gehörswahrnehmungen sehr regelmäfsig aufser- halb ihres Körpers. Es scheint daher, als ob die Verknüpfung der akustischen Wahrnehmungen mit Ortsvorstellungen jedenfalls nicht allein von äufseren auf der Miterregung andrei- Nerven beruhenden Momenten abhängt. Namentlich dürfte z. B. auch die Qualität der Gehörswahrnehmungen von Einflufs sein, und die erworbene Erfahrung, dafs gewisse akustische Eindrücke immer nur in kon- kreten äufseren Objekten oder in Personen ihre Quelle haben, so das Prasseln eines Brandes in dem verbrennenden Gegenstande, gesprochene Worte in Personen, kraft eines besonderen uns unmerklichen psychischen Prozesses die Projektion des Gehörten nach aul'sen selbst dann erzwingen, wenn dieses, wie bei den erwähnten Geisteskranken, sicherlich einen zentralen i-ein innerlichen Ursprung hat. Das Vorhandensein zweier an den entgegengesetzten Seiten des Kopfes angebrachter Trommelfelle ist demnach zwar ein Mittel die Elichtnng des Schalles zu erkennen, aber nur in beschränktem Sinne; wir erfahren auf die angegebene Weise nicht, ob die Schall- quelle über oder unter, vor oder hinter uns sich befindet. Weit vollkommenere Aufschlüsse über die Richtung des Schalles erhalten wir, wenn wir die Bewegungen des Kopfes und die mit diesen ver- bundenen Muskelgefühle zu Hilfe nehmen. Wird an beliebigem Ort aufser uns ein andauernder Schall erregt, so hören wir ihn bald mit beiden Ohren gleich stark, bald auf dem einen oder dem andren stärker; durch Hiu- und Herdrehen des Kopfes um seine Längs- oder Querachse finden wir bald diejenige Stellung desselben, bei welcher die Empfindung auf einem der beiden Ohren die relativ gröfste Inteusität erreicht. Die Muskelgefühle verschaffen uns eine genaue Vorstelluug von der Lage, welche der Kopf einnimmt, und von der Richtung des betreffenden Gehörganges bei dieser Lage; in die geradlinige Verlängerung des letzteren verlegen wir in der Vor- stellung die Schallquelle, weil war durch Erfahrung wissen, dafs eine bestimmte Schallbewegung den intensivsten Eindruck erzeugt, wenn die Mündung des Gehörganges senkrecht der Hichtuug der Schallstrahlen, welche dann in gröfster Menge direkt in den Gehörgang eindringen, gegenübersteht. Allein auch bei unbewegtem Kopfe und ohne Mithilfe andrer Sinne, durch welche wir die Lage eines als Schallquelle bekannten Körpers Avahrnehmen, beurteilen wir die Richtung des Schalles. Nach Eu. Weber spielt hierbei die äufsere Ohrmuschel die wichtigste Rolle, indem sie uns belehrt, ob die Schall strahlen von oben oder unten, von hinten oder vorn kommen. Die Beweise lieo:en in folo;enden Versuchen. Die frei ;310 GEHORSVORSTELLUXGEX. § 108. ausgespannte elastische Ohrmuschel nimmt mit verhäitnismäfsig grofser Leichtigkeit Luftwellen, welche an die übrigen festen Teile des Schädels schwer übergehen, auf; ihre Erschütterung durch die Schallwellen erregt die sensitiven Nervenenden in ihr, und die hieraus resultierenden Empfindungen, welche je nach der Richtung, in welcher die Schall strahlen auflfallen, verschieden sein müssen, sind es, welche zu den genannten Richtnngsvorstellungen führen. Drücken wir daher die Ohrmuscheln fest an die Schädelwand an, wodurch sie notwendig ihre günstigste Lage und leichte Empfäng- lichkeit für die Luftwellen verlieren, dieselben nicht besser als die übrigen festen Teile aufnehmen, so verlieren wir auch das Urteil über das Oben und Unten, Vorn und Hinten der Schallrichtung. Dasselbe tritt ein, wenn wir den Kopf unter Wasser tauchen, aus welchem die Schallbewegungen nicht besser in die Ohrmuschel als in die übrigen Schädel wände eindringen. Besonders interessant ist, dafs wir unser Urteil über die Richtung des Schalles geradezu umkehren können; drücken wir nähmlich beide Ohrmuscheln platt an den Kopf und setzen dafür beide Handplatten vor den Gehörgängen quer an den Kopf an, so dafs sie ungefähr zwei vor den Gehör- gängen liegenden Ohrmuscheln entsprechen, so scheint ein vor uns erzeugter Schall von hinten zu kommen. Die Interpretation dieser Thatsache ist nicht so einfach, wir verlegen hier den Schall in die entgegengesetzte Richtung von derjenigen, in welcher die Schall- wellen in Wirklichkeit auf die Handfläche auftreffen; das Urteil über die Richtung bildet sich also hier nicht so immittelbar aus der Tastempfindung. Ofi'enbar hängt die Täuschung des Urteils damit zusammen, dafs die anstatt der Ohi'muschel auffangende Hand vor dem Gehörgang steht, während die wirkliche Ohrmuschel hinter demselben angebracht ist; dies führt zu folgender Erklärung. Wir scheinen uns bewufst zu werden, ob die dem Gehörgang zuge- wendete, oder die demselben abgewendete Fläche der Ohr- muschel von den Schallwellen getroffen wird; im ersteren Falle verlegen wir die Schallquelle nach vorn, im zweiten nach hinten. Legen wir nun die Hände vor den Gehörgängen an, so treffen von vorn kommende Wellen die von den Gehörgängen ab gewendete allein noch zugängliche Fläche der vorn verdeckten Muscheln, und darum verlegen wir die Schallquelle nach hinten. Die Täuschung beruht also auf ganz analogen Verhältnissen, wie die beim Tastsinn erörterte Thatsache des Doppelfühlens einer Kugel bei der Be- rührung mit zwei gekreuzten Fingern. Hier wie dort werden wir uns der verkehrten Lage der percipierenden Flächen nicht bewufst, und beziehen die Empfindungen, mithin die daran sich knüpfenden Vorstellungen, auf die gewöhnliche Lage jener Flächen, bei welcher Vv'ir die Vorstelluni? zu bilden 2:elernt haben. § 108. GESICHTSSINN. 311 GESICHTSSINN. ALLGEMEINES, i § io'underbar zusammengesetzten Auge, in welchem wir, wie in dem Gehörorgane, eine Klasse von Apparaten, als Leitungs- apparate für das Licht von andern unmittelbar an die Nervenenden angefügten Aufnahmeapparaten, welche die Umsetzung der Licht- wellen in einen Nervenreiz bewerkstelligen, zu unterscheiden haben. Die Liohtätherschwingungen bilden indessen nicht den einzigen Er- reger für den Opticus. Wenn sich schon von vornherein erwarten läfst,. dafs auch dieser Nerv den allgemeinen Erregungsgesetzen unterliegen und demgemäfs wie die übrigen auf die oben als allgemeine Nervenreize bezeichneten Agenzien reagieren wird, so ist dies wenigstens für einige der letzteren sogar mit Bestimmtheit direkt erwiesen. Der mächtigste Nervenreiz, der elektrische Strom, ist auch für den Opticus ein solcher, und in der Hauptsache sehen wir auch hier die für die elektrische Reizung im allgemeinen ermittelten Gesetze bestätigt; dafs auch der konstante galvanische Strom, nicht blofs der in einer plötz- lichen DichtigkeitsscWankung begrifi'ene, den Sehnerv in Erregungs- zustand zu versetzen und in deuiselben zu erhalten vermag, kann jetzt nicht mehr als spezifischer Unterschied den motorischen Nerven gegenüber gelten. Wir werden unten Gelegenheit nehmen, die Er- scheinungen der elektrischen Reizung zu besprechen; hier nur so viel, dafs die Aufserung dieser Erreguug in der Empfindung, die Qualität der vom elektrischen Strome hervorgerufeneu Empfindung, dieselbe ist, wie die, welche der spezifische Reiz, die Lichtwelle, be- dingt; die Erscheinungen farbigen oder weifsen Lichtes folgen auch 1 Vgl. Die Lebrb. d. Phy.siol. von J. MüELLER u. LUDWIG. — VOLKJIAn;»', Ait. Sehen in E. WAGNERS Handwrtb. d. P/ii/xiol. Bd. HL a. p. 265. — RUETE, le/irb. d. Op/it/ialmi>!o'j!e. 2. Aufl. 1854. Bd. L — HELMHOLTZ, Phy.siol. Optik. Leipzig 1867. — AUBERT, Phmiol. d. Netzhaut. Breslau 1865, u. Handh. d. (icmmmten Auoenhei/k. von GrAEFE u. SaemiscH. Leipzig 1876. Bd. II. p. ?-92. 312 GESICHTSSINN. §108.. dein elektrischen Reiz. Dasselbe findet bei gewissen meclianisclien Eimvirkuugen statt, welche mittelbar oder iiiiiuittelbar die End- ausbreitung oder die Fasern des Opticus im A'^erluufe treffen, wie die tägliche Erfahrung lehrt. Das Fuukensehen bei einem Stofs gegen das Auge, die lichte Figur bei Druck gegen dasselbe, die Er- scheinung flimmernder Lichtpunkte bei Überfüllung der Gefäfse der Nervenhnut sind Belege dafür. Eben dieser Umstand, dafs die Qualität der Empfindung bei so wesentlich verschiedenen Erregungsmittel u dieselbe bleibt, widerlegt auf das schlagendste die bei dem Laien eingebürgerte Anschauung, dafs die Empfindung mit allen ihren Qualitäten gleichsam nur ein Spiegelbild objektiver Reize von gleichen Qualitäten sei, eine Anschauung, die sich am deutlichsten in den bereits öfter gerügten, selbst in die Sprache der Wissenschaft auf- genommenen Bezeichnungen der Reize nach Qualitäten der Empfindung verrät. Wir sprechen von Aveifsem und farbigem Licht, von roten und blauen Lichtwellen, als ob die Farbe eine Qualität des so und so oszillierenden Lichtäthers wäre und nicht ausschliefslich eine Qualität der Empfindung, von welcher in dem äufseren Reiz nicht die entfernteste Andeutung sich findet. Mit demselben Rechte, wie wir von blauen Lichtstrahlen sprechen, müfsten wir konsequenter Weise auch einen blauen elektrischen Strom annehmen, weil der Ein- wirkung desselben eine Lichtempfiudung folgt, die wir blau nennen, ohne diese Qualität irgendwie definieren zu können. Welcher Reiz, auch den Nerven treffen möge, das Resultat ist jener seiner eigent- lichen Beschaffenheit nach unbekannte Bewegungsvorgang, dessen Leitungsgeschwindigkeit wir früher bestimmt und als dessen äufseres Zeichen wir die negative Schwankung des ruhenden Nervenstromes erkannt haben. Diese physische Bewegung der Nervenmaterie, deren Vorhandensein innerhalb des durch einfallendes Licht von der Retina aus, durch elektrische Reizung vom Stamme aus tetanisierten Opticus überdies unmittelbar nachgewiesen worden ist^, nicht die Lichtwelle,, pflanzt sich bis zu den zentralen Endapparaten fort und löst daselbst einen Vorgang aus, aus welchem die Seele eine Lichtenipfindung macht. In der spezifischen Beschaffenheit der zentralen Endapparate des Sehnerven ist daher der Grund zu suchen, dafs jeder Reiz, der ihn an der Peripherie oder im Stamme trifft, stets nur Licht- empfindung erzeugt. Um aber zu verstehen, dafs wir nicht nur eine einzige sondern vielfache Qualitäten von Lichtempfindungen zu unterscheiden imstande sind, bedürfen wir der ferneren Annahme, dafs den mit spezifischer jedoch qualitativ verschiedener Energie reagierenden Zeutralapparaten des Sehnerven ebensoviele besondere periphere Perceptionsapparate ent- ' Vgl. HOLMGREN, JAMES DEWAU u. JOHN GRAY M'KKNDRICK, Transactirms of ihe Royal Society of Kdmhurqh. 1874. Vol. XXVII. Part. I. p. 139. — G. VALENTIN. MOLESCHOTTs ünUrs. z. Naturlehre. 1872. Bd. XI. p. 602. §108. GESICHTSSINN. 313 sprechen. Gibt es unter den ersteren solclie, in welchen nur die EmjDfiudung blau oder gelb entstehen kann, so müssen auch unter den letzteren solche vorkommen, welche ausschliefslich oder mindestens doch vorzugsweise durch die im blauen oder gelben Teile des Sonnen- spektrums enthaltenen Farbenstrahlen erregt werden, und ganz das Gleiche würde für etwa vorhandene, sei es grün, sei es rot, sei es noch andre Lichtempfindungen vermittelnde Zentralapparate des Opticus gelten. Die Leistungen des Gesichtssinns beschränken sich keineswegs auf -die Wahrnehmung von Licht und Farben im allgemeinen; er verdankt seine hohe Wichtigkeit als Lehrer der Seele im Auffassen der Aufsenwelt dem Vermögen, Licht und Farben in Bildern zur Wahrnehmung zu bringen, d. h. in der Vor- stellung die räumlichen Verhältnisse des äufseren Gegenstandes, von welchem die erregenden Atherschwingungen ausgehen, zu reproduzieren. Denken wir uns die äufseren Dinge aus einer Unzahl leuchtender Punkte mosaikartig zusammengesetzt, so ent- werfen die dioptrischen x4.pparate ein Bild auf der Netzhautfläche, welches aus ebensovielen einzelnen leuchtenden Punkten genau in derselben relativen Anordnung, wie am äufseren Objekt, zusammen- gesetzt ist, nur dafs es verkehrt ist, wie wir sehen werden, und dafs es keine Dimension der Tiefe wiedergibt; es stellt die äufsere Mosaik auf eine Fläche verkehrt projiziert dar. Dieses Bild nehmen wir als solches wahr. Das Mikroskop zeigt uns in der Netzhaut selbst eine schöne, regelmäfsige Mosaik eines ihrer Elemente, und die so angeordneten Elemente sind, wie wir unten beweisen werden, die Nervenenden selbst, oder wenigstens die percipierenden Eudapparate an denselben. Die Lichtmosaik des Bildes trifft auf diese Nervenmosaik, oder richtiger ausgedrückt, wir müssen jedes Netzhautbildchen in Mosaikpunkte von dem Durch- messer der mosaikartig nebeneinander stehenden Perceptiouselemente zerlegt denken. Jedes solche Gebilde wird für sich durch das ihm zugefallene Mosaikelemeut des Bildes in Erregung versetzt, und zwar in verschiedener Weise je nach der Länge der auffallenden Atherwelleu, in verschiedener Intensität je nach der Schwingungsamplitude der Atherteilchen in ihm. Jedes Element trägt seinen Erregungszustand isoliert, unabhängig von der gleichzeitigen Phase der Nachbarn durch die ihm zu- gehörige Nervenfaser zum Gehirn und löst dort in dem zentralen Eudapparate einen Prozefs aus, aus welchem die Wahrnehmung eines punktförmigen Lichteindruckes von bestimmter Farbe und Intensität resultiert. Auf diese Weise erhält die Seele gleichzeitig eine Anzahl gesonderter Lichteindrücke, welche in Qualität und Intensität genau den einzelnen Reizen der Nervenenden entsprechen, und diese Eindrücke setzt sie zum Bilde zusammen, weist jedem in der angeborenen Haumanschauung den Platz an, V)U DAS SEHORGAN. § 109. welcher ihm, seiner relativen Lage zu den andern im Netzhautbild entsprechend, zukommt. Woran die Seele diese relative Lage erkennt, was für ein Lokalzeichen, nach welchem die Seele ihre Orts- bestimmungen trifft, jeder Eindruck von der Peripherie mitbringt, ist eine schwierige, hier nicht zu erörternde Frage ; nur soviel ist gewifs, dafs die räumliche Anordnung der erregten peripheren Nerven- enden oder der zentralen Empfindungsapparate an sich die Bedingung zur räumlichen Wahrnehmung unmöglich sein kann, wie wir bereits bei der analogen Lehre vom Raumsinn der Haut (pag. 177) besprochen haben. Dieses von der Seele aus ■den Einzeleiudrücken rekonstruierte Empfindungsbild ist ein llächen- haftes, wie das zu Grunde liegende Netzhautbild, die Vorstellung bringt die Dimension der Tiefe hinein, indem sie nach gewissen Merkmalen die relative Entfernung der einzelnen leuchtenden Punkte vom Auge beurteilt. Einen weiteren, die Vollkommenheit seiner Leistungen wesentlich bedingenden Hilfsapparat besitzt das Auge in seinem Bewegungsmechanismus, in den Muskeln, welche es nach allen Richtungen zu drehen imstande sind und welche durch die mit jeder Bewegung verbundenen Muskelgefühle der Seele eine Vor- stellung von der Gröfse und Richtung der geschehenen Bewegung verschaffen. Der Nutzen dieser Muskeln besteht nicht allein darin, dafs wir vermöge derselben das Auge und seine empfindende Fläche nach allen Richtungen den Dingen der Aufsenwelt gegen- überstellen, dafs wir gleichzeitig beide Augen so auf dasselbe Objekt richten können, dafs auf eine unten zu erörternde Weise die von beiden Augen gleichzeitig hervorgebrachten Empfindungen zu einer einzigen verschmelzen; sondern es soll auch gezeigt werden, welche wichtigen Dienste die mit den Augenbewegungen ver- bundenen Muskelgefühle leisten, in welcher Weise dieselben uns Aufschlüsse über Gröfse und Entfernung der gesehenen Objekte A'erschafi"en. Soviel als einleitende Bemerkungen. Noch mufs indessen der speziellen Betrachtung vorausgeschickt werden, dafs wir bei derselben eine genaue Bekanntschaft mit den allgemeinen Lehren der Optik notwendig voraussetzen müssen. Ein Lehrbuch der Physiologie ist nicht der Ort, dieselben zu erläutern. HISTOLOGIE DES SEHOEGANS. § 109. Es kann hier unsre Aufgabe nicht sein, eine deskriptive ana- tomische Erläuterung des Augapfels oder eine umfassende Histologie §109. DAS SEHORGAN. 315 aller seiner einzelnen Organe und Teile zu geben. Dem bei den übrigen Sinnen befolgten Plane geniäfs wenden wir aucli hier unsre Aufmerksamkeit hauptsächlich dem Sinnesnerven selbst, der Unter- suchung seiner Endigungsweise und der Beschaffenheit jener not- wendig vorhandenen Endapparate zu, welche die Atherschwingungen in einen Nervenreiz umsetzen. Wir schliefsen daran eine kurze histologische Betrachtung der dioptrischen Vorbaue des Sehnerven und einiger Xebenapparate, soweit die Kenntnis ihrer Elementar- zusammensetzung wichtig zm* Beurteilung ihrer physiologischen Funktion ist. Die Endausbreitung des Opticus, des Sehnerven, ist die Eetina.^ Vor allen andern Sinnesapparaten durch die leichte Zugäuglichkeit ihrer Lage aus- gezeichnet, ist die mikroskopische Zergliederung ihres Baues dennoch nicht so- weit gediehen, um uns in die Bedeutung und die gegenseitige Verbindung ihrer einzelnen Elemente einen genügenden Einblick zu gewähren, namentlich aber das terminale Verhalten der in sie eindringenden Opticusfasern klar zu legen. Löst man die gut erhärtete Eetina nach Eröffnung des Bulbus von ihrer Unterlage, der Chorioidea, ab und fertigt von ihr feine senkrechte Querschnitte an, so findet nian sie aus einer gröfseren Anzahl deutlich abgegrenzter, zum Mittelpunkt der Augenkugel konzentrischer Schichten, welche letzteren ihrer- seits wiederum aus sehr verschiedenen Elementen bestehen, zusammengesetzt (Fig. 111 nach M. Schultze). Die äufserste""' ist die membrana pigmenti (a Fig. 111), ein einschichtiges sehr regelmäfsiges Plattenepithel, dessen mem- branlose sechseckige Zellen in zwei scharfgesonderte Zonen zerfallen. Die eine der Chorioidea zugewandte ist aus farblosem Protoplasma gebildet, die andre den einwärts folgenden Eetiuaschichten zugekehrte enthält den rundlichen farb- losen Kern und zahlreiche längliche Moleküle eines braunen Pigments von ki'istallinischem Gefüge. ^ Der pigmentierte Abschnitt der Epithellage nimmt die Enden der zweiten Eetinaschicht in sich auf und entsendet zwischen die Elemente derselben lange fadenförmige Fortsätze'*, vrelche je nach dem Zustande der unter- suchten Augen sich bald als pigiiienthaltig bald als pigmentfrei erweisen. Ersteres ist der Fall, wenn das untersuchte Auge während des Lebens belichtet, letzteres, wenn es vor Lichtzutritt geschützt gewesen war.^ Das Licht bewirkt also offenbar eine Pigmentkörperchenströmung aus dem pigmenthaltigen Abschnitt der Epithel- zelleu in die haarförmigen Füfse derselben. Die zweite Eetinaschicht (fe Fig. 111) führt den Namen der Stäbchen- und Zapfenschicht. Früher nach ihrem ersten Entdecker als JACOBsche Haut bekannt und meist für eine selbständige mit der eigentlichen Nervenhaut nicht zusammenhängende Membran angesehen, liat sie ihre richtige Würdigung erst seit H. Muellers® bahnbrechenden Arbeiten 1 Ältere Litteratur: JACOB, Med.-chir. Transactions. London 1822. Vol. XII. Part. II. — VOLKJIANN, Neue Beitr. z. Phiisiol. d. Gesichtssinnes. Leipzig 1836. — LAXGENBECK, Be reünu ohserv. anatom.-pathol. Göttingeu 1836. — TreVIKANUS, Beitr. z. Aufklärung d. or'jan. Lebens. 3. Heft. Bremen 1837. — VALENTIN. Repert. f. Anat. u. Physiol. 1837. Bd. II. p. 249. — BiDDER, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1839. p. 371, u. 1841 p. 248. — LehrSCH, De retinae truct. microscop. Dissert. jnaug. Berolini 1839. — Pappexheim, Spec. Gewebelehre d. Gehörorgans. Breslau 1840. p. 100. — HeXLE, AUgem. Anat. 1841. p. 385 u. 661. — REMAK, Arch. f. Anat. u. Phiisiol. 1839. p. 145. — HANNOVER, Recherch. microscop. sitr le Systeme nerv. Copenhagrue 1844. — PACIXI, Neue Unters, üb. d. feinere Textur d. Retina. A. d. Ital. Freiburg 1847. — E. Bruecke, Anat. Beschreib, d. menschl. Augapfels. Berlin 1847, u. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1844. p. 444. - Vgl. M. Schultze, Arch. f. mikrosk. Anat. 1867. Bd. III p. 377. 3 Frisch, Wiener Stzber. Math.-natw. CI. 1868. 2. Abth. Bd. LVIII. p. 316. * HAXNOVER, a. a. O. — Morano, Arch. f. mikrosk. Anat. 1871. Bd. VIII. p. 81. 5 y^ KChxe, Unters, aus dem physiol. In.itit. d. Universität Heidelberg. 1877. Bd. I. p. 420, 1880. Bd. m. p. 242. « H. MCELLEK, Ztschr. f. wiss. Zoologie. 1851. Bd. HI. p. 234, u. 1857. Bd. VIU. p. 1; Gesammelte u. hinferlassene Schriften z. Anat. u. Phvsioi. des Avges. Herausceg. von O. BECKER. Leipzig 1872. Bd. I. 316 BAU DER RETINA. §109. erhalten. Es besteht dieselbe aus einer Anzahl in regelmäfsigster Anordnung senkrecht nebeneinander gestellten, durch keine sichtbare Zwischensubstanz ge- trennten länglichen Körperchen von zweierlei Art, den Stäbchen und den Zapfen, welche wir einer genaueren Betrachtung unterwerfen müssen. Die Stäbchen erscheinen als schmale, lange, glänzende Cylinder, deren äufseres, an die Chorioidea stofsendes Ende quer abgeschnitten ist, während das innere sich zuspitzt und in einen äufserst dünnen, zarten Faden ausläuft, welcher senkrecht in die innern Schichten der Retina eindringt und zu deren Elementen in ein später zu erörterndes Verhältnis tritt. Ihr Durchmesser ist so klein, dafs auf der Fläche einer einzigen Zelle des Pigmentepithels eine sehr erheb- liche Anzahl von ihnen Platz findet. Das zugespitzte innere Ende des Stäbchens unterscheidet sich durch sein geringeres Lichtbrechnngsvermögen von dem äufseren, und erweist sich an guten Erhärtungspräparaten (aus MuELLERScher Flüssigkeit oder V2 — 2 Vo Überosmiumsäurelösung) stets durch eine feine "M'\ ' ' ' ■■% ""''^'^^'^Sii^aüEiii^- Trennungslinie von letzterem abgesetzt. Die beiden Abteilungen, in welche das Stäbchen (Fig. 112 A. s.) zerfällt, werden als Innen- und Aufsenglied (<. a. Fig. 112 Ä) desselben bezeichnet.^ Das Innenglied besteht aus einer leicht- trüben feinkörnigen Masse von dem Aussehen des Zellprotoplasmas, das Aufsen- glied aus einer hellglänzenden, stark lichtreflektierenden, während des Lebens bei vielen Tieren und auch beim Menschen rötlich, bei einzelnen Stäbchen des Frosches grasgrün- gefärbten Substanz, welche ungemein leicht zerstörbar ist. Bringt man frische Präparate von Stäbchen in Wasser oder huiiior aqiieus unter das Mikroskop, so krümmen sich die xiufsenglieder bald hirtenstabförmig, bald zu vollkommenen Ringen zusammen, und zwar nicht nur bei Fröschen, an welchen Haxxover und E. H. Weber^ diese Erscheinung zuerst wahrnahmen, sondern bei allen Tierklassen (M. Schcltze^). Hierbei lassen sie nicht selten Tropfen einer stark lichtbrechenden Substanz austreten, welche von einigen Forschern mit den Myelinbildungen des Nervenmarks verglichen werden, und reifsen stets von dem konvexen Krümmungsrande aus in regelmäfsigen Intervallen der * Vgl. Hannover, Recherch. mkroscoplques sur le -ti/stemc nerseux. Copenhague 1844. — BRAUN, Wiener Stzher. Math.-natw. CI. 1860. Bd. XLII. p. 15. — W. KRAUSE, Nachr. v. d. hql. Ges. d. Wiss. z. Götlinpen. 1861. p. 17. 2 M. SCHULTZE, Arc/i. f. mikro.^k. Anat. 1869. Bd. V. p. 1. — BOLL, Per. d. kgl. preufs. Akad. d. Wiss. z. Berlin. 12. Nov. 1876. 11. Jan. u. 15. Febr. 1877; Arc/i. f. Plii/siol. 1877. p. 4. — W. KÜHNE, Sitzung] d. naturhist. med. Vereins z. Heidelberfi. 5. Jan. 1877; Ctrbl. f. d. med. Wiss, 1877. p. 33 U. 49, u. Unters, a. d. phijsiol. Inst. d. Vnimrs. Heidelberg. 1877. Bd. I. p. 1. ^ Hannover, Arclt. f. Anat. u. Phi/siohgie. 1840. p. 330: Recherch. microscop. sur le siisteme nerceux. Copenhague 1844. — E. H. Webkr, s. dieses Lehrbuch. IV. Aufl. Bd. II. ]864. p. 185. * M. ScHULTZE, Arch. f. mikrosk. Anat. 1867. Bd. III. p. 215. §109. BAU DER RETINA. 31' Quere nach ein. Der ganze vom Aiifsenglied gebildete Ring wird dadurch in eine grofse Zahl von Scheiben oder Plättchen gespalteia, welche nur am inneren kon- kaven Rande desselben noch lose zusammenhängen. Man schliefst hieraus nach dem Vorgänge M. Schultzes, dafs die unter den genannten Umständen eintretende Zerklüftung des gequolleneu Aufsengliedes einer schon während des Lebens vorhandenen, also präformierten, Strukturdifferenz entspreche, und denkt sich das Aufsenglied mithin aus übereinander geschich- teten und durch eine zarte Kittsubstanz ver- klebten Plättchen aufgebaut. Betrachtet man diese F'S- 112. Plättchen nach gänzlicher Isolierung an Osmium- l^räparaten, so überzeugt man sich leicht, dafs sie eine durch und durch gleichartige Beschaffenheit besitzen. Es müssen daher alle Angaben', nach welchen die Aufsenglieder der Stäbchen einen besonderen Achsenstrang, den sogenannten Ritter- «chen Faden, einschliefsen sollen, als irrig bezeichnet werden. Im frischen Zustande erscheint die Ober- fläche der Stäbchenaufsenglieder bei Tieren ver- schiedener Klassen, am deutlichsten bei Rana und Salamandra, fein längsgetreift. Diese Liniierung rührt von ungemein schmalen Rinnen und Leisten her, welche der Obez-fläche des Aufsengliedes entlang ziehen und zur Aufnahme der vorhin y?,, erwähnten Fransen des Pigmentepithels dienen. In Übereinstimmung damit befindet sich die von M. Schultzk" gemachte Beobachtung, dafs die isolierten Plättchen der Stäbchen- aufsenglieder im Flächenbilde keinen kreis- förmigen, sondern einen gezähnelten LTmrifs er- kennen lassen. Bezüglich des feineren Baues der Stäbchen- innenglieder ist nur wenig Bemerkenswertes be- kannt. Soviel scheint jedoch sicher, dafs dieselben in der Nähe ihrer Verbindungsstelle mit dem Aufsengliede regelmäfsig einen elliptischen Körper enthalten, welcher bei Tieren meist ein homogenes Aussehen besitzt (Opticusellipsoid W. Kr.\tjses, empfindliche Körper W.Muellers^), beimMenschen aus sehr zahlreichen feinen kurzen Fibrillen zusammengesetzt ist (M. Schultzes Fadenapparat), und ferner äufserlich im ganzen Umfange von einer feinfaserigen Kapsel umschlossen sind (Faserkorb M. Schultzes), von welcher eine röhren- förmige Fortsetzung zum Aufsengliede emporsteigt und dasselbe auf eine kurze Strecke an seiner Basis umfafst. Über die Existenz eines Achsenfadens in der Mitte des Innengliedes, welcher nach W. Krause* an das Opticusellipsoid her- antreten und mit demselben endigen soll, sind die Untersuchungen noch keines- wegs als abgeschlossen anzusehen. Die Zapfen (Fig. 112 A, z.) gleichen den Stäbchen in vielen wesent- lichen Punkten. Auch sie sind aus einem Aufsen- und einem Innengliede auf- gebaut, ersteres ist ebenfalls in Queri^lättchen zerlegbar, aber jederzeit frei von 1 Kitter, Arch. f. OpJahalmol. 1S59. Btl. V. Abth. 2. p. 101. — MANZ, Ztschr. f. rat. Med. III. R. 1861. Bd. X. p. 301. ^ M. SCHULTZE, Arch. f. mtkrosk. Anaf. Bd. V. 1869. p. 379. ä W. MUELLER, Beiträge z. Anat. u. Physiol. Als Festgabe C. LUDWIG gewidmet. Leipzig 1874. Heft 2. p. 1. * W. Krause, Nachr. d. Götting. Univers. 1861. p. 2; Ztschr. f. rat. Med. III. R. 1861. Bd. XL p. 175, u. Handb. d. menschl. Anut. 3. Aufl. Hannover 1876. Bd. I. p. 156. 318 BAU DER RETINA. § 109. Farbstoff (W. Kühne^), letzteres von einem Faserkorbe umscheidet und mit einem Ellipsoid oder Fadenapjjarat versehen. Nur darin unterscheiden sich die Zapfen von den Stäbchen, dafs ihr Aufsenglied stets kürzer und schwächer entwickelt, das Innenglied dagegen stets mächtiger ausgebildet ist und keine cylindrische , sondern eine flaschenförmig ausgebausclite Gestalt hat. Das Zapfeninnenglied hat im belichteten Auge eine andre Gestalt als im ver- dunkelten, ist dort, wie Erhärtungspräi^arate lehren, im Längendurchmesser verkürzt, im Querdurchmesser verdickt, hier umgekehrt in ersterem gestreckt, in letzterem verschmälert. Die Zapfeninnenglieder (vielleicht auch die Stäbchen- innenglieder) gehören mithin zu den protoplasmatischen Bildungen, welche sich unter dem Einflüsse des Lichts kontrahieren.-' Letzteres bewirkt also, dafs die Zapfenaufsenglieder aus dem Pigment des Retinaepithels hervorgezogen und gegen den einfallenden Strahl hinbewegt werden. Die Zapfen vieler Tagvögel enthalten an der Grenze von Aufsen- und Innen- glied einen Tropfen, welcher aus einer fettähnlichen Substanz zu bestehen scheint und bald gelb, bald rot, bald bläulich, bald grünlich gefärbt ist; die- jenigen der lichtscheuen Eulenarten und zahlreicher Rejitilien führen dagegen an der gleichen Stelle nur farblose oder einfarbige bald gelbe, bald rötlich gelbe Troj^fen. Ganz abweichende Zapfenformen findet man bei Fischen und Vögeln, wo sich die Innenglieder zweier benachbarter Zapfen an der Basis sehr häufig miteinander verwachsen zeigen. Es entstehen hierdurch die sogenannten Zwillingszapfen, deren Entdeckung in der Regel Hakxover^ zugeschrieben wird, welche aber sicherlich schon vor ihm von Lehrsch* gesehen und als papillac hipedes bezeichnet worden sind. An das Innenglied des Zapfens, von demselben nur durch eine seichte Einschnürung getrennt, setzt sich ein rund- liches Gebilde, das Zapfenkorn (Fig. 112 zk) an, welches an seinem andren Pole, ebenso wie das Innenglied der Stäbchen, in einen radial verlaufenden Faden, die Zapfenfaser (Fig. 112 zf) ausläuft, indessen bereits einer andren später zu besprechenden Retinaschicht angehört. Die Schicht der Stäbchen und Zapfen ist nach innen von den folgenden Schichten durch eine feine Linie (c Fig. 111) scharf abgegrenzt. Diese Linie, „die Begrenzungslinie der Stäbchen schiebt" [limitans externa^ KoELLiKER^), wird von den dicht aneinander in einer Reihe liegenden inneren Enden der Stäbchen und den in gleicher Höhe liegenden Einschnürungen zwischen den Zapfenanschwellungen und Zapfenkörnern gebildet. Die Dicke der ganzen Schicht beträgt nach Mueller 40 — 50 //. Die Anordnung der Stäbchen und Zapfen ist in betreff der relativen Anzahl beider in einem bestimmten Raum verschieden an verschiedenen Stellen der Netzhaut, im all- gemeinen jedoch so, dafs die Zapfen überall in regelmäfsigen Abständen von- einander stehen, die Zwischenräume zwischen ihnen durch einfache Stäbchen ausgefüllt sind. Sehr anschauliche Bilder dieser Anordnung erhält man, wenn man die Aufsenfläche der vorsichtig ausgebreiteten menschlichen Retina unter dem Mikroskope betrachtet, wo die Durchschnitte der Stäbchen als einfache kleine, diejenigen der Zapfen als grofse den umfangreicheren Innengliedern ent- sprechende Kreise mit konzentrischen kleinen den optischen Querschnitten der schmäleren Aufsenglieder zugehörigen Mittelkreisen erscheinen (Fig. 113 C 1. 2) und die Fai'bendifferenz eines bestimmten Retinabezirks, die gesättigt gelb tingierte macula lutea, mit besonderer Deutlichkeit hervortritt. Zu- gleich bemerkt man, dafs dieser ausgezeichnete Bezirk nur Zapfen ohne- zwischenliegende Stäbchen enthält, dafs aber die Innenglieder dieser Zapfen Fig. 112 B) einen viel kleineren Querdurchmesser als diejenigen der mehr ' W. KÜHNE, Ctrlbl. f. d. med. Wiss. 1877. p. 193 u. 257. ■^ ENGELMANN, Pfluegers Arch. 1885. Bd. XXXV. p. 499. ä Vgl. M. SCHULTZE, Arch. f. mikrosk. Anat. 1867. Bd. III. p. 231. * Lehesch, a. a. O. p. -11. ^ Vgl. KOELLIKEK, Handb. d. Gewehelehre d. Menschen. 5. Aufl. Leipzig 1867. p. 667 u. £. §109. BAU DEE RETINA. 319 peripherisch gelegenen besitzen. Erst nach dem Rande der macula lutea zu (Fig. 113 C 1) lind eine kleine Strecke darüber hinaus rücken die grofsen übrigens in regelmäfsigen Bogen- linien nach der Peripherie der Netz- '^* ^' haut ausstrahlenden Kreise der / (; „ Zapfenquerschnitte weiter und weiter >?°o'°o pq, auseinander und werden durch immer °o'o'^°°%ö^?o o°°oOo zahlreichere Stäbchenkreise voneinander o M. Schultze, Arch. f. mikrosk. Anat. 1866. Bd. II. p. 175. 320 BAU DER RETINA. § 109. plasinamantel uiuschlosseiie Zellkei'iie aiizusehou. Während al.ier das Zapfenkorn zwischen Zapfeninnenglied und Zapfenfaser eingeschaltet liegt und gleichsam das verdickte Anfangsglied der letzteren darstellt, finden wir das Stäbchenkorn mitten in den Verlauf der Stäbchenfaser eingeschoben. Im Gegensatz zu dem Zapfenkorn, welches immer ein homogenes Aussehen hat, erscheint das Stäbchen- korn an frischen Präjjaraten durch Einlagerung von 1 — 2 hellen Bändern quer- gestreift. ^ Welcher histologische Wert den Zapfen- und Stäbchenkörnern zu- kommt, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Es mufs dahingestellt bleiben, ob sie relativ gleichgültige Reste der embryonalen Zellen darstellen, aus welchen sich Zapfen und Stäbchen nebst ihren faserigen Anhängen entwickelt haben, oder ob sie als eingelagerte bipolare Ganglienzellen mit besonderer nervöser Funktion anzusehen sind. Die erstere Annahme zählt indessen die meisten Anhänger, und daraus erklärt sich, woher zur Zeit die letztgenannten drei Retinaschichten, die Stäbchen und Zapfen, die limitans ext. und die äufseren Körner häufig unter dem einheitlichen Namen der Sehzellenschicht zusammen- gefafst werden. Bei einigen Batrachiern haben Landolt und Emery" in der äufseren Körnerschicht noch besondere „kolbenförmige Körper" beschrieben, stimmen jedoch in der Deutung derselben keineswegs untereinander überein. Ihr erster Entdecker, Landolt, läfst sie mit dem Bindegewebsgerüst der Retina, Emerj mit Upticusfasern in Zusammenhang stehen. Da die fraglichen Gebilde nur bei Batrachiern und auch hier nicht einmal bei allen Spezies vorzukommen scheinen, darf an diesem Orte wohl von einer genaueren Besprechung derselben abgesehen werden. Die Elemente der inneren Körnerschicht (g Fig. 111) sind ebenfalls nicht alle von gleicher Beschaifenheit. Von den äufsersteu Lagen derselben (als ganglion retinae von W. Muei^lkr zusammengefafst) wird an- gegeben, dafs sie kleinen Ganglienzellen entsprechen, einen ungeteilten Fortsatz nach einwärts zur inneren Molekularschicht (A Fig. 111) und einen verästelten nach auswärts zur äufseren Molekularschicht (/'Figur 111) entsenden.^ Dagegen wird die innerste Reihe der inneren Körner dem nächstfolgenden Retinaabschnitt und zwar dem nicht nervösen Schwammgerüst desselben zugerechnet und als Schicht der Spongioblasten unterschieden. Über die chemische Natur der Stäbchen- v;nd Zapfensubstanz ist nichts von Belang ermittelt. Nur soviel hat sich aus gewissen mikrochemischen Reaktionen ergeben, dafs Eiweifskörper sowohl in den Aufseu- als auch in den Innengliedern enthalten, dafs beide Stäbchenteile aber dennoch wesentlich voneinander unterschieden sein müssen. Der Eiweifsgehalt der Stäbchen und Zapfen wird dadurch bewiesen, dafs dieselben sich in allen Teilen nach Behandlung mit Zucker und Schwefelsäure rot färben, die chemische Differenz von Aufsen- und Innenglied dadurch, dafs sich das erstere nach Behandlung mit Überosmiumsäure ähnlich wie Myelin und Fett schnell und stark schwärzt, letzteres nur nach längerer Einwirkung des Reagens bräunt, wohingegen Karminlösungen nur dieses, jenes aber ent- weder gar nicht oder doch nur schwach fingieren. Von besonderem Interesse ist die Beobachtung Bolls, dafs der rote Farbstoff (Sehpurpur, Rhodopsin), welcher die Aufsenglieder der Stäbchen und Zapfen durchdringt, unter dem Einflüsse von Lichtstrahlen auf die frisch herausgenommene Retina verschwindet, während er bei Ausschlufs des Lichtes lange Zeit bestehen bleibt, ferner die Entdeckung Kühnes, dafs während des Lebens der unaufhörliche Verbrauch des Sehpurpurs von dem Pigmentepithel und nicht direkt vom Blute ersetzt wird. Über das chemische Verhalten des Sehpurpurs ist wenig zu sagen. Löslich ist derselbe mit Einschlufs der ihn tragenden Substanz der Stäbchenaufsen- glieder in Galle oder gallensauren Salzen, und wird auch in dieser Form 1 Henle, Nachr. v. d. Ges. d. Wisn. zu Göttingen. 1864. p. 19, p. 30.5. — M. SCHULTZE' Arch. f, mikrosk. Änat. 1866. Bd. II. p. 175. ("218.) 2 Landolt, Arch. f. mikrosk. Avut. 1871. Bd. VII. p. .Sl. — Emery, Ctrlbl. f. d. med. Wis.s. 1877. p. 74. (Referat.) ä G. ScHWALlSE, Lehrb. d. Anat. d. Sinnesorgane. 1883. Bd. I. p. 191. §109. BAU DER RETINA. 321 unter der Einwirkung von Liclit gebleicht. Im Spektroskop absorbiert er alles Liebt vom Gelbgrün bis zum Violett, während er letzteres anscheinend teilweise, Gelb, Orange, Rot aber ganz durchläfst. Spezifische Absorptions- bänder wie das Hämoglobin zeigt er nicht (AV. Kühne'). Es folgt als dritter Hauptabschnitt der Retina derjenige, welchen KoELLiKER als Lage grauer Hirnsubstanz bezeichnet hat, weil er gewisse charakteristische Elemente der letzteren, mehrästige (multipolare) Nerven- zellen führt. Er zerfällt in zwei Unterabteilungen, eine äufsere, welche früher als eine feinkörnige von radialen Easern durchsetzte Molekularmasse beschrieben und daher von Vintschgac strahim molecnlare (h Fig. 111) genannt wurde, und eine innere (i Fig. 111), welche aus dichtgedrängten multipolaren Ganglienzellen (Ganglienzellenschicht, Stratum gangUosinn, (janglion nervi optici) gebildet ist. In bezug auf die histologische Beschaffenheit der ersteren wird seit M. Schu'ltzes Untersuchungen allgemein angenommen, dafs dieselbe eljenso wie die äufsere Zwischenkörnerschicht (/'Fig. 111) aus einem ungemein dichten schwammartigen Netzwerk feinster Fäserchen besteht, von deren Bedeutung weiter unten die Rede sein wird. Die zweite Abteilung setzt sich je nach dem Orte, von welchem der geprüfte Retinaquerschnitt stammt, aus einer ein- oder vielfachen Lage echter Ganglienzellen zusammen, von denen jede mehrere verzweigte Fortsätze von der Beschaffenheit der an den zentralen Nervenzellen beobachteten (s. Bd. I. p. 517) zur vorigen Retiuaschicht entläfst und einen unverzweigten Achsencylinderfortsatz aus der folgenden Retinaschicht in sich aufnimmt." Die Angaben Cortis und Koelukers, dafs ein Teil der verzweigten Fortsätze unter sich direkt anastomisiere und daher zur Verbindung entfernt gelegener Ganglienzellen diene, bedürfen einer erneuten Kontrolle; die Behauptung von Ble.ssig und Lehm.ixx, dafs es in der Retina gar keine multipolaren Ganglien- zellen gebe, braucht heutzutage nicht mehr besonders widerlegt zu werden. Wir kommen zur nächsten Schicht der Retina, der Nervenfaserschicht {Ic Fig. 111).^ Dieselbe wird dadurch gebildet, dafs die im Sehnervenstamme eng zusammengepackten Opticusfasern (vergl. Bd. I. p. 516, Fig. 32) zu kleinen Bündeln vereinigt nach allen Seiten hin divergierend ausstrahlen. Der Stamm des Nerven selbst durchbohrt bekanntlich am hinteren Umfang und nach innen vom Ende der Augenachse die Häute des Augapfels, während seine beiden Scheiden in die feste äufsere Kapsel desselben, die Sclerotica, übergehen. Als kompaktes Bündel treten seine Fasern bis an die innere Netzhautoberfiäche, bilden daselbst einen schwach gewölbten Hügel, den sogenannten colliculus nervi optici, aus dessen Mitte die Netzhautgefäfse heraustreten, beugen sämtlich unter rechtem Winkel nach allen Richtungen um und verlaufen radial in der Ebene der Netzhaut als deren innerste Schicht bis gegen die ora serrata hin. Betrachtet man die Fläche der Netzhaut von innen, so sieht man, dafs die Fasern einen Teil derselben aussparen, indem sie im Bogen um ihn herumlaufen oder an seinem Rande in die tieferen Schichten umbeugen; dieser Teil ist die macida lutea, deren innere Oberfläche also von der Ganglienzellenlage gebildet wird. Man sieht ferner, dafs besonders gegen die ora serrata hin die Fasern nicht eine dicht an der andren, ohne alle Lücken, sondern in Bündeln, die ein sehr spitzwinkeliges Maschennetz bilden, verlaufen. Querschnitte von verschiedenen Gegenden der Retina, die in der Richtung der Meridiane geführt sind, lehren dagegen, dafs die Dicke der Nervenfaserschicht von der Eintrittsstelle des Nerven nach allen Seiten hin gegen die ora serrata beträchtlich abnimmt, immer weniger Fasei-n übereinander verlaufen. Es ver- lieren sich auf ihrem Wege die einzelnen Fasern allmählich, bis endlich in 1 W. KÜHNE, Ctrlbl. f. d. med. Wiss. 1877. p. 193. 2 Vgl. CORTI, Ztschr. f. wiss. Zool. 1854. Bd. V. p. 87. — M. v. VlNTSCHGAU, ^yien. Stzher. Math.-natw. Cl. 1854. Bd. XI. p. 943. — Remak, AUoem. med. Centralztfen, keine Stäbchen führt'', und dafs ferner die Nervenfaserschicht in seinem Be- reiche fehlt, die memhrana Umitans interna also unmittelbar dem Stratum ganfj- lionare aufliegt. Weiterhin im schrägen i^bsturz gegen die fovea centralis erleiden aber auch die übrigen Netzhautschichten mit einziger Ausnahme der durchweg erhalten bleibenden Sehzellenschicht, d. h. der Zapfen samt Umitans ext. und Zapfenkörneru, eine schnelle und vollständige Reduktion, bis endlich am Boden der fovea centralis von ihnen allen nur noch eine schmale Lamelle spongiöser Stützsubstanz geliefert wird, welche sich zwischen die Zapfeukörner und die Umitans interna einschiebt, und von welcher nur ältere Beobachter" angeben, dafs sie noch eine dünne Lage von Ganglienzellen beherberge. Als letztes auszeichnendes Merkmal der macula lutea und fovea centralis ver- dient schliefslich das abweichende Verhalten der Zapfenfasern Erwähnung. Dieselben verlaufen, den vielfach bestätigten Angaben Bergmaxxs gemäfs, in der Sehgrube nicht, wie in den übrigen Netzhautabschnitten, radial, sondern tangential von der Mitte der Fovea nach den Eandteilen derselben [e Fig. 110), was sich einfach aus dem vorhin beschriebenen seitlichen Zurückweichen der anderweitigen, den notwendigen Zielpunkt der Zapfenfasern bildenden Retina- schichten erklärt. Dafs die Zapfen des gelben Fleckes und besonders der Zentralgrube dünner als die peripherischen sind, an Querdurchmesser beinahe i Bergmann, 7.Uchr. f. rat. Med. 1854. X. F. Bd. V. p. 245. — KOELLIKER, Eandh. d. Gewehelehre. 5. Aufl. Leipzig 1867. p. 676. — Yjrl. auch LANDOLT, Ctrlbl. f. ä. med. Wiss. 1871. p. 705. — Kuhnt, Bericht üb. d. 13. VenmimiK d. ophthalmolor]. Gesellitch. Heidelberg 1881. p. 141. - Vgl. auch M. SCHULTZE, Arch. f. mikrosk. Anat. 1866. Bd. II. p. 175. " BlESSIü, De retinae struct. dinquis. microscop. Diss. inaug. Dorpat 1855. ■• Henle, Zt.%chr. J. rat. Med. 1851. N. F. Bd. II. p. 305. ^ H. Muellek u. Koelliker, a. a. O. §109. BAU DER EETIXA. i25 Fig.-114. den Stäbchen gleich kommen, wurde bereits oben betont. Hinzuzufügen wäre hier nur, dafs spätere Beobachter^ die von M. Schultze gezeichnete Einbie- gung der lim. externa (s. Fig. 110) am Grunde der fovea centralis nicht wieder- gefunden haben, sondern die Zapfen geradlinig ohne Anwachsen ihrer Längen dimension über dieselbe hinwegziehen lassen. Rekapitulieren wir kurz, was sich aus dieser ausführlichen Beschreibung der einzelnen Schich- ten für die Konstruktion der Netz- haut im ganzen ergibt. Es be- steht dieselbe aus einem in- differenten Gerüste und dem in dasselbe eingebetteten Percep- tionsendapparat der Ojiticusfasern. Das erstere, A Fig. 114, wird gebildet von den unregelmäfsigen radialen Stützfaseru und ihrem feinen Yerästeiungsnetz und reicht von der iiiemhrana limitans in- terna (Je Fig. 114 Ä) bis zu den Faserkörbchen der Stäbchen und Zapfen (Fig 114 .1 fk).. Der letz- tere (B Fig. 114) besteht aus folgen- den Elementen. Alle in der Nervenfaserschicht verlaufenden Opticusfasern o biegen an irgend einer Stelle der Netzhaut in die nächst äufsere Schicht um, in- serieren sich mindestens zum grofsen Teil in eine der daselbst befindlichen Nervenzellen g und werden hierdurch mit dem aus diesen entspringenden feinen nervösen Plexus der inneren Mole- kularschicht mi in Verbindung ge- bracht. Die varikösen Fibrillen der letzteren begeben sich als- dann zu den inneren Körnern (ik), bilden einen neuen Plexus in der äufseren Zwischenkörnerschicbt am und treten schliefslieh wahr- scheinlich zu mehreren vereinigt in die Bahn der Stäbchen- und Zapfenfasern ff und die Stäbchen- und Zapfeninnenglieder ü. Die grofse Vervielfältigung der Opticus- fasern durch Ganglienzellen der Ganglienzellenschicht und die direkte Ver- flechtung feiner nervöser Fibrillen in den tiefer einwärts gelegenen Schichten der Retina, welche nach dem eben entworfenen Bilde von dem Nerven- faserverlauf in der Netzhaut vorauszusetzen sind, führt notwendig zu der Vorstellung, dafs jede einzelne Faser des Opticusstammes nicht nur mit einem einzigen Stäbchen oder Zapfen, sondern mit mehreren derselben in Beziehung steht, eine Vorstellung, welcher schon deshalb wird Raum gegeben werden müssen, weil die Zahl der im Sehnervenstamme enthaltenen Primitiv- 1 Vgl. Mkrkf.L, G. Schwalbe, Lelirh. d. Anul. d. Sinnexorg. 188:". Bd. I. p. 11". 326 BAU DER RETINA. § 109. röhren (ca. 1 Million nach Kraitse, V- Million nach Salzkk ^i von derjenigen der Stäbchen allein schon nm das hundert- oder gar zweihundertfache übertrotten wird, und welche überdies xDhysiologisch bei der Erklärung der Farbenperception und namentlich der Kontrasterscheinungen kaum entbehrt werden kann. Soweit die histologischen Thatsachen. Es handelt sich jetzt noch um ihre physiologische Interpretation, und diese drängt sich in die Beantwortung der Frage zusammen; in welcher Beziehung stehen die beschrie1)enen mannig- fachen Formelemente der Retina zu den Nerven und zur Funktion der Retina als Perceptionsorgan der Schwingungen des Lichtäthers? Die Antwort kann nur eine Hypothese sein, trotzdem aber bestimmt ausfallen, da im Grunde nur eine einzige Hypothese möglich ist, durch welche die histologischen Thatsachen ohne Zwang den Postulaten der Physiologie angepafst werden können. Das ist die von Koelliker und Mteller aufgestellte Ansicht, dafs die Stäbchen und Zapfen als peripherische Endigungen der Ojiticusfasern, als Organe zu betrachten sind, in welchen die Lichtstrahlen einen unbekannten physikalischen oder chemischen Vorgang hervorrufen, welcher seinerseits erst die Erregung der mit Stäbchen und Zapfen zusammenhängend gedachten Nervenfibrillen bedingt. Die physiologischen Gründe, welche uns unabweisbar zwingen, die Aufnahmeorgane der Lichtwellen aufserhalb der Opticus- fasern zu suchen, die Thatsachen, welche direkt beweisen, dafs diese Auf- nahmeorgane hinter den Opticusfasern in der Retina liege]! müssen, werden uns später beschäftigen. Anatomischerseits mufs schon der nachge- wiesene Zusammenhang der Stäbchen und Zapfen mit Gebilden, welche ganz unverkennbar den Charakter von Achsencylindern tragen, der Stäbchen- und Zapfenfasern, jener Annahme wesentliche Stützen verleihen. Noch gröfsere Wahrscheinlichkeit gewinnt dieselbe aber durch den Farbenwechsel, welchen nach der schönen Entdeckung Bolls gerade die Substanz der Aufsenglieder während ihrer Bestrahlung (s. o. p. 320) wahrnehmen läfst, und wdrd geradezu notwendig, wenn man gewisse anatomische Verhältnisse bei niederen Tierarten (Cephalopoden) in Betracht zieht, bei welchen die Stäbchenschicht nicht wie bei den Menschen und den Wirbeltieren die äufserste , sondern die innerste Lage der Retina bildet'-, und bei welchen nach M. Schultzes^ Untersuchungen einzig und allein die Aufsenglieder dem einfallenden Lichte ausgesetzt sind, alle übrigen Retinaelemente von dunklem Pigment eingehüllt werden und jeder direkten Lichteinwirkung entzogen sind. Darüber zu streiten, ob die Stäbchen und Zapfen nervöser Natur sind oder nicht, erscheint ülierflüssig. Wir haben deshalb auch davon abgesehen, die von Hexle* vorgeschlagene Sonderung der Retina in ein äufseres musivisches, die Stäbchenschicht, membrana Umitans ext. und äufsere Körner umfassendes Blatt, und in ein inneres nervöses, die übrigen Retinaschichten einschliefsendes, zu adoptieren. Die histologische Beziehung der Stäbchen und Zapfen zu echten Achsencylindern, den Stäbchen- und Zapfenfasern, und ihre hypothetische funktionelle Beziehung zu den Nerven- fasern des Opticus rechtfertigt wohl ihre Bezeichnung als Nervenendapparate; allein darin liegt noch keine Notwendigkeit, dafs sie in ihrer histologischen und chemischen Konstitution mit Nervenfasern und Nervenzellen identisch sind. Im Gegenteil ist a priori fast die Annahme notwendig, dafs sie sich von diesen unterscheiden, weil sie eben eine Leistung zu vollführen haben, deren die Nervenelemente selbst unfähig sind, d. i. Lichtwellen in jenen Molekularprozefs, den wir in der leitenden Nervenfaser vorauszusetzen haben, umzuwandeln. An dieser Auffassung würde auch nichts geändert werden dürfen, selbst wenn die Durchschneidung des n. opticus wirklich eine fettige Degeneration nur der eigentlichen Nervenfaserschicht oder, wie W. Krax'se 1 Krause, Handh. d. menschl. Avut. 3. Aufl. Hannover 1876. Bi!. I. p. 167. — SALZKK, Wiener Sfzber. 1881. III. Abth. Bd. LXXXI. p. 7. 2 Vgl. Hensen, Üljer d. Auge einiger Cephalopoden. Leipzig 186-5: Abdruck aus dem XV. Bd. d. ZtscJtr. f. wixs. Zoologie. 3 Vi. SCHULTZE, Arch. f. mikroxk. Anat. 1869. Bd. V. p. 1. ^ IIKNLE, Hundb. d. .ii/.item. Anat. Bd. II. 2. Aufl. 1S73. p. CSl. — Vgl. dasregen aucli JI. SCHULTZE, .irc/i. f. mlkrosk. 'Anat. 1867. Bd. III. p. 378. §109. DIE HORNHAUT. angibt, auch noch der eigentlichen Ganglienzellenschicht zur Folge haben sollte.^ Hierdurch würde nur bewiesen werden, entweder dafs die Ernährung der übrigen Eetinaelemente von andern peripheren Zentren, vielleicht von den inneren oder äulseren Körnern aus, reguliert wird, oder dals die nervösen Elemente der nach auswärts von der Ganglienschicht gelegenen Eetinapartien in gewisser Weise von gemeinen Nervenfasern abweichen, ein Schlufs, welcher offenbar mit der vorhin ausgesprochenen auf physiologische Gründe gestützten Annahme in völligem Einklänge steht. Blessigs Versuche, die Stäbchen und Zapfen der Eetina als Bildungen bindegewebiger Natur zu erweisen, bedürfen bei dem heu- tigen Stande unsrer entwickelungsgeschichtliehen Kenntnisse- keiner besonderen Widerlegung mehr. Von Interesse bleiben jedoch immerhin noch die subtilen mikrochemischen Untersuchungen C. Schmidts^, auf welche Blessig seine De- duktionen zum Teil gestützt hat, und welche lehren, dafs in der Retina ent- schieden keine erhebliche Menge leimgebender Substanz enthalten ist, während sich aus ihr zwei Substanzen gewinnen lassen, welche in ihren Reaktionen weder mit Chondrin, noch mit Knochenleim, noch mit den bekannten Albuminaten völlig übereinstimmen. Ganz im Einklänge scheint damit zu stehen, wenn Ewald und KüHXE^ finden, dafs das Pankreaspepsin bestimmte Gewebszüge in der grauen Substanz der nervösen Zentralorgane und das verwandte Stützwerk der Retina ebensowenig, wie die echten Hornstoffe, aufzulösen vermag, und daraus schliefsen, dafs die ersteren häufig als spongiöses Bindgewebe bezeichneten Bildungen Abkömmlinge epithelialer Natur, Produkte des embryonalen Hornblattes, sind. Zwischen die Aufsenwelt und die Netzhautfläche ist ein System durch- sichtiger Medien. Gewebe und Flüssigkeiten von beträchtlichem, bei den einzelnen Teilen des Systems verschiedenem Brechungsvermögen eingeschoben, durch welche hindurch die Schwingungen des Lichtäthers sich fortpflanzen müssen, um die Retina zu treffen und zu erregen. Es stellt dieses System einen kol- lektiv-dioptrischen Apparat dar, welcher die auf seine Aufsenfläche treffenden jiarallelen oder divergierenden Lichtstrahlen in der Weise bricht, dafs sie in einem Punkte sich vereinigen; dieser Vereiniguugspunkt fällt in die Ebene der Netzliaut oder richtiger, kann durch gewisse Veränderungen iin Apparat immer in diese Ebene gebracht werden. Es besteht der Aj^parat aus der uhrglasförmig gewölbten Hornhaut, dem hinter ilir befindlichen Augen kämm er wa sser. der Kristalllinse und dem Glaskörper; die topographischen Beziehungen dieser Teile zueinander müssen wir als aus der Anatomie völlig bekannt voraus- setzen, wir erörtern hier nur kurz die histologischen Verhältnisse. Die Hornhaut, Cornea, das vorderste stärker _ gewölbte Segment der Sclerotica, besteht aus drei Lagen: 1. einem äufseren Überzug, der conjunctiva corneae, 2. der eigentlichen Hornhaut, 3. einem inneren gegen die Augenkammer gekehrten Überzuge, der DESCEMETschen Haut. Die mittelste Lage bildet die Hauptmasse der Hornhaut; sie gehört in die grofse Klasse von Geweben, welche aus einer Intercellular- oder Grundsubstanz mit eingelagerten Zellen zusammengesetzt sind. Zu einem speziellen Eingehen auf die Konti'o- versen über den feineren Bau der eigentlichen Hornhautsubstanz ist hier nicht der Ort. Wir verweisen dieserhalb auf die unten verzeichneten histologischen, beziehungsweise anatomischen Lehrlnicher und Abhandlungen^, wollen jedoch nicht unterlassen zu bemerken, dafs hinsichtlich derjenigen Punkte, welche 1 Aem. Lehm.\XX, Exper. quaeäcim de nervi optici di-isecti ad retinae texturam vi et effectu. Dissert. iaaug-. Dorpati 1857. — "W. KRAUSE, s. Her. üb. d. Fortschr. d. Anut. u. Physiol. von Hexle u. Meissner. 1S67. p. 132, u. Die Membrana feneafrata der Retina. Leipzig 1868. •'' V G. SCHWALIiE, Arch. f. mikrosk. Avaf. 1870. Bd. VI. p. '261 (317), u. Handh. d. ges. Augen/ieilk., herausgeg. von Graefe u. SäEMISCH. Bd. I. p. -157; Lehrb. d. Anat. d. Sinnesorg. 1883. Bd. I. p. 144. 2 PAI'PENHEIM, Die .ipecielle Gewebel. d. Auge.i. Breslau 1842. p. 183. — BRUECKE, ArcJi. f. Anat. u. r/ii/siol. 1843. p. 345. 1845. p. 130. — HANNOVER, ebenda. 1845. p. 471. — BOWMAN, Lectiires on the parts concerning in the operat. on tlie eye. London 1849. — ViRCHOW, Arrli. f. pafhol. Anat. 1852. Bd. IV. p. 468, 1853. Bd. V. p. 490. — Koelliker, Handh. d. Oeweliel. 5. Aufl. 1867. p. 694. — DONCAN, Nederl. Lancet. III. Ser. 1854. p. 625. — IWANOFF, Arch. f. Ophthalm. 1865. Bd. XI. Abth. 1. p. 155, u. Strickers Handh. d. Lehre v. d. Geweben. Leipzig 1871. p. 1071. — Schwalbe, Handh. d. gen. Au'/enheilk., herausfreg-. von GRAEFE u. SÄEMISCH. Leipzig 1874. Bd. I. p. 400; Lehrb. d. Anat.' d. Sinnesorg. 1883. Bd. I. p. 139. '* GVENSRURG, Unters, üb. d. erste Entioickl. verschied. Geirehe. Breslau 1854. p. 75. ■• Besizelius, Lehrb. d. Chemie, Cibers. von WOEHLER. 1840. 3. Aufl. Bd. IX. p. 525. § 109. DIE IRIS. Mucin^ scheint nur der meuscliliclie Gla&körper zu entbalteii. Scblier&Iicb noch •wenige histologische Erläuterungen über zwei muskuläre Apparate, deren wich- tige physiologische Dienste später genauer zu erörtern sein werden. Vor der Linse ist eine undurchsichtige Kreisseheibe, die Iris" oder Regenbogenhaut, mit einer zentralen runden Üiihung, der Pupille, für den Durchgang der Licht- strahlen ausgespannt. Das Grundgewebe dieser Membran ist ein feinfaseriges Bindgewebe, dessen Bündel sich mannigfach kreuzend, teils radial, teils kreis- förmigverlaufen und zahlreiche, gewöhnlich pigmentierte verästelte Zellen enthalten. Der äufsere Rand (Ciliarrand) der Iris ist der Innenwand des ScHLEMMschen Kanals angewachsen und noch besonders durch ein Netzwerk feiner elastischer Balken {ligamenimn iridis pectinatum) , welche von vorn her als Ausläufer der vieinhrana Descemeti (s. o. p. 329) au ihn herantreten, in seiner Lage gesichert. In physiologischer Beziehung von hoher Wichtigkeit sind die glatten Muskeln der Regenbogenhaut, welche in Gestalt eines ringförmigen Bandes den Pupillar- rand umgürten und bei ihrer Kontraktion die Pupille verengen,* also einen Schliefsmuskel derselben darstellen und daher auch insgesamt als siiliincter 2)upillae bezeichnet wei-den. Die muskulären Faserzellen sind leicht (mitoSVo MoLESCHOTTscher Kalilösung) zu isolieren und gleichen in allen w^esentlichen Punkten den glatten Muskelzellen andrer Körperpartien (s. o. Bd. IL p. 12;. Nur bei Tögeln und beschuppten Reptilien wird der muskuläre Apparat der Iris von echten quergestreiften Muskelbündeln gebildet, wie schon Treviraxts nachgewiesen. Beim Kaninchen biegen an verschiedenen Punkten des äufseren Sphinkterrandes schmale Züge glatter Muskelzellen in die Ciliai^portion des Irisgewebes ab und durchsetzen dieselbe auf kurze Strecken in radiärer Richtung. Das gleiche Verhältnis, aber in auffallend mächtiger Entwickelung zeigt ferner nach dem sehr bemerkenswerten Befunde Kogaxeis^ die Iris der Fischotter. Ebenso gesellen sich auch dem Ringfasersystem des quergestreiften Sphinkters der Vögel und Reptilien sehr gewöhnlich quergestreifte Radiärfasern zu, wobei dieselben entweder den ringförmigen Verlauf der Sphinkterbündel selbst recht- winkelig kreuzen, also noch im Bereiche des Sphinkters selbst angetroffen werden, wie z. B. beim Huhne und bei der Taube, welche Vogelarten einen sehr breiten Sphinkterring besitzen, oder entsprechend dem Verhalten beim Kaninchen und bei der Fischotter auch nur vom äufsersn Sphinkterrande entspringen, wie z. B. bei der Eule, deren Sphinkter ähnlich demjenigen der Säugetiere einen verhältnismäfsig schmalen Ring darstellt. Bei Hunden, Katzen, vielen andern Säugetieren, sowie namentlich auch beim Menschen, ist dagegen von solchen Radiärfasern kaum eine Andeutung vorhanden und welche funktionelle Bedeutung denselben für den Bewegungsmechanismus derjenigen Regenbogenhäute zu- kommt, in welchen ihr Nachweis bisher geglückt ist, Gegenstand des Zweifels. Einige* haben die in Rede stehenden Radiärfasern ohne weiteres als dilaiator pupillae und als Antagonisten des Sphincter pupjillae gedeutet, Gruexhagex hält sie dagegen für geeignet, die Wirkung des kontrahierten Sphinkters durch ihre gleichzeitige Verkürzung zu steigern und erblickt in ihnen demgemäfs lediglich mehr weniger kräftig entwickelte, durch die Verlaufsrichtung aus- gezeichnete Teilstücke eben die.ses Muskels, dessen „Insertionsbündel" in der Regenbogenhaut sie bilden. Die Existenz eines besonderen Erweiterungsmuskels der Pupille, eines dilatator pupillae, wird von Gruenhaüen überhaupt in Abrede gestellt, während Merkel, Iwanoff u. a. einen solchen Muskel nach dem Vorgange Hexles innerhalb einer dünnen Gewebsschicht aufgefunden haben wollen, welche die hintere Irisfläche in ganzer Ausdehnung gleichmäfsig üljer- zieht. Grfexhagex hat demgegenüber indessen seine Anschauungen wiederholt aufrecht erhalten und die muskuläre Natur der spindelförmigen, sehr gewöhnlich * Schwalbe. Hundb. 'd. ges. Augenheilk., herausa-eg. von GkAefe n. SAF.JIISCH. Leipzig 1874. Bd. 1. p. 462. - Treviraxus. renn. Schriften. Göttingen 1820. Bd. III. p. 566. — Ed. Wkukk, R. VVAGXERs HaKdii-rtrb. Art.: Muskelbewegtmg. Bd. III. Abtli. 2. p. 3. . 3 KOGANEi, Arch. f. mikrosk. Anat. 1SS.5. Bd. XXV. p. 1. ' KOELLIKER, Handb. d. Gewebel. etc. — V. EVERSBUSCH, Ztsclir. f. verql. Auqen/ieilk. 1882. p. 49. 334 DIE IRIS. §10y. pigmenthaltigen Zellen in der fraglichen Irisschicht (hintere Begrenzungsschicht) mit gutem Grunde in Abrede gestellt. Die strittigen Elemente sind vielmehr Epithel und entsprechen entwickelungsgeschichtlich dem äulseren Blatte der sekundären Augenblase\ deren hinteres Kugelsegment die Eetina und das Retinapigment liefert. Ganz unrichtig ist es, wenn Merkel und Iw.vxoff be haui^ten, dafs sie den Sphinkterzellen genau gleichen und unmittelbar aus- ihrem radiären Verlauf in den zirkulären der letzteren übergehen, was that- sächlich nur für die abweichend gestalteten und gelagerten, unbeständigen aber wirklich muskulären Radiärzüge der vorhin beschriebenen Art zuzugeben ist. }sach dem Gesagten wäre der anatomische Nachweis eines dUatator inipülae also noch erst zu führen, nicht jedoch bereits geliefert, wie mehrfach irrtümlicher- weise behauptet worden ist.- Die Anordnung der Gefäfse, von denen einige wenige von zirkulärem Verlauf den circulus arterioaus major bilden, die Mehrzahl, Arterien sowohl wie Venen, das Irisgewebe in radiärer Richtung diTi-chsetzt und im Schlielsmuskel der Pupille ein dichtes Gefäfs- netz (circulus arteriosus minor) herstellt, setzen wir als bekannt voraus.^ Die Nerven, welche aus drei verschiedenen Quellen (Sympathicus, Oculo- motorius und Trigeminus) stammen, bilden einen dreifachen dichten Plexus in der Iris, von denen der eine die Faserzellen des Sphinkters, der zweite die Blutgefäfse der Iris, Arterien und Kainllaren, umspinnt, der dritte sich auf der vorderen Irisfläche ausbreitet.* Vorder- und Hinterfläche der Iris tragen einen epithelialen Üljerzug; derjenige der Vorderseite besteht aus sehr dünnen, platten, keineswegs sehr regelmäfsig begrenzten Elementen, wie sie als sogenannte Endothelzellen auch auf der Oberfläche seröser Häute und Höhlen vorkommen, und wird daher ge^yöhnlich als vorderes Endothelhäutchen der Regenbogenhaut beschrieben; der Überzug der Rückseite besteht aus po- lygonalen Zellen, welche von zahlreichen rundlichen (nicht länglichen wie in dem Pigmentepithel der Retina) Pigmentkörnchen erfüllt und deren rund- liche Kerne wegen der ausnehmend starken Pigmentieruug des Protoplasmas nur selten als durchschimmernde lichte Flecke im Zentrum sichtl)ar sind. Dieses Pigmentepithel ist aus dem inneren oder hinteren Blatt der sekundären Augen- Idase abzuleiten^, im Gegensatz zu den vorhin beschriebenen dicht unter ihm gelegenen Spindelzellen des äufseren oder vorderen Augenblasenblattes. Auf der Rückseite der Iris findet sich demnach eine doppelte Lage embryolo- gisch differenter Epithelien. Ein zweiter muskulärer Hilfsapparat im Auge ist das sogenannte liga- mentum ciliare, welches, als Muskel von Bruecke erkannt, den Namen musculua ciliaris oder tensor chorioideae erhielt. Früher wurden die faserähnlichen Ele- mente, die dasselbe zusammensetzen, sehr verschieden gedeutet, von manchen für Nerven, später für Sehneu oder Bindegewebe gehalten; jetzt ist ausgemacht, dafs es von einem aufserordentlich dichten Kapillarnetz umstrickte, von Nerven vielfach durchzogene kontraktile Faserzellen sind, welche sich von denen, andrer Orte nur durch ihre geringere Länge, aber gröfsere Breite aus- zeichnen. Was Lage und Verlauf dieser Muskelfasern Ijetrifft, so glaubte man ' SCHW.iLUE, hchrh.d. Anat. d. Sinnesora. 1883. Bd. I. p. 207. — KOGAXKi, a. a. O. - KOELLIKER, Ilandb. d. {rfwebelehre, sowohl in seinen frnheren Aufl. als aiicli in der letzten b. 1SG7. p. 662. — Gruenhauen, Ctrlhl. f. d. med. Wlts. 1863. No. 37; Arch. f. path. Anat. 186-i. Bd. XXX. p. 4SI; Ztschr. f. rat. Med. 1866. III. R. Bd. XXVIII. p. 176, ii. ebenda. ISÖil. Bd. XXXVI. p. 40: Arch. f. mikro-ik. Anat. 1873. Bd. IX. p. 286 u. p. 726. — HEXI.E, Handl). d. .ti/.item. Anat. Bd. II. 2. Au«, p. 655 u. fg-. — MERKEL, Zl.ic/ir. f. rat. Med. III. R. 1867. Bd. XXXI. p. 136, u. 1868. Bd. XXXIV. p. 83; Die Muskulatur d. men.schl. Iri.i. Rostock 1873. — IWANOFF, Strickers Bundh. d. Geweitet. 1870. p. 1045, u. JTandl). d. rjes. Aur/enlieilk., hernusge Helmholtz, a. a. O. p. 42, 83 u. 111. §112. DAS REDUZIERTE AUGE. 359 Akkommodation für Ferne. 1 Nähe. A n g e n o m m m e 11 : Krümmungsradius der Hornliaut „ der vorderen Linsenfläclie . ,, der liinteren Linsenfiäche. , Ort der vorderen Linsenfläche Ort der hinteren Linsenfläche Berechnet: Yordere Brennweite der Hornhaut Hintere „ ,, „ Brennweite der Linse Abstand des vorderen Hauptpunktes der Linse von der vorderen Fläche Abstand des hinteren von der hinteren Abstand der beiden Hauptpunkte der Linse voneinander . . Hintere Brennweite des Auges Vordere „ „ ,, Ort des vorderen Brennpunktes Ort des ersten Hauptpunktes Ort des zweiten Hauptpunktes Ort des ersten Knotenpunktes . Ort des zweiten Knotenpunktes Ort des hinteren Brennpunktes 8,0 10,0 6,0 3,6 7,2 23,692 31,692 43,707 2,1073 1,2614 0.2283 19,875 14,858 -12,918 1,9403 2,3563 6,957 7,373 22,261 6,0 5,5 3,2 7,2 23,692 31,692 33,785 1,9745 1,8100 0,2155 17,756 13,274 -11,241 2,0330 2,4919 6,515 6,974 20,248 Die Bedeutung und Entstehung der in dieser Tabelle ent- haltenen Veränderungen der optischen Konstanten wird bei der Lehre von der Akkommodation auseinandergesetzt werden. Eine sehr vollständige Bestimmung sämtlicher optischen Konstanten und Kardinalpunkte beim Nahe- und Fernsehen hat Knapp ^ mitgeteilt. Wir ver- weisen auf seine tabellarische Zusammenstellung der erhaltenen Werte, weil dieselben eine Einsicht in die Grenzen der hierbei vorkommenden individuellen Schwankungen gewähren. Noch haben wir einen für spätere Betrachtungen wichtigen Punkt zu erörtern. Die Stelle des deutlichsten Sehens, auf welche wir durch Bewegungen des Auges jedesmal das Bild eines fixierten leuchtenden Punktes bringen, ist der Mittelpunkt des sogenannten gelben Flecks der Netzhaut. Früher nahm man allgemein an, dais derselbe am Ende der optischen Achse des Auges, FF^ der Fig. 123, also in F* liege. Nach Helmholtz"-* ist dies nicht der Fall; es liegt vielmehr die Stelle des deutlichsten Sehens etwas nach aufsen und meist etwas nach unten von dem hinteren Ende der Augenachse. Fixieren wir einen leuchtenden Punkt, so bilden demnach die von demselben zum vorderen Knotenpunkt und vom •1 Knapp, Arch. f. Opthalm. 1860. Bd. VI. Abth. 2. p. 40. 2 Helmholtz, a. a. O. p. 70. 360 KATOPTRIK DES AUGES. § 113. hinteren Knotenpunkt zum gelben Fleck gezogenen üichtungslinien einen AVinkel mit der Augenachse. Das vor der Hornliaut befindliche Stück einer vorderen Richtungslinie und das im Glaskörper liegende- Stück einer hinteren gehören dem Wege eines Lichtstrahls an, den man Richtungsstrahl nennt. Helmiioltz nennt denjenigen liichtungsstrahl, welcher die Stelle des deutlichsten Sehens trifft, Gesichtslinie; diese liegt demnach vor dem Auge etwas nach innen und meist nach unten von der Augenachse. Volkmann' hat einen ingeniösen Versuch gemacht, die Lage des Knoten- punktes im menschlichen Auge direkt zu bestimmen. Bei Personen mit vor- si^ringenden Augen und dünner durchscheinender Sclerotica kann man durch letztere hindurch das Netzhautbildchen einer Flamme erkennen. Lälst man das Auge möglichst stark nach aufsen wenden und bringt wiederum nach auswärts von der Augenachse unter einem Winkel von 80 — 85" in derselben eine Lichtflamme an, so sieht man das Bild der letzteren in der Gegend des iunern Augenwinkels durch die Sclerotica hindurchschimmern. Volkmann mafs mit dem Zirkel den Abstand des Bildchens vom Rande der L-is, be- stimmte die Entfernung desselben vom Scheitelpunkte der Hornhaut, zeichnete- sodann (nach Krauses Angaben über die Durchmesserverhältnisse des Auges)- einen horizontalen Durchschnitt des Auges und trug in die Zeichnung den Bildpunkt und die Richtungslinie ein; wo diese die Augenachse schnitt, war der gesuchte Knotenpunkt. Ln mittel aus 5 Beobachtungen wurde derselbe- 8,39 mm hinter dem Scheitelpunkte der Cornea gefunden, also, wie ein Ver- gleich mit der vorstehenden Tabelle lehrt, zu grofs. Der Knotenpunkt kann, nicht hinter dem Krümmungsmittelpunkt der Hornhaut liegen, was nach Volkmann der Fall sein würde. Der Grund der Abweichung liegt nach Hklm- HOLTz'-' darin, dafs Volkmann die Gesichtslinie für identisch mit der Augen- achse annimmt, und dafs in seinem Versuche die Lichtstrahlen die brechenden Flächen unter zu grofsem Winkel treffen, als dafs die auf die Lage der Haupt- und Knotenpunkte bezüglichen Sätze für sie noch strenge Gültigkeit haben könnten. Unabhängig von der anatomischen Bildung des Auges, also allgemein anwendbar, ist die von J. Bernstein^ eingeführte Methode den Ort des zweiten Knotenpunktes im Auge des lebenden Menschen zu bestimmen. Wegen ihrer Beschreibung mufs auf die Originalabhandlung verwiesen werden; die für Bernsteins rechtes Auge in drei Versuchsreihen ermittelten Werte variieren zwischen 7,21 mm, 7,22 und 7,38 mm. Spiegelung der Lichtstrahlen im Auge, Katoptrik des Auges. Es ist aus der Physik bekannt, dafs beim Übergange- von Lichtstrahlen aus einem Medium in ein andres immer nur ein gröfserer oder geringerer Teil derselben in das neue Medium eintritt,. ein Teil dagegen zurückgeworfen wird. Es ist ferner bekannt, dafs,. wenn der Winkel, welchen die einfallenden Strahlen mit dem Lote bilden, eine bestimmte Gröfse übersteigt, die sogenannte totale Reflexion eintritt, d. h. alle Lichtstrahlen zurückgeworfen werden^ keiner von ihnen in das zweite Medium übergeht. Nach diesert » Volkmann, in R. AVAGNERs Handwürtb. d. Phmiol. Art. Sehen. Bd. IH. 1. p. 28G. 2 Helmholtz, a. a. O. p. 85. 3 J. Bernstein, Monatsber. d. kgl. Akad. d. Wiss. zu Berlin. 1876. p. 509. § 113. KATOPTEIK DES AUGES. 361 pliYsikalisc]ien Tliatsachen ist von vorulierein zu envarten, clafs die StL"alilen, welche das dioptrische System des Auges durchsetzen, au den Grenzflächeu der einzelneu Medien eine teilweise Reflexiou erfahreu Averden; diese Eellexiou ist leicht zu bestätigen. Es findet eine deutliche Spiegelung an drei Flächen des diop- trischen Apparates statt, an der Yorderfläche der Cornea, an der Vorderfläche der Linse und an deren Hinteriläche ; an allen drei Stellen bedingt die gekrümmte Oberflächenform eine solche Reflexion, dafs ein verkleinertes reelles oder virtuelles, aufrechtes oder ver- kehrtes Bild des leuchtenden Objektes, von welchem die auffallen- den Strahlen ausgingen, entsteht. Jeden Augenblick kann man sich von dem Vorhandensein des vordersten dieser Bilder, des Spiegel- bildes der Cornea, überzeugen, das kleine aufrechte Bild des hellen Fensters oder einer Kerzenflamme vrahrnehmen. Bei genauer Be- obachtung und unter den geeigneten Bedingungen, wie sie der so- genannte PuRKiNJE-SANSONsche Versuch voraussetzt, gibt eine Kerzenflamme drei deutliche Bilder von der Lage und Be- schaffenheit, wie sie. Fig. 124 darstellt. Man läfst das zu beobach- tende Auge in einem dunklen Zimmer einen bestimmten Punkt fixieren, stellt eine Lampe seitlich von der p.„ ^.,4 Gesichtslinie auf' gleicher Höhe mit dem Auge auf und blickt von der andren Seite der Gesichtslinie gegen dasselbe, indem man sein eignes Auge ebenfalls in gleiche Höhe mit dem zu beobachtenden und der Lampe bringt. Am Bande der Pupille sieht man alsdann ein deutliches aufrechtes Flammenbild a; dies ist das von der Vorderfläche der Cornea gespiegelte. Da dieselbe einen konvexen Spiegel darstellt, mul's sie nach bekannten katoptrischen Gesetzen ein verkleinertes, aufrechtes, virtuelles, also hinter der Spiegelfläche liegendes Bild erzeugen. In der Mitte der Pupille sieht man ein zweites schwaches und nicht scharf begrenztes, aber ebenfalls aufrechtes Flammenbild b, wel- ches von allen drei Bildern am weitesten nach hinten liegend er- scheint. Es rührt dasselbe von der Vorderfläche der Linse her, welche ebenfalls als Konvexspiegel ein aufrechtes virtuelles Bild liefern mufs. Das dritte, kleinste, am a gegenüberliegenden Bande der Pupille wahrnehmbare Bild c ist ein scharfes verkehrtes Bild der Flamme; dieses rührt von der Hinterfläche der Linse (oder der Vorderfläche des Glaskörpers) her, welche als Konkav- spiegel von einem jenseits des Krümmuugsmittelpunktes befindlichen Objekt ein verkleinertes, umgekehrtes, reelles, vor dem Spiegel lie- gendes Bild entwerfen mufs. Wir bemerken hier vorläufig, dafs die oben gezeichnete Lage der Bilder für das ruhende auf die Ferne akkommodierte Auge gilt; wie sich die Lage der Bilder beim ^02 KATOPTRIK DES AUGES. §113. Naheselien ändert, werden wir nuten zeigen. Ancli an der Hiuter- fläclie der Cornea wird Licht wie au der Vorderfläche reflektiert und notwendig ebeuso ein aufrechtes virtuelles Bild entworfen. Dasselbe liegt hinter dem der Yorderfläche, erscheint dem letzteren aber meist bis zur teilweisen Deckung angeschmiegt und ist stets weit matter als dieses, so dafs es dem Blick leicht entgeht. Die Spiegelung der Liobtstrahlen von der Retina ver- dient in zweierlei Beziehung unsre volle Aufmerksamkeit, einmal, weil sie an die Anwesenheit ganz bestimmter Retinaelemente ge- bunden ist und auf eine spezifische Funktion derselben als katop- trische Apparate hinzuweisen scheint, zweitens weil auf der Wahrnehmbarmachung der von der Netzhaut zurückgeworfenen Strahlen die Dienste eines für Physiologie und Pathologie gleich wichtigen Instrumentes, des sogenannten Augenspiegels, beruhen. Betrachten wir die Augen andrer, so erscheint uns deren Hinter- grund im Binnenraum der Pupille in der Regel vollkommen dunkel, selbst bei hellster Sonnen- oder Kerzenbeleuchtung als ein schwarzes Feld, es dringt kein einziger gespiegelter Strahl aus dem Hinter- grund des beobachteten Auges in das unsrige. Nur unter ganz be- stimmten, sogleich zu erörternden Bedingungen gelingt es, den Augengrund in rötlichem Schein leuchten zu sehen, wie schon früher zufällig, von Brüecke zuerst mit gröfserer Aufmerksamkeit, beobachtet worden ist. Bei einer grofsen Anzahl von Tieren da- gegen sieht man sehr häufig, und zwar besonders deutlich bei ge- ringerer Helligkeit, den Augengrund auf das glänzendste erleuchtet, abwechselnd gelb, grünlich, bläulich oder auch rot. Die gesetz- mäfsigen Ursachen der Dunkelheit wie des Leuchtens ergeben sich aus folgenden Betrachtungen.^ Nehmen wir an, ein leuchtender Punkt befinde sich in solcher Entfernung vom Auge, dafs bei entsprechendem Adaptationszustand desselben ein punktförmiges Bild des Punktes gerade auf die per- cipierende Netzhautfläche fällt. Verhielte sich die Netzhautfläche wie die matte G-lastafel in der camera ohsciira, welche vermöge ihrer unzähligen Erhebungen die empfangenen zum Bild vereinigten Lichtstrahlen nach allen Seiten hin reflektiert, so würden wir den Bildpnnkt ebenso von allen Seiten her sehen können, wie das Bild auf der Glasplatte. Allein die Netzhaut ist trotz ihrer komplizierten Zusammensetzung aus verschiedenen Formelementen in solchem Grade durchsichtig, dafs fast alle Strahlen durch sie hindurchgehen und wenige nur gespiegelt werden. Die Notwendigkeit dieser Ein- richtung- für das deutliche Sehen liesrt auf der Hand. Würden die 1 Vg-l. E. Brukcke, Ai-ch. f. Anat. u. Fhysiol. 1844. p. 444; 1845. p. 387; 1847. p. 22.5 u. 479. — HeljiHOLTZ, Beschr. c. Aufienxpiefjels z. Unterst, d. Net:/ia;it im lebenden Auge. Beriin 1S.51; Arch. /. p!ii/siol. milk. Bd. XL p. 827; Eandh. d. physiol. Optik, p. 164. — RUETK, Der Augen- spiegeln, d. Optometer. Göttingen 1852. — COCCIITS, Über d. Anvend. d. Augenspiegels nebst Anga'je eines neuen Instrumentes. Leipzig 1853. § 113. SPIEGELUNG IX DER NETZHAUT. 36?> Strahlen des Bildpunktes uacli allen Seiten liin reflektiert, so würden sie die ganze ]S[etzhautfläclie treffen nnd daher eine allgemeine Liclit- empfiudnng veranlassen, infolge dcoren das ganze Selifeld erleuchtet, nicht aher blofs ein dem Objektpnnkt entsprechender heller Punkt im dunklen Sehfeld erscheinen würde. Die durch die B.etina hin- durchgegangenen Lichtstrahlen treffen auf die Chorioidea und wer- den hier durch die dichte schwarze Pigmentlage, welche deren Innen- seite auskleidet, zum gröfsten Teile absorbiert, um so mehr natürlich, je schwärzer die Fläche ist. Eine absolut schwarze Fläche, welche alles Licht absorbierte, existiert aber nicht, es mufs demnach auch von der Chorioidea immer noch ein geriuger Teil der sie treffenden Lichtstrahlen zurückgeworfen, gespiegelt werden. Diese Spiegelung ist aber keine unregelmäfsige, allseitige, wie von einer matten Fläche, sondern eine so regelmäfsige, dafs von allen in einem Xetzhautpunkt vereinigten Strahlen eines leuchtenden Objektpunkts derjenige Teil derselben, welcher zurückgeworfen wird, (zum gröfsten Teil) auf dem gleichen Wege, auf dem er gekommen, auch zurück, aus der Pupille heraus wieder nach dem leuchtenden Objektpunkt geht. Dies ist das wichtigste Grundgesetz der Spiegelung in der Retina oder richtiger von der Chorioidea ans. Der Bildpunkt auf der Retina verhält sich bei dieser Spiegelung ganz als konjugierter Yereinigungspunkt zum betreffenden Objektpunkt. Die von ersterem ausgehenden gespiegelten homozentrischen Strahlen vereinigen sich wieder in letzterem, indem jeder gespiegelte Strahl dieselben Brechungen in den dioptrischen Medien auf seinem Rückwege erfährt, die er bei seinem Eindringen von aufsen auf dem Hinwege erlitten hat; das Spiegelbild des Retinabildes fällt also in den Objektpunkt. Es leuchtet ein, dafs wir dieses Spiegelbild mit unserm Auge, welches sich seitwärts vom Objekt- punkt befindet, nicht sehen könüen. Die ITrsache dieser regel- mäfsigen Reflexion hat Bruecke mit feinem Scharfblick aus der histologischen Beschaffenheit der Retina zu erschliefsen versucht und auch völlig ausreichend diu'ch die pallisadenartige Anordnung und die optischen Eigenschaften der Stäbchen- und Zapfenschicht erklärt. Nur insofern dürfte eine im allgemeinen nicht einmal sehr wesentliche Änderuug seiner Deduktionen durch den Fortschritt unsrer Kenntnisse nötig geworden sein, als die Definition, welche er zur Zeit seiner ersten Publikation von einem Retinastäbchen ge- geben hat und bei dem damaligen Standpunkte des histologischen Wissens geben mufste, zur Zeit nicht mehr auf das Stäbchen als Ganzes, sondern nur auf einen Teil desselben, das sogenannte Aufsen- glied, pafst. Von diesem das Prinzip der BEUECKEschen Theorie nicht im entferntesten berührenden Umstand abgesehen, werden wir dem ersten Vordersatz derselben, dafs jeder Lichtstrahl, welcher von vorn her ins Auge fällt und die innersten Schichten der Retina durchdrungen hat, schliefslich in ein aus stark lichtbrechender Sub- 364 SPIEGELUNG IN DER NETZHAUT. § HS. stanz gebildetes, in eine weniger stark brecliende Kittmasse ein- gebettetes Prisma eintritt, auch hente noch unbedingt beipflicbten und den daraus abgeleiteten Folgerungen zustimmen müssen Aus dem Gange der Licbtstrablen und der senkrecliten Stellung der Prismen, also der Stäbeben- und Zapfenaulseuglieder, ergibt sieb, aber unmittelbar, dafs die ersteren sieb entweder in der Acbse eines der letzteren fortpflanzen, oder die Seitenwand, mit welcber es an seinen Nacbbar grenzt und welcbe von einer dünnen Lage scbwacb brechender Substanz umhüllt wird, unter einem sehr beträcbtlicben Einfallswinkel treffen werden. Dieser Einfallswinkel wird unter allen Umständen so grofs sein, dafs der Strahl in die schwach- brechende Aufsenschicht nicht eindringen kann, sondern eine totale Reflexion erleiden mufs. Der total reflektierte Strahl trifi't an der Basis des Stäbchens die Chorioidea, wird hier, wenn dieselbe der Pigmentlage nicht ermangelt, zum gröfsten Teil absorbiert; der zu- rückgeworfene Teil aber trifft die andre Seitenwand wieder unter so grofsem Einfallsv/inkel, dals abermals totale Reflexion eintritt, mithin der reflektierte Strahl nach derselben Netzhautstelle zurück- geschickt wird, durch welche er eingetreten war. Einen ganz be- sonderen Umfang wird diese katoptrische Punktion der Stäbchen natürlich erlangen müssen, wo die Chorioidea keine schwarze Pig- mentlage hat, also bei den Tieren, deren Augen mit einem soge- nannten Tapetum versehen sind, einem hellen metallisch glänzenden, je nach der Tierart verschieden gefärbten Fleck auf der Innenseite der Chorioidea. Denn auf diesem Tapetum findet so gut wie keine Absorption der Lichtstrahlen statt; fast alle werden mit der Farbe, welche das Tapetum selbst an der getroffenen Stelle hat, zurück- geworfen. Selbstverständlich verleiht der von J\L Schultze geführte Nachweis, dafs die Stäbchenaufsenglieder aller Tiere aus übereinan- dergeschichteten durch eine zarte Kittsubstanz untereinander ver- klebten Plättchen aufgebaut sind, der BRUECKEschen Theorie neue und Avichtige Unterstützung. Denn offenbar ist nach physikalischen Prinzipien nichts geeigneter das Beflexionsvermögen eines durch- sichtigen Körpers zu steigern, als wenn man ihn in lauter kleine durch dünne Lagen schwächer brechender Substanz getrennte Teile zerlegt und dadurch die Zahl der reflektierenden Flächen steigert. Den Aufsengliedern der Stäbchen eine ausschliefslich katoptrische Bedeutung zuzuerkennen, wie Bruecke ursprünglich wollte, war in- dessen nur so lange statthaft, als man einen Zusammenhang zwischen Stäbchen und Opticusfasern mit Grund in Abrede stellen zu müssen glaubte, kann aber den heutigen histologischen Errungenschaften und ganz besonders den Beobachtungen Bolls und KtJiiNEs gegen- über, welche eine chemische Veränderung im Stäbchenaufsengliede infolge seiner Durchleuchtung dargethan haben, nicht mehr zu- lässig erscheinen. Vielmehr ist kaum zu bezweifeln , dafs den Stäbchenaufsengliedern und wegen ihrer grofsen morphologischen §113. SPIEGELUNG IN DEE NETZHAUT. 365 Fig. 125. Verwandtscliaft aucla eleu Zapfenaufsengliedern neben ihrer Bedeu- tung als katoptrische Apparate, kraft deren sie die Liclitstralilen isoliert erhalten und ein Übertreten soatoM der reflektierten als auch der direkten in Nachbarstäbchen verhindern, aufserdem noch das Vermögen innewohnt, als Urasetzungsorgan der Ätherschwingungen in einen Nervenreiz zu dienen. Der Satz, dafs alles Licht, welches von der ßetina gespiegelt wird, auf demselben Wege, auf welchem es gekommen, zurückgeht, ist nicht in voller Strenge gültig. Wird ein sehr helles- Bild, einer Flamme z. B., auf der Netzhaut entworfen, so wird von demselben ein wenn auch sehr kleiner Teil Licht diffus zerstreut. Den Beweis hierfür werden wir bei der Lehre von den eutoptischen Wahrnehmungen geben. Kehren wir jetzt zu imsrer Betrachtung zu- rück. Wir haben gesehen, dafs bei richtiger Akkommodation des Auges B Fig. 125 für den Leuchtpunkt A die Strahlen des letzteren im Punkt a der Netzhaut vereinigt, die gespiegelten aber in A wieder gesammelt werden, daher nicht in das beob- achtende Auge C gelangen können, diesem also die Netzhaut von B dunkel erscheint. Denken wir uns nun den Akkommodationszustand des Auges un- verändert, den Leuchtpunkt aber nach A' vorgerückt, so rückt der Vereinigungspunkt der von A' in das Auge fallenden Strahlen nach a' , fällt also hinter die Netzhaut; auf der Netzhaut selbst entsteht ein Zerstreuungskreis hc. Das Bild dieses Zerstreuungs- kreises Ijc mufs notwendig, da das Auge für A akkommodiert geblieben ist, nach A fallen, und hier einen Kreis von dem Durchmesser de bilden. Be- findet sich das beobachtende Auge mit seiner Pupille innerhalb dieses Kreises, so wird es einen Teil der von />c kommenden Lichtstrahlen auffangen, mithin den Grund des Aus-es B erleuchtet sehen. Unter diesen Bedino-ung-en beobachtete Bruecke das Leuchten des menschlichen Auges ; auf dieses Prinzip hat Helmholtz seinen „einfachsten Augenspiegel" begründet. Helmholtz sieht an einer Lichtflamme, welche zwischen seinem und dem zu beobachtenden " \W^ Auge sich befindet, deren direkte Strahlen aber v durch einen Schirm vom Auge des Beobachters ab- '^ . gehalten werden, vorbei in das zu beobachtende Auge, welches sich für einen Gegenstand hinter demBeobachter akkommodiert. Da nun die Stärke des Augenleuchtens wächst, je entfernter von der Flamme die Objekte liegen, auf welche sich das Auge akkommodiert, 366 AUGENSPIEGEL. § n}). Fig. 126. uuter gewüliulicheu Verhältnissen aber diese Entfernung nicht liin- reicheud grofs gemaclit werden kann, so bringt Helmholtz vor das zu untersuchende Auge eine Konvexlinse, durch welche es weitsichtig gemacht wird. Es kann dann das Auge kein deutliches Flammen- bild auf seiner Netzhaut bilden, sondern nur einen hellen Zerstreu- ungskreis. Die von diesem gespiegelten Strahlen werden von der Konvexlinse vor dem Auge gesammelt, in ihrem Brennpunkt, wenn sie parallel austraten. Auf dieses von der Linse entworfene ver- gröfserte Bild des Zerstreuungskreises akkommodiert der Beobachter sein Auge und erhält dann ein deutliches umgekehrtes Bild der erleuchteten Netzhautstellen. Es gibt indessen nocli andre Methoden, die von der Retina gespiegelten Strahlen einem andren Auge sichtbar zu machen. Der ursprünglich von Helm- holtz konstruierte Augenspiegel beruht auf folgendem Prinzip. Vor dem zu beob- achtenden Auge befindet sich ein System übereinander geschichteter Glasplatten, welche C (Fig. 126) im Durchschnitt zeigt, deren Ebene so schräg gegen das Auge B geneigt ist, dafs die von der Lichtquelle A ausgehen- den Strahlen zum Teil nach der Pupille von B reflektiert werden. Vv'^erden diese Strahlen auf der Netzhaut zu einem Punkt a vereinigt, so gehen die gespiegelten Strahlen auf dem- selben Wege, auf dem sie gekommen sind, >tK zurück und treffen daher die Glasplatten ^ *- ^'^ wieder an denselben Punkten, von denen sie in das Auge geworfen wurden. Ein Teil derselben wird von hier aus nach Ä zurück- geworfen, ein andrer Teil geht indessen durch die Glasplatten hindurch. Stellt sich das Auge des Beobachters E in die Richtung dieser Strahlen, so sieht es den Augen- gTund -von B erleuchtet. Das Hohlglas D dient dazu, die durch die Glasplatten getretenen konvergierenden Strahlen divergent oder parallel, wie 'in der Figur angedeutet, zu machen, so dafs das Auge des Beobachters sie auf seiner eignen Netzhaut zur Ver- einigung bringen, .mithin ein deutliches i H , virtuelles, aufrechtes Bild des erleuch- j j teten Teiles der Netzhaut von B erhalten ' { ! kann. JEs gewährt dieser ursprüngliche i ' ■ HELMHOLTZsche Spiegel den für physiologische i j Untersuchungen sehr wesentlichen Vorteil, , 1 | dafs man rmit demselben das Netzhaut-. j | j bild der Flamme, seine Lage, sowie: j j | seine Veränderung bei der Akk'ommo- /■' '"x dation auf nähere oder 'fernei'e Objekte /'^^ Ji^ "^ genau beobachten kann, was; -.bei >der vox-her erläuterten Methode, bei welcher ja die Bildung eines möglichst grofsen Zertreuungskreises des Flammenbildes Bedingung war, unmöglich ist. Ist das zu untersuchende Auge für das Spiegelbild der Flamme scharf adaptiert, so sieht man ein scharfes Bild derselben auf der Netzhaut. Der §113 AUGENSPIEGEL. 367 übrige Teil der Netzhaut erscheint aber nicht dunkel, sondern leuchtet mehr weniger stark rötlich; diese Erleuchtung rührt von der Spiegelung diffusen Lichtes her, welches neben dem zum Bilde vereinigten auf die Netzhaut fällt, z. B. vom erleuchteten Gesicht des Beobachters. Es geht auch durch die nicht ganz undurchsichtige Sclerotica eine geringe Menge Licht hindurch, welches, da es weder die Stäbchen unter solchen Verhältnissen trifft, dafs es auf den- selben Weg zurückgeworfen wird, noch durch das dioptrische System in diese Verhältnisse gebracht werden kann, diffus gespiegelt, zum Teil auch durch die Pupille austritt und so zum Ai;ge des Beobachters gelangen kann. Nach einem dritten Prinzip sind die Augenspiegel von Ruete und l'occius und eine grofse Anzahl von Moclifikationen dieser Instrumente, deren Urheber wir hier nicht alle aufzählen können, konstruiert. Der wesentliche Teil des RuETEschen Instrumentes ist ein Hohlspiegel mit kleiner zentraler Öffnung, bei dem Instrument von Coccirrs ein kleiner in der Mitte durchbohrter Planspiegel. Es wird derselbe gegen eine neben dem zu beobachtenden Auge befindliche Lichtquelle so gerichtet, dafs deren Strahlen von der Spiegelfläche in das zu beobachtende Auge geworfen werden, während der Beobachter durch die zen- trale Öffnung im Spiegel nach demselben blickt. Eine vor das beleuchtete Auge gehaltene Konvexlinse leistet hierbei dieselben Dienste, welche wir oben bei dem einfachen ÜELMHOLTZschen Verfahren angegeben haben, nur mit dem LTnterschied, dafs das zur Wahrnehmung gelangende Bild der Netzhaut ein reelles umgekehrtes ist. Cocciu.s konzentriert das Licht durch eine zwischen Flamme und Spiegel eingeschobene Sammellinse. Es kann hier nicht unsre Aufgabe sein, uns aiif eine ausführliche Kritik des Konstruktionsprinzips, der Leistungen, Vorzüge und Mängel der verschiedenen Instrumente einzulassen. Eine vollständige Entwickelung der mathematischen Theorie der Augenspiegel gibt Helmholtz. Eine Übersicht der bisher bekannt gewordenen Arten des Augenspiegels ist in den gröfseren Handbüchern der Ophthalmologie zu suchen.^ Wir gedenken hier nur noch der sinnreichen Idee von Coccius'', aus den Gesetzen der Netzhautspiegelung eine Methode abzuleiten, welche die Selbstbeobachtung des eignen Augenhintergrundes gestattet, und eines von E. Bekthold^ angegebenen Verfahrens, zwei gleichzeitigen Beobachtern das Netzhautbild einer dritten Person wahrnehmbar zu machen. Das von Coccius ersonnene, Autophthalmoskop benannte Instrument besteht aus einer innen geschwärzten Röhre, deren eines Ende __ durch eine Konvexlinse, das andre durch einen Planspiegel mit zentraler Öffnung und nach aufsen gev/endeter Spiegelfläche geschlossen ist. Hält man dasselbe, während man das Auge dicht vor die Spiegelfläche bringt, so gegen eine Lichtflamme, dafs deren Strahlen die Eintrittsfläche des Sehnerven beleuchten, und richtet die Sehachse gegen den Rand der Öffnung in den Spiegel, so können die von der beleuchteten Netzhautstelle gespiegelten Strahlen von dem Spiegel in das Auge und zwar auf dessen gelben Fleck zurückgeworfen werden. Ein andres Autophthal- moskop hat Heyjiaxn konstruiert; dasselbe ist so eingerichtet, dafs die von der Netzhaut des einen, z. B. des linken Auges gespiegelten Strahlen mit Hilfe eines Spiegels v^nd eines Prismas in das rechte Auge geworfen werden, so dafs letzteres die erleuchtete Netzhaut des linken (im umgekehrten Bilde) wahr- nimmt. Das HEYMAXxsche Instrument hat vor dem Cocciusschen besonders den Vorteil, dafs man mit demselben auch die Stelle des direkten Sehens beobachten kann, was bei letzterem unmöglich ist. Bertholus Verfahren, die Retina eines dritten zwei gleichzeitigen Beobachtern zugänglich zu machen, besteht einfach darin, die seitliche Flamme, deren gespiegelte Strahlen jeder einzelne Beobachter bedarf, um den Augenhintergrund des untersuchten Auges zu erhellen, durch einen zweiten Reflexionsspiegel zu ersetzen, welcher erst • SXELLEN u. LAsnOLT. Hundh. d. rjpxurnten Augenheilk., herauseeg. v. A. GRAEFE u. Th. SAEMISCH. 1874. Bd. III. 1. Thl. p. 141 u.' fg. - COCCIUS a. a. O. 3 E. Berthold, Berl. klin. Woc/temchr. 1S75. I^o. 25. 368 AUGENSPIEGEL § Ho. seinerseits von einer intensiven Lichtquelle beleuclitet wird und deren Strahlen dem ersten Spiegel übermittelt. Ebenso wie der erste Beobachter das Bild des Augenhintergrundes nur darum erblickt, weil sein eignes Auge die erleuchten- den Strahlen liefert und durch Spiegelung zurückempfängt, aus dem gleichen Grunde mufs auch der zweite, durch den zweiten Spiegel hindurchsehende Beobachter das Retinabild im Spiegel des ersten gewahr werden. Welche Erscheinungen die durch Spiegelung erleuchtet gesehene Retina darbietet, ist nicht hier zu erörtern; das Verhalten des Flammenbildes, der Eintrittsstelle des Sehnerven, der B,etinagefärse wird am einem andren Orte zur Sprache kommen. AVas das gleichmäfsig rote oder rotgelbe Aussehen des erleuchteten Augeu- hintergrundes betrifft, so wird dasselbe hauptsächlich durch die An- wesenheit des Blutes in der Choriokapillaris bedingt, dessen Farbe durch die nicht von Pigment bedeckten Querschnitte der Stäbchen- und Zapfenaulsenglieder in reflektiertem Lichte durchschimmert und von dem Braun des gleichzeitig durchstrahlten Fuscins im Retinaepithel eine entsprechende Beimischung empfängt. Eine Beteiligung des Sehpurpurs (s. o. p. 320) an dem ophthalmoskopisch wahrnehmbaren Rot des Augenhintergrundes ist von mehreren Seiten gänzlich in Abrede gestellt worden.-^ Nichtsdestoweniger scheint eine solche mindestens nicht absolut ausgeschlossen, da nach Versuchen von Helfreich- der Augeuhintergrund dekapitierter Kaninchen infolge starker Durchleuchtung merklich abblafst, was eben nur aus dem Fortfall einer vom Sehpurpur abhängigen Farbenkomponeute erklärt werden kann. Die Stelle des direkten Sehens, die macula lutea, erscheint nach Helmholtz dunkler als die übrige Netzhaut und grau- gelb ohne Beimischung von Rot; Coccius stellt dies in Abrede, es hat nach ihm der gelbe Fleck dieselbe Färbung wie die übrige Netzhaut, wird aber unter gewissen Verhältnissen durch einen eigentümlichen Lichtreflex, den er von der Gegenwart der fovea centralis herleitet, erkennbar. Doxders wies direkt nach, dafs dieser Lichtreflex die Stelle des direkten Sehens einnimmt; Heymann da- gegen behauptet nach Beobachtungen mit dem Autophthalmoskop am eignen Auge, dafs die fragliche Stelle nur durch ihre dunklere Färbung von dem übrigen Augengrund sich unterscheide. Die Eintrittsstelle des Sehnerven erscheint regelmäfsig als helle, gelblich gefärbte Scheibe, aus deren Mitte die Arterien und Venen der Retina hervortretend gesehen werden.^ "Was das Leuchten der mit einem Tapetum versehenen Tier- augen betrifi't, so geht schon aus dem bisher Erörterten hervor, dafs dasselbe dem Augenleuchten des Menschen ganz analog ist, auf der- selben Spiegelung beruht, unter denselben Bedingungen sichtbar ' O. Becker, Klin. ilonatshl. f. AuaenheUk. 1877. Bd. XV. p. 145. — KÜHNE, HERMAXXs Handh. d. Ph/s!ol. 1879. Bd. III. p. 235 (9.75). '^ Helfreich, Ctrbl. f. d. med. Wiss. 1877. No. 7. p. 113. ä CoCf'IUS, Gluucom, Entzünduvri u. s. w. Leipzig 18G2. p. 52. — HEIIIANN, Die Autoskopie d. Auijes. Leipzig 1863. — Vgl. ferner' BRECHT, Arch. f. Ophthalm. 1875. Bd. XXI. Abth. 2. p. 1, u. SCHMIDT-RIMPLER, ebenda Abth. 3. p. 17. § 113. TAPETUM. 369 v,-ird; die beträclitliche Reflexion von dem hellen Hiüterginnde, welchen das Tapetum bildet, bedingt, dafs das Leuchten auch dann wahrzunehmen ist, wenn nur wenige Strahlen in solcher Richtung dorthin gelangen, dafs sie nach unserm Auge zurückgeworfen werden können. Die frühere Ansicht, dafs das Phänomen auf einer Licht- entwickelung im Inneren des Auges beruhe, ist längst aufgegeben. BßUECKE hat durch sorgfältige Experimente an Hunden erwiesen, dafs die verschiedenen Farben, in welchen der Augengrund leuchtet: blau, grün, hellgelb, weifs, selbst schwach violett, stets mit der Farbe der betreuenden Tapetumstelle , von welcher Strahlen nach dem Auge des Beobachters reflektiert werden, über- einstimmen , dafs aber der zuweilen unter diesen Farben hervor- leuchtende hellrote Schein von ebendort verlaufenden grofsen Gefäfs- stämmen herrührt. Es ist kaum möglich zu bezweifeln, dafs diese reflektierten Strahlen nicht ebenso wie die direkt einfallenden eine erregende AVirkung auf die Retina ausüben sollten und sich mit diesen nicht auch hinsichtlich ihres Reizeffektes summieren könnten (Brüecke). Augen, welche ein Tapetum besitzen, müssen demnach vorzüglich geeignet sein auch bei schwacher Beleuchtung (zur Nacht- zeit) Gegenstände zu erkennen, da in ihnen das eindringende Licht nicht nur eine höchst unbedeutende Absorption erfährt, sondern auch der erregbaren Retinasubstanz, nachdem es dieselbe bereits einmal passiert hat, durch Reflexion zu einem maximalen Betrage von neuem zugeführt Avird. Eine anatomische Unterstützung findet diese Ver- mutung in dem Umstände, dafs das Tapetum stets hinter den beim Sehen am meisten beteiligten Netzhautstellen liegt, bei raja hatis z. B. in Form eines Streifens der spaltförmigen Pupille gegenübersteht. Der Bau des Tapetums ist ziierst von Eschbicht und später von Bruecke nutersucht worden.^ Dasjenige der Sängetiere bildet eine selbständige gefäi's- lose Membran, welche zwischen der inneren die Kapillargefäfse enthaltenden und der äufseren die Gefäfsstämme führenden Schicht der Chorioidea liegt ; die aus ersterer zu letzterer gehenden Verbindungsgefäfse durchbohren nur das Tapetum. Die Tapetmembran zeigt bei verschiedenen Tieren eine wesentlich ver- schiedene Struktur. Während sie bei den "Wiederkäuern aus kreuzweise verlaufen- den wellenförmig gekrümmten glatten Fasern besteht, welche durch Interferenz die Farben erzeugen, ist sie nach Bruecke bei den Fleischfressern lediglich aus 23ol}-gonalen kernhaltigen, bei auffallendem Licht blau, bei durchgehendem gelblich gefärbten Zellen zusammengesetzt, welche als dünne Blättchen eben- falls geeignet sind Interferenzfarben zu geben. Auch das Tapetum der Fische ist aus Zellen gebildet; in diesen Zellen sind aber kleine Kristalle eines silber- glänzenden Stoffes (Guanin) abgelagert, welche den bekannten Silberglanz des Augenhintergrundes hervorbringen. Der Kapillarmembran der Chorioidea liegt bekanntlich nach einwärts zunächst das mit Piginentkörnchen erfüllte Eetina- epithel auf. Bei denjenigen Tieren, welche ein Tapetum besitzen, finden wir jedoch die Zellen jener Epithelschicht entweder vollständig frei von Pigment oder doch nur vereinzelt mit solchem versehen. 1 ESCHRICHT, Arc/i. f. Anat. u. Ploiniol. 1838. p. 575. — E. BKTECKE ebenda. 1845. p. 387. GkueshAGEN, Physiologie. 7. Aufl. II. 24 ,70 AKKOMMODATION. § H-i- § 11^- Von der Akkommodation des Auges. Es ist oben bei der Lehre vom Gange der Lichtstrahlen im Auge der Beweis geführt worden, dafs der Vereinigungspunkt derjenigen Strahlen, welche von einem leuchtenden Punkte vor dem dioptrischen System ausge- gangen sind, seinen Abstand von der hintersten brechenden Fläche mit dem Abstand des Objekt puuktes von der vor- dersten Fläche wechselt, dafs die beiden Grenzen dieser Orts- veränderung durch den hinteren Brennpunkt und einen unendlich entfernten Punkt, in welchem die vom vorderen Brennpunkt ausge- gangeneu Strahlen zur Vereinigung kommen, gebildet werden. Bleiben daher Form und Lage der brechenden Medien des Auges vollkommen unverändert, so rückt das von ihnen entworfene Bild eines Objektes aus dem hinteren Brennpunkt in unendliche Ferne hinaus, wenn sich das Objekt aus unendlicher Ferne bis zum vorderen Brennpunkt nähert. Befindet sich nun der auffangende Schirm, welchen die Netzhaut darstellt, in einer bestimmten Entfernung hinter der Linse, und nehmen wir diese unveränderlich gedachte Entfernung so grofs an, dafs sie die konjugierte Vereinigungsweite zu einem Abstand des leuchtenden Objektes von 3 m vor der Cornea bildet, dafs also von einem o m vor dem Auge gelegenen Punkte ein scharfes punktförmiges Bild gerade in die Ebene der Netzhaut fällt, so leuchtet ein, dafs die Strahlen jedes näher zum Auge gelegenen Punktes hinter der Netzhaut, die von einem ferneren Punkte ausgehenden vor der Netzhaut zur Vereinigung kommen müssen, in ersterem Falle also die Netzhaut von konvergierenden, noch nicht vereinigten Strahlen, im letzteren von divergierenden der Vereinigung bereits unterworfen gewesenen getroffen werden mufs. In beiden Fällen empfängt daher die Netzhaut statt eines punktförmigen Bildes einen Zerstreuungskreis, der um so gröfser ist, je weiter vor oder hinter die Netzhaut der Scheitel des betreffenden Strahlen- kegels fällt. Zur Erläuterung dienen die Figg. 127 u. 128. Liegt Fl?. 127. bei unveränderlicher Form und Lage dei- brechenden Medien der Vereinigungspunkt des von Ä ausgehenden Strahlenkegels in B hinter der Linse, so kann die Netzhaut nur dann ein punktförmiges §114. AKKOMMODATION. 371 Bild erlialten, weuu ihre Ebene durcli Jj geht; liegt sie der Linse näher, ^Yie in C, so schneiden sie die konvergierenden Strahlen in einem Zerstreuungskreise von dem Durchmesser al)^ liegt sie weiter ab von der Linse, Avie in D, so bilden die divergierenden Strahlen einen Zerstreunngskreis von dem Durchmesser cd. Haben wir vor dem Auge, auf der Sehachse hintereinander liegend, drei leuchtende Punkte A B C, so fallen hinter der Linse die Vereiniguugspuukte ihrer Strahlen in entsprechender Ordnung in a 1) c hintereinander, wie durch die Linien angedeutet ist. Ist der Abstand zwischen Retina und Linse so grofs, dafs der Vereinigungspunkt h in die Ebene der ersteren fällt, so bilden sowohl die Strahlen von A als auch diejenigen von C daselbst einen Zerstreunngskreis, die von A nach, die von C vor ihi'er Vereinigung. Befindet sich nun vor dem Auge ein Objekt, welches aus einer Menge nebeneinander liegender leuchtender Punkte zusammengesetzt zu denken ist, so wird , wenn diese Punkte z. B. in der Entfernung von A liegen, jeder derselben einen Zerstreuungskreis auf der Retina entwerfen; die Zerstreuungskreise der Nachbarpunkte müssen sich zum Teil decken, und so entsteht ein verwischtes undeutliches Bild des Objektes; wir sehen das Ob- jekt nicht scharf, sondern mit verwaschenen Konturen und alle seine Einzelnheiten undeutlich. Sind z. B. die von zwei nebeneinander liegenden Punkten aussrehenden Strahlen verschieden gefärbt , so decken sich die ihnen entsprechenden verschiedenfarbigen Zerstreu- ungskreise, und an der Netzhautstelle, welche von beiden Farben eingenommen wird, entsteht eine Mischfarbe, daher auch die ent- sprechende Misehempfindung, deren Qualität wir eben fälschlich dem zu Grunde liegenden Bilde vindizieren. Es ist von Interesse, die Gröise der Zerstreuungskreise zu berechnen, welche bei gegebenem unver- änderlichem Abstand von Netzhaut und Linse von jedem in bestimmter gröfserer oder geringerer Entfernung vom Auge angebrachten Punkt auf der Netzhaut entworfen werden müssen. Listing^ hat diese Be- rechnung ausgeführt, und derselben sein schematisches Auge, bei welchem also auf die Netzhaut der hintere Brennpunkt, d. i. der ' Listing, a. n. O. i). 499. 24* AKKOMMODATION. Verein igungspunkt paralleler Strahlen fällt, zu Grunde gelegt. Er fand dann folgende Durchmesser der Zerstreuungskreise für die zu- gehörigen Ahstände der Leuchtpunkte: Abstand des Leuclitpunktos. 65 25 12 5 3 1,500 0,750 0,375 0,188 0,094 0.088 Meter Abstand des Vcreiniguugs- punktes vom hintern Brenn- punkt (Retina). 0 mm 0,005 „ 0,012 „ 0,025 „ 0,050 „ 0,100 „ 0,20 „ 0,40 „ 0,80 „ 1,60 „ 3,20 „ 3,42 „ Durchmesser der Zer Streuungskreiso. 0 mm 0,0011 51 0,0027 0,0056 0,0112 51 0,0222 57 0,0443 0,0825 0,1616 55 0,3122 55 0,5768 0,6484 55 Es geht aus diesen Zahlen hervor, dafs der Durchmesser der Zerstreuungskreise mit der Annäherung des unendlich fernen Leucht- punktes im Anfang aufserordentlich langsam wächst, später dagegen in gröfserer ISlähe des Auges bei erheblich geringerer Ver- rückung des Leuchtpunktes verhältnismäl'sig viel rascher. Bei der enormen Verrückuug des Leuchtpunktes aus unendlicher Ferne bis auf 65 m Abstand vom Auge rückt der Vereinigungspunkt aus dem Brennpunkt, d. h. der Retina, nur um 0,005 mm nach rückwärts, während später, wenn der Leuchtpunkt aus 188 mm Entfernung auf 9-i mm vorrückt, der Vereiuigungspunkt sich um 1,60 mm ver- schiebt und bereits 3,20 mm hinter die Netzhaut fällt. Aus den angeführten physikalischen Thatsachen und Gesetzen ergibt sich demnach mit Gewifsheit, dafs unsre Augen niemals gleichzeitig zwei Objekte, welche in verschiedenen Entfernungen vom Au^e hintereinander liesren, bleich deutlich v/ahrnehmen können, sondern, wenn das vordere deutlich erscheint, das Bild des hinteren verwaschen, undeutlich werden mufs, und umgekehrt. Da nun aber die tägliche Erfahrung lehrt, dafs ein gesundes Auge Objekte, welche in den verschiedensten Entfernungen vom Auge liegen, nacheinander vollständig scharf wahi-nehmen kann, einen 20 cm vor das Auge gehaltenen Pinger so scharf wie einen 20 m entfernten Baum, so folgt hieraus mit Gewifsheit, dafs das Auge die Fähigkeit haben mufs, willkürlich bei Betrachtung von Gegenständen in jeder beliebigen Entfernung für jeden sich so einzurichten, dafs die von demselben ausgegangenen Strahlen gerade in der empfind- lichen Ebene der Netzhaut zur Vereinigung kommen; sei es nun, dafs es diese Einrichtung durch ein Vor- oder Zurück- schieben der Retina nach Art der matten Glastafel in der camera ohscura, oder durch Veränderungen im dioptrischen Apparat, welcher §114. AKKOMMODATION. 373 für nähere Objekte stärker breclieud gemacht werden müfste, be- Averkstelligt. Diese Fähigkeit des Auges, sich für das deutliche Sehen, dessen unerUlfsliche Bedingung die Vereinigung der Strahlen in der Netzhaut selbst ist, einzurichten, zu adaptieren oder zu akkommodieren, bezeichnet man mit einem Wort als An- passungs- oder Akkommodationsvermögen des Auges. Wir haben nun zunächst sichere Beweise für das Vorhandensein dieses Vermögens beizubringen und sodann die Frage zu erörtern, in welchen Veränderungen die Einrichtung für Nähe und Ferne besteht, welches der Mechanismus der Akkommodation ist. In früherer Zeit haben einige namhafte Physiologen, vor allen Treviranus und Magen-die\ das Vorhandensein und die Notwendigkeit von Akkommodations- veränderungen in Abrede gestellt und dem in Form und relativer Lage seiner Teile unveränderlichen dioptrischen System des Auges das Vermögen vindiziert, Sti-ahlen aus jeder beliebigen Entfernung gerade auf der Netzhautebene zu ver- einigen. Es ist leicht, den hierbei vorgefallenen Irrtum zu widerlegen ; die Art und Weise, wie Magendie und Holdat zu ihrer Ansicht gelangt sind, zeigt ohne weiteres die Unhaltbarkeit derselben. Wir wissen, dafs man an den herauspräparierten Augen frisch getöteter weilser Kaninchen durch die Sclerotica hindurch das Netzhautbildchen vor dem Auge gelegener Objekte wahrnehmen kann. Magendie will dieses Bild für ferne und nahe Objekte gleich deutlich und scharf gefunden haben. Volkmaxx- hat die Unzulässigkeit dieses Argimients genügend beleuchtet. Hätte Magexdie das Netzhautbildchen mit starken Vergröfserungen untersucht, so wmrde er sich wie Volkmanx u. a. von der Gegenwart der Zerstreuungs- kreise, die uns am unzweideutigsten das eigne Auge kennen lehrt, überzeugt haben. Gerlixg^ hat zuerst die Netzhautbilder einer mikroskopischen Be- trachtung unterworfen und nicht allein verschiedene Deutlichkeit derselben bei verschiedenem Abstand der (Jbjekte vom Auge bestimmt wahrgenommen, sondern auch aus der Parallaxe der Bilder den Abstand des Focus von der Netzhaut berechnet. Noch genauere direkte Beobachtungen hat Gramer (s. u.) an dem Auge eines Kindes kurz nach dem Tode desselben augestellt. Es wurde Sclerotica, Chorioidea und Retina des herausgeschnittenen Auges am hinteren Pole abgetragen und das auf der HinterÜäche des Glaskörpers (durch Reflexion von einem Spiegel) entworfene Bild unter dem Mikroskop bei 80 maliger Vergr()fserung betrachtet. Um nicht durch Änderungen des eignen Akkommo- dationszustandes beirrt zu werden, fixierte Gramer während der Beobachtungs- zeit ein auf das Präparat gelegtes Haar und kontrollierte so an der Konstanz seines Wahrnehmungsvermögens diejenige der dioptrischen Eigenschaften seines eignen Auges. Es ergab sich, dafs zur deutlichen Wahrnehmung der Bilder eine andre Einstellung des Focus nötig war, wenn das Bild von entfernten Häusern, als wenn es von einer nahegelegenen Nadel herrührte. Wenn Exgel* fand, dafs eine Kristalllinse Bilder von Gegenständen, die 7 Zoll vom Auge ab- stehen, fast gleich deutlich wie solche von 226 Zoll Abstand zeigt, so liegt dies, wie Mayer^ gezeigt hat, an der kurzen Fokaldistanz der isolierten Linse, gilt aber nicht für das zusammengesetzte dioptrische System mit gröfserer Brennweite. Eine kurze Kritik der übrigen Versuche, die Notwendigkeit einer Akkommodation zu widerlegen, gibt Helmholtz.^ 1 TreviRANUS, Beiträge z. Aufklärung d. Ersch. d. organ. Lehem. I. Heft. Über d. blättrige Textur d. Kn/stulllinse des Auges. Bremen 1835. — MAGENDIE, Precis etem. de plii/siologie. 4e ödit. 1S36. Vol. I. p. 73. '^ Volkmann, R. Wagners Handwörtb. d. Plmsiol. Art. Seiten. Bd. III. 1. p. 299. 3 Gerling, PoggendorfFs Annalen. 1839. Bd. CXXII. p. 243. ■^ Engel, Prager Vierteljahrscitr. f. d. praict. Heilk. 1850. Bd. I. p. 167. ^ Mayer, Prager Vierteljalirschr. f. d. prakt. Heilk. 1851. Bd. IV. p. 92. ^ Helmholtz, a. a. O. p. 118. 374 AKKOMMODATION. §114. Folgende einfache, jeden Augenblick anzustellende Versuche zeigen sowohl die Notwendigkeit als auch das Vorhandensein des Akkommodations Vermögens. Halten wir in einer Entfernuno' von z. B. 30 cm einen Finger vor das eine Auge, während das andre geschlossen ist, und fixieren denselben, so erscheint er scharf und deutlich, ein in gerader Linie hinter dem Finger gelegenes Fenster eines gegenüberliegenden Hauses dagegen undeutlich und verwaschen, wenn wir dem Bild desselben, während wir unverwandt den Finger fixieren, unsre Aufmerksamkeit zuwenden. Fixieren wir dann das Fenster, so erscheint dieses scharf, und umgekehrt der Finger vor dem Auge undeutlich mit verwaschenen Umrissen. Wir können also willkürlich entweder den nahen Finger oder das ent- fernte Fenster, niemals aber beide zugleich, scharf sehen. Ist das Bild des Fingers scharf, vereinigen sich also die von ihm ausgehen- den Strahlenkegel auf der Netzhaut, so fallen die Vereinigungs- punkte der vom Fenster ausgehenden Strahlen vor die Netzhaut, auf die Netzhaut aber die Zerstreuungskreise der nach der Ver- eini^un«: wieder diver2:ierenden Strahlen; im andren Falle kommen die Strahlen des Fingers erst hinter der Netzhaut zur Vereinigung. Am instruktivsten A^eransohaulicht die fraglichen Verhältnisse der sogenannte Sc hei neu sehe Versuch, welcher auf folgende "Weise anzustellen ist. Man sticht in ein Kartenblatt mit einer Nadel zwei enge Ofi:hungen in einem Abstand, der geringer als der Durchmesser der Pupille ist, also etwa 2 mm voneinander; auf ein Brettcheu steckt man ferner drei Stecknadeln in gerader Linie und be- stimmten Abständen hintereinander, und bringt dieses Brettchen so vor das eine Auge, dafs die Verbindungslinie der Nadeln in die Verlängerung der Sehachse desselben fällt. Hält man nun dicht vor die Pupille dieses Auges die beiden Öffnungen des Kartenblattes und betrachtet durch dieselben eine von den Stecknadeln, so werden die beiden andern nicht fixierten, vor oder hinter jener gelegenen, undeutlich und doppelt erscheinen. Folgende schematische Figg. 127 u. 128 er- läutern auf das klarste dieses Phänomen und seine Ursachen. C C stellt in beiden Figuren das Kartenblatt mit seinen beiden feinen Öffnungen e f, A I) die beiden auf der Sehachse hintereinander ge- legenen Stecknadeln vor, von denen jede (durch die beiden Öö'nungen des Kartenblattes) je zwei Bündel von Strahlen in das Auge schickt. In Fig. 127 ist der Fall dargestellt, dafs die vordere der Nadeln Ä fixiert wird, das Auge also der Art eingerichtet ist, dafs der Vereinigungs- punkt a der von jener Nadel ausgehenden Strahlen gerade in die Ebene der Netzhaut fällt. Nach dioptrischen Gesetzen mufs daher der Vereinigungspunkt h der von der entfernteren Nadel JB ent- sandten Strahlen vor die Netzhaut fallen. Die beiden durch c und /' gegangenen Büschel kreuzen sich demnach in h und gehen nach der Kreuzung divergierend weiter, der durch e gegangene triflft die Netzhaut in d mit diver2:ierenden Strahlen, also mit einem Zer- §114. AKKOMMODATION. 175 streuungskreis, während der durch f gegangene Strahleubüscliel in c seinen entsprechenden ZerstreuiiDgskreis biklet. Daraus folgt not- Avendig, dafs v^'ir von der fixierten Nadel A ein scharfes, von B dagegen zwei zu beiden Seiten von a gelegene undeutliche Bilder erhalten werden. Gerade das umgekehrte findet statt, wenn wir, wie in Fig. 128 dargestellt ist, die hintere Nadel B fixieren, den Vereinigungspunkt h ihrer durch c und f gegangenen Strahlenhüschel also in die Ebene der Retina bringen. Es mufs dann der Vereinigungspunkt a der Strahlen der näheren Nadel A hinter die Netzhaut fallen, jeder der beiden Strahlenhüschel trifi't daher für sich mit konvergierenden Strahlen- die Netzhaut, und bildet demnach einen Zerstreuungskreis, der durch c gegangene in f, der durch /' gegangene in d; wir sehen 376 AKKOMMODATION. §114. also von A zwei iiudeutliche Bilder, welche symmetriscli zu beiden Seiten des scharfen Bildes von B liegen. Verschliefsen wir während des Versuches eines der beiden Kartenblattlöcher, z. B. r, so wird jedesmal eines der undeutlichen Doppelbikler der nicht fixierten Nadel weg- fallen, und zwar, wie sich aus den Figuren von selbst ergibt, in Fig. 127 dasjenige, welches sich auf der entgegengesetzten Seite Avie das verschlossene Loch, befindet, also d, in Fig. 128 dagegen das auf derselben Seite in c liegende. Letztere Yerhältnisse lassen sich nach CzEiiMAK besonders anschaulich machen, wenn man vor beiden Öffnungen des Kartenblattes verschiedenfarbige Gläser anbringt. Endlich liefert, wie bereits oben angedeutet, der Augenspiegel den direktesten unzweideutigsten Beweis für die Notwendigkeit und die Existenz von Adaptationsveränderungen. Mit dem Instrument von Helmholtz, welches wir oben beschrieben haben, kann man ohne Schwierigkeiten wahrnehmen, dafs von den nebeneinander auf der Retina entworfenen Bildern ungleich weit entfernter Objekte immer nur eins und zwar dasjenige, welches das untersuchte Auge fixiert, deutlich und scharf erscheint, alle übrigen dagegen verwaschen durch Bildung von Zerstreuungskreisen, in um so höherem Grade, je mehr ihr Abstand vom Auge von demjenigen des fixierten Objekts differiert. Wir müssen hier der Erörterung der Akkommodationsverände- rungen selbst notwendig einige wichtige Vorbemerkungen voraus- schicken. Zunächst ist hervorzuheben, dafs eine absolute Schärfe des Bildes, eine punktföi-mige Vereinigung der Strahlen eines Leucht- punktes im strengsten mathematischen Sinne, innerhalb des Auges zum scharfen Sehen nicht unumgänglich erforderlich, übrigens, wie unten genauer erwiesen werden soll, infolge der nicht sphärischen Gestalt der brechenden Flächen, insbesondere der Hornhaut, und der Verschiedenheit ihrer Krümmung in verschiedenen Meridianen nicht einmal möglich ist. Es kann die gröfstmögliche Schärfe der Wahrnehmungen auch bei Gegenwart von Zerstreuungskreiseu erreicht werden, sobald dieselben nur eine gewisse Durchmesser- gröfse nicht überschreiten. Diese Gröfse ist anatomisch gegeben, und zwar durch die Gröfse der Enipfindungselemente der Retina. Wir haben bereits in der Einleitung zum Gesichtssinn aus- einandergesetzt, dafs wir uns die Netzhaut zur Erklärung der räum- lichen Gesichtswahrnehmungen notwendig als eine Mosaik neben- einander regelmäfsig angeordneter Empfindungselemente vorstellen müssen. Das anatomische Substrat für diese physiologische Forderung ist, wie wir bald genauer zu erörtern haben werden, in der Schicht der Stäbchen und Zapfen zu suchen. Nehmen wir an, dafs jedes dieser kleinen Gebilde ein Empfindungselement vorstellt, so ist da- mit zugleich auch gesagt, dafs die Erregung eines solchen, gleichviel ' welche Stelle seines mefsbaren Umfangs davon getroffen wird, immer nur eine einfache Empfindung veranlassen kann, dafs es folglich §114. AKKOMMODATION. 377 ohne Einflufs auf die Seliärfe der Wahrueliraung sein wird, ob die Yereimgungspunkte der Liehtstralilen auf der Retina wirklicli genau punktförmig sind, wie sie es sein müfsten, wenn Eetinabilder von idealer Seliärfe des Umrisses entstehen sollten, oder jeder Strahlen- büschel, wie es wirklich der Fall ist, einen Zerstreuungskreis in dem von ihm erhellten Zapfen oder Stäbchen bildet. Notwendig zum deutlichen Sehen ist daher nur die Reduktion der Zerstreuungskreise auf die dem endlichen Durchmesser der Empfiudungselemente gleiche Gröfse, eine weitere Verkleinerung bis zum mathematischen Punkt kann die Schärfe der Wahrnehmungen nicht mehr erhöhen. Der Spielraum, M^elcher hierdurch für das deutliche Sehen bei gleichem Adaptationszustand des Auges gewonnen ist, kommt uns beim Beobachten entfernterer Ob- jekte wohl zu statten. Betrachten wir einen entfernten Baum z. B., so sehen wir nicht etwa blofs die Blätter und Aste deutlich, die genau in einer Ebene liegen, sondern ohne merklichen Unterschied der Schärfe gleichzeitig alle übrigen sowohl die vordersten als auch die hintersten deutlich. Aus Listings Zahlen (p. 372) »eht hervor, dafs ein für itnendliche Ferne akkommodiertes Aug-e ohne Akkommodationsveränderung alle zwischen unendlicher Ferne und G5 Meter Abstand vom Auge gelegenen Objekte gleich deutlich wahrnimmt, da bei letzterem Abstand die Zerstreuungs- kreise erst den geringen, nicht einmal die Durchmesser der Stäbchen- und Zapfenaufsenglieder erheblich überschreitenden Durchmesser von 0,0011 mm erreicht haben (vgl. o. p. 319). Ferner ist ein ge\A'isser Spielraum für die scharfe Wahrnehmung ohne Akkom- modationsveränderung dadurch gegeben, dafs aller Wahrscheinlichkeit nach die empfindende Fläche der Retina nicht eine Ebene im strengsten Sinne ist, sondern eine gewisse Tiefe besitzt. Halten wir uns wiederum vorläufig an die Stäbchen- und Zapfenschicht, so ist sehr wahrscheinlich, dafs ein Bild mit derselben Schärfe wahr- genommen wird, wenn es in eine Ebene fällt, die durch die inneren Enden jener Elemente gelegt wird, als wenn die Brennebene in die äufseren Teile der jACOBschen Membran fällt. In ersterem Falle werden die nach der Vereinigung divergierend weiter gehenden Strahlen schon darum das deutliche Sehen nicht durch Übertreten in andre Empfiudungelemente stören, weil sie nach Bbüeckes scharf- sinniger Theorie durch ihre totale Reflexion an diesem störenden Übertritt gehindert werden. Aus den vorhergehenden Erörterungen folgt, dafs das Auge niemals blofs für einen einzigen Punkt, sondern für eine Reihe von hintereinander liegenden Punkten akkommodiert ist, welche alle gleich scharf bei gleichem Akkommodationszustand wakrgenommen werden. Eine solche Punktreihe nennt CzermakS der diese Ver- hältnisse einer gründlichen Betrachtung unterworfen hat, eine ' CZERMAK. ]yiener SUber. Math.-natw. CI. 1854. Bd. XII. p. 322. 378 AKKOMMODATION. § 114. Akkommodiitiousliuie (im engeren Sinne), während er denjenigen Punkt der Reilie, für welchen das Auge eigentlich optisch ein- gerichtet ist, als Akkommodationspunkt bezeichnet. Stellt nun z. B. die einfache Linie aJ) eine solche Akkommodationslinie dar, werden also alle zwischen ah gelegenen Punkte gleichzeitig gleich scharf wahrgenommen, so werden alle Objekte, die diesseits h und jenseits a liegen, undeutlich wahrgenommen; und zwar wächst die Undeutlichkeit in einem bestimmten Verhältnis mit der Entfernung des Objektes von a und h, welches Verhältnis ^'^' ■'"■^" man graphisch durch Spaltung der Linie ah in zwei diver- »f^ gierende Linien diesseits h und jenseits a darstellen kann, wie Fig. 129 zeigt. Das Verhältnis der Undeutlichkeit zweier in c und d gelegener Objekte wird ausgedrückt durch das Verhiiltnis der Breite des von beiden divergierenden Linien eingeschlossenen Raumes au den betreffenden Stellen. Eine solche graphische Darstellung der verhältnismäfsigeu Deutlichkeit einer unendlichen Reihe hintereinander ge- legener Objekte bei gegebenem Akkommodationszustand nennt Czermak eine Akkommodationslinie im weiteren Sinne. Es leuchtet ein, dafs diese Linie sich für jeden Akkommodationszustand anders gestalten mufs. Die ein- fache Linie ah mufs notwendig um so länger werden, auf je grüfsere Fernen das Auge akkommodiert ist; haben v/ir das Auge für unendliche Ferne akkommodiert, so er- streckt sich nach Listing die Linie ah von einem Punkte, der 65 m vom Auge absteht, bis in die unendliche Ferne, in welcher a liegt, wenn das Auge sich auf der Seite a'ou h befindet. Nach dem Gesetz, dafs die Zerstreuungskreise naher Objekte beim Abrücken aus dem Akkommodations- punkt unverhältnismäfsig rascher wachsen als diejenigen entfernter, folgt weiter, dafs der Akkommodationspunkt in CzERMAKs Sinne nicht in der Mitte von ab, sondern näher nach dei- Seite des Auges, nach h zu, also etwa in e lie2:en mufs; dafs ferner die Divergenz der beiden Spaltuugsiinien diesseits von h nach dem Auge zu beträcht- licher ausfallen mufs als jenseits a. Man kann eine solche CzERMAKsche Akkommodationslinie im weiteren Sinne jeden Augenblick in Wirklichkeit sehen durch folgenden einfachen Versuch. Spannt man vor einem Auge in der Richtung der optischen Achse einen langen dünnen Faden aus , und fixiert einen beliebigen Punkt seiner Länge, so erscheint der ganze Faden genau so wie Fig. 129. Man sieht eine Strecke des Fadens diesseits und jenseits des fixierten Punktes [c] vollkommen deutlich, linienförmig [ah); jenseits und diesseits dieser Strecke erfährt das Fadenbild eine allmählich zunehmende Verbreiterung imd wird undeutlich. Mit der Verschiebung des Fixationspunktes verschiebt sich auch die §114. AKKOMMODATION. 379 scharf siclitbare Strecke, und zwar A'erlängert sie sich, wenn man einen entfernteren Punkt fixiert, und verkürzt sich im umgekehrten Falle. Es geht hieraus hervor, dafs heim Sehen in kürzeren Ent- fernungen Akkommodation sveränderungen viel wichtiger für das scharfe Sehen imd in viel gröfsei'em Mafsstabe notwendig sind, als beim Sehen in gröfseren Entfernungen. Ein andrer von Czermak angegebener instruktiver Versiicli ist folgender. Man macht auf eine Glasplatte einen schwarzen Punkt und hält dieselbe vor eine Druckschrift. Nähert man nun das Auge der Glasplatte so weit als möglich, ohne dafs die Wahrnehmung des Punktes an Deutlichkeit verliert, so kann man zu einer und derselben Zeit nur eines der beiden Gesichtsobjekte, niemals aber Punkt und Schrift zugleich scharf erkennen. Entfernt man sich alsdann aber mit dem Auge weiter und weiter von der Glasplatte, so ward man schliefs- lich eine Distanz finden, in welcher beide gleichzeitig scharf gesehen werden, Punkt und Druckschrift liegen dann eben in der Akkommodationslinie ab der obigen Figur. Je weiter die Druckschrift von der Glasplatte absteht, desto w^eiter mufs natürlich das beobachtende Auge abrücken, um die besprochene Wahrnehmung zu machen. Die gleich deutlicbe Wahrnehmung einer Reihe hintereinander gelegener Punkte, also die Erscheinung der Akkommodationslinie ah in CzERMAKs Sinne, beruht indessen faktisch nicht blofs auf dem Um- stand, dafs die percipierende Schicht der Netzhaut eine gewisse Tiefe be.sitzt, sondern auch auf dem unten zu besprechenden Eaktum, dafs wirklich infolge der Asymmetrie der brechenden Flächen des dioptrischen Apparates das Bild jedes Objektpunktes eine Linie darstellt, d. h. dafs die von einem Objektpunkt ausgehenden Strahlen nicht alle in einem Punkt vereinigt werden, sondern diejenigen, welche dui'ch die stärker gelcrümmten Meridiane der Hornhaut gehen, früher als die durch die schwächer gekrümmten j^leridiane gebrochenen, mithin dem Objektpunkt eine Eeihe hintereinander! legender Bild- punkte entspricht. Sturm glaubte sogar, dafs durch diesen Umstand die Notwendigkeit jeder Akkommodationsveränderuug für das Auge aufgehoben sei, was längst widerlegt ist, und Donders glaubt wenigstens die Erscheinung der CzERMAKschen Akkommodationslinie darauf zurückführen zu müssen. Indessen wenn auch faktisch beide Bedingungen der in Rede stehenden Tiefenausdehnung des gleichzeitig deutlichen Sehraumes nicht zu trennen sind, so wäre immer noch vorauszusetzen erlaubt, dafs auch bei sphärisch gekrümmten Flächen und vollkommener Korrektur der sphärischen Aberration eine Ak- kommodationslinie infolge der nicht zu bezweifelnden Tiefenaus- dehnung der percipierenden Netzhautschicht erscheinen müfste. Es fragt sich nun, in Avelchem Sinne eine aktive Akkommo- dationsveränderuug im Auge notwendig ist, d. h., ob dasselbe im Ruhe- zustande für ferne oder nahe Objekte eingerichtet und ob daher die fragliche Veränderung für das Nahesehen oder für das Fernsehen eintreten mufs. Volkmann \ welcher anfänglich das ruhende Auge VOLKMANN, a. a. O. p. 300. ;380 AKKOMMODATION. § 114. für eine mittlere Eutfernuiig adaptiert glaubte und dalier aktive Ver- änderungen für die Einstellung sowohl auf ferne als auch für nahe Cxegenstiinde voraussetzte, hat später seine Ansicht geändert und das ruhende Auge als für die Ferne akkomraodiert angenommen. Entscheidend spricht dafür folgender Versuch. Betrachtet man, wie heim SciiKiNEUschen Versuch, durch die zwei ()ffjiungen eines Karten- hlattes einen in der Verlängerung der optischen Achse ausgespannten Faden und fixiert einen Punkt desselben, so erscheint der Faden an diesem Punkt einfach, jenseits und diesseits dagegen doppelt, so dafs der Anschein von zwei unter spitzem Winkel sich kreuzen- den Fäden entsteht. Schliefst mau nun das Auge, so findet man nach dem Öffnen den Kreuzungspunkt, also den Punkt, für welche )i das Auge akkommodiert ist, stets an einer bestimmten Stelle; durch willkürliche Anstrengung kann man nun diesen Kreuzungspunkt dem Auge viel näher rücken, ihn aber nach der bisherigen allge- meinen Annahme nicht weiter vom Auge entfernen. Hieraus schliefst Volkmann, dafs es nur eine einseitige Akkommodationsthätigkeit gibt, deren Erfolg der ist, dafs Strahlen, welche bei dem ruheuden Auge erst hinter der Netzhaut zur Vereinigung kommen, auf dieser selbst zur Vereinigung gebracht werden. Ist das Auge aktiv für ein nahes Objekt akkommodiert und soll es für ein entfernteres einge- richtet werden, so geschieht dies nur durch ein Nachlassen jeuer aktiven Anstrengung in dem erforderlichen Grade. Ein Versuch die frühere Ansicht von Volkmaxn zu rehabilitieren ist nur einmal noch durch Th. Weber ^ gemacht worden. Seinen Beobachtungen zufolge sollte wenigstens manchen Augen die Fähigkeit zukommen, sich aktiv auch für Entfernungen einzurichten, welche jenseits des bei ruhendem Auge scharf gesehenen Punktes gelegen sind. Man darf jedoch wohl mit Sicherheit behaupten, dafs diejenigen Einrichtungen, welche normalerweise die Akkom- modation unsers Auges ermöglichen, stets nur eine aktive Adaptierung für diesseits der eben angegebenen Grenze befindliche Gesichtsobjekte herbeizu- führen imstande sind, und dafs aufser diesen sämtlich auf das Augeninnere be- schränkten Vorkehrungen keine andern dem gleichen Zwecke dienenden existieren. Die einzige Möglichkeit einen Akkommodationsvorgang im Sinne Webers, oder um seine Bezeichnung zu brauchen, eine negative Akkom- modation zu bewirken, läge in dem Einflufs der äufseren Augenmuskeln, welche durch ihre gemeinsame Aktion den Bulbus zu komprimieren und mit- hin die im Innern desselben herrschende Spannung zu erhöhen vermögen. Da jede Steigerung des intraokularen Drucks wenigstens anfänglich eine Abplattung der Cornea zur unmittelbaren Folge hat", so würde durch sie auch das diop- trische Vermögen des Auges verringert und somit eine sogenannte negative Akkommodation erzielt werden können. Zweifellos dürfte aber auf diesem Wege immer nur ein sehr unbedeutender Effekt erreicht und, wie die ein- fachste Selbstbeobachtung lehrt, von uns auch nur ausnahmsweise zu erreichen versucht werden. Kein Auge ist imstande, sich für alle möglichen Entfernungen der Leuchtobjekte von der unmittelbaren Nähe der Hornhaut bis 1 Th. Weber, Arc/i. f. phnsiol. Eeilk. 1855. Bd. XI. p. 479. 2 Helmholtz, a. a. Ö. p. 116. — Schelske, Arch. f. Ophthulmol. 18G4. Bd. X. Abth. 1. p. 1. §114. SEHAVEITE. 381 zur unendlichen Ferne zu akkommodieren. Es gibt für jedes Auge einen Grenzabstand, über welchen hinaus ein Objekt nicht weiter genähert werden kann, und einen zweiten Grenzpunkt, über wel- chen hinaus es nicht weiter entfernt werden kann, ohne undeutlich zu werden; mit andern "Worten: Strahlen, welche von einem dies- seits des ersteren oder einem jenseits des letzteren gelegenen Punkte divergierend ausgehen, können von dem Auge nicht mehr zur Ver- einigung auf der empfindlichen Netzhautfläche gebracht werden. Die von zu nahen Objekten ausgehenden Strahlen kommen trotz gröfst- möglicher Akkommodationsanstrengung erst hinter der Netzhaut, die von zu fernen ausgehenden schon vor der Netzhaut zur Vereinigung. Man bezeichoet diese beiden Grenzpunkte als den Nahepunkt und den Fernpunkt; der Abstand zwischen beiden, also der ßaum, innerhalb dessen ein Objekt an jeder Stelle deutlich gesehen werden kann, heifst die deutliche Sehweite. Man unterscheidet noch unter dem Namen mittlere Sehweite oder Sehweite schlechthin diejenige Entfernung vom Auge, in welcher dasselbe kleine Gegenstände, wie Druckschrift, noch deutlich erkennt. Begi-eiflicher- weise kann von einer konstanten Gröfse dieses Wertes keine Rede sein. Da indessen die Zugrundelegung einer bestimmten Sehweite, z. B. für die Berech- nung der vergröfsernden Kraft eines Mikroskops, notwendig ist, so liegt das Bedürfnis vor ein allgemein gültiges Mafs konventionell festzustellen. In neuerer und neuester Zeit pflegen sich einige der besten Optiker (Hartxack, Zeiss) ausschliefslich des Wertes von 250 mm mittlerer Sehweite bei der Be- rechnung der Mikroskopvergröfserung zu bedienen. Der Abstand der beiden eben erwähnten Grenzpunkte A'om Scheitel der Hornhaut und ihre gegenseitige Entfernung variieren individuell; man bestimmt dieselben mittels eines einfachen, auf dem ScHEiNERschen Versuch beruhenden Verfahrens auf die schon angedeutete "Weise. Man läfst das zu untersuchende Auge eine Nadelspitze (oder ein Haar) durch die Offnungen eines Karten- blattes betrachten, während dieselbe auf der Verlängerungslinie der optischen Achse aus der unmittelbaren Nähe der Hornhaut allmählich mehr und mehr vom Auge entfernt wird. Die Nadel erscheint anfangs trotz aller Akkommodationsanstrengung doppelt, weil ihre Strahlen hinter der Retina sich vereinigen, wird dann an einem bestimmten Punkt einfach und deutlich, dies ist der Nahe- punkt; sie bleibt dann eine geringere oder gröfsere Strecke lang einfach, die gemessene Länge dieser Strecke gibt den "Umfang der deutlichen Sehweite; an ihrer Grenze liegt der Punkt, von dem aus die Nadel wieder doppelt und undeutlich erscheint und bei weiterer Verschiebung so bleibt, der Fernpunkt. Verschiedene Instrumente, Optometer^, sind auf dieses Verfahren gegründet. 'Über Optometer u. Optometrie vgl. Helmholtz, a. a. O. p. 100, ferner Snellex und LANDOLT, Hundb. d. ge-itimmfen Aitgenfteilk., herausgegeben v. A. Geaefe u. TH. Saemisch. Bd. HI. 1. p. 74 u. fg. :)82 KUnZ- UND WEITSICHTIGKEIT. §114. Allgemein gültige Mittelwerte für die Sehweite sind Avegen der grofsen Differenzen Lei den einzelnen Augen füglicli nicht auf- zustellen, wohl aber lassen sich der Charakter dieser Diö'erenzeu und die Ursachen derselben verwerten, um eine Anzahl wohldetinier- barer Kategorien von Augen zu unterscheiden und die wechselvolle Reihe der Einzelfälle nach bestimmten Regeln zu ordnen. In der einen dieser Kategorien ist der Fernpunkt in unendlicher Ferne gelegen, das akkommodierte, ruhende Auge vermag also parallele Strahlen auf seiner Netzhaut zum Bilde zu vereinigen, während sein Nahepunkt etwa um 10 cm von seinem vorderen Knotenpunkte ab- steht. Es ist dies die Kategorie der normalen Augen. Eine zweite Kategorie kennzeichnet sich dadurch, dafs sich der Nahe- puukt der in ihren Bereich fallenden Strahlen gewöhnlich in ge- lingerem Abstände vom vorderen Knotenpunkte als bei den normalen Augen, der Fernpunkt in endlicher Entfernung befindet. Augen dieser Art können also immer nur divergente Strahlen, wie sie von nahe- und nächstgelegenen Gegenständen entsandt werden, zu einem deutlichen Retiuabilde vereinigen und werden deshalb kurzsich- tige genannt. Endlich trifft man auch Fälle, in welchen ein reeller Fernpunkt gänzlich fehlt und nur ein virtueller hinter dem Bulbus gelegener existiert, der Nahepunkt weiter als normal vom vorderen Knotenpunkt des Auges abgerückt ist. Hier ist also das nicht akkommodierte Auge lediglich imstande konvergente Strahlen, welche sich bei ungebrochenem Verlauf hinter der Retina schneiden würden, zur Herstellung eines Retinabildes zu verwenden und vermag sich parallelen oder schwach divergenten Strahlen nur durch das ihm innewohnende Akkommodationsvermögen anzupassen. Man heifst solche Augen überweitsichtige. Wie man erkennt, sind alle bisher er- wähnten Augenvarietäten durch Schwankungen des Brechungsver- mögens bedingt und entlehnen ihre wesentlichen dioptrischen Merk- male dem wechselnden Verhalten des Fernpunktes. "Wählt man das normale Auo^e zum Mal'sstabe der übrio-en, so ist das kurzsich- tige für die Ferne eingestellte Auge dadurch charakterisiert, dafs parallele Lichtstrahlen vor seiner Netzhaut, das über weitsichtige, nicht akkommodierte, dadurch, dafs parallele Lichtstrahlen hinter seiner Netzhaut zum Bilde vereinigt werden, Brechungseigentümlich- keiten, welche im ersteren Falle dadurch verursacht werden, dafs entweder die brechenden Medien eine zu grofse dioptrische Kraft besitzen, oder dafs bei normalem Brechungsvermögen die Netzhaut durch eine zu weite Distanz vom hinteren Knotenpunkt getrennt ist, im zweiten Falle natürlich dadurch, dafs die gerade entgegen- gesetzten physikalischen oder anatomischen Bedingungen bestehen. Dem normalen Auge sind demnach zwei Arten abnormer gegenüber zu stellen, deren abweichendes Verhalten auf Anomalien der Brechung, auf Refraktionsanomalien, beruht. Eine dritte, hier noch zu erörternde Art wird durch Fehler der Akkommodation, Ak komme- §114. KURZ- UND WEITSICHTIGKEIT. 383 datiousauomalien, bedingt uud keuDzeiclinet ßicli durcli eiueu im Verhältnis zum normalen Auge verringerten Umfang des Akkommo- dationsvermögens, durcli eine Verkleinerung der Akkommodations- breite. Um für die letztere ein prLzises Mafs zu gewinnen, bat man folgenden Weg eingescblagen. Alle Akkommodation kommt darauf hinaus, das im untbätigen Zustande für die Ferne eingerich- tete Auge für Strahlen einzurichten, welche aus gröfserer Nähe zu demselben gelangen, kurz divergente Strahlen, Avelche sonst erst hinter der ^Netzhaut vereinigt werden würden, auf dieser zum Zu- sammentreffen zu bringen. Dies ist ersichtlicherweise einmal durch Steigerung des dioptriscben Vermögens uusrer Augen zu erreichen möglich, mufs aber anderseits, da letzteres im wesentlichen dem- jenigen einer Sammellinse gleicht, sich auch dadurch nachahmen lassen, dafs man dem ruhenden, nicht alclcommodierten Auge eine Konvexliuse vorsetzt, deren Krümmung stark genug ist, um die aus dem vorher bestimmten Xahepunkte des geprüften Auges kommen- den divergenten Strahlen, welche ohne Einschaltung der Glaslinse nur im wdllkürlich akkommodierten Auge ein scharfes Bild auf der Netzhaut entwerfen würden, auch auf der percipierenden Fläche des ruhenden zum Schneiden zu bringen. Zwischen dem Brechungs- vermögen dieser Linse, welches bekanntlich durch den reciproken Wert ihrer Brennweite ausgedrückt Averden kann, und den beiden Grenzpunkten der willkürlichen Akkommodation, Fern- und Nahe- puukt, existiert nun aber eine sehr einfache Relation, welche durch die Gleichung — _ = _ ausaedrückt w^ird, Avorin P den Abstand °P R A ^ des Nahepunktes, E, denjenigen des Fernpunktes, A die BrenuAA^eite der Linse, zugleich die gesuchte Akkommodationsbreite bedeutet. Im normalen Auge, avo E, = oo, P = 10 cm (4 Zoll) ist, wird A = Vio (^A), ebenso grofs aber auch in einem kurzsichtigen Auge, dessen Fernpunkt E. in oO cm (12 Zoll), und dessen Nahepuukt P in 7,5 cm (3 Zoll) Abstand liegt, und ebenso grofs endlich in einem überweitsichtigen, dessen E = 15 cm (6 Zoll), und dessen P = 30 cm (12 Zoll) beträgt; überall, wo dieser Wert durch AuAvachsen A-on P, d. h. durch Abrücken des Nahepunktes A'om vorderen Knotenpunkte des Auges kleiner Avird, haben wir ein Auge mit verringerter Akkommodationsbreite, ein Aveitsichtiges Auge A^or uns, Avobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, dafs dasselbe Avegen be- stehender Eefraktionsanomalien aufserdem noch kurzsichtig oder über- AA'eitsichtig sein kann. DoxDERs^ dessen klassische Arbeiten zuerst die Notwendig- keit, Eefraktions- und Akkommodationsanomalien strenge voneinan- 1 DOJJDERS, Ardi. f. Ophthalm. 1858. Bd. lA'. Abth. 1. p. 301, Bd. VI. Abth. 1. 1860. p. 62, u. Abth. 2. p. 210, Bd. A'II. Abth. 1. 1861. p. 15.5: Asti^matinmus. Berlin 1862; Verslag ran het neder- landsch gäslhuis voor ooylijders. 1863. No. 4. p. 10-5. — A. FiCK, iledicin. Physik. I. Aufl. Braun- schwei? 1856. p. 306, u. Lehrb. d. Anat. u. Phi/siol. d. Sinnesorgane. Lahr 1864. p. 233. 384 KÜRZ- UND WEITSICHTIGKEIT. §114. der zu scheiden, dari^etlian haben, und dem wir ferner die prinzipiell freilich schon von A. FiCK gegebene Definition der Akkomniodations- hreite in obiger Form verdanken, ist es auch, welcher für die ver- schiedenen Augenkategorien passende, heutzutage allgemein adoptierte Benennungen eingeführt hat. Nach seinem Vorgange pflegt man das normale Auge als emme tropisch, alle andern irgendwie ab- weichenden als ametropisch zu bezeichnen, das kurzsichtige myopisch oder brachymetropisch, das überweitsichtige hyper- me tropisch, das weitsichtige presbyopisch zu heiisen. Die ursächlichen Momente, welche die Entstehung bald dieser, bald jener Art von Ametropie bewirken, sind meist pathologischer Natur und müssen also in den Lehrbüchern der Ophthalmologie eingesehen werden. Nur eine derselben trägt einen offenbar physio- logischen Charakter an sich, insofern sie mit einem als physiologisch zu bezeichnenden Vorgange, der Alterszunahme, in direkter Be- ziehung steht; mit wachsendem Alter rückt der Nahepunkt des Auges regelmäfsig in weitere Entfernung, das Auge wird presbyopisch. Wie DoNDERS^ durch genaue Beobachtungen festgestellt hat, beginnt die Abnahme der Akkommodationsbreite schon -früh, mit dem zehnten Lebensjahre, um in vorgerücktem Alter mit gleichmälsigem Abfall ein Minimum oder gar den Nullwert zu erreichen. Die Presbyopie ist demnach ein offenbar auf normalen Lebensprozessen beruhender Entwickelungszustand, eine Alterserscheinung, zum wesentlichen Teile wohl dadurch bedingt, dais ge^ässe brechende Flächen im Augeu- innern, von welchen wir das Akkommodationsvermögen in letzter Instanz abhängig finden werden, infolge allmählich zunehmender Starrheit ihres Bildungsmaterials an Nachgiebigkeit verlieren. Be- züglich der Mittel, Avelche eine bestehende Refraktions- oder Akkom- modationsauomalie zu beseitigen vermögen, müssen wir abermals auf die Lehrbücher der Ophthalmologie verweisen. Hier erwähnen wir nur in Kürze, dafs es sich gewöhnlich nicht um eine Heilung, son- dern um eine Korrektion der vorhandenen Anomalie handelt, und dafs man zu letzterem Zweck Konkav- oder Konvexlinsen, Brillen, verwendet, welche vor dem ametropischen Auge angebracht werden, und deren Wirkung auf folgenden optischen Thatsachen beruht. Bei Kurzsichtigkeit fällt das Bild aller Objekte, welche jenseits des zu nahe an das Auge gerückten Fernpunktes liegen, vor die Netz- haut. Um den Vereinigungspunkt solcher im Auge zu stark kon- vergierender Strahlenbüschel auf die Netzhaut selbst zu bringen, hält man vor das Auge eine Konkavlinse, welche nach bekannten dioptrischen Gesetzen divergierende Strahlen bei ihrem Durchgange so ablenkt, dafs sie diesseits der Linse stärker divergierend weiter 1 DONDERS u. MAC-GiLLAVRY, Onderzoek. orer de hoegrooiheid der accommodatie. Disser- tation. Utrecht 1858; Arch. f. d. hollüvd. Beitr. zur Natur- u. Heilk. 1863. III. p. ?.27, u. POGGEN- DORFFs Annulen. 1863. Bd. CXX. p. 452; Die Anomalien der Refraktion iind Accommodation. Deutsch V. 0. BECKER. Wien 1866; Klin. MonatsU. f. Awjenlieilk. 1875. XIII. p. 47-i. § 115. AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. 385 gellen, als ob sie von einem der Linse näher als das wirklielie Objekt gelegenen Punkt herrührten. Strahlen von stärkerer Divergenz werden aber notwendig im Auge eine geringere Konvergenz an- nehmen als solche von schwächerer, und ihren Vereiuigungspunkt bei passend gewählter Linsenkrümmung gerade in der Ebene der Netz- haut finden. Bei Presbyopie dagegen fällt das Bild aller diesseits des zu weit abstehenden Nahepunktes liegenden Objekte hinter die Retina, weil die Strahlen im Auge zu wenig konvergieren. Eine vor das Auge gebrachte Sammellinse von passender Krümmung gibt daher das geeignete Mittel ab die Konvergenz des intraokularen Strahlenbüschels zu steigern und den Verein igungspunkt desselben in die Netzhaut zu rücken. § 115. Der Akkommodatiousmechanismus. Wir wenden uns nun zu der Frage, worin die Veränderung im Auge besteht, infolge deren der Brennpunkt desselben nach vorn gerückt, das Auge also für die Nähe akkonimodiert , und durch welche Mittel diese Veränderung her^'orgebracht wird. Das Verdienst, die Wege der Untersuchung hier gebahnt und an Stelle der älteren teils unerwiesenen teils ent- schieden falschen Hypothesen thatsächliche Daten geliefert zu haben, welche über die wirkliche Natur und den Ort der Akkommodations- änderung im Auge keinen Zweifel übrig liefsen, gebührt Gramer und Helmholtz; und wenn auch noch hinsichtlich der Mittel., durch welche die letztere zustande kommt, keine ganz befriedigende Überein- stimmung herrscht, als festgestellt dürfen wir annehmen, dafs bei der Akkommodation des Auges für die Nähe die Krümmungs- halbmesser der Linsenfiächen, insbesondere derjenige der vorderen Linsenfläche, sich verkleinern, und dafs sich der Querdurchmesser der Linse von hinten nach vorn verlängert, die Dicke derselben also zunimmt. Wir können den Akkommodationshypothesen der früheren Zeit hier nur eine kurze Betrachtung widmen. Von vornherein sind zwei mögliche Wege der Akkommodation denkbar, entweder eine Lageveränderung des auffangen.den Retinaschirmes gegen das dioptrische System, und zwar ein Zurückschieben des ersteren bei der Einrichtung für die Nähe , oder bei unbeweglichem Schirm eine Gestalt- oder Lasreveränderuno' der brechenden . . ^ . . P Apparate. Da die Retina für sich allein nicht verschiebbar ist, so wäre ein Vor- und Zurückweichen derselben gegen die Linse nur durch eine Gestaltsänderung des ganzen Augapfels in der Art ausführbar, dafs seitliche Zusammendrückung des Auges eine Ver- längerung der Augenachse und dadurch Entfernung der Retina von der Linse, also Akkommodation für die Nähe, bewirke, oder dafs Gruenhaoen, Physiologie. 7. Aufl. H. 25 38(; AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. §11». Zusamineudrückung des Augapfels gegen den Hintergrund der Augenhöhle seine Längenaclise verkürze, das Auge also für die Ferne akkommodiere, die entgegengesetzte Akkommodation aber auf dem Nachlasse der aktiven Kompression beruhe. Da nun für die willkürlich zu jeder Zeit in jedem beliebigen Grade hervorzurufende Akkommodation nur willkürlich kontrahierbare Muskel- gebilde als Werkzeuge vorausgesetzt werden können, so lag der Gredanke nahe, den äufseren Bewegungswerkzeugen des Auges, den vier geraden und zwei schiefen Muskeln, welche den Augapfel umfassen, die Rolle zuzuschreiben, bei ihrer Kon- traktion die angenommene Gestaltsäuderung desselben hervorzu- bringen. Man hat sich den Mechanismus dieser Wirkung der Augen- muskeln auf verschiedene Weise vorgestellt. Nach der einen Ansicht dienen die Muskeln dazu, bei ihrer Kontraktion die Augenachse zu verlängern, das Auge also für die Nähe zu akkommodieren, nach der andren sollen sie das Gegenteil, die Verkürzung der Augeuachse^ bewirken, das Auge also für die Ferne einrichten. Den ersten Vorgang dachte man sich entweder so, dafs die vier geraden Muskeln, welche, von vier Seiten her dem Bulbus anliegend, bogenförmig von hinten um ihn herumgreifen und an seine vordere Hälfte sich inserieren, bei gleichzeitiger Kontraktion sich gerade strecken und dabei eine seitliche Kompression auf den Bulbus ausüben, durch welche der Querdurchmesser desselben verkürzt, der Längsdurch- messer verlängert werde. Oder man glaubte, dafs die von zwei Seiten her in der Richtung des Äquators den Augapfel umfassenden musculi ohliqid bei gleichzeitiger Kontraktion einen die Augenachse verlängernden Druck ausübten. Nach einer andren Ansicht sollten, die vier geraden Augenmuskeln, welche ihr punctum flxu)ii an der hinteren Augenhöhleuwand haben, bei gleichzeitiger Kontraktion den Augapfel nach hinten zu ziehen sich bestreben; da aber das Fett- polster der Augenhöhle unnachgiebig sei und ein Zurückweichen des Bulbus nicht gestatte, so sei die Folge der Muskelwirkung eine Zusammendrückung des Bulbus von vorn nach hinten, bei Avelcher sein Querdurchmesser zu-, sein Längsdurchmesser abnehme. Schon bevor die wirklichen Adaptationsveränderungen ermittelt waren, hatte man die Haltlosigkeit aller dieser Theorien deutlich erkannt. Einmal liefs sich aus mechanischen Gründen jeder der hypothetischen Muskel- effekte anzweifeln, am meisten die Verkürzung der Augenachse auf dem zuletzt genannten Wege. Abgesehen davon, dals, wie wir oben sahen, eine aktive Akkommodationsveränderung nur für das Nahesehen statt- findet, die in Rede stehende aber für das Fernsehen bestimmt sein müfste, ist nicht erwiesen, dafs das Fettpolster unnachgiebig genug ist, um als fester Stützpunkt für den Augapfel zu dienen, ist ferner nicht einzusehen, wie die Muskeln bei deren Verkürzung die von ihnen beschriebenen Bögen notwendig abgeflacht werden müssen, gerade umgekehrt infolge ihrer eignen Thätigkeit mittelbar eine §115. AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. 387 stärkere Krümmiiüg ihrer Verlaufsri.chtung erfahren sollteu, A\as zu erwarten stände, wenn sie den Querdurchmesser des Bulbus zu ver- gröl'sern vermöchten. Als ein fernerer gewichtiger Einwand gegen jede beliebige Akkommodationswirkung der äufseren Augenmuskeln ist wohl zu beachten, dafs wir unser Auge in jeder beliebigen Stellung für die Xähe einrichten können, nicht aber blofs beim Geradaussehen, wobei allein eine gleichzeitige gleichmäfsige Druck- wirkung der vier geraden oder der beiden schiefen Muskeln denkbar wäre. Wir werden unten erfahren, dafs die Akkommodation für die Nähe beim gewöhnlichen Sehen mit zwei Ausfen konstant mit der Thätigkeit von nur zwei äufseren Augenmuskeln, den musculi recti interni, verknüpft ist, indem dieselben beide Augen jedesmal so weit nach innen drehen, dafs beide Augeuachsen sich in dem Ob- jekt, für welches das Auge akkommodiert ist, schneiden. Je näher das Objekt, desto stärker die Akkommodationsanstreugung, desto stärker aber auch die ausschliefsliche Thätigkeit der erwähnten Augenmuskeln. Es ist nun leicht einzusehen, dafs bei starker Ein- Avärtsdrehung des Aug«s durch Verkürzung des redus internus dieser ebensowenig einen Seitendruck auf den Bulbus ausüben kann , wie der extern US, Avelcher erschlafft sein mufs, wenn überhaupt eine Einwärtsdrehuug des Auges zustande kommen soll. x\nalog läfst sich die Unmöglichkeit des Zusammenwirkens der vier geraden Muskeln bei stark nach aufsen gedrehten Augen, wobei unser Akkommodationsvermögeu nicht etwa verloren geht, nachweisen, ebenso ferner die Unmöglichkeit der kombinierten Wirkung der ohiiqui. Weiter aber sprechen eine Anzahl pathologischer Er- fahrungen gegen jede Beteiligung der Augenmuskeln an der Akkommodation; es sind Fälle beobachtet worden, in welchen bei Lähmung sämtlicher äufseren Augenmuskeln das Anpassungs- vermögen in unareschAvächtem Grade fortbestand, und anderseits Fälle, in welchen trotz vollkommen freier Beweglichkeit der äufseren Augenmuskeln das Akkommodationsvermögen sehr schwach war oder gänzlich fehlte. Aufser diesen gröfstenteils aprioristischeu Gründen gegen die Beziehung der äufseren Augenmuskeln zur Akkommodation gibt es noch direkte Beweise gegen eine solche. Wenn die Augen- muskeln durch Druck auf den Bulbus in irgend welcher Weise dessen Form veränderten , so müfste sich die Form, d. h. die Krümmung, der Hornhaut mit verändern; eine solche Veränderung tritt abei- entschieden nicht ein während der Akkommodation für die Nähe. Umgekehrt hat Helmholtz^ mittels des Ophthalmometers erwiesen, dafs jede Vermehrung des hydrostatischen Druckes im Auge, welche also auch bei jener hypothetischen Akkommodationsthätigkeit der äufseren Augenmuskeln eintreten müfste, wirklich eine Form- veränderung, und zwar eine Abflachung der Hornhaut hervorbringt. 1 HELMHOLTZ, a. a. O. p. 116. — Schelske, Arcli. f. Ophthulm. 1864. Bd. X. 2. Abtli. p. 1. 25* ;588 AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. §115. Eudlicli luit Tu. 'S'ouNO durch einen sehr sinnreichen Versuch gezeigt, dafs niclit die geringste Verlängerung der Augen;ichse heim Nahesehen erfolgt. Bei starker Einwärtsdrehung seines Bulbus und Fixierung desselben mittels eines auf die (•onjuncfiva Jmlbi auf- gelegten glatten Sohlüsseli'ings gelang es ihm durch einen nahe beim hinteren Augeii])ol angebrachten Druck die Stelle des schärfsten Sehens mechanisch zu erregen und eine Drucktigui- hervorzurufen, welche einer scharfen Beobachtung zugänglich war. Akkommodierte er sich alsdann für einen sehr nahe gelegenen Gegenstand, so erlitt die ento]itische Erscheinung keine Gröfsenschwankung, während sie an Umfang hätte zunehmen müssen, weuu die akkommodative Thiltigkeit auf einem Zurückweichen des Augenhintergrundes beruhte, letzteren im vorliegenden Falle also mit verstärktem Druck gegen den pressenden Gegenstand getrieben hätte. Die schon oben angedeutete Thatsache, dafs ein bestimmter Akkommodationszustand mit einer bestimmten Augen- stellung, d. h. mit einer bestimmten Thätigkeit der äufseren Augenmuskeln, verbunden ist, Veränderungen der einen demnach von solchen des andren gefolgt zu sein pflegen und umgekehrt, hat gleichfalls ehedem zu der Ansicht verleitet, dafs Augenstellung und Akkommodation nicht allein in einem gegenseitigen Abhängigkeits- verhältnis zueinander ständen, sondern auch aus der Thätigkeit eines beide Bewegungsvorgänge gemeinsam bedingenden, in den äufseren Augenmuskeln gegebenen Muskelapparats hervorgingen, je- doch, wie mehrfach^ dargelegt worden ist, ganz unberechtigterweise. J. i\[uELLER wies zuerst nach, dafs ein bestimmter Akkommodations- zustand nicht immer und nicht notwendig mit einer bestimmten Augenstellung, mit Konvergenz der Augenachsen in dem fixierten Punkte, verknüpft zu sein brauche ; er fand, dafs, wenn man mit einem Auge nach dem Monde sieht und dann das andre geschlossene öffnet, die Augenachsen anfangs nicht im Monde konvergieren, sondern dafs ein Doppelbild desselben gesehen wird. Volkmann bestätigte dies Ergebnis auch für nahe gelegene Gegenstände, ebenso Ruete. DoNDERS zeigte, dafs, wenn man mit einem Auge frei, mit dem andren dagegen durch die grofse Öffnung einer konischen, am zugespitzten Ende mit einer feinen Öffnung versehenen Papierdüte nach einer Druckschrift blickt, die Augenachsen ebenfalls nicht in denselben Buchstaben sich schneiden und selbst bei Anstrengung unsers Willens nicht zur Konvergenz in ihnen gebracht werden können, obwohl beide Augen für die Entfernung des Buches akkommodiert sind. Eine grofse Reihe gleichartiger Versuche hat Czermak angestellt, und sowohl die gcsetzmäfsigen Bedingungen, unter welchen, als auch die Grenzen festzusetzen gesucht, innerhalb deren bei un- > J. MUELLER, Handh. d. Physiol. Bd. II. p. 336. — VOLKMAXN, a. a. O. \>. 308. — RUETE, Lefirh. d. Ophthalmologie, p. 103. — DONDERS, Nederl. Lancet. II. Ser. 2. Jahrg. p. 156. — CZEEMAK, Phiisiol. Stud. p. 1; Gemmmelte Schriften. Leipzig 1879. Bd. I. Abth. 1. p. 243. §115. AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. 389 verändertem x\kkommodatioiisziistand die Sehachsen vor oder hinter dem Akkommodationspuukt zur Krenzung gebracht Averden können. Volkmann schliefst aus diesen Yersuchsresultaten, dal's das innige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Augenstellung und Akkommodation nur ein durch Übung erworbenes sei, indem jene möglichen Ab- weichungen beweisen, dal's zwei verschiedene Beweguugsapparate vorhanden sein müssen, von denen der eine die Akkommodation, der andre die Augenstellung reguliert, beide aber einer gesonderten Thätigkeit fähig sind. Aufserdem folgert Volkmann aus seinen Messungen über die Schnelligkeit der Augenbewegungen im Ver- gleich mit derjenigen der Akkommodation, dafs die Muskulatur, durch welche diese von statten gehe, durch ein trägeres Kon- traktionsverniögen gekennzeichnet sei als die offenbar verschieden- geartete, von welcher der bekanntlich sehr rasche Wechsel der Bulbuslage bewerkstelligt werde. Czeemak und Hering^, welche das Vorhandensein zweier getrennter Bewegungsapparate für beide Vorgänge zugeben, w- eichen nur darin von Volkmann ab, dafs sie die Association derselben nicht als eine angewöhnte, sondern als eine durch organischen Zusammenhang der nervösen Bewegungscentra bedingte, kurz als eine angeborene angesehen wissen wollen. Gleich- viel aber, welche inneren Gründe die von sämtlichen Autoren zu- gestandenen thatsächlichen Verhältnisse auch haben mögen, dieselben beweisen unter allen Umständen, dafs die äufseren Augenmuskeln bei der Akkommodation unbeteiligt sind, ja die von Volkmann richtig erkannten zeitlichen Differenzen der Akkommodations- und der Bulbusbewegungen würden sogar dann die Annahme eines ein- zigen, beide Aktionen gemeinsam vollziehenden Muskel apparats aus- schlielsen, wenn die Association derselben wirklich unlösbar und unveränderlich wäre, was nach dem früher Gesagten eben nicht der Fall ist. Beruht also die Akkommodation nicht auf einer allgemeinen Formveränderuug des Bulbus, und, da bei Betrachtung geradeaus und seitlich liegender Objekte sehr verschiedene Kombinationen von Muskelwirkungen die Kreuzung der Augenachsen hervorbringen, auch nicht auf der die Augenstellung regulierenden Muskelaktion, so bleiben nur noch Form- und Lageveränderungen der brechen- den Apparate zu ihrer Erklärung übrig. Solche können aber in dreifacher Richtung gesucht werden, entweder in einer Veränderung der Hornhautkrümmung, oder einem abwechselnden Vor- und Zurückrücken der Linse, oder endlich einer Formver- änderung der Linse. Was das erstere Mittel, die Veränderung der Hornhautkrümmung betrifft, so käme hier nur eine Zunahme derselben in Betracht, durch M'elche der hintere Vereinigungspunkt der einfallen- den Strahlen der Hornhaut näher gerückt, das Auge also für die 1 T:. Hekixg, Dir. Lehre t'oin hinocularen Sehen. Leipzig 1S6S. p. 112. — Czekmak, a. a. O. ■)9() AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. §115. Nähe akkomraodiert werden würde. Diese iVnnalime ist in früherer Zeit in der That von verschiedenen Antoreu gemacht nnd die ver- mutete Vorwölhung des Hornhautscheitels beim Nahesehen ver- meintlich sogar direkt beobachtet Avorden (Home). Aber, ungerechnet den Umstand, dafs kein Apparat vorhanden und denkbar ist, welcher die Form der Hornhaut allein veränderte, ein Konvexerwerden der- selben vielmehr nur unter Verlängerung der Augenachse durch seitliche Kompression des Bulbus möglich wäre, so ist auch erstens das an- gebliche Vorrücken des Hornhautscheitels teils aus SchAvankungen der Kopfhaltung, teils aus einem Vorrücken des ganzen Augapfels erklärt Avorden, zAveitens von Th. YouNG, Senff, Gramer und am genauesten von Helmholtz (mittels des Ophthalmometers)^ durch direkte sorg- fältige Messungen des Spiegelbildes der Cornea beim Nahe- und Fernsehen der entscheidende BeAveis geliefert Avorden, dafs keine zur Erklärung der Akkommodation A^erAvendbare xinderunc;: des Krümmungshalbmessers der Hornhaut stattfindet. Was die Kristalllinse betrifft, so hatte unter allen Adaptations- hypothesen bis auf die neueste Zeit die Ansicht am meisten Geltung erlangt, dafs die Akkommodation durch eine Lageveränderung, und zwar durch ein Vorrücken der Linse beim Nahesehen zu- stande gebracht werde. ^ Ein thatsächlicher sicherer BoAveis für das Eintreten einer LinseuA^erschiebung nach vorn ist jedoch nie geliefert Avordeu; die einzige direkte, aber, Avie Avir bald sehen Averden, nicht eindeutige Beobachtung, Avelche dafür angeführt wurde, ist die von Hueck, dafs man bei Betrachtung des Auges einer Person im Profil bei der Akkommodation desselben für die Nähe die Iris sich nach A'orn drängen, sich stärker in die A'ordere Augenkammer A^orAvölben sehe. Volkmann Avill dieses Phänomen nur bei Huecks Augen, bei keiner andren Person Avahrgenommeu haben; Avir Averden in- dessen sogleich sehen, dafs dieses Vortreten der Iris allerdings mit Bestimmtheit Avährend des Nahesehens eintritt, aber von einer Form-, nicht a^ou einer LageA^eränderung der ganzen Linse herrührt. Sollte übrigens der faktische Umfang der Akkommodation durch eine LiuseuA^erschiebung allein erklärt Averden, so müfste, wie sich leicht berechnen läfst, eine ziemlich beträchtliche Amplitude der Ver- schiebung angenommen werden. Hceck schlug dieselbe zu 0,7 — 1,7 mm an. Listing'^, Avelcher die Akkommodation gleich- zeitig auf ZurüokAveichen der Netzhaut und Vorrücken der Linse zurückzuführen versuchte, berechnete die Gröfse der Netzhautver- schiebung zu 2,49 mm, die der Linsenverschiebung zu 1,5 mm. Die Erklärung so beträchtlicher Verschiebungen, die Auffindung eines dazu geeigneten Mechanismus, bot grofse Schwierigkeiten; es ' Vg-l. YOUNG, Philosoph. Transuct. for tlic year 1801. Part. I. p. 55. — Senff in R. WAGNERS Hdwijrterb. Art. Sehen v. A^OLKMANN. Bd. III. 1. p. 303.— CrAMEK, Nuturf;. Verhandel. van de Holland. Maaischappij der Wetensch. te Ilaarlem. 1853. VIII. — IlELMHOLTZ, a. a. O. p. 120. 2 Litteratur s. b. HELMHOLTZ, a. a. O. p. 120. = Listing, a. a. O. p. 498. §115. AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. 391 war scliwer zu sagen, Avoliin das imkompressible Kammerwasser so rascli entweichen, welche Kräfte die Ortsveränderung trotz der grofsen Widerstände bewerkstelligen sollten. Da die fragliche Yerschiebung aber in AVirklichkeit nicht stattfindet, so kann die spezielle Dar- legung und Kritik der zum Teil sehr komplizierten Hypothesen über den Bewegungsapparat der Linse unterbleiben. Begreiflicherweise boten nur zwei Muskelsysteme einigermafsen brauchbare Anknüpfungs- punkte für dieselben dar, die Muskelfasern der Iris und der fensor chorioidcac. Beide sind einzeln oder vereinigt zu Erklärungen ver- wendet worden. Das Ausweichen des Kammerwassers sollte ent- wedeT durch Ahflufs in den A'orderen FoNTAXAschen Kanal (Hueck), oder durch Entleerung der Blutgefäfse des vor der Linse liegenden Teils des cojjnis ciliare (Ludwig) möglich werden.-^ Einige der in Eede stehenden Hypothesen über den Yerschiebungsmechanismus der Linse nähern sich oder fallen fast zusammen mit denjenigen Theorien, welche später zur Erklärung der wirklichen Akkommodation s- veränderung, d. h. der Formveränderung der Linse, aufgestellt wurden, so namentlich die Hypothese von Stellwag von Carioa'", welcher jedoch neben der Verschiebung der Linse eine .stärkere Wölbung ihrer Yorderfläche beim [Nahesehen annahm. Schliefslich haben v/ir flüchtig noch eine Ansicht älterer Zeit über den Akkommodationsmechauismus zu berühren, die Ansicht, dafs die Bewegung der Pupille allein, ihre Yereugerung beim iSTahesehen, ihre Erweiterung beim Fernsehen, die Adaptation be- wirke. Es fufst diese Hypothese auf der zuerst von Sciieiner konstatierten Thatsache, dafs bei Betrachtung naher Objekte die Pupille eng, bei Betrachtung ferner weit wird. Wie die Pupillen- verengerung die Akkommodation zustande bringen sollte, war von niemand in irgend haltbarer Weise erklärt worden; dafs die Zer- streuungskreise zu naher Objekte etwas verkleinert werden, wenn der einwärtsrückende Pupillenrand den peripherischen Teil des Strahlen- kegels abschneidet, ist klar, aber eben so leicht zu zeigen, dafs diese Beschneidung der Zerstreuungkreise durchaus nicht zur scharfen Wahrnehmung naher Objekte ausreicht. Man braucht eben nur ein Kartenblatt mit einem feinem Stichloche zu versehen, Avelches enger als die Pupille ist, und durch dasselbe hindurchzublicken, um sich zu überzeugen, dafs man auch dann noch beim Fernsehen nahe Gegenstände undeutlich sieht, und umgekehrt.^ Aufserdem ist diese Hypothese auch durch interessante direkte Yersuche von E. H. AVeber'^ vollständig als irrig erwiesen. Weber hat gezeigt, dafs die Yereugerung der Pupille überhaupt nicht mit der Akkommodations- sondern mit der beim Betrachten nahe ofele^ener Gesrenstände ein- » Ludwig, Zehrb. d. P/iysiol. I. Aufl. Bd. I. p. 213. 2 Stellwag v. CAKIOX, Wien. ZeUschr. f. Xrzte. 1850. Bd. VI. No. 3 u. 4. 3 Helmholtz, a. a. O. p. 119. * E. H. Weber, Summa (loctrinae de motu irUl. Gratulationsprogramm. Leipzig 1851. p. 11. Annot. unut. et phys. Fase. HI. p. 89. •392 AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. §115. tretenden Ivouvergenzbewegung der Bull)! assoeiiert, mithiu von dem erstereuBewegungsvorgange ganz unabhängig ist. Die Pupille verengert sich nämlich trotz Voi'nahme der Akkommodation unsers Auges für die Nähe gar nicht, wenn die Konvergenz der Augenachsen unverändert bleibt, oder auch nur das Bestreben, sie zu verändern, fehlt, wohingegen die Pupillenweite ungeachtet konstant erhaltenen Akkommodatißus- zustandes jedesmal in der oben bezeichneten Weise wechselt, jenachdeni die Konvergenz der Augenstellung zu- oder abnimmt. So unsicher, wie aus dem bisher Gresagten sich ergibt, stand die Frage nach dem Wesen des Akkommodationsvorganges und seines Mechanismus, als ein schon von M. Langenbeck angestellter Versuch gleichzeitig von Gramer und von Helmiioltz^ wiederholt wurde und beide zu der Erkenntnis führte, dafs bei der Akkommodation des Auges für die Nähe eine Formveränderung der Linse, und zwar eine Vermehrung der Krümmung ihrer Vorderfläche, ohne Verschiebung der ganzen Linse eintritt, während sich beim Fernsehen die natürliche Krümniuno; durch die Elastizität der durch Druck konvexer gemachten Linse wiederherstellt, in dem Mafse, als die aktive Druckwirkung nachläfst. Gramer hat die beschriebene Form Veränderung der Linse mit Hilfe des sogenannten PuRKiNJE-SANSOXschen Versuches, durch ge- naue Beobachtung der oben besprochenen Spiegelbilder einer Flamme au den Brechungsflächen des Auges, erwiesen. Mit einem be- sonderen Instrument, dem Ophthalmoskop, betrachtete er diese Flammenbilder bei zehn- bis z vv anzigfacher Vergröfserung, während das beobachtete Auge bei unveränderter Richtung seiner Achse sich abwechselnd für einen nahen Punkt und für einen möglichst entfernten akkommodierte. Es zeigte sich, dafs bei diesem Wechsel der Akkommodation das von der vorderen HoruhautÜäche a und das von der hinteren Linsenfläche gespiegelte verkehrte Bild c unver- ändert ihre Stellung, Form und Gröfse beibehielten, das hinterste (zwischen a und c erscheinende), schwächste, von der vorderen Liusenfläche herrührende Bild h dagegen seine Lage, Gröfse und Helligkeit in folgender Weise änderte. Sieht man unter bestimmter Richtung uud bei bestimmter Stellung der Lichtflamme gegen das Auge, so zeigen, während das- selbe für die Ferne akkommodiert ist, die drei Flammenbilder die in Fig. 130 gezeichnete Lage. Am linken Rand der Pupille bemerkt man das Bild a der vorderen Hornhautfläche, am rechten das verkehrte der hinteren Linsenfläche c, ziemlich in der Mitte, als Zerstreuungs- kreis (weil es nicht im Focus des auf c eingestellten Mikroskopes liegt) das matte Bild h der vorderen Linsenfläche. Akkommodiert 1 M. LANGENBKCK, Klin. ßeifrär/c. Göttiniien 1849. — CllAMKR, A'iitiirk. Verhdl. van de Holland, yiaatschuppij der Wetensc/i. te Haarlem. 1S53. VIH ; vorl.autige Notizen in Tydsc/ir. d. Maat- schuppij voor Geneesk. 1851. Bd. XI. p. 115; Nederl. Lancet. II. Ser. Bd. I. \>. 529. — HELMHOLTZ, Monatsher. d. lierl. Akud. d. Wis.'i. Febr. 18.53. p. 137; Arc/i. f. Ophthalm. 1853. Bd. I. Ahth. 2. p, 1, 11. Hanilh. d. plninlol. Opfik. etc. p. 103 u. 121. §115. AKKOMMODATK )NSMECHANISMrS. 39^ sich Ulm das Auge für die Xälie, so rückt jedesmal J), währeud es zugleich kleiuer und heller wird, uähev au das vordere Hornhaut- bild a heran, wie es in Fig. 131 in 1/ gezeichnet ist. Diese Lage- veränderung von h bedeutet, dafs eine Lageveränderung der Fläche, von welcher h reflektiert ist, stattgefunden hat, während das Kleiner- und Hellerwerden des Bildes h zugleich eine Verkleinerung des Krümmungshalbmessers der nämlichen Fläche beweist, die unver- änderte Lage und Gröfse von c aber die unveränderte Lage und Gestalt der hinteren Linsenfläche nach Cramek ergeben würde. Die Notwendigkeit dieser Schlüsse hat Dondeks^ sehr klar an der bei- gefügten Fig. 132 entwickelt. Fig. 130. Fig. 131. Ist L die Lichtquelle, so werden die in 1 auf die vordere Horuhautfläche treffenden Strahlen, unter gleichem AVinkel mit dem Einfallslot (der Sehachse) G A reflektiert, als 1 0 das Auge 0 des Fig. 132 ■^. Beobachters erreichen, dieser sieht daher das Hornhautbild von L in der Richtung 0 1 auf die Ebene der Pupille P V projiziert in a. 1 DOXDERS, OnUerzoeJ:. (icd. in het pIi>isiol. Lahurat. der Utrechtsche Iwupcscfi. Jaar VI. p. 35. 304 AKKOMMODATIONSMEOHANTSMUS. §115. Ebenso werden die von L ausgehenden, bei 2 die vordere Linsen- fliiclie treffenden Strahlen nach 0 so reflektiert, dafs 0 in der Rich- tung 0 2 das Bild in h sieht. Endlich wird nach denselben Ge- setzen de]' Beobachter das Spiegelbild der hinteren Linsenfläche in der Richtung 0 3 in c sehen. Es erscheinen also die Spiegelbilder in der Ordnung und Lage, wie in Fig. 130 oben. Rückt nun die Vorderfläche der Linse bei der Akkommodation für die Nähe bei vermehrter Wölbung mit ihrem Scheitel nach 2', so mul's notwendig das Spiegelbild dieser Fläche in der Richtung 0 2' in h' gesehen werden; es rückt daher näher an a, wie dies oben Fig. 181 zeigt. Dabei ist nach Donders noch zu berücksichtigen, dafs infolge der Ablenkung der Strahlen durch die Hornhaut die Lageveränderung des Bildchens h notwendig etwas beträchtlicher erscheinen mufs, als sie in Wirklichkeit ist. In der umfassendsten, exaktesten Weise ist die Formveränderung der Linse durch Helmholtz bestimmt worden. Zunächst hat der- selbe eine einfache Methode an- gegeben das Grundfaktum, das Vorrücken des vorderen Linsen- scheitels, an dem Vorrücken des Pupillenrandes leicht zu beob- achten und die G-röfse dieser Verschiebung annähernd zu messen. Betrachtet man das Auge einer Person von der Seite und etwas von hinten, so dafs, während dasselbe einen fernen Gegenstand fixiert, die schwarze Pupille nur zu]" Hälfte vor dem Hornhautrande vorragt, wie in a (Fig. 133) dargestellt ist, so sieht man, sobald das Auge, ohne sich zu verrücken, einen nahen Gegenstand fixiert, die ganze Pupille und wohl auch noch einen Teil des dem Beobachter zugev/ endeten Irisrandes vortreten, wie h darstellt. Gleichzeitig mit dem Vortreten der Pupille wird der zwischen ihr und einem am Profilrand der Hornhaut erscheinenden schwarzen Streifen c^ c^ gelegene graue Bogen (welcher das durch die Brechung der Hornhaut verzerrte Bild des über die Iris vorragenden jenseitigen Scleroticarandes ist) schmäler. Die Gröfse der Ver- schiebung des Pupillenrandes fand Helmholtz in zwei Beobachtungen an einem Auge = 0,44 mm, am zweiten = 0,36 mm. Ein un- bedeutender Teil dieser Verschiebung kommt auf Rechnung der Pupillenverengerung beim Nahesehen, der gröfste rührt vom Vor- rücken des Linsenscheitels her. Dafs das Vorrücken des Pupillen- randes nur möglich ist, wenn sich in entsprechendem Grade der äufsere Irisumfaug nach hinten bewegt, versteht sich von selbst, sobald man sich erinnert, dafs die Hornhautform ungeändert bleibt, der humor aqucus inkompressibel ist, die Iris aber Avenigstens §115. AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. J95 er 135. mit ijireii inneren Randpartien der Linse aufliegt. Helmholtz liat dieses Zurückweichen der Irisperipherie direkt durcli einen sinn- reichen Versuch nachgewiesen, dessen Prinzip folgendes ist. Läfst man ganz von der Seite her Licht auf das Auge fallen, so dafs die Iris gröfstenteils beschattet ist, p.^ ^„^ so entsteht auf der dem Lichte gegen- überliegenden Seite derselben ein ge- krümmter heller Streifen, eine kaustische Linie, wie sie Fig. 134 auf der Seite a darstellt, wenn das Auge seitliches Licht in der Richtung des Pfeiles empfängt. Diese «^ Linie nähert sich bei Akkommodation für die Nähe dem äufsersten Rand der L-is und entfernt sich davon bei Akkommodation für die Ferne. Die Benutzung des PuRKixJE-SANSONschen Versuches zur Be- obachtung der Krümmungsveränderung der vorderen Linsen fläche hat Helmholtz in der Weise modifiziert, dafs statt einer zu spiegelnden Flamme einen Schirm mit zwei übereinander stehenden Offnungen, hinter deren jeder sich ein Licht befindet, benutzt. Es hat diese Methode den grofsen Vor- teil, dafs man die Verkleinerung des vorderen Linsenbildes bei der Akkommodation für die Nähe schärfer beobachten kann, indem man seine Aufmerksamkeit statt auf die Verkleinerung des einen Flammenbildes auf diejenige des Abstandes beider richtet. Fig. 135 A stellt die Spiegelbilder der beiden Flammen beim Fernsehen, B beim Nahesehen dar. Mit Hilfe des Ophthalmometers mafs Helmholtz den Abstand der Spiegelbilder der vorderen Linsenfläche beim Nah- und Fernsehen und berechnete daraus die Änderung des Krümmungshalbmessers. In einem Auge nahm derselbe bei der Akkommodation für die Nähe von 11,9 auf 8,6 mm ab, im andren von 8,8 auf 5,9 mm. Um möglichst genaue Werte zu erlangen, was bei derLiclitschwäche clerLinseu- bilder seine Schwierigkeiten hatte, stellte Helmholtz durch eine zweite Flamme von veränderlicher Gröfse gleichzeitig zwei hellere und schärfere Hornhaut- spiegelbildcr her, welche er den dicht neben ihnen zu erblickenden Linsenbildern in bezug auf Abstand und Gröfse gleich machte und dann anstatt der letzteren für die Messung verwertete. Später haben nach einem Vorschlage von Helmholtz, wie schon früher bemerkt, Rosow u. a.^ diesen Umweg durch Anwendung intensiver Lichtquellen und zwar von direktem Sonnenlicht entbehrlich gemacht. ' Rosow, Arch. f. Ophthulm. 1865. Bd. XI. Abth. 2. p. 129. — StrAWBRIDGE, Sltzungs- her. d. ophthubn. Ges., Klin. Monatsbl. v. ZeHENDER. Stuttgart 1S69. p. 480. — ADAMUECK u. WoiNOW, Arch. f. Ophthalm. 3870. Bd. XVI. Abth. 1. p. 150. — WoiNOW. OphtJialmomefrie. Wien 1872. p.'lOO. — Mandelstamm u. Schoeler, Arch. f. Ophthalm. 1ST2. BA.XXl. Abth. 1. p. 155. — Reich, ebenda. 1874. Bd. XX. Abth. 1. p. 207. 39G AKKOMMODATI0NS3IECHANISMUS. §115, Ferner fand Helmholtz, dafs aucli das Spiegelbild der hinteren Linsenfläclie beim Nabesehen etwas kleiner, der scheinbare Ort des- selben aber nicht merklich geändert wird; das beweist, dafs die Yer- kleiuernng des Spiegelbildes von einer schwachen V^ermehrung der Krümmung der hinteren Fläche herrührt, während der wahre Ort der- selben seine Lage nicht verändert. Fassen wir demnach die Akkommo- dationsveränderungen des Auges bei der Einrichtung für die Nähe noch einmal zusammen, so finden wir: 1. die Pupille verengt sich; 2. der Pupillarraud der Iris bewegt sich nach vorn, ihre Peripherie weicht zurück; 3. die vordere Linsenfläche wölbt sich und ihr Scheitel bewegt sich nach vorn; 4. die hintere Linsenfläche wölbt sich ebenfalls etwas stärker, verändert aber ihren Platz nicht merklich. DieLinse wird also in der Mitte dicker, während sich ihre queren Durch- messer verkürzen. Die Gröfse dieser einzelnen Veränderungen, wie sie Helmholtz bei seinen Messungen fand, reicht hin, den Akkommodationsumfaug des Auges zu erklären. Wir fügen als An- haltepuukt (Fig. 136) die neueste von Helmholtz entworfene Fig. 136. ■\ Abbildung bei, welche einen Durchschnitt des vorderen Bulbus- segments in der Weise darstellt, dafs die linke mit F bezeichnete Hälfte der Figur Form und Lage der Teile desselben beim Fern- sehen, die rechte mit N bezeichnete die Verhältnisse beim Nahe- sehen, und zwar in ömaliger Vergröfserung wiedergibt. So exakt demnach die Akkommodationsveränderung selbst dar- gethan war, so hat es doch noch eine geraume Zeit gewährt, ehe man sich über den Mechanismus klar zu werden vermochte, welcher die nachgewiesene Formveränderung der Linse hervorbringt. Dafs die Linse selbst kein aktives Kontraktionsvermögen besitzt, wie man früher zum Teil glaubte (Th. Young nannte sie muscidus crystallinus), ist längst nicht mehr zweifelhaft. Es bleiben folglich, wenn war eine AVirksamkeit der äufseren Augenmuskeln aus bereits mitgeteilten Gründen in Abrede stellen müssen , nur zwei Muskel- § 115. AKKOMMODATIONSMECHANISMTJS. 397 apparate in iiuserm Auge übrig, welche für das Zustauclekommen der Akkommodatiousbewegung der Linse verantwortlich gemacht werden können, die glatte Muskulatur der Iris und diejenige des Ciliarmuskels. Von der ersteren^ kann indessen schon darum voll- ständig abgesehen werden, weil gänzlicher Mangel der Regenbogenhaut das Bestehen eines normalen Akkommodationsvermögeus nicht aus- schliefst (RuETE, V. Graefe, Reuling-), und weil experimentelle Unter- suchungen von Hensen und Voelckers und ferner vonP. Smith^ ge- lehrt haben, dais elektrische Reizung der Ciliarnerven oder der vorderen Bulbuspartien auch nach Abtragung der Iris eine Krümmung der Linsenflächeu bediugt. Aufserdem finden bekanntlich bei jedem Be- leuchtungswechsel Irisbewegungen statt, ohne von Akkommodations- veränderungen notwendig begleitet zu werden, und umgekehrt weifs man, dafs die einzige sicher mit der Einstellung imsers Auges für die Nähe verknüpfte Irisaktion (s. o.) auch insofern ganz unabhängig davon erfolgt, als dieselbe um ein nennbares Zeitintervall später als diese beginnt.^ Alle Theorien des Akkommodationsmechanismus, welche der Irismuskulatur eine wesentliche Rolle bei diesem Vorgange zu- schreiben, können nach dem Gesagten also wohl für beseitigt und mithin nur diejenigen Theorien noch als diskussionsfähig erachtet werden, welche in dem tcnsor chorioidcae den eigentlichen Akkommo- dationsmuskel erblicken. Unter den letzteren ist nach der experi- mentellen Bearbeitung, welche die uns beschäftigende Frage durch Hensen und Voelckers^ gefunden hat, wohl auch schon zu gunsten einer einzigen, und zwar zu gunsten der von Helmholtz aufge- stellten entschieden. Dieselbe geht von der Annahme aus, dafs die Spannung, in welcher sich die zonida Zinna des lebenden Auges bei Akkommodationsruhe (Adaptation für die Ferne) schon wegen der prallen Ausfüllung des Bulbus durch seine Contenta befinden mufs, eine Zugwirkung am Linsenrande ausübt , wodurch die weiche Linsensubstanz zwischen vorderer und hinterer Kapsel zusammen- geprefst und das ganze Organ in einer gewissen Abplattung erhalten wird. Für das Bestehen einer solchen Kompression dürfte das ^'on Helmholtz, wie wir oben sahen, konstatierte Dickerwerden der Linse nach dem Tode einen unbestreitbaren Beweis liefern. Die Verknüpfung des Adaptationsvorgaugs mit der erwähnten Annahme macht sich aber nach Helmholtz, wie folgt. "Wenn sich der tcnsor zJiorioidene, von welchem zur Zeit, als Helmholtz seine Theorie <:'um erstenmale aufstellte, übrigens nur die meridio7ialen Längsfaser- 1 Vgl. Gramer, n. a. O. u. Norton, Proceedi nnn of tke Royal Societii of London. 1872/73. Vol. XXI. p. 423, u. Brit. med. Journ. 27. Dez. 1873. ^ EUETE, Cornmenf. de irideremia congenita ejiisque vi in fnc. accomm. ocul. Programm. Lipsiae 1855. — Keuling, Americ. Journ. of nat. Sc. 1875. Bd. CXXXVII. p. 143. ■* Hensen u. Voelckers, Experimenfalunter.i. üb. d. Medianixm. d. Accommodation. Kiel 1868. p. 31. — V. Smith, Brit. med. Journ. 6. Dez. 1873. • * DONDERS, Neaerl. Arch. voor Genees- en Naturk. 1865. II, u. F. Aklt iuu., ebenda. 186'J. IV. p. 481; Arcli. f. Ophthalm. 18G9. Bd. XV. Abth. 1. p. 294. 5 Henses u. Voelckers, a. a. O. ii. Arch. f. Ophthalm. 1873. Bd. XIX. Abth. 1. p. 156, 398 AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. § 115. Züge bekannt waren, verkürzt, so nähern sicli seine beiden Ansatz- punkte, d. h., es wird einerseits der peripherische Insertionsrand der Iris nach hinten, anderseits das hintere Ende der Zonula nach vorn gezogen, dadurch ihre Spannung vermindert, mithin die Aqua- torialfläche der Linse kleiner, ihre Mitte dicker, vordere und hintere Flüche stärker gewölbt. Ob die Iris, hinsichtlich deren Helmholtz mit Gramer u. a. glaubt, dafs sie einen Druck auf die Linse aus- übt, die Wirkung des Ciliarmuskels zu unterstützen vermag, ist höchst zweifelhaft und mufs um so fraglicher erscheinen, als sie jedeufalls nur mit dem Pupillarrande auf der vorderen Kapsel gleitet, keineswegs aber in gröfserer Ausdehnung, wie Helmholtz und Gramer meinen, der Linsenwölbung aufliegt. Dafs der fcnsor chorioideae that- sächlich den von Helmholtz supponierteu Einflufs auf seine beiden lusei'tionspunkte besitzt, haben Hensen uud Voelckers an Tier- augen (Hund, Katze, Afi"e) uud selbst an frisch herausgeschnittenen Menschenaugen zu konstatieren vermocht. Hatten sie durch die Sclera des unversehrten Bulbus hindurch in die Ghorioidea unterhalb der Processus ciliares feine Nadeln eingesenkt, so sahen sie bei elektrischer B,eizung des Scleroticokornealrandes, also des Urspruugsortes des Giliarmuskels, die freien Enden derselben sich gegen den hinteren Augenpol hin fortbewegen, zum Zeichen, dafs die im Glaskörper steckenden Spitzen in entgegengesetzter Hichtung nach vorn gezogen worden waren. Trugen sie anderseits die Gornea im ganzen Umfange ab und schnitten den fi'eien Rand des Bulbus restes an zwei nahe bei- einander gelegenen Punkten leicht ein, so konnten sie bei einem dem früheren entsprechenden Reizungsverfahren regelmäfsig wahr- nehmen, dafs die kleinen durch ihre Schnittführung hergestellten Fransen eine kräftige Einwärtsbiegung erlitten. Yon beiden hier erwähnten Wirkungen des Giliarmuskels ist wegen der lockeren Be- festigung der Ghorioidea auf der Sclera und bei dem starren unnach- giebigen Charakter des vorderen Fixationspunktes an der inneren hin- teren AVand des ScHLEMMschen Kanals (s. Fig. 136) die erst bezeichnete zw^eifellos die wesentlichste und bedeutendste, und wir können von dem Bestehen derselben im normalen Auge umsomehr überzeugt sein, als eine von Purkinje entdeckte, von Gzermak ^ zuerst näher interpre- tierte entoptische Erscheinung, das sogenannte Akkommodations- phosphen, ohne sie schwierig oder gar nicht zu erklären sein dürfte. Die Thatsache, um deren Deutung es sich handelt, besteht in dem Auftreten eines schmalen feurigen Saumes au der Peripherie des Sehfeldes in dem Momente, in welchem man das für die Nähe akkom- modierte Auge sich plötzlich wieder für die Ferne einrichten läfst. Die fragliche Erscheinung kann zunächst nur bedingt sein durch 1 CZERMAK, MOLESCHOTTS Unters, z. Natiirl. 1858. Bd. V. p. 137, u. Wiener Stzber. Math.- iiatw. Gl. 1857. Bd. XXVH. p. 78; Ärch. f. Ophthalm. 1860. Bd. VII. Abth. 1. p. 145.— Vgl. auch HenSEN u. VOELCKERg, TCxperhiLentalunters. üb. d. Median, d. Acomimodut. Kiel 1868. p. 27. — BERLIN, Arch. f. Ophthalm. 1874. Bd. XX. p. 89. §115. AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. 399, eine Zerrung der peripTierisclieu Eetinapartien in der Gegend der ora serrata; eine solche Zerrung ist aber, wie Czermak zuerst betont hat, durch die HELMHOLTZscheAkkommodationstheorie gefordert. Denn nach derselben wird bei der Kontraktion des Tensors die Chorioidea mit der Netzhaut nach vorn gezogen und die anfänglich erschlaffte Zonula durch das Zusamraenschnellen der Linse wieder gespannt. Erlischt die Thätigkeit des Muskels nun plötzlich, so kehren alle Teile in ihre natürliche Lage zurück; da aber die Linse dem abplattenden Zuge der Zonula etwas träge nachgibt, so entsteht eine sehr plötzliche heftige Spannung der letzteren und dadurch eine momentane Zerrung der mit ihr verwachsenen peripherischen Netzhautpartien. Hensen und Voelckers und endlicli Berlin haben sich der oben ange- führten Anschauung Czermaks vollständig angeschlossen. Nur darin weicht der letztgenannte Beobachter von seinen Vorgängern ab, dafs er den Ort der Re- tinazerrung nicht in die Gegend der ora serrata, sondern in die Umgebung der maada lutea und der papilla nervi optici verlegt, wo Chorioidea und Sclera am stärksten untereinander verlötet sind. Den Grund zu dieser Abweichung findet er in dem Umstände, dafs bei ihm das PuRKixJEsche Phosphen in Wirk- lichkeit nicht die Peripherie des Sehfeldes umsäumt, sondern, wie seine Lage- beziehung zu fixierten äufseren Objekten lehrt, einen mehr zentral gelegenen Ring desselben einnimmt. Eine Entspannung der zonula Zinnii durch eine nach vorwärts gerichtete Bewegung der Chorioidea ist nur möglich, wenn die Ver- bindung beider Häute hinterwärts vom Ansätze der ersteren an die vordere Linsenkapsel gelegen ist, wenn sich also die Zonula im Zu- stande der Akkommodationsruhe in schräger Richtung von vorn nach hinten zwischen Liusenäquator und Ciliarfortsätzen ausspannt. Denn nur in diesem Falle wird ein Vorwärtsrücken der letzteren dahin führen, die Fixationspunkte der Zonula gegenseitig zu nähern. Bei der Einstellung des Auges für die Nähe würde die Zonula dagegen in einer nahezu vertikalen (frontalen) Ebene zu liegen kommen und folglich wegen des gleichzeitig erfolgenden Einwärtschnellens des Liuseu- randes der Betrachtung von vorn her eine gröfsere Fläche darbieten müssen als während der Akkommodationsruhe. Ganz entsprechend hat denn auch CocciüS^, ohne jedoch darin eine Unterstützung der HELMHOLTZschen Akkommodationstheorie zu erblicken, an menschlichen Augen, denen aus therapeutischen Rücksichten ein Stück Iris aus- geschnitten und in denen der Linsenrand nebst den Spitzen der Processus ciliares klar zu übersehen war, mittels eines kleinen Mi- kroskops festzustellen vermocht, dafs die Zonula si&h bei der Akkom- modation für die Nähe verbreitert. Sehr klar sind die in Rede stehenden Verhältnisse durch die nach Coccius entworfene Abbil- dung (Fig. 137) wiedergegeben, worin P die Pupille, / die Iris, L die Irislücke, NA Zonula und Ciliarfortsätze während der Adap- tation für die Nähe, FA während der für die Ferne bedeutet. • COCf'irs, Der Mediunhm. d. Accommod. d. viensc/il. Aiir/es etc. Leipzig 1868. 400 AKKOMMODATlOXSMECHANTSMrS. §115. Die nacliträgliehe Entdeckung zirkulärer (äquatorialer) Faser- züge im tcnsor c/iorioidcae durcli H. Müller und radialer oder Übergangsfasern durcli Aklt, Lambel, Gr. Meyer und Iwanoff^ welche letzteren Fasern die meridionalen Längs- und die äquatori- alen ßingbündel untereinander in Verbindung setzen, ändert an dem Prinzipe der HELMHOLTZschen Akkommodationstlieorie nickts. Denn die vereinigte Wirkung der vom ScHLEMMschen Kanal parallel zur Sclera nach hinten ziehenden und quer in den zirkulären Ver- lauf umbiegenden Muskellaraellen kann immer nur eine Annäherung der Gefäfshaut an den Linsenrand und eine Entspannung der r^onuJa Zinnii bewirkeu. Als bemerkenswert mag hier nur hervorgehoben Fig. 137. KA. F.A F werden, dafs die Mengenverhältnisse äquatorialer und meridionaler Faserbündel erheblichen Schwankimsren unterlieo-en, und zwar nach Iwanoff in ganz gesetzmäfsiger Weise mit den Hefraktionszuständen der Augen variieren. Myopische Augen gebieten nach ihm über ein viel reichhaltigeres Kontingent der letztern, während in hyper- metropischen Augen die erstem überwiegen. Vielleicht beruhen auf dieser Verschiedenartigkeit des Faserbaues die Widersprüche, welche noch in bezug auf die Bewegung der Spitzen der processus ciliares während der Akkommodationsthätigkeit bestehen. CocciUS läfst • Iwanoff, Handh. d. fmummten AiKienheilk., herauägegcli. von GrAEFE u. SAEMISCH. Leipzig 1874. Bd. I. Kap. III. p. 265. — Arlt, Ärch. f. Ophthalm. 1857. Bd. III. Abth. 2. p. 87 (lOS"). — G. Meyer, Arcfi. f. paAkol. Anat. 1865. Bd. XXXIV. p. 380. § llr>. AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. 401 dieselben sicli bei der Einstellung- des Anges für die Nähe der Seh- achse nähern, O. Becker von der Sehachse abrücken. Es ist möglich, dafs in den von Coccius untersuchten Fällen ein Über- gewicht zirkulärer Tensorfasern die Einwärtsbewegung, in den von 0. Becker untersuchten ein Übergewicht meridionaler und radialer das Zurückweichen der Ciliarfortsätze nach aufsen bcM^irkt hat, und dafs folglich die zwischen beiden Beobachtern schwebenden Diffe- renzen nicht durch Fehler der Beobachtung bedingt sind , sondern zwei thatsächlich vorkommenden Eventualitäten entsprechen. Sicherer Aufschlufs hierüber wird freilich erst von erneuten Untersuchungen zu erwarten sein. Leicht verständlich wegen des komplizierten Fasergewirrs des Tensors ist die Angabe Dobrowolskys^ , dafs die Linse bei der Akkommodation nicht in allen Meridianen gleich- raäfsig gekrümmt und durch dieselbe also entweder erst astigmatisch gemacht wird oder hinsichtlich eines etwa bestehenden Astigmatismus Modifikationen erleidet. Abweichende Ansichten über die Tensoraktion sind von H. Mcellei; und von Coccius aufgestellt woi'den. Das wesentliche Merkmal, durch welches sie äich von der HELMHOLTZschen Theorie unterscheiden, liegt darin, dafs nach ihnen der Tensor die Linse komprimieren, und dann die stärkere Wölbung- desselben bei der Adaptation des Auges für die Nähe aus einer aktiven Druck- wirkung von Seiten des Muskels, nicht, wie Helmholtz will, aus einer Ent- fesselung der Linsenelastizität, resultieren soll. H. Mueller glaubt nur den von ihm entdeckten Zirkulärfasern des Tensors eine unmittelbare Rolle bei der Ge- staltveränderung der Linse zuschreiben zu müssen und läfst dieselben den E.and der Linse im ganzen Ihnfange seitlich komprimieren. Die meridionalen Längsfasern sollen erstens durch Anspannung des Chorioidealsacks den Druck im Glaskörper vermehren und dadurch das Ausweichen der hinteren Linsen- fiäche verhindern, zweitens durch Abspannung der Zonula und Zurückziehen der Irisperipherie in der von Helmholtz angegebenen Weise wirken. Coccius denkt sich die Wirkung des Tensors in ähnlicher Weise, nur sollen aufser dem bei seiner Kontraktion anschwellenden Muskel auch die infolge von Blutanschoppung dicker gewordenen Ciliarfortsätze auf die Linse pi'essen. Abgesehen von den direkten Beweismitteln, welche Hex.sex und Voelokers für die HELMiioLTZsche Theorie der Tensoraktiou beigebracht haben, läfst sich jedoch H. Muelleii sowohl als auch Coccius einwenden, dafs eine lokalisierte Wirkung des Ciliar- muskels auf den Linsenrand bei dem_ anatomischen Lageverhältnis beider Organe zueinander kaum zu erwarten ist. Überall durch nachgiebige Membranen und Flüssigkeit voneinander getrennt, kann nur durch diese eine Druckwirkung des Tensors auf die Linse übertragen werden, wegen der prallen AnfüUuug des Bulbus und der gleichmäfsigen allseitigen Druckfortpflanzuug in Flüssigkeiten aber wohl schwerlich nur auf einen bestimmten Abschnitt der Linse , ihren Äquator, sondern auf den ganzen Umfang derselben. Hierbei würde die Linsen- krümmung aber nicht verstärkt, sondern abgeflacht werden. - Aufser der Thätigkeit der beiden Muskelapparate, Iris und Ciliarmuskel, ist von einigen Seiten an eine Mitwirkuna' der blutreichen Ciliarfortsätze bei ^ DOBROWOLSKY, ArcJi. f. Ophthalm. 1868. Bd. XIV. Abth. .3. p. 51. — WOINOW, ebenda. 1S69. Bd. XV. Abth. 2. p. 1Ü7. — Ferner KNAPP, Arch.f. Ophthalm. 1862. Bd. VIII. Abth. 2. p. 210, n. K.\ISER, ebenda. 1865. Bd. XI. Abth. 3. p. ISO. ? VgL H. MUELLER, Arch. f. Ophthalm. 1857. Bd. III. Abth. 1. p. 1, u. Gesammelte u. htnterlassene Schriften, herausgeseb. v. O. BECKER. Leipzig 1872. Bd. I. p. 167. — COCCIUS, a. a. O. — Kaiser, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1868. p. 350. GrUEXHAGEX, Physiologie. 7. Aufl. II. 26 402 AKKOMMODATTONSMKCHANISMUS. §115- dei" Akkommodation durch Änderung ihi-er Blutfüllung gedacht worden. L. FiCK^ beobachtete eine durch elektrische Heizung bewirkte Kontraktion der Ciliarfortsätze, durch welche die Blutmasse aus ihnen in die hinter der Linse liegenden Venenräume der Chorioidea geschafl't und so ein Druck von hinten her gegen die Linse, deren Rand er als unbeweglich mit der Sclerotica verljunden annimmt, ausgeübt wird. Dieser Druck soll die Linse vorwölben, der Kaum dazu in der vorderen Augenkammer durch die Ent- leerung der Ciliarfortsätze geschaffen werden. Czkrmak" dagegen nimmt um- gekehrt eine Ul)erfüllung der Ciliai'fortsätze mit Blut bei der Akkommodation und dadurch bewirkte Kompression der Linse vom Rande ans aii. Obwohl die Blutfüllung der Ciliarfortsätze sicher nicht ohne Einflufs auf den Akkommodations- vorgang sein wird, insofern durch sie unfehlliar die Präzision der Tensor- wirkung begünstigt werden mufs, düi-fte der Nachweis, dafs die akkommodative Veränderung der Linsenkriimmung bei Reizung des Ciliarmukels auch im exstir])ierteu blutleeren Auge nicht ausljleibt, immerhin genügen, um dem ge- nannten Muskel, nicht den Ciliarfortsätzen, die Hauptrolle bei der Einstellung unsers Auges für verschieden weit entfernte Gegenstände zuzusprechen. Nach andern Vorrichtungen zu suchen, welche unabhängig von der Linse eine Akkommodation unsers Auges l;)edingen könnten, liegt kein Grund vor, seitdem sich gewisse pathologische Erfahrungen'"*, denen zufolge auch nach Entfernung der Linse bei Staaroperationen einige Spuren, ja selbst höhere Grade, von Akkommodationsvermögen üljrig bleiben sollten , als irrtümlich herausgestellt haben. Die sorgfältigen Untersuchungen von Dondehs u. a.* haben in dieser Richtung ergeben, dafs bei Fehlen der Linse („Aphakia") nicht die geringste Sjjur eines Akkommodationsvermögens vorhanden ist, dafs die gelinge ver- meintliclie Akkommodationsbreite, welche z. B. v. Graefe^ bei Versuchen mit seinem Optometer nach Staaroperationen noch fand, nur in dem Astigmatismus des Auges begründet ist, d. h. in dem Umstand, dafs infolge der Asymmetrie «ler Hornhaut die Lichtstrahlen jedes leuchtenden Objektpunktes hinter der ( !ornea sich in einer Linie (Brennstrecke) vereinigen und daher eine Reihe hintereinandergelegener Objektjjunkte gleich deutlich erscheinen k()nnen ohne Akkommodationsveränderung. Dafs auch Czermaks Akkommodationslinie im eigentlichen Sinne, also die Thatsache, dafs die pei'cipierende Netzhautschicht eine gewisse Tiefe besitzt, nach unserm Dafürhalten in Betracht kommt, geht aus den vorstehenden Erörterungen hervor. Mit diesem allen soll jedoch keineswegs geleugnet werden, dafs ausnahmsweise die äufseren Augenmuskeln durch Formveränderungen des Bulbus einen geringen Grad von Akkommo- dation bewerkstelligen könnten.*^ Immer und immer müssen wir aber betonen, dafs ihre Thätigkeit normalerweise nicht in Frage kommt, zumal pathologische Fälle bekannt sind, in welchen bei totaler Lähmung aller äufseren Augen- muskeln ein vollkommenes Akkommodationsvermögen l)estand.' Die Akkommodation des Auge.s steht unter dem Einflüsse des Willens, obwohl die AVerkzeuge derselben glatte Mnskeln sind. Der Nerv, welcher die Übertragung des Willensimpulses auf die kontraktilen Elemente des Tensors vermittelt, ist bei Tieren und Menschen höchst wahrscheinlich allein der Oculomotorius Sicher s^ilt ' L. FICK, Arcli. f. Anat. u. P/ii/iiol. 1853. p. 449. - CZKUMAK, Prager Vierteljahrsxchr. XI. Jahrg. 1854. Bd. HI. p. lO'J. ^ Vf,'l. z. 15. FOERSTER, Klin. Monutsbl. f. Aurienheilk. 1872. p. 39. * DdNDERS, Arch. f. Op/it/ialm. 18G0. Bd. VII. A))th. 1. p. 155; Onderzoek. rjed. in he' phttxiol. iMhar. d. Utrecht, hoopeschool. 3. reeks. 1872. II. p. 125: Arch. f. Ophthalm. 1873. Bd. XIX. Abth. 1. p. 56. — COERT, Acad. Proefachr. Utrecht 1873. — MANNHÄrd, Dissertat. Kiol. — H. SCHOELER. .Tahrenher. üh. d. Wirksamkeit d. (früher EVERSschen) Awjenklin. Berlin, p. 15 u. fg. 8 V. GbAEFE, Arch. f. Ophthalm. Bd. II. Abth. 1. p. 188. « V(i-|. M. WOIXOW,'.lre;i. f. Ophthalm. 1873. Bd. XIX. Abth. 1. p. 107. ^ Virl. A. V. Graefe, Arch. f. Ophthalm. Bd. II. Abth. 2. p. 299. §115. AKKOMMODATIOXSMECHANISMUS. 403 dieser Satz von dem (Jculomotoiius der Tauben, bei dessen Reizung eine verstärkte Krümmung der Linse durch v. Trautvetter^ kon- statiert worden ist. v. Graefe^ bat allerdings einzelne pathologische Fälle beschrieben , in welchen bei Lähmung aller zu den äui'seren Augenmuskeln und der Iris gehenden Aste dieses Nerven ein voll- ständiges Akkommodationsvernnigen fortbestand. Solche Beobach- tungen lassen jedoch immer die Deutung offen, entweder, dafs Nerven- fasern, welche für gewöhnlich im Oculomotoriusstamme verlaufen, bisweilen auch auf andern Bahnen, z. B. der des Trochlearis, zum Auge gelangen können, oder dafs die Lähmungsursache ihren Sitz oberhalb der Stelle hatte, an welcher die für den Tensor bestimmten Nervenröhren sich den übrigen Oculomotoriusfasern zugesellen. Überdies sind seitdem von Doxders imd A. Graefe '' Oculomotorius- lähmungen beim Menschen beobachtet worden, welche mit einer Akkommodationslähmung verknüpft waren. Der -s\'illkürliche Wechsel der Akkommodatiousweite, der Übergang aus der Einstellung für die Nähe in diejenige für die Ferne und umgekehrt nimmt bestimmte Zeiten in Anspruch, deren Messung nicht ohne Interesse ist. Volk- mann * hat sich zuerst, indem er feststellte, wie oft er in gegebener Zeit die Akkommodation zwischen einem nahen und einem fernen Punkt wechseln konnte, mit der Lösung dieser Auffassung beschäftigt und hat aus den gefundenen Zeitwerten geschlossen, dafs die fragliche Veränderung des Auges durch die Thätigkeit von Muskelfasern und zwar organischer (glatter) bewirkt werde. Da hierbei jedoch der gegenwärtig mit Bestimmtheit vorauszusetzende Unterschied zwischen der Dauer der aktiven Einrichtung für die Nähe und des passiven für die Ferne keine Berücksichtigung fand, so wurde die Untersuchung noch einmal von Aebv' wiederaufgenommen und eine gesonderte Be- stimmung der Dauer dieser beiden entgegengesetzten Veränderungen bei verschiedenen Distanzen der beiden Fixatiouspunkte voneinander und vom Auge nach einer sinnreichen Methode ausgeführt. Es ergab sich erstens, dais mit der Annäherung des Fixatiouspunktes an das Auge die Dauer der aktiven Akkommodation zunimmt, mit andern Worten, dafs die gegenseitige Entfernung der beiden Punkte, zwischen welchen das Auge in einer bestimmten Zeit den Akkommodations- wechsel ausführen kann, um so kleiner sein mufs, je näher beide Punkte dem Auge liegen. In einer halben Sekunde konnte ein Auge seinen Einstellungspunkt um IGO mm verschieben, wenn der zuei'st fixierte Fernpunkt 4o0 mm vom Auge abstand, dagegen nur um ■SO mm, wenn er 270 mm abstand, um 40 mm bei 190 mm x\b- stand, um 20 bei 150 mm Abstand, um 10 mm bei 130 mm Ab- ' V. TRAUTVKTTEK, Arch. f. Opldhulm. Bd. XU. Abtli. 1. p. 96. 2 V. GRAEFE, Arch. f. Oplithalm. Bd. II. Abth. 2. p. 301. ^ DONDERS, Refractions- u. Accommodat .- Anomal . etc. p. 19. — A. GRAEFE, Klin. Ana/. iL yiof'iHtätxstörunpen d. Auges. Berlin 1858. p. 152. * VOEKMANX, a. a. O. p. 309. '" AEBY, Zeifchr. f. rat. Med. 1861. III. E. Bd. XI. \^. 300. 26* 404 AKKOMMODATIONSMECHANISMUS. §115. stand lind endlicli um 5 mm bei 120 mm Abstand. Die in gleichen Zeiten duroblanfenen Strecken bildeten also eine vom Nahe- zum Fernpunkt aufsteigende geometrische Reihe mit dem Quotienten 2. Dasselbe ergab sich für den Übergang vom Naliesehen zum Fern- sehen, also die passive Akkommodation, nur dal's, wie schon früher ViERORDT^ gefunden hatte und unerklärlicherweise von Coccius" in Abrede gestellt worden ist, hier die für die Veränderung de]' Akkommodation um bestimmte Strecken nötigen Zeiten beträchtlich kürzer sind, als bei der aktiven Einstellung für die Nähe. Geht man von einer konstanten Lage des fernen Fixationspunktes aus, auf welchem das Auge zuerst eingestellt wird, und rückt den nahen Punkt immer näher ans Auge, so dafs also die Strecken, über welche das Auge den Einstellungspuukt zu verschiebea hat, immer wachsen, so wachsen auch die für diesen Wechsel erforderlichen Zeiten. Ging das Auge in Aebys Versuchen jedesmal von einem Einstelluugs- punkt von 430 mm Entfernung vom Auge aus, so brauchte es für die Verschiebung desselben um 160 mm 0,84 Sek., um 240 mm 0,763 Sek., um 280 mm 0,854 Sek., um 300 mm 1 Sek., um 315 mm 1,9 Sek. Alle diese Verhältnisse stimmen vollkommen zu der Voraussetzung, dafs die Eim-ichtung für die Nähe durch die Kontraktion, die für die Ferne durch die Erschlaffung eines Muskel- apparates bewerkstelligt wird. Die Adaptationsbewegungen asso- ciieren sich leicht mit andern Bewegungen, so, wie schon oben erwähnt wurde, regelmäfsig mit den Kontraktionen derjenigen Augenmuskeln, welche die Konvergenz der Achsen beider Augen nach dem fixierten Objekt bewerkstelligen. Diese Association ist eine so innige, dafs wir nur durch Übung lernen, willkürlich bei starker Konvergenz der Augenachsen für die Ferne, bei geringer Konvergenz oder paralleler Stellung derselben für die Nähe zu akkommodieren. Die Akkommodation kommt drittens unwillkürlich auf dem Wege des Reflexes zustande. Wundt^ hat die Her- stellungsmodi der Akkommodation einer scharfsinnigen Diskussion unterworfen und ist dabei zu folgenden Ansichten gelangt. Ur- sprünglich, ehe der Gesichtssinn erzogen ist, regt jede Lichtempfin- dung reflektorisch den Akkommodationsapparat an; mit Hilfe der Muskelgefühle, welche die Thätigkeit der Akkommodationsmuskeln begleiten, und der allmählich zum Verständnis kommenden Effekte der Akkommodation, d. h. der Veränderung der Deutlichkeit der Objekte, lernen wir den Mechanismus willkürlich beherrschen, und verlernt der Apparat die unwillkürliche Reaktion auf jeden be- liebigen Netzhauteindruck. Beim entwickelten Menschen tritt nach WuNDT die unwillkürliche Akkommodation nur noch in drei 1 ViEKORDT, Arc/i. f. p/ii/xlol. Heilk. 1857. N. F. Bd. I. p. 17, 2 COCCIÜS, a. a. O. p. 152. ä WüNDT, Zeitschr. f. rat. Med. 1859. in, K. Bd. VII. p. 335. ßllG, IRRADIATION. 405 Fällen ein: 1. wenn im ganzen Selifeld nur ein einziger Gegenstand vorhanden ist, welclier die Aufmerksamkeit anzieht, dem sich daher das Auge unwillkürlich anpafst. Betrachten wir durch eine Röhre eine gleichförmige weifse Fläche, so tritt keine Akkommodation ein, augenblicklich aber und zwangsmäfsig , wenn auf derselben eine schwarze Linie, deren veränderliche Deutlichkeit den Effekt der reflektorischen Akkommodationsthätigkeit merklich macht, vorhanden ist; 2. wenn wir plötzlich die verschlossenen Augen öffnen und vor dieselben ein Sehfeld mit verschieden entfernten Objekten tritt; wir akkommodieren dann unwillkürlich auf das Objekt, welches seiner Lichtstärke und Entfernung nach die deutlichste Wahrnehmung ge- stattet ; erst wenn diese unwillkürliche Akkommodation vollendet ist, können wir willkürlich auf jedes Objekt des Sehfeldes das Auge adaptieren; 3. wenn unsre Aufmerksamkeit von den Eindrücken des Gesichtssinns ganz abgezogen ist (also beim Versunkensein in Ge- danken, oder in Gehörseindrücke u. s. w.). Schliefslich haben wir noch zu erwähnen, dafs das An- strengungsgefühl, welches mit der Akkommodationsthätigkeit ver- knüpft ist, unsre Vorstellungen über den Abstand der ge- gebenen Objekte von unserm Auge beeinflufst. Einem emmetropischen Auge, welches aus gewisser Entfernung auf ein aus blauen oder gelben Streifen zusammengesetztes Tapetenmuster blickt, scheinen die letzteren in einer Ebene vor den ersteren zu liegen (DoNDERs)^, weil bei der geringeren Brechbarkeit der gelben Licht- strahlen eine stärkere Linsenkrümmung, d. h. also eine kräftigere Tensoraktion, erfordert Avird, um dieselben zu einem scharfen Bilde auf der Retina zu vereinigen, als bei der stärkeren der blauen Strahlen. Aus dem gleichen Grunde Averden wir leicht zu dem Glauben veranlafst, dafs auf Gemälden, in welchen rote oder gelbe Farben neben blauen liegen, die roten und gelben über das Xiveau der blauen hervorragen (E. Brüecke"-). § 11^. Irradiation. Unter Irradiation versteht man die Thatsache, dafs unter gewissen Umständen Objekte grolser gesehen werden, als ihrer absoluten Gröfse und Entfernung vom Auge geraäfs der Fall sein sollte, gröfser als andre in Wirklichkeit gleichgrofse und gleich- weit vom Auge entfernte Objekte von gröfserer oder geringerer Helligkeit. In der überwiegenden Mehrzahl der hierher gehörigen Erscheinungen sind es helle Objekte auf dunklem Grunde, welche auf • DoNDERS. Arch. voor Genees- en Naturk. 1865. II. ^ E. Brukcke, Wiener St:ber. Math.-phys. Cl. 2. Atth. 1868. Bd. LVllI. p. 321. 400 IKKAIHAl'ION. § 1 1 Ö. Kosten des letzteren vergröl'sert erscheinen; unter bestimmten Be- dingungen k(mnen jedoch, wie zuerst Volkmann nachgewiesen hat, auch duukle Objekte auf hellem Grunde irradiiei'en. Sti'eng genommen geh()rt die Erörterung dieser Erscheinungen zu der Lehre vom Jlaum- sinn des Auges; da dieselben jedoch zu einem Teile in gewissen Fehlern des dioptrischen Apparates oder in fehlerhafter Akkommo- dation desselben begründet sind, so halten wir es für zweckmäisiger, ihre Betrachtung hier einzuschalten. Mehrere aus der täglichen Erfahrung bekannte experimentell leicht zu konstatierende Beispiele mögen zunächst den Begriff dei- Irradiation klar machen. Betrachten wir den zu- oder abnehmenden Mond bei völlig klarem Himmel, so scheint der beleuchtete Teil desselben einer Scheibe von gröfserem Durchmesser anzugehören als der komplementäre nicht beleuchtete, die beleuchtete Sichel greift mit ihren Hörnern scheinbar über den Rand der dunklen Scheibe hinweg. Blicken wir abends eine lange von Laternen beleuchtete Strafse entlang und richten unsern Blick auf eine nahe Laterne, so scheinen die Flammen der folgenden immer gröisei' und gröfser zu werden, mehr und mehr den llaum der Laternen auszufüllen, während sie gleichzeitig an Deutlichkeit der Umrisse verlieren. Be- trachten wir aus einiger Entfernung ein weifses Quadrat auf schwarzem Grunde und vergleichen es mit einem gleichgrofsen und gleichweiten schwarzen Quadrat auf weifsem Grunde, so erscheint uns das weifse erheblich gröfser als das schwarze, es erscheinen uns daher z. B. die weifseu Felder eines aus gewisser Entfernung be- trachteten Damenbrettes gröfser als die schwarzen. Betrachten wir Fig. 138 aus einer Entfernung, in welcher die Konturen der ein- zelneu Felder nicht mehr vollkommen scharf erscheinen, so sehen wir den weifseu Streifen auf schwarzem Grunde unzweifelhaft breiter als den gleich- breiten schwarzen Streifen auf weifsem Grunde, umgekehrt die beiden oberen weifsen Seitenfelder breiter als die unteren schwarzen. Klebt man auf weifses Papier einander parallel zwei schAvarze Streifen von 5 mm Breite so auf, dafs sie durch einen weifsen Zwischenraum von 8 mm Breite getrennt sind, und betrachtet das Blatt aus einer Entfernung, in welcher die ßänder der Streifen nicht mehr ganz scharf zu sehen sind, so erscheinen die schmäleren schwarzen Streifen breiter als der breitere Aveifse Zwischen- raum. Betrachtet man die Figur 139 unter denselben Bedingungen, so erscheint der von Schwarz eingesäumte w^eifse Streifen unten, w^o er von breiten schwarzen Feldern begrenzt ist, breiter als oben, avo er von schmalen schwarzen Streifen eingefafst Avird, mit andern Worten: Fi-, i: 58. 1 ■ ■ §11G. lERADIATIOX. 407 die schmalen scliwarzen Streifen irradiieren in den sie begrenzenden Aveilsen Grnnd hinein (Volkmann). In allen bisher beschriebenen Fällen geht die Irradiation mit Undeutlichkeit der Objekte, bedingt dnrch mangelhafte Akkommodation des Auges, Hand in Hand. Objekte von gewisser Kleinheit irradiieren jedoch auch bei voll- kommen akkommodiertem Auge. Sehr geeignet dies zu erweisen und die Gröfse der Irradiation zu messen, ist folgendes von Volkmann angegebene Fi?. i:;o. Versuchsverfahren. Zwei feine (0,05 mm dicke) schwarze oder weifse Fäden sind parallel nebeneinander in einem Rahmen so aufgespannt, dals der eine dem andern durch eine- Mikrometerschraube in jedem beliebigen Grade genähert w^erden kann. Läfst mau die schwarzen Fäden gegen hellen, die weifsen gegen schwarzen Grund in deutlicher Sehweite betrachten und fordert den Beobachter alsdann auf, die Fäden soweit einander zu nähern, bis ihre Distanz ihrer Dicke genau gleich er- scheint, so ergibt eine genaue Messung der eingestellten Distanz dieselbe regelmäfsig gröfser als den wirklichen Durch- messer der Fäden, letztere irradiieren oder dunklen Zwischenraum des Grundes. der ebenfalls von Volkmann angegebene Versuch auszuführen. Man ziehe auf feinem weifsen Papier zwei gleich starke schwarze Linien, so dafs sie sich unter einem Winkel von 1 bis 2" kreuzen, betrachte sie in deutlicber Sehweite und notiere sich den Punkt, Avo man den Zwischenraum der Linien ihrer Dicke für gleich hält. Mifst man dann mit Hilfe der Lupe die wirkliche Distanz der Linien an dieser Stelle, so stellt sie sich regelmäfsig gröfser heraus als der Durchmesser der Linien . Soweit unsre Kenntnis reicht, haben alle diese Erscheinungen und alle übrigen, w^elche sich ihnen an die Seite stellen lassen, einen rein physikalischen objektiven Grund und lassen sich un- gezwungen auf Fehler der Strahlenbrechung in unserm Auge zurück- führen, welche bedingen, dafs von einer punktförmigen Lichtquelle, z. B. von einem der unermefslich weit gelegenen Fixsterne, nicht ein punktförmiges scharfes Bild, sondern ein Hächenhaft verbreitertes Zerstreuungsbild auf unsrer Retina entworfen wird, anders aus- gedrückt: ein Gegenstand irradiiert, sobald sein Xetzhautbild durch Lichtzerstreuung thatsächlich gröfser gemacht wird, als es unter fehlerlosen dioptrischen Verhältnissen der Gröfse und Entfernung des Objektes gemäfs ist. Mit dieser zuerst von Kepler ausge- sprochenen, sodann von Welcker sicher begründeten, von VoLK- also über den hellen Einfacher ist folgen- 408 IRRADIATION. §116. MANN weiter ausgebildeten Erklärung^ ist eine ältere von Plateau ' aufgestellte und lauge Zeit auch allgemein adoptierte Theorie zwar nicht widerlegt, aber doch ganz und gar verdrängt worden. Im Gegensatz zu Welcker, Volkmann und der Mehrzahl der Physio- logen nach ihnen erblickt Plateau in der Irradiation nicht eine objektiv durch die faktische Verbreiterung des iS^etzhautbildes be- dingte Erscheinung, sondern eine subjektive, welche darauf be- ruht, dals die Netzhaut unter Umständen in gröfserer Ausdehnung in Erregung gerät, als sie von objektivem Licht getroffen wird, daJ's gewissermafseu die direkt vom Licht erregten Retinaelemente ihre nicht getroffenen Nachbarn in ihren Erregungszustand mit herein- ziehen, dals also die Erregung irradiiert, nicht das von den Ob- jekten zur Netzhaut gelangte Licht. Man kann der PLATEAUschen Theorie nicht mehr den Ein- wand machen, dafs sie aller thatsächlicheu Grundlagen entbehre; denn, wie sich später zeigen wird, sind wir gezwungen den einzelne)) Punkten der Retina die Fähigkeit zuzusprechen, benachbart gelegene, vom objektiven Reiz verschont gebliebene in Miterregung zu ver- setzen, mag die Übertragung der nervösen Thätigkeit nun bereits innerhalb der gangliösen Elemente der Retina oder erst inuei'halb derjenigen des Zentralorgans erfolgen. Aber man ist berechtigt, sie für überflüssig zu erklären, einmal weil unser Auge faktisch ein mit optischen Fehlern behaftetes Werkzeug ist, und zweitens, weil nach- weislich sämtliche Irradiatiousei'scheinungen besonders stark hervor- treten, wenn die vorhandenen Mängel durch eine ungenaue Akkom- modation willkürlich gesteigert werden. Halten wir die Fig. lo8, während wir sie mit dem Blick fixieren , zunächst etwa in 20 cm Abstand vor die Augen, so werden wir dieselbe mit scharfen Kon- turen der schwarzen und weifsen Felder, aber auch die beiden Streifen in ihrem wirklichen Breiteverhältuis, also gleich breit wahrnehmen. Entfernen wir aber allmählich die Figur vom Auge, so kommt end- lich, und zwar bei kurzsichtigen Augen früher als bei weitsichtigen, ein Punkt, wo die Konturen undeutlich, verwaschen zu werden an- fangen und gleichzeitig der weifse Streifen breiter als der schwarze zu werden beginnt. Betrachten wir abends eine Strafsenlaterue, so erscheint uns aus der Ferne die Flamme sehr grofs, sie erfüllt fast den ganzen Laternenraum, jedoch so, dafs ihr Randteil matter mit undeutlichen verwaschenen Konturen gesehen wird; je mehr wir uns der Laterne nähern, desto mehr verkleinert sich die Flamme, desto deutlicher wird ihre Begrenzung, bis wir sie endlich mit ganz scharfen Konturen und in ihrer wahren relativen Gröfse sehen. Für ein ^ KErLKK, Ad Vitellionem purulipomenti, ijuibits it.itron. pars Oj/t. traditiir. Fraiicofuiti 1G04. — Welcker, Über Irradiation u. einige andere Erschein, d. Sehens. Giefscn 1852. — VOLKMANX, Ber. d. Verh. d. k. .wchs. (res. d. Wi.':s. Math.-phys. Cl. 1857. p. 129: Stzher. d. k. bcajr. Akud. 1861. II. Heft 1. p. 7.i, u. Physiol. Unters, im. Gebiete d. Optik. Leipzig 1863. )). 1. 2 Plateau, Mem. de l'Acud. de Bruxelles. T. XI. Deutsch in POGGENDOKFFS Annal. d. Vhiis. u. Chcm. 1842. Ergäiizungsbd. I. p. 79, 193 u. 405. $ll(j. IRRADIATION. 409 kurzsiclitio-es uubewalfuetes Auge wird die gezeichnete Figur 138 schon in einer Entfernung von wenigen Fufsen irradiieren; wird vor das- selbe jedoch ein Konkavglas gebracht, so verschwindet die Erschei- nung augenblicklich. Halten wir die Figur etwa 1 Fuls vor das Auge, so irradiiert sie, wie schon bemerkt, nicht, sobald wir sie mit dem Blick fixieren; blicken wir aber neben oder über die Figur hinweg auf einen entfernten Gegenstand, während wir jedoch die Aufmerksamkeit nicht letzterem, sondern der Figur zuwenden, so tritt augenblicklich die Irradiation ein, um so beträchtlicher, je ent- fernter jener Gegenstand ist. Umgekehrt tritt die Irradiation auch ein, wenn wir die Figur in einer möglichst grofseu Entfernung, in welcher wir sie aber beim Fixieren noch scharf und nicht irradi- ierend wahrnehmen können, halten und sodann bei unverwandter Aufmerksamkeit ein dem Auge näheres Objekt fixieren. Es geht hieraus mit Bestimmtheit hervor, dafs Irradiation und ündeutlichkeit des Objekts parallel gehen, miteinander ein- treten, proportional zu- und abnehmen, mit andern Worten, dafs helle Objekte auf dunklem Grunde irradiieren, sobald sie bei nicht für sie akkommodiertem Auge ein undeutliches Bild auf die ]S^etzhaut werfen, also jeder ihrer hellen Punkte statt eines punktförmigen Bildes einen Zerstreuungskreis auf der Retina bildet. Der weifse Streifen der Figur irradiiert, sobald wir ihn ent- weder in eine Entfernung bringen , in welcher wir das Auge nicht mehr für ihn alvkommodieren können, oder wenn wir willkürlich das Auge, während wir ihn sehen , für eine gröfsere oder kleinere Ent- fernung akkommodieren. Durch eine einfache dioptrische Konstruktion, wie sie Fig. 140 gibt, lälst sich zeigen, dafs unter diesen Bedin- gungen in dem Netzhantbild an denjenigen Stellen, welche den Berührungsgrenzen zwischen Schwarz und Weifs in Fig. 138 ent- sprechen, die Zerstreuungskreise der weifsen Bandpunkte in das Bild des Schwarz übergreifen und umgekehrt der durch Zerstreuungs- kreise verbreiterte Band des Schwarz in das Bild des Weifs hinein- fällt, so dais an diesen Stellen die Bilder des Weifs und Schwarz teilweise übereinander fallen. Volkmaxn bezeichnet den gleichzeitig von den Zerstreuuugskreisen beider eingenommenen Baum als den Irradiationsraum. Denken wir uns vor dem Auge ein Objekt ABC, welches aus einer weifsen und einer schwarzen Hälfte AB und BC, die in B aneinanderstofsen, zusammengesetzt ist, so können wir leicht durch Konstruktion die Punkte finden, in welchen die von den Grenz- punkten AB und C ausgehenden Strahlenbüschel hinter dem diop- trischen System des Auges zur Vereinigung kommen; nehmen wir an, es hätten sich a, h und c, wie die Figur zeigt, als konjugierte Vereinigungspunkte zu A, B und C ergeben , so folgt aus den erör- terten Gesetzen der Dioptrik, dafs ahc in umgekehrter Ordnung, 41Ü IREADIATION. ijiit; aber in gleicher relativer Lage und Entfernung wie ABC liegen müssen. Ist das Auge für den Gegenstand akkommodiert, fallen also die Vereinigungspunkte a }> c gerade auf die Netzhaut DE, so ent- steht auf derselben ein verkehrtes scharfes Bild von ABC, in welchem ah^=hc, wie in Wirklichkeit AIi=Jj(J, erscheint. Ist dagegen das Auge für eine gröfsere Entfernung als die des Objekts akkommodiert, so fallen die Vereinigungspunkte, wie oben bewiesen wurde, hinter die Netzhaut, wir können uns also letz- tere für diesen Fall in FG liegend denken ; es mufs dann der von A aus- gehende Strahlenbüschel die Netzhaut mit konvergierenden Strahlen in dem Zerstreuungskreise e f treffen, B, der Grrenzpunkt zwischen schwarzem und weifsem Teil des Objektes, wird den Zerstreuungskreis d f, C wird d g bilden. Esgeht hieraus hervor, dafs dem weifsen Teil AB der Figur auf der Retina das Bild d c, dem schwarzen Teil aber /'// zugehört, der Raum d f daher gleichzeitig von dem Bild des schwarzen und des weifsen Teiles eingenommen wird. Ganz ent- sprechend verhält es sich, wenn das Auge für einen näheren Gegenstand als ABC akkommodiert ist, die Ver- einigungspunkte aJ) c also vor die Netzhaut fallen, so dafs wir letztere in HI denken können, decken sich dann die Zerstreuungs- kreise der nach der Vereinigung divergierenden Strahlen der schwarzen und weifsen Hälfte in dem Räume i k. Wir sehen in diesem Falle das Weifs auf Kosten des Schwarz verbreitert, d. h. mit andern Worten, wir rechnen das neutrale Irradiations- gebiet d f oder i k des Netzhautbildes zum grölsten Teil oder vollständig dem weifsen Streifen zu, sehen von der Figur den gröfseren, d c oder i l entsprechenden Teil weifs und nur den kleinen Teil r/ r/ oder ^ /, welcher von den einfallenden Zer- streuungskreisen des weifsen nicht erreicht wird, schwarz. Warum wir den Irradiationsraum dem Weifs zurechnen und nicht dem Schwarz, dem er ja mit gleichem Recht angehört, hat AVelcker uns Es §116. IREADIATIOX. 411 für den vorliegenden Fall sehr richtig erklärt; nach Volkmaxx lautet diese Erklärung in ihrer allgemeinsten Fassung so: Wir sehen Yon zwei aneinander grenzenden ungleich hellen Gegenständen, deren Bilder auf der Netzhaut teilweise ühereinandergreifen, jedesmal das- jenige verbreitert, welches auf die Seele den überwiegenden Eindruck macht. Solange nicht besondere gleich zu erwähnende Umstände eintreten, löst aber der Empfiudungsreiz des Weils einen inten- siveren Erregungsvorgang als derjenige des Schwarz aus. Es wird daher in der Regel auch die erste Empfindungsqualität über die zweite dominieren, wenn beide, wie im Zerstreuungsraume d f dev Fall, gleichzeitig durch die nämlichen ßetinaelemente vermittelt werden sollen. Diese durch die Präponderanz des Hellen über das Dunkle bedingte Yergrölserung heller Flächen auf Kosten angren- zender dunkler wird natürlich um so leichter und in um so gröfsereni Malse stattfinden, je gröfser die HelligkeitsdifFerenz beider ist, weil die Erregung innerhalb des Irradiationsraumes notwendig mit der Lichtstärke der übergreifenden Zerstreuungskreise der hellen Fläche wächst, und weil die letzteren sich in um so weiterem Umkreise, bis an d die Grenze des rein schwarzen Bildes heran, geltend machen können, je mehr ihre Lichtstärke zunimmt. Aus diesem Gesichts- punkt erklärt sich erstens , dals nicht blofs weifse Flächen über schwarze , sondern auch farbige Flächen über solche von andrer Farbe irradiieren, sobald die Farbe der irradiierenden Fläche die Netzhaut intensiver erregt als die Farbe der andren bei gleicher objektiver Intensität. Wäre die Netzhaut für gelbes Licht nur in gleichem Grade empfindlich wie für blaues, so würde weder ein gelber Streifen auf Kosten eines angrenzenden blauen, noch umge- kehrt ein blauer auf Kosten des gelben verbreitert erscheinen, son- dern wir würden an der Grenze beider einen dem Durchmesser des Irradiationsraumes entsprechenden Streifen in der Mischfarbe beider sehen, welcher gleichweit in das Gebiet des gelben wie des blauen Streifens hineinragte. Gelb erregt aber in der That die Netzhaut stärker als Blau, und daher irradiieren gelbe Objekte über blaue auch bei gleicher Helligkeit, natürlich um so stärker, je lichtstärker das Gelb, je lichtärmer das Blau ist. Zweitens erklärt sich aus diesem Gesichtspunkte die von Volkmann durch eine Beihe schöner Ver- suche konstatierte Thatsache, dafs die Irradiation einer weifsen Fläche über eine schwarze mit der Verminderung des Lichtunterschiedes, mit abnehmender Beleuchtungsintensität der weifsen Fläche mehr und mehr schwindet und endlich sogar negativ wird, d. h. endlich eine Verkleinerung des Weils, also Vergröfserung der schwarzen Fläche auf Kosten der weifsen, eintritt. Vergleicht man bei intensiver Be- leuchtung eine weifse Scheibe auf schwarzem Grund und eine ebenso grofse schwarze Scheibe auf weifsem Grund, so erscheint die erstere beträchtlich gröfser als die letztere, es irradiiert die weilse Scheibe über ihren schwarzen Grund iind der weifse Grund über die schwarze 412 IRRADIATION. § Hü- Scheibe. Scliwäclit mau dagegen die Helligkeit des Weifs sehr erheblich dadurch ab , dal's mau die Figuren durch dunkle graue (rläser betrachtet, so kontrahiert sich die weifse Scheibe und die schwarze expaudiert sich, bei gewissen Graden der Verdunkelung des Sehfeldes erscheinen beide Scheiben gleich grol's, und endlich kommt es dahin, dafs sich die Erscheinung umkehrt, die schwarze Scheibe auf weifsem Grund gröfser als die weifse auf schwarzem Grund erscheint. Dieses scheinbar paradoxe Resultat erklärt sich ohne Zwang auf folgende Weise. Mit der Abnahme der Helligkeit des Weifs vermindert sich natürlich die erregende Wirkung der in den Irradiationsraum ik oder df fallenden Zerstreuungskreise desselben, während die Wirkung der ebendahin fallenden Zerstreu- ungskreise des schwarzen Bildes eher zu- als abnimmt. Die Folge ist, dafs bei abnehmender Helligkeit zunächst die schwächsten in das Gebiet des Schwarz (zwischen d oder i und der optischen Achse) eindringenden weifsen Strahlen die zur Erregung der be- treffenden Netzhautteile nötige Stärke verlieren, und endlich das weifse Licht sogar im Gebiet des weifsen Bildes (zwischen /' oder h und der optischen Achse), von dem eindringenden Dunkel über- wältigt, unwirksam wird, daher das Schwarz auf Kosten des Weifs verbreitert erscheint. Von diesem Gesichtspunkt aus ist ferner ver- ständlich, dafs die Irradiation eines weifsen Feldes über ein schwarzes mit der Ermüdung des Auges abnimmt, weil mit der Ermüdung die im Irradiatiousraum gelegenen Netzhautpartien weniger und we- niger für die Erregung durch die weifsen Zerstreuungskreise empfänglich werden , zunächst die am meisten nach d oder i liegenden aufhören auf die daselbst am stärksten gedämpften weifsen Lichtstrahlen zu reagieren. Eine umgekehrte nega- tive Irradiation, eine Vergröfserung schwarzer Flächen auf Kosten weifser, tritt aber, wie aus den vorausgeschickten Bei- spielen hervorgeht, unter Umständen auch bei intensivster Be- leuchtung des Weifs und unermüdetem Auge regelmäfsig ein. Feine schwarze Linien, gegen den hellen Himmel betrachtet, irra- diieren nach Volkmanns Versuchen ausnahmslos über den hellen Grund, wenn auch schwächer als gleich dicke weifse Linien über schwarzen Grund. Es fragt sich, wie diese Thatsache mit der eben gegebenen Erklärung zu vereinbaren ist; Volkmann hat auch diese Frage in befriedigender Weise gelöst. Die Irradiation einer dunklen Fläche über eine helle beruht darauf, dafs wir im Netzhautbilde den Irradiationsraum mehr weniger vollständig zum Schwarz hin- zurechnen; es mufs also in den Fällen, wo dies eintritt, irgend etwas vorhanden sein, was dem Schwarz den überwiegenden Ein- druck verschafft, die Seele veranlafst, den zwischen rein weifsem und rein schwarzem Bild liegenden Irradiationsstreifen, inner- halb dessen die Helligkeit in der Richtung vom Weifs zum Schwarz hin stetig abnimmt, trotz der stärkeren Erregungskraft §116. IRRADIATION. 413 des Weifs dem Schwarz zuzuteileu. Yolkmaxn hat gezeigt, dafs diese Bevorzugung des Schwarz nur eintritt, wenn die schwarzen Flächen eine gewisse Kleinheit hahen, durch welche sie als Objekte die Aufmerksamkeit der Seele auf sich lenken, wäh- rend das angrenzende Weifs als indifferenter Grund unbeachtet bleibt. Die Irradiation kann also durch Präponderanz eben- sowohl des Hellen über das Dunkle, als auch des Objektes über den Grrund hervorgerufen werden; beide Momente können, wo sie zusammen in gleichem Sinne wirken, die Irradiation ver- stärken; wo sie einander entgegenwirken, gewissermafsen durch Inter- ferenz, entweder die Irradiation vermindern oder ihrer Richtung nach umkehren. "Weifse Linien auf schwarzem Grund irradiieren stärker als schwarze auf hellem Grund, weil bei ersteren die AVirkung der Linien als Objekte und als helle Gegenstände sich summiert, bei letzteren die Wirkung der Linien als Objekte die entgegenstehende Wirkung des hellen Grundes zu überbieten hat. VoLKMAXx hat diese Erkläruiifi-, welcher sich alle Irradiationserschei- nungen unterordnen lassen, durch eine Reihe sinnreicher Experimente gestützt. Eines der überzeugendsten ist folgendes. Man zieht auf einem Bogen weifsem Papier eine grofse Anzahl schwarzer Parallellinien von 1 mm Breite und genau ebenso grofser Distanz, so dafs ein bestimmter Gegensatz zwischen Objekt und Grund nicht gegeben ist, sondern dafs man willkürlich den weifsen oder schwarzen Sti-eifen die Bedeutung des Grundes oder Objektes beilegen kann. Betrachtet man diese Zeichnung durch ein in einer weifsen Platte ausgeschnittenes Fenster von solcher Gröfse . dafs man gleichzeitig zehn schwarze und zehn weifse Streifen sieht, so erscheinen in der Regel beide Streifen des eingerahmten Teiles gleich breit; betrachtet man sie aber durch ein so enges Fenster der w^eifsen Platte, dafs nur zwei schwarze Linien mit ihren Zwischenräumen ge- sehen werden, wodurch sich uns notwendig die Auffassung der beiden schwarzen Linien als Objekte aufdrängt, so erscheinen dieselben durch Irradiation etwa doppelt so dick als die Aveifsen; ist aber die Platte schwarz, in welcher sich das Fenster von der letztgenannten Gröfse befindet, so erscheinen notwendig die zwei weifsen Streifen als Objekte auf schwarzem Grund und daher doppelt so breit als die schwarzen Zwischenräume. Im ersten Falle rechnen wir also die Irradationsstreifen zwischen schwarzen und weifsen Linien halb zu den einen und halb zu den andern, im zweiten Falle vollständig zu den schwarzen Linien, im dritten vollständig zu den weifsen Linien als Objekten. Ein andrer interessanter Beleg für Volkmaxxs Auffassung ist folgender. Betrachtet man ein grofses schwarzes Quadrat auf weifsem Grund, so erscheint es durch Irradiation verschmälert (kleiner als ein gleich grofses weifses Quadrat auf schwarzem Grunde), offenbar weil der weifse Grund über die Grenzen des schwarzen Bildes irradiiert und in dem usurpierten Gebiet sich durch seine Helligkeit geltend macht. Schiebt man imn während der Betrachtung von einer Seite her über das schwarze Quadrat ein Blatt weifses Papier, so dafs dasselbe mehr und mehr verschmälert wird, so sollte dasselbe, noch ehe es vollständig verdeckt ist, ver- schwinden; es sollte nämlich das als Grund wirkende weifse Papier auch von der andren Seite her einen Streifen des Schwarz durch Irradiation sich an- mafsen und sobald dieser mit dem durch Irradiation des eigentlichen Grundes verloren gegangenen schwarzen Randstreifen zusammenstiefse das ganze Quadrat verschwinden. Dies ist aber nicht der Fall, im Gegenteil erscheint schliefslich ein schmaler unverdeckter Streifen des schwarzen Quadrats sogar auf Kosten des weifsen Grundes verbreitert, offenbar weil bei einem gewissen Grade der Verschmälerung der schwarze Streifen als Objekt wirkt und diese Wirkung 414 IRRADIATION. §11'!. diejenige der dominierenden Helligkeit des Grundes überbietet. Endlich erwähnen wir noch ein auttalleudes Versuchsresultat, welches nur durch die in Rede stehende Hy])othese der dominierenden Objektwirkung als Irradiationsursache verständlich wird. Volkmanx fand, dafs die relative Irradiationsverbreiterung eines bestimmten Objektes um so gröfser wird, je kleiner sein Netzhautbildchen ist, auch wenn die physikalischen Bedingungen der Lichtzerstreuung unge- ändert bleiben, also eine gleichsinnige Änderung der Irradiationsgröfse mit der Gröfse des Netzhautbildes zu erwarten gewesen wäre. Je kleiner das Netzhaut- bild, desto mehr eignet ihm die Seele daher von dem neutralen Iri-adiations- gebiet zu auf Kosten des mehr und mehr zurücktretenden Grundes. Bei eleu vorstellenden Erläuterungen derlrradiationserscheinungeii habeu wir auf die Entstehung der sie bedingenden physikalisclieu Lichtzerstreuung zum Teil keine ßücksicht genommeu, oder als eine der Ursachen derselben fehlerhafte Akkommodation vorausgesetzt. Wie aus der Einleitung hervorgeht, tritt aber auch für sehr kleine Objekte bei vollkommen akkommodiertem Auge Irradiation ein. In diesem Falle ist die Lichtzerstreuung eine Folge der monochro- matischen Abweichungen des Auges, von denen der folgende Paragraph handeln wird. Die Erklärung der Erscheinungen, die Gesetze über die Abhängigkeit derselben von den aufgeführten Variablen bleiben die gleichen, mag die Lichtzerstreuung durch die eine oder die andre Ursache oder durch beide zusammen herbeigeführt sein. Zur Untersuchung und Messung der Irradiationserscheinungen bei voll- kommen akkommodiertem Auge hat sich Volkmann weifser oder schwarzer Papierstreifen von bekannter Gröfse bedient, von welchen ein Fernrohrobjektiv (Makroskop) zwischen sich und dem beobachtenden Auge verkleinerte scharfe Bilder entwarf. Das Objektiv safs in einem Rohre, dessen Länge durch Aus- ziehen beliebig verändert werden konnte und daher gestattete, die zur genauen Akkommodation zwischen Bild und Auge erforderliche Entfernung jederzeit auf das genaueste herzustellen. Schlielslich können wir nicht umhin, vom theoretischen Stand- punkt aus auf eine mögliche physiologische Irradiationsursache hin- zuweisen, welche auch bei vollkommen akkommodiertem Auge und Bildern von fehlerfreier Schärfe eine Verbreiterung von Objekten bedingen müfste, welche faktisch wahrscheinlich nicht zur Wirk- samkeit kommt, weil sie von der stets vorhandenen Lichtzerstreuung verdeckt wird. Helmholtz^ hat zuerst auf diese phj^siologische Irradiationsursache aufmerksam gemacht und einige spezielle Ver- suchsresultate von Volkmann aus derselben zu erklären versucht, Volkmann dagegen die Anwendbarkeit dieser Ursache auf seine Beobachtungen mit gewichtigen Gründen zurückgewiesen. Die Netz- haut besteht wie die äufsere Haut aus einer Mosaik sensibler Elemente, Empfindungskreise von bestimmter Gröfse, und dieser ent- spricht eine gleiche Mosaik des vorgestellten äufseren Sehfeldes in der Art, dafs die Seele die durch Erregung jedes einzelnen Mosaik- elementes der Netzhaut erzeugte Empfindung in das entsprechende 1 HKLMHOLTZ, Pliimiol. Optil:. p. 324. §117. MONOCHROMATISCHE ABWEICHUNGEN. 415 Mosaikfeld des vorgestellten äulsereii Ranmes einträgt. Trifft ein Licliteindrnck ein einziges Teilchen der Netzhaut, so ist es gleich- gültig, ob er es ganz oder nur teilweise deckt, die Seele füllt stets das ganze zugehörige Feld des üufseren Raumes damit aus. Sollten daher auf unsrer Netzhaut scharfe Bilder entworfen werden können, deren Breite dem Querschnitt der von ihnen erleuchteten oder beschatteten percipierenden Elemente nachsteht, so würden wir die ihnen zugehörigen Gegenstände gröfser taxieren müssen, als sie wirk- lich sind. In diesem Falle würde also die Urteilstäuschung nicht wie bisher durch eine thatsächliche Verbreiterung der Bilder, sondern durch die notwendige Irradiation der Gröfsenvorstellung, welche nicht unter einen bestimmten elementaren Wert herabsinken kann, bedingt sein. Ob ein solcher Fall überhaupt möglich ist, ob der solchen Feinheiten gegenüber mangelhafte dioptrische Apparat unsers Auges wahrnehmbare Bilder von geringerem Durchmesser als die sensiblen Elemente der Netzhaut zu entwerfen vermag, ist jetzt noch nicht bestimmt zu entscheiden. Eine nähere Begründung dieser Zweifel wird sich aus den Erörterungen über die Feinheit des Baumsinnes im Auo:e ergeben. § 11^- Monochromatische Abweichungen des Auges. Mit die- sem Namen bezeichnet man nach Helmholtz^ alle diejenigen teils in der Form der brechenden Flächen, teils in der mangelnden Ho- mogenität der brechenden Medien, teils in zufälliger Verunreinigung der Hornhautoberfläche, teils endlich in der Lagerung, insbesondere mangelhaften Zentrierung der einzelnen Teile des dioptrischen Systems begründeten Fehler des letzteren, welche die Herstellung- absolut scharfer Bilder, die genaue Vereinigung aller von einem leuchtenden Punkte ausgehenden Strahlen in einem Punkte, auf der Netzhaut (bei vollkommener Akkommodation) vereiteln. In der That sind die hierher gehörigen Fehler des Auges, wie schon aus der Aufführung der zahlreichen Quellen derselben hervorgeht, sehr mannig- fach und teilweise sogar in nicht unerheblichem Grade selbst bei Augen, die als normale zu betrachten sind, vorhanden, aufserordent- lich mannigfach daher die Erscheinungen, die Störungen der Ge- sichtswahrnehmungen, welche von ihnen herrühren. Wir wollen zunächst die sicher erwiesenen Fehler des dioptrischen Apparates besprechen und die von ihnen bedingten Erscheinungen aufsuchen und erklären; es bleibt dann noch eine Reihe von Sehstörungen übrig, welche zwar bestimmt hierher zu rechnen, aber doch nicht mit Sicherheit auf ihre Ursachen zurückzuführen sind. Wir beginnen ' HELMHOLTZ, a. a. O. p. 137. 41« MONOCHKOMATLSC'IIE AIAVKICHrNC^EN. §117. mit der Betniclitiing der Abweichungen des Auges wegen der Gestalt der brechenden Flächen. Es ist aus der Physik be- kannt, dal's man mit dem Ausdruck „sphärische Aberration, Abweicliung wegen der Kugelgestalt", die Eigenschaft jedes durch s])härische Flächen begrenzten Brechungskörpers, nicht alle auf die brechende Fläche in verschiedenen Abständen von der Achse treffenden Strahlen in einem einzigen Brennpunkt, sondern die der Achse näher auftreffenden Strahlen später als die von derselben entfernteren zur Vereinigung zu bringen, bezeichnet. Treffen z. B. parallele oder von einem beliebigen Punkte ausgehende homozen- trische Lichtstrahlen auf eine von KugelHächen begrenzte bikonvexe Linse, so haben dieselben hinter der Linse nicht einen einzigen konjugierten Vereinigungspunkt, sondern eine Reihe hintereinander liegender V^ereinigungspunkte, also eine Vereinigungslinie. Die der Achse zunächst auf die Vorderfläche treffenden zentralen Strahlen werden relativ am wenigsten abgelenkt, ihr Vereinigungs- puukt liegt am weitesten von der HinterÜäche der Linse entfernt; die äufsersten Pand strahlen werden am meisten abgelenkt, kon- vergieren am beträchtlichsten hinter der Linse und vereinigen sich der hinteren Linsenfläche am nächsten. Zwei Strahlen, die in gleichem Abstand von der Achse die Linse treffen, haben denselben Vereinignngspuukt, es vereinigen sich demnach alle in einem um dem Krümmungsmittelpunkt der Linse gezogenen Kreis auftreffen- den Strahlen in einem Punkt, dessen Abstand von der hinteren Linsenfläche sich nach der Gröfse des Halbmessers jenes Kreises richtet. Es ist hier nicht der Ort, die physikalische Notwendigkeit dieser verschiedenen Vereinigungsweiten aus den Brechungsgesetzen zu deduzieren; wir erinnern ebenso nur an den praktisch wichtigen Satz, dal's die relativ langsame Zunahme der Einfallswinkel für die in der nächsten Umgebung der Achse die Linse treffenden Strahlen nur eine so geringe Entfernung der zugehörigen Brennpunkte von- einander bedingt, dafs man sie, ohne die für praktische Zwecke nötige Genauigkeit zu beeinträchtigen, als zusammenfallend betrach- ten kann, während in gröfserer Entfernung von der Achse schon weit geringere Differenzen des Abstandes zweier Strahlen von der Achse ein weit beträchtlicheres Auseinanderrücken ihrer zugehörigen Brennpunkte bedingen. Wir setzen endlich aus der Physik hin- längliche Bekanntschaft mit den Mitteln voraus, durch welche der Fehler der sphärischen Aberration, welcher notwendig die Ent- stehuno- deutlicher Bilder unmöglich machen mufs, bei den künst- liehen dioptrischen Instrumenten möglichst auf ein Minimum redu- ziert wird. Diejenige ideale Krümmungsform der Linsenflächen, bei welcher die Abweichung gänzlich fehlt (Aplanasie), also wirklich ein einziger geometrischer Vereinigungspunkt aller Strahlen existiert, künstlich durch Schleifen herzustellen, ist bis jetzt noch nicht ge- lungen. Die Ausschliefsunff der Pandstrahlen mittels Blenduno^en §117. ASTIGMATISMUS. 417 {Diaphragmen ) ist vorlimfig zur mögliclisten Yerkleineniag der sphä- rischen Aberration bei nnsern optischen Instrumenten noch im- erlälslich. Von einer sphärischen Aberration im strengen Sinne des AVortes kann bei dem dioptrischen Apparat unsei's Auges nicht die Rede sein, da, wie dies oben erörtert wurde, keine einzige der brechenden Fhichen desselben genau sphärisch gekrümmt ist. Am ehesten sind noch, soweit die Messungen zuverlässig sind, die Linsenflächen als Kugelausschnitte zu betrachten; allein selbst Avenn dies vollständig der Fall wäre, so Avürde die davon bedingte sphärische Abweichung in uusern Gesichtswahrnehmungen doch nicht zur Erscheinung gelangen, erstens weil in der Regel die Randstrahlen im weitesten Umfang durch die Iris abgeblendet sind, zweitens weil sie verdeckt würde durch die weit auffälligere Aberration der Licht- strahlen, welche durch andre später zu besprechende optische Fehler der Linse veranlaJst wird, vor allem aber durch diejenige, Avelche durch die Brechung an der asymmetrischen Horuhautober- tläche bedingt ist. Wir haben in der Einleitung zur Dioptrik des Auges den Nachweis geliefert, dafs die Hornhaut in allen Meridiaudurchschnitteu elliptisch gekrümmt ist, die Ellipsen in den verschiedenen Meridia- nen aber eine uns'leiche Exzentrizität und uuofleichen Krümmuno-s- radius haben, dafs insbesondere sehr erhebliche Unterschiede in den Krümmungsradien des vertikalen und des horizontalen Meridian- durchschnittes sich ergeben. Wären die Ellipsen in allen Meridianen gleich, die Hornhaut also ein Rotationsellipsoid, so würde sie eine sehr geringe Aberration der Strahlen eines homozentrischen Strahlen- büschels bedingen, es würden letztere sich, wenn auch nicht absolut, doch hinreichend genau in einem Punkte hinter der Hornhaut ver- einigen. Die verschiedene Krümmung in verschiedenen Meridianen bedingt aber notwendig eine erheblichere Aberration, einen merk- lichen ., Astigmatismus", d. h. Nichtvereinigung homozentrischer Strahlen in einem Punkte. Es Murden von dieser Anomalie ab- hängige Erscheinungen zuerst von Aeby beobachtet , die Anomalie selbst zuerst von Th. Young, später genauer von Fick, Zoellner, KxAPP, Snellen, Donders u. a. untersucht; dafs Yolkmann die Irradiationserscheinungen des akkommodierten Auges ebenfalls auf den Astigmatismus zurückführt, hat der vorhergehende Paragraph gelehrt.^ i^ehmen wir an, indem wir zunächst nur zw^ei rechtwinkelig aufeinander stehende Hornhautquerschnitte, den vertikalen und den horizontalen, berücksichtigen, dafs der erstere stärker' gekrümmt sei als der letztere, was nach Dqnders in der Regel der Fall ist, und untersuchen die dadurch bedinirte Aberration eines homozentrischen ' Vc-l. THOM. YOXTng, Philnsiijih. TravfticHimx for the ye.ir 1793. Vol. I.XXXIU. p. 169. — A. FlCK, Zeit.K/ir. f. rat. Med. N. F. 1851. Bd. ,11. ]). 8:^. - ZOELLNKR. POGGENDOKFl's Annal. ISOO. Bei. CXI. p. 329. — KNAPP, DONDERS, Snellen, vgl. dieses Lehrbuch. Bd. II. p. 344. , GrUENHAGEN, Physiologie. 7. Aufl. II. 27 418 ASTIGMATISMUS. §11' Strahleukegels, der von einem vor der Hornhaut iu der Sehachse gelegenen Leuchtpunkt ausgeht. VV Fig 141 stellt den vertikalen, HH den horizontalen Meridiandurchschnitt der Hornhaut, a den Leuchtpunkt vor. Die in der vertikalen Ebene auftretfenden Strahlen werden von der stärker gekrümmten Fläche stärker gebrochen, so dal's sie in b zur Vereinigung kommen, die in horizontaler Ebene auftreffenden werden dagegen schwächer gebrochen, so dafs sie erst in c, also in gröfserer Entfernung vom Hornhautscheitel, sich ver- einigen. Sind die Krümmungsradien der übrigen Meridianabschiiitte der Hornhaut mittlere zwischen denen von VV und HH, so fallen die Vereinigungspunkte der in allen übrigen Meridianebenen die Hornhaut treffenden Strahlen von a zwischen /; und e auf die op- tische Achse. Die Linie hc, welche so durch die hintereinander fallenden Vereinigungspunkte gebildet wird, heifst nach Sturm^ die Brennstrecke. In welcher Entfernung nun auch die auffangende Netzhauttiäche hinter der Hornhaut sich befinden möge, nirgends kann sie ein scharfes punktförmiges Bild von a erhalten; die Form der Zerstreuuugsbildchen ist für jede Lage leicht vorherzubestimmen. Liegt sie in V^ also im. Vereinigungspunkt der vertikalen Strahlen, so wird sie von den noch konvergierenden horizontalen Strahlen in einer Zerstreuungslinie ff/ getroffen, das Bild von a erscheint dem- nach als horizontale Linie. Liegt die Netzhaut in N', also im Vereinigungspunkt der horizontalen Strahlen, so wird sie von den nach der Vereinigung wieder divergierend weiter gehenden vertikalen ' StI;R.M, POGüENDORFFS Annal. 1S4'). Bd. LXV. p. 116. §117. ASTIGMATISMUS. 419 Strahlen in einer Zerstrennngslinie de getroffen, .statt eines puukt- förinigen Bildes erscheint demnach eine vertikale Linie. Liegt die Netzhaut zwischen N nnd N', da wo die divergierenden vertikalen nnd die noch konvergierenden horizontalen Strahlen gleich lauge Zerstrennngslinien bilden, so wird von a ein rundliches Zerstreuungs- bild entworfen werden; liegt sie vor iV, so wird letzteres eine hori- zontale Ellipse, liegt sie hinter N' , eine vertikale Ellipse darstellen. Die Erscheinungen des Astigmatismus., die durch ihn bedingten Störungen der Gesichtswahrnehmungen ergeben sich aus den folgen- den Beispielen. Befinden sich auf einer Fläche in bestimmter Entfernung vom Auge horizontale und vertikale Linien von gleicher Breite, so kann sie das Auge nicht gleichzeitig scharf sehen. Erscheinen die verti- kalen scharf, so sind die horizontalen verbreitert und undeutlich, und umgekehrt; will man beide gleichzeitig scharf sehen, so mufs mau ihnen einen ver.schiedenenen Abstand vom Auge geben, und zwar bei den meisten Augen den vertikalen Linien einen gröfseren Abstand als den horizontalen. FiCK mufste eine vertikale Linie 4,6 m vom Auge entfernen, um sie gleichzeitig mit einer horizon- talen o m entfernten deutlich zu sehen; Helmholtz sah vertikale Linien in 0,65 m Abstand gleichzeitig deutlich mit horizontalen 0,54 m entfernten. Für das Auge von Young verhielt es sich um- gekehrt, die horizontalen Linien mufsten weiter als die vertikalen entfernt werden. Ein horizontaler weifser Streifen auf schwarzem Grunde erscheint nach FiCK den meisten Augen breiter, als ein gleich breiter vertikaler weifser Streifen, ein Aveifses Quadrat auf schwarzem Grunde daher als aufrechtstehendes Oblongum. Diese Erscheinungen erklären sich einfach folgendermafsen. Bei den meisten Augen ist die Krümmung der Hornhaut im vertikalen Meridian stärker als im horizontalen, die meisten Augen sind ferner bei vollkommener x\kkommodation so eingestellt, dafs diejenigen Strahlen, welche die Hornhaut im horizontalen Meridian passieren, sich in der Ebene der Netzhaut vereinigen, die Netzhaut also in N' Fig. 141 zu denken ist, die vertikalen Sti-ahlen demnach auf ihr vertikale Zerstrennngslinien [d c) bilden. Eine vertikale Linie, also eine Reihe vertikal übereinander stehender Objektpunkte, mufs in diesem Falle scharf, d. h. nicht verbreitert, gesehen werden, da ihr Netzhautbild aus lauter einzelnen, sich deckenden vertikalen Zer- streuuugslinien besteht; eine horizontale Linie mufs aber verbreitert erscheinen, weil die nebeneinander liegenden vertikalen Zerstreuungs- linien ihi-er einzelnen Punkte nach oben und unten über die Grenzen des scharfen Bildes hinausragen. Ist bei einem Auge die Horn- hautkrümmuug im horizontalen Meridian beträchtlicher als im verti- kalen, oder ist dasselbe bei genauer Akkommodation so eingestellt, dafs der Vereinigungspunkt der vertikalen Strahlen in die Netzhaut- ebene fällt, so muis sich die Erscheinung umkehren. Warum unter 27* 420 ASTIGMATISMUS. §H7. den oben A'orausgesetzten Verhältnissen eine liorizontale Linie, um gleiclizeitig mit einer vertikalen scharf gesehen zu werden, dem Auge näher gerückt werden muls, ist einleuchtend. Sie mufs so weit genähert werden, his der Vereinigspunkt der in vertikaler Ebene durch die Hornhaut gehenden Strahlen auf die Netzhaut zu- rückgeschoben ist, die horizontalen Strahlen also vor ihrer Ver- einigung die Netzhaut mit horizontalen Zerstreuungslinien ti'effen, welche die Schärfe der Wahrnehmung nicht stören, weil sie über- einander in der Richtung der Linie fallen. Die Erscheinungen des Astigmatismus können wesentlich verbessert werden, wenn man die Gegenstände durch eine vor das Auge gehaltene enge Spalte be- trachtet, deren Richtung der Richtung desjenigen Meridians ent- spricht, für dessen Bilder das Auge akkommodiert ist. Unter den er()rterten Bedingungen würde demnach eine hoiizoutal vor das Auge gehaltene Spalte durch Beschneidung der störenden vertikalen Strahlen die Verbreiterung der horizontalen Linie vermindern oder aufheben. Der Astigmatismus kann aber auch korrigiert werden durch vor das Auge gehaltene cylindrische Gläser. Eine cylindri- sche Linse, deren Oberfläche einen Abschnitt einer Cylinderfläche darstellt, bewirkt eine Ablenkung aller Strahlen, welche sie in lot- recht auf der Achse des Cylinders stehenden Ebenen treffen, lenkt dagegen die Strahlen, welche .sie in allen durch die Achse gelegten Ebenen treffen, nicht ab. Eine positive Cylinderlinse sammelt da- her parallele homozentrische Strahlen in einer Linie, welche der Achse des Cylinders parallel ist; eine negative cylindrische Linse zerstreut das Licht in den zur Achse senkrechten Ebenen, lenkt es nicht in der durch die Achse gelegten Ebene ab. Den Astigmatis- mus, welcher in dem durch die Figur erläuterten Fall durch stärkere Krümmung im vertikalen Meridian und Einstellung der Netzhaut auf den Vereinigungspunkt der horizontalen Strahlen be- dingt ist, können wir aufheben durch eine vor das Auge gebrachte negativ cylindrische Linse, deren Achse horizontal und senkrecht zur optischen Achse gestellt ist, so dafs die in den vertikalen Ebenen durch o^ehenden Strahlen stärker diveri^ent, mithin zum Auo-e weniger konvergent gemacht ^\'erden, ihr Vereinigungspunkt folglich weiter nach hinten, bei passendem Krümmungsradius in die Ebene der in N' gelegenen Netzhaut rückt. Auf der andren Seite kann dul'ch Cylinderlinsen ein beliebiger Grad von künstlichem Astigmatis- mus hervorgebracht, der natürliche in so hohem Grade vermehrt Averden, dafs die Erscheinungen desselben sehr auffällig hervortreten, z. B. wenn man unter den hier vorausgesetzten Verhältnissen eine positiv cylindrische Linse mit horizontal gelagerter Achse vor das Auge bringt und dadurch die schon an sich zu stark konvergenten vertikalen Strahlen noch stärker konvergent macht, so dafs ihr Vereinigspunkt noch weiter nach vorn rückt, die Zerstreuungslinien auf der Netzhaut noch läns^er werden. ^117. DOPPELTSEHEN MIT EIXEM AUGE. 421 Wörtlich genommen sind Astigmatismus und monochromatische Abweichung Synonyma; die erstere Benennung könnte folglich auf alle durch dioptrische Fehler bedingten Mängel der Schärfe der Netzhautbilder angewandt werden, zumal der gröfste Teil aller solcher Störungen, mit Ausnahme der sogleich zu besprechenden . Diplopie und Polyopie, vornehmlich dem asymmetrischen Bau der Cornea seine Entstehung verdankt. Inwiefern die durch denselben gesetzten Fehler durch Astigmatismus der Linse kompliziert werden, ist durch direkte Messung der Meridiane der letzteren noch nicht mit Sicherheit festgestellt worden. Auf einem indirekten Wege hat sich indessen ergeben, dafs ein geringer Grad von Linsenastigmatismus allerdings besteht, und zwar meist in der Art, dafs er sich dem Astigmatismus der Cornea summiert, seltener so, dafs er den- selben kompensiert oder gar überkompensiert. Zu diesem Schlüsse gelangten KxAPP,' DoxDERS u. a. dadurch, dafs sie zunächst den Astigmatismus des Gesamtauges direkt durch den Versuch bestimmten, also untersuchten, in wie grofser Entfernung vom vorderen Knotenpunkte des Auges horizontale und vertikale Linien scharf gesehen werden konnten. Wurden dann die l)eiden ermittelten Abstände als konjugierte Vereinigungsweiten einer Konvexlinse an- gesehen und daraus die Brennweite der letzteren A berechnet, so läfst sich gerade wie bei der Bestimmung der Akkommodationsbreite (s. o. p. 383) der reciproke Wert — verwenden, um für die Gröfse des Gesamtastigmatismus As einen Zahlenausdruck zu o■e^^^urlen: As =-:- = :^^ =—-, in welcher Formel Du A Dh Dv der kleineren Entfernung der horizontalen, Dv der gröfseren der vertikalen ent- sj)richt. Aus der ophthalmometrischen Messung der Hornhaiitmeridiane läfst sich ferner, wie Kxapp gezeigt hat, ein analog geformter Ausdruck für den Astigmatismus der Hornhaut allein Asc gewinnen und somit schliefslich durch Subtraktion beider Werte derjenige der Linse Asj = As — Asc ableiten. In KxAPPs eignem Auge war As = ^^^ , Aso = , ^.^, - , As, also ^ 851 mm 1021,5 mm ,--^ — ,„-.., r. = en, > Da sich der direkt gefundene Astigmatismus .^ol mm 1021,5 5098 mm. * " des Gesamtauges hiernach bei ihm gröfser herausstellte als der berechnete der Cornea, so schliefst er, dafs die Asymmetrie seiner Cornea mit der seiner Linse korrespondiert. ^ Die durcli die Asymmetrie der Horuhant bedingteu Erscheinungen des Astigmatismus werden in der Hegel kompliziert durcli ander- Aveitige in bleibenden oder zufälligen Fehlern des dioptrischen Apparats begründete monochromatische Abweichungen. Zunächst gehören hierher die Erscheinuno-en, welche man unter dem Namen diplopia (j)ohjopiaj moiujpMliahnica , Doppeltsehen mit einem Auge, zasammeugefaist hat, welche aber offenbar ihrer Entstehungs- weise nach nicht alle in eine Klasse zusammengeworfen werden dürfen. Betrachtet man einen kleinen leuchtenden Punkt, die gegen den Himmel gehaltene (jtfnuug in einem Kartenblatt, mit einem Auge, während dasselbe für eine gröfsere Entfernung akkommodiert ist, so sieht man regelmäfsig anstatt eines einfachen kreisförmigen Zerstreuungsbildes der runden Öffnung ein mehrfaches Bild der- selben, und zwar erscheinen die mehrfachen Bilder entweder deutlich ' DOXDEllS, Antlfjinaf. u. ci/l. Gläser. Beilin 1802. p. 24; AnomuUeti d. Accommodation u. Hefractlon etc. p. 393. — KXAPP. Arch. f. Ophthalin. 1864. Bd. VIII. Abth. 2. p. 209; ferner KAISER, Arck. f. OpUtlialni. 18Ü5. Bd. XI. Abtli. 3. p. ISC. 422 POPPELTSEHEN MIT EINEM AUCJE. §117. voneinander getrennt (bei scliwaehem Licht), oder in Form einer strahligen Figur mit A'ier bis acht unregelmäfsigen Strahlen unter- einander verschmolzen (bei starkem Licht), wie die Fig. 142 nach Helmholtz erläutei't. Bei starkem Licht ist die ganze Figur von einem aus äulserst feinen, meist irisierenden, glänzenden Linien ge- bildeten Strahlenkranz (Haarstrahlenkranz, Helmholtz) umgeben. Dieser Strahlenkranz zeigt sich z. B. an den Sternen, lernen Lichtern, besonders i*"'g- w-- schön und deutlich bei Betrachtung des (glitzernden) Sonuenbildchens in einem Thautropfen oder einer Thermometerkugel. Die Erscheinung der sternförmigen Figur verhält sich verschieden in beiden Augen, verschieden bei verschiedenen Personen, und endlich verschieden, jeuachdem das Objekt diesseits oder jenseits der Akkom- modationsdistanz liegt. Liegt das Objekt jenseits der gröfsteu Akkommodations- distanz, so erscheint die Figur meist in vertikaler Richtung hinger als in horizon- taler [a und ö aus Helmholtz' rechtem und linkem Auge); verdeckt man durch Vorschieben eines undurch- sichtigen Schirmes von oben oder unten, links oder rechts her einen Teil der Pupille, so verschwindet stets der entsprechende Teil der Figur, der obere, wenn man von oben den Schirm vorschiebt u. s. f., demnach der entgegengesetzte Teil des Netzhautbildcheus. Liegt das Objekt diesseits des Akkommodationspunktes, so erscheint die Figur [c, il) meist in horizontaler Richtung breiter, und es ver- schwindet bei partieller Verdeckung der Pupille der entgegengesetzte Teil der Figur, also der gleichseitige Teil des Netzhautbildes. Führt man, anstatt einen Schirm vorzuschieben, einen gespannten Faden vor dem Auge vorüber, so erscheint derselbe, nur wenn er die Mitte der Strahlenfigur schneidet, gerade, wenn er vor den seitlichen Teilen derselben liegt, nach a'ufsen gekrümmt (H. Meyer). Betrachtet man statt des Lichtpunktes eine Lichtlinie, so erscheinen zwei bis sechs parallele Linien nebeneinander, indem die hintereinander folgenden sternförmigen Figuren der einzelnen Lichtpunkte, aus denen die Linie zusammen- gesetzt ist, sich zum Teil decken. Die Zahl der Doppelbilder ändert sich in einigen Fällen mit der Änderung der Entfernung des Gegenstandes aus dem Akkommodations- gebiet; so soll nach H. Meyer^ regelmäfsig folgender AVechsel in 1 H. MEYElt, Zt.schi nil. Med. I. R. 1846. Bd. V. \>. 308. g 117. DOPPELTSEHEN MIT EINEM AUGE. 423 Zahl und Lage der Doppelbilder eintreten. Bringt man einen auf weilses Papier gezeichneten, schwarzen Punkt von V2 — 1''' Durch- messer in die bequeme Sehweite und nähert ihn allmählich mehr und mehr dem Auge, so löst er sich in zwei nebeneinanderstehende teilweise sich deckende, mit der weiteren Annäherung mehr aus- einander rückende, und endlich in vier Punkte von der in Fig. 143 f o-ezeichneteu Lage auf. Bei allmählicher Entfernung des Punktes vom Auge tritt dieselbe Ei'scheinung ein, nur dafs die beiden Punkte, in welche der eine zunächst sich auflöst, nicht neben- sondern über- einander liegen. Anstatt den Punkt zu nähern oder zu entfernen, kann man auch bei festgehaltenem Punkte die Akkommodation des Auges ändern und zwar allmählich alle Stufen vom möglichsten Fernsehen bis zum möglichsten Nahesehen durchlaufen lassen ; es zeigt sich dann wieder eine von Meyer genau beschriebene regel- müfsige Reihenfolge verschiedener Doppelbilder um so deutlicher, je unpassender die Akkommodation. Nähert man ein aus zwei Linien ge- bildetes Kreuz dem Auge, so verdoppelt sich zunächst die vertikale Linie {h entsprechend), später auch die horizontale [e entsprechend); umgekehrt verhält es sich bei allmählicher Entfernung des Kreuzes aus der deutlichen Sehweite. Stellt man mehrere Lichter hintereinander auf und fixiert mit einem Auge das vorderste, so erscheinen die folgenden doppelt und weiter vervielfältigt, je ferner sie dem Auge. Was nun die Erklärung dieser Diplopie und Polyopie mit einem Auge anlangt, so ist, wie Helmholtz zuerst hervorgehoben hat, die Quelle der beschriebenen Erscheinungen entschieden eine mehrfache, und somit eine gemeinsame Erklärung aller, wie sie früher stets angestrebt wurde, nicht möglich. Die Erscheinungen der diplupia mouophthalmica sind schon sehr lange bekannt; eine Erklärung hat zuerst Th. Youxg versucht, indem er sie von üngieichförmigkeiten der vorderen Linsenfläche ableitete. Purkinje, welcher sie sehr ausführlich beschreibt, sucht ihre Entstehung aus Hornhautfacetten zu erklären. Ein entschieden irriger Versuch sie zu deuten wurde von Stellwag V. Cariox gemacht. Derselbe glaubt die Erscheinung auf eine doppeltbrechende Kraft des Glaskörpers, welche der letztere wie ein Glaswürfel in der FRESNELschen Presse bei der Kompression durch den Akkommodationsapparat erlangen sollte, zurückführen zu können. Abgesehen von der physikalischen Unwahrscheinlich- keit, dafs eine Flüssigkeit, wie der Glaskörper eine ist, überhaupt auf dem vermuteten Wege ein doppeltbrechendes Vermögen ei'langen könne, und dafs er dieselbe in so hohem Grade durch einen verhältnismäfsig so geringen Druck, wie ihn die Akkommodationsmuskulatur auszuüben imstande ist, erlange, läfst sich, wie von Gut unter Ficks Leitung geschehen ist, nachweisen, dafs nicht einmal die zu erklärenden Thatsachen mit Stellwags Theorie in Einklang zu bringen sind. Ebensowenig bestätigt sich Stellwags Behauptung, dafs die ver- schiedenen Bilder von verschieden polarisiertem Lichte entworfen seien. ^ Es sind streng zu scheiden Doppelbilder, welche vergänglich sind, ihrer Zahl und Anordnung nach demselben Auge bald so, 1 Th. YOUNG, Philosoph. Tran.utct. for the vear ISOl. Part. I. p. 4:!. — PURKINJE. Beitr. zur Kenntn. d. Sehens. Praf? 1819. p. 113; Neue Beitr. Berlin 1825. p. 139. — SXELLWAG v. CARION, Denlcichr. d. k. k. Akud. Math.-natw. Gl. 1853. Bd. V. '2. p. 1. — GUT, Inaug. Dissert. mitseteilt V. A. FICK, Zlschr. f. rat. Med. Tf. F. 1853. Bd. IV. p. 395. — HELMHOLTZ, a. a. O. p. 146. 424 POPPELTSEHEN MIT ELXKM AU(iE. §117. bald so sicli zeigen, mit jedem Blinzeln der Augenlider sich ver- üudern, und zweitens konstante Doppelbilder, welche unter allen Verhältnissen demselben Auge immer in gleicher Form erscheinen. Die Entstehung der ersten Klasse A'on Erscheinungen, der ver- gänglichen Doppelbilder, ist von A. FiCK^ richtig aus der GegenAvart zufälliger Veruneinigungen auf der Hornhaut, insbesondere Thränentropfen , Partikelchen des MEiBOMschen Drüsensekretes ab- geleitet worden. Es entsteht notwendig eine Diskontinuität, eine einfache oder mehrfache Spaltung des bei mangelhafter Akkommodation auf der Netzhaut entworfeneu Zerstreuuugskreises eines Leucht- ])uuktes, sobald ein Teil des die Hornhaut treffenden divergierenden Strahlenbüschels infolge einer vorhandenen Erhabeüheit oder son- stigen Unregelmäfsigkeit eine etwas andre Ablenkung erfährt als der übrige. Folgende schematische Fig. 144 veranschaulicht diesen Satz, a und c sind die durch den Zwischenraum h getrennten Zer- streuuugskreise des auf die brechende Fläche treffenden Strahlenbüschels (dessen Vereinigungspunkt vor der auffangenden Fläche liegt), sobald ein Teil des Büschels durch die ge- zeichnete partielle Erhebung der brechenden Fläche eine stärkere x\b- lenkung erfährt. FiCK hat überdies den faktischen Beweis für diese Er- klärung an der caniera ohscura ge- liefert, deren Zerstreuungsbild eines leuchtenden Punktes bei falscher Ein- stellung durch einen oder mehrere auf die Vorderfläche des Objektivs gebrachte Öltropfen in gleicher Weise in diskrete Partien gespalten wurde, wie die Netzhautbilder. Aus der Ablenkung der Lichtstrahlen durch Thränenllüssigkeit die auch noch Phänomen, und unten Gegenstand weiche bei erklärt sich em andres bekanntes die langen nach oben von einem leuchtenden ausgehenden Strahlen, beträchtlich vereno-ter Lidspalte zum V^orscheiu kommen. H. Meyer^ hat dieselben aus der Brechung des Lichtes in dem AVall von Thränenfeuchtigkeit erklärt, welcher durch das Vorschieben der Lider an deren Rand entsteht und seiner äufseren 1 FIC;k, Ztschr. f. rat. Med. N. F. 1854. Bd. V. p. 277. 2 H. Meyek, PoggexdüKFFs Annul. 1853. Bd. LXXXIX. p. 429 ii. 540. §11S, C'HROMASIE DES AUGES. 425 Gestaltung- uacli eine uuuuterbrocliene Reihe von Vierteleylindern darstellt. Eine besondere Erklärung erfordern die konstanten Doppelbilder, welche in immer gleicher Form bei reiner Hojiihaut entstehen. Helmholtz machte darauf aufmerksam, dafs die oben ab- gebildete Strahlenfigur an den strahligen Bau der Linse erinnert, und wies wirklich nach, dafs Zahl und Lage der Strahlen mit der- jenigen der entoptisch wahrzunehmenden strahlenförmigen Streifen in der Linse übereinstimmt (s. unten). Nach Donders ruft jeder Sektor der Linse ein eignes Bild hervor, welches bei unrichtiger Akkommodation in der Richtung der Strahlen verlängert erscheint, alle diese Bilder liegen im normalen Auge nahezu auf der- selben Achse; aber die Brennweite ist eiuigermafsen verschieden, so dafs die Bilder sich nicht vollkommen decken. Die Verlängerung der Strahlenfigur in senkrechter oder horizontaler Richtung je nach dem Akkommodationszustand ist eine Folge des von der Asymmetrie der Hornhaut abhängigen Astigmatismus, welche sich aus den oben gegebenen Erläuterungen leicht ableiten läfst. Was die als Haarstrahlenkrauz bezeichnete Erscheinung betriöt, so ist eine sichere Erklärung dafür noch nicht gewonnen. Es ist mög- lich, dafs die Thränenschicht auf der Cornea dieselbe hervor- bringen kann; wahrscheinlicher entsteht sie nach Helmholtz durch Diffraktion des Lichts an den uuregelmäfsigen Rändern der Pupille. Andre haben sie auf Diffraktion durch die Fasern der Hornhaut oder Kristalllinse zurückzuführen gesucht; Helmholtz widerlegt diese Ansicht, glaubt aber, dafs diese beiden Gebilde nicht vollkommen durchsichtig sind und mithin neben der retrelmäfsigen Brechung des Lichtes eine teilweise diffuse Zer- Streuung desselben bedingen.^ Er führt dafür an, dafs die Liu.se und Hornhaut weifslich getrübt erscheinen, sobald man auf ihnen durch eine Sammellinse starkes Licht konzentriert, und erklärt aus dieser unregelmäisigen Zerstreuung die bekannte Thatsache, dafs bei Betrachtung eines intensiven Lichtes vor einem schwarzen Grunde letzterer von einem nebeligen weifsen Schimmer bedeckt erscheint. Dieses Phänomen kann aber ebenso gut von einer partiellen diflusen Spiegelung von selten der Retina erklärt werden; dafs das helle Netzhautbild einer Flamme z. B. in der That einen Teil des Lichtes diffus nach der übrigen Netzhaut zurückwirft, ist schon oben besprochen. § 118. Chromatische Abweichung des Auges. Mau bezeichnet mit dem Namen: chromatische Abweichung- oder Chromasie die 1 Vgl. Helmholtz, a. a. O. p. U2. — SNELLEN u. LANDuLT, HanM. d.gea. Aufienheilk., hcraus-egeb. v. A. GkAEFE u. TH. Saemisch. IU. 1. p. 105. — DONDEKS, Anomalien d. Acann- inutlutiim u. Refraction etc. p. 170. 426 CHROMASIE DES AUGES. §118. bei jeder einfachen Linse leictt zu beobachtende Erscheinung farbiger Säume um die von ihr erzeugten Bilder weifser Objekte. Wir deuten nur kurz die physikalische Erklärung dieses Phänomens an. Es ist bedingt durch die verschiedene Brechbarkeit der ver- schiedenen Farbenstrahlen, also der Lichtwellen von verschiedener Länge, aus denen das weil'se Licht zusammengesetzt ist. Ihrer Brechbarkeit nach ordnen sich die verschiedenen Farbenstrahlen in absteigender Reihenfolge: violett, blau, grün, gelb, orange, rot; Violett wird durch brechende Medien am weitesten, Rot am schwächsten abgelenkt. Daraus erfolgt notwendig, dafs ein aus diesen Farben gemischter weifser Lichtstrahl bei seinem Durchgang durch eine Linse in seine Komponenten zerlegt wird und diese Komponenten der genannten Reihenfolge ensprechend in verschiedenem Grade von dem Wege des einfallenden gemischten Strahles abge- lenkt werden. Geht von einem vor der Linse befindlichen Leucht- punkt A (Fig. 145) ein Kegel weifser Strahlen zu der Linse BC, so wird jeder Strahl in der Linse in seine farbigen Komponenten zerlegt, welche unter sich divergierend hinter der Linse w^eiter gehen; die Figur stellt dies für die Randstrahlen Ad und Ae dar; der Einfachheit wegen sind indessen nur Komponenten gezeichnet, deren äufserste am schwächsten abgelenkte die roten Strahlen, die innersten am stärksten abgelenkten die violetten Strahlen, die mittleren Strahlen von mittlerer Brechbarkeit also die gelben vor- stellen. Es ergibt sich ferner aus der Figur, dafs (abgesehen von der sphärischen Aberration) alle die Strahlen, in welche die von einem Punkt A ausgegangenen zerlegt worden sind, sich unmöglich wieder in einem einzigen Brennpunkt vereinigen können, sondern dafs die Strahlen jeder Faxbe für sich besondere Brennpunkte bilden müssen. Die am stärksten abgelenkten violetten Strahlen kon- vergieren hinter der Linse am beträchtlichsten, ihr Vereinigungs- punkt a liegt daher der Linse am nächsten; die roten am schwäch- sten abgelenkten Strahlen konvergieren am schwächsten, ihr Brenn- punkt c liegt daher am weitesten von der Linse entfernt; der Ver- einiguugspunkt h der im mittleren Grade abgelenkten gelben Strahlen §118. CHEOMASIE DES AUGES. 427 mufs zwischen a und c in der Mitte liegen. Wollen wir nun das Bild des Punktes A hinter der Linse auflangen, so können wir keine Stelle für den aufi'angenden Schirm finden, an welcher der- selbe ein farbloses punktförmiges Bild erhielte; wir mögen ihn in den Brennpunkt der violetten, gelben oder roten Strahlen setzen, immer bilden sodann die übrigen Strahlen vor oder nach ihrer Ver- einigung farbige Zerstreuungskreise. Setzen war ihn so (D i?), dafs der Brennpunkt (i der violetten Strahlen in seine Ebene fällt, so treffen ihn die roten und gelben Strahlen konvergierend, und wir erhalten ein farbiges Zerstreuungsbild, in welchem Rot den äufsersten Saum, Violett die Mitte bildet. Verlegen wir den Schirm nach F G, so dafs der Brennpunkt c der roten Strahlen in seine Ebene fällt, so erhalten wir, da ihn hier die violetten und gelben Strahlen nach ihrer Vereinigung divergierend treflen, wiederum ein farbiges Zerstreuungsbild, aber mit veränderter Farbenordnnng, mit rotem Zentrum und violettem Saum. Verlegen wir ihn endlich in den Brennpunkt der gelben Strahlen h [HJ), so trefi'en ihn die violetten Strahlen divergierend, die roten noch konvergierend, wir erhalten also wiederum ein Zerstreuungsbild, in welchem jedoch die einzelnen Farben nicht in der Weise, wie bei den vorherbeschriebenen Lagen, gesondert erscheinen können, da, wie die Figur zeigt, an den beider- seitigen Grenzen des Zerstreuungskreises rote und violette Strahlen sich schneiden. Dafs der Zerstreuungskreis an dieser Stelle den geringsten Durchmesser hat, das Bild daher am hellsten erscheinen wird, folgt ebenfalls aus der Figur ohne Aveiteres. Aus der Physik ist bekannt, dafs man die Fehler der Chro- masie bei Linsensystemen bis zum unmerklichen verkleinern kann, indem man statt einer homogenen bikonvexen Linse eine Kombi- nation aus einer bikonvexen mit einer konkav-konvexen Linse her- stellt, von denen erstere aus dem schwächer zerstreuenden Crown- glas, letztere aus dem mit stärkerem Zerstreuungsvermögen begabten Flintglas besteht. Es wäre denkbar , und ist wirklich behauptet worden, dafs in dem dioptrischen Apparat unsers Auges durch seine Zusammensetzung aus verschiedenen brechenden Medien jener Fehler völlig beseitigt, vollkommene Achromasie erreicht wäre. Dies ist indessen nicht der Fall, wie die subtilen Untersuchungen von Feaunhofer und andern Physikern zur Evidenz gezeigt haben. Durch einige einfache Versuche läfst sich die chromatische Ab- weichung des Auges leicht zur Wahrnehmung bringen, wenn dieselbe auch infolge des geringen Dispersionsvermögens der brechenden Medien des Auges weit weniger auffallend ist als bei den Glaslinsen. Dafs die Vereinigungspunkte der roten, blauen u. s. w. Farben- strahlen auch im Hintergrund des Auges nicht zusammen, sondern in derselben Ordnung, wie bei einer künstlichen Linse, hintereinander fallen, läfst sich bei der Fixierung feiner Linien, z. B. einer Mikro- meterteilung, beweisen'. Die genaue Wahrnehmung der Linien fordert 428 CHKOMASIE DES AUGES. §118- eine andre Akkommodation, wenn sie von rotem Lichte beleuchtet sind, eine andre, wenn sie bei gleicher Helligkeit von violettem Lichte beleuchtet sind, oder bei unverändertem Alckommodationszu- stand des Auges eine verschiedene Annäherung an dasselbe. Nach Fraunhofers Messungen mul's für ein Auge, welches in unend- licher Entfernung ein Objekt von der Farbe der Linie C des Spek- trums (zwischen ßot und Orange) deutlich sieht, ein Objekt von der Farbe der Linie G (zwischen Indigoblau und Violett) auf 18 — 24'' genähert werden, um deutlich gesehen zu werden. Helmholtz fand bei seinem Auge die grüfste SehAveite für rotes Licht 8', für violettes 1^/./, für Ultraviolett (s. unten) nur einige Zolle. Es ge- lingt aber auch leicht, die farbigen Zerstreuungskreise wahrzunehmen, welche bei der Betrachtung weifser Objekte entstehen, besonders wenn das Auge für sie nicht akkommodiert ist, oder dieselben jenseits des Fernpunktes oder diesseits des Nahepunktes liegen. Sehr deut- lich erscheinen die Farbensäume um ein helles Objekt, wenn man während der Betrachtung desselben z. B. durch eine vorgeschobene Messerklinge die halbe Pupille bedeckt, ein Faktum, welches schon Newton bekannt war. Der Grund der deutlichen Erscheinung der Farbensäume unter dieser Bedingung ist leicht nachzuweisen. Stellt BC in Fig. 145 die Brechungskörpe]- des Auges dar, und befindet sich die Netzhaut in HJ, wie dies bei richtiger Akkommodation für den Punkt Ä der Fall ist, so kompensiert sich die Farbenzerstreu- ung des Strahles Ad teilweise durch die des Strahles Äe, indem, wie wir oben erwähnten, die Zerstreuuugskreise der verschiedenen Farben beider Strahlen zum Teil sich decken. Bringen wir aber durch Verdeckung der halben Pupille z. B. den Strahl Ad mit seinen farbigen Zerstreuungsstrahlen in Wegfall, so wij'ken auf die Netzhaut nur die nebeneinander auftreffenden Farbenstrahlen von Ae. Bringeu wir ^e in Wegfall, so wirken umgekehrt nur die nicht durch Vermischung gestörten farbigen Zerstreuungskreise von Ad. Dafs die Ordnung der Farben die umgekehrte sein mufs, wenn wir die obere, als v/enn wir die untere Hälfte der Pupille bedecken, leuchtet aus der Figur ohne weitere Erörterung ein. Ein andrer instruktiver Versuch ist folgender. Man bringe vor eine enge (3ffnuug in einem dunklen Schirm ein violettgefärbtes Glas und be- trachte die Öffnung gegen das Sonnenlicht. Da solche gefärbte Gläser die mittleren Strahlen des Spektrums fast vollständig absor- bieren und nur die brechbarsten violetten und die wenigst brech- baren roten vollständig durchlassen, so repräsentiert das Loch einen leuchtenden Punkt, von welchem diese beiden in bezug auf ihre Brechbarkeit extremen Lichtstrahlen ausgehen. Akkommodiert sich nun das Auge für die roten Strahlen (liegt also die Netzhaut in FG), so erscheint die Öffnung als roter Punkt mit violettem Hof; akkommodiert es sich für die violetten Strahlen (liegt die Netzhaut in T)E), so erscheint umgekehrt ein violetter Punkt mit rotem Hof; §119. FUNKTION DER IRIS. 429 nimmt es eine mittlere Akkominodation an [HJ], so erscheint die Öffnung in der Mischfarbe. Beim gewöhnliehen Sehen bringt die Chromasie des Auges keine Störung hervor; dieselbe ist so gering, dafs sie bei richtiger Akkommodation des Auges auf den betrachteten Gegenstand gar nicht bemerkbar wird und selbst bei falscher Aklvommodation, wenn sich also die Netzhaut z. B. in DE oder FG befindet, eine scharfe aufmerksame Prüfung der Gesichtsempfindung zur Wahrnehmung der farbigen Säume erforderlich ist.^ ^O' § 110- Funktion der Iris.- Die Regenbogenhaut mit ihrer der Erweiterung und Verengerung in weitem Umfange fähigen (Jlfnung, der Pupille, bildet in mehrfacher Beziehung einen wichtigen Korrek- tionsapparat des Auges. Sie dient als Diaphragma zur Korrektion der sphärischen Aberration, soweit dieselbe bei der Form der bre- chenden Flächen des Auges in Betracht kommt. Dafs sie möglicher- weise bei der Akkommodation des Auges, wenigstens durch mittelbare Unterstützung des eigentlichen Alckommodationsmuskels, des tensor clwrioideac, beteiligt ist, wurde bereits erörtert. Eine wichtige dritte Aufgabe, die Pegulierung der Lichtstärke der Netzhautbilder, werden M'ir jetzt noch in Betrachtung ziehen. Die Pupille zieht sich zusammen, wenn intensive Lichteindrücke die Netzhaut erregen, sie erweitert sich, wenn die Lichtstärke der Bilder eine geringe ist; die Veränderung des Pupillendurchmessers ist dem Wechsel der Intensität der Beleuchtung der betrachteten Objekte proportional. Betrachten wir ein helles Objekt, so läfst die sich verengende Pupille nur einen schmalen Strahlenkegel, Avelcher die Netzhaut vermöge seiner Intensität genügend zu erregen imstande ist, durch die Linse treten; beim Sehen im Dunkeln wird durch die sich erweiternde Pupille der eintretende Strahlenkegel möglichst vergröl'sert, um durch die Menge der zur Netzhaut ge- langenden Strahlen die geringe Helligkeit derselben zu kompensieren. Die Verengerung der Pupille bei gleichstarker Helligkeit des betrach- teten Objektes ist um so geringer, auf je weiter seitlich gelegene Partien der Netzhaut sein Bild fällt, am beträchtlichsten, wenn es in den Endpunkt der Gesichtsliuie, die fovca centralis, fällt. Dafs sich die Pupille bei Betrachtung naher Objekte verengt, bei Betrachtung entfernter erweitert, ist bereits S. 3H8 auseinander- gesetzt; wir haben aber dort. auch bereits gesehen, dafs nach E. H. Webers Ermittelungen diese Veränderungen des Pupillendurch- messers von der Akkommodationsveränderung unabhängig ist, dafs ' Vgl. HelMHOLTZ, a. a. O. p. 125. — A. FiCK, Med. Plmsik. Braunschweiir. 1. Aiifl 1856. p. 816. ^ E. H. Weber, .Summa doctrivuc. de wotu iridix, Annot. unatom. et pliijsiol. Pro(ir. cn'/. Fase. ni. p. 79. — J. BVDGE. 'Üher d. Beweg, d. Irin. Bi'aiinschweig 18.55. 4?>0 FUNKTION DETl IRIS. §119. die Verkürzung des Kreismuskels der Iris, welche eine Verengerung der Pupille bewirkt, eine mit der Kontraktion des nmscnlus rectus iiifennts (welcher ))ei Betrachtung nahei' Objekte das Auge, nach innen dreht) associierte Bewegung ist. Die Verengerung der Pupille bei Betrachtung naher, die Erweiterung bei Betrachtung ferner Objekte bringt ebenso eine für das Sehen wächtige Eegulierung der Intensität des Lichteindruckes auf die Retina hervor, da ja von einem leuchtenden Punkt, wenn er dem Auge entfernt ist, not- Avendig eine gei'ingere Anzahl der divergierend von ihm ausgehenden Strahlen das Auge trifft, als wenn derselbe dem Auge nahe ist. Ferner ist für das menschliche Auge sicher konstatiert, dafs im Schlafe die Pupille sich beträchtlich verengt, und zwar ganz zweifellos infolge einer anhaltenden Kontraktion ihres Kreismuskels \ des spJiiucfo' pHjyillac; bei winterschlafenden Tieren ist dagegen das Verhalten der Pupille noch fraglich. Nach den Angaben einiger Beobachter soll dieselbe erweitert sein, aus Valentins^ Mittei- lungen über die Pupille winterschlafender Murmeltiere läfst sich je- doch eher das Gegenteil entnehmen. Endlich ist hervorzuheben, dafs, wie Kussmaul"* im Anschlufs an die interessanten Beobach- tungen, welche Gl. Beknard und Brown-S]i;quard über die Be- wegungserscheinungen am Kopfe nach Änderungen der Blutströmung angestellt hatten, ermittelt haben will, die Blutströmung einen konstanten Einflufs auf die Bewegungen der Iris ausübt. Abschnei- dung der Zufuhr arteriellen Blutes zum Kopfe durch Kompression der Karotiden oder des trioicus roionj/mus bcM-irkt nach ihm bei Kaninchen im ersten Moment regelmäfsig rasche Verengerung der Pupille (sowie auch der Lidspalte, der Nasenlöcher u. s. w.), einige Zeit darauf jedoch Erweiterung. Die Wiederherstellung und Ver- mehrung des arteriellen Zuflusses ist jederzeit von einer beträcht- lichen Dilatation der Pupille begleitet. Druck auf die Jugularvenen, also Stauung des venösen Blutes im Kopfe, bewirkt zuweilen Ver- engerung, der AViederabflufs Erweiterung der Pupille. In betreff menschlicher Augen liegen Mitteilungen von Hensen* vor, welcher an sich selbst gefunden hat, dafs sich seine Pupillen rh-N'thmisch mit dem Radialpulse, aber gegen denselben etwas ver.spätet, zusammenziehen. Auf welche Weise Blutzirkulation und Irisbewegung miteinander ver- knüpft sind, ist noch keineswegs in ganzem Umfange klar. Dafs Momente rein mechanischer Natur mitspielen können, hat verstärkte Wahrscheinlichkeit gewonnen, seit Mosso^ an toten Kaninchenaugen 1 GRUENHAGKN, Ardi. f. pal/iiil. Anut. 1S64. Bd. XXX. p. 4SI. 2 VALENTIN, MüLESCHOTTs Unters, zur Naturlehre des Menschen u. der Thiere. 1876. Bd. XI. 11. 4.50. ' A. KUSSMAUL, Unters, üb. d. F.infl., welchen die Bluiströmung auf die Bewegungen der Iris etc. uusitht. Inauguraldi.ssert. Wtirzburg' 1855. ■• Hknsen u. Voelckers, E.xperimentahmters. üb. d Mechanismus d. Accomniodation. rfiel 1808. p. 22. ^ MOSSO, Sui mocimenti idruulici deW iride etc. Torino 1875. gll9. MECHANISMUS DER lEIS. 431 bewiesen hat, claTs die Einspritzung der IrisgefäXse und die damit verknüpfte Ausweitung und Dehnung derselben von einer deutlichen Pupillenverengerung begleitet wird. Anderseits wird aber auch nicht vergessen werden dürfen, dafs Änderungen der Blutp^irkulation auch in den Erregungszuständen der Irismuskulatur und der sie ver- sorgenden Nerven Modifikationen herbeizuführen vermögen , welche von Einflufs auf die Weite der Pupille sein müssen. Ganz ähnliche Überlegungen würden in Frage zu ziehen sein, wenn den von ViGOüROUX^ und von Hensen''^ behaupteten Beziehungen zwischen Irisbewegung und Respiration eine Gültigkeit zugesprochen werden müfste. Nach YiGOUROUX findet bei jeder tiefen Ein- und Aus- atmung eine Pupillendilatation statt und sollen überhaupt auch andre kräftige Muskelbewegungen von Veränderungen des Pupillen- durchmessers begleitet sein; Hensen gibt dagegen an, dafs in seinen Augen bei etwas energischer Atmung der Beginn der Exspiration jedesmal durch eine Verengerung, derjenige der Inspiration durch eine Erweiterung der Pupille angezeigt wird. Aus den angeführten Thatsachen geht hervor, dafs der Mecha- nismus der Iris durch sehr verschiedene Umstände in Thätigkeit versetzt wird. Von welcher Natur dieser Mechanismus ist, kann jedoch noch keineswegs als festgestellt angesehen werden. Nach einer landläufigen Anschauung soll derselbe auf dem wechselnden Spiel zweier antagonistischer Muskelsysteme, eines zirkulärfaserigen sphindcr und eines radiärfaserigen düatator impülae beruhen. Ab- gesehen von den begründeten histologischen Zweifeln, denen die Existenz des letztgenannten Muskels unterworfen ist (s. o. p. 333), steht die obige Annahme aber auch in direktem Widerspruch mit Thatsachen von anerkannter Richtigkeit. Denn erstens wissen wir, dafs die Iris bei Lähmung der in ihr enthaltenen muskulären Zir- kuläi'fasern (Oculomotoriusparalyse) absolut unbeweglich wird — wenn ein Dilatator existiert, kann, also von einem schnellen AVechsel verschiedener Kontraktionszustände in demselben, wie ihn das Spiel der Pupille erfordert, keine Rede sein — und zweitens ist, wie Experimente an Tieren lehren, die Pupilleubewegung nur in äufserst unerheblichem Grade eingeschränkt, wenn sämtliche Fasern des Sym- pathicus, deren Erregung eine Erweiterung der Pupille hervorbringen, durchschnitten worden snid. Alle in normalen Verhältnissen statt- • findenden und auf muskuläre Aktion zurückzuführenden Irisbewe- gungen werden vielmehr ausschliefslich durch Kontraktion und Er- schlaffung des Sphinkters bedingt. Wachgerufen wird die Thätigkeit dieses kleinen Ringmuskels aber teils durch Willensimpulse, in- sofern die Akkommodation willkürlich geändert werden kann und die Kontraktion des spliindcr pupillae der willkürlichen Verkürzung des inneren geraden Augenmuskels associiert ist, teils kommt sie 1 ViGOUKOUX, Cpt. rend. 1863. T. LVII. p. 581. - Hensex s. bei Hensex u. Voelckers, a. a. O. p. 23. 432 LICHTWELLE UND SEHN l-nn'. § l'iO- ohne Ziithuu des Willens, meist auf reflektorischem Wege von der Netzhaut aus zustande. Von j^röfserer physiologischer Bedeutung ist jedenfalls die ziweite Erregungsweise des S])hinkters, da dieselbe offenhar einen regulierenden EintluJ's auf die Lichtstärke der Netz- hautbilder ausüben mufs. Die von intensiven Lichteindrückeu erreg- ten Sehnervenfaseru übertragen im Hirn ihre Erregung auf die Bewegungsnerven des Sphinkters der Pupille und setzen somit selbst den Mechanismus in Gang, welcher sie vor der weiteren störenden Einwirkung relativ zu starker Lichteindrücke zu schützen bestimmt ist. Der komplizierte Nervenapparat der Iris, die peripheren Nervenbahnen, auf welchen die pupillenverengernden und die pupillenerweiternden Nervenfasern verlaufen, die zentralen Ursprungs- stätten, von welchen die pupillenbewegenden Impulse ausgehen, sind Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen. Indessen kann eine Besprechung der hierbei gewonnenen Eigebnisse erst bei der Physiologie des Gehirns und Rückenmarks und der von beiden sich abzweigenden Nerven, insbesondere des Sympathicus, mit Vorteil unternommen werden. Dort können wir auch erst den interessanten Einflufs des Atropins auf die Muskeln der Iris, die anhaltende Erweiterung der Pupille durch dieses Alkaloid, einer genaueren Be- trachtun^ unter\verfen. DIE GESICHTSEMPFINDUNGEN. § 120. Licht welle und Sehnerv. Nachdem wir in dem voraus- geschickten Abscbuitt der physiologischen Optik die Lichtstrahlen auf ihrem Wege durch die brechenden Medien des Auges bis zur Netzhaut begleitet, die Entstehung der Bilder auf derselben mit ihren korrigierten oder nichtkorrigierten Fehlern physikalisch nachgewiesen haben, kommen wir zu unsrer eigentlichen Aufgabe, der Physiologie des Seh- nerven, der Erörterung der Thätigkeitsäufserungen, welche die Licht- wellen an sich und die zu Bildern geordneten Lichtstrahlen bei ihrer Einwirkung auf diesen Nerven hervorrufen. Die erste Frage, welche sich uns entgegenstellt, ist notwendig: Auf welche Weise bringt eine bis zur Netzhaut fortgepflanzte Lichtwelle den Er-- regungszustand einer Sehnervenfaser hervor, welcher, zum Gehirn fortgeleitet, die Lichtempfindung erzeugt? Es löst sich diese allgemeine Frage bei näherer Betrachtung in eine Anzahl zusammenhängender Einzelfragen auf, die wir jetzt jede für sich erörtern und, so weit es geht, beantworten wollen. Die wunder- bare Komplikation des Baues der Netzhaut, die Anzahl verschieden geformter Gewebselemente, welche schichtenweise in ihr hintereinan- der geordnet sind, mufs ohne weiteres zu der Überzeugung führen. « 120. LICHTWELLE FNI) SEHNERV. 43;> dafs diese formell verscliiedenen Elemente auch funktionell ^-ei•sclnedene Gebilde sind, deren Verrichtungen ebenso harmonisch zu einem ge- meinsamen Effekt ineinandei-greifen, als die Verrichtungen der ein- ;^elneu Teile einer Dampfmaschine. Der gemeinsame Endeffekt, welcher aus ihren Einzelverrichtungeu resultiert, liegt klar zutage, es kann kein andrer sein, als die Umsetzung einer Lichtwelle in einen Nervenreiz, und dieses letzteren in einen Xervenerregungsprozefs. Die Lichtwellen an sich, selbst in ihrer gröfsten Energie als Sonnen- strahlen, erregen die Nervenfaser als solche nicht, auch nicht die Sehnervenfaser; es mufs daher aus ihnen und durch sie ein andres Agens geschaffen werden, welches für die letztere, und wahrscheinlich für jede beliebige Nervenfaser, wenn dieselbe seiner Einwirkung aus- gesetzt würde, die Bedeutung eines Eeizes besitzt. So unleugbar die Notwendigkeit dieser Umsetzung der Lichtwelle ist, so selbstverständ- lich die Retina der Ort und der Mechanismus ist, welcher mit dieser Metamorphose betraut ist, so schwierig und bis jetzt leider nur teilweise auf h}'pothetischem "NVege beantwortbar sind die Fragen: In welches Agens, in welchen Reiz wird die Undulation des Licht- äthers umgesetzt? In welcher Schicht, durch welche Ele- mente der Netzhaut, und auf welche "Weise geschieht die Umsetzung und die Einwirkung des neugeschaffenen Reizes auf die Opticusfaser? Wie gestaltet sich hiernach die Funktions- lehre der Netzhaut im ganzen und ihrer einzelnen Appa- rate im besonderen? Es stehen der Wege mehrere offen, aufweichen man zur Lösung dieser Probleme vorzudringen versuchen kann ; gangbar sind leider nur wenige. Es leuchtet ein, dafs wir einem und demselben Hindernis auf allen begegnen müssen, d. i. der Unkenntnis des Vorganges in der erregten Nervenfaser selbst; solange wir dieses nicht beseitigt, das Wesen des Erregungszustandes nicht ergründet liabeu, wird uns auch in dem zu enträtselnden Getriebe des Retinamechanismus nicht allein das Endglied fehlen, sondern auch ein volles Verständnis aller übrigen Glieder kaum möglich sein. Es wäre indessen immei-hin viel gewonnen, wenn wir z. B. erv^'eisen könnten, dafs die Lichtwelle in irgend einem Teil des Apparaten- systems einen chemischen oder elektrischen oder thermischen oder mechanischen Reiz auslöste, in dessen Wirkungsweise auf die Nerven- faser wir bereits einige Einsicht gewonnen haben. Gehen wir den umgekehrten Weg, suchen wir von dem Anfangsglied aus in das Problem einzudringen, indem wir nach den Schicksalen und den notwendigen physikalischen Wirkungen der Lichtwelle auf die Sub- stanz und die einzelnen Konstituenten der Retina forschen, so ver- lieren wir auch hier sehr bald den Boden unter den Füfsen, indem wir auf empfindliche Lücken in der Kenntnis der chemischen und physikalischen Konstitution der einzelnen Retinaelemente stofsen. Hat uns auch Bruecke mit scharfsinniger Analyse die Gesetze der Spiegelung des Lichtes in den Stäbchen der jACOBschen Haut de- Ori ENHAGEX, Physiologie. 28 4;U LICHTWELLE UND SEHNERV. §1-0. moiistriert, so zeigt uns doch gerade die hierauf einst begründete, otfeiihar irrige Theorie de]' Funktion dieser Gebihle, dals wir seihst sohdie exakte Kenntnis noch nicht sicher zu gunsten des in Rede stehenden Problems verwerten können; es kann, wie wir gleich sehen werden, nicht die wesentliche Bestimmung der Stäb- chen sein, das empfangene Licht konzentriert auf die Opticusfasern zurückzuspiegeln. Eine einzige der oben aufgeführten Fragen, aber leider immer nur eine mehr untergeordnete, ist es, zu deren Lösung die vollständigsten Unterlagen geboten sind, auf welche jetzt schon eine hinreichend sichere, wohlbegründete Antwort gegeben werden kann. Es ist die Frage: Was für Elemente der Netzhaut sind es, welche zur Auf- nahme des Lichteindruckes dienen, in welchen die an und für sich den Nerven nicht erregende Lichtwelle in einen Nervenreiz um- gewandelt wird? Die Antwort darauf lautet: die Stäbchen und Zapfen der hintersten Retinaschicht sind die Aufnahme- organe der Lichtwellen, die Endapparate der Sehnerven- fasern, welche die Erregung der letzteren durch Licht vermitteln, indem sie aus den in ihre Substanz eingedrungenen Atherschwinguu- gen irgend einen erregenden Vorgang schaffen und diesen den mit ihnen im Zusammenhang stehenden Opticusfasern zuleiten. Als Beweis des Gesagten kann zunächst die Thatsache dienen, dafs es jedenfalls nicht die in der innersten Schicht der Retina mit deren Fläche parallel verlaufenden Sehnervenfasern sind, auf welche das Licht direkt und als solches erregend einwirkt. Denn erstens wissen wir, dafs keine andre Nervenfaser, weder eine mo- torische noch eine sensible, durch Bestrahlung mit selbst höchst in- tensivem Lichte in den thätigen Zustand übergeführt werden kann; es ist daher auch nicht anzunehmen, dafs hierdurch die Sehnerven- fasern, welche den übrigen Nervenfasern in allen wesentlichen Punkten gleichen, zur Aktion werden aufgerufen werden. Wir wissen ferner aber auch, dafs der Sehnervenstamm vollkommen unempfindlicli gegen Licht ist, mögen wir es auf die Oberfläche seiner unverletzten lebenden Fasern, oder auf ihren Querschnitt einwirken lassen, während doch Druck, Elektrizität u. s. av. seine Fasern, wie diejenigen aller andren Nerven, mächtig erregt. Wollten wir trotzdem annehiuen, dafs das Licht die Faser im Stamme zwar nicht, wohl aber in ihrem Ver- laufe in der Retina selbst zu erregen vermöge, so müi'steu wir die völlig grundlose unerweisliche Voraussetzung macheu, dafs dieselbe Sehnervenfaser in der Retina eine andre als im Opticusstamm sei, nach ihrem Eintritt in die Retina wesentlich andre physikalische oder chemische Eigenschaften, die sie zur Reaktion auf Ather- schwingungen befähigten, annehme. Das Verschwinden der Primitivscheide und den mehr oder minder vollkommenen Wegfall der sogenannten Markscheide, welcher sich am peri]>heren und am zentralen Ende aller Nervenfasern zeigt, als i^ 1 20. LK'H'J'WELLE UND SEHNERV. 435 diese weseutliclie Veränderung aufzufassen, haben wir nickt den ge- ringsten Anlialtepunkt. Dai's die Liclitwelle dieselbe bleibt, mag sie durcb die Luft fortgepflanzt Averden oder nacb Durchsetzung der brechenden Medien des Auges die Sehnervenfaser erreichen, wird wohl niemand bezweifeln; wir können es also auch der Licht- welle niclit zuschreiben, daJs sie in der lietina anders als am Stamm auf die Nervenfaser wirkt. Drittens aber können wir sogar dii-ekt beweisen, dai's auch die bereits in die Retina eingetretene Opticus- faser durch Licht nicht erregbar ist; denn ein einfacher unten zu beschreibender Versuch lehrt uns, dafs die Eintrittsstelle des Sehnerven, der ganze Bezirk der Retina, innerhalb dessen die aus dem Stamm kommenden Fasern rechtwinkelig nach allen Seiten in die Fläche der Netzhaut umbiegen, blind ist, dafs keine Licht- enipfindung eintritt, wenn auch das konzentrierteste Licht auf diese Stelle fällt. Ein fernerer für sich selbst sprechender Grund gegen die direkte Ei'regbarkeit der Retinafasern ist der folgende. Entstände die Lichtemptindung durch das Auftreffen der Lichtwellen auf diese Fasern an irgend einer Stelle der Netzhaut, so müi'ste notwendig eine Stelle, an welcher diese Fasern fehlten, unempfindlich, blind sein; eine solche Stelle existiert aber, wie wir oben gesehen haben, am gelben Fleck. Da nun dieser nicht allein nicht blind, son- dern im Gegenteil der bevorzugte Ort der schärfsten Gesichtswahr- nehmungen ist, so könneji die Opticusfasern weder hier noch anderswo die Aufnahmeorgane der Lichtwellen sein, nicht direkt von ihnen erregt werden. Es wäre unsers Erachtens genug mit diesen Gründen, von denen jeder einzelne genügt, den gewünschten Beweis zu liefern; allein es gibt deren noch mehr, und nicht minder voll- wichtige. Die Thatsache, dafs unser Auge wie unser Tastorgan zu räum- lichen Wahrnehmungen befähigt ist, dafs zwei von verschiedenen Lichteindrücken getroffene Netzhautpunkte, mögen sie nebeneinander oder entfernter voneinander liegen, zwei gesonderte Empfindungen bedingen, dafs die relative Lage und Entfernung einer Anzahl gleichzeitig getroffener Netzhautpunkte das Moment ist, durch welches wir, wie aus den entsprechenden Tastwahrnehmungen, Vor- stellungen von Form und Gröi'se der Gesichtsobjekte, auf welche wir die Empfindungen beziehen, erhalten: diese Thatsache zwingt uns zu der Annahme, dafs in der Netzhaut, wie in der äufseren Haut, eine Mosaik diskreter, isolierter, regelmäfsig neben- einander geordneter sensibler Punkte als Aufnahmeorgane des äufseren Reizes existiere. Wir stellen hier vorläufig als Axiom hin, was wir beim Tastsinn für die Haut schon bewiesen haben und unten für die Netzhaut noch beweisen werden. Mit diesem ])hysiologischen Postulat ist die Annahme der direkten Erregung doi- Opticusfasern während ihres Verlaufes in der Retinafläche voll- kommen unvereinbar, räumliche Wahrnehmung durch den Gesichts- 28* 4m [.ICHTWEl.LK UND SEHNERV. g 120. siun ist uiidenkliar, weun die Liclitwelle die Nenenfaser selbst, wo sie dieselbe durclidringt, erregt. Wir müssen notwendig a priori die erregbaren Stellen der Fasern aussclilielslicK an freien regelmäi'sig geordneten Enden derselben suchen, die Faser im Verlauf als nicht erregbar durch Licht betrachten, woraus ohne Aveiteres folgt, dafs wdr die Enden nicht als nackt, sondern als bewaffnet mit besonderen Aufuahmeapparaten, welche sie durch Licht erregbar machen, voraus- setzen müssen. Diese Notwendigkeit leuchtet aus folgenden Be- trachtungen ein. Die Opticusfasern verlaufen in der Retina nicht regel- mäi'sig nebeneinander, in nicht ausschliefslich radialer Richtung vom Eintritt des Stammes aus, sondern (s. o. p. 321 f.) zu Bündeln neben- und hintereinander vereinigt, die Bündel in Form eines spitzmaschigen Netzes augeordnet. Trifft nun ein Lichtstrahl oder der Vereinigungs- punkt eines Strahlenbüschels auf eine beliebige Stelle der Netzhaut, so wird er entweder in einen Maschenraum oder auf ein Faserbündel fallen; im ersten Falle könnte er, wenn die hier zu widerlegende Annahme richtig wäre, keine Erregung, also keine Em])findung bewirken; im letzteren Falle dagegen würde er alle Fasern, die er trifft, erregen und dadurch eine Lichtempfindung bedingen. Liegen an dieser Stelle z. B. drei Fasern hintereinander, so würde er bei der Durchsichtigkeit derselben alle drei erregen, an einer andren Stelle vielleicht gleichzeitig sechs oder auch nur eine; derselbe Lichtpunkt würde also gleichzeitig bald eine grölsere, bald eine geringere Faserzahl in Thätigkeit versetzen, bald gar keine, wenn er in einen Maschenraum oder in den Bereich der macula lutea fiele. Wie wäre es hierbei möglich, dafs dieser Lichtpunkt überall dieselbe Lichtempfindung, die immer zu derselben Vorstellung eines objektiven Lichtpunktes führt, hervorriefe? Es kann ja unmöglich die Lichtempfinduug, die gleichzeitig von sechs Fasern erzeugt wird, der von nur einer erzeugten gleich sein, der Unterschied kann aber auch nicht blofs in der Intensität beruhen, sondern die Empfindungen müssen auch verschieden extensiv sein, wenn sie von einer ver- schiedenen Anzahl gesonderter Fasern erzeugt Averden. Wer letzteres leugnet, für den existiert keine mögliche Erklärung der räumlichen Wahrnehmung überhaupt, für welche ja die erste unabweisbare Bedingung ist, dafs die von jeder einzelnen Faser im Gehirn erzeugte Empfindung ein besonderes Merkmal trägt, aus welchem die Seele eine Ortsvorstellung bilden kann und für die Empfindung jeder eine besondere Ortsvorstellung bildet. Weiter aber zu andern Widersprüchen. Fällt ein Lichtstrahl erst auf eine Stelle a, dann auf eine Stelle h oder c der Netzhaut, so erzeugt er nacheinander drei Empfindungen, die bekanntlich zu drei ver- schiedenenen Ortsvorstellungen führen, aus denen wir auf die Be- wegung des äufseren Leuchtpunktes schliefsen. Nun kann aber begreiflicherweise sehr leicht der Fall eintreten, dafs die Netzhaut- punkte a, h und c im Verlauf einer und derselben Opticusfaser, § ] 20. LICHTWELLE UND SEHNERV. 437 oder dei'sell)eu limtereiuaiider liegeuden Fasern sich befinden, so dal's also der Liclitein druck bei seiner Verschiebung von a nach h und c immer dieselbe Faser oder dieselben Fasern erregte; dafs aber unmöglich eine und dieselbe Faser, nacheinander von verschiedenen Stellen ihres Yerlaufes aus erregt, die Vorstellungen verschiedener Erregungsorte erzeugen kann, haben wir bei der Lehre vom Tastsinn genügend erwiesen. Endlich wissen wir, dal's, wenn zwei punktförmige Lichteindrücke gleichzeitig auf zwei vonein- ander entfernte Punkte a und h der Netzhaut fallen, zwei Em- pfindungen und die Vorstellung des Auseinanderliegens der äufseren Leuchtpunkte im Räume entstehen. Die Netzhautpunkte a und 1) können nun wiederum in dem Verlauf derselben Faser liegen, beide Bindrücke also dieselbe Faser treffen ; eine iind dieselbe Faser kann aber unmöglich gleichzeitig zwei Eindrücke gesondert leiten und dadurch gesonderte Empfindungen imd gesonderte Ortsvorstellungen hervorrufen; folglich können überhaupt die Netzhautfaseru in ihrem Verlauf durch das Licht nicht erregt werden, was zu be- weisen war. Schärfer als alle bisher erläuterten Beweisgründe gestattet in- dessen, wie H. MuELLEE,^ zuerst gezeigt hat, eine entoptische Er- scheinung den Ort zu bestimmen, welcher die durch das Licht erregbaren Elemente der Retina enthalten mufs. Da die Er- scheinung selbst erst unten genauer erläutert werden soll, so können wir hier nur kurz den Gang des Beweises mitteilen. Unter gewissen Bedingungen kann man die Netzhautgefäfse im eignen Auge wahrnehmen, im Sehfeld erscheint dunkel auf hellem Grunde die verästelte Figur der vom coUiculus nervi optici aus in die Ebene der Netzhaut ausstrahlenden Blutgefäfse genau ebenso, wie dieselbe sich objektiv bei Betrachtung durch den Augenspiegel dai'stellt. Die ursprüngliche, später verlassene Deutung dieser Schattenfigur, welche von ihrem ersten genauen Beobachter Purkinje herrührt, ist von MuELLER wieder in ihr volles Recht eingesetzt worden. Derselbe wies zur Evidenz nach, dafs bei allen möglichen Hervor- rufungsarten der Figur es der von den Gefäfsen der Retina auf die hinter ihr gelegenen lichtpercipierenden Netzhautelemente ge- worfene Schatten ist, welcher zur Wahrnehmung kommt, indem wir uns der beschatteten, also nicht erregten Netzhautpartien, welche die Aderfigur bildend zwischen den erleuchteten, also erregten, Partien liegen, bewufst werden; er weist nach, wie mit dieser Deutung, und zwar nur mit dieser, alle Eigenschaften und Erscheinungen der Figur, insbesondere die Art und Richtung ihrer scheinbaren Be- Avegung bei Bewegung der äufseren sie hervorrufenden Lichtquelle in Einklano' zu brino'en sind, wie wir unten erörtern werden. Da 1 H. MrELI.KR, Gesamiwlle u. hinter lasxene Schriften zur Ana*, ii. Plnisiol. d. Augen, zu- sammeiiffestellt ii. horausgefreb. v. O. BKCKER. I. Bd. Leipzi? 1872. p. 27, w. \'erhanf anat. and phi/siol. 1873. p. 275; l'rhe R. Sucietii of Kdinhurpfi. 1874. Vol. XXVII. p. 141. — W. KÜHNE, Unters, aus d. phi/siol. Instit. d. Univer.iit. Heidelberg. 1880. Bd. III. p. .327. 3 ENOELMANN, PFLUKGKR.S Arch. 1885. Bd. XXXV. p. 499. §121. QUALITÄTEN DEE LICHTEMPFINDUNG. 44o Eine sehr interessante Verwertung- hat Bolls Entdeckung vun der Zer- setzung des Sehpurpurs der Ketina durch W. Küune' gefunden. Gestützt auf die Thatsache, dafs der Ersatz dieses eigenartigen Farbstoffs nur während des Lebens vor sich geht, liefs er in die Augen frisch getöteter Tiere Lichtstrahlen einfallen, welche Objekte von genau bestimmter Form entsandten. Alsdann wurden die unversehrten Bulbi in eine konservierende Flüssigkeit (Alaunlösung) o-eworfen, welche den Sehjjurpur eine Zeitlang intakt läfst, und erst nach Ablauf von 24 Stunden bei Xatriumlicht geöffnet. Iti der ei'härteten Fietina konnte dann ohne Schwierigkeit konstatiert werden, dafs der Sehpurpur nur an derjenigen Retinastelle verbraucht worden war, welche der Lage des von Cornea und Linse entworfeneu Bildes und zwar so genau entsprach, dafs die Umrisse des Objekts, von welchem das Bild herrührte, mit grofser Schärfe wiedergegeben waren. Hiermit ist also dargethan, dafs man die photochemische Wirkung des Lichts imter geeigneten Vorsichtsmafsregeln benutzen kann, um auf der Netzhaut wie auf einer empfindlichen photographischen Platte ein Photogramm herzustellen. Eine bestimmte Sclieiduug der Funktionen der beiden differenten Elemente der jACOBschen Haut, der Stäbcben und Zapfen, ist zur Zeit noch nicht möglich; eine Verschiedenheit ihrer Bestimmungen ist jedoch bei der Verschiedenheit ihrer anatomischen Beschaffenheit höchst wahrscheinlich. Die Frage, ob im Auge für die Perception der verschiedenen Reizmodifikationen, d. h. der Atherwellen von A^erschiedener Länge, Avelche die verschiedenen Farbenempfiudungen erzeugen, in analoger Weise verschiedene Perceptionsapparate und verschiedene leitende Nervenfasern vorhanden sind, wie wir in der Schnecke für die einfachen Schallwellen, verschiedener Länge, also für die Töne verschiedener Höhe, verschiedene Mitschwingungs- apparate und Nervenfasern fanden, werden wir passender im folgen- den Abschnitt erwägen. § 121. Die Qualitäten der Lichtempfindung. Jede Erregung der Opticusfasern , gleichviel durch welchen Reiz sie hervorgebracht Avird, kommt als Lichtempfindung im allgemeinen zur subjektiven Erscheinung: Ätherwellen, Druck auf das Auge, ein durch dasselbe geleiteter elektrischer Strom, die unabhängig von äufseren Reizmitteln in dem Sehnerven des verdunkelten Auges ablaufenden Stoffwechsel- A'orgänge, alle diese so differenten Agenzien erzeugen Empfindungen, welche in die Kategorie der Lichtempfindungen etc. gehören. Allein wir unterscheiden eine Anzahl verschiedener Qualitäten dieser Lichtempfindung, bezeichnen dieselben als Empfindung der weifsen, schwarzen, roten, grünen, gelben, blauen und violetten Farbe und unterscheiden von. jeder dieser Qualitäten wieder manniorfache Modifikationen. Der Kürze halber ma;.' dies Vermögen ' KÜHNK, Unter«, aim rf. phyaiol. Instil. d. Unioerxif. /IfirlelfiTtf. IS/fi. P.d. 1. |i. Hkrmanxs Hantib. d. Physiol. 1879. Bd. III. p. 23.5. 444 giTALIT"\TKNM)EE LICHTEMPFINDUNG. §121- tinsers Sehappiirats mit Auhkrt kurzweg- Farbensinn^ genannt werden. Definieren lassen sich die angefühi-ten Emptindungsquali- täten niclit und mit Ausnahme des Violett, welches wohl unzweifel- haft gewisse Merkmale mit dem Rot und mit dem Blau teilt'"^, auch nicht untereinander vergleichen; wir können nicht angehen, was hlaue, was rote Empfindung ist, worin sich beide voneinander unterscheiden, M'ir kennen nur die Verschiedenheiten der äufsern Ursachen, durch welche die verschiedenen Empfindungsqualitäten erzeugt werden, aber nicht einmal die verschiedenen Modifikationen des Erregungsprozesses, welche durch diese verschiedenen Ursachen in den Opticusfasern hervorgerufen werden, noch viel weniger die Differenzen der Empfindungsvorgäuge in ihren zentralen Endapparaten. Wir müssen uns daher auch auf die Analyse der Verschiedenheit der Erregungsursachen, welche erfahrungsmäfsig die eine oder die andre Empfindungsqualität bedingen, beschränken. Betrachten wir zunächst den adäquaten Reiz des Sehnerven, die Undulationen des Lichtäthers, so lehrt die Physik, dal's der undulierende Äther Wellen von verschiedener Länge und Ge- schwindigkeit bildet, dafs es eine bestimmte Anzahl von Wellenarten gibt, deren jeder eine genau bestimmte und konstante Länge und Schwinguugsdauer zukommt, dafs diese verschiedenen Wellenarten aufserdem durch eine verschiedene Brechbarkeit und Absorptions- fähigkeit und endlich durch ihre verschiedene physiologische Wirkung sich unterscheiden. Den gröfsten Teil dieser Wellen bezeichnet die Physik nach ihrem physiologischen Effekt, d. h. nach der Farbe der Empfindung, welche eine Lichtwelle durch ihre Einwirkung auf die Netzhantenden des Sehnerven erzeugt, als Ätherwellen von verschiedener Farbe, oder kurz als rotes, blaues u. s. w. Licht, einen andren Teil, welcher, wie wir gleich sehen werden, auf den Sehnerven unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht wirkt, nach seiner chemischen oder thermischen Wirkung als unsichtbare chemische oder als dunkle AVärmestrahlen. Das von der Sonne ausgehende Licht ist eine Mischung fast aller über- haupt existierenden Wellenarten, enthält eine zahllose Reihe ein- facher Wellen arten von allmählich abnehmender Wellenlänge, wenn die Reihe auch keine ganz ununterbrochene ist, eine grofse Anzahl von Übergangsstufen fehlt oder bei dem Durchgang des Sonnen- lichts durch die Atmosphäre daraus ausgeschieden ist, und wenn auch durch andre künstliche Lichtquellen (elektrisches Kohlenlicht) Wellen von noch s^erinoferer Länc^e als die kürzesten des Sonnen- lichts erzeugt werden können. Die gleichzeitige Einwirkung aller darin enthaltenen AVellen auf den Sehnerven erzeugt die Empfindung ' AUBKirr, Phi/sifi'. iL Netzhaut. Breslau 1865. p. 7. 2 Vgl. E. HEKIXG, WIenfl}- Stzber. Math.-niitw. Ol. IH. Abtli. 1874. IJd. LXX. p. 180. § l'J. u. AUBERT, HantVi. d. 'icxammtPn Aurjenheillc, heraiisG-eg-eb. v. A. GRAKFK etc. Leipzig 187(i. Bd. II. p. 528. §121. QUALITÄTEN DEE LICHTE3IPFINDUNG. 445 des Weii's, bei Abhaltung- aller ÄtherAAellen dagegen entstellt die Empfindung des Schwarz. Die Eigenschaft der Atherwelleu von verschiedener Länge, durch brechende Flächen in verschiedenem, aber für jede Wellenlänge konstantem Grade von ihrem Wege ab- gelenkt zu werden, eine Eigenschaft, die wir schon bei der Lehre von der Chromasie des Auges besprochen haben, gibt uns ein Mittel an die Hand, das weilse Sonnenlicht in seine einzelnen ein- fachen Konstituenten zu zerlegen. Mit andern W^orten: die ßewe- gungsform, welche den Teilchen des Lichtäthers durch die Sonne erteilt wird, kann entstanden gedacht werden durch Addition einer gewissen i^nzahl gleichzeitiger einfacher Bewegungen von verschie- dener Periodendauer, wie die einem Klang entsprechende Bewegujig der Luftteilchen durch Addition einer Heihe einfacher, einfachen Tönen entsprechender Pendelschwingungen. Wie letztere durch mit- tönende Körper, so kann die resultierende Bewegung des weifsen Sonnenlichts durch brechende Flächen in ihre Komponenten zerlegt werden. Lassen wir einen weifsen Sonnenstrahl durch zwei im Winkel zusammeustofsende Flächen eines Glasprismas gehen, so treten bekanntlich die in dem Strahl ursprünglich vereinigten Strahlen A'on verschiedener Wellenlänge gesondert und divergierend aus, und zwar so, dafs die kürzesten AVellen am weitesten, die längsten am wenigsten von dem Wege, welchen alle gemeinschaftlich vor dem Eintritt in das Prisma verfolgten, abgelenkt sind. Von einem auf- fangenden Schirm bedecken sie daher einen oblongen Streifen neben- einander geordnet und in der Reihenfolge, welche durch das Ver- hältnis ibrer Ablenkungskoeffizienten bedingt ist. Die am weitesten abgelenkten „chemischen" und am wenigten abgelenkten dunklen Wärmestrahlen nehmen die beiden äufsersten Grenzen ein, zwischen ihnen bilden die „physiologischen" Strahlen das ,, sichtbare'" Spektrum in folgender Ordnung. An die chemischen Strahlen reihen sich die violetten an, diesen blaue (indigo- und cyanblau), grüne, gelbe (orange), rote, die roten stofsen an die dunklen Wärme- strahlen. Eine Erörterung der Bedeutung der dunklen Feaunhofer- schen Linien, welche das Spektrum durchziehen und zur Orientierung in demselben, zur Bezeichnung bestimmter, bestimmten Wellenlängen entsprechender Stellen desselben von gröi'stem praktischen Nutzen sind, gehört nicht hierher. In die Sprache der Physiologie übersetzt lautet die physikalische Beschreibung des Spektrums, in welcher nach einem öfters beruhigten L'rtum die Farbe den Atherwelleu und den von ihnen getroffenen Partien des auffangenden Schirms als Eigen- schaft vindiziert ist, folgendermafsen. Die im Sonnenstrahl ver- einigten Wellen von verschiedener Länge treffen, durch das Prisma gesondert, auf nebeneinanderliegende Teile des Schirms; von jedem Teile des Schirms gehen die Wellen von bestimmter Länge wieder aus, welche auf ihn aufgetroffen haben, und gelangen zu dem in ihrem Bereiche befindlichen Auge, Avelches die von jedem bestimmten 44(; QlIAl.ITÄTKN DKi; LI('HTKi\ll'FlM)rN(n §121. Punkte des Scliirms ausgegangenen Strahlen Avieder in einem Punkte der Net/haut vereinigt. Notwendig entsteht auf der Netzhaut ein verkleinei'tes verkehrtes Bild des ol^jektiven Spektrums, d. h. der Flüche des Schirms, welche die verschiedenen AVellen aussandte; (i>s entspriclit dieser Fläche eine Netzhautpartie, auf welche neben- einander die verschiedenen AVellen in derselben relativen Ordnung, wie auf den Schirm, aufprallen, und jede ihrer Art gemäfs auf die getroffenen Endapparate der Sehiiervenfasern wirkt. Nicht alle Wellen bringen unmittelbar eine zu deutlichen Em])findungen führende Erregung der getroffenen Nervenfasern zustande, nui- der mittlere, \on AVellen mittlerer Länge getroffene Teil des vom Gesamt- spektrum eingenommenen Nervenendgebietes gerät in Erregung, und zwar in verschiedene, den verschiedenen Wellenlängen in diesem Teile entsprechende Modifikationen der Erregung, welche ebensoviele Modifikationen der Empfindung, die wir als verschiedene Farben be- zeichnen, veranlassen. Die längsten AVellen, welche eine Erregung zustande bringen, erzeugen diejenige Modifikation der Empfindung, die wir rot nennen, die kürzesten diejenige, welche wir violett nennen. Da wir unsre Gesiehtsempfindungen objektiviei'en uud ihre Eigen- schaften den erregenden äufseren Ursachen unterschieben, so beziehen wir die Farbenempfindungen auf die Teile des Schirms, von welchen die zugehörigen Wellen ausgingen, und sprechen von einer roten oder violetten Stelle im objektiven Spektrum. Eine Definition der Empfindungsqualitäten ist hier so unmöglich wie in allen Sinnes- gebieten; jeder besitzt in seiner Erinnerung eine getreue A'^orstellung von der Art und Weise, in welcher sein BewuJ'stsein angeregt ist, während er rot oder grün empfindet, kann es jedoch nicht mit AVorten beschreiben. Es bleibt also hier ebenfalls nichts übrig, als bestimmte Benennungen für die verschiedenen Empfinduugsqualitäten, welche zu den verschiedenen scharf charakterisierbaren Modifikationen des äufseren Reizes gehören, einzuführen. Da in betreff' dieser Namen und der x\usdehnung des Gebiets einzelner Farben im Spektrum nicht volle Übereinstimmung herrscht, so wollen wir die von Helmholtz^ vorgeschlagenen Farben kurz wiedergeben. Rot ist die Farbe, welche die wenigst brechbaren längsten AVellen des sichtbaren Spektrums von seinem Ende bis zur FRAUNiiOFEKSchen Linie C erzeugen; zwischen den Linien C und I) geht das Rot durch Orange, d. i. Gelbrot mit überwiegendem Rot in Goldgelb, d. i. Gelbrot mit überwiegendem Gelb über; zwischen D und h finden sich drei Farben- töne, zunächst ein schmaler Strich reines Gelb, dann Grüngelb und zwischen E und h reines Grün. Zwischen E und i*' geht das Grün durch Blauofrün in Blau über, zwischen E und (r treff'en ' HELMHOLTZ, P/iijswl. Optik. ])■ 227. CJiinaue iiud im friinzou nur wenig- abweichende Be- stimmungen s. bei Listing, Verhamll. d. Verxamml. Deutscher Naturf. u. Ärzte in Bunrwver. 18G5, u. POGGENDORFKs Annalen. 1SG7. Bd. CXXXI. p. 504. — PllEYER, Jenaische Ztschr. f. Med. v. Naturwi.i.ien.ich. 1870. Bd. V. p. 376, u. CHODIN, Saminl. ph/siol. Ahhandl., herausgep. von W. l'HKYER. 1877. I. R. Heft VII, Über d. Mihän^ii'ßeit d. Farhenempf. t. d. Lickt.itärke. p. 41. §121. QUALITÄTEN DER LICHTEMPFINDUNG. 447 die tlie blaue Farbe erzeugeudeu Atberwellen auf, das Blau der au G grenzenden zwei Dritteile dieses Raums bezeicbuet Helmholtz als Indigoblau, das des ersten Dritteiis als Cyanblau; hinter G folgen bis nach H oder L das Violett und endlich die früher so- genannten unsichtbaren chemischen Strahlen, von denen gleich weiter die Rede seiu wird. Die Qualität der Euiplindung, der Farben- tou, welchen Atberwellen von bestimmter Länge hervorbringen, ändert sich in weitem Umfang mit der Lichtstärke, und zwar nähert sich der Eindruck jeder Spektralfarbe bei steigender Helligkeit durch bestimmte Übergangstöue mehr und mehr dem AVeifs. Die Sonne erscheint durch ein violettes Glas betrachtet so weil's, wie die von ihr beleuchteten AVolkeu bei direkter Betrachtung (Moser), durch ein rotes Glas betrachtet weifsgelb (Helmholtz). Am leichtesten erfolgt diese Veränderung des Farbentons nach Helmholtz im violetten, am schwersten im roten Teile des Spektrums; nach Chodins Beobachtungen wäre dagegen die Rangordnung der Farben so, dafs zuerst der Reihe nach Gelb und Grün, dann erst Rot, Orange, Blau und Violett den Eindruck von AVeifs hervor- rufen. Ahnliche AA^irkungen , insofern alle Farben in ge\A'isser Reihenfolge nacheinander vor ihrem gänzlichen A'^erschwinden den Eindruck von mehr weniger lichtstarkem Grau machen, erreicht man nach Chodix auch auf dem entgegengesetzten AVege durch die all- mählich wachsende A'^erdunkelung des Spektrums. AVas die Rangordnung betrifft, in welcher die einzelnen Farben den Charakter des Farbigen einbüfsen, so erlöschen dem nämlichen Beobachter zufolge zuerst die am meisten brechbaren blauen, nach ihnen die am wenigsten brechbaren Strahlen, dann Orange und Grün, und zuletzt die Strahlen, welche zu beiden Seiten der Linie D im Spektrum liegen und die Empfindung des reinsten Gelb hervorrufen. Sämtliche hier aufgeführte Versuchsergebnisse Chodins stimmen in allen wesentlichen Punkten mit den älteren Auberts überein, welcher auf ganz ähnliche AVeise mit Pigmentfarben experi- mentierte; und man darf daher den von Aubert ursprünglich nur für diese aufgestellten Sätzen jetzt wohl eine allgemeinere Fassung erteilen und sich dahin aussprechen, erstens dafs Pigment- sowohl als auch Spektralfarben bei sehr verminderter Beleuch- tungsintensität farblos erscheinen, aber sich noch durcli gröfsere oder geringere Helligkeit von ihrer Umgebung unterscheiden, zweitens dafs die von den weniger brech- baren Lichtstrahlen (gelben und roten) hervorgerufenen Farbenempfindungen bei geringerer Beleuchtungsinten- sität zu bewufster Wahrnehmung gelangen als die von den brechbareren (blauen) bedingten.^ Aulserdem ist aber noch ' Vgl. Aubert, Phuslol. d. Netzhaut atc. ji. 12l) u. 127. — V=rl. ferner V. IvKIKS, Arch. f. Phifiiol. 1882. Supplbd. p. 82. . 448 QUALITÄTEN DER LH HTEMrFINDL'NG. §1-1- hervorzuheben, dafs sämtliche Farben, wenn sie durch Abschwächung der Beleuchtungsintensität die äulserste Grenze der Erkennbarkeit erreicht haben, nur im Moment des ersten Anschauens deutlich farbig erscheinen, nach wenige Sekunden dauerndem Fixieren da- gegen keinen Farbeneindruck mehr erzeugen, obwohl weder die A'on ihnen eingenommene Stelle des Gesichtsfeldes eine totale Ver- dunkelung zeigt, noch etwa ein Objekt, welches die Farbenstrahlen entsendet, unsichtbar Avird (AuBERT, Chodin), und endlich, dafs der ursprünglich empfundene Farbenton durchaus nicht dem zuletzt überhaupt bei schwächeren Beleuchtuugsgraden empfundeneu zu entsprechen braucht. So verwandelt sich nach AuBERTs Beobachtungen an Pigmenten Zinnoberrot in dunkles Braun. Orange wird sehr dunkel und rein rot. Gelb wird rötlich- gelb und ist bei gewissen Beleuchtungsgraden von Rosa nicht zu unterscheiden, und Chodin macht fast genau die gleichen Angaben in betreff der entsprechenden Spektralfarbeu. AuBERTs sowohl als ancli Chodixs Angaben über das frühere Erlöschen ilcr am stärksten brechbaren Farben strahlen bei allmählich gesteigerter Abnahme der Beleuchtungsintensität stehen in Widerspruch mit den von Pürrinjk, Grailich, Dove, Helmholtz, Dobrowolsky^ gemachten, welche im Gegenteil gerade den weniger brechbaren Strahlen die Eigenschaft zuschreiben, durch Verringerung der Beleuchtungsintensität in besonders hohem Grade geschädigt zu werden. Purkinje und Gratlich stützen ihre Aussage auf die Beobachtung, dafs in der Morgen- oder Abenddämmerung die blauen Tinten auf Gemälden viel später als die roten unkenntlich werden, und Helmholtz sowie Dobrowolsky finden das Gleiche für Spektralfarben, wenn man sie einer allmählich steigenden Verdunkelung unterwirft. Um den bestehenden Zwiespalt der Ansichten zu schlichten, weisen Aitbert und auch Chodin auf die Möglichkeit hin, dafs es sich bei den ihnen widersprechenden Beobachtungen nicht eigentlich um Farbenempfindungen, sondern um Helligkeitsempfindungen gehandelt habe. Da nämlich nach Aubeht Blau auf schwarzem Grunde bei sehr verminderter Be- leuchtungsintensität noch hell hervortritt, während ein rotes Quadrat auf gleichem Grunde schon längst unsichtbar geworden ist, so wäre es wohl möglich, ohne gerade die Empfindung von Blau zu haben, letzteres dennoch dui'ch die ihm eigentümliche Helligkeitsdifferenz von dem Bot zu unterscheiden. Die Stellen der Retina, weiche bei vorausgesetztem ungehin- derten Durchgang der Lichtstrahlen durch die Augenmedien von den am stärksten gebrochenen kürzesten Wellen und von den am wenigsten gebrochenen längsten Wellen erreicht werden, welche also auch auf der Netzhaut die beiden äufsersten Grenzen des von AV eilen überhaupt getroffenen Raums bilden, werden unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht, oder wenigstens nicht in wahrnehmbarem Grade erregt; wir sehen dabei' die von diesen Wellen überfluteten Schirmteile nicht und können nur auf andern Wegen nachweisen, dafs diese Wellen ' PURKINJE, Beiträqe.. 1S25. Bd. II. \^. 109. — GR.\ILICII, Wiener Stzher. Matli.-natw. Cl. 1854. Bd. XIII. p. 201 (249). — DoVE, POGGENDORFFa Annal. 1852. Bd. LXXXV. p. 397. — Helmholtz, Plmsiol. Optik, p. 317. — Dobrowolsky, Pfluegers Arch. 1881. Bd. XXIV. p. 189. §121. QUALITÄTEN DEE LICHTEMPFINDUNG. 449 von extremer Länge und Kürze, von gröfster und geringster Brech- barkeit zu beiden Seiten des siebtbaren Spektrums objektiv vor- banden sind. Die Gegenwart der längsten Wellen, der Wärme- strablen , diesseits des roten Teils des Spektrums , können wir mit dem Thermometer oder mit thermo-elektriscben Vorrichtungen dar- thun, die Gegenwart der kürzesten Wellen, der chemischen Strahlen jenseits des Violetten, durch ihre aus der Physik bekannte eigen- tümliche Wirkung auf Silbersalze oder Guajaktinktur, am augen- scheinlichsten durch ihre AVirkuug auf Lösungen von schwefel- saurem Chinin (Fluoreszenz), wie wir gleich sehen werden; es können die Strahlen der letzteren Art aber auch direkt sichtbar, d. h. erregend für die Netzhaut, gemacht werden. Es fragt sich, warum die chemischen und die sogenannten dunklen Wärmestrahlen unsichtbar sind, ob sie die ge- troffenen Nervenenden nicht zu erregen vermögen, keine Reize für dieselben bilden. Man hat eine Zeitlang mit E. Bruecke^ den Grund ihrer Unsichtbarkeit darin gesucht, dafs sie die Netzhaut überhaupt nicht erreichten, sondern auf ihrem Wege dahin von den brechenden Medien des Auges absorbiert würden. Diese Erklärung wird gegenwärtig jedoch verlassen werden müssen. Denn nicht nvir ist der Beweis erbracht worden, dafs sowohl die langwelligen thermischen"- als auch die kurzwelligen chemischen^ Strahlen der beiden entgegengesetzten Spektrumenden mindestens keiner vollkommenen Absorption durch die Augenmedien unterliegen, sondern es ist bezüglich der letzteren Strahlenart sogar zu zeigen gelungen'*, dafs dieselbe unter günstigen Bedingungen durch Ab- biendung der übrigen glänzenden Teile des Spektrums direkt wahr- nehmbar gemacht Averden kann, folglich also auch ganz zweifellos die Bedeutung eines Reizmittels für die Netzhaut, obschon immerhin nur eines schwachen, besitzt. Es ist demnach die früher übliche Charakterisierung der chemischen Strahlen als un- sichtbare zu vermeiden und mit der von Helmiioltz eingeführten als ultraviolette zu vertauschen. Der ungemein grofse Abfall, welchen die Intensität der Farbeuempfindungen in der von den brechbarsten Strahlen gebildeten Spektralregion erleidet, ist keines- wegs unvermittelt. Auch die violetten und blauen Abteilungen werden allgemein von Newton'', dem Entdecker der prismatischen Farben, bis auf die neuste Zeit in bezug hierauf namentlich den gelben in der Umgebung der Linie D gelegenen nachgestellt. Durch welche Ursachen dieser Unterschied der Farbenintensität bedinsrt 1 K. BbIECKE, Arch. f. Aiutt. ,i . Phmlol. 1845. p. 262, ii. 1846. p. 379. '■ä J. JANSSEN, Cpt. rend. 1S60. T. LI. p. 128 u. 373. — R. FRANZ, POGOENDOKFFs Annal. ISGi. Bd. CXV. p. 266. — KLUG, Arch. f. P/ii/slol. 1878. p. 286. * DOXDERS, Nederl. Lancet. 1853, u. Onderz. ged in het p/ii/s. Labor, d. Utrecht hoogesch. Jaar VI. p. 1. Deutsch in Arch. f. Anat. u. Physial. 1853. p. 4.^9. * HELMHOLTZ, POGGENUORFFs Annul. 1855. Bd. XCIV. p. 1. ^ Xewton, Optiks. Book I. Prop. VII. Theor. VI. Ausgabe v. 1717. p. 85. Gra:ENHAGEN, Physiologie. 7. Aufi. n. 29 450 QUALITÄTEN DER LICIITEMPFINDUNO. §1^1- wird, ist uugewil's. Möglich clafs derselbe objektiv auf Diiferenzeii der Reizgröfsen beruht, mciglicb aber auch, dafs er subjektiv iu einer verschieden grolsen .Erregbarkeit der Netzhaut durch Strahlen verschiedener Wellenlänge begründet ist. Ob diese oder jene Deutung die richtige ist, kann sich erst dann entscheiden lassen, wenn wir in den Besitz einer Methode gelangt sein werden, welche ohne Vermittelung uusers Sehorgaus eine objektive Messung der von ver- schiedenfarbigen aber gleichgrofsen Abschnitten des Spektrums aus- gehenden Kraftwirkungeu gestattet. Eine solche Methode kennen wir indessen noch nicht. Einen kleinen Anteil an der schwächeren Wirkung der am wenigsten brechbaren roten und der am stärksten brechbaren blauen Spektralfarben trägt sicherlich auch die durch M. ScHULTZE festgestellte Absorption beider Lichtqualitäten durch das gelbe Pigment der macula lutea} Genauere Mafswei-te der subjektiv empfundenen Intensitätsuntersebiede, welche die verschiedenen Farbentöne des Sonnenspektrums besitzen, haben Fraunhofer und Vierordt- jeder nach einer andren Methode gewonnen. Der erstere verglich die Helligkeit der einzelnen Spektralabschnitte mit dei'jenigen eines gespiegelten Flammenbildes von abstufbarer Intensität, der letztere prüfte, wieviel weifses Licht den einzelnen Farbentönen des Spektrums zugemischt werden kann, bevor sie eine dem Auge merkliche Umstimmung er- leiden, wobei vorausgesetzt wurde, dafs die den intensivsten Eindruck hervor- rufenden Farben den gröfsten Betrag an zugemischtem Weifs verti-ageu müfsten. Beide Beobachter haben ungeachtet der abweichenden Versuchs- methode im wesentlichen gleiche Kesultate erlangt. Beide erteilen in der von ihnen aufgestellten Rangordnung dem Gelb die höchste Stelle, weiterhin folgen der Reihe nach Gelb (zwischen Linie D—E), Rötlichgelb {D), Grün (E), Blau- grün (F), Orange (C), Rot (B), Blau ((?), Violett (S). W^as die Wärmestrahlen jenseits der roten betrifft, so dürfte das Unvermögen derselben, die Retina überhaupt zu erregen, die alleinige Ursache ihrer Unsichtbarkeit sein. Denn einerseits steht fest, dafs sie in merklichen Anteilen dui'ch die Augenmedien zur Netzhaut gelangen, anderseits glückte es Helmholtz zwar mit Hilfe der vorhin erwähnten Abblendungsmethode dem roten Ende des Spektrums einen kleinen Zuwachs über die FRAUNHOFERsche Linie A hinaus zu erteilen, immerhin jedoch nur einen sehr ge- ringfügigen, welcher in keinem Verhältnisse zur Breite des Wärme- spektrums stand. Die eben berührte Frage nach dem Grunde der Unsichtbarkeit gewisser im vorstehenden näher bezeichneten Spektralabschnitte wurde, wie schon an- gegeben, zuert von Bruecke in Angriff genommen. Was zunächst die brech- barsten chemischen Strahlen anlangt, so benutzte Bruecke zum Nachweis dei'- ' Vgl. M. SCHULTZE, Über den rfelben Fleck der Retina, seinen Einflyfs auf normales Sehen vnd auf Fubenblindheif. Bonn 1866. — PrEYER, PfLUEGERs Arcit. 1868. Bd. I. p. 299. — J. J. MüELLER, Arch. f. Ophthalm. 1869. Bd. XV. 2. Abth. p. 208. — v. FREY u. v. Kries, Arch. f. Physiol. 1881. p. 336 (350). -' Fraunhofer, Denkschriften d. Bayr. Akad. München 1815. p. 193, u. VIERORDT, xinwcn- dung d. Spectralappurats zier Messung u. Vergleich, der Stärke des farbigen Lichtes. Tübingen 1873. §121. QUALITÄTEN DER LICHTEMPFINDUNG. 451 selben das Gitajakharz, eine Substanz, welche die Eigenschaft hat, durch stark- brechbare Strahlen gebläut, durch schwachbrechbare entbläut zu werden, wenn auch die bläuende AVirkung nicht blofs den unsichtbaren chemischen Strahlen, sondern zum Teil auch noch den nächststark brechbaren violetten Strahlen zu- kommt. Er fand in einer grofsen Anzahl mannigfach modifizierter Versuche, dafs diffuses Licht, nachdem es durch die Substanz der Linse, der Cornea, oder des Glaskörpers, oder durch alle diese Medien zugleich getreten ist, eine auf Porzellan eingetrocknete Schicht von Gnajaktinktur nur in sehr geringem Grade bläut, die durch unmittelbare Einwirkung des Lichts gebläute Tinktur aber in hohem Grade wieder entbläut; er fand fernei', dafs die chemischen Strahlen nach ihrem Durchgang durch die Augenmedien keine chemische Wirkung auf die Silbersalze des empfindlichen photographischen Papiers ausüben, und schlofs hieraus, dafs die optischen Medien des Auges in hohem Grade die bläuenden Strahlen absorbieren. Was zweitens die jenseits des Rot liegenden unsicht- baren Strahlen von gröfster Wellenlänge betrifft, so wies Buckcke durch Ver- suche nach, dafs diese Strahlen keine Wirkung auf die Therniosäule ausüben, wenn zwischen letzterer und dem Ausgangspunkt der Sti'ahlcn die optischen Medien des Auges eingeschaltet werden, dafs selbst die leuchtenden Wärme- strahlen, wenn sie durch die Substanz der Augenmedien gegangen sind, eine ungleich schwächere Ablenkung der mit der Säule verbundenen Magnetnadel hervorbringen als bei unmittelbarer Einwirkung auf die Säule. Biu'kcke be- hauptet daher, dafs die optischen Medien des Auges für alle Strahlen von der verschiedensten Wellenlänge ein hohes Absorptionsvermögen besitzen, dafs aber nur die Absorption der am stärksten brechbaren und der am schwächsten brech- baren Strahlen eine ganz vollständige und dadurch deren Unsichtbarkeit bedingt sei, während von allen übrigen Strahlen von mittlerer Wellenlänge immer noch ein gewisses Quantum nicht resorbiert zur Retina gelange, welches trotz seiner gei'ingen Intensität den empfindlichen Sehnerv doch intensiv zu erregen, somit intensive Farbenempfindungen zu erzeugen vermöge. Diese Erklärung Bkukckks ist zunächst für die am stärksten brechbaren jenseits des A'iolett liegenden Strahlen von Dondet?s als unrichtig erwiesen, die Möglichkeit des Vor- dringens dieser Strahlen bis zur Netzhaut unzweifelhaft dargethan worden. Der Beweis von Donders stützt sich auf die wichtigen Ent- deckungen von Stokes^ in betreff der inneren Dispersion, deren Wesen wir daher kurz berühren müssen. Johx Hekschei." hatte zuerst unter dem Namen der ,, epipoli sehen Dispersion" das merkwürdige Phänomen be- schrieben, dafs eine Lösung von schwefelsaurem Chinin, welche in durchgehendem Licht klar und farblos erscheint, in auffallendem Licht eine schön himmelblaue Farbe zeigt, welche von einer dünnen blauen Schicht an der Oberfläche der Flüssigkeit, durch welche das Licht eintritt, herrührt. Die nähere Untersuchung dieses Phänomens brachte Stokes zu der Entdeckung, dafs die Ursache des- selben in der Fähigkeit der Chininlösung und einer Anzahl andrer Substanzen, die Brechbar keit des Lichts zu ändern, und zwar die der am stärk- sten brechbaren, jenseits des äufsersten Violett liegenden „unsichtbaren" Strahlen zu vermindern, d. h. in die den blauen Strahlen eigentümliche umzuändern, zu suchen sei. Treffen solche Strahlen auf die schwefelsaure Chininlösung, so werden durch dieselbe andre Strahlen von solcher Brechbarkeit gebildet, welche die Netzhaut leicht zu erregen, also zu leuchten befähigt sind ; es ist strenggenommen keine unmittelbare Veränderung der Brechbarkeit der einfallenden unsichtbaren Strahlen, sondern vielmehr eine Hervorrufung von minder stark brechbaren Strahlen in dem schwefelsauren Chinin, welches dem- nach zum Selbstleuchter wird, d.i. fluoresziert. Es erklärt sich hieraus auch. ' STOKKS, PJiiloxojiJi. Trarisacf. 1852. P. II. p. -163; POGGENDOUFFs Annal. 185:?. Supplement-Bd. IV. p. 177, u. 18.5:?. Bd. LXXXIX. p. 627: vfrl. .auch MOSER, ebenda p. 165. - 3. HERSCHEL, PhihißOph. Transact. 1815. P. 1. p. 147. — BkeWSTER, Trunsact. of the Royal Soc. of EdinluTQh. 1S46. T. XVI. p. 111. •29* 452 QUALITÄTEN DEU LK'HTEMPFINDIJNG. §121. dafs nur die Oberfläche der Lösung blau erscheint, und dafs Strahlen, welche »'inmal durch eine Chininlösung gegangen sind, beim Auf'treffen auf eine zweite das IMiünonien niclil mehr erzeugen, da schon in einei" geringen Entfernung vun der Oberfläche der eisten alle stark brechbaren Stralden in minder brech- bare umgesetzt sind, so dafs in den tieferen Flüssigkeitsschichten keine weitere innere Dispersion mehr stattflnden kann. Diese Veränderung der „unsichtbaren" Strahlen durch schwefelsaures Chinin gibt ein Mittel an die Hand sie in dem Spektrum leicht sichtbar zu machen. Fängt man das von einem Prismü zerstreute Sonnenlicht mit einem Schirm auf, welcher mit einer gesättigten Lösung von schwefelsaurem Chinin bestrichen ist, so bildet nicht inidir das Violett die äufserste (irenze, sonders jenseits desselben gewahrt man noch ein beti'ächtliches blau leuchtendes Feld. Bringt man indessen zwischen der Licht- (juelle und dem Prisma, oder auch vor dem auft'angenden Schirm einen mit Chininlösung gefüllten Glastrog an, so erscheint das Spektrum auf dem Chinin- papier nicht anders als auf dem gewöhnlichen Schirm, weil bereits vor dem Eintritt in das Prisma oder nach dem Austritt die chemischen Strahlen durch die Chininlösung eliminiert sind. Moser bezeichnet die Farbe des jenseits // liegenden Teils des Chininspektrunis als „milchweifs." Es ist leicht einzusehen, wie diese Thatsachen zur Entscheidung der Frage, ob die chemischen Strahlen bis zur Retina dringen, benutzt werden können; liefs sich beweisen, dafs die- selben auch nach ihrem Durchgang durch die optischen Medien des Auges durch schwefelsaures Chinin noch leuchtend werden, so war ohne weiteres klar, dafs sie auch im lebenden Auge die Netzhaut erreichen können. Ist dies nicht der Fall, so kann der Grund in der von Bkueckk angenommenen vollständigen Absorption liegen, und diese kann wiederum durch das Einti'eten der epipoli- schen Dispersion in einem der vor den Empfindungsorganen liegenden Medien begründet sein. Doxders hat nun durch die sorgfältigsten Versuche erwiesen, dafs die fraglichen Strahlen in gleicher Weise wie die farbigen durch Horn- haut, hiDHor aqueus, Linse und Glaskörper hindurchdringen. Mochte er diese Substanzen, die flüssigen in Glaströge gefüllt, in Schichten von geringer oder grofser Mächtigkeit vor das zerlegende Prisma oder vor den auflängenden Schirm bringen, es entstand trotzdem das blauleuchtende Feld jenseits des Violett auf dem mit Chininlösung l^estrichenen Schirm, oder die blaue Ober- fläche auf einer zwischen Glas eingeschlossenen Schicht dieser Flüssigkeit. Die Lichtstärke war vermindert, ob, wie Donder-s meint, nur durch Reflexion von der Oberfläche und durch die unvollkommene Durchsichtigkeit der Augenmedien, ol) in gleichem Grade für die physiologischen, wie für die fraglichen chemischen Strahlen, mufs bezweifelt w^erden ; denn erstens setzen Brueckes Versuche eine Absorption aufser Zweifel, zweitens werden wir alsbald sehen, dafs Hornhaut und Linse selbst fluoreszieren, also schon dadurch einen Teil der die Fluores- zenz bedingenden brechbarsten Strahlen absorbieren. Da wir im vorigen Para- graphen den Beweis geliefert haben, dafs die hinterste Lage der Retina die Perceptionsapparate enthält, so war noch denkbar, dafs vielleicht die vorderen Retinaschichten durch Absorption die Unsichtbarkeit der chemischen Strahlen bedingten; allein auch diese Möglichkeit hat Doxders durch direkte Versuche widerlegt, die chemischen Strahlen dringen durch die ganze Dicke der Netz- haut hindurch. Es blieb mithin Doxijeus nichts Andres übrig, als in der Netz- haut selbst, in den Eigenschaften der Aufnahmeapparate derselben die Ursachen der Unsichtbai-keit der brechbarsten Strahlen zu suchen, den Schlufszu ziehen, dafs der Sehnerv nicht erregbar ist, wenn die Wellenlänge der Atherundu- lationen zu klein, die Sch\vingung.sgeschwindigkeit zu grofs wird. So stand die Frage, bis Helmuoltz' nachwies, dafs die sogenannten „unsichtbaren Strahlen'^ jenseits des Violett sichtbar sind, d. h. dafs sie ohne Vermittelung fluores- zierender Flüssigkeiten, also ohne Veränderung ihrer Brechbarkeit sichtbar zu ' HeLMHOLTZ, PO(;genui)U1"1'"s Annal. 185Ö. Bd. LCIV. p. 2U.'). ^i-2\. QUALITÄTEN DElf LK'HTEMPFINDUNCt. 453 machen sind, wenn sie auch Aei-hältnismäfsig sehr schwach erregend auf den Sehnerv wirken, dafs folglich der Grund ihrer IJnsichtbarkeit unter gewöhnlichen Verhältnissen nur in ihrer Lichtschwäche liegt. Wie bedeutend diese Licht- schwäche ist, geht aus der Angabe von Helmholtz hervor, dafs das unver- änderte ultraviolette Licht etwa 1200 mal weniger hell ist, als das durch Fluoreszenz veränderte. Es ist daher durchaus ei-forderlich, alle helleren Teile des Spektrums voni Auge vollständig abzublenden, wenn dasselbe die schwache En-egung der vom ultravioletten Licht getroftenen Netzhautteile wahrnehmen soll. Ist diese Abbiendung genügend geschehen, so erhält nach Helmhoi-tz das brechbarste Ende des Sonnenspektrums für die unmittelbare Wahrnehmung o:enau denselben Zuwachs, wie bei seiner Auffangung von Chininpapier nach ÖTOKES, was sich aus der Gegenwart der von Stokes beschriebenen und ])e- zeichneten Liniengruppen ergibt. Es sind demnach alle brechbarsten Strahlen des Sonnenlichts sichtbar. Helmholtz hat für dieselben, soweit sie jenseits der Linie L liegen, den Namen -ultraviolette eingeführt, ihre Farbe schwankt je nach der Lichtstärke zwischen indigblau und wei fsblau. Unter seiner Leitung hat sodann Esselb.vcii^ sorgfältige Messungen der Wellenlängen im ultravioletten Teile des Spektrums angestellt und gefunden, dafs der nach Hei.mholtz' Methode sichtbar gemachte Farbenabschnitt das Spektrum beinahe auf das doppelte seiner früher bekannten Ausdehnung verlängert und eine ülenge FRArxHOFEKScher Linien zeigt, von denen Stokes bereits L — P unterschieden hatte, Es.«;ei.bach noch drei neue (Gruppen bezeichnet, deren letzte »V jedoch nur selten sichtbar ist und das Spektrum definitiv abzuschneiden scheint. Die Wellenlänge, welche nach Hel.nuioltz' Messung im äufsersten Eot bei der Linie A O,0(Kl7(ii7 mm beträgt, nimmt nach Esselbach zwischen X — A' von 0,0003791 bis auf 0,0003091 mm ab. Es gibt, wie Stokes erwiesen hat, noch brechbarere Strahlen, als das Sonnenlicht enthält, im elektrischen Kohlenlicht; ob das Auge auch diese unmittelbar sehen kann, ist noch nicht ermittelt. Die Lehre von der physiologischen Wirkung der ultravioletten Strahlen ist somit vollständig festgestellt. Ihre Unsichtbarkeit 7ieben dem hellen Teil des Spektrums beruht auf zwei Ursachen. Erstens ist die Lichtstärke derselben an und für sich gering, sodann findet eben auch eine nicht unljeträchtliche Absorption derselben durch die Angenmedien statt, und diese ist zum Teil durch Fluoreszenz der letztern bedingt, wie abermals zuerst von Hei.mholtz und unter seiner Leitung von Setschexow- dargethan worden ist. Hornhaut, Linse, Glaskörper und Netzhaut zeigen in der That Fluoreszenz, und zwar die Linse sogar eine sehr starke. Als Helmholtz die Möglichkeit der unmittelbaren Wahr- nehmung der ultravioletten Strahlen entdeckte, kam es darauf an zu erweisen, dafs diese Wahrnehmung nicht von Fluoreszenz herrühre; Helmhoi,tz fand, dafs die Netzhaut allerdings epipolische Dispersion zeigt, aber mit einem AveifsgTÜnlichen Licht fluoresziert, welches sehr verschieden von der Farbe des unmittelbar wahrgenommenen Ultraviolett ist. Setschexow wies die schwache Fluoreszenz der Hornhaut und des Glaskörpers und die starke Fluoreszenz der Linse nach, welche letztere derjenigen der (.'hininlösung sehr ähnlich, nur schwächer ist, und erkannte ferner, dafs diese Fluoreszenz der Hornhaut und Linse sehr schön auch am Auge des lebenden Menschen wahrnehmbar zti machen ist. Ewald und Kühxk ermittelten sodann, dafs die von Helmholtz entdeckte weifslichgrüne Fluoreszenz der Retina ausschliefslich in der Stäbchen- schicht ihren Sitz hat und zwar nur, solange dieselbe Sehpurpur führt. Un- abhängig von Setschexow hat J. Eegxaulu'* die Fluoreszenz der genannten Angenmedien konstatiert, und schliefslich haben W. v. Bezold und G. Exgel- ' ESSELn.VC'H, POGGESDORFFs Annal. IS.JG. Bd. LCVIII. p. 513. - SKTSeHENOW,^rcA. /'. Qphtitalm. 18.59. Bei. V. Abth.2. p. 205. — VfjL auch J. .T. MrET.I.ER, Arch. I. Opbtliulm. 1869. Bd. XV. Abtli. 2. p. 208. — A. EWALD u. W. KÜHNE, Unters, aux ,t. p/i'/xioi, Tnntit. tl. Umwrsit. Hehiefherq. 1878. Bd. I. p. 109. •'• J. REGXAfLD, (iaz.med. de Paris. 1859. p. 37: Jonrn. de la PInisM. 1839. T. II. p. 34:",. 4r)4 QUALITÄTEN DE] { LICHTEMPFINDUNG. §1-1- haiuit' auch für die lebende menschliche Netzhaut durch ophthalmoskopische l^ntersuchung im violetten Lichte angegeben, dafs dieselbe das A^erniiigen der Fluoreszenz besitze. Es liegt auf der Hand, dafs die Fluoreszenz der Hornhaut und Linse der Wahrnehmung der chemischen Strahlen hinderlich sein mufs, bei einer gewissen Stärke würde durch dieselbe den chemischen Strahlen der Weg zur Netzhaut gänzlich abgesperrt sein. Da nun aber Doxdkrs erwiesen, dafs der jenseits des Violetten liegende Teil des Si:»ektrums trotz des Durch- gangs der Strahlen durch die Augenmedien noch auf Chininlösung wirkt, da selbst Bkiiccke noch eine schwache Bläuung der Guajaktinktur durch die Augenmedien hindurch wahrgenommen hatte, so ist ohne weiteres klar, dafs die chemischen Strahlen durch die Fluoreszenz der vorderen Augenmedien nicht ganz von der Retina abgehalten werden. Ebensowenig beruht aber die Wahr- nehmung der ultravioletten Strahlen auf der Fluoreszenz der vorderen Augen- medien, d. h. es ist nicht etwa die fluoreszierende Hornhaut und Linse, welche wir sehen. Vorstellungen dieser Art werden einfach dadurch widerlegt, dafs unser Auge uns ein scharfes Bild von dem ultravioletten Teil eines Spektrums zu entwerfen vermag. Sehr wenig ist dem bereits Gesagten hinsichtlich der thermischen Strahlen hinzuzufügen. Die Angaben Brukckes, dafs die dunklen Wärmestrahlen von den durchsichtigen Augenmedien total absorbiert werden, also in keinem merklichen Betrage zur Retina gelangen, haben ebenfalls in den Untersuchungen späterer Beobachter keine Stütze gefunden. Anstatt der totalen Absorption, welche Bruecke behauptet hatte, unterliegt die fragliche Strahlen- art nur einer partiellen. Interessanterweise verschlucken die verschiedenen l)rechenden 3Iedien des Auges aber die dunklen Wärmestrahlen ungleich stark, und zv,'ar besitzen Linse und Hornhaut ein stärkeres Absorptionsvermögen für dieselben als der Glaskörper.'' Aufser von den Wellenläugeu imd der Intensität der Beleucli- tuug hängt die Keaktiou unsers Sehorgans gegen die einfachen Komponenten des gemischten Sonnenlichts aber noch von einer nicht unbeträchtlichen Anzahl andrer Bedingungen ab, zunächst von der Ausdehnung des Farbenbildes auf der Netzhaut, oder, was dasselbe sagen will, von dem Gresichtswinkel, unter welchem wir das farbige Objekt erblicken. '"^ Die verschiedenen Beobachter, welche sich mit der hier berührten Frage eingehender beschäftigt haben, weichen hinsichtlich der absoluten von ihnen erhaltenen Zahlenwerte vielfach ab, darin aber stimmen sie überein, dafs für die meisten Pigmentfarben eine gewisse, für jede übrigens verschiedene kleinste Bildgröfse auf der Netzhaut existiert, bei welcber sie farblos, nach Plateaus Ausdruck wie eine kleine kaum wahrnehmbare Wolke, erscheinen, und dafs sie, bevor dieser Moment eingetreten ist, ihren Farbenton verändern. Im allgemeinen zieht also die Verkleinerung des Gesichtswinkels ganz ähnliche Folgen nach sich, wie die Ver- minderung der Beleuchtungsintensität. Diese Abhängigkeit der Farbenempfindung von der Gröfse des Netzhaut- bildes, also von der Zahl der erregten Netzhautpunkte, deutet zweifellos auf 1 W. V. Bezold u. G. ENGELHAKDT, Stil/er. d. l-r/l. Bai/r. Akad. d. Wiss. 1877. p. 227. 2 KLUG, Arch f. Physiol. 1878. p. 246. 3 Plateau, POGGENDORFFs Annal. 1830. Bd. XX. p. 327. — VALENTIN, Lehrh. d. Phintiol. 1818. Bd. II. p. 154. — E. H. Weber, Arch. f. Anatom, u. Physiol. 1849. p. 279. — AUISEET, .46- handl. d. Schles. Gen. Breslau 1861. p. 73; MOLESCHOTTs Unters, zur Naturl. 1862. VIII. p. 27.'»; Phi/shl. d. Netzhaut. ISü.'j. p. 129; Handb. d. ^ rend. 1881. T. XCII. p. 92. 456 Q.rArJTÄTEN DEK LICHTEMPFIND(TN(I. §1-^1. Avnrden, und zeigt zugleich, dals die Abualime der Empfindlichkeit nicht in allen Ivtidien gleichmülsig vor sich geht, in welchem Falle die durch den Versuch festgestellten (Grenzlinien der einzelnen Zonen konzentrische Kreise bilden müfsten, sondern einen sehr unregel- raäfsigeu Gang befolgt, relativ am laugsamsten auf den inneren nasenwärts gelegenen Abteilungen der Retinaflächeu fortschreitet. AuBERTs Nachfolger^ auf diesem Gebiete bezeichnen in vollkommener Übereinstimmung mit ihm die blaue Farbe (auf schwarzem Grunde) als diejenige, für welche die Empfindlichkeit auf den peripheren Abschnitten der Retina die verhältnismäfsig geringste Einbufse er- leidet, in bezug auf die Rangfolge der übrigen Farben differieren sie mit ihm und unter sich erheblich. Höchst wahrscheinlich er- klärt sich dieser Mangel an Übereinstimmung aus individuellen An- lageverschiedenheiten des Sehorgans, jedenfalls liegt nicht der ge- ringste Grund vor, Fehler der Versuchstechuik zu vermuten. In AüBEiiTs Augen vertrug von gleich grofsen farbigen Quadraten auf schwarzem Grunde das grüne den geringsten Grad seitlicher Ver- schiebung, dann folgten der Reihe nach dns rote, gelbe und blaue. In den meisten Fällen verwandeln sich, gerade so wie bei ihrer Abschwächun;]: durch allmählich wachsende Verdunkelung, die ur- sprünglichen Farbentöne vor ihrem gänzlichen Erlöschen in andre. Da Nagel, Landolt und Donders- indessen behauptet haben, dals auch sehr entlegene periphere Regionen der Retina immerhin sämt- liche Farbenempfindungen zu erzeugen fähig sind, insofern die er- loschenen Farbeneindrücke überall wieder hervorgerufen werden können, wenn mau die objektive Reizgröfse genügend steigert, so darf mit Auj3ERT allgemein geschlossen werden, dals die im vorstehenden besprochenen Vei'hältnisse nicht etwa auf (qualitative Diffe- renzen zwischen peripheren und zentralen Retinapartien zu beziehen, sondern nur als Differenzen von graduellem Charakter anzusehen sind. Der Apparat, dessen mau sich seit ArBKiiT zur Bestimmung dieses physio- logisch und pathologisch gleich wichtigen Verhaltens der peripheren Netzhaut- regionen bedient, ist das sogenannte Perimeter.^ Dasselbe besteht aus einem mit Gradteilmig verseheneu metallenen Halbringe von sphärischer Krümmung, welcher im Punkte seiner grölsten Konvexität an einem vertikalen Stabe be- festigt ist, an letzterem auf und nieder geschoben und zugleich um seinen Fixationspunkt beliebig gedreht werden kann. Das eine Auge des Beobachters ' SCHKLSKE, Arch. f. Ophthuhn. 1.f. Äuom/ieilk., heransgreff. von A. GrAEFE u. Tu. SAEMISCH. Iveipxisr 1876. Bd. 11. p. 522. — MUSCHENBROEK, Inirodncfio ad jihUoxnphiam. 1768. T. II. § 1820. — MAXWELL, Trnnsact. of the Royal Sociefii of Edinhitrrih. 185-5. VoL XXI. p. 275. §121. KOMPLEMENTÄRFARBEN. 4(51 scliiedeuer Paare vou Spektralfarben. Zwei Farben, d. h. zwei Äther vv eilenarten von bestimmter AVellenläuge, welche in einem bestimmten Verhältnis gemischt die Empfindung Weifs hervor- bringen, nennt man komplementäre Farben. Während Helmholtz, wie vor ihm schon Lambert, ursprünglich nur ein solches Farben- paar im Spektrum gefunden hatte, Indigoblau und Gelb von be- stimmten Wellenlängen, haben seine fortgesetzten Untersuchungen ergeben, dafs zu jeder einfachen Farbe des Spektrums, aus- genommen das Grün, eine andre einfache Farbe des Spektrums als komplementäre gehört.^ Die Reize, welche die Empfindung des Weifs hervorrufen, sind demnach qualitativ ungemein verschieden, nichtsdestoweniger aber bleibt die Botschaft, welche unserm Bewufstsein zugeht, stets die gleiche. 3Iit Namen bezeichnet sind folgende Farbenpaare kom])lementär: Rot und Grünlich- Blau Orange ,, Cyanblau Gelb ,, Indigoblau Grünlich-Gelb ,, Violett, ein Resultat, welchem sich Auberts- mittels des Farbenkreisels er- langte Ergebnisse auf das engste anschliefsen. Warum es bei Versuchen mit Spektralfarben leichter gelingt durch Ver- mischung von spektralem Gelb und Indigblau als durch Vermischung der übrigen komplementären Farben die Empfindung des Weil's zu erlangen, hat Helmholtz namentlich aus folgenden Verhältnissen erklärt. Da, wie bei der Lehre von der Chromasie des Auges erörtert worden ist, die Vereinigungs- punkte verschiedener Farbenstrahlen im Auge nicht zusammen- sondern hinter- einanderfallen, ist es unmöglich, gleichzeitig z. B. für violette und grünlich- gelbe Stralilen, deren Brechbarkeitsdifferenz sehr erheblich ist, akkommodiert zu sein. Richtet man das Auge für die violetten Strahlen ein, so bilden die gelben Zerstreuungskreise, und umgekehrt. Um beide Farben völlig auf der Netzhaut zum Decken zu bringen, ist es aber nötig, einen mittleren Akkom- modationsgrad anzunehmen, bei welchem beide Farbenstrahlen gleich grofse Zerstreuuugskreise bilden. Dies gelingt aber nicht leicht und zwar um so schwerer, je weiter die Vereiniguugspuukte beider Farben, je entfernter also die Farben im Spektrum auseinanderliegen, am schwierigsten daher bei Violett und grünlichem Gelb, bei Rot und Grünlichblau, leichter bei Cyanfelau und Goldgelb, Indigblau und Gelb. Da zu jeder einzelnen Farbe, Gelb, Blau u. s. w., Atherwellen von sehr verschiedener Wellenlänge gehören, so ist es zur genauen Definition zweier komplementärer Farben unerläfslich, ihre Wellen- längen anzugeben. Helmholtz hat deshalb entsprechende Messungen ausgeführt; die folgende Tabelle enthält das Ergebnis seiner Unter- suchungen auf Hunderttausendteile eines mm reduziert. • Lambert, Photonietrid. ]"tj0. § 1190. p. 527. — Helmholtz, Arch. f. Anat. «. P/iys. 1852. p. 475, u. Phiislol. Optik, p. 279. - AriSEKT, Hanilh. d: pe.i. Augenlieilk., herausge^'. von A. Gr.VEB'E u. Tu. S.iKMISCE. Bd. II. p. 524, u. Physiol. d. Xelzhuut. Breslau 1865. p. 165. 462 MISCHFARBEN. S121. Verhältnis Komplementär- Farbe. Wellenlänge. Farbe. Wellenlänge. der Wellenlängen. Eot 6547 Grünblau 4908 1,334 Orange 6058 Blau 4884 1,240 Goldgell) 5837 ' Blau 4841 1,206 Goldgelb 5724 Blau 4808 1,190 Gelb 5656 Indigblau 4633 1,221 Gelb 5629 ludigblau 4606 1,222 Grüiigell) 5621 j Violett von 4320 ab 1,301 Aus der letzten Kolumne der Tabelle ergibt sicli, dafs kein konstantes Verlialtuis zwischen den Wellenlängen verschiedener Komplementärfarben existiert. Im oberen Teil der Tabelle sehen wir die Verhältniszahl allmählich abnehmen, im unteren wieder zu- nehmen. Das Grün hat keine einfache Koraplementärfarbe im Spektrum, sondern nur eine zusammengesetzte, den durch Ver- mischung von Violett und Rot entstehenden Pui-pur. Es ist hier wohl der geeignetste Ort, des Vergleichs zu gedenken, welchen Helmholtz ^ zwischen Licht- und Tonwellenlängen unter der Voi'aus- setzung angestellt hat, dafs das Licht der Linie A im spektralen Rot dem Ton G entspreche. Die den folgenden Stufen der Tonleiter entsprechenden Farben ergibt danii die beigefügte Tabelle, in welcher die Mafse der Wellen- länsren Hunderttausendteile eines mm bedeuten. Ton Fis . G . Ois . A . B H C . (.'is d . f fis g gis a b h Wellenlänge. C = 1 G =- Entsprechende Farbe. 7617 I 8124 Ende des Rot 7617 Rot A 7617 7312 Rot 6771 Rot B 6878 6347 Rotorange C 6564 6094 Orange 5713 Gelb D 5888 5217 Grün E 5260 5078 Grünblau 4761 Cyaublau F 4843 4570 Indigoblau 4285 Violett G 4291 4062 Violett 3808 Überviolett H 3929 3656 Überviolett 3385 Überviolett M 3657 3173 Überviolett 3047 Ende des Sonnenspektrums R 3091 Es würde hiernach das Sonnenspektrum in musikalischen Intervallen edrückt eine Oktave und eine Quarte umfassen. 1 G 74 ■V-25 V5 '79 '7l5 1 79 76 75 74 73 725 75 79 8/l5 FKAUXHOFERSche Linie mit ihrer Wellen- länge. • Helmholtz, Physini. Optik, p. §121. MISCHFARBEN. 46S LiSTiXG, welcher die Schwingungszalilen der Spektralfarben einer ähn- lichen Betrachtung unterwarf, wie Helmiioltz die Wellenlänge derselben, glaubte gefunden zu haben, dafs diejenigen der reinsten Farbentöne eine arithmetische Progression bildeten, in welcher die Differenz zweier be- nachbarten Glieder sich annähernd konstant auf 48 Billionen berechnen liefse, die Endglieder (Braun und Lavendel) nahezu im Verhältnis der Oktave zu- einander ständen. Pkkyeu und Chodin haben sich indessen nach sorgfältiger Prüfung der LisTixGschen Angaben gegen die Gültigkeit des von ihm aufge- stellten Gesetzes ausgesprochen.' Die Lichtmengen zweier einfacher Spektralfarben, welche bei ihrer Yermischung Weil's geben, erscheinen dem Auge nicht immer gleich grofs; es erscheint zwar das Cyaublau ungefähr gleich hell wie das komplementäre Orange, dagegen aber Violett, Indigoblau und Rot entschieden dunkler als die dazu gehörigen Mengen der in obiger Tabelle genannten Komplementärfarben. Daraus folgt, dal's die verschiedenen Farben eine verschieden färbende Kraft oder, wie Helmholtz sich ausdrückt, einen verschiedenen Sättigungsgrad be- sitzen und sich in dieser Beziehung zu folgender absteigenden Reihe ordnen: Violett Indigoblau Rot Cyanblau Orange Grün Gelb. Hklmholtz hat folgende Helligkeitsverhältnisse komplementärer Farben- mengen bei verschiedenen Graden der absoluten Lichtstärke gefunden: Bei starkem Licht : Bei schwachem Licht: Violett zu Grüngelb 1 : 10 1 : 5 Indigo zu Gelb 1 : 4 1 : 3 Cyanblau zu Orange 1 : 1 1 : 1 Grünblau zu Rot 1 : 0,44 Für die Qualität der Empfindungen, welche bei gleichzeitiger Einwirkung andrer nicht komplementärer Paare einfacher Spektral- farben auf die Netzhaut entstehen, hat Helmholtz folgende allge- meine Regel aufgestellt. Die Mischung zweier solcher Farben, deren Abstand im Spektrum geringer ist als der der Komplementär- farben, gibt eine der zwischen ihnen liegenden Farben, welche um so mehi' ins Weifs zieht, je gröfser der Abstand der beiden Farben, und um so gesättigter ist, je geringer derselbe. Die Mischung zweier Farben, deren Abstand gröfser als der von Komplementär- farben ist, gibt entweder Purpur oder eine Farbe, die zwischen einer der gemischten und dem entsprechenden Ende des Spektrums liegt, die IVIischfarbe ist desto gesättigter, je gröfser, und desto • Listing, VerhamU. d. Vers. 'E3rPFIXl)UXGEN. 465 dargestellt werden kann als Funktion von drei Variablen: der Quantität gesättigten farbigen Lichts, der Quantität demselben zuo-emisebten weifsen Lichts und der Wellenläns-e des farbi2:en O OD Lichts. Die Empfindlichkeit der einzelnen Farben gegen Beimengung andrer ist verschieden grols. Die ersten Angaben hierüber rühren von Aubert ^ her, welcher durch Versuche mittels des Farbenkreisels, also an Pigmentfarben, konstatierte, dafs eine ultramarinblaue Kreisfläche ihren Farbenton schon merk- lich ändert, wenn man den ^/au» Teil derselben mit Orange überdeckt und beide nebeneinander liegende Farben durch schnelle Rotation zur Deckung auf der Retina bringt. Andre Pigmentfarben bedurften gröfserer Zusätze. So- dann haben Helmholtz und seine Schüler, Maxdelstamm und Dohrowolsky-, die Empfindlichkeit einfacher S2:)ektralfarben gegen Beimengung andersfarbigen homogenen Lichts gej^rüft und sich dabei des früher schon erwähnten Ophthal- mometers bedient, dessen Doppelplatten im vorliegenden Falle aber nicht auf ein zu messendes Objekt, sondern auf ein Farbenspektrum gerichtet wui-den. Da die Drehung der Ophthalmometerplatten bekanntlich die Entstehung zweier kongruenten Bilder von dem betrachteten Gegenstande, welche sich durch seit- liche Verschiebung aus dem ursjarünglich einfach gesehenen Objekte zu ent- wickeln scheinen, bewii'kt,. so kann durch den gleichen Handgriff jederzeit auch ein Doppelbild des Spektrums hergestellt werden, bei dessen allmählicher Aus- bildung zunächst aber die einzelnen Farben übereinander hinweg verschoben werden. Sondert man mittels eines im Okular des Ophthalmometers ange- brachten Spalts bestimmte Farbenabschnitte aus, so läfst sich deshalb aus dem Drehungswinkel derOphthalmometerplatten auch leicht angeben, wie grofs die Ver- schiebung für jeden solchen Abschnitt ausfallen mufs, um eine merkliche Farben- veränderung herljeizuführen, und aus dem Verhältnis der erhaltenen Zahlwerte ein Mafs für die Empfindlichkeitsdifterenz der einzelnen Spektralregionen gegen Beimengung andersfarbigen Lichts gewinnen. Was das Versuchsergebnis selbst anlangt, so fanden beide Beobachter die gröfste Empfindlichkeit für Unter- schiede im Farbentone im Gelb (Linie D), demnächst folgte Blaugrün (Linie F), sodann Blaugrün (zwischen Linie E und F). Eine bei weitem geringere Em- pfindlichkeit besitzen die indigblauen Farbentöne (Linie G), Grün und Violett, die geringste, Rot (Linie B). Vergleicht man diese Resultate Maxdelstamms und DoBROwoLSKTs mit denjenigen Vierordts, welcher monochromatische Lichtarten mit gemessenen Quantitäten gemischten weifsen Lichts mengte (s. o. p. 450), so stellt sich heraus, dafs das spektrale Gelb unter allen Spektral- farben die höchste Empfindlichkeit gegen Beimengung andersfarbigen homogenen, die geringste aber gegen Beimengungen weifsen Lichts besitzt. Während Vierordt aus seinen Beobachtungen folgert, dafs das spektrale Gelb die inten- sivste Farbe des Spektrums ist, mufs aus den Beobachtungen von Maxdelstamm und DoBROwoLSKY im Sinne von Helmholtz geschlossen werden, dafs dem spektralem Gelb die geringste färbende Energie, der geringste Sättigungsgrad inwohnt. Soll dieser Widerspruch gelöst werden, so müfste man annehmen können, dafs die Helligkeit einer Spektralregion, d. i. die intensive Empfindung, welche sie auslöst, von der Farbenempfindung, d. i. der qualitativen, welche ie gleichfalls bedingt, unabhängig ist. Die systematische Ordnung der Farben, welche sich auf dieses Gesetz begründen läfst, überweisen wir der Physik zur ' Aubert, Pluiüoi. j. Lonilon 1807. Vol. I. p. -439, Vol. H. p. 70. 617, 037. 2 IlKLWHOLTZ, {.'/). d. Theorie d. ziisnminenriesefzten Farben. Habilit.ationssclivift. Königs- berg 1852. * MAXWKLL, Pliüosftp!,. Trunsact. 1860. Vol. GL. p. 57. 30* 4GS THEOIUE DEIi FAKBENEMPFINDUNGEN. §1-?1. Rolle spielenden drei objektiven Gj'undfarl)en (in der ilegel rot, gelb und blau), welche in wechselnden Quantitäten gemischt die objektiven Farben zusammensetzen sollten. Jene Grundempfindungen entwickeln sich, wenn die entsprechende Nervenfaserart durch die adäquaten Atherwellen stark erregt wird, während die beiden andei'u Faserarten nur schwach darauf reagieren; die in den Grund- empfinduugen nicht vertretenen Farbenempfindungeu, einfaches Gelb, Blau und Weifs, entstehen durch eine mehr oder wenjger gleich starke Erregung zweier oder aller drei Faserarten. So erhalten wii" die Empfindung des Gelb , wenn das seinem physiologischen Effekt nach als gelb bezeichnete Licht gleichzeitig mäl'sig stark die rot- und grünempfindeuden, schwach dagegen die violettem])findenden Fasern erregt; die blaue Empfindung wird hervorgerufen, wenn blaues Licht mäfsig stark die grün- und violettempfindenden, schwach die rotem])lindenden erregt; die weifse Empfindung endlich, wenn alle drei Faserarten gleich stark ei'regt Averden, sei es also, dai's sie der gleichzeitigen Einwirkung in bestimmtem Verhältnis gemischter roter, grüner und violetter Strahlen unterliegen, oder dafs einfarbiges Licht von grofser Intensität, welches nicht nur die ihm speziell an- gepafsten, sondern auch die übrigen sonst nur in geringem Grade von ihm beeinflufsten Faserenden kräftig erregt, in das Auge dringt. Um zu erklären, dafs auch bei gewissen niederen Graden der Be- leuchtungsintensität schliefslich alle homogenen Farben den Eindruck von Weiis oder Grau machen, hätte man sich vorzustellen, dafs die Erregungsintensität in den qualitativ vei'schiedenen Eudapparaten mit dem Absinken der objektiven B,eizgröise ungleich rasch abfällt; notwendig mufs dann für jeden einzelnen abnehmenden Farben reiz ein Zeitmoment kommen, wo derselbe alle qualitativ verschiedenen Endapparate, wenn auch schwach, so doch sämtlich gleich intensiv in Thätigkeit versetzt. Ganz dieselbe Voraussetzung wird auch kaum zu entbehren sein, wenn man die Modifikationen der Farben- töne, M'elche vor dem endlichen Übergang in Grau oder licht- schwaches Weifs stattfinden, mit der YoüNGschen Hypothese in Einklang zu bringen gedenkt. Was die Änderungen betrifft, welche das Vermögen der Farbenuuterscheidung in den peripheren Regio- nen der Netzhaut erleidet (s. o. p. 455), so werden sie im allgemei- nen verständlich, wenn mau sich mit A. FiCK^ vorstellt, dafs aulser der allgemeinen Reizempfänglichkeit auch die Anpassungsdifferenz der percipierenden Netzhautapparate für die verschiedenen Faa'beu- strahlen des Spektrums in den Randpartien der Retina geringer ist als in der fovca codralis. Je gröfser diese Differenz ist, mit desto gröfserer Ausschlielslichkeit A^'erden durch bestimmte Strahlen auch nur bestimmte nervöse Elemente in Thätigkeit versetzt, und desto genauer gelingt unsrer Psyche die bewufste Sonderung der empfange- A. FICK, VerhandL d. phiisik. med. Ges. in. Wiirzljiirii. 1873. N. F. Bd. V. p. 158. ^121. THEOEIE DER FAEBENEMPFINDUNGEN. 469 uen Eiuclrücke, je kleiner, iu desto grüfserem Umfauge werden ver- seliiedene mit besonders gearteten Seelenorganen zusammenhängende Endapparate durcli gleiche Strahlenkategorien miterregt, und desto geringere Mannigfaltigkeit zeigen die psychischen Eindrücke. Sollte es wirklich, wie einige behaupten wollen \ Stellen au dem üufsersten Rande unsrer oS^etzhaut geben, wo sämtliche Farbenstrahlen selbst ]jei gröl'ster Intensität nur die Empfindung von farblosem Weil's hervorrufen, so würde man im Hinblick auf die YoUNGsche Hypo- these anzunehmen haben, dal's hier alle verschiedenen Endapparate von allen Strahlenarten des Spektrums gleichmäfsig aftiziert würden, ihre Anpassungsdiffereuz also gleich null wäre. Die YoUNGSche Hypothese noch weiter auszuspinnen und zur Erläuterung aller Einzelerfahrungen zu verwenden, dürfte kaum rätlich erscheinen. Denn wenn man im allgemeinen einzu- räumen haben wird, dafs für eine Theorie der Farben Wahrnehmung die Voraussetzung peripherer Perceptionsapparate, welche für Licht- Avellen verschiedener Länge abgestimmt sind, unentbehi'lich ist, so bleibt es vorderhand wenigstens ganz freigestellt und daher auch völlig streitig, welche Empfindungsqualität die den peripheren End- organen entsprechenden zentralen produzieren. Es ist möglich, dafs die ersteren, wie Young vermutete, den roten, grünen und violetten Lichtstrahlen von gröfstev, mittlerer und kleinster Wellenlänge an- gepal'st sind, welcher Art aber die den qualitativ verschiedenen ob- jektiven Reizen entsprechenden Clrundempfinduugen sind, wissen wir deshalb noch lange nicht. Speziell in bezug auf die Young- sche Hypothese könnte man sogar Bedenken hegen, der violetten Empfindung den Rang einer Grundempfinduug zuzugestehen. Denn unserni psychischen Urteil zufolge ist Violett eine aus Blau und Rot zusammengesetzte Empfindung. Sollen daher gerade nur drei Grundempfindungen statuiert werden, so würde es sich vom subjek- tiA'en Standpunkte aus eher rechtfertigen, Rot, Grün und Blau, nicht aber Rot, Grün imd Violett als solche zu bezeichnen. Kein trif- tiger Einwand läfst sich ferner dagegen geltend machen, wenn Mach und E. Heriis^g^ auf diesem Gebiet dem subjektiven Eindruck die ganze Herrschaft eingeräumt und nicht allein das Violett der YouNGschen Hypothese durch Blau ersetzt, sondern auch das Gelb als Grundempfindung anerkannt wissen wollen. Denn sicherlich erscheinen uns Rot, Gelb, Grün, Blau sämtlich als gleichwertige Empfindungen, während Violett, Orange, die grünlich gelben und grünlich blauen Töne des Spektrums ebenso gewil's den Eindruck gemischter Empfindungen in uns hervorrufen. Immer von demselben gleichen Grundsatze geleitet zögert Hering auch nicht, dem Weifs und Schwarz das gleiche Recht wie dem Rot, Gelb, Grün und • WOINOW, Arcli. f. OpIMuhn. 1S7Ü. Bd. XXI. Abth. 1. p. 223. ■^ E. Mach, Aren. f. Anat. v. Plnisiol. 1865. p. 029. — E. HERING, Wiener Sizher. 3. AI)tli. 1!>74. I?a. LXIX. p. 85, 179 Bd. LXX. p. 109. 470 THEORIE PER EAEBEXEMPFINDI'NGEN, §^-1- Blau, den Prinzipalfarben Auberts, zuzusprechen; indem er den subjektiven Eindruck als einzigen Schiedsrichter anerkennt, gilt ihm nichts, was der Empfindung nach einfach ist, als zusammengesetzt, und er erachtet es für felilerhaft, wenn man aus dem Ergebnis der ])hvsikalisclieu Eai-benmischung den Schlufs zieht, dal's unser Seelen- organ verschiedenartige Einzelempfindungen zu einer einheitlichen Mischem])finduug im Sinne der YouNGschen Hypothese verschmelzen könne. Hering unterscheidet demnach im ganzen sechs Grund- em])findungen, weils, schwarz, rot, grün, gelb, blau. Dafs bei gleichzeitiger Auslösung mehrerer derselben häufig nur eine einzige von ihnen wirklich zum Bewuistsein gelangt, erklärt er aber im Gegensatz zu Youn(!, Helmiioltz, Maxwell u. a. nicht aus einer dem Sehorgan innewohnenden Thätigkeit, gesonderte Eindrücke unter Umständen einheitlich aufzufassen, sondern daraus, dal's sich gewisse Paare von Grundempfindungen bei gleichzeitigem Bestehen gegenseitig vernichten. Diese Paare, die antagonistischen Far- ben Herings, schwarz -weils, grün -rot, gelb -blau, sind ihrem physischen Ursprung nach jedes an die Existenz einer besonderen materiellen Substanz gebunden, der schwarz-weifseu, grün- roten gelb-blauen Sehsinnsubstanz, von welchem die erste durch alle Strahlen des Spektrums in Thätigkeit versetzt wird und dabei stets nur die Empfindung von AVeifs produziert, die zweite in Aktion tritt, wenn Strahlen einerseits vom äufsersten Rot des Spek- trums bis zum reinen Gelb, anderseits vom grünlichen Gelb bis zum Blau und dann wieder vom Violett die Retina treffen, die dritte endlich ihrer Eigenart entsprechend reagiert, wenn die Strahlen des spektralen Rot bis zum Grün und vom ersten bläu- lichen Grün bis zum Ende des Spektrums die peripheren Endungen des Opticus aftizieren. Das aus allen Strahlenarten gemischte Sonnen- licht erscheint nach Herings Anschauung weils. weil die gleich- zeitig wachgei'ufenen Empfindungen des Gelb und Blau, des Grün und Rot sich gegenseitig auslöschen und nur die En-egung der schwarz-weifsen Substanz, also die Empfindung von Weifs, übrig bleibt. Ähnlich entsteht das Weifs, welches wir nach der physika- lischen Mischung von spektralem Blau und Gelb wahrnehmen, nicht aus einer psychischen Mischung der Empfindungen Gelb und Blau, sondern kommt dadurch zustande, dafs beide Farben aul'ser der gelb-blauen Sehsinnsubstanz auch die schwarz-weifse erregen, dort aber in ihren Wirkungen interferieren, hier sich gegenseitig steigern. Den Erregungsvorgang der schwarz-weifsen Sehsinnsubstanz, aus welcher die Empfindung von Weifs resultiert, denkt sich Hering als einen Zersetzungsprozefs, welcher von einem fortwährenden Resti- tutionsprozefs begleitet wird. Schliefst man den Lichtwellen den Zugang zum Auge ab, so wird damit auch der Zerstörung der hypothetischen Sinnessubstauz ein Ende gemacht, und es kann nun der Wiederersatz des Verbrauchten durch die Ernährung völlig un- i^ 121. 31ECHANISCHE Rp:iZÜNG DES OPTICUS. 471 Iteliindert von statten gehen. Beide Prozesse sind natürlicli als MolekularljeAA'e?uno:en auf/Aifassen und werden von HERiX(i als dis- sim i liereuder nnd assimilierender Prozefs einander gegen- übergestellt. Während der erstere aber in der schwarz-weifsen Seh- s;nnsubstanz die Empfindung Weifs auslöst, A-ei'ursacht der zweite diejenige von Schwarz. Für die beiden andern hypothetischen Seh- •sinnsubstauzen lälst Hering die Frage ofFeu, welche Farbe dem Dissimilations-, welche dem Assimilationsreiz entspricht. Aus dem Gesagten ergibt sich ohne weiteres, weshalb man die HERiNGsche Theorie der Farbenempfindungen kurzweg als Vierfarben- oder Gegenfarbentheorie zu bezeichnen pflegt. Für welche der einander gegenüber.stehenden Theorien haben wir uns aber zu entscheiden? Die Beantwortung dieser Frage dürfte bei dem gegenwärtigen Schwanken der Ansichten^ besser vertagt werden, zumal die eine der in Betracht kommenden Theorien, die HERiNG- sche, von ihrem Urheber in wesentlichen Punkten unentwickelt ge- la.sseu ist, und der Anschlufs an diese oder jene Partei darum nicht rätlich erscheint, weil der Boden, auf welchem sich der ganze Streit bewegt, noch all zu sehr im Bereich der Hypothese liegt. Es fehlt vor allem eine jede klare Bestimmung des Orts, an welchem sich Hering die hypothetische Sehsinusubstanz abgelagert denkt, ol) letztere in den peripheren oder in den zentralen Endoi-ganen des Opticus zu suchen ist, und wie sich Hering das Verhältnis der- selben zum Leitungsstrange des Sehnerven vorstellt, und selbst rein hypothetisch genommen scheint die Aufstellung einer ganz neuen Reizform, des Assimilationisreizes, für welchen die allgemeine Nerven- physiologie keinerlei thatsächliche Grundlage bietet, mit Bedenken verknüpft. Wir gehen zu den Empfindungen und Gesichtserscheinungen über, welche durch Einwirkung anderweitiger (nicht adäquater) Heize auf die Sehnervenfasern im Verlauf oder an ihren Netzhaut- enden entstehen. Der Sehnerv beantwortet vermöge seiner zentralen Endapparate nicht allein die Einwirkung der Lichtwellen, die ihn mittelbar nur unter Mitwirkung der peripherischen Endapparate er- regen, sondern auch alle oben als allgemeine unmittelbare Nerven- reize aufgeführten Einwirkungen, mögen sie ihn an seinen Retinaenden oder im Verlauf seiner Fasern treffen, mit Lichtempfindung und zwar bald mit der Qualität, die wir weifs nennen, bald mit irgend einer farbigen Empfindung, ohne dafs wir den Grund dieser Diffe- renzen des Effekts anzugeben imstande sind. Mechanische Reizung, Druck, Zerrung oder Durchschneidung des Opticusstammes, Druck, welcher auf die Fasern desselben inner- ' Von hieilicr gehörigen Scliriften kritisclien Inhalts führen wir an: DONDKRs Arch. f. Ophthalm. 1S81. Bd. XXVH. Abth. 1. p. 15.5. — HERING, Kritik einer Abhanill. von DONDERS : Über Farbensi/steiiiP. .Sonderabdruck au.s d. naturwiss. Jahrb. Lotos. 1882. Bd. II. — V. KRIKS, Arch. f. PhysioK 18S2. Suppleiiitbd. — Prkver, Pfluegers Arch. 1881. Bd. XXV. p. :;i. 472 MECHANISCHE IIEIZUNGr DES OPTICUS. §1-?J. halb der Netzhaut entweder durch äufsere Kompression des Au<^- apfels oder durch innere Ursachen, z. B. ÜberfüUuug der Blutge- gefälse der Netzhaut oder Chorioidea, hervorgebracht wird, führt in der Regel zu weifsen, seltener zu farbigen Lichterscheiuungen. In- tensität, Dauer, Foi'in der durch mechanische lieize her^'orgernfene^l Lichterscheinungen im Sehfelde sind nach der Beschaffenheit der Erreguugsursache verschieden. Die Durchschneiduug aller Sehnerven- fasern im Stamm soll eine äufserst intensive über das ganze Sehfeld verbreitete blitzartige Empfindung bedingen , ähnlich dem bekannten Liclitblitz, welchen ein heftiger Schlag gegen das Auge erzeugt, wobei ebenfalls die mechanische Erschütterung alle oder doch einen grofsen Teil der Opticusfasern erreicht, oder der blitzähnlichen Aufhellung des Sehfeldes bei plötzlichem Ein- und Auswärtsdrehen des Bulbus \ wobei leichte Zerrungen des Opticusstammes wohl unvermeidlich sind. Eine beschränkte und dauernde Lichterscheinung entsteht, wenn wir mit dem Finger seitlich auf den Augapfel drücken ; wir neh- men eine kreisförmige leuchtende Figur in dem dunklen Sehfeld wahr, welche scheinbar auf der dem drückenden Finger gerade gegen- überbefindlichen Seite des Auges liegt, und sich, wenn wir den Finger verschieben, in entgegengesetzter Richtung zu bewegen scheint. Die Erscheinung geht aus von der Stelle der Retina, auf welche der Druck des Fingers wirkt; worauf die Beurteilung der Lage imd Beweguugsrichtung beruht, werden wir unten erörtern, wo wir von der Objektivierung der Empfiii düngen und der Projektion der Ein- drücke in das von der Vorstellung objektivierte Sehfeld zu handeln haben. Ist das Auge geöffnet, während wir einen solchen partiellen Druck auf seitliche Teile desselben wirken lassen, so deckt sich die matte Lichtfigur mit denjenigen seitlich im Sehfeld gelegenen Aufsen- dingen, welche auf der gedrückten Netzhautpartie sich abbilden; es erscheinen dieselben dann in der Regel mehr oder Aveniger verzerrt, infolge der durch die Kompression bedingten Einbiegung der Netz- haut, und im Zentrum der Lichtfigur verdunkelt. Die Ursache davon, dafs die Druckfigur selbst im Zentrum dunkel erscheint und ebenso die damit sich deckenden Teile der Aulsendinge, liegt jeden- falls darin, dafs die am stärksten gedrückten zentralen Teile der komprimierten Netzhautpartie durch den zu starken Druck gelähmt oder leitungsunfähig werden. Übt man auf den ganzen Augapfel von vorn her einen mäfsigen Druck anhaltend aus, so erscheint bei den meisten Personen eine zuerst von Püiikixje'-^ genau studierte, eigentümlich gemUvSterte Lichtfigur von sehr wandelbarer Formation ; bei einigen kehrt dieselbe Figur in derselben regelmäfsigen Bildung wieder, bei andern zeigt sich ein sehr wechselndes Chaos von hellen wirren Lichtsti'ahlen und Lichtpunkten in einer Art strömender Be- i Purkinje, Beob. u. Vem. etc. — Frcus. Arch. f. Ophthalm. 1881. Bd. XXVH. Abtli. 33. — L. LANDOIS, Arch. f. Anat. u. Pbpsiol. 1864. p. 1586. - Purkinje, Beob. u. Vers. z. Phijsiol. d. Sinne. 2. Aufl. Prag 1823. Bil. I. p. IHG. ij 12]. ELEKTEISCHE EEIZUNG DES OPTICUS. 473 wegung, und bei etwas stärkerem Druck zahlreiche wie elektrische Funken aufblitzende violette Lichtpunkte. Vierordt und Laiblin^ geben au, dafs die bei ihnen auftretenden strömenden Figuren der Verästelung der Chorioidealgefäl'se entsprechen, und leiten die Er- scheinung von einer Kompression der Perceptionselemente der Netz- haut durch das in den überfüllten Aderhau tgefäfsen strömende Blut ab. Andre Beobachter indessen (Helmholtz, Funke) haben ähnliche Erscheinungen in ihren Augen nicht zustande bringen können. Da- gegen wird nicht zu bezweifeln sein, dafs das Blut überfüllter Netz- hautgefäfse eine mechanische Reizung und davon abhängige Licht- phänomene erzeugen kann. Die häufig bei kranken Augen zu beob- achtende Erscheinung des Funkenseheus, die Wahrnehmung rasch durcheinander sich bewegender Lichtpunkte wird von dem Druck hergeleitet, welchen bei überfüllten Gefäfsen und gesteigerter Em- pfindlichkeit der Retina die in den Kapillaren sich bewegenden Blut- körperchen auf die Perceptionselemente ausüben. Über die mecha- nische Reizwirkung, ^^■elche die Akkommodationsanstrengung des tcnsor ckoriokleac begleiten kann und in dem von Purkinje'' entdeckten Akkommodationsphosphen ihren optischen Ausdruck findet, haben wir bereits früher (p. 398) gesprochen. Der Erfolg der elektrischen Reizung des Sehnerven ist vielfach Gregenstand eingehender Forschungen gewesen.^ Wir haben bereits bei der Lehre von der elektrischen Reizung der Nerven überhaupt erwähnt (Bd. I. p. 596), dafs der Sehnerv, wie die übrigen sensiblen Nerven, nicht nur durch die plötzlichen Dichtigkeits- schwankungen des elektrischen Stromes, sondern auch w^ährend er von einem konstauten Strom durchflössen wird , in Erregung gerät, dafs also nicht nur Schliefsung und Öffnung des Stromes durch momentane Lichteraptiudungen beantwortet werden , sondern eine wenn auch schwächere Lichtempfindung auch während der Dauer des (nicht zu schwachen) Stromes anhält. Wir haben ferner bereits erwähnt (Bd. I. p. 597), dafs auch beim Sehnerven die Richtung, in welcher er vom Strome durchlaufen wird (auf- oder absteigend), auf die Qualität des Erregungseff"ekts von Einflufs ist. Eine mo- mentane blitzartige, das ganze Sehfeld überziehende Erscheinung be- gleitet Schliefsung und Öfluuug, überhaupt plötzliche SchA^raukungeu des Stromes (oder Entladungen Leydener Flaschen), eine farbige Figur erscheint, Mährend ein anhaltender Strom den Nerven durchfliefst, die Farbe derselben wechselt mit der Richtung des Stromes. Die An- gaben der verschiedenen Experimentatoren über die Form und Färbung 1 LAIBI.IX, D'ie Wuhrnehiauivi d. Clinrioidcalgef. d. i'i;icnen Annen. Disscrt. inaugur. Tübingen 1856. - Purkinje, Beitr. :. Kenntn. d. Sehens in -tuf'j. Uinxicht. Piagr 1819. p. 125. ' Ältere Litteratur s. bei E. Du BOIS-REVMOND, Unters, üb. Viier. Eteclricitül. I5(i. I. p. 284 u. .313. — V?I. ferner HELMHOLTZ, Physiol. Optik, p. 202. — BKUNNER, Ein Hritr. z. elektr. Reiz. d. n. opticus. Leipzig 1863. — Bkenxek, Unters, u. Beob. auf d. Gebiete d. Elel;frolher(qne. Leipzig 1868. p. 09. — M. RoSENTHAL, Al'il. Wien. vicd. 7A',i. 1872. No. 27, 28. 474 KLEKTIUSCHE KEIZUN(i DES OPTICUS. §121. (ier Erseheiuimg, die Art, wie besondere Netzliautstellen iu ilu- sich ausprägen, ihre Änderung mit der Richtung, Stärke und Dauer des Stromes, und die Veränderung objektiver Gesichtsersoheiuuugen wäh- rend der elektrischen Reizung lauten nicht völlig übereinstimmend. Zur Erzeugung der Schliel'sungs- und < )änungserscheinungen genügen schon aufserordentlich schwache Ströme, bei reizbaren Augen treten sie schon auf, wenn man das geschlossene, also verdunkelte Auge mit der befeuchteten Platte eines positiven Metalls, die Zunge aber mit einem negativen Metall berührt oder umgekehrt, und beide Me- talle durch einen Leiter verbindet; evidenter und brillanter werden sie, wenn man die Ströme kleiner galvanischer Säulen verwendet. Der Schliefsungsblitz ist lebhafter, wenn der Sehnerv in der Richtung von der Netzhaut zum Hirn, aufsteigend, durchflössen wird, der Ofthungsblitz bei absteigender Stromrichtung. Eine verschiedene Färbung dieser Blitze bei verschiedener Stromrichtung konnte Funke nicht wahrnehmen; nach Brunner ist der Blitz des aufsteigenden Stromes blaugrünlich, der des absteigenden gelbrot gefärbt. Zur Er- zeugung der dauernden Erscheinung während der konstauten Pola- risation des Sehnerven gehören etwas stärkere Ströme. Sind die- selben aufsteigend gerichtet, so hat die Lichterscheinung eine helle violette oder bläuliche Färbung, konstant erscheint bei ge- schlo.ssenem Auge diejenige Stelle des Sehfeldes, welche der Ein- trittsstelle des Sehnerven entspricht, dunkel. Nach Purkinje ist die Erhellung des übrigen Sehfeldes keine gleichförmige, sondern in der Gegend des direkten Sehens, also dem gelben Fleck der Netz- haut entsprechend, zeigt sich eine hellviolette rautenförmige Scheibe, um dieselbe herum, durch ein dunkles Intervall getrennt, ein vio- lettes Rautenband, und am Rande des Sehfeldes ein blasser gelb- licher Lichtschimmer. Andre Beobachter haben eine so regelmäßige Zeichnung nicht wahrnehmen können. Nach der (jffnung des auf- steigenden Stromes (und dem (jffnungsblitz) erscheint das Sehfeld verdunkelt, nur von einem schwachen rötlich gelben Schimmer über- zogen, der sich allmählich verliert. Wird der Opticus absteigend durchströmt, so ist die Färbung des Sehfeldes viel weniger intensiv, ja nach Helmholtz soll dasselbe sogar dunkler werden als vor der Schlielsung des Stromes. Die Färbung ist eine rötlich gelbe, nur der dem Opticuseintritt entsprechende Teil des Sehfeldes, welcher beim aufsteigenden Strom dunkel bleibt, erscheint beim absteigenden in heller violetter oder blauer Farbe. Purkinje sah auch hier den gelben Fleck gesondert hervortreten und zwar als rautenförmiges dunkles Feld mit intensiv gelbem Saum, in einiger Entfernung davon einen zweiten ebenfalls rautenförmigen gelben Lichtstreifen, und am Rande des Sehfeldes einen schwachen hellvioletten Schein. Nach der ()ffnung des Stromes lassen Ritter und Helmholtz das Sehfeld wieder heller werden, mit Ausnahme der Stelle des Sehnerveneintritts, und bläulichweifs beleuchtet § 121. ELEKTRISCHE REIZUNG DES OPTICUS. 475 ersclieineu. Hitter gibt au, dafs bei AnAveuckmg selir starker Ströme die Färbung des Phäuomeus sieb umkehre, die violette Färbung bei aufsteigender Rieht uug in grün und rot übergehe, die gelbliehe bei absteigender Richtung in blau. Andre Beobachter haben diese Umkehr nicht bestätigt; doch ist ein Vergleich der an- gewendeten Stromstärken nicht möglich, wahrscheinlich auch nicht die Reaktion jeder Netzhaut gegen einen bestimmten Grad der Stromstärke dieselbe; endlich sind überhaupt die Versuche mit starken Strömen wegen der lästigen durch die mitbetroffeuen Haut- und Muskelnerven hervorgerufenen Schmerzen und Muskelzuckungen sehr mifslich. Erzeugt man die Lichtfigur bei geöffnetem Auge und hellem äufseren Sehfeld, so sollen nach Ritter bei aufsteigendem Strome die äufseren Gesichtsobjekte undeutlicher und verkleinert, bei absteigendem Strome deutlicher und gröfser als unter gewöhnlichen Verhältnissen erscheinen. Die Verkleinerung der Objekte bei auf- steigender Stromrichtung haben Aveder Helmholtz noch Brunxer bestätigen können ; w^o sie eintritt, rührt sie nach Helmholtz wahr- scheinlich von einer durch den elektrischen Strom bewirkten Reizung des Akkommodationsapparats und der dadurch bedingten unbeachteten Einstellung des Auges für die Nähe her. Was die übrigen Angaben Ritters anbetrifft, so findet Helmholtz in Über- einstimmung mit ihm, dafs der absteigende Strom die Deiitlichkeit der Wahrnehmung von Gesichtsobjekten erhöht, der aufsteigende verringert, Aubert^ indessen das gerade Gegenteil, und Schliephake" endlich, dafs beide Stromrichtungen je nach den äufseren Beleuch- tungsverhältnissen des Gegenstandes und seiner Umgebung sowohl die eine als auch die andre Wirkung auszuüben vermögen. War die Farbe des Hintergrundes, auf welchem feine dunkle Gitter be- trachtet wurden, der von dem elektrischen Strome im subjektiven Gesichtsfelde hervorgerufenen komplementär, so traten die dunklen Objekte auf dem Aveifser erscheinenden Grunde deutlicher hervor; wurde dann aber durch die entgegengesetzte Applikation der Elektroden die Färbung des Grundes gesättigter gemacht, so verloren auch die auf dunkler Unterlage betrachteten dunklen Fäden an Deutlichkeit. Es würde demnach die ganze Erscheinung ihre befriedigende Er- klärung darin finden, dafs die Farbenempfinduugen, mit welchen unser Sehorgan die Zuleitung eines elektrischen Stromes beantwortet, sich jederzeit mit den von der hellen Umgebung des dunklen Gegen- standes ausgelösten kombinieren und, jenachdem die resultierende Empfindung den Kontrast zwischen Objekt und Umgebung steigert oder verringert, die Wahrnehmbarkeit des Objekts erhöhen oder herabsetzen. Den Ursprung der elektrischen Lichtempfindungen sucht Helmholtz in elektrotonischen Erregbarkeitsänderunc^en de-s ' Albert, Plnixiol. d. .XeUhaut. )). 346. - SCHLIEPHAKK, PFLUEGERs Arch. 1874. Bil. VUI. p. 565. 476 FARBENBLINDHEIT. § 1 22. Opticus. Bei aufsteigendem Strom soll der vom Hirnende des Seh- nerven eintretende Katelektrotonus die daselbst angebrachten Em- pfindungsapparate empfiudliclier für die Beizung der inneren Be- wegungsursaclien machen, welche nach Helmholtz die subjektive Erhellung des Sehfeldes bei geschlossenem Auge bedingen, bei ab- steigendem Strom soll der die gleichen Steilen einnehmende Anelek- trotonus die Verdunkelung hei'beiführen. In analoger Weise sollen die Umkehruugen der Helligkeitsverhältnisse auf die von Pfluegek festgestellten Modifikationen der Erregbarkeit zu beziehen sein. Gibt man die Entstehung des sogenannten Eigenlichts in der Netz- haut, auf welches wir zurückkommen, durch Reizung der zentralen Opticusenden zu, so gewinnt diese HELMHOLTZsche Erklärung einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. Über die Ursachen der Farbeu- veränderung mit der Stromrichtung, des entgegengesetzten Verhaltens der Sehnerveneintrittsstelle, insbesondere über das Leuchten derselben bei absteigendem Strom, läfst sich vorläufig nicht einmal eine plausible Hypothese aufstellen. Die Empfindungsreaktionen bei thermisch oder chemisch ge- reizten Sehnerven sind niemals Gegenstand direkter Beobachtung gewesen. Dafs sich die von oltjektivem Licht erzeugten Farbenempfindungen unter dem Einfluls konstanter Ströme, welche auf- oder absteigend durch das Auge geleitet werden, in dem von Schliephakk vorausgesetzten Sinne verändern können, hat Schelske^ und sodann auch Schliephake selbst durch genaue Be- obachtungen konstatiert. Die Versuchsergebnisse beider stimmen nahezu über- ein. Von den prismatischen Farben wird das äufserste Rot z. B. nach Schelske durch den aufsteigenden Strom in blaurot bis purpur, nach Schliephake in schmutzig purpur, durch den absteigenden nach Shelske in gelbrot verwandelt, das Orange durch den aufsteigenden Strom in rot oder in hellen Purpur u. s. w. § 122. E arbenblindheit.^ Von grol'ser Wichtigkeit für die Theorie der Farbenwahrnehmung sind die Untersuchungen solcher Augen, deren Farbensinn defekt ist, und welche daher eine geringere Zahl von Farbenempfindungen vermitteln als die normal beanlagten Augei^. Im allgemeinen bezeichnet man diesen abnormen Zustand als Farbenblindheit, im speziellen je nach der Qualität der fehlenden Empfindung als Bot-, Grün- oder Violettblindheit. Die bei » SCHELSKE, Ardi. f. Ophthalm. 1863. Bd. IX. Abtli. 3. p. 49. - Aus der sehr umfangreichen Litteratur über Farbenblindheit heben wir nur die wichtisjston Arbeiten heraus. Vgl. Seebeck, Poggekdokffs Annalm d. P/nisik. 1837. Bd. XLII. p. 177. — Maxwell, On thf. fheom of caloin-'. in relat. to col. hlindness, in WILSONS Research, on col. hlindn. Edinburjrh 1855. — OPPEL,' Verhavdl. d. p/n/xik. Vers, zu Frankfurt a. M. 1859—60. p. 70. — HELM- HOLTZ, P/ivsiol. Optik, p. 294u. S45. — SCHELSKE, Ar eh. f. Ophthalm. 1863. Bd. IX. Abth. 3. p. 39. — EdM. Rose, Arck. f.path. Anat. 1859. Bd. XVI. p. 233', 1860. Bd. XVIII. p. 15, Bd. XIX. p 522, 1861. Bd. XX. p. 245. — W. PreYER, PfluegkRs Arch. 1868. Bd. I. p. 299. — HOCHEC.KEK, Arch. f. Ophthalm. 1873. Bd. XIX. Abth. 3. p. 1. — RAEHLMANN, ebenda, p. 88. — HOLMGREX, Die Farbenblindheit in ihren Bezieliungen zu den Eisenhahnen und der Marine. Deutsche autoris. Übersetz. Leipzig 1878. ^ \-)-J. FARBENBLINDHEIT. 477 weitem am liänfigsteu vorkommende und deshalb auch am genauesten untersuchte Art der Farhenblindheit ist die Rotblindheit. Läfst man damit behaftete Personen ein Spektrum betrachten , so ergibt sich erstens, dais ihnen dasselbe am roten Ende verkürzt er- scheint d. h. dais ihre Netzhaut durch die längsten AVellen gar nicht oder nur bei beträchtlicher Intensität erregt wird, zweitens, dafs sie im ganzen Spektrum nur zwei verschiedene Farbenqualitäten in verschiedenen Nuancen unterscheiden, zu deren einer sie das ganze Gebiet vom roten Ende bis zum Grün, zur andren das blaue und violette Ende des Spekti-ums rechnen; sie bezeichnen die erste Qualität meistens als gelb, die zweite als blau, die grünblauen Zwischentöne erscheinen ihnen in der Regel grau; rote, braune, grüne Objekte erscheinen ihnen identisch gefärbt, ebenso blaue und rosafarbene. Dafs jedoch trotz der Mangelhaftigkeit des Unter- scheiduugsvermögeus für Farben die Namen, welche Farbenblinde ihren Empfindungsqualitäten geben, den gleichbenannten, von faj'ben- tüchtigeu Augen vermittelten Empfindungsqualitäten mindestens entspi-echen können, beweisen am besten die Fälle einseitiger Farbenblindheit^ in welchen das gesunde Auge das defekte kontrol- liert und die Übereinstimmung der beiderseits ausgelösten und gleich- benannten Farbenempfi^ndungen direkt sichergestellt werden kann. Der erste, welcher die Erscheinungen der Farbenblindheit mit der YouNGschen Hypothese in Beziehung zu bringen versuchte, war Maxwell. Man wufste, dafs sich dem normalen Auge mit Hilfe des Farbenkreisels jeder beliebige Farbenton durch Kombination wechselnder Anteile von Rot, Gelb, Grün, Blau, Schwarz und Weifs reproduzieren läfst. Maxwell und später Helmholtz wiesen nunmehr aber nach, dafs zur Herstellung aller dem rotblinden Auge unterscheidbaren Farben die rotierende Scheibe des Kreisels aufser mit schwarzen und weifsen nur noch mit gelben und blauen Sek- toren von verschiedener Gröfse versehen zu sein braucht. Ein ähnliches Resultat erhielt Maxwell, als er statt der Pigmeutflächen des Kreisels reine Spekti'alfarben in Gebrauch zog; auch hier konnten sämtliche dem farbenblinden Auge sichtbare Farben künstlich durch Mischung von nur zwei Farben erzeugt werden, nur waren hier nicht Gelb und Blau, sondern Grün und Blau die beiden unent- behrlichen Komponenten.'^ Im Sinne der YouNGschen Theorie von drei subjektiven Grundfarben und drei entsprechenden Arten von Percep- tiouselementen erklärt sich die Rotblindheit aus dem Mangel einer jener drei Grundempfindungen und zwar der roten, und dieser Mangel wiederum aiis einem Fehleu oder aus einem Lähmungszustande des die rote Empfindung erzeugenden Perceptionsapparats. Hiernach können • Vg-l. O. Becker, Arcfi. f. Op/Maf,n. 1S79. B.I. XXV. Abtli. 2. p. 205. — HoLMGRKN, Ctrhl. f. d. vifl. Wh.i. 1880. p. 898, 9i:5. — V. HIPPEL, Arch. f. Op/illm'.n. 1880. Bd. XXVI. Abth. 2 p. 176. — PREYER, Pfluegers Arc/i. 1881. Bd. XXV. p. 31 (4o). '^ Eine übersichtliche Ziisammenstolluiip: der zahlreichen Untersncliiin.;;sincthoden .nuf Farben- blindheit gibt GEISSI.ER, SCH.MIDTs JahrUirlirr. 1.S81. Bd. CXCI. p. Ti. 478 FARBENBLINDHEIT. § 122. die roten Lichtvvelleu des Spektrums nur vei'möge der scliwaclieu er- regenden Einwirkung, welche sie bei genügender Lichtstärke auf die den grünen Lichtstrahlen angepafsteu Perceptionsapparate ausüben, Emptindung erzeugen. Es wird folglich der Rotblinde das inten- sivste ilot des Spektrums mit lichtschwaehem Grün verwechseln. Spektrales Gelb, von welchem die nämlichen Endapparate und zwar bei weitem stärker als von dem spektralen Rot in Thätigkeit vei- setzt werden, wird von ihm ähnlich empfunden w^erdeu w'ie licht- starkes gesättigtes Grün, spektrales Grün wegen seiner gleichzeitigen Einwirkung auf die von den violetten Strahlen vorzugsweise beein- flufsten Nervenenden wie weifsliches Grün. Am w^eifsesten (hellgrau) wird dem Rotblinden die Übergangsstelle zwischen Grün und Blau im Spektrum erscheinen, w^eil die von dort ausgehenden Wellen beide Faserarten ziemlich gleichstark ansprechen. Die übrigen Teile des Spektrums erregen mehr weniger überwiegend den die violette Empfindung auslösenden Leitungsapparat, w^erdeu aber alle gleich- mäfsis: für blau o:ehalten. Es geht daraus w^ohl mit Sicherheit her- vor, dafs das Violett eine Düppelempfindung ist, deren eme Kompo- nente, das Rot, im rotblinden Auge eben in Wegfall gekommen ist (s. 0. p. 469). Woher den Rotblinden die unleugbar vorhandene Gelbemptindung kommt, obgleich dieselbe nach der YouNGschen Hypothese aus der gleichzeitigen Erregung der ]-ot- und grün- empfindenden Fasern resultiert, läfat sich unter der Annahme^ be- greifen, dafs die rotempfindenden Fasern nicht gerade fehlen oder ganz unerregbar sind, sondern nur der Empfänglichkeit für die Wellen des roten Lichts, nicht aber für diejenigen des gelben, entbehren. Über die relative Rotblindheit bestimmter peripherer Zonen jeder normalen Netzhaut und über die vorübergehende Rot- blindheit, welche man durch anhaltende Beleuchtung der Retina mit homogenem roten Licht erzeugen kann, ist bereits früher gesprochen worden (s. o. p. 450 u. 458). Hier fügen wir dem Gesagten nur noch hinzu, dafs auch pathologische Prozesse in den peripheren und zentralen Regionen des Sehorgans Farbenblindheit in allen möglichen Formen und Graden herbeiführen können. Man hat sich vielfach bemüht aus den an Farbenblinden gewonnenen Erfahrungen Entscheidnngsgründe für die eine oder die andre der beiden früher besprochenen Theorien der Farbenwahrnehmung zu gewinnen. Die Form, welche die schwebende Frage auf diesem der Physiologie und Pathologie gemeinsamen Gel)iete angenommen hat, findet ihren sehr prägnanten Ausdruck in den Bezeichnungen, welche für die verschiedenen Arten der Farbenblindheit von den beiden streitenden Parteien empfohlen worden sind. Während die- jenigen, welche sich der YorxG-HELMnoLTZschen Theorie anschliefsen, drei Arten partieller Farbenblindheit unterscheiden, Rot-, Grün- und Yiolettblindheit, kennt Hkuixg und seine Anhänger neben der totalen Farbenblindheit, bei welcher nur Helligkeitsdifferenzen und sonst gar keine Farben aufgefafst werden, nur zwei Arten partieller Farbenblindheit, die Rotgrün- und die Gelbblau- 1 LEISER, Arc/i. f. Ophthalm. 1873. Bd. XIX. Abth. 3. p. 28. ^ 122. FARBENBLINDHEIT. 479 blindlieit, eiitsprecheiid seiner Annahme einer grünroten und einer gelbblauen Sehsinnsubstauz. Die abwartende Stellung, welche wir in dem noch immer unentschiedenen Streite zur Zeit einnehmen, ist in einem fiüheren Paragraphen näher begründet Avorden. Dieselbe ^nläl'slich der bisherigen Ermittelungen über die Empfindungsanomalien Farbenblinder aufzugeben, liegt um so weniger Grund A'or, als die grofse Mannigfaltigkeit individueller Abweichungen, welche das in grofsem Umfange gebotene Untersuchungsmaterial so erheblich kom- plizieren, zunächst allem strengen Systematisieren trotzbietet. Ohne dem endlichen Ergebnisse der Diskussion irgendwie vorgreifen zu wollen, scheint uns jedoch, dafs das Prinzip der YouNG-HEi.MHOLTZschen Theorie sich immer noch aufrecht erhalten läfst, sofern man nur davon Abstand nehmen wollte, die relative Erregungsgröfse der einzelnen qualitativ verschiedenen peripheren Endapparate durch die verschiedenen Strahlenarten des Spektrums unter allen Verhältnissen und bei allen Individuen für absolut unveränderlich anzusehen, und ferner berücksichtigt, dafs eine Anomalie des Farbensehens nicht gerade allein durch den Mangel oder die totale Lähmung von Perceptionsorganen, sondern auch durch eine Verstimmung der letzteren bedingt sein kann, der Art, dafs bei Rotblinden z. B. die den roten Lichtstrahlen sonst angepafsten Endapparate statt durch rotes Licht durch gel1)es oder noch stärker brechbares erregt würden.^ Grünblindheit kommt viel seiteuer reiu zur Beobachtung als die ebeu besprooliene Art der Farbeubliudheit. Nach den Mit- teilungen von Peeyer, * welcher sich in der günstigen Lage befand, zwei exquisite Fälle davon zu untersuchen, sieht der Grünblinde das Spektrum an beiden Enden unverkürzt und unterscheidet darin nur zwei Farben, rot und blau, das reine Grün erscheint ihm grau mit einem schwachen Anflug von blau und rot. \^on einem genaueren Eingehen auf die Frage, ob die Grünblindheit im Sinne der YouxGschen Hypothese auf Defekt oder auf veränderter Reaktionsweise besonderer Empfindungselemente beruhe, glauben wir wegen des grofsen Spielraums, der hier der reinen Spekulation ein- geräumt werden müfste, absehen zu dürfen. Von grofsem Interesse ist die vorübergehende Farbenblindheit, welche als Intoxikationserscheinung nach Einführung der San ton- säure und ihrer Verbindungen in das Blut auftritt. Nachdem bereits längst beobachtet war, dafs nach dem Genuis der Wurni- blütenpräparate, deren wesentlicher Bestandteil die genannte Säure ist, „Gelbsehen" eintritt, d. h. alle hellen, insbesondere Aveifsen Objekte mehr weniger intensiv gelblich gefärbt erscheinen, hat Edm. Hose- die Wirkungen der Santonsäure einer aufserordeutlich gründlichen Untersuchung unterworfen, deren Hauptergebnisse folgende sind. Die Ursache des Gelbsehens ist eine konstaut infolge der Narkose durch Santonsäure eintretende Violettblindheit des Auges. Die Netzhaut wird in steigendem Grade unempfindlich für die brechbarsten Lichtwellen des leuchtenden Spektrums in der Art, dafs zunächst die violetten Strahlen, bei hohem Grade der Narkose ' Vgl. HELMHULTZ, Plnisiol. Optik, p. 848. — A. FICK, Verhavdl. d. med.-p/iusih. Ge.i. in Würzhunj. lS7o. N. F. Bd. V. p. 158. — Th. Lebek. KUn. Monatsbl. f. Augenheilk. 1873. p. 467. 2 E. Rose, Arch. f. paf!inl. Anal. 18C7. r.d. XXVIU. p. 30. —Vgl. ferner HÜFXER, Arch. f. Ophlhalm. 1SG7. Bl. XIII. p. 309. 480 FARBKXIÜJXnHErT. §1^1^ auch die blauen iiiciit ineLr den in ihrer Benennung ausgedrückten gesättigten Farbeneindruck machen, sondern mehr weii'slich erscheinen, spätei- aber ganz unsichtbar werden, das S])ektrum demnach an seinem bi(!chbarsten Ende verkürzt erscheint. Dal's untei' solchen Yer- hilltnissen ein weifses Objekt gelb erscheint, d. h. dals bei aljge- stumpfter Reaktion der Netzhaut auf die in weiJsem Licht ent- halteuen violetten und blauen Strahlen der Bindruck der gelben "vor- herrschend wird, ist selbstverständlich. Fraglich ist jedoch, ob die Unempfiudlichkeit des santouisierten Auges gegen violettes Licht ein rein nervöses Symptom ist oder auf einer Absorption beruht, welche die violetten Lichtsti'ahlen nach M. Schultz^ durch das bei Santonin- genufs stärker gelb tingierte Blut])lasma der Retinakapillaren erfahren'. Nach Helmholtz wäre die letztere Anschauung allerdings schon deshalb aufzugeben, weil die normale Weifse der papilla n. optici im ophthalmoskopischen Bilde während der Santonnarkose unverändert bleibt.^ Li einigen Fällen beobachtete Rose auch eine vorüber- gehende Rotblindheit, d. h. ünempfindlichkeit der Netzhaut für die am wenigsten brechbaren Strahlen des Spektrums, so dafs dieses auch an seinem roten Ende verkürzt erschien.» Schwieriger zu deuten ist, woher bei geschlossenem Auge oder bei der Betrachtung dunkler Gegenstände, im ersten Fall das gesamte Sehfeld, im zweiten die Gegenstände violett gefärbt erscheinen. Es wäre indessen denkbar, dafs der Santonsäure eine verschiedenartige Wirkung auf gewisse zentrale und periphere Endapparate zukäme, dafs sie diese für die violetten Strahlen unempfindlich machte, während sie jene in einen erregten Zustand versetzte und somit als zentrales Reizmittel der violettempfiudenden psychischen Organe die spezifische Energie der- selben direkt auslöste. Beweisen lälst sich freilich die oben ent- wickelte Anschauung nicht, vielleicht kann aber die weitere von Rose festgestellte Thatsache, dafs ziemlich regelmäfsig im Anfang der Narkose ein Violettsehen eintritt, welches dem Gelbseheu vor- ausgeht oder sich damit kombiniert, zu ihrer Unterstützung dienen. Dieses Violettseheu tritt nicht wie das früher erwähnte bei ge- schlossenen Augen, also nicht infolge eines inneren Erregungs- zustandes ein, sondern zeigt sich besonders bei Einwirkung o1)jektiven weifsen Lichts von geringer Helligkeit. Es liegt also ziemlich nahe zu vermuten, dafs dem lähmenden Einflufs des Santonius auf die peripheren Endapparate der violettempfindenden Zentren ein erregender vorausgeht, der späterhin ausschliefslich auf die Zentren selbst beschränkt bleibt, näher jedenfalls als mit Rose auf eine ver- änderte Reaktion des Sehorgans zu schliefsen der Art, dafs die längeren Lichtwellen, welche unter normalen Verhältnissen rote, gelbe oder grüne Farbenempfindung erzeugen, im Santonrausche ' Vgl. M. SCHULTZE, Ü'/.d. fielljen Fleck der Relin«. seinen lünfltifs auf normales Sehen u. avf Farbeneinpfind7mff. Bonn 1868. — PUEYER, Pfluegeks Are/,. 1808. Bd. I. p'. 299. — HELMHOLTZ, P/ii/siot . Optik, p. 84S. § 123. KONTEASTFARBEX. 481 eine violette vermitteln. Eine speziellere Interpretation dieser Er- scheinungen im Sinne der YouNGschen Hypothese dürfte bei den Zweifeln, welche über die Natur dei- Santonwirkung an und für sich bestehen, kaum rätlich sein. Wir verzichten demnach darauf und fügen dem Gesagten nur hinzu, dafs nach den Untersuchungen ScHLiEPHAKEs^ die violcttc Aufhellung des dunklen Gesichtsfeldes durch den konstanten aufsteigenden Strom während des Santon- rausches eine bedeutende Steigerung erfährt, die den absteigenden Strom begleitende Gesichtserscheinung dagegen je nach dem Grade der Narkose entweder geschwächt oder sogar gänzlich aufgehoben wird. § 123. Kontrastfarben, Farbeninduktion.- Während die dioptrische Gestaltung unsers Auges offenbar darauf hinzielt ein möglichst scharf begrenztes Bild der erblickten Gegenstände auf unsrer Retina zu entwerfen und somit auch die genaue Trennung zweier gleichzeitig bestehenden Bilder begünstigt, ergibt sich aus der Färbung, welche in Wirklichkeit farblose, d. h. weifse oder schwarze, Objekte an- nehmen, wenn sie gleichzeitig mit andern Objekten von bestimmtem Farbencharakter betrachtet werden, dafs die von beschränkten Netz- hautpartien ausgelösten Empfindungen die Qualität der gleichzeitig von den übrigen benachbarten wachgerufenen in höchst aufi'älliger Weise zu beeinflussen vermögen. So können farblose Objekte die Komplementär- farbe von orleichzeitia: o^esehenen farbiaren zu erhalten scheinen, diese Fälle pflegt man als Kontrastwirkung, und die nur subjektiv vorhandene Farbe des weiJ'sen oder schwarzen Objekts als Kontrast- farbe zu bezeichnen; anderseits können sich aber auch w^eilse oder schwarze Objekte mit der gleichen Farbe wüe ihr farbiges Nachbar- objekt zu überziehen scheinen, diese Fälle werden seit Bruecke mit dem Namen der Farbeninduktion belegt und die objektive den ganzen Vorgang bedingende Farbe als induzierende der sub- jektiven induzierten gegenübergestellt. Die Zahl der hierher gehörigen Thatsachen und Versuchs- formen ist überaus grofs. Wir werden uns deshalb darauf be- schränken müssen eine Auswahl solcher zu treffen, welche die Be- dingungen der Kontrast- und luduktiouserscheinungen am deutlich- sten hervortreten lassen und die relativ sichersten Grundlagen zur Erkläruno; der letzteren liefern. 1 SCHLIEPHAKE, Pflukgers Arcli. 1874. Bd. VIII. p. 565. 2 Vgl. Feciiner, POGGENDOKFFs Annalen. 1838. Bd. XLIV. p. 221, u. 1840. Bd. L. p. 193 u. 427; Ber. d. kul. sürli.i. Ges. d. Wiss. zu Leipzig. 1860. p. 71. — BRUECKF, POGGENDORFFs Annalen. 1851. B.l. LXXXIV. p. 418. — HELMHo'ltZ, P/ii/.iiol. Optik, p. 388. — ROLI.ETT, Wiener Stzber. Math.-natw. Gl. 2. Aljth. 1867. Bd. XV. p. 344 u. 741. — Schmerleu, Wundts Philosoph. Stud. Leipzig 1883. p. 379. GRUEXHAGEX, Physiologie. 7. Anll. II. 31 482 KONTRASTFARBEN. § 123. Eine der auffallendsten hierher gehörigen Erscheinungen ist die der farbigen Schatten. Die beste Methode, das Phänomen zu erzeugen, ist folgende von Pechner angegebene. Man bringt im Fensterladen eines finstern Zimmers zwei quadratische Öffnungen horizontal nebeneinander in zwei Fufs Entfernung an, durch eine der Öffnungen läfst man das Tageslicht frei einfallen (tageshelle Öffnung), während in die andre ein farbiges Glas eingesetzt ist (farbige Öffnung); beide können durch bewegliche Schieber beliebig verkleinert werden, um die eindringende Lichtmenge zu regulieren. Stellt man nun in einiger Entfernung von der Öffnung einen un- durchsichtigen Stab senkrecht auf einer weifsen Fläche auf, so wirft derselbe notwendig zwei von seinem Fufspunkt divergierende Schatten auf die Fläche, einen von der tageshellen Öffnung ge- bildeten von dem farbigen Licht beschienenen, und einen von der farbigen Öffnung gebildeten vom Tageslicht beschienenen. Der erstere erscheint dann in der Farbe des Glases, welches die eine Öffnung- bedeckt, der zweite dagegen in der zu dieser komplementären Farbe. Ist z. B. die Farbe des Glases rot, so erscheint der von dem Tageslicht gebildete Schatten rot, der vom roten Licht ge- bildete, vom Tageslicht beleuchtete grünlich. Nimmt man statt der farbigen (-)ffnung das rotgelbe Licht einer Kerze, so erscheint der von ihr entworfene, vom Tageslicht beschienene Schatten deutlich blau, und zwar nicht, wie Pöhlmann behauptet, objektiv blau ge- färbt durch das blaue Himmelslicht, sondern, wie Fechner richtig erkannte, hauptsächlich durch dieselbe Kontrastwirkung, wie in den vorher beschriebenen Versuchen, nur subjektiv blau. Durch Abänderung der Gröfsen Verhältnisse beider Offnungen kann man es stets dahin bringen, dafs der subjektiv und der objektiv gefärbte Schatten gleich intensiv gefärbt erscheinen. Hat man diese Gleicheit erreicht und vergröfsert dann die tageshelle Öffnung, so wird die subjektive Farbe des einen Schattens immer mehr mit AVeils verdünnt und endlich ganz unscheinbar; verkleinert man die tageshelle Öffnung, so verdunkelt sich die subjektive Farbe all- mählich beträchtlich. Schliefst man die tageshelle Öffnung ganz, so dafs nur ein Schatten durch das Licht der farbigen Öffnung er- zeugt wird, so zeigt dieser nach Fechner immer noch die subjektive Komplemeutärfarbe, wenn auch ungleich schwächer als bei Zutritt von Tageslicht; er erscheint rot, wenn das Glas der farbigen Öff- nung grün ist, imd umgekehrt. Es ist klar, dafs in diesem Falle auf den Schatten gar kein Licht fällt, aus welchem die Komple- mentärfarbe erzeugt werden könnte, sondern nur etwas Licht von der Farbe des Glases, welches die AVände des Zimmers reflektieren; betrachtet man diesen Schatten durch eine innen geschwärzte B,öhre für sich, so erscheint er daher auch in der Farbe des Glases, ein Beweis, dafs es nur das gleichzeitige Sehen des von der farbigen Öffnung beleuchteten Grundes ist, welches die subjektive Erschei- § 12o. KONTRASTFARBEN. 483 uuug der Komplementärfarbe bedingt. Setzt man in beide Offnim- geii Gläser von derselben Farbe, von denen jedoch das eine heller gefärbt ist, so erscheint nach Feciiner der von dem helleren Glas beleuchtete Schatten in der subjektiven Kontrastfarbe. Sind beide Gläser gleich hell, aber die ()ffnungen verschieden grofs, so soll zu- Aveilen der von der kleineren ()ffnuug beleuchtete Schatten komple- mentär gefärbt erscheinen. Sehr einfach läfst sich der Versuch auch zeigen, wenn man ein Blatt weifses Papier von der einen Seite her durch rotgelbes Kerzenlicht, von der andren durch Tageslicht beleuchtet und auf dieses Papier einen Stab stellt, wel- cher dann wie vorher zwei Schatten wirft. Stets erscheint der von der Kerze entworfene, vom Tageslicht beschienene blau, also in der Komplementärfarbe des Kerzenlichts, um so deutlicher, je mehr heide Schatten an Dunkelheit sich gleichen. Sehr instruktiv ist auch folgender von Meyer^ angegebene Versuch. Legt man auf einen Streifen von farbigem Papier ein Schnitzelchen von grauem und darüber einen der farbigen Unterlage an Gröfse genau entsprechenden Streifen feines weifses Postpapier, durch welches das graue Papierstückchen undeutlich durchscheint, so erscheint das letztere deutlich in der Komplementärfarbe des far- bigen Grundes. Let!:. IM. LV. a. a. O. 81* 484 KOXTEASTFARBEN. § 123, (las vordere Spiegelbild derselben in der Komplenientärfarbe der Glasfarbe (Fechner). Hält man vor ein Auge ein kleines Stückchen weifses oder graues Papier und schiebt sodann eine fai'bige Fläche dahinter, so nimmt der Papierstreifen augenblicklich die komplementäre Färbung an, am leichtesten, wenn die Helligkeit des weifsen Papiers der des farbigen Grundes etwa gleich ist, und wenn letzterer den gröfsten Teil des Sehfeldes ausfüllt. Auch hierbei und bei ähnlichen Versuchen geht die ursprünglicli komplementäre Färbung bei anhaltendem Fixieren leicht in die identische über. Blickt man z. B. durch ein Loch in einer roten Oblate auf einen weifsen Grund , so erscheint das Loch anfangs grünlich, später rötlich wie die Oblate gefärbt, um so leichter, wenn kleine Schwankungen des Blicks eintreten, so dafs ein im folgenden Paragraphen zu erklärendes grünes Nachbild des Oblatenrandes auf dem weifsen Grund er- scheint und dieser wiederum durch Kontrastwirkung das Rotscheiuen des Grundes begünstigt. Legt man auf weifsem Grund zwei verschiedenfarbige Ob- laten nebeneinander und fi.xiert ihre Berührungsstelle, so überzieht sich nach Fechneh der Grund nach einiger Zeit mit der Mischfarbe beider Oblaten. Vortrefflich lassen sich eine Reihe von Kontrasterscheinungen mitHilfe des Farben- kreisels demonstrieren. Klebt man auf die weifse Scheibe desselben vier unter rechten Winkeln zusammenstofsende schmale farbige Sektoren auf, unterbricht aber jeden Sektor in der Mitte zwischen Zentrum und Rand der Scheibe durch einen schmalen Streifen, welcher zur Hälfte schwarz, zur Hälfte weifs ist, so erscheint bei rascher Rotation der gesamte innere und äufsere Teil der Scheibe in einer weifslichen Färbung der Sektorenfarbe, zwischen beiden Abteilungen ein den zur Verschmelzung gebrachten schwarzweifsen Abteilungen entsprechender ringförmiger Streifen, dieser aber nicht grau, sondern in der Komplementärfarbe. Letztere wird undeutlich oder schwindet, wenn man die farbigen Sektoren zu breit, also die Farbe des Grundes zu gesättigt macht, oder wenn man den grauen Ring mit schwarzen Konturlinien einfafst, also dadurch eine auffallende weitere Abgrenzung neben dem Farbenunterschied zwischen induzierendem und induziertem Feld bewirkt. Teilt man eine farbige, z. B. gelbe, Scheibe den- Farbenkreisels in konzentrische Ringe von gleicher Breite ein und füllt in jedem Ring einen Abschnitt, dessen Gröfse im Verhältnis zu der des Ringen vom Zentrum nach der Peripherie der Scheibe stetig abnimmt, mit einer and- ren Farbe, z. B. Rot aus, so sieht man bei der Umdrehung konzentrische Ringe von Orangefärlnmg, welche von Ring zu Ring vom innersten nach dem äufsersten hin mehr und mehr dem Gelb sich nähert. Es erscheint nun aber jeder einzelne Ring für sich nicht, wie man erwarten sollte, gleichmäfsig ge- färbt, sondern an seinem inneren Rande, wo er an einen Ring von gesättigterer Farbe stöfst, viel heller, an seinem Aufsenrand, wo er an einen weniger ge- sättigten stöfst, viel dunkler. Auch diese Kontrastwirkung verschwindet, wenn man die Ringe durch schwarze Konturlinien voneinander abgrenzt. Sind die Ringe von verschiedenen Farben, so erscheint jeder am Innen- und Aufsenrand verschieden gefärbt, je nach der Kontrastwirkung, welche die Farbe des angrenzenden Ringes bedingt. Dafs nicht nur die Erregungen verschiede- ner Stellen einer und derselben Netzhaut aufeinander influieren, sondern auch die Erregungen der einen Retina von mafsgebender Bedeutung sein können für die Qualität der Emi^iindungen, welche die gleichzeitigen Erregun- gen der andren auslösen, lehrt der von Fechxer sogenannte seitliche Fen- sterversuch, welcher von Smith zu Fochabehs angegeben, von Bruecke als Kontrasterscheinung gedeutet worden ist. Um diesen Versuch anzustellen, läfst man von der Seite her Tages- oder Lampenlicht auf die Sclerotica des einen nach innen gedrehten Auges fallen und betrachtet dabei ein weifses Quadrat binokular auf schwarzem Grunde so, dafs man dasselbe als Doppelbild sieht. Dem beleuchteten Auge erscheint dann das ihm zugehörige Bild blau- gi'ün, dem andren von der Nase beschatteten rot. Schwarze Quadrate auf hellem Grunde färben sich umgekehrt. Bruecke erklärt die Farbe des mit dem beleuchteten Auge gesehenen halben Objekts daraus, dafs das die Sclera durch- I ^ 123. THEORIE DER KONTRASTFARBEN. 485 dringende im Augeninnern allseitig zerstreute Licht rot ist, bei längerer Dauer •des Versuchs die Netzhaut für Licht seiner x\rt ermüdet und daher das Her- vortreten der komplementären grünen Farbe in dem weifsen durch die Pupille •eindringenden Licht begünstigt. Im Gegensatz zu diesem Grün erscheint dann ■dem unbeleuchteten Auge das Weifs rot. Doppelbilder dunkler Objekte er- scheinen dagegen dem beleuchteten Auge in der Eigenfarbe des vollen Scleral- lichts und dem beschatteten demgemäfs in der grünen Kontrastfarbe. ^ "Während Fechxer auf Grund seiner sorgfältigen und zugleicli fundamentalen Versuclie zu der Ansicht gelangte, dafs die subjektive Kontrastfarbe regelmäfsig die komplementäre der objektiven indu- zierenden Farbe sei, bewies Bruecke, dafs dunkle Objekte auf grünem oder violettem Grunde betrachtet konstant die Farbe des letzteren annehmen. Helmholtz und Aubert^ haben diese Angabe nicht nur bestätigt, sondern auch noch dahin erweitert, dafs überhaupt allen Farben die von Bruecke entdeckte Induktionswirkung zu- kommt, vorausgesetzt, dafs man die dunklen Objekte, welche sich mit der induzierten Farbe überziehen sollen, ruhig fixiert. Der Versuch wird nach Bruecke am besten in der Weise ausgeführt, •dafs man durch eine mit verschiedenfarbigen Glasplatten verschliefsbare grofse Öffnung Licht in ein dunkles Zimmer fallen läfst und zwischen der Lichtquelle und dem Auge eine schwarze Scheibe anbringt, deren dunkles Bild uns dann im Zentrum einer farbenhellen Fläche erscheinen rnufs. Was nun die Erklärung der im vorstehenden beschriebenen mannigfachen Kontrasterscheinungen betrifit, so läfst sich zunächst mit Bestimmtheit erweisen, dafs alle die in Frage stehenden Er- scheinungen rein subjektiv, dafs die Kontrastfarben durchaus nicht objektiv aufserhalb des Auges vorhanden sind, dafs nicht Licht- wellen von einer der Empfindungsqualität entsprechenden Länge von den Objekten, Avelche in den Farben erscheinen, ausgehen. Fechxer hat bereits in seiner ersten Abhandlung mit grofsem Fleifs durch scharfsinnige Versuche die von Osann^ behauptete objektive Natur der Kontrastfarben widerlegt und aus denselben Versuchen, durch welche OsAXX die Objektivität erwiesen zu haben glaubte, das Gegenteil abgeleitet. Nur einer dieser Beweise möge hier seinen Platz finden. Stellt man auf die oben angegebene Weise mit zwei Offnungen im Laden zwei komple- mentär gefärbte Schatten her und betrachtet durch eine innen geschwärzte Pappröhre den einen vom farbigen Licht gebildeten vom Tageslicht be- leuchteten so, dafs er allein das Gesichtsfeld erfüllt, so erscheint er doch •ebenso gefärbt, als wenn man ihn ohne Röhre betrachtet. Osanx schliefst hieraus auf das reelle Vorhandensein dieser Farbe des Schattens, weil sie sich auch bei Wegfall des kontrastierenden Eindrucks der Umgebung auf die Netz- » Vfrl. BrEWSTER, POGGENDORFFs Annalen. 183:?. Bd. XXVH. p. 490. — E. BRUECKE, «benda. 1851. Bd. LXXXIV. p. 418. — FecHNER, Abhdl. d. kr)/, säc/is. Ges. d. Wisa. Math.-phys. Gl. 1.S60. Bd. XU. p. 71 u. 146. 2 Helmholtz, Plmuiol. Optik, p. 396. — AubeRT, Physiol. d. Netzhaut, p. 386. 3 OS.'^NN, POGGENDORFFS Annulen. 1833. Bd. XXVII. p. 694, 1836. Bd. XXXVII. p. 287, 1S37. Bd. XLIl. p. 72. 486 THEORIE DEIJ KONTEASTFAEBEN. § 12o. haut zeige. Pas Faktum ist richti"', die Deutung aber falsch. Fkciineu^ fand ebenfalls den Schatten bei Betrachtung durch die Eöhre noch komplementäi" gefärbt; aber er behielt auch dann noch dieselbe Farbe, wenn das farbige Glas von der Öffnung während der Betrachtung durch die Eöhre weggenommen, oder durch ein andersfarbiges, selbst durch das komplementär gefärbte (llas ersetzt wurde. Die von dem neuen Farbenglas geforderte Komplementärfarbe zeigt(\ sich erst nach Entfenmng der Pa])])röhre, wenn also die Einwirkung des Kontrastes möglich wurde. Blickt man dagegen durch die Eöhre auf den von dem farbigen Licht beleuchteten Schatten, der unstreitig objektiv gefärbt ist, so erkennt man momentan die neue Farbe beim Wechsel des Glases. Blickt man ferner auf den vom Tageslicht beleuchteten Schatten durch die Röhre, bevor das Farbenglas eingesetzt ist, so kommt der Eindruck der Komplementärfarbe nach Einsatz des farbigen Glases überhaupt nicht zu- stande; der Schatten erscheint in der objektiven Farbe des Glases selbst, infolge der Eeflexion von den Zimmerwänden. Hieraus geht unzweifel- haft hervor, dafs im ersten Versuche das Fortbestehen des komplementären Eindrucks lediglich auf einer gewissen Hartnäckigkeit, mit welcher die subjektive Farbe auch nach dem Aufhören der Ursache sich erhält, beruht. So entscilieden nun die Niclitobjektivität der Kontrastfarbeu erwiesen ist, so ist doch mit der Bezeiolinung „subjektive Farben" durchaus nicht alles erklärt. Es fragt sich vor allem: ist ein positiver Erregungszustand der peripherischen Nervenenden, also der Netzhautteile, auf welche das Bild des subjektiv gefärbten Objektes fällt, vorhanden, und zwar derselbe Erregungszustand, welchen die der subjektiven Farbe entsprechenden Lichtwellen er- zeugen? oder entsteht die Kontrastfarbe in den zentralen Eudorganen des Opticus durch eine wechselseitige Ilmstimmung der verschiedenen in ihnen ablaufenden Empfiudungsprozesse? oder endlich ist bei den farbigen Schatten z. B. der Erregungsprozefs, welchen der subjektiv gefärbte Schatten vermöge seiner Beleuchtung durch gemischtes Tageslicht hervorbringt, in den peripherischen sowohl als auch in den zentralen Apparaten des Sehnerven genau derselbe, wie er es bei Ausschluls der die Umgebung überziehenden Kontrastfarbe sein würde, die Erscheinung der Komplementärfarbe also lediglich eine Täuschung des Urteils über die Qualität der Empfindung? Aus- gezeichnete Beobachter, wie Feciiner und Plateau^, haben die Kontrasterscheinuugen als Reaktionsveränderuagen des Sehnerven- apparats aufgefafst, wobei der erstere annahm, dafs der Eindruck, welchen eine Stelle der Netzhaut empfängt, auf eine gewisse Weise mitreagiere auf die übrigen , der letztere , dafs eine Art wellenartiger Ausbreitung der Erregung von den induzierenden auf die induzierten Netzhautpartien stattfinde. Keiner von beiden hat es jedoch unternommen den physiologischen Vorgang, durch welchen die Ei-regung einer Netzhautpartie ihre Nachbarschaft in Miterregung zu versetzen imstande sei, näher zu bestimmen, bis endlich Hering auf Grund umfassender Untersuchungen 1 Feohner, a. a. O. u. Poggendorffs Annalen. 18?.8. Bd. XLIV. \i. 221 u. 513. 3 Plateau, Annul. de chim. et de phys. 1835. T. LVHI. p. 337. — POGGENDORFFs AnnaL 1834. Bd. XXXir. p. 543, 1836. Bd. XXXVIII. p. 626. § 123. THEOEIE DER KOXTEASTFARBEX. 487 die folgende Theorie zur Diskussion stellte. Dieselbe fufst zunächst auf der schon früher (p. 470) erwähnten Annahme zweier gegensätzlichen Bewegungsprozesse der nervösen Sehsinn- substanz, eines assimilierenden Restitutions- und eines dissimilierenden Zersetzungsvorgangs, welche jeder für sich eine besondere Empfin- dungsqualität auslösen, wird ferner aber noch durch einen Beweis gestützt, dessen Schärfe erst nach den Betrachtungen des folgenden Paragraphen in vollem Umfange gewürdigt werden kann, und welcher daher auch dort erst von uns näher erörtert werden soll, dem Beweise nämlich, dal's jeder dieser gegensätzlichen Prozesse, welche sich bei gleichzeitigem Bestehen in einer und derselben Netzhaut- stelle gegenseitig vernichten, durch einen geeigneten Reiz für sich allein hervorgerufen stets den andren sowohl in der direkt gereizten Netzhautregion als auch in der Nachbarschaft derselben miterzeugt. Nach dieser Auffassung läuft also einerseits neben dem dissimilierenden Erregungsprozesse, welcher die Einwirkung des weilsen Lichts auf die Retina begleitet, stets ein assimilierender einher, welcher die Empfindimg von Schwarz bedingt und einen merklichen Grad zu- nächst nur in der Nachbarschaft der vom weifsen Licht betroffenen Stelle erreicht, anderseits neben dem assimilierenden der schw^arzen Empfindungen ein die Nachbarregion in Thätigkeit versetzender dissimilierender. Grrenzen daher in unserm Gesichtsfelde schwarze und weil'se Flächen aneinander, so wird jedes dunkle Bild den im weifsen Bildbereiche herrschenden Dissimilations-, und umgekehrt jedes helle den im dunklen Bildbereiche vorhandenen Assimilations- prozefs steigern, das Schwarz neben Weifs also schwärzer, das Weifs neben Schwarz weifser erscheinen. Hat jedoch nach längerem Fixieren der betrachteten Objekte der assimilierende Prozefs das mögliche Maximum des nervösen Stolfansatzes, der dissimilierende dasjenige des Stoffverbrauchs erzielt, so verkehren sich ebenso not- wendig die subjektiven Erscheinungen in ihr Gegenteil, die weifsen Flächen werden durch den in ihrem Bildbereiche relativ und ab- solut anwachsenden Assimilationsvorgang dunkler, die schwarzen in- folge eines gesteigerten Dissimilationsvorgangs, welcher durch die voranffe2:an2:ene Anhäufuno: erregbarer Substanz und den infolg-e davon gesteigerten Stoffwechsel bedingt wird, heller, den frühereu Kontrastwirkungen folgen somit diejenigen der Induktion auf dem Fufse. Alles was hier für Schwarz und AVeifs auseinandergesetzt worden ist, überträgt Herixg unmittelbar auf seine antagonistischen Farbenpaare, grün-rot und gelb-blau, lälst indessen vorläufig dahin- gestellt, welche derselben einen dem assimilierenden, welche einen dem dissimilierenden ähnlichen Erregungsprozefs auslöst. Die Reaktionsempfindung, welche der Umgebung einer von farbigem Licht getroffenen Netzhautstelle entstammt, hat demgemäfs regel- mäfsig einen antagonistischen Charakter, und daher finden wir die subjektive Kontrastfarbe auch stets komplementär, d. h. antagonistisch 488 THEORIE DER KONTRASTFARBEN. § 123. zu der objektiven des Lichtreizes. Erst dann, wenn bei längerem Fixieren die Gröfse der Zersetzung-, beziehungsweise der Neubildung, aus Mangel an Material abgenommen hat, sehen wir die komplemen- täre Kontrastfarbe die Farbe des Objekts annehmen, d. h. die Er- scheinung der BiiUECKEschen Farbeiiinduktion beginnen. Während Herixgs Bemühen darauf gerichtet ist, Kontrast- und Induktions- erscheinungen aus einem gemeinsamen Gesichts])unkte zu erklären und beide auf objektive Thätigkeitszustände der erregbaren Sinnes- substanz zurückzuführen, sehen w4r Bruecke, den Entdecker der Induktionserscheinungen, streng zwischen Kontrastfarben, welche auf weil'sen oder grauen Objekten auftreten, und induzierten, welche schwarze Objekte annehmen, unterscheiden. Für die Kontrast- farben nimmt Bruecke an, dafs der Erregungszustand der be- treifenden Netzhautstellen nicht der (Qualität der subjektiven Farbe, sondern der Einwirkung des objektiven weil'sen Lichts entspreche. Gesetzt den Fall, es sei von den beiden Offnungen, durch welche zwei komplementär gefärbte Schatten erzeugt werden, die farbige durch grünes Glas geschlossen, so erscheint der subjektiv gefärbte Schatten rot, obwohl die betreffende Netzhautstelle sicher nicht allein rote Lichtwellen, sondern gemischtes Aveifses Licht empfängt. Es bleiben nur zwei Möglichkeiten : entweder befindet sich jene Netzhautstelle in dem Erregungszustand, welcher dem Weifs ent- spricht, und nur die durch das grüne Licht der Umgebung im „Sensoriuni" hervorgebrachte Verstimmung ist es, Avelche uns das AYeii's für Bot halten hil'st, oder das grüne Licht ändert die Erregbarkeit der ganzen Netzhaut so, dafs weifses Licht einen Er- regungszustand, welchen sonst nur rotes Licht erzeugt, produziert. Im Gegensatz zu Herixg befürwortet Bruecke nicht die letztere, sondern gerade die erste Annahme, und zwar deshalb, weil gewisse Analogien für dieselbe geltend gemacht werden können. Und in der That läfst sich nicht leugnen, dafs fast alle Sinne analoge Bei- spiele von Umstimmung des Urteils über eine Empfindungsqualität durch Kontrast bieten. Wasser von -j- 10'' erscheint der ein- getauchten Hand kalt, wenn sie vorher in AVasser von 20° einge- taucht war, warm dagegen, wenn sie vorher mit Wasser von 5" in Berührung war. Ebensowenig wie wir eine absolute Vorstellung von warm und kalt im Gedächtnis festhalten, ebensowenig ist auch unsre Vorstellung von der Empfindungsqualität des Weifs eine unveränderliche, absolute, sondern die tägliche Erfahrung lehrt uns, dafs wir zu verschiedenen Zeiten nacheinander be- trachtete Objekte oft für weifs halten, welche gleichzeitig neben- einander gesehen sehr verschieden gefärbt erscheinen. Bruecke führt die bekannte Erfahrung an, dafs die Gegenstände, durch eine farbige Brille betrachtet, anfangs zwar in der Farbe des Glases, sehr bald aber in ihrer eignen gesehen werden, weil sich offen- bar unsre Vorstellung gewissermalsen für die Farbe des Glases § 123. THEORIE DER KONTRASTFARBEN. 489 akkoramodiert liat. Trägt mau z. B. eine blaue Brille, so erscheiut Schuee, durch, dieselbe betrachtet, sehr bald vollkommen weifs, und nur ein Blick über das Brillen o-las hinweg zeio-t uns die Differenz des farbigen Weifs gegen das natürliche. Auf gleiche Art erklärt nun Bruecke, dafs der vom rein -weilsen Tageslicht beleuchtete Schatten neben dem mit überschüssigem Grün ge- mischten Weifs der Umgebung, durch Avelches die Vorstellung des Weifs gewissermafsen verschoben wird, uns rot erscheint, •obwohl der Erregungszustand der dem Schatten entsprechenden Netzhautstelle derselbe ist, wie ihn weifses Licht als solches hervor- bringt. Die subjektiven komplementären Kontrastfarben beruhen demnach nicht auf positiven korrespondierenden Erregungszuständen •der Netzhäute, sondern nur auf einer Veränderung des Mafsstabes, nach welchem das Sensorium die nackten Empfindungsqualitäten beurteilt und deutet. Ganz anders verhält es sich nach Bruecke mit den induzierten Parbeu, bei welchen nach ihm eine falsche Deutung eines durch objektives Licht hervorgerufenen Erregungszustandes in der Vor- stellung au.sgeschlossen ist. Er sucht zu beweisen, dafs an den beschatteten Xetzhautstellen notwendig ein positiver, der Qualität der induzierten Farbe entsprechender Erregungszustand vorhanden sein müsse; er folgert dies vor allem aus der Thatsache, dafs die induzierten Farben als solche imstande sind, komplementär gefärbte Nachbilder, von denen im folgenden Paragraph die Bede sein wird, zu liefern. Hat man der oben beschriebenen Methode gemäfs die schwarze Scheibe auf grünem Untergrunde so lange be- trachtet, bis sie ebenfalls grün erscheint, und schliefst dann das Auge, so erblickt man ein helles rotes Nachbild der Scheibe auf dunklem Grund; die induzierte Farbe entwickelt in diesem Falle also ein komplementäres Nachbild, während die induzierende objektive Farbe kein solches hervorbringt. Die Beweiskraft dieser Thatsache wird erst aus den folgenden Erörterungen vollkommen verständlich M^erden. Wie man leicht erkennt, ist Bruecke in der Deutung der Induk- tionserscheinungen als der Vorgänger Herixgs zu bezeichnen, in der Deutung der Kontrasterscheinungen ist er dagegen derjenige von Helmholtz, welcher letztere umgekehrt wie Hering gerade den psychologischen Teil der BRüECKEschen Hypothese weiter entwickelt hat, um auch die Induktionserscheinungen aus ihr ableiten und auf einen mit den Kontrasterscheinungen gemeinsamen Ursprung zurückführen zu können. Wir entnehmen dem Raisonnement von Helmholtz folgendes. Betrachten wir beispielsweise ein weilses oder graues Objekt auf rotem Grunde, so sind wir für die Beurteilung der von dem Objekt hervorgerufenen Empfindungsqualität ausschliefslich auf den Vergleicb desselben mit der vom roten Grunde erzeugten angewiesen, und daher besonders geneigt, nur die der Anschauung sich aufdrängenden Unterschiede beider Empfindungsqualitäten zu 490 THEORIE DER KONTRASTFARBEN. § 12;), beacliten und uüch ilinoii allein unser Urteil einzurichten. "Wir werdem den Unterscliied des weilsen Objekts gegen den unmittelbar daran grenzenden roten Grund für grofser halten als den Unterschied dieses weii'sen Objekts gegen eine andre entfej'nt von ihm im Seh- feld auftretende Farbe oder gegen eine Empfindungsqualität, Avelche wir nur in der Erinnerung festhalten, und zwar werden wir uns leichter in der Beurteilung kleiner Unterschiede als in derjenigen grofser täuschen. Dauiit wir das AVeifs als solches sicher beurteilen könnten, mülsten Avir es entweder mit einem andren als WeiJs anerkannten W^eil's vergleichen können, was ebeu unter den Ver- hältnissen, unter Avelchen die Kontrastfarben auftreten, nicht möglich . ist; oder wir mülsten in der Erinnerung als Malsstab eine unver- rückbare Vorstelluug von absoluteui Weifs besitzen, mit der wir jenes "Weil's messend vergleichen könnten, was offenbar nicht der Fall ist; oder endlich, wir mülsten imstande sein zu beurteilen, ob nach YoüNGS Hypothese die gegebene weifse Empfindung in dem richtigen Intensitiltsverhältuis aus den drei Gruudemp findungen gemischt sei, was aller Erfahrung widerspricht. Welch geringe Sicherheit uusrer Beurteilung von Intensitätsverhältuissen verschiedener Farbenempfiuduugen beiwohnt, AA'ie grofs daher die Schwankungen unsers Begriffs von Weifs sind, geht am besten aus der schon an- geführten Erfahrung her^'or, dafs wir bei längerer Betrachtung weifser Objekte durch farbige Gläser, vorausgesetzt dafs die Farbe derselben uicht gesättigt ist, erstere uufraglich für weifs halten. Es ist daher auch nicht undenkbar, dafs, sobald irgend eine Farbe in unserm Sehfeld vorherrschend ist, sich uusre Vorstellung von AVeifs verschiebt, der Qualität der vorherrschenden Farbe nähert, dafs also in dem augeführten Fall durch den vorherrscheuden roten Grund unser Urteil bestimmt Avird, ein rötliches Weifs für Weifs anzusehen und dieses als iVtittelfarbe der Vergleichung andrer Farben zu Grunde zu legen, ein reines AVeifs daher, dessen Unterschied gegen das A'orgestellte Normalweifs darin besteht , dafs es zu wenig Rot enthält, d. h. zu reich an komplementärem Grün erscheint, als Grün anzusprechen. Natürlich haben die SchAvankungen des Be- griffs AVeifs ihre bestimmten nicht zu Aveiten Grenzen; sehen Avir durch ein gesättigtrotes Glas, so Avird uns ein Aveifser Gegenstand niemals Aveifs, sondern stets rot erscheinen. Hiermit steht im Einklänge, dafs die Kontrastfärbungen bei einer schAvachen Färbung des A'orherrschenden Lichts ebenso deutlich oder noch deutlicher hervortreten, als Avenn dasselbe gesättigt ist, ferner dafs die Er- scheinungen gröfsere Lebhaftigkeit besitzen bei gleicher Helligkeit des induzierenden Grundes und des Aveifsen Induktionsobjekts, endlich, dafs sie am sichersten erscheinen, Avenn der farbige Grund und das weifse Feld nur durch ihre Farbe sich unterscheiden, das letztere nicht noch besonders durch bestimmte Konturen und Schatten als Objekt von dem Grunde abgegrenzt ist, Avenn also die ganze Aufmerksamkeit § 124. DAUER DES GESICHTSEINDEUCKES. 491 auf die Vergleichimg der Farben als des einzigen Unterscliiedes konzentriert ist. Die Walil zwischen den liier nälier besprochenen drei Theorien der Indnktions- und Kontrasterscheinungen ist insofern leicht, als die offenbare Verwandtschaft beider Erscheinungskategorien auf einen gemeinsamen Ursprung derselben hindeutet und denjenigen Theorien also den Vorrang zuweist, welche beide aus einer gemeinschaftlichen Ursache herzuleiten bestrebt sind. Man wird demnach nnsers Er- achtens nur zwischen der von Hering und der von Helmholtz aufgestellten Hypothese schwanken können. Zu bestimmen aber, "welche von ihnen und ob überhaupt eine von ihnen den ausschliefs- lichen Vorzug verdient, ist bei dem rein hypothetischen Charakter ihrer Grundlagen zur Zeit unmöglich. Ganz aufserlialb der eben besiirochenen Erklärungen, welche Her.ng Brfecke und Helmholtz von den Kontrast- und Induktionsersclieinungen gegeben haben, stehen die Versuche einiger wenigen, welche die fraglichen Phänomene aus Nachbildern ableiten zu können glaubten. Es ist allerdings wahr, und wir kommen im folgenden Paragraphen genauer darauf zurück, dafs komplementäre Färbungen weil'ser Objekte regelmäfsig zum Vorschein kommen, wenn letztere ihre Bilder auf Netzhautstellen werfen, welche vorher von farbigem Licht erregt worden waren, wenn also der Blick von dem farbigen Grunde auf das weifse Objekt wandert. Allein Fechner hat schon gezeigt, dafs die Kontrasterscheinungen auch bei unverwandtem Blick von Netzhautstellen aus, welche nicht vorher dem Einflufs farbigen Lichts ausgesetzt waren, entstehen, und überdies bleiben sie, wie Aubert^ bewiesen hat, bei momentaner Be- leuchtung durch den elektrischen Funken, wo also die Zeitdauer der Erregung viel zu kurz ist, um die Entstehung komplementär gefärbter Nachltilder zu ermöglichen, keineswegs aus. § 124. Von den zeitlichen Verhältnissen der Lichtempfin- dungen und den Nachbildern. Die erregende Wirkung des Lichts auf die Endapparate des Sehnerven bedarf bei schwachen Lichtreizen einer gewissen unschwer bestimmbaren Zeit, um einen für die Empfindung merklichen Grad nervöser Thätigkeit auszu- lösen, bei starken Reizen wird dieses Vorbereitungsstadium, die latente Reizdauer, nnmelsbar klein und fehlt bei sehr starken wohl ganz.-'' Um die vorstehenden Sätze zu erweisen, schraubt man an die Zeichen- platte eines Pendelmyographions einen schwarz überstrichenen Metalldraht an und versieht die freie Spitze desselben abwechselnd mit hellgrauen oder ganz W'eifsen Papierquadraten von 2 qcni Seite, von welchen ein Fernrohr bei > AUBERT, Moleschotts unters. :. Naturl. 1858. Bd. V. p. 290, u. Phiittiol. d. Srf:l,aut. p. 383. 3 A. FiCK, Arch. f.-Anaf. u. Phij^iol. 1803. p. 739. — S. EXNER, ^\^iener Stzher. M;itli.-uatw. Cl. -2. Abth. 1868. Bd. LVHI. p. 601. 492 DAUER DES GESICHTSEINDRUCKES. § 124. Rulielage der Peiidelvonichtung, wo sie also den tiefsten Punkt des Schwingungs- bogens einnehmen, scharfe Rildcr entwirft. Es gelingt nun sehr leicht, den Pendelschwingungen dui'ch passende Änderung des Elongationswinkels Ge- schwindigkeiten zu erteilen, hei welchen der Durchgang des hellgrauen Papier- ({uadrats durch das Fadenkreuzzentrum des Fernrohrs ganz unbemerkt bleibt, dagegen nicht Ges(;hwindigkeiten herzustellen, bei welchen auch das weifse Papierquadrat unsichtbar würde. Der letzte Teil unsrer Angaben stimmt völlig mit den älteren Mitteilungen A. Ficics überein, welcher zuerst das hier berührte Gebiet einer genaueren Prüfung unterwarf und l)ei Verwertung eines andren Versuchsverfahrens ebenfalls keine hinreichende Geschwindigkeit er- zielen konnte, um weifse Papierflächen eindruckslos an dem beobachtenden Auge vorbeizuführen. Die Kleinheit d^r noch zu ermittelnden Zeitgröfse für starke Reizes läfst sich aber ungefähr aus der Angabe S. Exxers entnehmen, dafs weifses Licht noch bei 0,0001 der Einwirkungsdauer eine deutliche Em- pfindung auslöst und in bezug auf sehr intensive Reize die Thatsache, dafs der elektrische Funke trotz seiner fast unendlich kurzen Dauer einen intensiven Eindruck erzeugt. Es bedarf ferner einer Bruecke, Wiener Stzher. Math.-natw. Cl. 2. Abth. 1S(U. Bd. XLIX. p. T28. — S. EXNER, a. a. O. 2 Kunkel, Pfluegers Arcli. 1874. Bd. IX. p. 197. §124. DAUER DES GESICHTSEINDKUCKES. 493 während die Reizgrölsen zwischen der Einheit, der Helligkeit einer von direktem Sonnenlicht beschienenen weifsen Papierfläche und ^/le dieser Helligkeit wechselten. In Kunkels V^ersnchen betrugen die entsprechenden Werte für rotes Licht 0,071 und 0,0573 Sek., für grünes 0,133, 0,097 und 0,0699 Sek., für blaues 0,102 und 0,0916 Sekunde, wobei im ersten Falle die Helligkeitsverhältnisse zwischen 1 und 2, im zweiten Falle zwischen 1, 2 und 4, im dritten wiederum nur um das doppelte schwankten. Das Ansteigen der Empfindungsgrofse bis zu ihrem schliefslichen Maximum erfolgt nach Exner nicht ganz gleiohmäfsig, sondern geht anfänglich sehr rasch, späterhin langsamer von statten. Trägt man daher die dem Empfindungsmaximum vorangehenden experimentell ermittelten geringeren Empfindungsgrade als Koordinaten auf eine Fig. 147. Mo -' ' :^ ' A / / / » „/ / k' X 1 ! / / j lO't 166 Abscisse auf, deren Teile 0,0001 Sek. bedeuten, so Avird dieVerbiudungs- linie der Koordinatengipfel, d. i. die Kurve des zeitlichen Empfiuduugs- wachstunis, im allgemeinen mit konkaver Krümmung gegen die Ab- scisse (s. Fig. 147) verlaufen müssen. Über das weitere Verhalten der Kurve jenseits ihres Maximalpunktes geben sorgfältige, unter FiCKs Leitung augestellte Untersuchungen von C. F. Mueller\ deren wesentliche Punkte sämtlich auch von S. Exner bestätigt worden sind, x^LUskunft. Dal's die Empfindungsgrofse bei längerer Reizdauer keinen konstanten Wert behält, war schon lange bekannt und auf Rechnung eines Ermüdungs Vorgangs der Retina oder überhaupt des Sehorgans gebracht worden. Den zeitlichen Verlauf dieses Vorgangs hat dagegen zuerst C. F. Mueller ermittelt. Sein ^ C. F. Mueller, Vers. üb. d. Verlauf der Netzhuuterriiüdunn. Biss. inaiig. Ziirich 1S66. — Vsrl. auch S. EXNEK, Wiener Stzber. Math.-natw. Gl. 2. Abth. 1868. Bd. LVIIl. p. 601. 494 DAUER DES GESICHTSEINDEUCKES. § 124. Verfahren bestand darin, eine weifse Papierfläclie unverwandt zu fixieren und die scheinbare Helligkeit derselben von Zeit zu Zeit mit der photometrisch bestimmten Helligkeit verschiedener grauer momentan an dem beobachtenden Auge vorbeigeführten Papiersorten zu vergleichen. Die wirkliche Helligkeit der Papierfläche gleich eins gesetzt, liefs sich dann die allmählich Avachsende scheinbare Verdunkelung tabellarisch wie folgt ordnen: Keizdauer in Sek. | ?>" b" W \b" 20" 2b" m" Scheinbare Helligkeit | 0,72 0,66 0,49 0,46 0,43 0,37 0,35 Auffälligerweise variieren die erhaltcDen Zahlen nicht mit der In- tensität des Reizes, sondern, wie Mueller findet, nur mit der Tages- stunde, und, Avie aus BeobachtuDgen von Maxwell, Helmholtz und ExNER^ hervorgeht, mit der anatomischen Lage der erregten Retina- steile. In bezug auf den ersten Fall erfahren wir, dafs die Em- pfindungsgröfse nach erreichtem Maximum am frühen Morgen steiler absinkt als am Abend, in bezug auf den zweiten, dafs das zeitliche Entstehen und Vergehen der Empfindung in der fovca centralis sich merklich verlangsamt zeigt gegen die gleichen Vorgänge auf der übrigen Ketzhaut; der Punkt des schärfsten Seheus reagiert dem- nach auf Reizungen träger als die peripheren Zonen der Retina. Im allgemeinen wird jedoch immer gesagt werden können, dafs die Kuiwe des Empfindungswachstums, nachdem sie ihren höchsten Punkt erreicht hat, alsbald wieder abfällt, und zwar an- fänglich rasch, später langsamer der Abcis.se zustrebt. Es ist ge- stattet, diesen absteigenden Kurventeil kurz als Ermüdungskurve zu bezeichnen. Die Versuchsmethode, deren sich Exner zur Ermittelung- der oben an- geführten Resultate bedient hat, ist von Helmholtz ersonnen worden. Der Apparat, welcher gestattet zwei beliebige Lichtreize von Ijeliebig veränderlicher Zeitdauer miteinander zu vergleichen, besteht aus einer schwarzen Samt- scheibe von dem Aussehen der Fig. 148, welche mit konstanter und genau be- stimmbarer Geschwindigkeit in der Richtung des gezeichneten Pfeils rotiert. Blickt man mittels eines Fernrohrs durch die verstellbaren Ausschnitte a und i nach zwei Lichtquellen von verschiedener, aber bekannter Intensität, so kon- statiert man leicht, dafs dem Sektor, durch welchen die Strahlen der stärkeren von ihnen fallen, eine kleinere Winkelgröfse erteilt werden mufs, als dem andren von der schwächeren erhellten, wenn das Gesichtsfeld beider Sektoren gleich stark beleuchtet erscheinen soll. Damit nun aber auch angegeben werden könne, um wie viel der stärkere Lichtreiz an Intensität eingebülst habe, mufs nicht nur die absolute Intensität beider Reize bekannt sein, sondern auch darüber kein Zweifel herrschen, dafs die Intensität des schwächeren durch den Versuch selbst keinerlei Änderungen erfahren habe — eine Forderung, welcher ersichtlicher- weise erst Genüge geschieht, wenn die Wirkungsdauer des schwächeren Reizes durch Einstellung des betreffenden Ausschnitts so reguliert worden ist, dafs das überhaupt mögliche Empfindungsmaximum ausgelöst wird. Dann freilich ergibt ' MAXWELL, Edinhiirrih Jotim. ISÜG. Bd. IV. p. .337. — HELMHOLTZ. P/njsiol. Optik. p. 420. — EXNER, a. a. O. p. 629. §124. DAUER DES GESICHTSEINDRUCKES. 495 «ich aus dem Yersucli, dafs die gleich starke Empfindung', -welche der stärkere Reiz bei einer kürzeren Dauer erzeugt, einer Abschwächung dessel))eii bis auf er. Math.-natw.' Gl. 3. Abth. 1S72. Bd. LXV. p. 59. 32* 500 NACHBILDER. S ] lU s früher (s. o. p. 457) erwillniten Umstaüde, clai's die verscliiedenen Spektralfarbeu in verschiedenen Zeitintervallen die ihnen eigen- tümlichen Eni])findungen auslösen, ein deutlicher Hinweis darauf, dafs hei jeder S})ektralfarhe auch die Nachdauer ihrer AVirhung ungleich grofs ausfallen dürfte. Die Erscheinungen des Nachbildes beschränken sich nun ahei- keineswegs auf die einfache kurze Fortdauer des primären Ein- drucks, von -svelcher bisher die Rede gewesen ist, sondern es reiht sich an das Ende dieser primären Nachempfindung noch eine kom- pliziei'te Folge wechselnder, teils im geschlossenen Auge, teils beim Hinzukommen andrer objektiver Lichteindrücke auftretender Er- scheinungen an, welche nicht so einfach auf ein Fortbestehen des vom objektiven Licht erweckten Erregungszustandes des Sehnerven zurückzuführen sind. Es sind dies die Ei'scheinungen der sub- jektiven Nachbilder, deren mannigfache Formen sich durch ihre Farbe und durch die Art der Verteilung von hell und dunkel voneinander unterscheiden. In letzterer Beziehung trennt man die Nachbilder in positive und negative, wobei die von Bruecke gewählten Bezeichnungen positiv und negativ gleiche Be- deutung wie in der Photographie haben; d. h. ein positives Nach- bild ist ein solches, in welchem hell ist, was im angeschauten Objekt hell war, dunkel, was in diesem dunkel war, ein negatives dagegen ein solches, in welchem dunkel erscheint, was im Objekt hell war, und umgekehrt. In bezug auf die Färbung der Nach- bilder ist vorauszuschicken, dafs man Nachbilder, welche in der Farbe des Objekts erscheinen, von solchen unterscheidet, welche (bei farbigen Objekten) in der komplementären Farbe des Objekts oder auch (bei weifsen Objekten) in verschiedenen Farben erscheinen. Positive und negative, identisch und komplementär ge- färbte Nachbilder entstehen unter bestimmten Bedingungen und reihen sich in der Begel in bestimmter Folge A\'echselnd an den er- löschenden primären Netzhauteindruck an. Nach der Einwirkung eines intensiven farbigen Lichts auf die Netzhaut verlaufen die Erscheinungen im geschlossenen Auge nach Brüeckes sorgfältigen Beobachtungen folgendermafsen. Zuerst und fast unmittelbar beim Erlöschen des primären Eindrucks entsteht ein meistens momentanes, positives, komplementär gefärbtes Nachbild; dann folgt eine Pause, dann das erste positive, identisch gefärbte Nachbild, dann ein negatives, komplementär gefärbtes, dann wieder ein positives, identisch gefärbtes, und so fort, bis endlich ein allmählich verschwindendes negatives, komplementäres Bild die Reihe schliefst. Betrachtet man also z. B. durch ein rein rotes Glas eine Liclitflamme längere Zeit und schliefst dann das Auge, so erscheint zunächst nach dem Erlöschen des primären Eindrucks eine bläulich grüne Flamme auf dunklem Grunde, dann eine helle rote Flamme, dann eine bläulich grüne Flamme dunkel §124. NACHBILDER. 501 auf hellem Grunde, dann wieder eine helle rote Flamme, und so in dem an- Aubert, P/iu.ih!. J. XcUhaul. p. 25—29, u. Ilundh. d. (/es. Aii'jenhe'Uk., herausgeg. v. A. Gbaefe w. Th. Saemisch etc. Bd. II. p. 483—187. § 125. INTENSITÄT DER LICHTEMPFINDUNG. 519 wahrnehmbar wurde. Für Auberts Augen mufste die lichtgebende Öffnung gleich nach dem Eintritt in den verdunkelten Raum 15 mm Seite, also 225 qmm Flächeninhalt haben, wenn die bezeichnete Aufgabe gelöst werden sollte, nach 30 Minuten Aufenthalt dagegen nur noch 2,5 mm Seite, also 6,25 mm Flächeninhalt. Es hatte somit die Erregbarkeit der Netzhaut nach 30 Minuten hmger totaler Verdunkelung in dem Verhältnis von G,25 : 225. d. i. um das 36fache, zugenommen. Eine allgemeine Vorstellung von der Geringfügigkeit der in Gebrauch gezogenen Lichtintensitäten läfst sich gewinnen, wenn man erwägt, dafs die Helligkeit der matten Gläser der Laden- öffnung derjenigen einer weifsen Wolke am Tageshimmel oder, was dasselbe sagen will, des Vollmondes merklich gleich sein wird. Letzterer würde mit seinem scheinbaren Durchmesser von 15' 32" einer in 5,5 m betrachteten Kreisfläche von 24,4 mm Halbmesser oder einem Quadrat von 43 mm Seite, also 1849 qmm Flächen- inhalt entsprechen. Hiernach wäre also die Beleuchtung des Papier- streifens durch die quadratische ()ffnung von 15 mm Seite unge- fähr 8 mal, diejenige . durch die Öffnung von 2,5 mm Seite aber 300 mal kleiner, als wenn derselbe von dem ganzen Lichte des Voll- monds getroffen worden wäre. Noch kleinere Lichtmengen reichten aus, wenn statt des schmalen Papierstreifens ein weifser Papier- schirm, welcher das ganze Gesichtsfeld des Beobachters ausfüllte, im Dunkelzimmer wahrgenommen werden sollte. In diesem Falle durfte der Ladenöffnung unter günstigen Umständen nur eine Weite von 1 mm erteilt werden. Da 1 mm in 5 m Entfernung gesehen 41 Winkelsekundeii mifst, so Aväre die kleinste eben noch merkliche Erhellung unsrer verdunkelten nur vom Eigenlichte erfüllten Gesichtsfelder der Beleuchtung durch ein quadratisches Stück weifsen Himmel von 41 Sekun- den Seite gleich zu erachten. Abgesehen von seiner unmittelbaren Bedeutung für die quan- titative Schätzung der Adaptation sind diese Versuchsergebnisse AuBEKTS auch noch anderweitig von Wichtigkeit. Denn einmal beweisen dieselben in präzisierter Form die allerdings schon früher bekannt gewesene Thatsache, dafs die Intensität der Lichtempfindungen wesentlich von der Extension des Lichtreizes auf der Netzhaut be- einflufst wird und zwar mit der Zahl der getroffenen Netzhaut- elemente wächst; es folgt also in bezug auf die Lnterschiedsempfind- lichkeit unsers Sehorgans, dafs dieselbe aufs er von den beiden schon genannten Faktoren auch noch von einem dritten, der räumlichen Ausdehnung des Lichtreizes auf der Re- tina oder dem GesichtsAvinkel, unter welchem der leuch- tende Gegenstand erscheint, abhängig ist. Zweitens läfst sich aber auch die Kenntnis des kleinsten eben merklichen Licht- reizes verwerten, um annähernd wenigstens die Intensität des sub- jektiven Eigenlichts zu schätzen, welche das verdunkelte Gesichts- 520 INTENSITÄT DER LICHTEMPFINüUN(;. § 125. feld uiisers Auges regelinäfsig überzieht. Aus unsern früheren Mitteilungen über das Verhalten der Unterschiedsenipfindlichkeit (s. o. p. 514) wissen wir, dafs dieselbe in der Region der schwäch- sten Lichtreize ungefilhr durch den Wert V- ausgedrückt wird. Zwei schwächste objektive Jjichtreize werden von uns folglich nui- dann in der Buiptindung voneinander gesondert, wenn der eine do])pelt so grol's als der andre ist. Betreffs der Intensität des Eigen- liclits ergibt sich demnach, dafs dieselbe mindestens V-' mal so klein als die Intensität des kleinsten eben merklichen Lichtreizes anzuneh- men ist, also der Beleuchtung unsers Gesichtsfeldes durch ein (;[ua- dratisches Stück weifsen Himmel von ungefähr 22 Sekunden Seite, oder, was nach Aubert^ dasselbe bedeutet, durch die halbe Licht- stärke des Planeten Venus während seines höchsten Glanzes ent- spricht. Die imgemein kleine Intensität, welche somit dem subjek- tiven Eigenlichte zukommt, ist ein neuer Grund da^eiren, die Annahme der Unterschiedsempfindlichkeit bei abnehmender absoluter Helligkeit im Sinne Fechners durch die Einmischung eben jenes Eigenlichts erklären zu wollen. Eine Nötigung, dem psychophy- sischen Gesetze Fechxers auf dem Gebiete der intensiven Licht- empfindungen Gültigkeit zuzuerkennen, liegt daher nicht vor. Der Adaptationszustand der Netzhaut erreicht seine höchste Entwickelung im verdunkelten Baume erst nach Ablauf einiger Zeit. Die Er- regbarkeitszuualime, welche seinen objektiven Ausdruck bildet, wächst anfänglich sehr rasch, dann langsamer und langsamer, ohne, wie es scheint, selbst nach zweistündigem Aufenthalt im Dunkelzimmer den höchst möglichen Grad erlangen zu können. Denn während die eben merkliche Gröfse des Lichtreizes nach Aubert bei zwei Minuten langem Aufenthalt im Duukelzimmer Vis — V-o der ursprünglich notwendig gewesenen beträgt, sinkt sie innerhalb der nächsten 28 Minuten nur noch bis auf ^/sfi des Anfangswertes herab und nimmt im allgemeinen zu Beginn des Versuchs binnen Vi Sekunde um ebensoviel ab als nach Ablauf von V^ Stunde binnen einer Stunde. Der Schnelligkeit, mit welcher die Erregbarkeit der verdunkelten Netzhaut anfänglich steigt, entspricht umgekehrt die Schnelligkeit, mit welcher diejenige der plötzlich beleuchteten fällt. Läl'st man in einem unvollständig ver- finsterten Zimmer einen einzigen elektrischen Funken überspringen, so werden alle zuvor matt sichtbaren Objekte sogleich unsichtbar und das Gesichisfeld erscheint tief dunkel. Aubert-, welcher diese Beobachtung mitteilt, macht zugleich darauf aufmerksam, dafs unter den angegebenen Verhältnissen nur eine beschränkte Stelle der Netzhaut, diejenige, auf welcher das Funkeubild entworfen wird, einer intensiven Reizung unterliegt, und nimmt hieraus Veranlassung, • Aubert, IlanM. d. t/es. Au'ienheilk., heiausge«.'. v. A. GrAEFK u. TU. SAKMISCH etc. Bd. H. p. 486. ^ AUÜEKT, MOI.ESCHOTTS Unters. :. Xalurl. 185S. lid. V. p. 'JST. § 125. INTENSITÄT DER LICHTEMPFINDUXG. 521 Hilf eine räumliche Ausbreitung der Erregung (iunerbulb der Re- tina) im Sinne Plateaus, Pechners und E. Herin({s zu schliefsen (s. 0. p. 486). Aufser der schnell umstimmenden Wirkung des elektrischen Funkens gibt es aber nocli eine ganze Kategorie anderweitiger Er- fahrungen, welche das rasche Schwanken des Erregungszustandes •der Netzhaut infolge der Adaptation darthun. Es gehören hierher imsers Erachtens alle Fälle, in welcher der Nutzeffekt intermittierender Lichtreize sich demjenigen der kon- tinuierlichen überlegen erweist: so die bereits oben (p. 457) •erwähnte \yahrnehmung Kuxkels, dal's ein intermittierender grüner Farbenreiz bei gewisser Zeitdauer als intensiv helles Gelb empfun- -den wird, ferner diejenige von E. Bruecke, dafs ein intermittieren- der roter Farbenreiz von gewisser Zeitdauer eine weifslich gelbe Empfindung von grölerer Intensität auslöst, endlich die auch wieder Ton E. Bruecke ^ näher untersuchten Fälle, in welchen die gleich grofsen schwarzen und weifsen Sektoren mit bestimmter Geschwin- iligkeit rotierender Schellten tiefer schwarz, beziehungsweise heller weifs erscheinen als dieselben Sektoren in Ruhe befindlicher. Die Veränderung der Farbentöne bei Zunahme ihrer absoluten Helligkeit im obigen Sinne ist früher (p. 447) besprochen worden, und kann der hier vertretenen Auffassung von dem unter Umständen grölseron Nutz- effekt intermittierender Netzhautreizungen keine Schwierigkeiten bereiten; die Ansicht Brueckes, dafs derselbe auf einer Summation des direkten Eindrucks mit dem ersten positiven Nachbilde beruhe, ist aber darum schon fraglich, weil thatsächlich während jeder Reiz- pause eine Erregbarkeitssteigerung in der Netzhaut vor sich geht und schon aus diesem Grunde also bei einer gewissen weder zu grofseu noch zu kleinen Unterbrechungsdauer des Lichtreizes not- wendig auch eiue Inteusitätszunahnie der Empfindung eintreten mufs. Alle bisher berichteten Versuchsergebnisse sind unter genauer Fixierung der zu vergleichenden Lichtquellen gewonnen worden, gelten folglich zunächst nur für die fovea centralis der Retina und ihi'e nächste Umgebung. Es fragt sich, ob die gewonnenen Er- fahrungssätze auch für die ]:)eripheren Regionen der Netzhaut mafs- gebend sind oder für diese modifiziert werden müssen. Die hierüber vorliegenden Untersuchungen haben zu keinem übereinstimmenden Resultat geführt. Berücksichtigt man indessen nur das thatsächliche Matei-ial, welches wir denselben verdanken, ohne auf die von den einzelnen Beobachtern gezogenen Schlüsse einzugehen, so ergibt sich der folgende allgemeine Lehrsatz. Im vollkommen adap- tierten Zustande, d. h. also nach längerem.Aufenthalt in einem total verdunkelten Räume, besitzen die seitlichen Partien ' K. BkUECKK, Wie-ner Stiher. Matli.-natw. CI. 2. Abth. ISGt. Bd. XLIX. p. 12S, u. MoLE- SCUOTTs Unters. :. Nafurl. 18ö5. Bd. IX. p. 367. 522 INTENSITÄT DER LICHTE5IPFINDUNG. § 12&. der Netzhaut für schwächste Lichtreize den gleicheis Empfindlichkeitsgrad, für stärkere und stärkste dagegen unter allen Umständen einen geringeren als die zen- tralen. Um diesen Ausspruch zu begründen, verweisen wir einerseits auf die wiederholt^ festgestellte Thatsache, dafs ein schwächster Lichtreiz im total verdunkelten Räume nicht nur hei genauer Fixierung, sondern auch bei indirektem Sehen gleich deutlich wahrgenommen wird, anderseits darauf, dafs intensivere Lichtreize^ von der fovea centralis aus regelmäfsig stärkere Empfindungen aus- lösen als von den seitlichen Gegenden der Netzhaut." In voll- kommenem Einklänge hiermit steht, wenn Exner, Dobrowmjlsky und Gaine ^ das Maximum der Unterschiedsempfindlichkeit für die letzteren kleiner als für die erstere finden, und zwar im all- gemeinen um so kleiner, je seitlicher die geprüften Netzhaut- regionen liegen. In welchem Verhältnis die periphere Unterschiedsempfiiidlichkeit nach DoBEOWOLSKY uud Gaixe abnimmt, ergibt die folgende ihnen entlehnte Be- obachtungsreihe. Die zentrale Unterschiedsempfindlichkeit hatte in dem be- treffenden Falle den Wert von */i-3o. Dagegen betrug die periphere im äufsern Teile des Gesichtsfeldes bei 5" Abstand vom Zentrum nur noch '/vs, bei 20^ 35", 50^', 65'\ 68" beziehungsweise V70, Vie, Vi 1,2. ^'s,*, ^,U,ö, im Innern Teil des Gesichtsfeldes bei 5", 20'\ 35^ 50", 60"— 65" Abstand vom Zentrum V72, V-24, Vi 1,6, V7,5, V-i- Dort hatte die Unterschiedsempfindlichkeit also schliefslich in dem Verhältnis von 1 : 26,6, hier in dem Verhältnis vom 1 : 36 an Gröfse- verloren. Ist die Eetina, wie in der Eegel, unvollständig adajjtiert, so besitzen die- zentralen Teile derselben eine geringere Empfindlichkeit für schwächste Licht- reize als die peripheren. Es können daher unter gewöhnlichen Umständen sehr schwache punktförmige Lichteindrücke, Sterne 3. bis 5. Gröfse, leichter mit seitlichen Netzhautpartien als mit der Mitte des gelben Flecks wahr- genonnnen werden, eine Beobachtung, welche zuerst von den Astronomen ge- macht und übrigens niemals in bezug auf ihre Richtigkeit angegriffen worden ist. Der Winkel, welchen dabei der Richtungsunterschied des Sternes mit der Gesichtslinie macht, mit andern Worten der Abstand des seitlichen Retina- punktes, welcher das Bild des Sternes empfängt, von der Mitte des gelben Flecks ist nicht ganz unbeträchtlich und unter verschiedenen Verhältnissen verschieden. ■* Wie Aübert ^ hervorheltt, dürfte die gröfsere Empfindlichkeit der Netzhautperipherie bei unvollständiger Adaptation der Retina darauf zu- rückzuführen sein, dafs die seitlichen Partien der letzteren unter normalen Verhältnissen stets weniger stark beleuchtet werden als die zentralen, und sieb darum für gewöhnlich in einem höheren Grade von Adaptation als diese be- finden, d. li. also besser als diese geeignet sind schwache Lichteindrücke zur Empfindung zu bringen. Damit auch die focea centralis und ihre nächste Nachbarschaft den gleichen Grad von Empfindlichkeit erlangen, bedarf es erst eines längeren Verweilens im total verdunkelten Räume. ' AuitEllT, MoLKSCHOTTS Unters, z. XaturK 1rhiiltnis.seü dieser Eindriujke, ihrer gegenseitigen Lage und Ent- f(.'ruung, oder richtiger (da wir die Empfindungen unmittelbar objektivieren, also nicht auf die getroffenen Teile der Netzhaut, nicht auf das Netzhautbild, sondern auf die äufseren Objekte, von denen der Lichtreiz ausging, d.h. von denen ein Bild auf der Retina ■entworfen wird, beziehen) mit Voi-stellungen von den räumlichen A'erhältnissen der empfindungerregenden leuchtenden Objekte. Wie grofs die Feinheit dieses Raurasiiins ist, d. h. in welchem geringen Abstand voneinander zwei gleichzeitige Eindrücke die Netzhaut treffen können, ohne zu einer einfachen Emplindung zu verschmelzen, wie sich diese Einheit an verschiedenen Abschnitten der Retina verhält, werden wir unten genauer erörtern. Es leuchtet von selbst ein, dal's nur durch den Raumsinn der Retina der dioptrische Apparat des Auges Bedeutung erhält; ohne dieses Vermögen wäre die wunderbare Kombination brechender Flächen und der Akkom- modationsmechauismus unnütz, denn das scharfe Bild der leuchtenden Objekte könnte nicht als solches wahrgenommen werden. Nur durch den Raumsinn ward es möglich, dafs die räumlichen Ver- hältnisse des Netzhautbildes eines Objekts auf eben demselben Wege durch Kombination von Empfindung und Vorstellung auf die Seele wirken, als beim Tastsinn die räumlichen Verhältnisse des Objekts unmittelbar. Die Erklärung dieses Raumsinns ist im allgemeinen dieselbe, wie wir sie beim Tastsinn versucht haben, so dafs wir hier nur kurz zu rekapitulieren brauchen. Wie die äufsere Haut müssen wir uns auch die Netzhaut als eine Mosaik regel- mäfsig nebeneinander geordneter diskrete]" sensibler Punkte, d. h. solcher Teile denken, von denen jeder bei der Einwirkung der Lichtwellen für sich eine isolierte Einzelempfindung erzeugt, welche A'on der Seele als verschieden von der jedes andern sensiblen Punktes erkannt wird und zur Vorstellung eines bestimmten Punktes im Räume führt. Das Vorstellungsvermögen vom Raum ist der Seele angeboren. So wie sie sich nun mit Hilfe dieses Vermögens und des Systems der Lokalzeichen, w^elche die Tastempfindungen be- gleiten, ein Raumbild der gesamten Körperoberfläche schafft, in welches sie später jede Tastempfindung dem gereizten Ort entsprechend einträgt, ebenso lernt sie jeden durch eine Lokalfärbung ausge- zeichneten Netzhauteindruck mit einer Raumvorstelluug verknüpfen und gewinnt allmählich ein der Netzhautmosaik entsprechendes Raumbild, in welchem jeder diskrete sensible Punkt der Retina in seiner wirklichen relativen Lage zu seinen nächsten und entfernten Nachbarn repräsentiert ist. Wird daher eine Anzahl derselben von Lichteindrücken getroffen, so knüpfen sich so schnell und unbewufst an die Einzelempfindungen, die von jedem derselben erzeugt werden, ■die betreffenden räumlichen Vorstellungen, dafs das Netzhautbild mit seinen räumlichen Verhältnissen scheinbar fertiff unmittelbar § 1 26. ALLGEMEINES ÜBER GESICHTS WAHRNEHMUNGEN. 525- mit der Empfindung selbst vor die Seele tritt. AVir glauben direkt zu sehen, ob jene Eindrücke in gerader Linie oder im Kreise, un- mittelbar aneinander grenzend, oder in gewisser Entfernung von- einander im E,aume sieb befinden; kein Mensch ist imstande, durch Analyse seiner Gesichtswahrnehmungen zu erkennen, dafs- zunächst nur die reine Empfindung mit ihrer Qualität als subjektiA^O: Veränderung zum Bewulstsein kommt, dafs wir zunächst nur unter- scheiden, ob eine Empfindung einfach oder mehrfach ist, dafs Em- pfindung und die objektivierte räumliche Vorstellung zeitlich aus- einanderfallen, dafs letztere aus ersterer und andern gleichzeitigeu Empfindungen, wie den Muskelgefühleu , erst abgeleitet, zusammen- gesetzt wird. Keiner kann sich der Studien erinnern, welche seine Seele in der Zeit der Kindheit hat machen müssen, um ihre sub- jektiven Empfindungen in dieser Weise verstehen und deuten zu lernen. Es stellt sich bei näherer Betrachtung auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Tast- und Gesichtssinn heraus. "Während wir bei ersterem unser Tastorgan selbst M'ahrnehmen, uusre Eindrücke auf bestimmte Orte der Haut beziehen lernen und selbst bei den objektivierten Tastempfindungen uns des gedrückten oder erwärmten Zustandes unsrer Haut als Ursache der Empfindungen bewufst. werden, kommen wir niemals zur Wahrnehmung der sensiblen Fläche unsers Auges, sind nicht imstande, irgend welche Em- pfindung auf einen Zustand der Xetzhaut zu beziehen, kommen nie zu der Wahrnehmung der Existenz eines Netzhaut- bildes als nächster Ursache der Empfindung. Alle Em- pfindungen objektivieren Avir unmittelbar, verlegen sie gänzlich aufser uns in den äufseren Raum. Wir kommen w^ohl durch die Thatsache, dafs Verdeckung des Auges das Sehen aufhebt, zu dem Schlufs, dafs das Auge das Organ ist, durch welches wir sehen, aber es dünkt uns das Auge gewissermafsen nur eine Ofi'nung zu sein, durch w^elche hindurch eine innere Sehkraft in die Aufsen- welt eindringt, der Blick zu den Objekten getragen wird. Ja selbst, so wunderbar es klingt, nicht allein die entoptischen Erscheinungen bei geöffnetem Auge, sondern auch die Visionen im geschlossenen Auge, die Bilder im dunklen Sehfeld, die ^Nachbilder, von denen wir gesprochen, verlegen wir in den Baum aufser uns und gehen in dieser Selbsttäuschung so weit, dafs wir z. B. an das subjektive Nachbild einer Lichtflamme im geschlossenen Auge unwillkürlich ein Urteil über die Entfernung jenes von diesem knüpfen. Die Netzhaut ist eine Fläche, das Netzhautbild ein fiächen- haftes; nichtsdestoweniger verbindet sich demselben stets auch die Wahrnehmung einer Dimension der Tiefe, das flächenhafte Retina- l)ild gibt durch einen dem Bewufstsein völlig entrückten Prozefs zu der Wahrnehmung des Körperlichen Veranlassung. Blicken wir in eine Landschaft hinaus, so wird der dicht vor uns befindliche Baum ein verhältnismäfsig grüfseres Netzhautbild entAverfen, als der 526 SCHÄRFE DES SEHENS. §127. entfernte Kircliturm, und doch urteilen wir immer beim ersten Anblick richtig, dafs der Baum kleiner ist als der Turm, und bilden ebenso rascb eine Vorstellung von der relativen Gröfse als von der Entfernung beider von uns. Auch in dieser Beziehung verhält sich das Auge etwas anders als das Tastorgan. Die Tragweite des «rsteren ist unendlich gröfser, es verschafft uns Kenntnis von der Gröfse und Form nicht nur der uächstliegenden, sondern auch der fernsten Objekte. Der Tastsinn kann seine Prüfungen nur auf ei'stere ausdehnen. Das Urteil über relative Gröfse verschiedene]' Objekte wird vom Tastsinn auf einfacherem Wege gebildet, als vom Gesichtssinn. Der Tastsinn beurteilt und vergleicht die Gröfse zweier Gegenstände lediglich nach dem unmittelbaren Eindruck, sei es mit Hilfe des Muskelgefühls, sei es nur nach der bewufst werdenden Zahl der getroff'enen Nervenenden; das Urteil fällt richtig aus, sobald dieselbe Tastfläche beide Gegenstände geprüft hat. Wollten wir mit dem Auge die relative Gröfse ebenso nach der relativen Gröfse des Netzhautbildes (und den Muskelgefühlen) be- urteilen, so Avürden wir jedesmal irren, sobald die verglichenen Objekte in verschiedener Entfernung vom Auge sich befinden. Bei der Bildung des Urteils aus den Netzhauteindrückeu bringen wir daher die Entfernung des Objekts mit in Rechnung; auf welche Weise wir zur Wahrnehmung der Entfernung kommen, soll unten erörtert werden. Wir werden dabei die wichtige Mithilfe der Anstrengungs- gefühle der Augenmuskeln kennen lernen, welche bei den Leistungen des Gesichtssinns keine minder wichtige Bolle spielen, als bei den Leistungen des Tastsinns. § 127. Von der Schärfe des Sehens.^ Das vollkommenste, schärfste Netzhautbild, welches der dioptrische Apparat des Auges bei voll- kommenster Akkommodation und möglichster Verkleinerung der sphärischen (monochromatischen) und chromatischen Aberration von einem äufseren Objekt zu entwerfen vermag, ist an sich noch kein i!;wiugender Grund zu einer entsprechend scharfen räumlichen Wahrnehmung, wenn wir unter letzterer die bestimmte gesonderte Auffassung der möglichst kleinen leuchtenden Punkte, in welche jedes Netzhautbild respektive jedes Objekt zerlegt werden kann, ver- stehen. Denken wir uns ein Dameubrett aus alternierenden schwarzen und weifsen Quadraten von bestimmter Seitenlänge als Prüfungs- mittel, so werden wir demjenigen Auge (ein vollkommenes Akkom- 1 E. H. WKBER, Ber. d.lcgl. süc/m. Gea.d. UV.s.s.Math.-phys. C!. 1852. p. 128. — VOLKMANN, «ebenda. 1858. p. oS, u. fernerln R. WAGXERs Handwörth. d. Physiol. Bd. III. Abfli. 1. p. 329: Ph/siol. Unters, im Gebiete d. Optik. Heft 1. p. Ciö. — O. FUNKE, Ber. d. miiurf. Ges. zu Freiburri. Bd. III. Heft 2. p. 89. §127. SCHÄRFE DES SEHENS. 527 raodations vermögen vorausgesetzt) und derjenigen Stelle der Retina •die gröfste Scliärfe des Sehens zusprechen, welche hei der relativ gröfsten Entfernung des Brettes, also bei der relativ gröfsten Ver- kleinerung der einzelnen Felder im Netzhauthilde, die schwarzen und weilsen Quadrate noch gesondert voneinander aufzufassen ver- mag. Die leicht zu berechnende Gröfse dieser Felder im ISTetzhaut- bilde bei dem Grenzab.stande des Objekts, über welche es nicht ■entfernt werden kann, ohne dafs die gesonderte Wahrnehmung auf- hört, gibt uns zugleich ein bestimmtes Mafs für die Schärfe des Sehens. Von welchen Verhältnissen die letztere abhängt, ist im .-allgemeinen nicht schwer anzugeben. Wie schon in der Einleitung iingedeutet, haben wir uns die Netzhaut aus einer Mosaik sen- s-ibler Punkte von ganz konstanter anatomisch gegebener Oröfse zusammeno-esetzt zu denken, deren Einzelerreguun:en erst in unsrer Vorstellung, wo sie nach ihren Lokalzeichen geordnet werden, zu einem Bilde mit sämtlichen Verhältnissen verschmelzen. Es mufs hiernach also die unveränderliche Gröfse der sensibeln Retinapunkte •den konstanten Mafsstab bilden, nach welchem sich die Feinheit unsres Unterscheidungsvermögens für die Einzelheiten eines Objekts 3'ichtet. Zwei oder mehr nebeneinander liegende Punkte eines Objekts können nur dann als voneinander verschieden anfgefafst werden, wenn der Durchmesser ihres Bildes in der Netzhaut gröfser •oder mindestens ebenso grofs als der Durchmesser eines sensiblen Punktes ist. Fallen ihre Bilder innerhalb der Grenzen desselben Retinaelements, so können sie nicht gesondert wahrgenommen werden. Fallen zwei punktförmige Eindrücke auf zwei neben- <■. inander liegende sensible Punkte, so werden sie allerdings zwei Empfindungen hervorbringen, allein in der Vorstellung v\-erden diese beiden Eindrücke stets ohne Distanz aneinandergrenzen oder, wenn ihre Qualität dieselbe ist, als ein Eindruck von gewisser Breite er- scheinen, auch dann, wenn im Netzhautbild wirklich ein Abstand zwischen beiden Leuchtpunkten vorhanden ist, sobald nämlich der Durchmesser derselben kleiner, als der eines sensiblen Punktes ist. Denken wir uns z. B. zwei nebeneinander liegende sensible Punkte, so wäre es möglich, dafs zwei benachbarte Fixsterne Bilder von ge- ringerem Durchmesser so auf die Netzhaut würfen, dafs jedes Bild genau in das Zentrum eines sensiblen Punktes fiele, die Bilder also durch die freien Ränder beider sensibeln Punkte voneinander getrennt wären; wir werden in diesem Falle nicht zwei gesonderte Sterne, sondern nur einen einzigen am Himmel wahrnehmen. Betrachten wir zwei Spinnewebenfäden, die in geringem Abstand voneinander parallel ausgespannt sind, so werden wir einen einfachen Faden sehen, nicht nur, wenn die Bilder der Fäden auf dieselbe in einer Linie hintereinander liegende Reihe sensibler Punkte fallen, sondern auch dann noch, wenn dieselben auf zwei aneinander grenzende Reihen fallen. Damit sie gesondert wahrgenommen werden, eine Distanz 528 SCHÄRFE DES SEHENS. §127. zwisclion ihnen erkannt wird, ist es notwendi^^, dafs eine lleilie nicht von ihnen getroffener sensibler Punkte zwischen den beiden Reihen liegt, auf Avolche ihre Bilder fallen;, wir nehmen dann die Distanz wahr, indem wir uns in der Vor- stellung der nicht erregten freien oder von differenten Eindrücken erregten sensibeln Punkte bewufst Averdon, also auf dieselbe Weise^ unter derselben Bedingung, unter welcher nach Webers scharfsinniger Theorie die gesonderte Wahrnehmung zweier Eindrücke auf der Haut zustande kommt. Fallen zwei verschiedenfarbige Eindrücke auf zwei benachbarte Punkte, so werden wir zwei zusammenstofsende Objekt- ])unkte von entsprechender Farbe wahrnehmen, eine Distanz zwischen ihnen aber auch nur dann, wenn ein unberührter oder in andrer Qualität erregter sensibler Punkt zwischen den berührten liegt. Aus dem gesagten geht schon bervor, dafs ein einzelner punktfcirmiger Lichteindruck nicht notwendig einen oder mehrere sensible Punkte- ganz bedecken mufs, um wahrgenommen zu werden. Denn bei genügender Intensität des Lichtreizes würde die Erregung eines be- liebigen Flächenabschnitts eines einzigen sensiblen Elements stets- den gleichen Effekt wie diejenige der ganzen Fläche eines solchen auslösen müssen. Es wäre daher auch, wie Weber besonders her- vorhebt, ganz falsch, Avenn man zur Bestimmung der Schärfe der räumlichen Wahrnehmung untersuchte, wie klein ein Bild auf der Netzhaut gemacht werden kann, ohne dafs es unsichtbar wird. Diese Untersuchung kann uns, wenn wir die Intensität des Eindrucks in Rechnung bringen, nur über die Gröfse der Empfiu dlichkeit der Netzhaut belehren, die Schärfe des Raumsinns können wir nur messen, wenn wir, wie bei der Haut, prüfen, wie weit zwei diskrete Lichteindrücke auf der Netzhaut einander genähert werden können, ehe sie zu einem einzigen zu- sammenfliefsen. Die Schärfe des Raumsinns ist sehr ungleich an verschiedenen, Stellen der Netzhaut, sie ist am gröfsten am gelben Fleck, an dem Teile also, Avelchen das Ende der Gesichtslinie be- rührt, und nimmt von dort aus nach allen Seiten gegen die ora scrrata hin schnell und beträchtlich ab. Wir benutzen daher zum deutlichen Sehen nur jene bevorzugte Stelle, indem wir das Auge so drehen, dafs der zu betrachtende Gegenstand in die Verlängerung der Gesichtslinie, sein Bild auf den gelben Fleck zu liegen kommt. Einen Gegenstand fixieren heifst das Bild desselben auf den gelben Fleck einstellen. Nur auf die in seinen Bereich entfallenden Bilder pflegen wir unsre Aufmerksamkeit zu richten, die Bilder,, welche das übrige Retinafeld einnehmen, bleiben meist unbeachtet,, obwohl auch sie fortwährend empfunden werden, das ganze subjek- tive Sehfeld fortAvährend ausgefüllt ist. Es ist sogar nicht leicht, die Aufmerksamkeit von dem fixierten Gegenstand abzulenken und einem Teil des seitlichen Gesichtsfeldes zuzuwenden; unwillkürlich. §127, SCHAEFE DES SEIJENS. 529 sind wir geneigt, mit der Aiil'raerksamkeit auch das Auge zu ver- Avendeu, um deu Gegeustaud, auf den Avii' erstere ricliten wollen, in die Verlängerung der Sehaxe zu bringen. Auch ohne subtile Prüfungen weifs indessen jeder aus täglicher Erfahrung, wie klein bei völlig unverwandtem Auge der Teil des objektiven Sehfeldes ist, in welchem Avir scharf und bestimmt die Gegenstände Mahruehmen, wie mangelhaft und undeutlich, gleichsam nebelhaft, die seitlich, ober- und unterhalb dieser beschränkten Stelle befindlichen Gegen- stände erscheinen. Man schlage ein Buch auf und richte plötzlich unbefangen den Blick auf ein beliebiges Wort, so wird man, wenn man jede, auch die geringste Augenbewegung vermeidet, sich über- zeugen, dafs zwar die ganze Seite iind auch auiserhalb des Buches liegende Teile im Sehfeld vorhanden sind, wir aber nicht einmal das vorhergehende oder das zunächst auf das fixierte folgende Wort enträtseln können, weil es undeutlich mit verwaschenen Buchstaben erscheint. Nach Weber würden die Buchstaben, welche man gleich- zeitig bei momentaner Beleuchtung durch deu elektrischen Funken, bei Ausschliefsung also jeder Augenbewegung, deutlich erkennt, auf der Netzhaut nur einen Eauni von 0,7 bis i mm einnehmen. Ein weiterer einfacher Versuch ist folgender. Man beschreibt auf einer horizontalen Ebene einen Halbkreis (mit der deutlichen Sehweite als Radius) und sticht auf demselben in dem Abstand von 5*^ Steck- nadeln senkrecht ein. Bringt man nun das eine Auge (während das zweite geschlossen ist) so in die Ebene, dafs der Mittelpunkt des Halbkreises etwa mit dem Knotenpunkt des Auges zusammen- fällt, und richtet es so, dafs eine der Nadeln in die Verlängerung der Augenachse trifft, so werden aulser dieser auch noch die beiden nächsten rechts und links in der Entfernung von ö" steckenden Nadeln deutlich gesehen, die um 10" von der fixierten Nadel ent- fernten erscheinen schon undeutlich, noch weiter entfernte liefern nur nebelhafte verwaschene Bilder, und solche, die über oO — 40'^ von der in der Augenachse liegenden abstehen, werden gar nicht mehr wahrgenommen. Ahnliche Resultate erhält man, wenn man den Halbkreis vertikal stellt, nur dafs hier die Nadeln schon in etwas geringerem Winkelabstaud von der fixierten nach oben oder unten ganz undeutlich und unsichtbar werden (Valentin). Mit Hilfe der dioptrischen Gesetze läfst sich nun leicht berechnen, Avie grofs der Netzhautteil auf dem horizontalen und vertikalen Durchschnitt des Auges (durch die mncnla lutm) ist, welcher vollkommen scharfe Wahrnehmungen liefert und an welchem Punkte dieselben ganz auf- hören. Da nach Valentin ' die Nadeln bis zu 5*^ Abstand von der Sehachse zwar deutlich, aber nur bis zu 3" Abstand vollkommen scharf gesehen werden, so berechnet Valentin, dafs der Durchmesser der ' VALENTIN, Lclirh.'d. Hlui.tiol. ISil. ü. Ahtli. 1. p. 161, GlU'KNHAGEN. Phj'sioloei«^. 7. Anfl. H. M 5;i0 SCHÄRFE DES SEHENS. § 127. Not/h:iutstelle, welche deutliche Bilder liefert, 2 — 4 mm, derjenige, welche sie mit untadolliaftor Schiiri'o gibt, nur 1,4 mm beträgt; ersterer soll gerade dem gelben Fleck, letzterer der fovea centralis entsprechen. Die Ursache dieses ungleichen Perceptionsvermögeus verschiedener Netzhautpartien ist zum gröfsten Teil auf einen ver- schiedenen Entwickelungsgrad des Jlaumsinns innerhalb dei-selben. also auf verschiedene Zahl und Gröi'se der Empfindungspuukte, zurückzuführen, und zu einem kleinen Teil auf die Mangelhaftigkeit des dloptrischen Apparats, welche das Zustandekommen eines scharfen Fiildes auf der Netzhaut allerdings z^^ar in um so höherem Mafse behindert, je weiter der Richtungsstrahl des leuchtenden Objekts von der Sehachse abweicht, deren störender Einflufs aber keinesfalls in solchem Mafse wächst, dafs er die schnelle und sehr erhebliche Ab- schwächung des Raumsinns nach der Peripherie der Netzhaut hin auch nur einigermafsen genügend erklären könnte.' Beide im vorstehenden erwähnten Versuchsverfahren genügen im 'allgemeinen wohl, um die Abnahme des Perceptionsvermögens nach der Netzhautperipherie hin prinzipiell zu konstatieren, nicht aber, wenn es sich darum handelt, die auch für die ophthalmo- logische Praxis in so vielfacher Hinsicht bedeutungsvolle Frage nach der Gröfse des Gesichtsfeldes exakt zu erledigen. Hierzu hat man sich des schon früher (s. o. p. 456) beschriebenen Perimeters zu bedienen, auf dessen stellbarem Gradbogen man bei fester Kopf- lage den Scheitelpunkt fixiert und ermittelt, wie weit ein helles Ob- jekt, z. B. ein weifses Papierquadrat auf matt schwarzem Grunde, je nach der Stellung des Gradbogens auf- oder abwärts, links oder i'echts vom Fixationspunkte entfernt werden kann, ohne für die Wahrnehmung zu verschwinden. Die zahlreichen Beobachtungen, welche in dieser Richtung, seit A. v. Graefe- auf die praktische Wichtigkeit der zu lösenden Aufgabe aufmerksam gemacht hatte, veröffentlicht worden sind, haben übereinstimmend mit den spär- lichen älteren Angaben zu dem Resultate geführt, dafs das im Räume projizierte Gesichtsfeld des unbewegten Einzelauges eine irröfsere horizontale als vertikale Ausdehnung besitzt, und ferner unterhalb und auswärts vom Fixationspunkt weiter als emwärts und unterhalb von demselben reicht, Daten, welche in der neben- stehenden , Aubert entlehnten, dem rechten Gesichtsfelde desselben entsprechenden Abbildung Fig. 149 ihren klarsten Ausdruck finden. Auf die Netzhaut selbst angewandt, würde die Zeichnung also be- deuten, dals dem percipierendeu Bezirk medianwärts, d. i. ein- wärts von der fovea centralis, die gröfste periphere Ausbreitung ' zukommt. Bezüglich der absoluten Zahlen werte , welche die ver- ' Vjrl. AlilJEKT u. Förster, Arch. f. Ophthalm. 1857. Bd. HI. Abtli. 2. p. ]. — AUBEKT, rhnsltil. d. NetzhuHt. p. 237. — DOBROWOLSKY u. GAINK, PfLUEGERS Arch. 1S76. Hrt. XU. p. 411. - A. V. Graefe, Arch. f. Ophtlmlm. 1856. Bd. II. Abth. 2. p. 258. §12- SCHARFE DES SEHENS. 5;'.! scliiedenea Untersiiclier^ erlialten haben, beschränken -wir uns auf die den horizontalen und den vertikalen Meridian betreffenden, und verweisen dieserhalb aiif die beigefügte chronologisch geordnete Zusammenstel lunsr. liorizontal vertikal Venturi 135" 112" Th. Yoüng 150» 120" Purkinje 160" 140" Au BERT 145" 100" FOEESTEK 130 " 110" UsCHAKOFf 137—142" 114—120" Reich 149" 129" SCHOEN 145" 120—125" Landolt 150" 125" LlEVIN 139" 117" Fi-. ]40 Ein Vergleich dieser Zahlen mit den oben von Weber und Valentin für den Umfang des empfindlichsten Flecks der Retina berechneten ergibt unmittelbar, wie klein der letztere im Verhältnis zur gesamten Netzhautfläche ist. Die zum Teil nicht nuerheblichen Diffei'ei)zen der ajigeführten Mafse be- ruhen im wesentlichen wohl auf individuellen Eigentümlichkeiten, zumal die g-eprüften Augen keineswegs in allen Fällen dioptrisch gleich beschaffen waren. Während Uschakopfs und Reichs Mittelwerte nur aus Beobachtungen an nonnalsichtigen emmetropischen Augen berechnet sind, basieren diejenigen von LiEVTN auf Messungen an Augen mit sehr verschiedenartigen Refraktions- zuständen, und zwar von 48 mj'opischen (kurzsichtigen), 41 hypermetropischen (überweitsichtigen) und nur 10 emme- tropischen. Aufserdem hat aber auch die Gröfse des individuellen Gesichtsfeldes eine keineswegs absolute Konstanz, sondern vergröfsert sich im allgemeinen sowohl infolge fortgesetzter Übung, als auch bei gewissen Stellungsände- rungen des Auges, welche dasselbe dem den Lichtzutritt hemmenden Einflüsse des Nasenrückens, der Augenbrauen und Lider entziehen, als auch nach v. Hippel^ bei subkutanen Injektionen verdünnter Strychninlösungen in die Schläfegegend. Wie grofs der Einflul's des zweiten hier aufgeführten Moments für Aitberts (rechtes) Auge ist, zeigt die schraffierte Zone der Fig. 149. Sucht man nach einer Erklärung für diese Thatsachen, so gelangt man zu der Anschauung, dafs die äufserste Zone unsrer Retina eine nicht unbeträchtliche Zahl in lähmungsartigem Zustande liefindlicher Perceptionsapparate enthält, welche nur dann zu einer merklichen Aktion er- > YoUiNG. PliHomph. Transacl. 1801. p. 44. — PlKKIN.TK, lieohucht. n. Vers. z. Phi/s. il, Slmw. Berlin 1820. Bd. U. p. 6. — USCHAKOFF. Arch. f. Anat. v. P/iysio!. 1870. p. 4.54. — REICH. Materiaux xerranls « derinir lex llmitex du champ risvel. St. P^tcrsbour?. — SCHOEN, l>ie Lehre vnm Gesichtsfeld und seinen Animialien. — LANDOLT, Handh. d. pes. Aurjenheilk., Iierau3?egr. von A. Graefe u. Tn. SAEinscit. .Bd. ni. Abth.l. p. 5S u. 71. — LiEVIN, Üh. d. Gröfae u. Berirenzunp d. norm. Oexich'x/'pldes. Inauprural-Disserl. Könijjsberpr 1877. - V. Hippel, üh. d. Wirkung d. Stnichniv.i avf dcii norm. v. kranke Avge. Berlin 1873. 34* 532 SCHÄRFE DES SEHENS. § 127. weckt werden, wenn sie eutweder öfter in Gebrauch gezogen, oder durch stärkoi'e Lichtreize als gewöhnlich angesprochen, oder endlich künstlich, wie vermutlich durch das injizierte Strychnin, in einen Zustund gesteigerter Erreg- barkeit versetzt werden.' So einfacli das vorhin ausgesprochene WEBEiische Prinzip lautet, nach welchem wir ein Mafs für die Schärfe des Raumsinns eines hestimmten Teiles der Netzhaut auf experimentellem Wege gewinnen können, so ist doch die Ausführung der darauf begrün- deten Versuche, besonders aber die weitere Deutung der erhaltenen Werte, ihre Beziehung zur Gröfse der rausivischon Elemente der Netzhaut mit Schwierigkeiten und Unsicherheiten verknüpft. Ist auch der Grundsatz unantastbar, dafs die kleinste wahrnehmbare Distanz zweier Netzhauteindrücke ein Mafs für die Schärfe des Raumsinns abgibt, so i.st doch diese Distanz selbst im einzelnen Fall schAver mit absoluter Schärfe zu bestimmen und fraglich, ob dieselbe ohne weiteres dem Durchmesser eines Empfindungskreises der Netzhaut gleich gesetzt werden darf. Webers Versuchsverfahren ist folgendes. Er bestimmte, wie weit zwei weiise Parallellinien auf schwarzem Grunde durch einen ihrem Durchmesser gleichen Zwischen- raum getrennt vom Auge entfernt werden dürfen, ohne zu einer scheinbar einfachen zu verschmelzen. Aus dem mikrometrisch genau gemessenen Minimalabstand der Entfernung der Linien vom Auge wurde sodann nach den Regeln der Dioptrik unter Zugrundelegung der für ein mittleres Auge festgesetzten Werte die zugehörige Distanz der beiden Netzhautbilder der weifsen Linien berechnet. Weber fand auf diese Weise für den gelben Fleck eines normalen Auges die kleinste wahrnehmbare Distanz dieser Netzhautbilder 0,00110—0,00148'" oder 2—?> [i,. Es ist also nach ihm bei den schärfsten Augen der Raumsinn auf dem am feinsten fühlenden Teile der Netzhaut in der Gegend der Augen- achse unter sehr günstigen Umständen ungefähr 840 mal feiner als an den Fingerspitzen und 420 mal feiner als an der Zungenspitze; bei minder scharfen Augen etwa 400 — 600 mal schärfer als an er- steren und 200 — 300 mal schärfer als an letzterer. Andre Beol)- achter^ hatten nach andern oder derselben Methode meist etwas gröfsere Werte für die kleinste wahrnehmbare Distanz gefunden, be- sonders hohe bei seinen früheren Versuchen Volkmann, nach wel- chem zwei Spinnwebfäden auf weifsem Grund aufhörten doppelt zu erscheinen, Avenn sie weiter als 0,00477'" (10 //), zwei schwarze Linien auf weifsem Grund, wenn sie weiter als 0,00348'" (7 fj) einander genähert wurden. Allein gerade Volkmann hat erstens diese urspi'ünglichen Werte nachträglich bedeutend reduziert, zweitens ' Vgl. Purkinje, Beobachf. etc. Bd. II. p. 7. — A. V. Grakfk. Arch. f. Opihulm. 1856. Bd. II. Abth. 2. p. 2.5S. — AUBERT, Phtisiol. d. Netthaut. p. 255, u. Hamlh. d. yex. Av(ie.nheilk., her- .ausgeg. von A. GUAEFE u. TH. Saemisch. Bd. II. p. .593. — LiEVIX, a. a. O. 2 Vgl. darüber HELMHOLTZ, Phisiol. Optik, p. 218. §127. SCHÄRFE DES SEHENS. 533 nachzuweisen gesucht, dal's sie nicht als direkte x^usdrücke für die Schärfe des Raumsinns gelten dürfen, drittens dals dieselben durch Übuns: in erheblichem Mafse verkleinert, die Schärfe des Raum- sinns des Auges demnach in gleicher Weise wie die des Ortssinns der Haut verfeinert werden kann, mithin die Differenzen in den Resultaten verschiedener Beobachter zu einem grofsen Teil auf ver- schiedenen Graden der Übung der betreffenden Augen beruhen. Bei Volkmanns neueren au 17 verschiedenen Personen angestellten Ver- suchen schwankte die kleinste erkennbare Distanz des xNetzhautbil- des zweier schwarzer Paralleilinien auf hellem Grund zwischen 2,4 u. 7,7 fi, betrug im mittel 4,2 (j. Wurden bei einer und derselben Person das Mittel aus je hundert hintereinander angestellten Ver- suchen gezogen und die Mittelwerte einer Reihe sich folgender Ver- suchscenturien verglichen, so ergab sich eine regelmäfsige allmähliche Abnahme dieser Werte, also eine regelmälsig mit der l^bung wach- sende Verfeinerung des Raumsinns; in einem Fall wurde z. B. die kleinste Distanz im Verlauf von 8 Versuchscenturien auf weniger als die halbe Gröfse reduziert. Volkmann behauptet nun aber weiter, dafs allen Bestimmungen der Schärfe des Raumsinns, bei welchen die kleinste wahrnehmbare Distanz der Netzhauteindrücke unter der Voraussetzung vollkommen scharfer Netzhautbilder berechnet werde, ein konstanter Fehler anhafte, welcher auf der Vernachlässigung der stets vorhandenen Irradiation beruhe und die gesuchte Minimal- distanz beträchtlich zu grofs ausfallen lasse. Da die stets vorhan- denen, auch bei vollkommener Akkommodation durch die Asym- metrie der brechenden Flächen bedingten Zerstreuuugskreise der schwarzen Linien in den hellen Zwischenraum übergreifen, so dürfe man als kleinste wahrnehmbare Distanz nur den von den Zerstreuungs- kreisen freien Zwischenraum in Rechnung bringen, müsse also von den nach Weber berechneten Werten den Durchmesser eines Zerstreuungskreises abziehen. Volkmanx hat die Gröfse der Zerstreuungskreise bei denselben Personen unter denselben Verhält- nissen, unter denen die kleinste wahrnehmbare Distanz bestimmt wurde, direkt gemessen und bei jenen 17 Personen im mittel = 2 fj gefunden; es wäre folglich die kleinste erkennbare Distanz im mittel nur 2,2 //, nicht, wie oben angegeben, 4,2 fi, demnach nur halb so grofs, als bei vernachlässigter Irradiation. In einem Fall wurde der Minimalwert durch Abzug der Zerstreuungskreise sogar auf 0,5 fi reduziert. Die steigende Verkleinerung des Retinabildes kann man in doppelter Weise erzielen, entweder dadurch, dafs man die parallelen Drähte durch feine Schraubenvorrichtungen einander näher und näher bringt, also durch Ver- kleinerung des Objekts selbst, oder zweckmäfsiger noch auf optischem Wege mittels des VoLKMAXNschen Makroskops, einer Sammellinse von 15—50 mm Focus, welche, in einem geschwärzten ausziehbaren Metallrohre befestigt, auf einem Stativ auf und nieder bewegt werden kann. Dieselbe entwirft von dem ()l)jekte 0 ein Luftbild b, welches aus verschiedenen willkürlich durch Aus- Ö-M 8CHÄRFE DES SEHENS. § l-*"- zieht'u des Ilohrs zw regulierenden Entfernungen W IjeLrachtet werden kujiu. Ist E die Distanz des Objekts o von der Linse, e diejenige des Luftbildes h e . 0 von derselben, so ist die Gröfse von b gegeben diircli die Fonnel — ^~, die Tangente des Gesichtswinkels von h aber ^^= - . Hat J^ einen sehr viel W gröfseren Wert als die Brennweite der Linse /', so kann man /' ohne Bedenken r «deichsetzen, wodurch denn die Tangente des Gesichtsvt'inkels = '-^ W.E wird. Auf einem andren Wege als Volkmaxx hat Gl. du Bois-REYMoxn ^ den eben noch warnehmbaren Abstand zweier Retinabilder bestimmt. Er liefs helles Tageslicht durch eine mit zahlreichen feinen gleichweit voneinander entfernten Öffnungen versehene Staniolplatte in sein Auge fallen und suchte denjenigen Abstand derselben von letzterem auf, bei welchem die einzelnen Löcher eben noch scharf in gesonderten Bildern wahrgenommen werden konnten. Hierbei fand sich, dafs die Grenze der Unterscheidbarkeit erreicht war, wenn die Zahl der im Retinabilde zusammengedrängten Lichtpunkte der lialben Zapfenzahl der Netzhautgrube entsprach, eine völlige Verschmelzung der in Quiukunxordnung gestellten Punkte zu kontinuierlichen Lichtlinien aber erfolgte, wenn bei gröfserem Objektabstande die Anzahl der diskreten Einzel- reize und diejenige der Foveazapfen (ca. 150 auf 0,01 qmm) einander nahezu deckten. Ob hieraus geschlossen werden kann, dafs die Seheinheit durch die histologische Einheit des Zapfens und der kleinste wahrnehmbare Abstand durch das Querschnittsmafs einer solchen (Aufsen- oder Innenglied?) dar- gestellt werde, bleibt indessen zweifelhaft (s. u.). Es kann niolit fraglicli sein, dafs in der Irj'adiatiou der Licht- i'eize eine Fehlerquelle verborgen liegt, welche bei einer Bestimmung der kleinsten wahrnehmbaren Distanzen in Betracht zu ziehen ist; es bleibt dagegen sehr zweifelhaft^, ob die Irradiationsgröl'se wirklich eine solche Konstanz besitzt, wie sie Yolkmann im Grunde doch nur voraussetzt, und wie sie freilich durchaus erfordert wird, wenn das von ihm geübte Subtraktionsverfahren ein richtiges Ergebnis liefern soll. Volkmann ermittelt dieselbe dadurch, dafs er zwei Parallellinieu auf hellem oder dunklem Grunde, z. B. zwei dünne Silberdrähte von 0,05 mm Breite [b] auf hellem oder dunklem Grunde, so lange einander nähert, bis dem Beobachter die Distanz d zwischen beiden eben so grofs erscheint wie die' Breite b; die Differenz d — ?> = ,5' ist ihm die gesuchte Irradiationsgröise, und wird von der in einem besonderen zweiteu Versuche gefundenen kleinsten wahrnehmbaren Distanz d^ abgezogen. Hierbei macht jedoch V(^lk- MANN die unerwiesene Annahme, dafs die Irradiation das Urteil des Beobachters beidemal trotz der Verschiedenartigkeit der zu lösen- den Aufgabe in ganz gleichem Mafse beeinflufst, eine Annahme, dei'en Berechtigung wir schon deshalb für anfechtbar erklären müssen, weil nach Volkmanns eignen, von Aubert bestätigten Unter- ' CiL. VV üüIS-REY-MONU, ÜIj. d. Zahl d. JCiiipjindnng.skreUe in dar Xelzhuutgrubc. Dissert. Berlin 1881. '^ Vgl. Aubert, Phi/üol. d. Netzhaut, p. 222 u. fg., u. Handh. d. r/es. Auaenheilk., liPMusgecr. von A. Gkaefk u. Th. S.\E>IISCH. Bd. II. p. 583, u. O. FUNKE, dieses Lehrb. IV. Aufl. p. 307 u. (g. s § 127. SCHÄRFE DES SEHENS. 53Ö sucliungeu die Irracliationsgröfse ,* mit der Grüfse der Xetzhautbilde}' und zwar iu entgegengesetzter Richtung variiert und darum eine Modifikation derselben auch /ai erwarten steht, wenn sich die eben- falls als Bildobjekt aufzufassende Liniendistanz und mithin die auch dieser eigentümliche Irradiation verändert. AVir müssen somit schliefsen, dafs eine genaue Mafsbestimmung der kleinsten wahr- nehmbaren Distanz wegen der unberechenbaren Ausbreitung des Lichtreizes auf der Retina sei es durch Irradiation, sei es, was ebenfalls iu Betracht kommen könnte, durch Miterregung der Nach- ' _ OD barschaft (s. o. p. 486) unausführbar ist. Die Untei-suchung der zentralen Sehschärfe ist für die Augenheilkunde von hoher Wichtigkeit. Da sie jedoch niemals die absolute, sondern stets nur die relative Sehschärfe, d. h. die Abweichung von der Norm festzustellen be- absichtigt, so genügt es ihr zu erfahren, wie klein ein bestimmtes ßetinabild bei normal beanlagtem Auge sein darf, um in seinen Details richtig aufgefafst zu werden. Buchstaben oder überhaupt irgend welche Zeichen von bestimmter Gröfse und Form in l^estimmter Entfernung deutlich erkannt geben ihr daher einen völlig befriedigenden Aufschlufs über den Grad der vorhandenen Seh- schärfe. Selbstverständlich müssen etwa vorhandene Kefraktionsanomalien be- rücksichtigt und durch zweckentsprechende Verwendung passender Brillengläser kori'igiert werden. Denn offenbar wird ein Kurzsichtiger z. B. trotz normaler Selischärfe eine bestimmte Druckschrift mit unbewaffnetem Auge nicht in der- selben Entfernung entziffern können, in welcher dies vermöge der abweichen- den Strahlenbrechung von einem Normalsichtigen geschieht. Genauere An- gaben über die in der Praxis üblichen Methoden der Sehschärfenbestimmung, die sogenannte Eidoptometrie, gehören nicht hierher, sondern müssen in den Handbüchern der Augenheilkunde ^ eingesehen werden. Die aul'serordentlich rasche Abnahme der Schärfe des ß,aum- siuns vom gelben Fleck nach dem Rande der Retina hin ist Gregen- stand sorgfältiger Beobachtungen von Yolkmanx, Aubert und FoEiiSTER, DoBROWOLSKY und GrAiXE gewesen.'' Berücksichtigt man die Korrekturen, welchen Dobröwolsky und Gaine die von Aubert und Foerster gefundeneu Zahlen unterzogen haben, so herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, dafs die Abnahme der Seh- schärfe vom Zentrum nach der Peripherie anfänglich am raschesten, dann langsamer und gleichmäfsiger erfolgt. Nach Dobröwolsky und GrAiNE liegt der Bezirk des schnellsteu Abfalls noch ganz im Bereich der macula lutea, an deren Rand die Sehschärfe nur noch ^/:i — ^/i der zentralen beträgt, während sie bei geübten Augen für je 20^ Bogenabstand auf dem inneren Quadranten der Netzhautperipherie progressiv nur um die Hälfte, auf den übrigen Quadranten durchschnitt- lich etwa um den 2 V-' fachen Wert absinkt. Ausgenommen siud hier > Verl. z. U. Ilandb. iL tm. Au'ienheitk., Iici:iusi;e2. v. A. GrAKFE u. Tu. SAi:.MISt;n. 1874. Bd. HI. p. 1 — 11). ■2 VOLKM.\N.\, R. WAGNEUs Handuwr"'. IJd. HI. Abth. 1. p. 333.— AüISERT ii. FütnjöTEK, Arch. f. Opkthulm. 1857. Bd. UI. Abth. 2. p. 1. — AUHKllT. Phiixiol. d. Netzhaut. IStw. p. 237. — DOBKOWoLSKY u. GAINE, PFLUEüEKs Arch. 1876. Bd. XU. p. 411. — V{?1. aufserdern BURCUAUDT, Internationale Sehproben zttr Bestiminanq der Sehschärfe u. Sehtmute. 1871. p. 21. — I^ANUoLr, llundb. d. qes. Auqe.nheilh., herausgep. von A. GRAEl-E u. Tu. SAK.MISCn. 1874. Bd. III. p. 1. 536 i;UN DER FLECK. i? 127. die äulsersten Zonen der i!Vetzhaut, wd die Sekschärfe wiedej- in einem schnelleren Verhältnis abnimmt. In einem öV-i Monate lang geübten Auge war die SehschäTfe mich I)o- BROWOLHKY untl (rAiN'K in 20^' Bogenabstanfl nach einwärts vom Zentrum auf Vie, in 40" auf '/-jo, in tJO" auf V-to, in 70" auf V'oo, nach auswärts im Zcnitrum in 20" Bügenabstand auf Vio, von 40" auf ^/m, von 55" auf '/?«, nach unten und oben vom Zentrum in 20" Bogena1)stand auf V^o, in 40" auf 'Ao und in 45 bis 50" auf '/»o gesunken. Die verschiedenen Meridiane der Netzhaut verhalten sich nach den Angaben der meisten Beobachter in bezug auf die Abuahme- geschwindigkeit der Sehschärfe ungleich, nur darüber bestehen wohl aus individuellen Eigentümlichkeiten zu ei'klärende Widersprüche, welchem der Netzhautmeridiane die gröl'ste, welchem die kleinste Abnahraegeschwindigkeit zukommt. Nach den Untersuchungen von AuBEiiT und FoERSTER stumpft sich die Sehschärfe schneller ab in der Richtung der vertikalen Meridiane als in derjenigen der horizontalen, am laugsamsten nach der äufseren (Schläfen-) Seite der Netzhaut hin. Erwähnung verdient endlich noch, dafs der Einflufs der Übung auf die peripherische Sehschärfe viel erheblicher als auf die zentrale ist. Nach den '^i'abellen von Dobrowolsky und Gaine konnte sie in 45 "^ Abstand von der fbvea coitralis durch methodisch wiederholte o'/i monatliche Prüfungen von V200 auf V20, also um den lOfachen Beti'ag, in einem Abstand von 08*^ dagegen nur um den 4 fachen, von V'" Jiwf Vit, und in einem Abstand von 30" sogar nur von Vso auf Vi:., also nur noch um den doppelten Betrag gesteigert werden. Wir werden diese Erfahrungen kaum anders deuten dürfen, als dafs die peripheren Zonen der ungeübten Retina mit Percep- tionsorganen von geringerer Leistungsfähigkeit als die zenti'alen ver- sehen sind, durch öfteren Gebrauch indessen eine Vervollkommnung ihrer Funktion erfahren können. Je näher die percipierenden Organe der ora serrafa liegen, und je seltener demnach ihre Benutzung zu Sehzwecken ist, in desto tieferem Schlummer befinden sich die ihnen inwohuenden Fähigkeiten, desto gröfser ist aber auch die Differenz ihrer Leistungen im geübten und ungeübten Zustande. Der im ganzen regelmäfsig progressive Abfall, welchen die Seh- schärfe zwischen fvvm centralis und ora serrafa erleidet, wird an gewissen Punkten, an welchen die gesamte Perceptionsfähigkeit der Retina verloren geht und somit auch die Sehschärfe auf Null her- absinkt, plötzlich unterbrochen. Es sind dies die sogenannten blinden Flecke der Lletina, unter denen der bedeutendste der Eintrittsstelle des Opticus entspricht und seit Mariotte ^ bekannt ist, eine Anzahl kleinerer zuerst von Cocciüs"^ nachgewiesen worden ist und von ihm durch die Einlagerung gröfserer Blutgefäfse in die Netzhautsubstanz • M.\PaOTTK, Philosoph ical Tranxuctions. 1868. Vol. III. p. 66S. - COCCIUS, 0/auconi, Kntzünd. ii. iL Autopsie d. Ani/es. T.cip/.itr 1859. p. 42. — AlIBKIlT u. FoiCRSTKR, Arcli. f. Oiihlhalm. 1857. Bd. HI. Abth. 2. p. 32. ^127. BLINDER FLECK. 537 <:'rklürt wird. Der Mariot TEscbe Fleck verdankt seine Existenz dem Umstände, dafs die lichtpercipierendeu Elemente, die Stäbchen und Zapfen, wie bereits früher geschildert, der papüla nervi optici fehlen, die von Coccius entdeckten der Lichtabsorption durch das Blut, welches die hinterwärts gelegenen Stäbchen und Zapfen be- schattet. Wir geben zunächst den einfachsten Versuch, welcher die Existenz des MARiOTTEschen Flecks^ beweist und zugleich zu Be- stimmungen seiner Lage im Auge benutzt werden kann. Schliefst man das linke Auge, hält das rechte senkrecht über den linken Fis. 150. + ächwarzeu runden Fleck der beistehenden Figur (welche so zu halten ist, dafs die V^erbiudungsliuie der drei Objekte der Verbindungslinie beider Augenmittelpuakte parallel ist) und nähert das Auge, wäh- rend man diesen Fleck unverwandt fixiert, seine Aufmerksam- keit aber auf das seitlich im Sehfeld erscheinende schwarze Kreuz richtet, allmählich dem Papier, so wird bei einem gewissen Abstand des Auges vom Papier (15 cm) das Kreuz unsichtbar, während der weiter nach rechts im Sehfeld vorhandene rechte runde Fleck sichtbar bleibt. Nähert man das Auge noch weiter oder entfernt es wieder, oder verrückt mau den Fixationspunkt, was bei Augen, welche nicht geübt sind die Aufmerksamkeit vom Fixationspunkt abzulenken, leicht unwillkürlich geschieht, so taucht das Kreuz im Sehfeld wieder auf. Schliefst man das rechte Auge, so verschwindet das Kreuz dem linken, wenn dasselbe den äufsersten rechten Punkt aus gleicher Entfernung fixiert. Ohne Einflufs auf das Gelingen des Versuchs ist, ob die Stelle des Kreuzes, wie in der Abbildung der Fall, durch ein schwarzes (Dbjekt oder ob dieselbe durch ein hell- ieuchtendes eingenommen wird. Selbst eine Kerzenflamme oder der Mond, oder gar das von einer Sammellinse entworfene blendende Sonnenbild (A. Fick und P. du Bois-Reymond) sind zum Ver- schwinden zu bringen. Obwohl wir erst unten vom Sehen mit zwei Augen handeln werden, wdrd doch das folgende verständlich sein. Haben wir den obigen Versuch mit dem rechten Auge angestellt, so wird das verschwundene Kreuz augenblicklich wieder sichtbar, sobald wir das linke Auge öffnen und den Punkt binokular fixieren. ' Vgl. E. H. Webeu, Berichte d. k. S. Ges. d. Wiss. Math.-phys. Cl. 1852. p. 85 (1-19). — UANNOVEK, Beitr. :. Anat. u. Phi/siol., Pathol. d. Auges. Leipzig 1852. p. 'J6. — A'OLKMANN, R. WAGNERS ffandwörth. d. Phi/sioL Bd. lU. Abth. 1. p. 271, u. Ber. d. U. S. Ges. d. Wiss. Math.- phys. 01. 1853. p. 27. — A. FiCK u. P. Du BoiS-REYMOND, Arch. f. Anat. u. Phisml,. 185S. p. 396. — HelmhOLTZ, P/n/shf.. Optik, p. 2Ü9 u. 575. — V. WlTTIOH, Arch. f. Ophthalm. 1803. Bd. IX. Abth. 3. p. 1. — O. FUNKE, Ber. d. naturf. Ges. zu Freiburg. Bd. III. Heft 3. p. 1. — AUBERT, Phnsi'il. d. Netzhaut, p. 257, u. Ilandb. d. ges. Augenheilk., heraii.sgeg. von A. fIKAEKE u. Th. SAEMISCII. Bd. II. p. 595. 5;)8 BLINDER FLECK. §127. e.s bleibt diibei das Kivuz füj' das recbte Anor Vkü ihm die Form des Kreuzes, welclie sie wiederherstellte, und liels sich dadurch auch bestimmen, nur die Farben der j>ekreuzten Streifen, von denen sie als irleicliwahrscheiidich bald die eine, bald die andre wählte, zur Ausfüllunu- zu benutzen, nicht aber die Farbe des Orundes, obwohl ein beträcht- licher Teil der an den blinden Fleck grenzenden Netzhautteile auch von dieser eingenommen wird. Ijezeichnete er ferner ein weifses Papier mit hirsekorn- gi'ofsen um je 1'" voneinander entfernten Punkten, legte auf eine Stelle desselben eine kleine Scheibe so, dafs ihr Rand nirgends einen der schwarzen Punkte berührte, und sorgte dafür, dafs das Bild der Scheibe genau den blinden Fleck einnahm, so ^erschien ihm an der Stelle der verschwundenen Scheibe punktierter Grund, nicht rein weifser, obwohl die Eandpunkte um den blinden Fleck nur von weifsen Eindrücken erregt sind. Die Vorstellung be- achtet also nach Voi.kmaxx auch die entferntei'en Teile des Gesichtsfeldes. Wurden weiter auf eine schwarze Scheibe nacheinander blaue Scheiben von verschiedenem Durchmesser so aufgelegt, dafs sie einen schwarzen Saum von verschiedener Breite frei liefsen, und fiel das Bild der blauen Scheiben auf den blinden Fleck, so erschien Volkmanx die Lücke nur dann schwarz, wenn die Breite des schwarzen Saums mindestens Ve des Durchmessers der blauen Scheibe betrug, bei schmäleren Säumen nebelhaft grau oder weifs. Legte YoLKMAXX endlich eine farbige Scheibe auf Gedrucktes und brachte deren Bild auf den blinden Fleck, so erschien ihm die Lücke mit Schriftzeichen aus- gefüllt, die geringe Deutlichkeit der Bilder in den Seitenteilen des Sehfeldes gestattete jedoch nicht die Buchstaben zu erkennen. In betreff aller dieser Versuche gilt das oben Gesagte. Zur Ergänzung und wohl auch zur Wider- legung desselben teilen wir hier nur noch eine durch v. Wittich hervor- gehobene thatsächliche Erfahrung mit, aus welcher direkt folgt, dafs die Ein- bildungskraft die angebliche Lücke zuweilen durchaus nicht in der Art, wie es am einfachsten und wahrscheinlichsten ist, zu ergänzen vermag. Bringen wir den Kopf eines Menschen auf den blinden Fleck eines unsrer Augen, so ei'gänzt ihn die Einbildungskraft nicht, obwohl eine andre wahrscheinlichere Ergänzung gar nicht denkbar ist. Dem jMARiOTTEschen Fleck stehen die von Coccius nach- gewiesenen blinden Retinabezirke an Grfjfse erheblich nach. Für die Kontinuität des subjektiven Sehfeldes haben sie aus gleichen Gründen ebensowenig Bedeutung wie jener. Um ihre Existenz fest- zustellen, hat Coccius empfohlen, ober- und unterhalb einer von der Projektion des MAP.ioTTEschen Flecks bedeckten, irgendwie umgrenzten Papiertiäche einen kleinen Strich als Signal anzubringen, zu beiden Seiten derselben dagegen eine fortlaufende Reihe von Punkten. Läfst man das Auge alsdann allmählich über die letzteren fortwandern, so beobachtet man beim Fixieren des einen oder andren derselben ein plötzliches Verschwinden sei es des oberen sei es des unteren Strichs, Avoraus unmittelbar folgt, dafs die von dem Bilde des be- treffenden Signals eingenommene Retinapartie für Lichteindrücke ebenso unempfänglich ist, wie die Eintrittsstelle des Opticus selbst. Die Abhängigkeit, welche den mitgeteilten Erfahrungen gemäfs zwischen Sehschärfe und anatomischem Bau der iSI^etzhaut besteht, lest schliefslich die Fraije nahe, welcher Art die anatomischen Grund- lagen sind, auf denen der Raumsinn des Auges beruht . mit andern Worten, was wir unter den Empfindungskreisen zu verstehen haben, aus welchen wir uns die Retina mosaikartig zusammengesetzt denken § 127. BLINDER FLECK. 543 müsseu. Eine befriedigeutle Antwort auf diese Frage Avird immer mir mit Rücksiclit auf dasselbe physiologische Gesetz zu geben sein, auf -welches die entsprechende Antwort beim Tastsinn begründet war: eine und dieselbe Nervenfaser kann nicht gleichzeitig zwei Empfindungen erzeugen. Es kann demnach eine Retinaprovinz, welche nur von einer Opticusfaser versorgt wird, immer nur eine einfache Empfindung erzeugen, soviel Eindrücke auch gleichzeitig auf sie gemacht werden; es kann also auch nicht mehr als ein Empfinduugskreis in den Verbreitungsbezirk derselben Opticusfaser fallen. Dürfen wir nun, und daran ist kein Zweifel mehr, die Stäbchen und Zapfen als die Apparate betrachten, auf welche die Lichtwellen wirken müssen, um überhaupt eine Opticusfaser zu er- regen, so müssen wir annehmen, dafs die Gröfse und Gestalt der Empfindungskreise , durch die Zahl der Zapfen und Stäbchen, in Avelchen je eine Opticusfaser endigt, bestimmt werden. Die Jacor- .sche Haut zerfällt hiernach in eine Mosaik von Empfindungsbezirken, deren jeder die Endapparate je einer Sehnervenfaser enthält. AVeiter wissen wir aus den eben erörterten Thatsachcn, dals diese Bezirke am gelben Fleck, und zwar besonders in dessen fovea rcntralis-, am kleinsten sind, von da nach allen Seiten hin beträchtlich schnell an Gröfse zunehmen. Diese physiologischen Yerschiedeuheiten mit gewissen histolo- gischen Befunden in Zusammenhang zu bringen, liegt ungemein nahe. Es steht fest, dafs die fovea centralis und die mactila hifea nur Zapfen, keine Stäbchen führen, dafs die Zapfeninnenglieder der ersteren einen um das doppelte geringeren Durchmesser als die- jenigen der letzteren besitzen, dafs endlich die Zapfen der mehr peripherisch gelegenen Retinazonen durch eine mehr oder weniger gröfse Zahl von Stäbchen auseinandergedrängt werden (s. o. p. ol9). Im allgemeinen, findet sich also, ist die Zahl der Zapfen auf der Flächeneinheit der Netzhaut am gröfsten in der fovea cciüraJis, schon um das doppelte kleiner in der macida liifea, und noch ge- ringer in den seitlicheren Teilen der Retina. Es drängt sich hier- nach A'on selbst die Hypothese auf, dafs die Empfindungskreise der Retina durch je einen Zapfen, welchem sich an den peripheren Punkten eine verschiedene Anzahl a-ou Stäb- chen zugesellt, repräsentirt Averden, dafs folglich soviel empfindungvermittelnde Einzelfasern als Zapfen A'orhanden sind. Um diese bestechende Hypothese sicher zu begründen, bedarf es erstens des anatomischen NachAveises, dafs am gelben Fleck je ein sogenannter Zapfen mit je einer isoliert zum Hirn laufenden Opticusfaser verbunden ist, nach aufsen vom gelben Fleck dagegen zu je einer Opticusfasei' eine geringere oder grofsere Anzahl a'oii Stäbchen als Endapparateu gehört, und zwar so viel, als an einer gegebenen Stelle der Retina Stäbchen auf je einen Zapfen, welcher gewissermafsen den Markstein des betreffenden Empfindungskreises 544 BLINDER FLECK. § Ü^T- bildet, koniivieii. Zwoitons bedarf os des Kachweises, dafs der durcli das ])bysi()lojj^ische Ex])eriment festgestellte Dnrcbmesser eines Ern- plindimgskreises mit dem Durchmesser des hy])()tlietisch für den- selben abgegrenzten anatomischen Gebiets übereinstimmt, also am gelben Fleck mit dem Durchmesser je eines Ziipfens, an der Peri- pherie mit dem Dui'chmesse]- dei' durch die Znpi'eii als Zentra ab- gegrenzten Stäbcheiige])iete. Der erstgenannte Kachweis ist zur Zeit noch nicht geführt und wegen des sehr verschlungenen und vielfach gespaltenen Verlaufs der Nervenfasern kaum jemals zu erwarten. Was zweitens den Nachweis der Übereinstimmung zwischen den Durchmessergröfsen der physiologischen und anatomischen Empfindungskreise betrifft, so haften, wie bereits (p. 53ii) ei'wähnt, dem Experiment infolge der Lichtirradiation auf der Retina Mängel an , Avelche weder ganz ausgeschlossen noch mit Genauigkeit in Rechnung gebracht werden können. Und hierzu kommt ferner, dafs ein Vergleich zwischen den iMafswerten der histologischen und physiologischen Retinaeinheiten Bedenken hat, solange keine Eini- gung darüber erzielt ist, welcher Teil der Foveazapfen dem licht- percipierenden Organ entspricht, ob das Innen- oder das Aufsenglied, ob also der Durchschnitt des ersteren von ca. 2,5 fß oder deijenige des letzteren von ca. 1 // als Mafseinheit angesehen werden soll. Aus den histologischen Ermittelungen hat man vielfach geschlossen, dafs mau in dem Zapfenin neuglied das lichtempfindliche Organ zu erblicken habe, anderseits i.st aber auch die folgende physiologische Erfahi'ung verwertet worden, um gei-ade dem Zapfenaufsengliede diese wichtige Rolle zuzusprechen.^ Betrachtet man eine weil'se Papier- tläche, welche mit feinen schwarzen Punkten von 0,5 mm Durchmesser in je 5 mm Abstand bedeckt ist, durch ein Makroskop (s. o. p. 533) im verkleinerten Bilde , so sieht man die Punkte derselben, wenn die Gröfse ihrer Retinabilder mindestens bis auf 4 — 6 // reduziert worden ist, im Umkreise de.s Fixationspunktes wie von schwärmender BeM'eguug ergriffen, in wechselndem Spiele bald verschwinden, bald wieder aus der Leere emportauchen, nur der fixierte Punkt selbst und die 6 um ihn herum liegenden verharren in Ruhe. Es fällt sonach der Beginn des Punkttauchens in eine Gegend der niaada lutea^ wo die Durch- messer der Zapfeninnenglieder schnell auf 4 — (5 ^i wacli.sen. Die ganze Erscheinung erkläi't sich mithin sehr einfach, wenn man an- nimmt, dafs die Retinabilder der unsichtbar gewordenen Punkte zwischen zwei Zapfenstäbchen auf die Zapfei]körper gefallen, die der wiedererschienenen infolge übrigens ungemein klein zu taxieren- der Augenbewegungen mit einem Zapfenstäbchen in Berührung gebracht worden sind. Die macula Infra enthält also Lücken, ' Hessen Ai-c/,. j.pathol. Ana'. 18C5. Bd. XXXIV. p. 401: 1867. Bd. XXXIX. j). 475. § 128. PRIMITIA'E RAUMANSCHAUrXGEX. 545 welche ilirer Gröfse nach dem Durchmesser eines Zapfeukörpers entsprechen , die percipierenden Elemente müssen somit die Zapfen- stähchen sein. Folgt hieraus aber, dafs sie auch die Repräsentanten der phy- siologischen Empfiüdungskreise sind? Nach den l'ntersuchungen Volkmanns würde allerdings der kleinste wahrnehmbare Abstand zweier Retinabilder ungefähr demjenigen eines Aufsengliedquerschnitts gleichgesetzt werden können, nach derjenigen Albeets aber hat das kleinste wahrnehmbare Bild eines nicht zu intensiv leuchtenden und gegen seine Umgebung nicht zu stark kontrastierenden, also möglichst wenig irradiierenden, Objekts im mittel einen Gesichts- winkel von 35", entwirft folglich, wenn wir die Entfernung des hinteren Knotenpunkts von der Retina auf 15 mm annehmen, ein Netzhautbild von 2,5 /i , deckt mithin ungefähr den Querschnitt eines Zapfenkörpers der Fovea, und nach Gl. du Bois-Reymonus Beob- achtungen weiden leuchtende Punkte in der Wahrnehmung nicht mehr voneinander getrennt , sondern verschmelzen untereinander zu ununterbrochenen Lichtliuien, sobald ihr Flächenbild auf der Retina eine ihrer Zahl entsprechende Vielheit von Zapfen deckt. ^ Die Ergebnisse der experimentellen Forschung lassen also bis hier- her, wie man erkennt, die Frage ob Aufseu- oder Innenglied un- entschieden und bieten höchstens Anlafs, in den Foveazapfen als solchen die gesuchte Seheinheit zu vermuten. Eine audrenorts zu besprechende Thatsache, die Sichtbarkeit der Zapfenaufsenglieder im entoptischen Bilde ", verträgt sich indessen mit dieser Auffassung ganz und gar nicht und führt im Gegenteil zu dem umgekehrten Schlüsse, dafs die h}-pothetische psychische Einheit des Raummafses mit der histologischen des Zapfens überhaupt nichts zu schaffen hat. §128. Die primitiven räumlichen Wahrnehmungen. Alle unsre Gesichtsempfindungen setzen wir unmittelbar in die Aufseu weit, objektivieren sie; niemals beziehen wir eine solche auf unser empfindendes Ich, niemals auf einen Zustand des Sinnesorgans, durch dessen Vermittelung sie zuwege gebracht wird, der Netzhaut; wir kommen überhaupt nie auf direktem AVege zur Erkenntnis der Existenz einer percipierenden Fläche und eines auf ihr entworfenen verkehrten Bildes der Aulsendinge als nächster Ursache der Empfindung. Es ist dies ein wesentlicher Unterschied des Gesichtssinns vom Tastsinn; auch die Tast- empfindungen objektivieren wir, aber unmittelbar; die Vorstellung 1 VOLKMAXX, Gl. Du BOIS-Reymond, a. a. O. dieses Lelirb. p. 534. — AllSKl'.T, Haniih.'d. pps. AiniPnhfilk., heraus'reg'. von A. GrAEFE ii. Tn. SAEMISCH. Bd. II. p. 578. ' 2 s. dieses Lfhrb. §• i:U. GrUKNRAGEX, Pbv-iolotrie. 7. .\ufl. II. "^•'^ :)40 PKBIITIVE EATMANSCHAUUNGEN. § 128. macht l)('i der rijertniguui!: der Tastempfiudiiiig- auf die iirsächliclien Aufseudiuge gewissermalseu unterwegs Halt in der Haut, deren ge- drückten oder erwärmten Zustand sie :ils nächste Ursache der Em- pfindung- erkennen gelernt hat. Die Ursache dieses Unterschiedes liegt nach E. H. Webeii darin , dal's für das Auge die Möglichkeit fehlt, durch gegenseitige K(niktion verschiedener Stellen der eignen Fläche aufeinnnder der Seele Doppelempfindungen zu verschaffen, wie dies heim Tastsinn durch gegenseitige Berührung ver- schiedener Hantstrecken möglich ist. Selbst die subjektiven Licht- phänomene im geschlossenen Auge versetzen wir in einen vorge- stellten äul'seren ßauni; selbst die Lichtempfindung, welche ein Druck auf das Auge erzeugt, verlegen wir nicht in das Auge an die Stelle, an welche wir die gleichzeitige Tastempfindung verlegen und au welcher Avirklich die erregten Opticuseuden liegen, sondern objektivieren sie ebenfalls unvermeidlich in den äulseren Raum, und zwar in derselben Eichtung, in welcher wir ein dieselbe Netzhautstelle erregendes Lichtbild sehen würden. Es ist diese Objektivierung der Gesichtseindrücke für unsre Seele eine absolute Notwendigkeit, von welcher wir uns selbst dann nicht frei machen können, wenn wir auf dem Wege der wissenschaftlichen Forschung zur Erkenntnis der Existenz und Lage der percipierendeu Fläche und der Bilder gelangt sind. Dal's die Lichtempfindungen nur durch diese zwangsmälsige Objektivierung den hohen Wert, welchen sie für unsre Seele besitzen , erhalten , dafs sie nur durch die unbe- wufste, scheinbar unmittelbare Verknü])fung mit der Vorstellung von der Objektivität der Empfinduugsursache dem Glesichtssinn seine hohe Bedeutung als Lehrer über Sein imd Geschehen in der Aufsen- weit verleihen, bedarf keiner Erörterung. Mit dem Nachaufsensetzen der Gesichtseindrücke allein wäre wenig gewonnen. Die mannig- fachen Belehrungen, welche uns der Gesichtssinn über Form, Gröfse und Lage der Auisendinge verschafft, beruhen darauf, dafs wir die räumlichen Beziehungen der nach aufsen gesetzten Lichteindrücke zueinander und zu unserm empfindenden Ich, d. h. die Richtung, in welcher die vorgestellten Aufsendinge vor uns liegen, erkennen, dafs ihnen in dieser Richtung ein bestimmter Ort in der Vorstellung angewiesen wird. Bei der Unmöglichkeit, den Ei'ziehungsgang des Gesichtssinns, durch welchen er zum vollendeten Raumsinn ausge- bildet wird, objektiv an Neugeborenen zu beobachten, und den grofsen Schwierigkeiten und Täuschungsquellen, mit welchen die Zerlegung der fertigen Gesichts Wahrnehmungen in ihre elementaren Glieder verknüpft ist, läfst es sich begreifen, dafs über die Entstehung der Rauraanschauung noch so wenig Klarheit und Übereinstimmung herrscht. Man streitet darüber, welche Elemente derselben und in welchem Umfange, durch eine ursprüngliche Einrichtung des Sinnesorgans und des dazu gehörigen Seelenapparats bedingt, von Geburt an notwendig den Lichtem.pfindungen anhaften, wieviel da- § 128. PRIMITIVE EAÜMANSCHAUUNGEN. 547 von auf dem Erfalirmigsweg erworben ist. Dabei gelieu die Mei- nungen soweit auseinander , dafs die einen alle räumlichen An- schauungen als mühsam anerzogene Zuthaten zu den ursprünglich nackten Lichtempfindungen ausgeben, während andre ein auf alle drei Dimensionen des ßaums sich erstreckendes primitives räum- liches Sehen statuieren und die Erfahrung nur modifizierend eingreifen, insbesondere durch ihre Vermittelung die Erkenntnis der relativen räumlichen Beziehungen der Sehobjekte zum empfindenden Ich ent- stehen lassen. Die einen führen alle Haumanschauungen auf Yor- stelhmgen zurück, welche durch erlernte psychische Operationen an die Empfindungen angeknüpft werden, andre gehen so weit, alle Eaumanschauungen als Resultate ursprünglicher, gleichzeitig mit den Lichtempfiudungen durch die Thätigkeit der Sehnerven angeregter und denselbenkoordinierterSeelenzustände, sogenannter „Raumgefühle" (Hering), aufzufassen, mit andern AVorten : anzunehmen, dafs die Erregung jedes Ketzhautpunkts neben einer Lichtempfindung ein solches Raumgefühl erweckt, welches ohne weiteres die Lokalisierung des Eindrucks nach Höhe, Breite und Tiefe bewirkt. Man streitet ferner darüber, wie sich die binokularen Raumanschauungen zu den monokularen verhalten, man streitet endlich darüber, ob und wie weit die räumlichen Gesichtswahrnehmungen unter Mitwirkung des sogenannten Muskelsinns zustande kommen ; die einen füh- ren fast alle auf eine Auslegung der von den Augenmuskeln er- zeugten Empfindungen zurück, andre leugnen sogar die Existenz -eines Muskelsinns überhaupt mit Bestimmtheit und kehren das Verhältnis zwischen Raumanschauungen und Augenbewegungen in- sofern um, als sie erstere nicht durch letztere, sondern letztere durch «rstere vermittelt ^verden lassen. Es ist zunächst klar, dafs die von verschiedenen Em- pfindungskreisen aus erzeugten Eindrücke von haus aus irgend ^velche konstante Verschiedenheiten an sich tragen müssen, welche ihre räumliche Auseinanderhaltung überhaupt möglich machen. Wäre der Eindruck, Avelchen ein weifser Lichtstrahl von bestimmter Helligkeit von dem Zentralpunkt des gelben Flecks aus erzeugt, vollkommen identisch mit dem, welchen er von einem in bestimmter Entfernung nach oben oder nach unten, nach rechts oder links von ihm gelegenen Empfindungskreis aus hervorbringt, so fehlte jede Veranlassung und jedes Mittel, ihnen verschiedene Orte im Sehfeld anzuweisen. Es müssen also entweder die Erregungsprozesse in jeder einzelnen von einem bestimmten Empfindungskreise kommenden Ner- A'enfaser ein von der Qualität des äufseren Reizes unabhängiges, für jede verschiedene Nervenfaser verschiedenes, für jede bestimmte Nervenfaser konstantes Gepräge durch irgend welche innere Ver- schiedenheiten der Fasern oder ihrer Endapparate erhalten, welches wiederum jeder der von ihnen erweckten Empfindungen, gleichviel welches ihre Farbe und Helligkeit ist, einen entsprechend verschiedenen 548 PRIMITIVE RAUMANSCHAUUNGEN. § 128. Stempel aufdrückt. Oder die zentralen Empfindungsapparate, welche- den verschiedenen peripheri.schen Enipfindungskreisen zugehören, müssen irgend welche Differenzen ihrer Einrichtung: besitzen, welche- bewirken, dafs in jedem derselben jede Empfindung eine von ihrer Farbonqualitilt und Intensität unabhängige Eigentümlichkeit erhältv Es läfst sich weder sagen, worin diese mit Notwendigkeit voraus- zusetzenden Differenzen bestehen, noch wo und wie sie zustande kommen; man hat für sie seit Lotze\ \vie schon bei der Lehre vom Tastsinn erörtert worden , den vorläufig nicht näher erläuterbaren Ausdruck „Lokalzeichen'' eingeführt. Es fragt sich nun weiter: sind diese spezifischen Marken,, welche den Lichtempfindungen je nach dem Ort ihrer Erzeugung anhaften, an sich nichtssagende Zeichen, deren konstante Relationen zu den räumlichen Verhältnissen der Empfindungsursachen die Seele- erst auf einem mühsamen Studienweg erkennen lernt, deren Be- nutzung als Chiffern für die Lokalisierung der Empfindung sie erst einüben mufs? Oder löst jede solche Marke zwangsmäfsig eine mit der Lichtempfindung verschmelzende räumliche Vorstellung- aus? Steht vielleicht, um letzterer Frage eine konkrete Gestalt zu geben, jeder Empfinduugskreis der Netzhaut durch die von ihm ausgehende Nervenfaser mit je zwei AVirkungsapparaten im Hirn in Verbindung, einem, dessen Thätigkeit eine bestimmte Raura- vorstellung erzeugt? und, wenn letzteres der Fall ist, welches ist der Inhalt dieser primitiven Raum Vorstellungen? Um dieser Frage- völlig gerecht zu werden, Avürde es, die Möglichkeit vorausgesetzt^ keineswegs genügen, die Fähigkeiten des neugeborenen Kindes zu analysieren, dem vieles durch Vererbung angeboren sein kann,, was von früheren Generationen erworben wurde. Was entschieden werden soll, liegt viel tiefer. Es handelt sich darum zu bestimmen, ob es Raumauschauungen gibt, welche niemals auf dem Wege der Erfahrung erlangt werden konnten, sondern aller Erfahrung voraus- gegangen sein mufsten. Bei dieser Fassung der Frage dürfte zu- nächst kein Zweifel darüber möglich sein, dafs, wenn eine in dem- hier definierten Sinne ursprüngliche räumliche Gesichtswahrnehmung existiert, dieselbe auf eine Erkenntnis der räumlichen Beziehungen der Gesichtseindrücke untereinander beschränkt ist und nichts über die räumlichen Beziehungen derselben zum empfindenden Ich aussagt. Denn die Erkenntnis des Gegensatzes zwischen empfindendem Sub- jekt und äufseren Objekten als Empfinduugsursachen kann nur die Frucht einer auf Erfahrungen basierten Reflexion sein, deren Ge- winnungsweise bereits beim Tastsinn angedeutet wurde, deren Er- werb freilich aber bereits dem Neugeborenen durch einen ererbten Mechanismus gesichert sein mag. Die Wahrnehmung der Rich- tung, in welcher eiu Gesichtsobjekt unserm Auge gegenüberliegt,. ' Lorz:-:, ilndicin. PHijchulo'jie. 1862. p. 328. § 128. PRIMITIVE EAUMANSCHAUUNGEN. 549 kann demuach erst zustande kommen, wenn wir einen Eindruck überliaupt objektivieren gelernt haben. Es bleibt folglich nur zu untersuchen übrig, wie es sich mit den noch übrigen Hauman- schauungen verhalte. Die Ansichten hierüber sind geteilt. Nach den einen gibt es keine primitive räumliche Wahrnehmung, die Seele lernt zugleich mit der Objektivierung der Lichtem|)findungen die- selben mit Hilfe des vorhandenen Systems von Lokalzeicheu, welche sie begleiten, in bestimmte Richtungen und au bestimmte Orte nach aufsen setzen. Die Vertreter dieser Ansicht betrachten als wesentliche Vermittler dieser zu erlernenden Ausdeutung der Lokalzeichen die Muskelgefühle des bewegten Auges und der be- M-egten übrigen Teile des Körpers. Die regelmäi'sige Wiederkehr •einer bestimmten Reihenfolge von Lokalzeichen bei bestimmten Bewegungen des Auges, welche durch bestimmte Muskelgefühle charakterisiert sind, soll zur richtigen Nebeneinanderordnung der Eindrücke führen, die Erkenntnis von oben und unten, rechts und links im Sehfelde soll gewonnen werden, indem die Seele sich die Lokalzeicheu einprägt, welche die Eindrücke unsrer eignen Leibes- teile, insbesondere der Hände, begleiten, Avenn wir dieselben in den genannten verschiedenen Richtungen, welche ihr wiederum die Muskelgefühle verraten, durch den Raum bewegen. Ohne die Bedeutung des Muskelsinns schmälern und ohne in Abrede stellen zu wollen, dafs der Raumsinn des Auges durch ihn verfeinert und vervollkommnet werden könne, dürfte es aber doch kaum zu recht- fertigen sein, ihn als die einzige Quelle des letzteren zu bezeichnen. Welche Studien und welche Übung wären erforderlich, ehe auf diesem umständlichen Wege jedes der zahllosen Lokalzeicheu von den zahllosen Empfindungskreisen so innig mit dem entsprechenden Raum^ert in der Vorstellung verknüpft wäre, dafs die Seele ohne Überlegung und ohne Verwechselung in jedem Augenblick das Chaos der gleichzeitigen Eindrücke zu einem richtig geordneten Bilde umwandeln könnte! Es ist ferner zu bedenken, dafs der Muskelsinn des neugeborenen Kindes auch ganz unentwickelt ist, d. h., dafs wir die den Bewegungen der Glieder associierten spezifischen Empfindungen ebenfalls erst interpretieren, mit Vorstellungen von Richtung, Intensität und Gröfse der Bewegungen und mit den wei- teren auf äufsere davon abhän2:ie:e Verhältnisse übertragenen Vor- Stellungen verknüpfen lernen müssen, ehe der Muskelsinn ein Smn ist und als Lehrer in der Sphäre andrer Sinne auftreten kann. Ebenso wahrscheinlich oder noch Avahrscheinlicher ist es, dafs um- gekehrt der Muskelsinn der Augenmuskeln teilweise wenigstens unter Anleitung des Raumsinns der Netzhaut erzogen wird. Dafs es der Muskelsinn ist, welcher uns zur Vorstellung von der Richtung, in welcher die äufseren Gesichtsobjekte zu unserm empfindenden Ich liegen, verhilft, ist allerdings höchst wahrscheinlich, allein es ist schwer zu glauben, wenn auch denkbar, dafs er uns auch die 550 PRIMITIVE RAUMANSCHAUUNGEN. § 128. Erkenntnis der relativen Anordnung der Gesiclitseindrücke, ihrer räumliolieu Beziehung zueinander verschafft. Die Mehrzahl der Physiologen neigt daher auch der Ansicht zu, dafs die AVahrnehmuug des Baums auf einem seiner Qua- lität nach ursprünglich gegebenen psychischen Vermögen beruhe, womit zugleich ausgesprochen ist, dals die Frage nach dem primären Ursprung unsrer Rauraanschauungen einer Beant- wortung ebensowenig fähig ist, wie die andre, auf welche Art die- Thätigkeit unsers Opticus Licht-, die unsers Acusticus Schal] - empfiadungen erzeugt. Diese Erkenntnis und die enge Verkettung- aller unsrer Sinnesthätigkeiten , ganz besonders freilich derjenigen unsers Gesichtsorgans, mit Raumvorstellungen hat ihren schärfsten Ausdruck philosophischerseits dureh Kant, physiologischerseits durch Hering erhalten. Nach Kant^ ist der Raum mit seinen drei Dimensionen, der Höhe, Breite und Tiefe, nichts als eine a priori gegebene Form der Anschauung, der gemäfs die Sinnesempfin- dungeu durch ein uns innewohnendes Erkenntnisvermögen inter- pretiert werden; nach Hering'^ beruht die AVahrnehmung des Raums in erster Linie auf einem Empfiudungsvorgaug, welchen der Sinnesreiz gleichzeitig mit der spezifischen Energie der er- regten Sinnesnerven auslöst. Jeder Empfindungskreis der Netzhaut soll bei seiner Erregung neben einer Lichtempfiudung eine Raum- empfindung erwecken, und zwar jeder eine in bestimmtem Ver- hältnis aus drei qualitativ verschiedenen einfachen Raum- gefühlen gemischte Raumempfindung. Die drei einfachen Raum- gefühle entsprechen nach Hering den drei Dimensionen des Raums, das eine weist dem Lichteindruck eine bestimmte Höhe über oder unter dem Mittelpunkt des Sehraums, das zweite eine bestimmte Entfernung nach rechts oder nach links von letztei'em, das dritte eine bestimmte Entfernung vor oder hinter demselben an, mit andern Worten: jedem Punkt der Netzhaut kommt, inso- fern er jede dieser Raumgefühlsqualitäten in einem bestimmten Grade auslöst, ein bestimmter Höhen-, Breiten und Tiefen- wert zu, durch welchen dem auf ihm ruhenden Lichteindruck ins- besondere ein bestimmter Ort relativ zum Bildpunkt des gelben Flecks („Kernpunkt" Hering) angewiesen wird. Alle Punkte der unteren Netzhauthälfte haben demnach einen positiven mit der Ent- fernung vom gelben Fleck wechselnden Höhenwert, durch welchen ihr Eindruck über dem Kernpunkt lokalisiert wird, alle Punkte der oberen Netzhauthälfte einen negativen Höhenwert, alle Punkte der inneren Netzhauthälfte einen positiven, mit der Entfernung vom mittlen Längsschnitt wachsenden Breitenwert, welcher ihre Ein- drücke nach aufsen vom Kernpunkt setzt, alle Punkte der äufseren ' I. KANT, Kritik d. reinen Vernunft, herausgeg:. von Bexno Erumann. 3. Ausg. HambiirjT u I^eipzis 1884. p. öl u. ffr. - HlCKING, Beitrwje z. Pliijsio'oQie. 5. Heft. Leipzig 1864. §128. PKIMITIVE EAUMANSCHAUUNGEN. 551 Netzhantliälfte eiueu negativeu Breiten wert ; endlich alle Punkte der inneren Netzhouthälfte einen positiven TiefenAvert oder Fern- wert, ^\-elelier ihre Eindrücke hinter den Kernpunkt verlegt, dagegen alle Punkte der äulseren Netzhauthälfte einen negativen Tiefen- wert oder Nahewert. Wir kommen auf diese PlERiNGsche An- schauung hei der speziellen Betrachtung des hin okularen Sehens noch einmal zurück ; hier liegt uns nur daran , den zwischen ihr und der IvANTschen hestehenden Unterschied scharf zu kennzeichnen und dahin zu präzisieren, dafs Kant die Baumvorstellung durch die Empfindung erst entwickeln läfst, diese als die unerläfsliche Bedingung für jene ansieht, Herin« dagegen heide für gleich- wertige AVirkungsfolgen einer und derselben Beizursache erachtet. Nach Kant sowohl als auch nach Hering ist die Baumvorstellung aber mittelbar oder unmittelbar an Thätigkeitszustände seusori scher Nerven gebunden, sei es, dafs das System unsrer Hautnerven, sei es, dafs un.ser 0])ticus durch einfallendes Licht oder bei Ausschlufs desselben durch innere Stoffwechselvorcränge in Ei-res^uus; versetzt worden ist, und als das Produkt einer a priori feststehenden psychischen Auslegung nervöser Aktionen zu betrachten. Wer von beiden Becht hat, scheint uns wegen der uuniittelbaren engen Verknüpfung von Baumvorstellungen mit Lichtempfindungeu un- möglich zu entscheiden. Der Vorgang, durch welchen die Äther- wellen als Beizursache den Eindruck des Hellen oder Farbigen er- zeugen, und derjenige, durch \^'elchen sie den Eindruck des Eäum- lichen wachrufen, läfst sich Avohl theoretisch aber nicht praktisch der eine von dem andren trennen. Wesentlich anders liegt die Frage bezüglich der zweiten KANTschen Anschauungsform, der Zeit. Hier mufs zugegeben werden, dafs keiner Empfindung an und für sich etwas Zeitliches inwohnt, und dafs mithin das Erkennen der Zeitfolge auf die Existenz eines besonderen psychischen Vermögens zurückzuführen ist, welches kraft einer ihm inwohnenden spezi- fischen Energie die schon entwickelten Empfindungen als zeitlich unterschieden darstellt. In der Beihe der überhaupt möglichen Empfinduugsqualitäten gibt es einige, die Geruchs-, Geschmacks- und Gehörsempfindungen, welche für sich allein niemals zu der Vorstellung eines mit drei Dimensionen versehenen Baums führen, obwohl auch sie einer Interpretation nach einem Baumverhältnisse insofern unterliegen, als jede von ihnen durch das bewufste Ich auf einen bestimmten un- veränderlichen Ort bezogen wird, welcher im allgemeinen durch die anatomische Lage des reizempfangenden peripherischen Eudorgans angezeigt ist. Man wird daher die Frage, ob sich die ursprünglichen räumlichen Wahrnehmungen unsers Gesichtssinns auf sämtliche Dimensionen des Baums erstrecken oder nur auf einige derselben, für keine unberechtio:te halten dürfen. Birgt doch die flächenhafte Ausbreitung des Netzhautbildes lediglich Hinweisungen auf die 552 PRIMITIVE RAUMANSCHAUUNGEX. §128. Dimensionen der Höhe und Breite, niclit aber der Tiefe, und liegt anderseits der Gedanke sehr nahe, dafs erst die willkürliche also bewufsto Beweguugs Fähigkeit unsers Körpers und seiner Teile, kraft welcher wir zwischen den gesehenen Gegenständen hindurchschreiten, über die gröfsere oder geringere Entfernung des Erblickten Auf- schlufs zu schaffen geeignet ist, kurz dafs die Tiefenwahrnehmung zunächst an die durch den Muskelsinn gelieferten Empfindungen geknüpft ist und erst infolge vielfältiger Erfahrung und Übung mittelbar auf die Wahrnehmungen des (xesichtssinns übertragen wird. Wirklich haben auch Volkmann und mit ihm Funke^ ge- glaubt, die primitive Raumanschauung des Gesichtssinns auf die ]^ ebene inander Ordnung der von den erregten Empfindungskreisen ausgelösten Lichteindrücke, auf ihre Gruppierung nach den Dimen- sionen der Höhe und Breite um den Eindruck des Zentrums des gelben Flecks, den jedesmaligen Kernpunkt des Sehraums, reduzieren zu müssen und die Wahrnehmnng der Tiefe, die Ordnung der Ein- drücke vor- und hintereinander, nebst allen mit der Objektivierung der Seheindrücke zusammenhängenden räumlichen Wahrnehmungen als eine auf dem Erfahrungsweg unter wesentlicher Beihilfe des Muskelsinns allmählich erworbene Kenntnis dargestellt. Man wird die Möglichkeit dieser Anschauung auf einem Gebiete, wo es sich im besten Falle immer nur um die Erwägung von Möglichkeiten handelt, zugeben können, ja man wird selbst einräumen können, dafs die Tiefen Wahrnehmung ursprüngli(;h allein aus der psychischen Deutung der Bewegungsgefühle resultierte, um erst später mit den Gesichtswahrnehmungen associiert zu werden. Aber man wird be- gründeten Zweifel hegen dürfen, ob die frühe Errungenschaft un- zähliger Generationen von jedem Individuum immer nur auf dem gleichen umständlichen Wege der Übung und Erfahrung zu erlangen ist, oder uns nicht vielmehr bereits als festes Erbteil, d. h. dem Gesichtssinn angeboren, überkommt. In welchem Umfange ange- borene Raumvorstellungen existieren können, lehrt die Beobachtung vieler Tierarten, deren neugeborene Junge sofort der Mutter folgen und ihre Zitzen suchen, und bei der grofsen Analogie des ana- tomischen Baues und des physiologischen Verhaltens darf man wohl als wahrscheinlich ansehen, dafs derselbe Vorteil, welchen die Ver- erbung erworbener Fähigkeiten dem tierischen Individuum bereitet, dem menschlichen nicht entzogen sein wird. Die überaus_ grofse Hilflosigkeit des Kindes beruht offenbar weniger auf einem Übungs- mangel im Gebrauche des vorhandenen nervösen Apparats, als viel- mehr auf der noch im Rückstand befindlichen Entwickelung desselben. Wir werden somit kaum umhin können, dem Gesichtssinne jedes normal beanla^ten menschlichen Individuums das ano^eborene Ver- l VOLKMAXX, Phiixird. Unters, hii (iMMp. ,1. O/illl.-. 1. Heft. I.eipzi? l.SG;>. p. 139, u. O. FfNKE, dieses Lelirb. 1. Aufl. Bd. U. p. o'JÜ. § 128. PRIMITIVE RAUMANSCHAUÜXGEN. 553 mögen zuzusprechen, sich den Raum nach seinen drei Dimensionen vorzustellen. Die Frage, welche Form dem primitiven Sehraume zukommt, ist verschieden beantwortet worden. Yolkmann, welcher die Ursprünglichkeit der Tiefenwahrnehmuug leugnet, spricht dem- selben die Form einer ebenen Fläche zu und läfst demgemäis die Eindrücke sämtlicher Empfindungskreise sämtlich in einer Ebene nebeneinander geordnet erscheinen. Zur Unterstützung seiner An- sicht führt er an, dafs auch das erzogene Auge, sobald alle Momente, welche die Bildung von Tiefen- oder Entfernungswahrnehmung ver- mitteln, sorgfältig ausgeschlossen sind, alle Eindrücke in eine und dieselbe zur Blickrichtung vertikale Ebene versetzt; das Sehfeld des geschlossenen Auges erscheine daher wie ein roter ebener Vorhang, wenn die gesenkten Lider vom Sonnenlicht erhellt und durchleuchtet würden. Nagel wiederum schreibt dem primitiven Sehraum die Gestalt einer Kugeltläche zu. Prüft man an seinen eigoeu Augen, welcher Xatur die im absolut verdunkelten Zimmer übrig bleibenden Raumvorstellungen sind, so findet sich, dafs der thatsächlich vor- handene Eindruck gar nicht klar zu bestimmen ist, das uns um- hüllende Dunkel erscheint grenzenlos ausgedehnt, also ohne jede ■defiuierbare Gestalt. Dafs die primitive räumliche AYahruehmung die Wahrnehmung der Form und Gröfse in gewissem Sinne einschliefst, ist selbst- verständlich. Sobald wir einmal von Geburt an das Vermögen be- sitzen, die Eindrücke der Netzhaut mosaikartig nebeneinander zu ordnen, so ist damit von selbst die Konstruktion von Formen in der Anschauung gegeben. Formen, welche den Projektionen der lichtspendenden Aufsendinge auf die Ebene des primitiven Sehraums entsprechen, aber natürlich noch nicht als solche verstanden werden können. Die primitiven Gröfsenauschauungen reduzieren sich ledig- lich auf die Auffassung der relativen Abstände einzelner Teile des Sehraums. Es beruht diese relative Gröfseuschätzung auf demselben Prinzip, welches auch beim erzogenen Gesichtssinn die Grundlage aller Gröfsenschätzungen bildet, wenn es auch später einerseits durch Übung beträchtlich verfeinert, anderseits durch Gröfsea urteile, welche sich auf Erfahrungen gründen, wesentlich beeinflufst wird. Wenn die den einzelnen Empfindungskreisen entsprechenden Eindrucks- einheiten überhaupt von Geburt an neben- und hintereinander ge- ordnet v/erden, so kann auch die verschiedene Zahl dieser Einheiten, wenn z. B. zwei Linien verschiedener Länge nebeneinander auf der Netzhaut sich abbilden, der Wahrnehmung nicht entgehen. Wäre diese Wahrnehmung nicht von Anfang an vorhanden, entbehrten die primitiven räumlichen Anschauungen des Mafses, so wäre, wie VoLKMAXN mit Recht erwähnt, unbegreiflich, wie die Gröfsenmes- sung mit dem Auge je erlernt werden könnte. Es ist eine räumliche Anschauung ohne Gröfsenwahrnehmung überhaupt nicht denkbar. 554 WAHRNEHMUNG DER RICHTUNG. § 1211, § 120. Der erzogene monokulare ßaumsinu. Nachdem wir, so- Aveit dies möglich ist, die durch angeborene Einrichtungen des Seh- apparats vermittelten Anfangsgründe der räumliehen Gesichtswahr- nehmungeu abzugrenzen versucht haben, gehen wir an eine spezielle x\nah^se der zur volleudeten Entwickelung gelaugten Raumanschau- ungen. Manche wichtige Eigentümlichkeit derselben beruht auf dem Vorhandensein gewisser Relationen der beiden Netzhäute zueinander. Da wir diese und ihre Leistungen beim Gebrauch des Doppelauges einer besonderen Erörterung unterwerfen müssen, so beschränken wir uns hier auf die Zergliederung derjenigen räumlichen Anschauungen, welche auch die einfache Netzhaut vermittelt, oder welche beim gleichzeitigen Gebrauch beider Augen nicht durch jene Relationen bedingt sind. Der erste und wichtigste Schritt zur Vervollkommnung des primitiven Raumsinus des Auges, der Schritt, durch welchen er erst zur Erfüllung seiner Aufgabe befähigt wird, besteht in dem Erlernen des Obj ektivierens der Gesichtseindrücke, in der Erkennt- nis von Aufseudingen als Ursachen der Lichtempfinduugen im Gegen- satz zum empfindenden Ich. Wie wir zur Erkenntnis dieses Gegen- satzes kommen , ist schon beim Tastsinn erläutert worden ; es gilt im allgemeinen dasselbe für den Gesichtssinn: die Wahrnehmung der Veränderlichkeit der Gesichtseindrücke bei bewufster Ruhe der Augen und des Körpers, der wechselnden Veränderungen, welche bei gleichen durch gleiche Anstrengungsgefühle charakterisierten Be- wegungen des Körpers und der Augen eintj'eten, müssen zu dem Schlufs führen, dafs die Ursache der Empfindungen etwas aufserhalb des empfindenden Ichs Gelegenes sein müsse. Von diesen Aufseu- dingen lernen wir alsbald als relativ äufsere Sehobjekte die Teile unsers Körpers scheiden und konstruieren uns ein Raumbild dessel- ben, A\'elches fortan zum Ausgangspunkt der räumlichen Interpreta- tionen des Gesehenen wird. Wir lernen die Aufsendinge in be- stimmten Richtungen sehen, d.h. wir knüpfen an jeden Eindruck, den wir ursprünglich nur in seiner relativen Lagerung neben den übrigen gleichzeitigen Eindrücken erkannten, eine Vorstellung von seiner Lage im vorgestellten äufseren Räume relativ zum Ort unsers Ichs, wir lernen jeden Eindruck in eine bestimmte Entfernung von unserm Körper versetzen, wir lernen die Veränderung der rela- tiven Lage der Aufsendinge zu uns, Gröfse und Richtung ihrer Bewegung, beurteilen, wir lernen die ursprünglichen relativen Gröfsen Wahrnehmungen in absolute Gröfseu vor stell ungen über- setzen. § 129. WAHRNEHMUNG DER RICHTUNG. 555. Der Standpiiukt, vou welchem aus die heutige Physiologie die- Wahruehmuug der Richtung der Gesichtsohjekte erklärt, ist ge- wissermalsen der entgegengesetzte von dem, von welchem fast alle^ frühereu Erklärungsversuche, insbesondere die geraume Zeit ziemlich allgemein angenommene, sogenannte Projektionstheorie, ausliefen. Während wir jetzt von einem Hereinhezieheu der als äufserlich er- kannten Empfinduugsursachen auf den Ort des Ichs reden, liefs mau früher die Empiiudimgen in bestimmten Richtungen in die Aul'senwelt hinausgetragen werden und nahm als Ausgangspunkt dieser Projektion nicht das räumlich vorgestellte Ich, sondern die reellen I^etzhaut- teilcheu an. Man konnte sich lange Zeit nicht von der Yorstelluug frei machen, als ob das Netzhautbildcheu als solches irgend^sie direkt seine räumlichen Verhältnisse zur AVahruehmung brächte, und diese dann indirekt in die vorgestellten räumlichen Verhältnisse der Aufsen- dinge übersetzt würden. Es war, als ob die Seele hinter dem leib- lichen Auge noch ein geistiges Auge besäfse. welches vermöge seines Raumsinns das verkehrte Netzhautbildchen als solches auffafste, um es dann der Seele zur Ümkehrung und weiteren Ausdeutung zu übergeben, oder als ob die Seele sich gewissermafsen in die Netz- haut selbst begäbe, um an Ort und Stelle von jedem getroffenen Mosaikelementchen derselben aus ihre Empfindungen in den äufseren Raum hineinzukonstruiereu. Gewisse verschollene Irrtümer älterer Zeit können wir übergehen oder sehr kurz widerlegen. So glaubten früher einige, dafs die Wahrnehmung der Richtung, in welcher die Lichtstrahlen zum Auge gelangen, in gleicher Weise Inhalt der unmittelbaren Empfindung sei, ^ie die Wahrnehmung der Farbe und Helligkeit; es sollten die Lichtwellen vermöge ihrer Richtung ebenso direkt auf das Sensorium Avirken wie vermöge ihrer Länge und der Schwingungsamplitude der Ätherteilcheu. Man sprach von Richtung der Schwingungen des Nervenäthers, welche der Richtung der an- kommenden Lichtwellen entsprächen u. s. w. Es wäre überflüssig, eine solche Vorstellung einer genaueren Kritik zu unterziehen. Sie fufst auf grundfalschen Voraussetzungen und ist längst thatsächlicli widerlegt, am schlagendsten durch Volkmanx mit Hilfe des Scheiner- schen Versuchs. Der Punkt Ä Fig. 127 p. o75 Avird in a, also in der Richtung ciÄ, welche allerdings als die Resultante der Rich- tungen der beiden durch die Öffnungen e und f gegangenen Strahlen- büschel betrachtet werden kann, gesehen. Schliefsen \x\y aber die Öffnung c, so bleibt trotzdem A an seinem Ort in der gleichen. Richtung, während es doch nach der fraglichen Theorie nach unten verschoben, nämlich in der resultierenden Richtung des allein noch zur Retina gelangenden durch /" gegangenen Strahlenbtischels er- scheinen müfste. Die Theorie der Projektion der Gesichtseindrücke in den Richtungslinien sagt aus, dafs jeder Xetzhautpunkt dasVer- möijen besitze, die von ihm aus erweckte Empfindung durch den Ö56 WAHRNEHMUNG DER RICHTUNG. . § 129. Kreuzungspuukt der Ricbtungslinien geradlinig üacli aufsen zu pro- jizieren, also in der Richtung, in welcher wirklich das Objekt, von welchem das erregende Licht ausging, vor dem Auge sich befindet. Diese Theorie ist besonders durch Hering und Volkmann ^ als unhaltbar dargethan, und alle erneuten Versuche, sie zu retten, unter denen namentlich die von Nagel und Schleiden'^ hervorzuheben sind, entscheidend zurückgeschlagen worden. Schon von vornherein •enthält diese Theorie in der oben gegebenen Fassung, in welcher sie regelmälsig ausgesprochen wurde, einen physiologischen Grund- iri'tum, insofern sie angibt, dafs der getroffene Xetzhautpunkt die Empfindung von sich aus nach aufsen projiziere. Der Netzhautpunkt hat ja mit der Empfindung direkt nichts zu schaffen, die empfindende Seele erfährt nie etwas von der Existenz und Lage eines Netzhaut- punkts als einer äufseren Station, von welcher aus die Lichtdepesche ihr zutelegraphiert Avürde, sie kann also auch unmöglich ihre Empfin- dung zunächst in dem betreffenden Netzhautpunkte lokalisieren, um sie von diesem aus in die Aufsenwelt zu versetzen. So plausibel •es klingt, dafs die Richtungslinien des Sehens mit den Richtuugs- liuien des Lichts zusammenfallen , weil damit jede L-ruug in der EichtLingswahrnehmung selbstverständlich ausgeschlossen wäre, so ist doch eben unbegreifiich, wie die Seele zur Wahl gerade dieser einen, reell gar nicht vorhandenen, nur von der physikalischen Optik aus dem gleichartigen Lichtstrahlenbüschel herausgegriffenen oder viel- mehr in ihn hinein konstruierten Linie kommen sollte, selbst wenn sie wirklich etwas von der Existenz des Netzbautpunkts, zwischen welchem und der Lichtquelle die Physik die fragliche Linie zieht, erführe. Volkmann meint, dafs strenggenommen überhaupt von Richtungslinien des Sehens keine Rede sein könne, da sich zwischen dem Objekt und dem Ich, auf welches man dessen Lage im Räume beziehe, keine Linie ziehen lasse. Dies ist nicht richtig, denn wie Hering treffend entgegnet, handelt es sich um die räumlichen Rela- tionen der Sehobjekte nicht zu dem unräumlichen Ich, sondern zu dem räumlichen i\nschauungsbilde unsers Leibes. Es läfst sich demnach wohl durch Linien ausdrücken, in welcher Richtung zu meinem Kopfe oder meiner Hand ich ein äufseres Ding sehe, allein -die Richtungslinie des Lichts würde nur zugleich die Richtungslinie •des Sehens sein, wenn wir in der That die Lage eines äufseren Lichtpunkts auf einen bestimmten Punkt der Netzhaut bezögen und beziehen könnten, mit andern AVorten, wenn die Vorstellung gewisser- mafsen mit jedem Eindruck sich an Ort und Stelle des zugehörigen Bildpunkts in die Netzhaut begäbe, um von dort aus in die Aufsen- welt zur Aufsuchung des korrespondierenden Objektpunkts zu wandern, 1 Hering, Reitr. :. P/n/siol. Heft I. Leipzig 1861; Ardi. f. Anat. u. Plii/slol. 1S64. p. 27 u. p. 203. — VOLKMAXN, Pfiif.iiiil. Unters, im Gebiete, d. Optik. II. Heft. Leipzig ISGl. - Nagel, Das Sehen mit zwei Aur/en. Leipzig u. Heidelberg 1861. — ScHLEIDEN, /?/r Theorie d. Erkennend. Leipzig 186^4. § 129. WAHRNEHMUNG DER RICHTUNG. 557 uud wenu sie dabei zwangsmäfsig die geradlinige Bahn durch den ideellen Kreuzungspunkt der Riclitungslinien wählte. Neben diesem allgemeinem Raisonnement stehen eine Reihe gewichtiger thatsäch- licher Beweise gegen die Projektionstheorie, die wir kurz hier auf- führen müssen, obwohl sie gröfsteuteils auf die erst später zu erörternden Verhältnisse des Binokularsehens gegründet sind. Es läfst sich zeigen, dafs wir die Dinge in "Wirklichkeit nicht einmal immer so sehen, als ob jeder Netzhautpunkt seinen Eindruck auf der Richtungslinie projizierte. Wenn wir die Eindrücke wirklich nach den Richtungslinien projizierten, so müfste einem konstanten Netzhautbild unabänderlich dasselbe räumliche Anschauungsbild ent- sprechen. Dafs dies nicht der Fall ist, sondern häufig durch gewisse Umstände eine Wandlung des Anschauungsbildes bei unverändertem Netzhautbilde eintritt, haben Hering und Volkmann durch eine Reihe evidenter Versuchsdata er^^•iesen. Sehr überzeugend ist fol- gende Thatsache. Man verschaft"t sich durch anhaltende Fixation eines farbigen rechtwinkeligen Kreuzes, welches sich auf einer senkrecht zur Blickrichtung stehenden Ebene befindet, ein dauerndes Nachbild desselben in einem Auge. Wenn nun jeder Netzhautpunkt die zu ihm gehörige Empfindung unwandelbar durch den Kreuzungspunkt der Richtungslinien nach aufsen setzte, so müfste das Nachbild, welches auf einer fortdauernden Thätigkeit der ursprünglich vom Bild des Objekts erregten Netzhautelemente beruht, unwandelbar seine Form und bei unverrückter Stellung des Kopfes und des Auges auch seine Lage beibehalten, gleichviel auf welche Fläche es pro- jiziert wird. Hering uud Volkmann haben aber den interessanten Nachweis geführt, dafs Form und Lage des Nachbildes in verschie- dener Weise sich ändern je nach der Lage dieser Fläche. Es er- scheint dasselbe auf Flächen, welche in bestimmter Weise gegen die- Blickrichtungen geneigt sind, selbst geneigt und schiefwinkelig; das Nachbild eines Kreises kann als Ellipse, das einer Ellipse als Kreis, die Nachbilder von Parallellinien divergent und diejenigen divergenter Linien parallel eischeineu. Ja nach Volkmann tritt diese Ver- zerrung des Nachbildes sogar ein, wenn die Projektionsfläehe in Wirklichkeit senkrecht zur Blickrichtung steht, aber eine perspek- tivische Zeichnung auf ihr eine gewisse Neigung derselben vorspie- gelt. Nach welchen Gesetzen diese Richtung und Verzerrung der Nachbilder erfolgt, ist hier nicht zu erörtern, die Thatsache au sich genügt zur Widerlegung der Projektionstheorie. Überhaupt läfst sieh in einer grofsen Anzahl von Fällen zeigen, dafs der scheinbare Ort, an welchem das Bild eines Objekts gesehen wird, und sein wirklicher Ort sich nicht decken, wie die fragliche Theorie verlangt, der scheinbare Ort, an dem wir das Objekt sehen, nicht auf der Richtungsliuie liegt. Die meisten der hierher gehörigen, von Hering und Volkmann sorgfältig gesammelten Erscheinungen gehören in das Gebiet des Binokularsehens ; indes können wir, ohne aus dieser r,58 WAHRNEHMUNG DEU RICHTUNG. § 129. Lelire zu uiitioipiGren, docli folgende Lesouders entscheidende That- Kiiohen anführen. Zeichnet man auf weilses Papier zwei schwarze Punkte in dem Al)stand der Knotenpunkte heider Augen und he- trachtet bei parallel geradeaus gestellten Gesichtslinien das Papier so, dafs der rechte Punkt in der Gesichtsiinie des rechten, der linke in der des linken Auges liegt, so sehen wir (infolge der Identität der beiden gelben Flecke, auf denen die Punkte sich abbilden) nur «inen einfachen Punkt, dessen scheinbarer Ort sich genau in der Mitte zwischen den wirklichen Orten der beiden Punkte in der Ebene des Papiers befindet, welcher also weder auf der Eichtungs- linie des linken noch der des rechten Auges, sondern auf einei- Linie liegt, welche in der Ebene der beiden Gesichtslinien parallel -/u ihnen von der Nasenwairzel auf das Papier gezogen gedacht werden kann (mit andern Worten nach Hering auf der Halbierungslinie des Konvergenzwinkels der in unendlicher Entfernung sich scbneidenden Gesichtslinieu). Wenn somit unzweifelhaft ist, dafs sich die llichtuiigslinien rricht mit den Sehrichtungen decken, und dafs die Wahrnehmung der Richtung nicht auf einer Fähigkeit der gereizten Netzhaut- ]innkte, die von ihnen erweckten Empfindungen durch den Kreu- zungspunkt der Richtungslinien geradlinig nach auisen zu projizieren, beruht, so fragt es sich: durch welche andern Linien lassen sich die Sehrichtungen darstellen, und wie gelangen wir zur Erkenntnis dieser RichtungenV Die genaue Beantwortung der ersten Frage findet eigentlich bei der Lehre vom Binokularsehen eine passendere Stelle. Die Bildung der Vorstellungen von den räumlichen Relationen der Gesichtsobjekte zum Raumbild unsers Körpers ist von Geburt an unzertrennlich an den Gebrauch des Doppelauges geknüpft, wir erlernen das Objektivieren und Sehen nach Richtungen nicht zunächst mit jedem Auge für sich, um etwa dann erst eine Kombination und Verschmelzung der Sonderwahr- nehmungen zu veranstalten, im Gegenteil übertragen wir nach voll- endeter Erziehung des Gesichtssinns unbeM-ufst die mit dem Doppelauge erlernten Sehrichtungeu teilweise auch auf absicht- lich unternommene Monokularbeobachtungeu. Die von Anfang an stattfindende Verschmelzung der Separatsehfelder beider Augen zu einem, gemeinsamen Sehfeld bringt es mit sich, dafs wir die Lage der darin enthaltenen Objekte auf ein ideelles einfaches Auge beziehen , welches sich in der Mitte zwischen beiden wirklichen Augen auf der Stirn befände. Die kombinierten Sehrichtungen beider Augen können durch Linien vorgestellt werden, welche von diesem Mittelauge in den äufseren Raum ausstrahlen. Halten wir z. B. einen Lichtpunkt in der Höhe der Augen gerade vor die Xase, so dafs er in der Medianebene des Körpers liegt, und fixieren ihn mit beiden Auq'en, brins-en sein Bild also auf die beiden Netz- liautpole, so sehen wir ihn einfach in der Richtung einer in der § 129. WAHRNEHMUNG DER RICHTUNG. 559 Yisierebeue (der durch beide Gesichtslinieu gelegten Ebene) senk- j-ecbt auf der Nasenwurzel stehenden Linie. Wir sehen ihn nicht ursprünglich in den Richtungen beider CTesichtslinien, wie die Pro- jektionstheorie behauptet, und ziehen aus diesen Richtungen gewisser- mafsen die Resultierende, sondern die Eindrücke der beiden Netz- hautmitten verbiaden sich unmittelbar mit der einfachen Vorstellung von der Lage des Punkts auf der bezeichneten Linie. Da nun diese Vorstellung, Avie Hering, dem sich Helmholtz und Aubert l)estätigend angeschlossen haben, streng erwiesen hat, nicht die ge- ringste Änderung erleidet, wenn wir uns statt l)eider Augen nui- eines einzio-en zum Sehen bedienen, so ist klar, dafs wir auch bei monokularer Betrachtung die Lage des in der Medianebene befind- lichen Lichtpunkts auf das ideelle Mittelauge, das Cyklopenauge nach Helmholtz, beziehen. Das Glesetz, welches die Richtung des monokularen Sehens bestimmt, ist demnach das gleiche, welches diejenige des binokularen regelt, auch die monokulare Sehrichtung folgt dem Verlaufe einer Linie, welche die Mitte der Nasenwurzel mit dem ideellen Kreuzungspunkte der beiderseitiofen Gresichtslinien verbindet. Einen sehr auschauliclieii Beweis des eben ausgesprochenen Lehrsatzes hat Hering durch folgenden Versuch geliefert. Wenn man irgend einen Gegenstand, z. B. einen Bleistift, in etwa 15 cm Entfernung gerade vor die Nase hält, ihn zunächst binokular fixiert, sodann das linke Auge schliefst, den Zeigefinger der rechten Hand so vor das rechte Auge bringt, dafs er den Bleistift von unten her deckt, und nun einen raschen Stofs gegen den letzteren führt, so stöfst man regelmäfsig rechts vorbei, weil man den Finger wie den Bleistift in der Medianebene sieht und deswegen den Stofs geradeaus führt. Ein dem HERiXGschen Prinzipe gemäfses Ergebnis von noch gröfserer Sinn- fälligkeit erzielt man nach einem von Helmholtz' angegebenen Versuchsver- fahren, bei welchem man einen gegebenen Punkt monokular zu fixieren hat, während man den unteren Teil des Gesichts durch ein vorgehaltenes Papier derart bedeckt, dafs Ai-me und Hände der direkten Anschauung entzogen werden. Sucht man alsdann unter allmählicher Hebung des betreffenden Armes den rechten verdeckten Zeigefinger so zu stellen, als ob man mit demselben auf den fixierten Punkt hinweisen will, so erscheint der Einger, wenn er ober- halb des Papierschirms sichtbar wird, immer nach links vom Punkte, wenn das rechte, rechts von demselben, wenn das linke Auge das fixierende ist. Per Grund dieses Verhaltens ist wiederum darin zu suchen, dafs wir das fixierte Objekt bei unbefangener monokularer Betrachtung in die Medianebene des Gesichts verlegen und beim Visieren daher nicht die Augenmitte, sondern die Mitte der Nasenwurzel mit dem Zielpunkte in Beziehung bringen. Beide vorstehende Experimente mifslingen, wie hinzugefügt werden mufs, leicht bei ■öfterer Wiederholung, sobald nämlich das Bewufstsein des zu erwartenden Irrtums und die Erkenntnis seines Grundes auf die Richtung unsrer Arm- nnd Fingerbewegung Einflufs erlangt und eine den wirklichen Umständen angemessene Korrektur der letzteren herbeiführt. Das Richtuno-ssresetz des monokularen Sehens festgestellt, bleibt VAX untersuchen, auf welchem Wea-e dasselbe zustande gekommen sein IlELMH3 ^ Hei.mholtz, Ph»!>iol. Optik, p. 502. - Vfrl. Hel.mholtz, Phvsiol. Optik, p. Bd. IX. Abth. ?,. p. 10. ' ri,.\SSEN, PhvxioK d. fif.tic/if.^.iinnex. Braunschweipr 1876. p. 120. * LAXDOLT u. Xitel, Arch. f. Ophthalm. 1873. Bil. XIX. Abtli. :1. p. noi, ii. Stam.MES- UAIS, ebenda. 1871. Bd. XX. Abtb. 2. p. 147. 568 WAHRNEHMUN(i DEH (iKÜSSE. § 129. fixiert aucli nur die Wiiie der vorliegeiiden Kopie (Fig. 15'2) aus einem Abstände von 3 — 4 cm (Olasskk), so sollen nach Hklmholt/ und Classen die breiteren schwarzen und weifsen Felder der Jfandpartien ebenso klein und ebenso gerad- linig begrenzt erseheinen wie die in Wirklichkeit kleijieren der Mittelzone. In ganz analoger Weise wird durch v. WrrTUH berichtet, dal's von seinem Auge eine überall gleich breite Linie im Bereiche des direkten Sehens breiter als im Bereiche des indirekten taxieit werde. Ob den vorstehenden Angaben eine ganz allgemeine Gültigkeit beizumessen ist, mul's dahingestellt bleiben. Dem Herausgeber dieses Lehrbuchs wenigstens will es auch bei genauestem Fixieren nicht glücken, sich von dem beschriebenen Modifikationen der üröfsen- wahrnehmung zu überzeugen. Zugegeben aber, dals der obigen physiologischen Forderung hinsichtlich der Netzhautperipherie nicht entsprochen wird, so er- klärt sich dieser Verstol's gegen die Konsequenz des ange-borenen j\Iafsprinzips wiederum hinreichend aus dem grolsen Eintiufs, welchen die Erfahrung auf die Gröfsenwahrnehmung ausübt, und vermöge dessen sie die alleinige Verwertung des von Natur gegebenen absoluten Mafsmittels verhindert. In zahllosen Fällen wandert ja das Bild eines Gegenstandes, von dem wir wissen, dafs er derselbe und an seinem Ort bleibt, wie z. B. eines Fingers unsrer Hand, über die mit Absicht oder zufällig bewegte Netzhaut, tausendmal rücken wir absichtlich durch Augendi-ehung ein undeutliches Seitenbild in das Netzhautzentrum; es wäre ein Wunder, wenn wir nicht bald zu dem Schlufs kämen, dafs der scheinbare Gröfsenwechsel, welcher mit der Verschiebung verbunden ist, eben nur ein scheinbarer ist, eine kleinere Zahl seitlicher Eindrücke derselben relativen Gröfse entspricht, wie eine gröfsere Anzahl zentraler. Wenn wir ebenso oft Gelegenheit und dringende Veranlassung hätten, gleiche Objekte z. B. mit Fingerspitzen und Wangenhaut vergleichend auf ihre Gröfse zu prüfen, so würden wir auch im Gebiete des Tastsinns zu einer entsprechenden Reduktion der Mafseinheiten aufeinander kommen. Es dürfte somit gegen den Lehrsatz, dafs die primitive Gröfsenwahrnehnuuig auf einer Vergleichung der Zahl der Elemen- tareindrücke beruht, ein haltbarer Einwand kaum vorliegen. Einige, welche ihm Gültigkeit absprechen, behaupten, dafs die Gröfsenwahrnehmung in den „Raum Verhältnissen, nicht in den Menge Verhältnissen der durch Licht erreg- baren Sonderteilchen der Netzhaut" begründet sei. Dadurch dafs jeder erregte Netzhautpunkt neben der Lichtempfindung ein Raumgefühl, gemischt aus einem Höhen-, Breiten- und Tiefengefühl, erwecke, welches die Seele zwinge, _ den Eindruck in einem bestimmten Abstand über oder unter, rechts oder links, vor oder hinter dem Fixationspunkt in den Sehraum einzutragen, meint He jung, sei von selbst die Wahrnehmung der relativen Gröfsen von Eindrucksreihen oder Distanzen gegeben. Indessen dürfte wohl mit der richtigen Juxtaposition der Eindrücke um den Fixationspunkt nach Höhe und Breite nur eine notwendige Vorbedingung für die relative Gröfsenschätzung, nicht aber das Mafsmittel selbst gegeben sein. Wir habeu Ijereits erwäliut, dafs es sicli bei der hier in Rede stellenden Methode der Gröfseuscliätzung mit dem Ange nicht um eine wirkliche Zählung der getroffenen einzelnen Empfindungskreise, sondern nur um eine approximative vergleichende Schätzung der Summen von Empfindungselementen handelt. Daraus erklärt es sich, dafs die Fähigkeit des Auges, Gröfsendifferenzen aufzu- fassen, einer beträchtlichen Verfeinerung durch Übung zugänglich ist; die äufserste Grenze dieser Verfeinerung ist selbstverständlich dann erreicht, wenn das Auge noch solche Gröfsen als verschieden erkennt, welche nur um eine Mafseinheit, deren Netzhautbilder dem- nach nur um einen Empfindungskreis mehr oder weniger differieren. § 129. WAHilNEHMU^'G DER GRÖSSE. 569 Auf die Feinlieit der AufFas.suug von Grölsendifferenzen mit dem Auge übt der absolute Wert der verglichenen Gröfsen einen wesent- lichen Einflufs. Während Weber, Fechxer und Volkmann^ aber gefunden zu haben glaubten, dal's die kleinsten erkennbaren Gröfsen- unterschiede, z. B. Längenunterschiede zweier Linien, bei allen absoluten Längenmafsen gleichen Bruchteilen der letzteren entsprechen, oder in der Ausdrucksweise des FECHNERschen psychophysischen Gesetzes, dafs der kleinste eben merkliche Extensionszuwachs für alle absoluten Gröfseu gleichen relativen Wert besitzt, haben neuere Beobachtungen von Chodin ^ auch in diesem Gebiete die Ungültig- keit der FECHNERschen Lehre dargethan. Auch hier hat sich er- geben, dafs der Feinheit (Schärfe) des Unterscheidungsvermögens, d. i. dem Quotienten aus dem eben merklichen Reizunterschiede durch die absolute Beizgröfse, die geforderte Konstanz fehlt. Die Empfindlichkeit gegen Extensionsdiiferenzen verhält sich vielmehr ganz analog wie die Empfindlichkeit gegen Intensitätsdifferenzen (s. 0. p. 515), hat bei mittleren Distanzen ein Maximum, nimmt dagegen sowohl bei Vergröferung als auch bei Verkleinerung der- selben kontinuierlich ab, im letzteren Falle etwas schneller als im ersteren. Die höchste Schärfe der relativen Gröfsenschätzung lag in einer der von Chodin mitgeteilten Versuchsreihen bei 20 mm absolutem Längenmafs, wo schon ein Zuwachs von nur V-^l>c mm wahrgenommen wurde, die Feinheit der Schätzung also Vöh betrug. Es ist an und für sich selbst klar, dafs die Genauigkeit unsrer Gröfsenschätzung mit abhängen mufs von der Schärfe des Sehens, klar also auch, dafs wii" geneigt sein werden, den Punkt des schärfsten Sehens, die fovea centralifi, bei der Fixierung irgend welcher Raum- gröfsen durch das Auge vorzugsweise in Gebrauch zu ziehen. Da die letzteren gewöhnlich aber viel zu grofs sind, als dafs ihre Bilder ausschliefslich auf jener anatomisch und physiologisch bevorzugtesten Stelle der Retina Platz finden könnten, so pflegen wir sehr häufig imser optisches Mafs nach einer andren Methode zu gewinnen als durch die approximative Schätzung der Bildgröfse. Die zweite Methode der Gröfsenschätzung durch das Auge besteht darin, dafs wir die Stelle des schärfsten Sehens successive über alle Punkte des zu messenden Körpers hinwegführen, die Gesichts- linie also den Sehwinkel beschreiben lassen, von dessen Gröfse die Wahrnehmungsgröfse abhängt, und das gewünschte Mafs aus der Qualität und Intensität der Muskelgefühle entnehmen, welche die Bewegung begleiten. Besonders häufig wenden wir diese Methode bei der Gröfsenmessung solcher Objekte an, welche nicht in ganzer Ausdehnung im Sehraum des unbewegten Auges Platz ' E. H. Wkber, R. WAGNERS Handwürtb. ,1. Pli>/s!ol. Bd. HI. .\btli. 2. p. 559. — KlCCHNEK, P^>iclioph>is!k. Bd. I. p. 211. ^ Chodin, Arch. f. Ophthalm. 1877. Bil. XXIII. Abth. 1. p. 1. 570 WAHRNEHMUNG DER GRÖSSE. § 129. liabeu. Wollen wir z. B. die Höhe eines Turms, vor dem wir stehen, schätzen, so richten wir die Gesichtslinie zunächst auf die Spitze des Turms und bewegen dann das Auge oder den Kopf so, dafs sie gewissermafsen am Turm herabgleitet bis zur Basis. Wollen wir die Längen zweier Linien vergleichen, so führen wir den Blick abwechselnd über die eine und über die andre von dem einen Endpunkt zum andren und wiederholen diese Bewegung, bis sie uns zu einem sicheren Urteil verholfen hat. Wollen wir die Mitte einer Linie ausfindig machen, so lassen wir die Augen achse wieder- holt den Sehwinkel der ganzen Linie beschreiben und probieren dann aus, bei welcher Teilung der BcAvegung auf dem Wege der Linie jeder Teil ein Muskelgefühl von gleichem Gröfsenwert erzeugt. Ganz ebenso vergleichen wir Flächen, indem wir die Gesichtslinie in verschiedenen Richtungen über dieselben hinweg oder um sie herum bewegen. Diese Methode erhält durch Übung eine solche Sicherheit, dafs wir sie oft auch da anwenden, wo die Gröfsen- schätzung nach der Zahl der Empfindungskreise mit dem unbewegten Auge anwendbar ist, d. h. auch bei solchen Gröfsen, deren Bilder auf der Netzhaut des unbewegten Auges Platz haben, aber die Stelle des deutlichsten Sehens einigermafsen überragen und sich in die seitlichen Regionen der Netzhaut, deren Eindrücken wir überhaupt wenig Aufmerksamkeit zu schenken gewohnt sind, erstrecken. Schwer begreiflich ist, wie man bei dieser Methode die Bildung der Gröfsenvorstellung durch Intei-pretation der IMuskelgefühle ableugnen, welche andre haltbare Erklärung man aufstellen könnte. Wenn auch möglicherweise hier und da den Muskelgefühlen zu viele Leistungen aufgebürdet worden sind, so wird die in Rede stehende wohl ebensowenig mit Grund angezweifelt Averden können, wie die- jenige, welche jenen Gefühlen bei der Taxierung gehobener Gewichte auferlegt wii'd. Schliefsen wir unsre Augen, so wissen wir, wie wir oben behaupteten, stets, wohin der Blick gerichtet ist, aber wenn wir es selbst nicht wüfsten, so begleitet doch jede Bewegung der ge- schlossenen Augen eine getreue Vorstellung von der Gröfse und Richtung der Bewegung. Wenn man behauptet, diese Vorstellung werde nicht aus den fraglichen Muskelgefühlen abgeleitet, sondern es sei der Willensakt, eine Bewegung von bestimmter Gröfse und Richtung hervorzubringen, dessen wir uns bewufst würden, so ist hiergegen einzuwenden, dafs den Willensimpulsen au und für sich kein eignes Mafs inwohnt (s. o. p. 198), dafs also etwas Andres da- sein mufs, woran wir den Vollzug des Willensbefehls kontrollieren: die Kontrolle können nur Empfindungen führen, und beigeschlossenem Auge bleiben keine andern Empfindungen übrig, als eben die Muskelgefühle. Als eifrigster Gegner des 3Iuskelsinns ist Hkring aufgetreten. Er leugnet jedwede durch die Thätigkeit der Augenmuskeln (wie aller übrigen Muskeln) erweckte Empfindung, welche bei den Gesichtswahrnehmungen mit- § 129. AVAHRNEHMUNG DER GRÖSSE. 571 wirken kömite, folglich auch, dafs die Gröfseiiwahrnehmung mit Hilfe des be- wegten Auges auf einer Auslegung von Muskelgefühlen beruhe. Nach ihm ge- winnen wir dieses Urteil einerseits aus dem Bewufstsein des Willensaktes, welcher die Gröfse der Bewegung des Auges bestimmt, anderseits aus der Wanderung der Sehdinge über die Netzhaut, welche vermöge ihres Ortssinns die Ausführung des Willenbefehls kontrolliert. Als Beweis gegen die Beteiligung von Empfindungen, welche die Muskeln vermöge ihres Kontraktionsgrades er- wecken, führt Hering eine Reihe von Thatsachen an, welche sämtlich zeigen, dafs alle willkürlichen, wenn auch noch so energischen Kontraktionen der Augenmuskeln zu keinen Vorstellungen von der Bewegung des Auges und den indirekt damit zusammenhängenden objektiven Verhältnissen führen, dafs die bei unwillkürlichen Änderungen der Augenstellung eintretende Verschiebung der Netzhautbilder auf eine Bewegung der Sehdinge, nicht wie bei den will- kürlichen auf eine Bewegung der Augen bezogen werde. Dreht man sich mehrmals um sich selbst und bleibt dann stehen, so treten bekanntlich unwill- kürliche Nachbewegungen der Augen ein, sie drehen sich in der voran- gegangenen Drehrichtung zwangsweise weiter, springen zurück, um dieselbe Seitenbewegung zu wiederholen u. s. f. Von diesen heftigen Bewegungen soll man nach HfiRiNa bei geschlossenen Augen gar nichts bemerken; ein vor der Drehung in ihnen erzeugtes Nachbild soll trotz der Zwangsbewegung unbewegt erscheinen, während beim Öffnen der Augen bekanntlich die äufseren Objekte in entgegengesetzter Richtung um uns zu kreisen scheinen. Die Richtigkeit der ersten Angabe wird indessen durch 0. Fükke\ welcher bei genauer Kon- zentration der Aufmerksamkeit auf den Zustand seiner geschlossenen Augen ihre Zwangsbewegung deutlich wahrnehmbar findet, in Frage gestellt Nach ihm bemerkt der Unbefangene dieselbe deshalb nicht und macht nur deshalb bei geöffneten Augen den Trugschlufs auf die Bewegung der Aufsendinge, weil wir gewohnt sind, nur den willkürlich hervorgerufenen Augenbewegungen unsre Aufmerksamkeit zu schenken, die unwillkürlich entstandenen dagegen unbeachtet lassen und daher zu einem falschen Schlufs induziert werden. Die relativen Grröfseuwalirnelimungen, welche wir als direkte Resultate der erörterten beiden Methoden erhalten, lernen wir auf dem Wege der Erfahrung mit absoluten Gröfsenvorstellungen verknüpfen. Da ein und dasselbe Gesichtsobjekt von gegebener ab- soluter Gröfse seine scheinbare Gröfse in weitem Umfang mit seinem Abstand vom Auge ändert, mit andern Worten, da die Zahl der von seinem Bilde eingenommenen Empfinduugskreise um so geringer wird, je weiter vom Auge es entfernt ist, so liegt auf der Hand, dafs wir den objektiven Verhältnissen entsprechende absolute Gröfsen- vorstellungen nur gewinnen können, wenn wir die Entfernungen der Objekte vom Auge zu erkennen und m Rechnung zu bringen lernen. Die Wahrnehmung der Entfernung ist kein Akt primitiver Sinnesthätigkeit ; da wir überhaupt erst lernen, Gesichtsobjekte als Aufsendinge unserm empfindenden Ich gegenüberzusetzen, so kann selbstverständlich von einem ursprünglichen Erkennen des Abstandes derselben von unserm Auge keine Rede sein; was die relativen Tie- feuverhältnisse der Gesichtsobjekte untereinander betrifft, so kann man das Vermögen zur Tiefeiiwahrnehmung überhaupt seiner An- lage nach für ebenso ursprünglich ansehen als das der Höhen- und Breiten wahrnehmuno-. braucht deshalb aber nicht zu bezweifeln, dafs • O. FtNKE, dieses Lehrb. 4. Aufl. Bd. II. p. 418. 572 WAHRNEHMUNG I)K1{ GRÖSSE. §12<). Erfahrung und l'hiing einen sehr erhehlichen Einfliifs auf die Vej- voUkoinmenung desselben ausüben. Hinsi(;litlieli des binokularen Sehens bietet si(!h, wie wir später genauer zu bes])rechen haben werden, nachweislich in der bewufst werdenden Thätigkeit der iiufseren Augenmuskeln, wiederum also in der Auslegung von Mus- kelgefühlen, ein sehr wichtiges Moment für die Taxierung der absolu- ten und i'elativeii Tiefendistanz, das monokulare Sehen mit unbeweg- tem Auge verfügt ntitürlich über dieses Hilfsmittel nicht. Er- fahrung und I'bung können mithin an dem Zustandekommen der auch hiev noch vorhandenen wenn auch unsicheren Tiefenwahrneh- mungen nur insofern beteiligt sein, als einerseits die Wahrnehmungen des Einzelauges noch von dem bei der Ej'ziehung des Doppelauges erlernten entlehnen, anderseits auch der im Innern des Auges befindliche, seiner mechanischen Wirkung nach schon früher betrach- tete Akkommodationsmuskel durch die Em])findungen , welche seine zur Entfernung der Gesichtsobjekte in Beziehung stehende Aktion begleiten, Entfernungsvorstellungen vermittelt. Einen über- zeugenden Beweis für die in Bede stehende Bedeutung des fensor chorioideac haben wir schon bei einer andren Gelegenheit kennen gelernt (Bd. II, p. 405). Betrachten wir blaue und rote in einer Ebene gelegene Farbenfelder, so erscheinen die roten unserm Auge näher als die blauen, offenbar nur de.shalb, weil es einer gröfseren Akkommodationsanstrengung bedarf, um die weniger brechbaren Strahlen jener als die stärker brechbaren dieser auf der Betina zum Bilde zu vereinigen, und weil uns aus Erfahrung bekannt ist, dafs der Tensor eine um so kräftigere Aktion einzuleiten hat, je kleiner die Entfernung der Gesichtsobjekte ist, von welcher wir uns scharfe Bilder verschaffen wollen. Immerhin kann aber die Verwendung der Akkommodatiousgefühle zu Entfern uugsscliätzungen nur eine beschränkte sein und innerhalb der gesteckten Grenzen nur sehr ungefähre Resultate ergeben. Denn erstens erstreckt sie sich nur über den bei den meisten Personen relativ kleinen Teil der Sehrauin- tiefe, welchen wir früher als Akkommodationsbreite bezeichnet haben. Über den Fernpunkt hinaus gelegene Objekte können keine Verän- derung ihrer Deutlichkeit durch Akkommodation erfahren, folglich auch die Akkommodatiousgefühle nichts zu ihrer Entfernungsschätzung beitragen. Ferner .sind auch innerhalb dieser Grenzen einigermafsen genaue Schätzungen nur innerhalb der au den Jsahepunkt grenzen- den Strecke zu erwarten, weil mit der Annäherung eines Gegen- standes ans Auge die Abstandsdiffereuzen, welche einen bestimmten Grad der Akkommodationsänderung erfordern, in rascher Progression kleiner werden, mithin einem bestimmten Grade der Zunahme des Muskelgefühls immer kleinere Entfernungsdifferenzen entsprechen; dafs innerhalb der Grenzen der CzERMAKschen Akkommodationslinie im engeren Sinne Entfernungsunterschiede mit dem Auge gar nicht erkennbar sind, versteht sich von selbst. Ferner ist zu envarten, § 129. WAHRNEHMUNG DEE ENTFERNUNG. 573 dafs, da mir die aktive Koutraktiou eiues Muskels von eiuem An- strengungsgefühl begleitet wird, nicht aber die passive Erschlaf- fung, wir aus den Akkommodationsgefühleu nur die wachsende Annäherung eines Objekts , nicht aber seine allmähliche Ent- fernung richtig beurteilen werden, endlich, dafs die Einflüsse der Ermüdung einerseits und der Übung anderseits bei diesen wie bei andern Leistungen der Muskelgefühle sich geltend machen müssen. Alle diese Voraussetzungen sind durch eine Reihe interessanter Ver- suche von WuNDT^ direkt bestätigt worden. Wir können auf die- selben nicht spezieller eingehen , bemerken nur , dafs bei ihnen natürlich die Einmischung andrer Momente, auf welche wir Ent-. fernungsurteile basieren, möglichst unschädlich gemacht oder wenigstens in Rechnung gebracht wurde. Beseitigen wir das eben besprochene unvollkommene Hilfsmittel zur Bildung von Entfernungsschätzungen ganz, z. B. dadurch, dafs Avir den Tensor durch Einbringen von Atropinlösungen ins Auge lähmen, so ist die Fähigkeit zur monokularen Tiefenwahrnehmung keineswegs aufgehoben, da der reiche Erfahrungsschatz, welchen wir durch die binokulare Betrachtung der Gesichtsobjekte und durch den Tastsinn gesammelt haben, welcher uns auch zur körperlichen Auffassung der Gegenstände eines Gemäldes oder einer Zeichnung verhilft, immer noch übrig bleibt. Das aus der Erfahrung bekannte Zusammentreffen einer bestimmten Verteilung von Licht und Schat- ten mit bestimmten Körperformen, die ebenfalls durch Erfahrung eingeprägte perspektivische Neigung der nicht in gleichen Ebenen befindlichen Konturen bekannter Körper, endlich die Erfahrung über die successive Abnahme der scheinbaren Gröfse eines Objekts oder einer bestimmten Einzelheit desselben mit der wachsenden Ent- fernung vom Auge, das sind die Unterlagen zur psychischen Aus- arbeitung des monokularen Sehfeldes nach der Tiefe. Eine Kugel unterscheiden wir bei einseitiger Beleuchtung auch mit eiuem Auge von einer Scheibe auf Grund der als charakteristisch erkannten Ver- teilung von Licht und Schatten. Dasselbe Moment und die per- spektivische Neigung der Konturen hilft uns einen Würfel, von dem wir mehr als eine Seite sehen, monokular als solchen erken- nen. Die regelmäfsige Abnahme der scheinbaren Gröfse der Bäume einer Allee oder der Häuser einer Strafse, welcher wir ent- lang blicken, im Verein mit der perspektivischen Neigung der Konturen lehrt uns die einzelnen Bäume und Häuser hinterein- ander setzen, auch wenn wir die Prüfung durch die Akkommoda- tionsmuskelgefühle nicht zu Hilfe nehmen. Aber Avir setzen die Bäume nicht nur überhaupt hintereinander, sondern auch annähernd in die richtigen Abstände, wir schätzen die Länge der Allee oder Strafse; aus Erfahrung wissen wir nicht allein, dafs die scheinbare ' WUNDT, Zei'sclir. f. rat. Med. IH. R. Bil. VH. p. 321, u. Beitr. z. The<>r. d. Sinnf.i VHtlirr.eimitfny. Leipzig u. Heidelterg 1862. p. 105 u. fg. 574 DER MONOKULARE RAUMSINN. § l^i*- Gröfse eines bestimmten Objekts übej'biiu])t abnimmt, Menn wir es durch Bewegung mit der Hand vom Auge abrücken oder uns gehend von ibm entfernen, sie lehrt uns auch, in welchem Mal'se diese Verkleinerung bei bestimmten Graden des durch willkürliche Bewegung vermehrten Ab- standes zunimmt. Wir prägen uns für bestimmte Objekte eine Skala der scheinbaren Gröfsen, welche zu bestimmten, aus denMuskelgefühleu abgeleiteten Entfernuugsvorstel hingen gehören, ein und lernen auf diese Weise, scheinbar unmittelbai-, an jedes beliebige Glied der Skala, an jede beliebige scheinbare Gröi'se eines Objekts, welches für den Erwerb solcher Erfahrungen überhaupt zugänglich war, eine Vorstellung von seiner Entfernung knüpfen. Die Entfernung des Mondes können wir weder binokular noch monokular taxieren, weil uns bei ihm alle direkten Mittel zur Wahrnehmung der Entfernung im Stich lassen, und ebenso der Erfahrungsmaisstab ; wir besitzen keine Erfahrungen über die successive Änderung seiner scheinbaren Gröfse in verschiedenen durch Muskelgefühle mefsbaren Abständen vom Auge. Auf dem offenen Meere, unter Schneebergen, überall wo bekannte Objekte, für welche die erörterte Skala unserm Gedächtnis eingeprägt ist, fehlen, ver- läfst uns ebenfalls jede sichere Schätzung der Entfernung. Auf offenem Meere, sobald die Wasserfläche leer ist, staunen wir über den geringen Umfang der Aussicht. Der Horizont scheint in leicht erreichharer Nähe auf dem Wasser zu ruhen. Sobald jedoch am Horizont ein Schiff auftaucht, nimmt die Fläche mit einem über- raschenden Sprunge eine enorme Tiefendimension an, weil die Gröfse des Schiffes in der Nähe uns bekannt ist, und die Erfahrung uns sagt, in welche enorme Entfernung es von uns gerückt sein müsse, um zu einer so geringen scheinbaren Gröfse herabzusinken. Befin- den wir uns in einer Alpengegend, wo nur nackte Felsen, Schnee- flächen und Gletschermassen im Sehfeld sind, so unterschätzen wir alle Entfernungen und absoluten Gröfsen in enormem Mafse, die gröfsten Bergriesen schrumpfen zu Hügeln ein , wir meinen einen stundenbreiten Gletscherstrom mit einem Stein überwerfen zu können, bis unser Blick auf ein Objekt von bekannter Gröfse, vielleicht einen Wanderer auf der Gletscherfläche fällt, welcher jetzt zum Mafsstab wird und unsrer Vorstellung von der Gröfse und Entfernung der Berge und Eismasseu die gewaltigen Dimensionen aufzwingt. Die Schätzung von Gröfsen und Distanzen entspricht in zahlreichen Fällen nicht den Werten, zu welchen eine strenge Beachtung der Zahl der Empfiudungskreise führen müfste. Es ist fraglich, ob alle diese Abweichungen einem gemeinschaftlichen Erklärungs- prinzip unterzuordnen sind; jedenfalls sind wesentlich verschiedene Erklärungen für verschiedene hierher gehörige Thatsachen versucht, ja einige derselben so- gar als Beweise gegen die Abhängigkeit der Gröfsenwahrnehmung von der Zahl der Empfindungskreise überhaupt benutzt worden. Sicher die meisten solcher Verstöfse unsrer Gesichtswahrnehmungen gegen die objektiven Gröfsen- verhältnisse sind psychischer Natur, d. h. beruhen darauf, dafs die Seele sich durch irgend welche Momente verleiten läfst, die Zahl der Mafseinheiten zu überschätzen oder zu unterschätzen, oder die Vorstellung von den absoluten § 129. ÜEE MONOKULARE RAUMSINN. 575 Werten, welche sie au die Mafseinlieit knüpft, zu vergröfsern oder zu ver- kleinern. Ein Beispiel reiner Urteilstäuschung ist die bekannte Erscheinung, dal's uns Sonne und Mond beim Auf- und Untergange beträchtlich gröfser er- scheinen, als wenn sie sich im Zenith befinden, obwohl sie in allen Fällen unter gleichem Gesichtswinkel erscheinen, ihre Netzhautbilder demnach gleich- viel sensible Elementarteile decken. Die Erscheinung hängt mit der andren Täuschung zusammen, dal's uns das Himmelsgewölbe über uns nicht als Halb- kugel, sondern als kleineres Stück einer Kugelfläche, uhrglasförmig erscheint, dafs wir die Entfernung zum Zenith geringer als die zum Horizont taxieren. Weil wir den Mond am Zenith uns näher taxieren als den Mond am Horizont, ver- binden wir in beiden Fällen verschiedene Gröfsenurteile mit dem gleichgrofsen Netzhauteindruck, weil wir den irrtümlich für näher gehaltenen Mond im Zenith nicht gleich grofs, sondern gröfser als den Mond an dem vermeintlich fernen Horizont zu sehen erwarten. Warum vnr aber die Entfernung zum Zenith geringer, als die Entfernung zum Horizont schätzen, ist schwerer bestimmt zu erklären. Es ist dies ofi'enbar ein spezieller Fall einer Reihe analoger Er- scheinungen, welche alle darauf hinauslaufen, dafs uns eine gegebene Ent- fernung gröfser erscheint, wenn wir sie durch bekannte Gegenstände als Marken in einzelne Abteilungen zerlegt, als wenn wir sie ungeteilt von ganz homogenen Eindrücken ausgefüllt erblicken. Die Strecke bis zum Horizont erscheint uns aus zahllosen Teilentfernungen zwischen bekannten Gegenständen der Erde zu- sammengesetzt, zwischen unserm Auge und dem Zenith fehlen alle Teilungs- marken. Der einfachste Fall der Art ist folgender von Hering anofegebeue. Mau betrachte monokular die vorstehende Punktfigur; es erscheint die Distanz zwischen den beiden oberen Punkten kleiner, als die zwischen den Grenzpunkten der unteren Reihe, obwohl in AVirklichkeit beide Distanzen ab- solut gleich sind; die scheinbare Differenz wird noch gröfser, wenn man durch eingefügte Zwischenpunkte die Entfernung zwischen den beiden Grenzpunkten in noch mehr Abteilungen trennt. Hering und nach ihm Kundt ^ haben an die Stelle der psychologischen Erklärung dieser und ähnlicher Täuschungen eine physiologische Hypothese gesetzt, welche dieselben als notwendige Konsequenzen eines für die räumlichen Gesichtswahrnehmungen gegebenen Gesetzes darstellt. Diese Hypothese hat, wie alle, welche Hering zur Lösung der Probleme der räumlichen Wahrnehmungen aufgestellt hat, aufserordentlich viel Bestechendes, nicht an sich, sondern durch die klare Harmonie, in welcher wir durch Herings Scharfsinn die Tliatsachen ihr untergeordnet sehen. Diese Hypothese lautet: Der Abstand zweier Dinge im Sehraum wird bestimmt durch die geradlinige Entfernung ihrer Bildpunkte auf der Netzhaut. Wäre die Netz- haut eine ebene Fläche, so würde dieser Mafsstab für die Distanzwahrnehmung im Resultat durchweg gleichbedeutend sein mit dem, welchen wir im Text angenommen haben, der Zahl der zwischen den Bildpunkten liegenden Empfindungskreise. Dadurch aber, dafs die Netzhaut eine Kugelfläche ist, 1 Hering, Beitröo. PARADOXER VERSUCH. 581 in bifmitum, sondern erreicht bei einer gewissen sehr beträchtlichen "\'er- dunkehmg von B ein Maximum, jenseits welches er wieder abnimmt. Es war dies vorauszusehen, da der vollständige Verschlufs eines beinahe schon ganz verdunkelten Auges ja keine erhebliche Änderung der Helligkeit mehr be- wirken kann, und ist von Fechner durch direkte Versuche bestätigt worden. Er bezeichnet denjenigen Grad der Verdunkelung von jB durch graue Gläser, hei welchem gänzlicher Verschlufs die gröfste Abnahme der Helligkeit des Gesichtsfeldes bewirkt, als Min imumpunkt; auch seine Lage wechselt bei ver- schiedenen Personen und unter verschiedenen Bedingungen in weiten Grenzen. Aus der Existenz dieses Minimumpunktes folgt weiter, dafs zu jedem Grad der Verdunkelung des Auges B, welche zwischen dem Indifferenz- und dem Miniinumpunkt liegt, eine andre gröfsere, jenseits des Minimumpunkte? zu Hndende existieren mufs, welche mit der vollen Helligkeit des offenen Auges zusammenwirkend dem gemeinsamen Gesichtsfeld den gleichen Grad der Helligkeit erteilt. Solche durch den photometrisch bestimmten Dunkelheits- grad der grauen Gläser gemessene Lichtintensitäten des Auges B nennt Fechnei! konjugierte Intensitäten. Die beiden extremsten derselben sind die dem Indifferenzpunkt selbst entsprechende Intensität diesseits des Maximum- punktes und die dem Nullpunkt d. h. der vollständigen Verdunkelung von B entsprechende Intensität, da, wie bereits bemerkt, die Helligkeit des gemein- samen Gesichtsfeldes ungeändert bleibt, wenn man das mit dem indifferenten Glas bewaffnete Auge vollständig verschliefst. Die Lage der zwischen diesen Extremen zu suchenden konjugierten Intensitäten haben Fechner und später AuBERT nach einem andren Verfahren teilweise direkt bestimmt. Fechner sagt, dafs die absoluten Helligkeitsverhältnisse, d. h. der Grad der Erleuchtung des offenen Auges, von welchem die Erleuchtung des verdunkelten Auges einen Bruchteil darstellt, nur, wenn er sehr gering ist, auf die Lage des Indifferenz- punktes, des Maximumj^unktes und die konjugierten Intensitäten einen merklichen wenn auch unbedeutenden Einflufs ausübt. Aubert dagegen gibt an, dafs bei zu- nehmender Erleuchtung das Maximum der Verdunkelung des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes geringer wird, die konjugierten Intensitäten näher aneinanderrücken und das Maximum der Verdunkelung des Gesichtsfeldes bei einer Reihe neben- einanderliegender Grade der Verdunkelung von B sich zeigt. Ferner ist nach Fechner die Dauer und die Wiederholung des paradoxen Versuchs auf seinen Erfolg von Einflufs, was näher zu erörtern uns hier zu weit führen würde. Eine befriedigende Erklärung für diese eigentümliche Wechselbeziehung beider Augen fehlt. Fechner bezeichnet das Verhältnis, aus welchem die fragliclien Erscheinungen resultieren, als ein antagonistisches; Zutritt gewisser Mengen Licht zu der einen Netzhaut beeinträchtigt die Empfindung des Lichts von der andren, und zwar, wie Fechner vermutet, nicht blofs die i:)sychische Thätigkeit der Empfindung, sondern auch den durch das Licht erweckten physiologischen Prozefs. Helmhoi.tz wiederum will die Erscheinungen der FscHNERschen Versuche als U rteilstäus^hungen angesehen wissen, während He KING dieselben in die Kategorie der weiter unten zu besprechenden Wett- streitsphänomene der Sehfelder verweist und Aubert endlich zu ihrer Erläuterung annimmt, dafs unsre Fähigkeit, die von beiden Netzhäuten ausgelösten Lichtempfindungen zu kombinieren, je nach der J>ifferenz und den absoluten Gröfsen der in Betracht kommenden objektiven Helligkeiten variiert, ein Maximum erreicht, wenn die Differenz der Helligkeiten ein gewisses experimentell zu ermittelndes Mafs nicht überschreitet, sich über dieses Mafs hinaus aber ver- ringert und endlich ganz aufhört. ^ 1 Fechner, Abjnmdl. d. V. sächx Ges. d. Tr/.v.v. 1860. Bd. VII. p. 423. — AlTBERT, Phyuiol. .1. yet:/iani. [i. 292, u. Handb. d. (/ex. Atifienhei/J:., lierausgcg. von A. GrAEFK u. TH. SAEMISCH. JJd. II. p. 499. — IIELMHOLTZ, Ph'iisiol. Optil;. p. 791. — HERING, Beitr. :. Phimhil. 1864. ö. Heft. p. "08 u. fg. — Vgl. auch SCHOENu. Mosso, Arch. f. Ophthalnt. 1874. Bd. XX. Abth. 2. p. 269. 582 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. §l-'l- Viel Aviüliti<^er als der eben erwähnte, nur unter Umständen zur Geltun«^ kommende und überhaupt wohl der einzig wesentliche Vorzui!; des binokularen Sehens ist die Förderung, welche durch das- selbe die Walu'iielimung der Tiefen dimension, das stereosko- pische Sehen, die körperliche Auffassung der Gesichtsobjekte erfährt. Der grolse Wert dieser von von AViieatstone zuerst nach- gewiesenen Thatsache leuchtet an und für sich selbst ein und wird aus der s])eziellen Erläuterung der Verhältnisse des stereoskopischen Sehens sich noch klarer herausstellen. Die Identität d e r N e t z h ä u t e . D ur chmustern w ir auf m ei'k- sam den gemeinsamen Sehraum beider Augen, während wir einen beliebigen nahen oder fernen Punkt unverwandt fixieren, so über- zeugen wir uns, dafs der fixierte Punkt ausnahmslos einfach gesehen wird, während von den übrigen gleichzeitig mit ihm wahrnehm- baren Objekten ein kleinerer oder grölserer Teil ebenfalls nur einfach, andre dagegen in mehr oder weniger deutlich und weit getrennten Doppelbildern erscheinen. Betrachten wir nachts den gestirnten Himmel, so sehen wir nicht nur den fixierten Stern, sondern auch alle übrigen einfach. Wählen wir aus einer Anzahl in verschiedenen endlichen Entfernungen und Richtungen vor uns gelegener Objekte eines zum Fixationspunkt, so gelingt es bei gehöriger Aufmerksam- keit leicht, von der Mehrzahl der seitlich im Sehraum befindlichen Gegenstände die ihnen entsprechenden Doppelbilder wahrzunehmen; je mehr wir uns üben, die im gewöhnlichen Leben fast ausschliefs- lich auf den Fixationspunkt konzentrierte Aufmerksamkeit von dem- selben auf seitliche Teile des Sehraums abzulenken und deren Inhalt scharf zu analysieren, desto zahlreicher und deutlicher kommen die Doppelbilder zur Erscheinung. Am leichtesten wahrnehmbar sind die Doppelbilder vor und hinter dem Fixationspunkt gelegener Ob- jekte, um so besser, je mehr sie sich durch Helligkeit oder auffallende Farbe und Konturen vor den übrigen Sehdingen der Aufmerksam- keit aufdrängen. Halten wir in der senkrecht auf der Nasenwurzel stehenden Medianlinie einen Finger 20 cm von der Nase entfernt und einen zweiten beliebig weiter auf derselben Linie, so erscheint, wenn wir den vorderen fixieren, dieser einfach und der hintere in zwei symmetrisch rechts und links von ersterem liegenden undeut= liehen Doppelbildern, umgekehrt der vordere doppelt, wenn Avir den hinteren fixieren. Schlieisen wir bei unverrückter Stellung der Augen abwechselnd das eine und das andre, so bleibt die Wahrnehmung des fixierten einfach gesehenen Fingers ungeändert, von dem nicht fixierten dagegen schwindet das eine oder andre der beiden Doppel- bilder, und zwar wenn wir den hinteren Finger fixiert haben, das linke Doppelbild des vorderen Fingers bei Verschluis des rechten § i:U. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 583 Auges, das rechte bei Schlufs des linken Auges, umgekehrt wenn wir den vorderen Finger fixiert haben, das linke Bild des hinteren bei Schlul's des linken, das rechte bei Schlufs des rechten Auges. Allgemein ausgedrückt: ein vor dem Fixationspunkt gelegenes Ob- jekt erscheint in gekreuzten, ein hinter ihm gelegenes in gleich- seitigen Doppelbildern. Dafs die zahlreichen Doppelbilder, welche fast immer im binokularen Sehraum vorhanden und meistens den einfach gesehenen Dingen an Zahl weit überlegen sind, sich so leicht der Beobachtung entziehen, ist unschwer begreiflich. Der Hauptgrund ist der bereits erwähnte, dafs in der Regel der unter allen Umständen einfach erscheinende auf den beidei'seitigen Netz- hautpolen abgebildete Fixationspunkt die nicht näher definierbare Seeleuthätigkeit, welche wir Aufmerksamkeit nennen, so vollständig absorbiert, dafs die Eindrücke der seitlichen Netzhautpartien nur dunkel vor das Bewufstsein treten. Die Konzentration der Aufmerk- samkeit auf die Eindrücke der Netzhautpole ist eine so fest ange- ^s'öhnte und so wohl begründete, dafs, sobald ein seitlicher Gegen- stand durch irgend welches auffallende Mei'kmal die Aufmerksamkeit zu seiner Beachtung zwit^gt, wir unwillkürlich mit der Aufmerk- samkeit auch die Gesichtslinie auf ihn wenden, sein Bild also auf die Netzhautmitte bringen, und es nur durch besondere Anstren- gung und Übung erreichen, ohne Verrückung der Gesichtslinien die Aufmerksamkeit im Sehraum beliebig umherwandern zu lassen und in voller Intensität auf beliebige exzentrische Objekte zu heften. um so schwerer gelingt dies, je weniger markiert der Fixationspunkt, am schwierigsten, wenn nur ein ideeller, mit seiner Umgebung homo- gener Fixationspunkt vorhanden ist. Die einseitige Bevorzugung der Bilder der Netzhautmitten von der Aufmerksamkeit erklärt sich aus der gerade dort so hoch entwickelten Feinheit des Raurasinns, worüber früher bereits ausführlich berichtet worden ist. Ein weiterer Grund des häufigen Ubersehens von Doppelbildern kann erst im folgenden seine nähere Begründung erhalten, er besteht darin, dafs das dem einen Auge angehörige Doppelbild durch einen andren Ein- druck des andren Auges, welcher mit ihm an dem gleichen Ort gesehen wird, verdrängt wird. Endlich ist erkUirlich, dafs die Seele, selbst wenn sie im unerzogenen Zustand die Doppelbilder als un- mittelbaren Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung ebenso wie die ein- fachen Erscheinungen beachtet hat, im erzogenen Zustand, nachdem sie tausendmal die Erfahrung gemacht hat, dafs der doppelten Er- scheinung doch nur ein einfaches Objekt entspricht, die Duplizität zu ignorieren sich angewöhnt, und wenn ihr dies geläufig geworden ist, diese durch psychische Verschmelzung hergestellte Einheit für direkte Sinueswahrnehmung hält. Auf diese erlernte Verschmelzung (Volkmann) oder nicht erlernte Sonderung (Hering) der Doppel- bilder und ihre Bedeutung für das stereoskopische Sehen kommen wir zurück. 584 IDENTITÄT DEll NETZHÄUTE. § 131. Wjirum .seilen wir eiuzelue Teile des Seluiiums trotz ihrer doppelten Abbildung in zwei Augen einfach, warum andre doppelt? Auf welche Teile beider Netzhäute fällt der Eindruck eines Objekt- puukts, welcher einfach gesehen wird'? AVas für eine Relation besteht zwischen je zwei in dieser Weise zusammengehörigen Punkten beider Xetzhäute, welche ilii'e einheitliche Wahrnehmung vermitteltV Wie liegen bei den verschiedenen Stellungen der Augen diese zusammen- gehörigen Punkte m ihnen, und wie liegen in der Aufsenwelt die Objektpunkte, welche gleichzeitig mit dem Fixatiouspunkt einfach gesehen werden? Alle diese Fragen, deren schwierige Beantwortung die Aufgabe dieses Paragraphen bildet, sind seit langer Zeit Gegenstand von Kontroversen, deren entscheidende Lösungen noch fehlen. Zwei Theorien des Einfachsehens mit zwei Augen sind es, die sich noch heutzutage gegenüberstehen. Die eine derselben rührt von J. Mueller^ her und wird kurz als die Lehre von der Identität der Netzhäute bezeichnet. Ihr zufolge entspricht jedem einzelnen Empfiudungskreise der einen Netzhaut ein solcher der andren, dessen Eindrücke zwangs- Aveise durch irgend welche in der anatomischen Einrichtung des Sinnesorgans begründete Momente am gleichen Orte des Sehraums wie diejenigen des ersten Empfinduugskreises gesehen werden. Zwei derart zusammengehörige Punkte beider Netzhäute, welche ihre Eindrücke identisch lokalisieren und des- wegen einfach sehen, werden identische Netzhautpunkt e^ ge- nannt; solche Punkte beider Augen, deren Eindrücke in verschie- deneu Richtungen, an verschiedenen Orten erscheinen, welche daher doppelt sehen, heifsen differente^ Netzhautpunkte. Äufsere Objektpuukte, welche sich gleichzeitig auf identischen Netzhautpunkten abbilden, werden einfach gesehen, solche, welche sich auf difterenten Punkten abbilden, doppelt. Die gegenüberstehende Projektions- theorie leugnet jeden spezifischen Konnex je zweier Punkte beider Netzhäute, und betrachtet das Einfachseheu eines Doppeleindrucks als bedingt durch das Zusammentreffen der von j e zwei Punkten beider Netzhäute gesondert nach aufsen projizierten Einzel- eindrücke an einem Ort des vorgestellten äufseren Raums, und zwar dem Durchschuittspunkt der Richtungslinien, während sie Doppelbilder dadurch entstehen lälst, dafs die Eindrücke eines Objekts auf je zwei Punkte beider Netzhäute nicht im Kreuzuugspunkt der betreffenden Richtungslinien, sondern in deren Verlauf vor oder nach der Kreuzung lokalisiert werden. Das Ein- fachsehen ist demnach im Sinne dieser Theorie Resultat einer psychi- schen Operation; die Vorstellung trägt von jeder Netzhaut für sich X>. 376. ' JOH. MriKLLEK, Physiol. d. GesichtKi nnes . Leipzig- 1S26. p. 71; Lehrb. ,1. Phiiitwl. Bd. U. 2 Deckpunkte oder korrespondierende Punkte (Hklmholtz, Physiol. Optik. 1867. p. 69S). * Disparate Punkte (FeC'HNER). — Vg-1. HELMHOLTZ, Phtjsiol. Optik, p. 698. ^131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 585 die nebeneinander bestehenden Eindrücke auf den Riclitungslinien nach aufsen, und wenn sie auf diesem Wege von beiden Augen aus da Halt macht, wo sich zwei Richtungslinien beider Augen kreuzen, also die Eindrücke der betreffenden Netzhautpunkte in demselben Punkt lokalisiert, so müssen diese Eindrücke zu einem einfachen verschmelzen, weil wir uns an einem und demselben Ort nicht zwei gesonderte Objekte vorstellen können. Die Anhänger der Projektions- theorie glauben die Identitätstheorie widerlegen zu können, vor allem durch den angeblichen Nachweis, dafs wir unter Umständen mit sogenannten identischen Punkten auch doppelt sehen können; die Vertreter der Identitätslehre haben diesen Einwand in allen Formen , in welchen er aufgetaucht ist , widerlegt und dafür be- wiesen, dafs die Projektionstheorie überhaupt auf irriger Voraus- setzung ruht und mit zahlreichen Thatsachen in unlösbarem Wider- spruch steht, folglich auch nicht die gesuchte Erklärung des Einfachsehens liefern kann. Auf der andren Seite kann auch die Identitätslehre keinen Anspruch auf die Bezeichnung als erschöpfende Theorie machen; denn ihr obei'ster Lehrsatz von der Existenz iden- tischer Punkte im oben bezeichneten Sinne läfst sich zwar als rich- tige, alle Thatsachen umfassende Umschreibung eines empirisch gefundenen Gesetzes in betreff der Lokalisation der Eindrücke der iDoppeluetzhaut darthun, allein er bedarf selbst einer Erklärung. Der Ursache des Einfachsehens mit identischen Punkten, der Art der Eelation zwischen ihnen, deren notwendige Folge die identische Lokalisation ist, läfst sich vorläufig nicht einmal auf dem Weg der Hypothese nahe kommen. Die thatsächliche Grundlage der Identität sichre besteht erstens in dem nach verschiedenen Methoden geführten Nachweis, dafs jeder beliebige Punkt der einen Netzhaut mit je einem be- stimmten Punkt der andren zu einem Punktpaare verknüpft ist, dessen gemeinsame Erregung genau denselben Eindruck hervorruft, als wenn nur jeder dieser zusammengehörigen Punkte für sich allein von dem gleichem Reize betroffen wäre, und ferner in der speziellen Bestimmung der Lage dieser identischen Punkte beider Netzhäute bei allen möglichen Stellungen der Augen, allen möglichen Richtungen der Gesichtslinien. Die ursprüngliche, einfachste, aber zu exakten Bestimmungen unbrauch- bare Methode des Nachweises der Identität und der Lagenbestimmung der identischen Punkte ist die von Jon. Mueller angewendete; sie beruht auf der Benutzung der Lichterscheinungen, welche bei mechanischer Reizung der Netzhaut durch Druck auf die Aufsenwände des Augapfels entstehen. Drückt man mit der Fingerspitze (oder einer stumpfen Sonde) auf ii'gend eine nach unten, oben, aufsen oder innen von der Hornhaut gelegene Stelle der Sclera des einen Augapfels, so erscheint im Sehfeld die schon früher be- schriebene kreisförmige Lichtfigur und zwar infolge der Umkehr 580 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. § 131. der Netzhauteiiid rücke auf der der r3ruckstelle entgegengesetzten Seite, also nach aulseu von der Mitte des Sehraums bei Druck auf eine innere Stelle des Augapfels, nach unten bei Druck auf einen oberen Teil, und umgekehrt. Drückt man nun gleichzeitig verschie- dene Stellen beider Augäpfel, so erscheinen entweder zwei Licht- kreise in verschiedener Lage und Entfernung voneinander, odei- nur ein einfacher, jenachdem der Druck differeute oder identische Stellen beider Netzhäute trifft. Auf diese AVeise findet man leicht, dafs im allgemeinen dei' obere Teil des einen Auges mit dem oberen des andern, der untere des einen mit dem unteren des andern, der innere des einen mit dem äul'seren des andern, und umgekehrt, identisch ist. Wir sehen also zwei Lichtkreise, wenn wir auf jedem Auge gleichweit vom äufseren Hornhautrande entfernt je einen dem andren örtlich gleich beschaffenen Sklerapunkt drücken; die Lichtfigur ist da- gegen einfach, wenn wir auf dem linken Auge den drückenden Finger um ebensoviel gerade nach aufsen Avie auf dem rechten Auge nach innen vom Horuhautrande aufsetzen. Als identisch sind ferner bekannt die beiden von den Enden der Gesichtslinien getrofienen Netzhautmitten, da wir unter allen Umständen den fixierten Objektpunkt, d. h. denjenigen, auf welchen wir gleichzeitig beide Gesichtslinien richten, einfach sehen. Auf diese empirischen That- sachen gründete Jon. Mueller folgenden allgemeinen Ausspruch über die Laije der identischen Punkte. Denken wir uns die eine Netzhaut ohne jede Drehung um die Gesichtslinie von der Seite her gerade über die andre geschoben, so dafs beide sich vollständig decken, die beiden Netzhautmitten aufeinanderfallen , so sind alle diejenigen Punkte beider Netzhäute identisch, welche sich decken. Eine andre Form dieses Ausspruchs gewinnt man, wenn man sich beide Netzhäute durch korj'espondierende Liniensysteme ein- geteilt denkt. So kann man sich z. B. jede Netzhaut von einem System von Meridianen, welche sich im Zentrum des gelben Flecks als Pol kreuzen, und von Parallelkreisen nach Art der Erdoberfläche überzogen vorstellen; dann lautet der MuELLERsche Lehrsatz, dafs alle Punkte, ^^'elche unter gleichen Meridianen und gleichen Parallelkreisen liegen, identisch sind. Will man die Lage der Netzhautpunkte aber vollkommen genau bestimmen, so hat man sich nach Hering^ jede Netzhaut durch einen wage rechten und einen lotrechten Schnitt, welche sich im Zentrum (Kernfleck) derselben kreuzen, gevierteilt und durch den so erhaltenen mittlen Längs- und mittlen Querschnitt der Retina Ebenen gelegt zu denken, die mittle Längs- und die mittle Querebene. Stellt man sich nun weiter die mittle Längsebene um eine durch den Netzhautmittelpunkt gehende lotrechte Achse gedreht vor, so folgt, dafs dieselbe die Netzhaut in immer andern Richtungen schneiden wird ; die Schnitte heifsen Längsn ebenschnitte ; entsprechend 1 E. Herixu, Bcilr. :. Plit/siol. Leipzig- 18()1. Ueft 1. p. 23. §131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 587 erhält mau die queren Nebensclinitte, wenu mau die mittle Querebene um die Verbindungslinie beider Netzbautmittelpunkte dreht. Wie ersichtlich läist sich jetzt sowohl der Bogen, welcher zwischen einem beliebigen Neben- und dem zugehörigen Mittelschnitt liegt, wenn man den letzteren als Nullpunkt wählt, in Graden bestimmen, als auch der Ort jeder Netzhautstelle genau angeben, wenn man schliefslich noch zwischen rechten und linken, oberen und unteren Nebenschnitten unterscheidet. Die MuELLERSche Methode ist aus verschiedenen Gründen un- zulänglich für den exakten Nachweis der von ihm aus ihren Ergeb- nissen erschlossenen Identität aller Deckstellen der übereinander- gelegten Netzhäute, ungeeignet zur Beantwortung der weiteren wichtigen Frage, welche Veränderungen die absolute Lage der identischen Punkte im Raum mit den Bewegungen der Augen, mit der Einstellung der Gesichtslinien auf verschieden ferne und in verschiedenen Richtungen liegende Fixationspunkte erleidet. Die mechanische Reizung erstreckt sich auf zu grofse, in ihrer Ausdehnung nicht scharf begrenzte Partien, um damit eine Bestimmung identischer Punkte dui'chzuführen , die Lichttiguren sind zu unbestimmt in ihren Umrissen, zu verwaschen, um mit Sicherheit bei teilweiser Deckung ihrer Doppelbilder die teilweise Duplizität der Erscheinung zu erkennen ; endlich ist die ganze Methode nur auf die peripherischen Netzhautpartien, gar nicht auf die für die Gesichts Wahrnehmungen vorzugsweise in Betracht kommenden zentralen Partien anwendbar. Es haben daher Meissner, v. Recklinghaüsen , Hering und Volkmann ^ zur vollständigen Lösung der bezeichneten Aufgaben neue exakte Methoden ersonnen, die wir hier nur in Kürze andeuten können. Die einen gehen dabei von der Annahme, dafs bei irgend einer Stellung der Augen durch Übereinanderlegen der Netzhäute alle identischen Punkte genau zur Deckung gebracht werden, als unzweifelhafter Thatsache aus und bestimmen nach verschiedenen Prinzipien die Lageveränderung, insbesondere die durch sogenannte Raddrehuug des Auges um die optische Achse bedingte Änderung der Lage der identischen Punkte an gewissen Paaren oder beider- seitigen Reihen derselben bei verschiedenen Stellungen der Augen und des Kopfes. Andre haben zunächst bestimmte Reihen von identischen Punkten beider Augen in eine genaue Decklage gebracht, z. B. entweder die in einem vertikalen Durchschnitt der Netzhäute liegenden Reihen beiderseits genau vertikal, also einander parallel gestellt, oder die beiderseits horizontalen Reihen genau horizontal, also in dieselbe Horizontalebene gebracht und dann die relative Lage der übrigen Reihen genau zu ermitteln gesucht, wobei sich geringe, bei verschiedenen Personen in verschiedenem Grade vorhandene • G. Meissner, Beitr. z. Physiol. d. Sehorgans. Leipzig 1854. — V. RECKI.IXGHAU6EN, Aich. f. Opht/talm. 18.59: Bd. V. Abth. 2. p. 141.— "E. HERING, Beitr. z. Phi/siol. Heft 1—3. Leipzig ISCI— 18G3; Arch. f. Anut. u. P/iimio'. 1864. p. 27 u. p.303. — VOLKMANN, Phijsiol. Unterst, im Gebiete d. Opiil:. 2. Heft. Leipzig 1864. ' 588 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. § 131 • Asymmetrieu , Abweicliunfj^en von der zur streugen Deckung er- forderlichen Anordnung herausgestellt haben. So einfach es scheint, an die Stelle der mechanischen Reizung Erregung durch objektives Licht zu setzen, d. h. aus dem Einfach- oder Doppelerscheinen eines äui'seren, in bestimmter Entfernung und Richtung vor den Augen befindlichen Objekts die Identität oder Nichtideutität der nach den Gesetzen der Dioptrik zu findenden Netzhautstellen, auf welche sein Bild in beiden Augen fällt, zu erschliefsen , so mannigfach sind die Schwierigkeiten, welche sich der exakten Durchführung dieses Prinzips entgegenstellen. Eine der erheblichsten liegt in dem weiter unten zu erörternden Umstand, dafs wir innerhalb nicht zu enger . . ... ^ Grenzen die Doppelbilder übersehen, mit wenig differenten Netz- hautstellen einfach sehen, sei es, dafs wir nach V^olkmanns Auf- lassung die ursprünglich doppelten Wahrnehmungen im Verlaufe der Erziehung des Gesichtssinns auf Grund der auf andern Wegen ge- wonnenen Erfahrung von der Einfachheit des den Doppelbildern entsprechenden Objekts zu einfachen Wahrnehmungen verschmelzen lernen, sei es, dafs wir nach Panums und Herings Auffassung noch nicht gelernt haben, die räumlich wenig differenten Doppelbilder voneinander zu scheiden. Es ist demnach nicht statthaft, das Ein- fachsehen eines Objektpunkts ohne weiteres als sicheren Beweis für die Identität der betreffenden Netzhautpunkte zu betrachten. Vor der Besprechung der Methoden zur Aufsuchung und Lagen- bestimmung identischer Stellen müssen wir die Erläuterung einiger eingeführter Bezeichnungen vorausschicken. Die Bewegungen des Augapfels sind wegen seiner Einsenkuug in das Binde- und Fett- gewebe der Orbita ausschliefslich Drehbewegungen. Lagever- änderungen des Bulbus mit gleichzeitiger Verschiebung desselben, sei es nach vorn, nach hinten oder nach der Seite, kommen beim Menschen wenigstens nicht in merklichem Grade A'or. Der feste Punkt, um welchen sich der Bulbus dreht, ist zuerst von Donders und DoYER ^ zuverlässig bestimmt worden und liegt nach ihren Unter- suchungen in emmetropischen Augen durchschnittlich 13,557 mm hinter dem Scheitel der Cornea, etwa 10 mm von der hinteren Fläche des Scleraellipsoids, wenig hinterwärts von dem ideellen Zentrum des letzteren. Die Linie, welche den im Räume fixierten Punkt, den Fixations- oder Blickpunkt, mit dem Drehpunkt des Auges verbindet, wird Blick liuie genannt. Eine durch beide Blicklinien gelegte Ebene, welche beide Netzhäute in ihren horizon- talen Meridianen schneidet und stets den Blickpunkt enthält, heilst Visierebene (Panum) oder Blickebene (Herin«), die Verbindungs- linie der beiden Kreuzungspunkte der Richtungsstrahlen heilst die Grundlinie, eine in der Visierebene senkrecht auf der Mitte der Grundlinie gezogene Linie die Medianlinie, eine durch dieselbe • Donders u. Doyer, Arch. /. d. hollüml. BeUr. 1862. ]?(!. ni. p. 560. § 131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 589 senkrecht zur Yisieiebene gelegte Ebene die Medianebeue. Da es ferner Tliatsache ist, dals die Augen bei dem Übergang von be- stimmten Stellungen in andre sogenannte Raddi'ebungen um die optische Achse erleiden, daher die bei bestimmten Stellungen in den horizontalen und vertikalen Meridioualdurchschnitten beider Augen liegenden Reihen identischer Punkte bei andern Stellungen aus diesen Meridianen mehr oder weniger herausgedreht sind, sie unter einem be- stimmten Winkel in den Netzhautpolen durchschneiden, so hat Meissner zum Unterschied von dem horizontalen Meridian, d. h. der jeweiligen Durchschuittslinie der Visierebene mit der Netzhaut und dem verti- kalen Meridian, d. h. der Linie, in welcher eine durch die Blick- linie senkrecht zur Visierebene gelegte Ebene die Netzhaut schneidet, die nur bei bestimmten Augenstellungen mit diesen Meridianen zu- sammenfallenden Reihen identischer Punkte, m- eiche bei andern Stellungen gegen die Meridiane geneigt sind, mit dem Namen der horizontalen und vertikalen Trennungslinien^ bezeichnet, weil sie die Netzhäute in je zwei identische, obere und untere, innere und äufsere Hälften scheiden. Es handelt sich nun darum, das Lageverhältnis dieser wichtigen Linien bei verschiedenen Augenstellungen zu ermitteln, eine Auf- gabe, deren Lösung seit Meissners Vorgang eine ganze Reihe be- deutender Forscher beschäftigt hat. Als Ausgangspunkt der Unter- suchung wurde von Meissner selbst eine Augenstellung gewählt und Primär- oder Normalstellung genannt, bei welcher beide Blicklinien parallel gerichtet und 45° unter den Horizont geneigt waren. Da- gegen haben Helmholtz und ebenso auch Donders und Hering eine andre Augenstellung bevorzugt, bei welcher unter aufrechter Kopfhaltung die Blicklinieu zwar auch parallel gerichtet sind, die Blickebene aber genau horizontal liegt. ^ Diese letztere Auorenstelluno-, welche künftighin von. uns ausfchliefslich als Primärstellung bezeichnet werden soll, und von der wir alle übrigen noch möglichen Augenstellungen einfach als Sekundär Stellungen unterscheiden werden, ist durch zwei charakteristische Eigen- tümlichkeiten physiologisch bedeutungsvoll. Die erste derselben be- steht darin, dals das Auge aus der beschriebeneu Primärstellung in weiten Exkursionen gehoben und gesenkt, adduziert und abduziert werden kann, ohne dabei eine irgend erhebliche Raddrehung um die Blicklinie, nach E. Herings Ausdruck eine Rollung, zu erfahren. Die Bewegung des Auges findet somit um Achsen statt, welche zur Blicklinie senkrecht verlaufen, eine Thatsache, welche zuerst von Listing^ in Form eines Gesetzes ausgesprochen unter dem Namen ' Scheinbare horizontale u. vertilvale Decklinien (HELMHOLTZ, P/ii/siol. Opiik. ji. 709). - G. Meissner, Beitr. z. Phiisiol. d. Sehorgane. Leipzig 18-54. — DOKDERS, Holland. Beifr. :. d unat. n. plmsiol. Wissenscli. :8-t7. Bd. I. p. 104 u. p. 484, n. PFLUEGERS Arch. 1876. Bd. Xin. p. 373. — Helmholtz, Arcli. f. Ophthalm. Bd. IX. Abth. 2. p. 153, u. Hundh. d. ]jhifsiol. Optik. 1867. p. 463. — E. HerINU, Beitr. z. Physiol. 3. u. 4. Heft. Leipzig- 1863, u. 1>'>' Lehre, pom hinocularen Sehen. 1. Lieferung. Leipzig 1868. ' Listing, vgl. RUETE, Lehrb. d. Ophthulm. Göttingen 1846. p. 14. 590 IDENTITÄT DER NETZIIÄITE. §1->1. des LrSTi NO seilen Gesetzes allgemein Lekannt ist, ihre experimen- telle Bestätigung jedoch erst durch Dondeks und Helmiioltz erhalten hat. Die zweite A'on Donders aufgedeckte Eigenschaft der Primür- sfellung ist die, dals die Lage des aus ihr bewegten Auges zur Blicklinie sich unabänderlich gleich bleibt, mag der letzteren die ihr sohliefslich zukommende Richtung nun möglichst direkt oder nach Zurücklegung weitester Um- wege erteilt w^orden sein. Mau pflegt den eben ausgesprochenen Lehrsatz kurz als DoNDERSsches Gesetz dem LiSTiNGschen zur Seite zu stellen. Bewiesen wird das LiSTiNRsche Gesetz nach einer Methode, deren Prinziii von EuETE ausgesprochen, von Donders zuerst in Gebrauch gezogen, endlich von Helmhoi.tz und Heking in vollendetster Weise zur Geltung gebracht worden ist. Von Wichtigkeit bei derselben ist zunächst die Sicherung der Kopflage. Kommt es nur auf eine ungefähre Kontrollierung des LisTiNosclieii Gesetzes an, so genügt es sich mit dem Rücken gegen eine vertikale Wand zu stellen und das Hinterhaupt an dieselbe anzudrücken. Wird aben eine genauere Prüfung beabsichtigt, so Ijedient man sich am besten einer der von E. Herinc. konstruierten Kopfhalter. Ist nun auf die eine oder andre Art für eine feste Haltung des Kopfes gesorgt worden, so gilt es die Hauptforderung zu erfüllen, d. h. die Blicklinie des zu untersuchenden Auges genau perpendikulär auf einen bestimmten, in einer entfernt gelegenen vertikalen Wand befindlichen und durch besondere ^"orrichtungen gekennzeichneten Punkt einzustellen. Zu diesem Zwecke wird nach E. Hering ^ in letzterem eine geknöpfte Nadel genau wagerecht ein- gesenkt und dem Beobachter aufgegeben seinem Auge diejenige Lage zum Fixationspunkte zu erteilen, bei welcher die Nadel in totaler Verkürzung er- scheint, ein Fall, welcher natürlich nur eintreten kann, w^enn die Nadel in der Blicklinie liegt, diese selbst mithin genau wagerecht und perj^endikulär zur Ebene des Fixationspunkts verläuft. Aufser der wagerechten Nadel ist endlich noch in dem zum Fixieren bestimmten Punkte ein gröfseres rechtwinkeliges Drahtkreuz um eine horizontale Achse drehbar befestigt und in dessen Zentrum, der Richtung des einen seiner Arme genau entsprechend, ein mit der Umgebung möglichst stark kontrastierender farbiger Pappstreifen angebracht. Läfst man den Blick des zu untersuchenden Auges auf letzterem längere Zeit un- bewegt ruhen und dann längs dem Kreuzarm wandern, so findet man das durch die anhaltende Reizung erzeugte Nachbild des farbigen Streifens stets dem- jenigen Kreuzarm parallel, in dessen Richtung der Streifen ursprünglich ge- legen war, und genau senkrecht zu dem zweiten den ersten perpendikulär durchschneidenden Arme, gleichviel welche Lage man dem Kreuze durch Drehung um die Blicklinie erteilt haben mag. Hiermit ist natürlich der ge- suchte Beweis des LiSTiNGSchen Gesetzes geliefert und zugleich dargethan, dafs überhaupt alle Achsen, um welche sich das Auge bei seiner Entfernung aus der Primärstellung dreht, senkrecht zur Blicklinie des in der Primärstellung befind- lichen Auges, also in einer und derselben zu eben dieser Linie vertikalen Ebene, der primären Achsenebene E. Herings, der Hauptachsenebene von Donders, gelegen sind. Selbstverständlich dient das eben geschilderte Versuchs- verfahren nicht nur zum Beweis des LiSTiNOschen, sondern auch zum Beweis des Gesetzes von Donders. Nachdem ein physiologisches Einteilungsprinzip uns ermöglicht hat die Mannigfaltigkeit der Augenstellungen auf wenige leicht fafs- bare Gruppen zurückzuführen, hindert nichts mehr über die wich- tigsten Ergebnisse zu berichten, welche über das Lageverhältnis der ' Yg\. E. Heking, Die Lehn' row hinociiJaren Sehen. Leipzig 1868. p. 74. §131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 591 horizontalen und vertikalen Trennungslinien bei verscliiedenen Augen- stelluugen zutage gefördert worden sind. Von der Primärstellung liaben Helmholtz und E. Hering^ unabhängig voneinander und ziem- lich gleichzeitig gefunden , dafs bei derselben die vertikalen Tren- nungslinien in [E F und JJ' F' Fig. 155) nicht mit den vertikalen Meridianen [Ali und A' JB') zusammenfallen, sondern gegen die letz- teren und folglich auch gegeneinander geneigt sind. Mit ihren oberen Enden divergierend würden ihre nach abwärts verlängert ge- dachten konvergierenden unteren Enden sich unter einem spitzen Winkel schneiden, welcher nach Helmholtz bei Normalsichtigen durchschnittlich 2^/2*^ mifst, bei Kurzsichtigen dagegen eine geringere Gröfse besitzt.^ Die Abweichung vom vertikalen Meridian entspricht natürlich der Hälfte des Neigungswinkels der Trennungslinien, bei Normalsichtigen also im mittel einem Winkel von 1,25". Was die horizontalen Trennungslinien (6r H und G' JB' Fig. 156) betrifft, so Fiff. 156. Bf F'B' scheinen dieselben bei Primäi'stellung der Augen nicht selten den horizontalen Meridianen [CD und CD') genau zu korrespondieren; mitunter las.sen sie aber auch eine Drehung um die Blicklinie in gleichem Sinne wie die vertikalen erkennen, kehren also ihre ein- ander zugewandten inneren Enden nach aufwärts, die äufseren ein- ander abgewandten nach abwärts. Immerhin erweist sich jedoch die Abweichung der horizontalen Trennungslinien von den horizon- talen Meridianen in der Mehrzahl der beobachteten Fälle erheblich kleiner, als diejenigen der vertikalen Trennungslinien von den ver- tikalen Meridianen, da sie nach den Messungen Volkmanxs^ nur zwischen 0,26 und 0,72*^ variiert. Einzig und allein Hering gibt für seine Augen an, dafs die vertikalen und horizontalen Trennungslinien ' Helmholtz, VerhamU. d. Heidelberger' med. naturlii.st. Ver. 8. Mai. 1863, u. Arcli. f. Ophthalm. 1863. Bd. IX. Abth. 2. p. 189. — E."heking. Beitr. z. Phvsiol. Leipzig 1S63. Heft 3, u. lyfhre eom hinocul. Se/icn-. 1868. p. 83 u. fy. - Helmholtz, Pinmioi. Optik, p. 705. ^ Volkmann, Physiol. Unters, im Gebiete d. Optik. Leipzig 1864. Heft 2. p. 206. — Vgl. aucli HelmhcjLTZ, Physiol. Optik, p. 701. 592 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. § 1.->1. derselben genau senkrecht zueinander verlaufen, Moraus ersichtlichei'- weise folgt, dafs bei ihm die horizontalen Trennungslinien um ebenso viel von dem horizontalen Meridian abweichen müssen, als die ver- tikalen von dem vertikalen Meridian. Ganz das gleiche würde in Herings wie es scheint ungemein kongruent angelegten Netzhäuten auch von den übrigen schrägen Meridianen und Trennungslinien vor- auszusetzen sein, während Volkmann für die von ihm geprüften Fälle findet, dafs die Winkelabweichung des schrägen Meridians von den schrägen Treunungslinien stetig abnimmt, wenn die Neigung der erstereu zur Vertikalen wächst, und ein Minimum erreicht, wenn diese Neigung einem AVinkel von 90*^ entspricht. Zur Feststellung der Lage, welche der Trennungslinie bei Primärstellung und bei Sekundärstellungen der Augen zukommt, sind verschiedene Methoden angegeben worden. G. Melssxkr, dem wir die erste bahnbrechende Arbeit auf diesem Gebiete verdanken, war auch der erste, welcher in richtiger Erwägung, dafs wir bis zu gewissen Grenzen auch solche Bilder, welche auf wenig differenten Stellen beider Netzhäute liegen, zu einfachen Wahrnehmungen ver- schmelzen können, die Verschmelzung zweier Eindrücke als Kriterium für die Identität der erregten Eetinapartien verwarf Statt dieser empfahl er den Parallelismus der Doppelbilder einer Linie, welche hinter dem Fixationspunkt in der Medianebene gezogen ist, als Kriterium für die Lage der vei^tikalen Trennungslinien zu benutzen. Eine durch den Fixationspunkt in der Median- ebene gezogene Linie erscheint einfach, wenn sie so gerichtet ist, dafs ihre Bilder auf die vertikalen Trennungslinien beider Netzhäute fallen. Eine hinter dem Fixationspunkt in derselben Ebene gezogene Linie mufs in Dojjpelbildern erscheinen, da ihre Bilder in beiden Augen auf solche Reihen von Netzhaut- punkten fallen, welche nach innen von den vertikalen Meridianen liegen, also nicht identisch sind. Diese Doppelbilder erscheinen konvergierend oder parallel je nach dem Winkel, welchen die Linien mit der Visierebene bilden ; erscheinen sie parallel, so ist dies nach Meissner ein Beweis dafür, dafs die von ihnen getroffenen Punktreihen beider Netzhäute den vertikalen Trennungslinien parallel verlaufen. Herixg^ hat gegen die strenge Gültigkeit dieses Satzes, welcher das Fundament von Meissners Methode bildet, Bedenken erhoben, indem er, ab- gesehen von dem Ubelstand, dafs die Beurteilung des Paralleli-smus der Doppel- bilder dem Augenmafse überlassen ist, darauf hinweist, dafs erstens die Doppel- bilder niemals vollkommen parallel erscheinen können, sondern infolge dei' Krümmung ihrer Netzhautbilder als zwei schwache mit ihren Konkavitäten gegeneinander gekehrte Bögen erscheinen müssen und wirklich erscheinen, da- her besonders dann, wenn die doppelbildererzeugende Linie nicht genau durch die Visierebene halbiert wird, Fehler entstehen müssen. Zweitens zeigt Hering, dafs die Lage der Anschauungsbilder nicht immer notwendig der Lage der be- treffenden Netzhautbilder entspricht, dafs bei unveränderter Lage der letzteren erstere z. B. durch Veränderung der Neigung der Fläche, auf welche sie proji- ziert werden, ihre scheinbare Lage ändern, parallele Netzhautbilder konver- gierende Anschauungsbilder liefern können, und umgekehrt. Da diese Fehler jedoch eliminierbar sind, so bleibt Meissners geistreiches Versuchsprinzip jeden- falls brauchbar, wie Hering selbst zugesteht Die genauesten Methoden die Lage der Treunungslinien zu ermitteln verdanken wir Hering und Volkmann. Hering'- markiert auf einer vertikal aufgestellten weifsen Tafel zwei Punkte, deren horizontaler Abstand der Entfernung der beiden Augenknotenpunkte ent- spricht, und über deren jeden in der Ebene der Tafel ein senkrechter schwarzei" ' E. Hering, Be.itr. .-. Physiol. Leipzif? 1863. Heft 3. p. 311. - E. Hering. Beltr. :. Phyxwl. Heft 3. p. 173 u. 177, u. Die Lehre vom hinocularev Sefien. I>cipzig 1868. p. 89 u. fg. §131. IDENTITÄT DER NETZHAUTE. 593 Fig-. 157. Faden straff hinweggespannt ist. Werden beide Punkte sodann bei parallelen Bückliiiien und horizontaler Blickebene fixiert, so empfängt man infolge der Identität der Netzhautpole, auf welche die Punktbilder fallen, keinen Doppel- eindruck, sondern erblickt statt der zwei wirklich vorhandenen Punkte nur einen einzigen in der Medianebene gelegenen. Ebenso erscheinen an gleichem Orte auch die Fadenbilder zu einem einzigen ver- schmolzen, spalten sich aber, sobald man den Blicklinien einen schwachen Grad von Konvergenz erteilt, in zwei nach oben konvergierende Doppelbilder. Spannt man hingegen die Fäden ein wenig nach aufsen von den beiden Blick- punkten über die Tafel aus, so erhält man kein einfaches Fadenbild in der Medianebene, sondern sieht zu beiden Seiten des in derselben wiederum wahr- genommenen einfachen Punktes, ohne die Augenstellung jetzt irgendwie ändern zu müssen, zwei nach oben konver- gierende Fäden. Auf beiden Wegen ist somit bewiesen, dafs die vertikalen | Trennungslinien nicht mit den vertikalen Meridianen des in Primärstellung befind- lichen Auges zusammenfallen, sondern mit ihrem oberen Ende nach aufsen geneigt sind Parallelismus der Doppel- bilder tritt demgemäfs nur ein, wenn man den durch die Fixationspunkte gezogenen Fäden eine bestimmte Divergenz nach aufwärts erteilt, wobei der Grad dieser Divergenz, d. i. der Winkel, welchen die nach abwärts verlängerten Fäden miteinander bilden, nichts Andres bedeutet als den Winkel V der verti- kalen Trennungslinien. Um letzteren durch ersteren zu messen , bringt Hering am oberen und unteren Rand der Tafel, über welche die Fäden hin- weggespannt sind, je zwei kleine Schieber an. Die oberen Schieber werden fest mit einem der Fäden verbunden, die unteren sind vertikal durchbohrt und gestatten dem in ihrer hohlen Achse be- findlichen, am freien Ende durch ein Gewicht beschwerten Faden eine gleitende Bewegung nach auf- und abwärts. Endlich sind um die Blickpunkte {l r Fig. 158) Kreisbögen geschlagen und mit Grad- teilung versehen , an welcher die Ab- weichung der Fäden von der Vertikalen leicht abgelesen werden kann. Beim Gebrauche dieser Vorrichtung mufs jederzeit darauf geachtet werden, dafs die Fäden stets genau und gerade durch die Blickpunkte hindurchziehen. Eine bequeme, dem Prinzip nach ebenfalls zuerst von Hering empfohlene, durch v. Recklinghausen und Fig. 158. / Gruenhagen, Physiologie, 7. Aufl. II. 38 594 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. §131. Volkmann ^ sehr vervollkommnete Form erhält die Untersuchung, wenn man in den Blickpunkten {l r Fig. 158) feine Draht7,eiger anbringt, welche radien- artig der eine nach auf-, der andre nach abwärts, oder, wenn man die Lage der horizontalen Trcnnungslinien eruieren will, der linke nach links, der rechte nach rechts verlaufen. Fixiert man sodann die Blickpunkte in der früher an- gegebenen Weise, so verschmelzen dieselben auch hier in der Wahrnehmung zu einem einfachen Punkte, die beiden Radien aber setzen sieh zu einem ein- zigen die ganze Tafel durchziehenden Durchmesser zusammen, weicher solange im Zentrum geknickt erscheint, als nicht den anfänglich vertikal eingestellten Radien diejenige Divergenzstellung erteilt worden ist, welche von dem Winkel V der vertikalen, oder den anfänglich horizontal gestellten diejenige, welche dem Winkel H der horizontalen Trennungslinien entspricht. Die Gröfse dieser Winkel wird wie in dem früher beschriebenen Versuchsverfahren durch die an passend angebrachten Gradbogen ablesbare Neigungsgröfse der Radien bestimmt. Ein komplizierterer, aber sehr zweckmafsiger Ajjparat die Winkel V und H bei verschiedener Lage der Blickebene unter Benutzung des HKiiiNoschen Prinzips binokularer Doppelbilder zu messen ist von Donukks'^ konstruiert worden und unter dem Namen des Isoskops bekannt. Von einer ausführ- lichen Beschreibung dieses Apparats mufs hier abgesehen werden. Lassen wir die Augen aus der Primürstellung; in eine Sekun- därstellung mit parallelen Blicklinien übergehen ,d. h., lassen wir den Blick nach aufwärts oder abwärts, nach links oder rechts ohne jede Konvergenz der Augenachsen wandern, so wäre nach dem LiSTiNGschen Gesetze keinerlei Lageäuderuug der Trennungslinien zu erwarten, da eine solche nur eintreten könnte, wenn die Augen eine Bolkmg um die Blicklinie ausführten, was durch jenes Gesetz für die jetzt in Betracht gezogenen Fälle eben ausgeschlossen ist. Nichtsdestoweniger lassen aber die sorgfältigen Beobachtungen ver- schiedener Forscher keinen Zweifel übiis:, dafs der Divert^enzwinkel der vertikalen Trennung«;linien oder, wie ibn Donders kurz bezeich- net hat, „der Winkel F", bei Erhebung der Blickebene wächst, bei Senkung derselben abnimmt. Die Schwankungen der Winkelgröfsen sind für verschiedene Augen ungleich befunden worden. Bei Helmholtz betrug die Differenz beim Übergang aus der tiefst möglichen symmetrischen Parallelstellung zur höchst mög- lichen 0,3", bei Hering^ nahezu 1,5", bei Landolt* gegen 2,5", bei E. Berthold^ 6". Sehr genaue Angaben über die Veränderungen, welche der Winkel V bei Senkung der Blickebene erfähit, liegen von Landolt vor. In seinen Augeu betrug der Winkel V in der Primärstellung 0,3", bei Senkung der Blickebene um 25" verliefen die vertikalen Trennungslinien bereits genau parallel und zeigten bei weiterer Senkung bis auf 40" sogar eine sehr merkliche Diver- genz nach abwärts. Den Winkel der Anfangsstellung positiv ge- rechnet, kam also demjenigen der Endstellung ein negativer Wert ' v. Recklinghausen, Arch. f. Ophtkuim. 1859. Bd. v. Abth. 2. p. l4o. — volkmann Physiol. Unters. ]I. 1S64. p. 2R6. « DONDKRS, Pfluegers Arch. 1876. Bd. XIII. p. 378. ' Hering, Die Lehre vont hinocuUiren Sehen. Leipz'fr 1S68. p. 89. * Landolt, Hamtb. d. ges. Augenheilk., heraiisgeg:. voii A. GRAEFE u. TH. SAEMT8CH. Bd II. p. 660. * E. Berthold, Arch. f. Ophthalm. 1865. Bd. XI. Abth 5. p. 107. §131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 595 ( — 1° 5') zu. Abgesehen von den für uns besonders wichtigen Re- sultate, dafs die Grrölse des Winkels V eine Funktion der Augeustel- lung ist, ergibt sich aus dem voi'stehenden in bezug auf das LrSTiNG- sche Gesetz, dafs dasselbe zwar keinen Anspiuch auf absolute Gül- tigkeit erheben darf, jedoch, wie die Geringfügigkeit der soeben mit Zahleuwerten belegten Abweichungen lehrt, dem wirklichen Sachverhalt sehr annähernd Rechnung trägt. Die letzte Klasse von Sekundärstellungen, bei welcher das Lageverhältnis der Trennungslinieu Gegenstand genauer Prüfung gewesen ist, bilden die Konvergenz Stellungen mit in der Me- dianebene liegendem Fixationspunkte. Ebenso wie bei den Sekundärstellungen mit Parallelismus der Blickliuien sehen wir auch bei ihnen sowobl den Divergenzwinkel V der vertikalen als auch den Winkel, Avelcher zwischen den horizontalen Trennungslinien öfters schon bei Primärstellung der Augen existiert, den Winkel H nach DoNDERS, mit Erhebung der ßlickebeue über den Horizont wachsen, mit Senkung unter denselben sich verkleinern, aufserdem jedoch auch noch zunehmen mit dem Konvergenzwinkel der Augen- achsen. Sehr bemerkenswerterweise existiert aber wohl für alle Augen irgend ein Neigungsgrad der Blickebene, bei welcber der Winkel H den Nullwert erreicht und auf demselben auch bei in weitem Umfange unternommenen Konvergeuzveränderungen verharrt, bei welchem sich also beide Augen um parallele und zur Blickebene vertikale Achsen drehen. E\ir Donders Mar diese ausgezeichnete Augenlage erreicht, wenn die Blicklinie um 40^ unter den Horizont geneigt war, bei v. Recklinghausbn, wenn die Senkung 35** betrug. In der Mehrzahl der Fälle pflegt jedoch die betreffende Abweichung von der Horizontalen nach Donders nur zwisoheu 20 — 30" zu schwan- ken, kann indessen mitunter verschwindend klein werden oder gänz- lich fehlen. Ein Fall der letzteren Art scheint in Dastichs Augen voigelegen zu haben, bei welchen Helmiigltz die Lage der Tren- nungslinien absolut unabhängig von dem Einflüsse der Konvergenz fand. Es kann nicht zweifelhaft sein, dafs die Existenz einer Augen- stellung, wie die eben charakterisierte, in innigem Zusammenhange stehen mul's mit der den meisten Menschen gemeinsamen Neigung nahe Objekte unter Senkung der Blickebene zu betrachten, eine Neigung, zu deren Befriedigung wir unbewufst die möglichst günsti- gen Bedingungen herstellen, um bei seitlicher Verschiebung der Augen das von den biecbendeu Medien entwoi'fene Bild stets über genau entsprechende Partien der Doppelnetzhaut hinweggleiten zu lassen. Aus dem gesagten ist ohne weiteres klar, dafs die Lage der Retinameridiane zur Blicklinie den mannigfachsten Veränderungen unterworfen ist, und dal's der Grund dieses schwankenden Verhaltens in den von der äufseren Augen- muskulatiu' ausgehenden Bewegungsantrieben gesucht werden niufs. Da die- selbe nun ihre Innervation von den grofsen nervösen Zentren empfängt, letz- 38* r)<)() IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. §131. tere wiederum aber durchaus nicht in immer gleichbleibender Energie reagieren. 80 kann es kaum wundernohmen, wenn wir erfahren, dafs erstens die an dem Divergenzwinkel V der vertikalen Trennungslinien leicht kontrollierbare Orien- tierung der Netzhaut zur Blicklinie bei einem und demsell)en Individuum unter den verschiedenartigsten äufseren und inneren Einflüssen variiert und z. B. verschieden befunden wird an verschiedenen Tagen, ja selbst zu verschiedenen Tagesstunden, und dafs sie zweitens auch Modifikationen erleidet bei den Änderungen der Akkommodation, von welchen früher gezeigt worden ist, dafs sie sehr gewöhnlich mit Innervationsänderungen gewisser äufserer Augen- muskeln verknüpft sind. Die Möglichkeit sich üher Art und Grad der Lageverändenm- gen, welche .die Netzhaut bei verschiedenen Augenstellungen erfährt, genau unterrichten zu können, einmal dargethan, ist zugleich ein sicherer Weg gebahnt eine fehlerfreie Lagebestimmung der identi- schen Netzhautpunkte vornehmen zu können. Im Besitze exakter Mittel bestimmte Reihen identischer Punkte, die Trennungslinien, als unveränderliche Merkzeichen unter den verschiedensten äufseren Umständen immer wieder aufzufinden, darf es einerseits sogar als eine relativ leichte Aufgabe bezeichnet werden, die Lage der übrigen mit aller nur wünschenswerten Schärfe zu ermitteln, ergibt sich anderseits aber auch die Notwendigkeit, der MuELLERschen Iden- titätslehre eine präzisere Fassung zu erteilen und den thatsächlichen Inhalt derselben mit Helmholtz dahin auszusprechen, dafs Deck- punkte (identische Punkte) beider Sehfelder alle diejenigen Punkte sind, welche gleiche und gleichgerichtete Ab- stände von den scheinbar horizontalen und vertikalen Decklinien (horizontalen und vertikalen Trennungslinien) haben. Denn offenbar wird eine räumliche Gliederung der Retina, welche mit den natürlichen physiologischen Verhältnissen möglichst genau in Einklang stehen soll, vor allem den natürlichen Demarkationslinien Rechnung tragen müssen, welche wir als Trennungs- oder Deckliuien kennen gelernt haben, ob.schon dieselben, wie die Differenz der Winkel V und H lehrt, einander nicht gerade lotrecht schneiden und infolge davon Retinasektoren von ungleicher Gröfse abgrenzen. Zum experimentellen Beweis des soeben nach Helmholtz formu- lierten Fundameutalsatzes bedient man sich am besten der sinnreichen Methode, welche von Hering^ erdacht und von ihm als die Me- thode der gegenseitigen Substitution identischer Stellen bezeichnet worden ist. Dieselbe beruht auf dem Gedanken, dafs, wenn gewisse symmetrisch zu den Trennungslinien beider Netzhäute gelegene Partien identische Eindrücke vermitteln , es für die räum- liche Wahrnehmung gleichgültig sein mufs, ob sich ein bestimmtes Objekt ganz in dem einen Auge abbildet oder nur zur einen Hälfte, während die andre Hälfte in dem zweiten Auge diejenige Region in Erregung versetzt, welche der im ersten unerregt gebliebenen korrespondiert. Erteilt man demgemäfs seiner Blickebene eine solche " E. Hering, Beilr. z. Phisiol. Leipzig 186.3. Heft 3. p. 177. § 131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 597 Neigung zur Antlitzfläche, dafs die vertikalen Trennungslinien genau lotrecht zu den einander parallel gehaltenen Blicklinien verlaufen, für diesen Fall also gleichzeitig die Bedeutung vertikaler Meridiane erlangen, und heschreibt um die zu markierenden Durchschnitts- puukte der Blickliuien mit einer vertikal aufgestellten Tafel zwei kongruente Halbkreise von beliebigem Radius, so werden dieselben in Übereinstimmung mit dem obigen Lehrsatze der Wahrnehmung gerade so erscheinen, als ob einem der Augen für sich ein vollständiger Kreis von gleichem Radius zur Ansicht dargeboten worden wäre, vorausgesetzt, dafs die Durchmesser der Halbkreise einander parallel und die Konkavitäten der letzteren einander zugekehrt sind. Von demselben Gesichtspunkte aus müssen wir mit beiden Augen einen ganzen Durchmesser zu sehen glauben und sehen einen solchen auch wirklich, wenn wir durch die Blickpunkte zwei parallele, aber in entgegengesetzten Richtungen zur Kreisperipherie verlaufende Radien gelegt haben, jedem Auge also nur das Bild eines halben Durch- messers entgegenhalten. / Eine zweite ebenfalls treffliche, aber schwieriger als die vorige zur Aus- führung zu bringende Methode Herixgs ist die Methode der scheinbaren Übertragung eines Nachbildes aus einem Auge in das andre. Er- zeugt man sich in einem Auge ein lebhaftes Nachbild, schliefst dann dieses Auge und blickt mit dem andren auf eine dunkle Fläche, so erscheint auf dei"- selben das Nachbild des geschlossenen Auges, und zwar genau an der Stelle, deren Netzhautbild mit dem Nachbild im andren Auge identisch liegt. Hat man z. B. das Nachbild einer Kreislinie von bestimmten Radius unter genauer Fixation ihres Mittelpunkts im linken Auge erzeugt und blickt dann mit dem rechten Auge auf eine Marke der dunklen Fläche, welche ebensoweit von ihm absteht als vorher der Kreismittelpunkt vom linken Auge, so erscheint um die- selbe das Nachbild des Kreises genau in derselben Gröfse, wie der Kreis selbst dem linken Auge. Hering macht endlich darauf aufmerksam, dafs zur unge- fähren Demonstration der Lage der Deckstellen die binokulare Betrachtung des gestirnten Himmels am besten geeignet sei. Wohin wir auch den binokularen Blick, die parallelgestellten Gesichtslinien, am Himmel richten, niemals erscheint irgend ein Stern, oder der Mond, wie er auch zum Fixationspunkt liege, dop- pelt, weil eben bei parallelen Gesichtslinien und unter der Voraussetzung, dafs bei keiner Richtung derselben Raddrehungen der Augen eintreten , die Rich- tungsstrahlen aller unendlich fernen Leuchtpunkte mit den Gesichtslinien bei- derseits Winkel von gleicher Gröfse und Lage bilden, also zu Deckstellen führen. Dieser Beweis ist jedoch nicht streng, erstens weil in der That kleine Raddrehungen bei stärkerer Aufwärts- und Seitendrehung der Gesichtslinien eintreten, zweitens weil auch solche Objekte einfach erscheinen, welche auf wenig differente Netzhautstellen fallen. Wir gelangen nun zur Erörterung der schwierigen Frage: Wie kommt das Einfachsehen mit identischen Netzhautpunk- ten zustande? Welcher Art ist der physiologische Kon- nex, welcher sie zu solchen macht? Wir haben bereits den Besitz einer sicheren Antwort auf diese Fragen in Abrede gestellt, sind aber deshalb selbstverständlich in keiner Weise genötigt die Iden- titätslehre auch nur für erschüttert zu erachten. Dagegen läfst sich die Unzulänglichkeit der ihr gegenüberstehenden Projektionstheorie 598 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. § 131. uüd die Unhaltbarkeit der von den Vertretern der letzteren gegen die Identitäistheorio vorgebrachten Einwände auf das schlagendste erweisen. Dal's der obei'ste Grundsatz der Projektionstbeorie, wo- nach unsre Lichtempfindungen durch die Yoistellung von den er- regten Netzhautteilchen aus nur den Richtungslinien entlang in die Aulsenwelt pi'ojiziert werden sollen, a ])riori unhaltbar und durch ihren Widerspruch mit zahlreichen Thatsachen widerlegt ist, wurde schon zur Genüge dargethau. Obwohl damit bereits die Möglichkeit, aus ihr das Einfachsehen und Doppeltsehen zu erklären, beseitigt ist, so müssen wir doch den Versuch einer solchen Erklärung aus der Pro- jektionstbeorie speziell zurückweisen; das Verdienst, letztere wohl für immer beseitigt zu haben, gebührt besonders Hering und Volkmann. Die Projektionstheorie stellt den Satz auf, dal's jeder erregte Netzhautpunkt die von ihm erzeugte Empfindung geradlinig in der Richtung der zu ihm gehörigen optischen Richtungslinie nach aufsen setze, dafs demnach das Einfachsehen dadurch entstehe, dafs die von einem Punkt des einen und einem Punkt des andren Auges gesondert nach aufsen getragenen Empfindungen in dem Durch- schnittspunkte der beiden Richtungslinien zusammentrefien und da- selbst verschmolzen werden. Dieser Satz wird, wie Hering und Volkmann gezeigt haben, durch seine eignen unabweislichen Kon- sequenzen widerlegt. Denn wäre er richtig, so könnten erstens überhaupt keine Doppelbilder entstehen, zweitens müfsten wir stets alle Objekte an ihrem wahren Ort sehen. Gesetzt, wir fixieren von den in der Medianlinie 3 G gelegenen Punkten B Ä B^ den mittleren Ä, so erscheint derselbe einfach, B und B^ aber in Doppelbildern, und zw^ar J5' in gekreuzten, B in ungekreuzten Doppelbildern, ferner die Doppelbilder von J5' in geringerer, die von B in gröfserer Entfernung von den Augen als Ä, und zwar in den Entfernungen, in welchen B und B', wenn wir sie fixieren, ein- fach erscheinen. Wenn wir nun der Projektionstbeorie zufolge Ä deswegen einfach sehen, weil die auf den Gesichtslinien Ä 1 und A 2 von beiden Augen nach aufsen getragenen Empfindungen in A zusammenstofsen, warum sehen wir nicht auch B' einfach in B', B in B, wo ebenfalls die zugehörigen Richtungslinien sich durch- schneiden'"? Warum schieisen die von B' aus erweckten Empfin- dungen über den Durchschnittspunkt auf ihren Richtungsstrahlen hinaus? Warum stehen die von B erweckten auf ihren Richtungs- linien vor deren Kreuzung still? Warum sind es gerade die von identischen Punkten projizierten Empfindungen, welche ausnahmsweise in den Durchschnittspunkten ihrer Richtungslinien Halt machen? Es ist ferner klar, dafs wir die Doppelbilder von B' unmöglich in der Entfernung G B' , die von B in der Entfernung G B sehen könnten, wie in der That der Fall ist, wenn sie auf ihren Richtungsliuien lägen, weil sie dann eben in B' und B zu- sammenschmelzen müfsten. Alle, welche bisher für das Sehen m den I §131, IDENTITÄT DER NETZHAUTE. 599 t ßichtungslinien eingetreten sind, mufsten deswegen auch falsche Ent- fernungen für die Doppelbilder statuieren; die meisten nahmen will- kürlich an, dafs dieselben in gleicher Entfernung mit dem Fixations- punkt erschienen, mit andern Worten, dafs alle Empfindungen auf ihren Richtungslinien gleichweit hinausgetragen würden bis zum Durchschnittspunkt derselben mit einer durch den Fixationspunkt gelegten Fläche, welche bald als Ebene, bald als Cy linderfläche ausgegeben wurde. Die Doppelbilder von B' sollten daher in G und F, die von B vn C und D fixiert werden Das ist thatsächlich nicht der Fall, und es ist un- möglich ein Moment aus- zudenken , welches die Seele bestimmen könnte, mit ihren projizierten Empfindungen gerade auf dieser ideellen Fläche Halt zu machen. Diese fehler- hafte Annahme ist aller- dings bisher auch von den Vertretern der Identitäts- lehre gemacht worden, in- dem dieselben mit den An- hängern der Projektions- theorie den allgemeinen Irrtum teilten , dafs die Sehrichtungen mit den Richtungslinien koin vidier- ten, die Bilder diff'erenter Punkte daher ebenso notwendig wie diejenigen identischer Punkte irgendwo auf den Richtungslinien erscheiuen müfsten. Hering hat die unlösbaren Widersprüche trefi"lich entwickelt, in welche man gerät, wenn man den scheinbaren Ort eines Objekts ebensowohl aus der Lage der Richtungslinien als aus der relativen Lage seiner Bilder auf beiden Netzhäuten ableiten will. Welche binokularen Seh- richtungen Hering au die Stelle der Richtungslinien gesetzt hat, ist schon beiläufig erwähnt worden und kommt alsbald weiter zur Sprache. Unter den Vorkämpfern für die Projektionstheorie ist Nagel' der einzige gewesen, welcher das Bedürfnis gefühlt hat, eine mit ihren Fundamentalsätzea vereinbare Erklärung der DoppeH)ikler zu versuchen. Zu diesem Zweck stellt er die Hypothese auf, dafs jedes Auge für sich seine Empfindungen in den Richtungslinien in eine durch den Fixationspunkt um äen Knotenpunkt der Richtungsstrahlen als Zentrum gelegte Kugelfläche projiziere, daher die Projektionsflächen beider Augen sich nur in einer durch den Fixationspunkt * Nagel, Dat Sehen mit zwei Augen. Leipzig u. Heidelberg 1861. 600 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. §131. gehenden Linie scbneideu. Zu einfacher Wahrnehmung können daher nach Na(5kl nur solche Empfindungen verschmelzen, welche auf ihren Eichtungs- linien in dieser beiden Projektionsfiächen gemeinsamen Durchschnittslinie zu- Banimentrelfen , wie die Empfindungen beider Netzhautpole; Objekte, welche jenseits der Projektionssphären liegen, erscheinen in ungekreuzten, Objekte, welche diesseits liegen, in gekreuzten Doppelbildern; jedes Doppelbild liegt da, wo die Richtungslinie des Netzhautpunktes, welcher dasselbe erzeugt, die dem betreffenden Auge zugehörige Kugeltiäche schneidet. Diese Erklärung ist durch- aus unhaltbar. Erstens ist die Annahme einer kugelförmigen Projektionsflächo völlig aus der Luft gegriffen. Wenn wir wirklich die Eindrücke in einer solchen lokalisierten, so miifste sie auch, wenn alle bei der räumlichen Aus- legung benutzten Erfahrungsmomente ausgeschlossen werden, zur Anschauung kommen, wir müfsten, wie Volkmann sagt, einen geraden Stab als Bogen, eine ebene Scheibe als Backschüssel sehen. Zweitens erklärt Nagels Theorie nicht, was sie erklären soll; Nagel selbst hat Widersprüche gefunden und dieselben durch gezwungene weitere Voraussetzungen zu entkräften gesucht. Vor allem ist ihr entgegenzuhalten, dafs die Doppelbilder niemals erscheinen, wo Nagels Theorie sie hinsetzt. Wun»t\ einer der eifrigsten Vertreter der Projektionstheorio, ist bei seinen Bemühungen, sich über die Widersprüche der unleugbaren Dop- pelbilder mit jener Theorie hinwegzuhelfen, noch viel weniger glücklich gewe- sen. Einmal benutzt er bei ihrer Erörterung Sätze der Identitätslehre; zwei- tens behauptet er. Einfachsehen und Doppeltsehen hänge von Gestalt und Lage der Fläche ab, auf welche die doppelten Netzhautbilder projiziert würden, und zwar in der Vi'^eise, dafs man durch gewisse Änderungen der Projektionsfläche ebensowohl Doppeltsehen mit sogenannten identischen, als Einfachsehen mit differenten Punkten herbeiführen könne. Dabei vergifst Wundt, wie Hering ihm treffend entgegenhält, dafs die Projektionsfläche selbst erst vom Auge ge- schaffen, mit den zu projizierenden Netzhauteindrücken selbst erst nach aufsen projiziert werden mufs. Aufserdem ist der ganze Satz thatsächlich leicht zu widerlegen. Wäre er richtig, so müfste das Nachbild, welches wir uns durch Fixation eines leuchtenden Punktes auf beiden Netzhautpolen erzeugt haben, einfach erscheinen, wenn ein Blatt Papier, auf welches wir es projizieren, durch den Kreuzungspunkt der beiden Gesichtslinien gelegt würde, doppelt, wenn es davor oder dahinter läge, im ersteren Fall in ungekreuzten, im zweiten in gekreuzten Doppelbildern. In der That will Wunut die Spaltung eines einfachen (auf identischen Stellen erzeugten) Nachbildes in zwei zuweilen ge- sehen haben, wenn er die Lage der Projektionsfläche rasch in der eben ange- deuteten Weise veränderte. Diese Anga))e beruht entschieden auf einem Irrtum. Ein auf identischen Stellen entstandenes Nachbild wird unter keiner Bedingung doppelt, wie wir auch die Gesichtslinien stellen mögen, wie auch die Projek- tionsfläche gelegen sein möge. Volkmann hat gezeigt, dafs ein in den Netz- hautpolen hervorgerufenes Nachbild sogar dann nicht doppelt wird, wenn wir die Gesichtslinien divergent stellen. Sehr überzeugend wird Wundts Ansicht durch folgenden einfachen, von Hering mitgeteilten Versuch widerlegt Man verschaffe sich durch binokulare Fixation einer farbigen Oblate ein Nachbild, fixiere da- rauf eine nahe vors Gesicht gehaltene Nadelspitze und halte hinter dieselbe ein Blatt Papier in wechselnder Entfernung. Unter diesen Umständen erscheint das Nachbild stets einfach auf der Projektionsfläche des Papiers, und zwar in der Medianlinie, wenn die Nadelspitze in derselben liegt, aber um so gröfser, je weiter das Blatt vom Gesicht entfernt ist. Nach Wundt sollten dagegen ge- kreuzte Doppelbilder erscheinen, welche mit der Entfernung des Papiers weiter und weiter auseinander weichen müfsten. Dafs die zweite Konsequenz der Projektionstheorie, nach wel- cher wir stets alle Dinge an ihrem wahren Ort sehen müfsten, fak- tisch nicht realisiert ist, wurde teilweise schon besprochen. Auch 1 Wundt, Ztschr. f. rat. Med. III. R. 1861. Bd. XII. p. 145. § 131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 601 hierfür hat zAierst Hering entscheidendes Material sorgfältig zusammen- getragen und gezeigt, dafs wir verhältnismäfsig aufser ordentlich wenige Dinge am richtigen Ort sehen. Die beweiskräftigste Thatsache ist die schon augeführte. Zwei Punkte, welche in einer dem Abstände beider Augen gleichen Entfernung voneinander auf einer nahen Fläche verzeichnet sind, verschmelzen, wenn die parallelen Gesichtslinieu auf sie eingestellt sind, zu einem einfachen Punkt, welcher auf der Papierfläche scheinbar in der Mitte zwischen beiden wirklichen Punkten liegt, also weder an den Orten der Objektpunkte, noch in dem unendlich fernen Durchschnittspunkt der parallelen Gesichtslinien. Hering macht ferner darauf aufmerksam, dafs, wenn jeder Objektpunkt im Durchschnittspunkt seiner E,ichtungslinien erschiene, es unmöglich wäre, jemals ein Ding in perspektivischer Verkürzung zu sehen. Hiermit ist die Projektionstheorie vollständig aus dem Felde ge- schlagen. Ihre Anhänger haben sich aber nicht allein vergeblich be- müht, sie aufrecht zu erhalten, sondern auch ebenso vergeblich, die Unhaltbarkeit der Identitätslehre darzutbun, indem sie nachzuweisen gesucht haben, dafs man einerseits mit differenten Punkten einfach, anderseits mit identischen Punkten unter Umständen doppelt sehen könne. Ersteres ist richtig, aber nichts weniger als unvereinbar mit der Identitätslehre ; letzteres würde dieselbe unfehlbar widerlegen, trifft aber in AVirklichkeit nicht zu; alle dafür angeführten Thatsachen beruhen auf Täuschungen oder falschen Auslegungen richtiger Beob- achtungen, wie wiederum Hering unwiderleglich dargethan hat. Der Hauptversuch, aus welchem das Doppeltsehen mit identischen Stellen hervorgehen soll, ist in seiner ursprünglich von Wheatstone^ ge- gebenen Form folgender. Bietet man im Stereoskop dem rechten Auge eine starke Vertikallinie (a Fig. 160) und dem linken eine von der senkrechten Richtung etwas abweichende schräge starke Linie [h], so verschmelzen beide zu einer einfachen Linie, deren Enden sich scheinbar in verschiedenem Abstand vom Auge befinden, welche also aus der Ebene des Papiers, auf welchem beide Linien verzeichnet sind, herauszutreten scheint. Zieht man sodann durch die Mitte der für das linke Auge bestimmten schrägen Linie h eine feine Vertikal- linie c, so erscheint unter dem Stereoskop wiederum die aus a und h verschmolzene geneigte perspektivische Linie, die schwache Linie c aber nach Wheatstone an einem von jener Schrägen verschiedenen Ort. Man erblickt bei vertikaler Stellung des Papiers ein aus der Ebene des letzteren heraustretendes Kreuz, welches in einer die Blickrichtung des rechten Auges schneidenden Vertikalebene zu liegen scheint, also genau in der Lage, welche ein wirkliches Kreuz haben müfste, wenn es zwei auf die beiden Augen verteilten Netzhaut- bilder von dem Aussehen der beiden Zeichnungen entwerfen sollte. Da nun AVheatstone von der Voraussetzung ausging, dafs bei An- i Wheatstone, Philosoph. Transactions. 1838. Bd. II. p. 371, u. POGGENDOKFFs Ann-alen. Ergänzungsbaud 1842. p. 30. 602 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. §131. Stellung des Versuchs die vertikalen Trennungslinieu beider Netzhäute vertikal stehen, also a und c sich auf ihnen abbilden, ferner aber be- hauptet, der perspektivisch erscheinende Sammeistrich entstehe aus- nahmslos durch Verschmelzung von a und h, so mufste er allei'diugs, weil c an einem andren Ort als a trotz seiner Abbildung auf identischen Stellen erscheint, zu dem Schlüsse gelangen, dafs mit identischen Stellen doppelt gesehen werden könne. Trotzdem irrte er. Denn nimmt man darauf Bedacht, dafs die vertikalen Meridiane wirklich zugleich die vertikalen Trennungslinien werden, was man nach den oben gegebenen Erörterungen durch den Parallelismus der Doppel- bilder von a und c bei nicht vollständiger Deckung kontrollieren kann, so verschmilzt niemals a und h, sondern a und c. Man kann sich nach Hering hiervon leicht überzeugen, wenn man beim freien Stereoskopieren die beiden Bilder durch allmähliche Vermehrung der Konvergenz der Ge- '^' sichtsliuien gegeneinander schiebt, oder wenn man an dem Strich a eine Marke anbringt, welche sich dann stets an dem vertikalen, nicht an dem schrägen Strich des Sammelbildes wiederfindet. Bei dem allmählichen Aneinanderrücken der Bilder sieht man allerdings, wenn das eine Ende von a an das ihm nähere Ende von h heranrückt, diese Enden zu einem perspektivischen Schrägstrich verschmel- zen, und glaubt dann eine Verschmelzung der ganzen Striche zu sehen, bei weiterer Annäherung aber, wenn a mit b sich zu kreuzen beginnt, löst sich diese Verschmelzung wieder, bis a mit c sich deckt und verschmilzt. Ist dagegen (bei bestimmten Lagen der Visiei'ebene und bestimmter Haltung des Kopfes) die Stellung der Augen eine solche, dafs die vertikalen Trennungslinien gegeneinander konvergieren, so treten andre Modi der Verschmelzung mit dem gleichen stereoskopischen Effekt ein. Ist die Lage der Trenuungslinien eine solche, dafs bei der allmählichen Gegenein an derschiebung die Striche a und h parallel erscheinen, so verschmelzen sie auch bei der Deckung, weil sie auf identischen Stellen sich abbilden, dann kann aber von einer identischen Lage von a und c keine Bede sein. Ist ein mittlerer Grad von Raddrehuno; der Aua^en vorhanden, so dafs bei der Annäherung der Bilder a weder mit h noch mit c parallel erscheint, so kann es bei der Übereinanderschiebung geschehen, dafs die obere Hälfte von a mit der oberen Hälfte von b, die untere Hälfte mit der unteren von c verschmilzt, weil diese Abteilungen zwar nicht auf ganz, aber doch auf nahezu identischen Netzhautlinien sich abbilden. Somit ist unter allen Bedingungen der WHEATSTONESche Versuch ein Beweis für, aber nicht gegen das ausnahmslose zwangsmäfsige Einfachsehen mit identischen Netzhautstellen. Ganz in derselben Weise verwandeln a §131. IDENTITÄT DER NETZHAUTE. 603 sich andre von Nagel und Wundt als Beispiele des Doppeltsehens mit ideutisclien Stelleü angegebene Versuclisdata, deren Besprechung uns zu weit führen würde, bei genauer Analyse ihrer Bedingungen und Erscheinungen aus Einwänden gegen die Ideutitätslehre in Stützen derselben. Dafs die von Wundt behauptete Spaltung eines auf identischen Stellen erzeugten Nachbildes in Doppelbilder auf einem Irrtum beruht, ist bereits nachgewiesen. Durch die vorstehenden leicht auf ihre Richtigkeit zu prüfenden Versuche E. Herings ist ohne Zweifel bewiesen worden, dafs unter normalen Verhält- nissen mit identischen Punkten nicht doppelt gesehen wird. Pathologischerseits wird dagegen berichtet*, dafs gewisse Fälle von Schielen vorkommen, in welchen die beiden abnorm zueinander gestellten foveae centrales nicht wie identische, sondern wie differente Punkte reagieren, jedoch ihre gewohnton Beziehungen zueinander wenigstens mitunter wiedererhalten, wenn ein operativer Eingriff die falsche Augenstellung beseitigt. Aus diesen Beobachtungen ist geschlossen worden, dafs sich Deckpunkte unter Umständen in differente, und differente in Deckpunkte umzuwandeln vermöchten, und damit das von Wheatstone aus- gesprochene Prinzip von neuem auf den Schild erhoben; ob mit Recht, ist fraglich. Denn einesteils ist in den angezogenen Fällen gar nicht untersucht worden, wie die foi-ea centralis des schielenden Auges zur Blicklinie orientiert war. Es wäre aber denkbar, dafs ihre Trennungslinien in noch viel höherem Grade zur letzteren gedreht waren als unter normalen Verhältnissen, die auf beiden foveae centrales entworfenen Bilder nicht nahezu identische, sondern allzu differente Punkte der Netzhautgruben erregten. Andernteils läfst sich aber auch nichts darüber aussagen, in welcher Art die eine Fovea durch die ihr abnormerweise korrespondierende Stelle der andren Retina unterstützt wurde, da Prüfungen des stereoskopischen Sehens, welche hierüber allein Auf- schlufs erteilen könnten, bisher vollständig fehlen. Auf der andren Seite hat man gegen die Identitätslehre die zuerst von Wheatstone beobachtete Thatsache benutzen wollen, dafs unter Umständen solche Bilder beider Netz- ng.. lei. häute zu einfachen Wahrnehmungen führen , welche nachweisbar auf nicht identischen Stellen liegen. Es wird diese Thatsache bei der Lehre vom stereoskopischen Sehen nähere Würdigung finden, hier nur ein Beispiel dafür und der Nachweis, dafs dasselbe die Ideutitätslehre nicht widerlegt. Bietet man dem einen Auge ein paar senkrechte Parallellinien von bestimmter Distanz, und dem andren Auge ein eben solches von wenig gröfserer oder kleinerer Distanz, so sieht man auch bei un verrückter Fixation, wenn z. B. die Blicklinie jedes Auges die Mitte der linken Linie des ihm dargebotenen Paares (s. Fig. 161) trifi't, doch nur ein einfaches Linienpaar, dessen Distanz dem Mittel der beiden wirklichen d j Abstände d und d^ entspricht, dessen beide • V<;I. Pickford, Ardi. f. phmiol. Heilkunde. 1842. p. 590. — A. V.. GrAEFE, Arch. f. Ophthulin. 18-54. Bd. I. Abth. 1. p. 82 u. fe. — A. GUAEFE, ebenda. Bd. V. Abth. 1. p. 128 u. f?.— HeLMHOLXZ, Hundh. d. phyxiol. Optik. 1867. p. 699. 604 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. §131. Komponenten aber woblgemerkt in zwei verschiedenen hintereinander gelegenen Ebenen zu verlaufen scheinen. Da sich nun unter den be- zeichneten Umständen nur die beiderseitigen linken Linien auf iden- tischen Netzhautpartien abbilden können, die beiden rechten wegen ihrer verschieden grofsen Entfernung von den linken dagegen not- wendig differente Netzhautstellen in Erregung versetzen müssen , so beweist die trotzdem stattfindende Verschmelzung der letzteren aller- dings, dal's Erregungen zweier differenter Netzhautpunkte in der Wahrnehmung auf ein einfaches Objekt bezogen werden können. Noch schlagender spricht für die Möglichkeit eines solchen Verhal- tens die Thatsache, dal's auch zwei den beiden Augen dargebotene Kreise von etwas verschiedenem Halbmesser in der Wahrnehmung zu einem einfachen, aber aus der Ebene des Papiers schräg hervor- tretenden Kreise von mittlerem Durchmesser zusammenfliefsen. Da- mit ist aber noch lange nicht erwiesen, dafs difierente und identische Netzhaat])uukte physiologisch einander gleichwertig sein müfsten. Denn das physiologische Verhalten der letzteren ist, wie hier in Erinnerung zu bringen ist, wesentlich dadurch charakterisiert, dafs die gleichzeitige und gleichartige Erregung zweier derselben der "Wahrnehmung qualitativ nichts verleiht, was nicht bereits durch die Erregung eines einzigen derselben gegeben wäre. Dagegen trägt, wie die eben beschriebenen Experimente aufs deutlichste lehren, die aus der gemeinsamen Erregung differenter Partien beider Netzhäute hervorgegangene einfache Wahrnehmung immer noch die Spuren ihres zwiefachen Ursprungs in dem abweichenden stereoskopischen Effekt an sich. Es verhalten sich, um den unsers Erachtens bestehenden Unterschied durch ein Bild zu veranschaulichen, die durch identische Puuktpaare vermittelten Wahrnehmungen zu den durch difierente vermittelten, wie der Ton zum Klange, akustische Wahrnehmungen, welche dem Laien alle beide von gleicher Ein- fachheit erscheinen, und von welchen in Wirklichkeit doch nur die eine, der Ton, au.f einem relativ einfachen, die andre, der Klang, hingegen ganz zweifellos auf einem sehr zusammen- gesetzten nervösen Erregungsvorgange beruht. Und ebenso wie wir die einheitliche Aufi'assungsweise des Klangs darauf zurückführen müssen , dafs uns zumeist die Übung mangelt, gleichzeitig gegebene difierente Tonempfindungen psychisch zu trennen, ebenso werden wir das Verschmelzen der von differenten Netzhautpunkten erzeugten Empfindungen darauf zu beziehen haben, dafs die durch die Einrichtung des Sinnes- organs faktisch bedingten Doppelbilder als solche der Auf- merksamkeit entgehen. Wir haben bereits auseinandergesetzt, dafs die Wahrnehmung von Doppelbildern überhaupt durch verschie- dene Umstände sehr erschwert wird, sodal's dem Laien sogar solche Doppelbilder entgehen, welche von sehr ditferenten Netzhautstelleu herrühren und räumlich also weit auseinander lieg-en. Diese § 131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 605 Schwierigkeiten wachsen, wenn der räumliche Abstand der beiden Einzelbilder abaimmt, und sind am gröfsten, wenn die Doppel- bilder nahezu identischen Stellen angehören. Übung und Auf- merksamkeit können die Sonderung solcher wenig verschiedener Doppelbilder in hohem Grade erleichtern. Heking gibt z. B. an, dafs ihm häufig bei Betrachtuag stereoskopischer Figuren, bei denen, wie unten bewiesen werden soll, der köi-perliche Effekt auf der Ver- schmelzung difFerenter Konturen beruht, diese Verschmelzung nicht mehr o:elino:e. Auf den wichtio'sten Umstand, welcher diese Sonde- rung vereitelt, hat Volkmann ^ aufmerksam gemacht. Die körper- lichen Gesichtsobjekte entwerfen fast immer in unsern beiden Augen notwendig mehr oder weniger differente Bilder; die regelmäfsig infolge dieser Differenz vorhandenen Doppelbilder einzelner Teile, einzelner Konturen eines solchen Objekts stehen in Widerspruch mit der reellen Einfachheit, welche uns aus unzähligen, besonders mit Hilfe des Tastsinns gewonnenen Erfahrungen bekannt ist. Diese Erfah- rungen, welche die unmittelbare sinnliche Wahrnehmung der Dupli- zität Lügen strafen, bringen uns dahin, dieselbe schliefslich nicht mehr zu beachten, oder verhindern uns, die an und für sich schwierige Sonderung solcher wenig differenten Doppelbilder zu üben. Entweder also verlernen wir im Interesse der Übereinstimmung unsrer Gesichts Wahrnehmungen mit den objektiven Verhältnissen das ursprünglich vorhandene rein sinnliche Doppeltsehen auch mit nahezu identischen Stellen, oder war erlernen die Sonderung solcher räumlich fast zusammenfallenden Eindrücke nicht, weil die Erfahrung uns im Gegenteil dazu drängt, dieselben in ihrer Verschmelzung zu erhalten. Wir können aber diese Sonderung durch speziell darauf gerichtete Übung erlernen, so gut als wir durch Übung die Sonderung räumlich getrennter Eindrücke auf einer Netzhaut verfeinern, die kleinste wahrnehmbare Distanz bis auf das geringste durch die anatomischen Einrichtungen unsers Sehorgans vorgesehene Mafs herab- drücken lernen. Damit ist die Auffassung des Einfachsehens mit differenten Stellen als Akt reiner Sinnesthätigkeit (Panum-) widerlegt. Nachdem somit die Identitätslehre als immer noch mit den Thatsachen verträglich dargethan ist, kommen wir zu der eigentlichen Hauptfrage: worauf beruht die einfache räumliche Wahr- nehmung mit identischen Punkten? Am nächsten liegt un- streitig der Gedanke an irgend welchen anatomischen Konnex der identischen Nervenelemente beider Netzhäute, und in der That haben auch viele Phvsiologen eine anatomische Vereinigung der von identi- schen Stellen kommenden Sehnervenfasern an irgend einem Ort an- genommen. Einige meinten, dafs in dem Chiasma je zwei identische Fasern zu einem einfachen Leiter zum Hirn verschmelzen, andre, ' Volkmann, Arch. f. Ophthalm. 1859. Bd. V. Abth. 2. p. 1. * PANLM, PhiHul. Unters, über das Sehen mit zwei Augen. Kiel 18-58, u. Arch. f. Anat. u. Phtisiol. 1864. p. 63 u. 178. 606 WETTSTEEIT DER NETZHAUTE. §131. dafs erst im Hirn eine gemeinschaftliche Einseukuug zweier solcher Fasern in einen einfachen Enclapparat stattfinde, andre liefsen die cerehralen Ursprungspunkte identischer Fasern durch Kommissuren- fasern der beiden Hirnhiüften in Verbindung treten. Ein anatomischer Beleg ist für keine dieser Hypothesen beigebracht worden und auch schwerlich beizubringen; eine Spaltung zentraler Opticusfasern im Ohiasma ist sogar thatsächlich widerlegt. Dafs aber identische Fasern in irgend welchem organischen Zusammenhang stehen, geht unzwei- deutig aus den später zu besprechenden Beobachtungen über gleichzeitige Lähmung identischer Abteilungen beider Augen (Hemianopsie) hervor. Die scheinbar einfachste und natürlichste Art dieses Zusammenhangs, die Vereinigung je zweier identischer Fasern in einem zentralen Empfindungsapparat, stöfst auf physiologische Bedenken, welche sich aus einer genauen Analyse des Effekts der gleichzeitigen Erregung identischer Punkte ergeben. Bestände nämlich diese Art der Ver- bindung, so müfste voraussichtlich in jeder Beziehung der gleiche Erfolg eintreten, ob wir nun von zwei Eindrücken den einen auf eine bestimmte Stelle des einen, den andern auf die dazu identische Stelle des andren Auges wirken lassen, oder beide Eindrücke kom- biniert nur auf die betreffende Stelle des einen Auges applizieren. Es müfste also z. B. in jeder Beziehung für den Efiekt gleichgültig sein, ob wir den einen Netzhautpol durch eine bestimmte Menge blaues, den andren durch eine bestimmte Menge gelbes Licht reizen, oder ob wir beide Lichtmeugen nur dem einen Netzhautpol zuführen. Nun lehrt aber die Erfahrung, dafs zwar in vielen Be- ziehuno^en die Verteiluno' zweier Eindrücke auf zwei identische Punkte ihrer Vereinigung auf einem äquivalent ist, m andern wesentlichen Beziehungen jedoch Unterschiede des Erfolgs faktisch existieren. Die hierher gehörigen Erscheinungen führen den Namen des Wettstreits der Netzhäute oder der Sehfelder.^ Werden identische Stellen beider Netzhäute von qualitativ identischen Beizen getroffen, so füllen sie gemeinsam den einfachen Wahrnehmungsort mit dem gleichartigen Eindruck aus, doch, wie bereits nachgewiesen wurde, nicht mit der Summe der beiderseitigen Erregungen, nicht üjit der doppelten, sondern mit der einfachen Helligkeit, an deren Eizeugung beide Netzhäute komplementären Anteil haben, jede in die- sem Fall wahrscheinlich die Hälfte beiträgt. Der einfachste Beweis dafür liegt in der bereits angeführten Thatsache, dafs eine weifse Fläche durch- aus nicht immer heller zu erscheinen braucht, wenn man sie mit zwei Augen, als wenn man sie mit einem betrachtet. Diese Teilung ist be- reits als das Ergebnis eines Wettstreits zu betrachten, in welchem jede • Vgl. MUELI.ER. Phiixiol. d. Gesicht.i.rinnei. Leipzig- 1826. p. 79: Lf/irb. d. Phiisiol. 1837. Bd. II. p. 887. — HklmHOLTZ, Huvdb. d. phi/.siol. Optik. Leipzig 1867. p. 767 u. fg. — AUBEUT, Hamtb. d. ges. Augenlieilk., herausgeg. von A. GEAEFE u. TH. SAEMISCH. 1876. Bd. II. p. 550 u. fg. «131. WETTSTREIT DER NETZHÄUTE. 607 Netzhaut ihren Eindruck dem einfachen Wahrnehmungsort aufzu- drängen sucht, welcher Kampf aber, da er mit gleichen Waifen und gleichen Kräften geführt wird, mit geteiltem Sieg endet Anders verhält es sich, wenn die gleichzeitigen Eindrücke auf identische Stellen differenter Natur sind. Hier ist das Resultat des Streits entweder ein entschiedener bleibender Sieg der einen Netzhaut, welche ihren Eindruck allein in das Sehfeld einträgt mit vollständi- ger Verdrängung des Eindrucks der andren, oder der Erfolg ist ein hin- und herschwaukender ; bald erscheint am Wahrnehmungsort der Eindruck der einen, bald derjenige der andren Netzhaut, oder end- lich es tritt auch hier, wenigstens vorübergehend, Frieden ein; beide Netzhäute halten zu komplementären Anteilen mit einer Mischung ihrer Eindrücke das Sehfeld besetzt. Die Erscheinungen des Wett- streits sind zuerst von J. Mueller genauer beobachtet, die Momente, welche auf den Erfolg desselben von Einflufs sind, von Panum, AuBERT, DoNDERS u. a.^ erläutert worden. Am evidentesten treten erstere bei folgendem einfachen Versuche hervor. Erregen wir die eine Netzhaut durch gelbes, die andre durch blaues Licht, indem wir entweder bei binokularer Betrachtung einer weifsen Fläche dem einen Auge ein blaues, dem andren ein gelbes Glas vorhalten, oder unter dem Stereoskop dem einen eine gelbe, dem andren eine blaue Fläche darbieten, so zeigt sich ein unruhiger Farbenwechsel im gemeinsamen Sehfeld. Selten und in der Regel nur sehr vor- übergehend, einigen Beobachtern, z. B. Funke, fast niemals, und namentlich nie gleichzeitig in ganzer Ausdehnung, erschemt es in der Mischfarbe beider Fai'ben, also weifs oder, genauer gesagt, grau. In der übrigen Zeit spinnt sich ein fortwährender Kampf ab, meistens mit verschiedenem, oft gleichzeitig entgegengesetztem Erfolg an verschiedenen Stellen des Sehfeldes, selten mit gleich- zf^itigem totalen Sieg der einen Farbe auf dem ganzen Sehfeld. Bald erscheint der gröfsere Teil desselben rein blau gefärbt, dann taucht plötzlich am Rande oder in der Mitte oder an verschiedenen Stellen ein mattes Gelb auf, welches reiner und reiner wird und seine blaue Umgebung weiter und weiter überflutet, bis es wieder dem siegreichen Blau das Feld räumt u. s. f. Wähi'end dieses Phasenwechsels erscheint das Sehfeld stets metallisch glänzend, bei einem Kampf zwischen Schwarz und Weifs z. B. grauglänzend wie polieiter Stahl. Unter den Momenten, welche den Sieg im Wett- streit entscheiden, sind besonders folgende hervorzuheben. Einmal st es nach den Versicherungen sehr sorgfältiger Beobachter^ möglich, • Vpl. PANUM, a. a. O. — AüBKKT, Phpuicd. d. Kcfzhuvt. Bresl.iu 18fi5. p. 293. — A. PREVOSr, /■>.•!")" siir lu Uiporie de ht visiim binoai'aire. G^iifeve 1S43 — I>ONI)KRS, Aich. f. Ophhnhi,. 1867 IUI. Xill. 1. Abth p. 9. Anm. — W. V. BkZOLD, POGGKNDOnFFs Avnulen. 1874. Jiibelhiiiiil. p .'iS5. — DüBRnwOLSKY. Pkliteger.s Arrli. 1875. Bd. X p. 56. * O. FUNKK, diesrs Lfhrbuch. 4. Aufl. lS(i6. p. 445. — J. MUKLLER, Lehrb. d. Physiol. 1837. Bd. II. p. 388. — HELMHOLTZ, Hanäb. d. physiol. Optik. 1867. p. 775. 608 WETTSTREIT DER NETZHÄUTE. §131. wenn beide Netzhäute wie in dem oben beschriebenen Beispiel mit gleichen Kräften kämpfen, willkürlich durch eine psychische ihrer Art nach nicht bestimmt zu definierende Anstrengung der einen oder der andren Netzhaut für kürzere oder längere Zeit das Über- gewicht zu verschaffen. Zweitens gibt es gewisse objektiv begrün- dete Verhältnisse der beiderseitigen Eindrücke, welche geeignet sind, dem einen derselben die Präponderanz zu sichern. Dahin gehört z. B. überwiegende Helligkeit einer der beiden Lichtreize. Fällt auf eine Stelle der einen Netzhaut ein sehr heller Eindruck, auf die identi- sche der andren ein dunkler, so kommt ersterer in der Regel aus- schlieislich zur Geltung, übertönt letzteren vollständig. Eines der interessantesten Entscheidungsmomente ist dasjenige, welches Panum mit dem Ausdruck „Dominieren der Konturen" bezeichnet und trefflich erläutert hat Dasselbe erklärt sich am besten durch folgenden einfachen von H. Meyer^ angegebenen Versuch. Bringt man vor das eine Auge eine gleichmäfsig gefärbte Fläche, vor das andre eine solche, in welcher zwei verschiedene Farben in einer scharfen Grenze aneinanderstofsen , so sieht man die beiden Farben der zweiten Fläche scharf und rein in der Nähe der Berührungs- grenze, während sie entfernt davon mit der Farbe der ersten Fläche streiten, oft zu einer Mischfarbe mit ihr verschmelzen. Dasselbe tritt ein, wenn statt zweier verschiedener Farben zwei verschiedene Helligkeiten derselben Farbe in einer scharfen Grenze sich berühren. Ein solches Aneinanderstofsen verschiedener Fai'ben oder Helligkeiten ist aber die ausschliefsliche Bedingung des Sichtbarwerdens der Um- risse der Gesichtsobjekte; ein Objekt hebt sich von seinem Grunde nur ab, d. h. seine Grenzen werden sichtbar, wenn es in Farbe oder Helligkeit von ihm differiert oder durch einen Schlagschatten auf letzterem eine dunkle Fläche in seiner Umgebung erzeugt; die Kante eines Würfels sehen wir, weil die von ihr geschiedenen Flächen ungleich hell sind u. s. f. Wahrscheinlich ist es die Konstrast- wirkung der aneinandergrenzenden Farben und Helligkeiten, welche die Aufmerksamkeit der Seele sich erzwingt und so der sie ver- mittelnden Netzhautpartie den Sieg im Wettstreite über die iden- tischen Stellen der andren verschafft. Sind auf beiden Netzhäuten Konturen vorhanden, welche aber nicht identisch liegen, sondern sich kreuzen, so tritt an der Kreuzungsstelle ein Wettstreit der Konturen ein, es überdecken sich wechselsweise die von der einen und die von der andren Netzhaut vermittelten Wahrnehmungen der Konturen. Eine entscheidende Antwort auf die oben gestellte anatomische Frage ist aus den Erscheinungen und Gesetzen des Wettstreits nicht abzuleiten. Auf der einen Seite scheint der Umstand, dafs differente * Vgl. PANUM, Phyxiol. unten, üb. d. Sehm. mit zwri Auqen. Kiel 1858. — H. MEYER, Arch. f. Ophthalm. 1855. Bd. H. Ahth. 2. p. 77. §131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 609 Eindrücke auf identische Stellen nicht zwangsmäfsig zu einem Misch- eindruck verschmelzen, sowie die Thatsache, dafs die Aufmerksam- keit willkürlich die Empfindungen der einen oder der andren Netzhaut bevorzugen kann, entschieden gegen die Einheit des Em- pfindungsapparats identischer Fasern zu sprechen. Auf der andren Seite ist die Möglichkeit einer Verschmelzung der beiderseitigen Eindrücke zu einer Mischempfindung schwer mit der Annahme dis- kreter Empfindungsapparate vereinbar. Die letzte Frage, welche hier berührt werden mufs, betrifi't das Verhalten identischer Punkte hinsichtlich der von ihnen ver- mittelten Haumvorstelhmgen. In dieser Beziehung haben alle Ver- treter der Identitätslehre bis auf Hering keinen Anstofs daran gefunden, identischen Punkten ein absolut gleichartiges Lokalisations- vermögen zuzusprechen, mit andern Worten, ihnen vollkommen identische Lokalzeichen zuzuerkennen. Hering, dessen scharfsinniger Theorie räumlicher Wahrnehmungen wir bereits bei einer andren Gelegenheit kurz gedacht haben, will dagegen identischen Punkten nur identische Sehrichtuugen vindiziert wissen, wobei die von ersteren erzeugten Lichtempfindungeu zwar von identischen Höhen- und Breitengefühlen begleitet wären, nicht aber (mit Ausnahme der von den Netzhautmitten produzierten Empfindungen) von identischen Tiefengefühlen. Wenn daher auch, sobald die Erkenntnis des Gegensatzes zwischen Ich und Aufsenwelt erworben ist, die Erregungen identischer Punkte in gleicher Richtung zum Vor- stellungsbilde des Gesamtkörpers lokalisiert würden, so würden sie deshalb ursprünglich noch nicht an dem gleichen Orte, sondern in gleicher Richtung hintereinander vorgestellt. Die Grundlage der HERiNGschen Lehre, das von ihm entwickelte System der binoku- laren Sehlichtungen ist leicht zu verstehen und, wie schon früher hervorgehoben, auch leicht als richtig zu erweisen. Wären die Richtungslinien des Lichts, wie früher allgemein angenommen wurde, zugleich die Richtungslinien des Sehens, so müfsten wir beim Binokularsehen jedes betrachtete Ding gleichzeitig in zwei ver- schiedenen Richtungen sehen, was undenkbar ist. Wir können wohl durch Reflexion zu dem Urteil gelangen, in welcher Richtung ein Objekt zum rechten oder zum linken Auge liegt, so gut wir auf demselben Weg zur Vorstellung gelangen, in -welcher Richtung es zum Fufs oder zur Hand liegt; aber wir können nicht gleichzeitig die Lage eines Dinges auf das rechte und das linke Auge beziehen. Wir beziehen sie auch nicht auf das eine oder das andre, sondern, da jedes derselben auf die Berücksichtigung seiner Eindrücke bei der Bildung der Richtungsvorstellung das gleiche Recht hat, auf ein ideales einfaches mittleres Auge, welches wir uns durch Ubereinanderschiebung beider Augen in der Gegend der Nasenwurzel entstanden denken können. Man kann sich nach Hering das System der binokularen Sehrichtungen vorstellen als ein System von Linien, GRUENHAGEN, Physiologie. 7. Aufl. II. 39 610 IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. § 131. welche von dem Knotenpunkt dieses idealen mittleren Auges radien- artig in den Sehraum ausstrahlen , zu jedem identischen Punktpaar gehört ein solcher Radius als gemeinsame Sehrichtung. Die gemein- same Sehrichtung der beiden Netzhautmitten ist die Hauptsehrich- tuug, die bewufste Richtung des binokularen Blicks. Diese Hauptsehrichtuug entspricht stets der in der Visierebene gelegenen Halbierungslinie des Konvergenzwinkels der beiden Gesichtslinien. Stehet! die Gesichtslinien parallel geradaus, wie bei Fixation eines unendlich fernen in der Medianlinie gelegenen Objekts, so ist die Medianlinie stets die Sehrichtung der beiden Netzhaut- mitten; alles, was sich auf der einen oder der andren oder gleich- zeitig auf beiden abbildet, erscheint irgendwo auf der genannten Linie. Sehen wir ein Objekt, welches unter diesen Verhältnissen auf beiden Netzhautpolen sich abbildet, in der richtigen Entfernung, so sehen wir es allerdings im Durchschnittspunkt der beiden Gesichts- linien, deswegen aber nicht etwa auf diesen Linien als Sehrichtun- gen. Hering hat durch schlagende Versuche dargethan, dafs bei den bezeichneten Augenstellungen die Bilder der Netzhautmitten nicht notwendig auf den Gesichtslinieu, wohl aber notwendig auf der Medianlinie erscheinen. Der evidenteste Beweis liegt in der Thatsache, dafs bei stereoskopischer Betrachtung zweier in der Distanz der Augenknoteupunkte auf Papier gezeichneter Punkte mit paralle- len Gesichtslinien ein einfacher Punkt scheinbar in der Mitte der beiden wirklichen Punkte, also auf der Medianlinie in der Ebene des Papiers gesehen wird, welcher also weder in dem unendlich fer- nen Durchschnittspunkt der parallelen Gesichtslinien, noch überhaupt auf einer derselben, noch doppelt auf den Durchschnittspuukten beider mit dem Papier, sondern an den wirklichen Orten der Objekte erscheint. Die Entfernung von der Nasenwurzel, in welcher wir die Bilder der Netzhautmitten auf der Medianlinie sehen, wird durch die verschiedenen schon erörterten Momente bestimmt, sie trifft durchaus nicht immer mit der wirklichen Entfernung des die Bilder erzeugenden Objekts zusammen, und nur wenn dies der Fall ist, sehen wir das Objekt auch auf dem Durchschnittspunkt der Gesichts- linieu. Bei einer und derselben Stellung der Gesichtslinien können die Bilder der Netzhautmitten in den verschiedensten Entfernungen auf der Medianlinie je nach den bestimmenden Momenten erscheinen. Neigen wir bei symmetrischer Konvergenz oder Parallelismus der Gesichtslinie die Visierebene nach unten oder nach oben, so neigt sich selbstverständlich in gleichem Sinn und Grad die Hauptsehrich- tung mit der in der Visierebene liegenden Medianlinie; wir werden uns bewufst, ob und in welchem Mafse der binokulare Blick nach unten oder nach oben gerichtet ist. Fixieren wir einen aufserhalb der Medianebene nach rechts oder nach links gelegenen Gegenstand mit parallelen oder unsymmetrisch konvergenten Gesichtslinien, so verschiebt sich entsprechend die Hauptseh richtung, divergiert nach §131. IDENTITÄT DER NETZHÄUTE. 611 rechts oder links von der Medianlinie; wir werden uns bewufst, dafs der gemeinsame Blick beider Augen seitwärts gerichtet ist, ohne uns der Stellung der einzelnen Gesichtslinien bewufst zu werden, ebensowenig als wir bei binokularer Fixation eines nahen in der Medianlinie befindlichen Gegenstandes uns ohne besondere Reflexion darüber klar werden, dafs das rechte Auge nach links, das linke nach rechts gedreht ist. Wir sehen bei den unsymmetrischen Augen- stellungen die Bilder der Netzhautmitten stets in einer Richtung, welche durch die Halbierungslinie des Konvergenzwinkels der beiden Gesichtsiinieu dargestellt wird, wiederum in verschiedenen Entfer- nungen auf dieser Linie, und nur, wenn diese Entfernung der wirk- lichen Entfernung des Objekts entspricht, auf dem Durchschnittspunkt der beiden Gesichtslinien. Wie den Netzhautpolen, so kommt jedem andren identischen Punktpaar beider Augen bei gemeinsamer Thätig- keit eine gemeinsame Sehrichtung zu, welche weder mit der Rich- tungslinie des einen noch der des andren Punkts zusammenfällt, sondern wie die Hauptsehrichtung durch eine von dem Knotenpunkt des mittleren idealen Auges ausstrahlende Richtungslinie repräsentiert wird, mit andern Worten: wir beziehen die Lage der seitlich im Sehfeld gelegenen Objekte weder auf das eine noch auf das andre, noch gleichzeitig auf beide Augen, sondern auf ein ideales, durch Verschmelzung beider entstandenes mittleres Auge. Jede solche Nebensehrichtung eines bestimmten identischen Punktpaars bildet mit der Hauptsehrichtung einen Winkel von konstanter Gröfse und Ij'dge, ändert daher ihre absolute Lage mit der Lageveränderung der Hauptsehrichtung. Alle Sehrichtungen zusammen bilden einen von dem Knotenpunkte des idealen mittleren Auges als Spitze aus- gehenden Conus um die Hauptsehrichtung als Achse. Die Sehrich- tung eines bestimmten identischen Punktpaars entspricht der Rich- tungslinie, welche in dem durch Übereinanderschieben beider Netzhäute entstanden gedachten mittleren Auge von den betreffenden Deck- punkten aus durch den Knotenpunkt dieses idealen Auges gezogen wird. Bei symmetrischer Augenstellung liegen demnach alle Seh- richtungen, welche den identischen Punktpaaren der vertikalen Trenuungslinien angehören, notwendig in der Siedianebene (gleichviel, ob die vertikalen Trenuungslinien senkrecht zur Visierebeue stehen oder nicht), alle Sehrichtungen, welche den Punktpaaren der horizontalen Trennungslinien angehören, in der Visierebene (mögen die Trennungslinien in der Visierebene liegen oder nicht); die Seh- richtungen jedes andren identischen Meridianpaars liegen in einer durch die Medianlinie gelegten Ebene, deren Neigung gegen die Medianebeue oder Visierebene bestimmt wird durch die Winkel, welche die betreffenden Meridiane in jedem Auge mit den vertikalen oder horizontalen Trennungsliuien bilden. Wie schon angegeben, läfst sich nicht bezweifeln, dafs die binokularen Sehrichtungen dem von Hering aufgestellten Schema 39* 612 UER HOROPTER. § 132. entsprechen, wenn auch selbstverständlich nicht mit mathematischer Genauigkeit, und leicht läfst sich, wie ebenfalls bereits erörtert worden, die Überzeugung gewinnen, dals die monokularen Sehrich- tungen der gleichen Regel unterworfen sind. Die einzige Vorbedin- gung von relativer Schwierigkeit, welche bei der Prüfung des Hering- schen Gesetzes von dem Beobachter erfüllt werden mufs, ist, dafs er die zu Visierpunkten bestimmten Objekte wirklich auch monokular und binokuhir genau, vor allem aber stetig zu fixieren imstande sei. Bedenklich scheint aber der zweite hypothetische Teil der Hering- schen Aufstellungen, welcher allen identischen Punkten mit Aus- nahme der Kernpunkte verschiedenartige Tiefengefühle vindiziert. Wirklich nachzuweisen ist ein solches Verhalten doch kaum. Eine Linie erscheint immer nur gleichartig als Linie, möge ihr Bild nun direkt durch monokulare Anschauung oder durch die Verschmelzung zweier Bilder bei binokularer Betrachtung gewonnen sein. Ein körperliches Ansehen, wie es sonst aus der Verschmelzung von Eindrücken resultiert, welche wir auf verschieden entfernte, also in verschiedenen Raumtiefen gelegene Lichtreize beziehen, erhält sie aber nicht. Sind ferner, wie Hering will, die Tiefenwerte der äufseren Netzhauthälften alle von positivem Wert gegenüber denjeni- gen der inneren, d. h. taxieren wir alle Bilder, welche die äufsere Hälfte einer Netzhaut treffen, weiter entfernt von uns als diejeni- gen, welche auf der inneren Hälfte der Netzhaut entworfen wer- den, so müfste doch wohl eine vertikal stehende Ebene bei mo- nokularer Betrachtung schräg gegen die Blicklinie geneigt und zwar uns nasenwärts näher als schlafen wärts zu liegen scheinen.^ In Wirklichkeit erkennen wir aber eine vertikale Wand ausnahmslos auch bei monokularer Anschauung als eine solche. Wir sind natür- lich weit entfernt die hier angeführten Dunkelheiten der Hering- schen Hypothese als Beweise gegen die Zulässigkeit derselben geltend machen zu wollen, zumal sie dem klaren Prinzip der Iden- titätstheorie keinen Abbruch thun; jedenfalls berechtigen sie aber zu dem allgemeinen Schlüsse, dafs eine erschöpfende Erklärung der Grundbedingungen dieses Prinzips noch immer ein Desiderat bleibt. § 132. Der Horopter.- Der Nachweis der Identität der Netzhäute und der Lage der identischen Punkte bei den verschiedenen Augen- ' Vpl. HeLMHOLTZ, ffandb. d. phusiol. Optik. Leipzig 1867. p. 815. - J. MtlKLI.EE, P/i'/xiol. d. Gcaichfxxinnex. Leipzig: 1822. p. 71: ffandb. d. P/insiol. Bd. II. p. 376. — PreVOST, Fs.iai xiir lu tlieurie de lu vi.von hinoculuire. Gdneve 1843; POGGENDORFFS Annalen. 1844. Bd.LXIII. p. 548. — BURCKARDT, Arc/i. d. nutvrf. Ges. in Ba.iel. Bd. I. p. 123. — MeiSSNICR, BeUr. z. Phi/.iiol. d. Seharr/uns. Leipzi;; 1854. — ClAP.\REDE, Arch. de la Hihi, iinir. de Genhe. Oct. Nov. Dec. 1858; Arch. f. Anut. v. Phnxiol. 1859. p. 384. — V. RECKLINGHArSEN, Arch. f. Ophthalm. 1859. Bd. V. Abth. 2. p. 141. — E. HERING, Beitr. z. Physiol. Heft 3. 4 u. 5. — H. HANKEL, PoggkndorfFs Anvulen. 1864. Bd. CXXII. p. 575. — Voi.KMANN, Physiol. Vvter.-'. im Gebiet d. Op'ik. 2. Heft. Leipzifr 1864. — HELMHOLTZ, Her. d. naturhistor. medicin. Genetisch, zu Heidelbern. 1863. September; Ai'ch. f. Ophthalm. 1864. Bd. X. Abth. 1. p. 1; H^- rcdu/iert aucli den Wert des Horopters für unsre Gesichtswahriieh- luuiigeii in boträchtlichem Mal'se, und hat es erlaubt, dafs bei gewissen häufig benutzten Augenstellungen die Herstellung eines möglichst ausgebreiteten Horopters, d. h. eine solche Stellung der identischen Netzhaut])unkte , bei welcher ein möglichst grofser Teil der Aufsendinge einfach erscheint, im Interesse andrer wichtigerer Zwecke geopfert wurde. Der erste, welcher den Begriff des „Horopters" in seiner jetzi- gen Bedeutung feststellte und auf Grund seiner experimentellen Ermittelungen über die Lage der identischen Punkte auf dem Wetire der geometrischen Konstruktion einen Teil desselben zu bestimmen unternahm, war J. Mueller. Es ruht seine Konstruktion auf den Voraussetzungen, dafs die horizontalen Trennungslinien stets in der Visierebene liegen, und dafs auf letzteren die in jedem Auge gleich- weit nach gleicher Seite vom Pol entfernten Netzhautpunkte identi- sche sind. Sei / Fig. 162 ein Leuchtpunkt, den wir mit den beiden Augen A und B fixieren, in welchem also die beiden Sehachsen (Gesichtslinien) a 7 und a' J sich schneiden. Der Punkt / erscheint einfach, weil a und a', auf denen er sich abbildet, als Netzhautpole identisch sind. Nun ist ferner unter obiger Voraussetzung b der §]32. DER HOROPTER. 615 einen Netzhaut mit 1/ der andren identisch; ein gleichzeitig auf beiden sich abbildender Objektpunkt mufs also ebenfalls einfach erscheinen. Diesen Punkt finden wir, wenn wir von h und h' aus durch die respektiven Knotenpunkte der beiden Augen die Rich- tunirslinien , auf welchen alle möglichen in h und h' sich abbilden- den Punkte liegen müssen, ziehen, wo diese beiden Richtungslinien sich schneiden, also in II, liegt der gesuchte Objektpunkt. Ebenso sind c und & identisch, und nach demselben Verfahren finden wir in III den auf ihnen sich abbildenden einfach gesehenen Punkt. Auf dieselbe Weise können wir die einfachen Objektpunkte für alle möglichen identischen Puuktpaare der horizontalen Trennuugslinien durch Konstruktion bestimmen. Diese Linie, auf welcher die Punkte I, II und III und alle übrigen infolge ihrer Abbildung auf iden- tischen Punkten der horizontalen Trennungslinien mit I einfach gesehenen Punkte liegen, ist von Mueller mit dem Namen Horopter bezeichnet worden; für diese Linie hat Mueller den geometrischen Beweis, dafs sie in allen Fällen eine durch den Fixation.spunkt und die Knotenpunkte beider Augen gelegte Kreislinie sei, in folgender A\''eise geführt. Da die Entfernung a h=^a' h', so ist z. a D h=a' E V, folglich nach bekannten geometrischen Lehrsätzen auch z^IDII=IEII, ebenso z. I F D = II F E, folglich auch ^DIII=DIIE. Auf gleiche Weise ergibt sich, dafs D III E = D I E und = D II E. Die Linie, auf welcher I, II, III liegen, mufs demnach eine Kreislinie sein, da nur eine Kreislinie die Eigenschaft hat, dafs auf einer Sehne derselben (der Grundlinie D E) gegen die Pei-ipherie errichtete Dreiecke an der Peripherie gleiche Winkel haben. Der Radius dieses MuELLERschen Horopterkreises ist selbstverständlich um so gröfser, je ferner der fixierte Punkt von den Augen liegt. Diese MuELLERsche Horopterlehre hatte lange ausschliefsliche Geltung in der Physiologie behalten, obwohl ihre Mängel auffallend zutage lagen: erstens die Ilngenauigkeit der Methode, nach welcher ihr Fundament, die Lage der identischen Stellen, bestimmt war; zweitens die ein- seitige Berücksichtigung der auf den horizontalen Netzhautmeridianen liegenden identischen Punkte. Letzteren Mangel hat Mueller wohl empfunden; allein anstatt durch ein entsprechendes geometrisches Verfahren direkt zu bestimmen, ob und wo sich die Richtungslinien in andern Meridianen gelegener identischer Punktpaare schneiden, hat er ohne weitere Begründung die durchaus irrige Behauptung aufgestellt, der Gesamthoropter sei eine Fläche und zwar eine Cylin- derfläche, deren Querschnitt den direkt bestimmten Horopterkreis darstellt. Eine solche Horopterfläche ist eine ünmöglichkeit,_ ebenso eine kugelige Horopterfläche mit dem MuELLERschen Kreis als Äquator, wie sie Ludwig unter ausdrücklichem Hinweis auf die Notwendigkeit direkter Bestimmungen vermutungsweise angenommen hatte. Die LTn- möglichkeit einer solchen Fläche auf dem Wege der Rechnung und des Versuchs dargethan und zuerst die richtige Gestalt des Horopters unter 616 DER HOROPTER. § 132. den von Mueller supponierten Bedingungen in Gestalt desMuELLER- schen Kreises und einer durcli den Fixationspunkt gehenden Vertikal- linie nachgewiesen zu haben, ist ein Verdienst Prevosts, welches erst in neuester Zeit gebührende Anerkennung gefunden hat. Prevost hatte dagegen den Horopter für alle Augenstellungen, welche mit einer Raddrehung verbunden sind, irrigerweise auf einen Punkt reduziert. Meissner war es, welcher die Erörterung der lange ruhen- den Horopterfrage wieder anregte, und wenn ihm auch selbst ihre definitive Lösung nicht gelang, doch für dieselbe die Bahn brach. Er hat zuerst die Notwendigkeit einer exakteren Bestimmung der Lage der identischen Punkte bei verschiedenen Augenstellungen erkannt und eine scharfsinnige, wenn auch nicht völlig ausreichende Methode zur Ausführung dieser Bestimmungen angegeben; er hat demzufolge zuerst die sogenannten Raddrehuugeu der Augen bei der Bestimmung des Horopters in Rechnung gebracht. Viele seiner Beobachtungen und Folgerungen über die Gestalt des Horopters sind richtig, andre allerdings falsch; vor allem gebührt ihm das Verdienst, zuerst die Gestalt des Horopters bei Tertiärstellungen richtig erkannt zu haben. Jedenfalls ist die heftige Polemik, mit welcher Clapa- utBE gegen Meissner aufgetreten ist und Meissners Horopterlehre als vollkommen irrig zu erweisen versucht hat, in den wesentlichsten Punkten durchaus unbegründet. Claparede glaubte ursprünglich die MüELLERsche Cylinderfläche rehabilitieren zu können, nahm jedoch selbst diesen L'rtum später wieder zurück und adoptierte den Pre- vosTschen Horopter für alle Fälle, was unzweifelhaft falsch ist. Als beachtenswerte Beiträge zur Hoi'opterlehre sind noch die Arbeiten von BuRCKHARDT Und V. Recklinghausen zu erwähnen. In neuester Zeit sind durch die exaktere Gestaltung der Iden- titätslehre zwei Lösungen des Horopterproblems hervorgerufen w^or- den, die eine von Hering, die andre von Helmholtz, welche wir in ihren Grundzügen nebeneinander stellen wollen. Die Voraussetzungen, unter welchen Hering den mathemati- schen Horopter berechnete, sind oben bei der Lehre von der Iden- tität auseinandergesetzt. Wir erinnern daran, dafs Hering eine rechtwinkelige Kreuzung der horizontalen und vertikalen Trennungs- linien statuiert, indem er die Existenz der von Volkmann gefunde- neu Differenzen der Kreuzungswinkel verschiedener Trennungslinien mit den zugehörigen Meridianen zwar zugesteht, aber ihrer Gering- fügigkeit und individuellen Schwankungen wegen bei Aufstellung eines allgemeinen Horopterschemas ignorieren zu dürfen glaubt. Wir erinnern ferner daran, dafs Hering sich von der Gestalt der Netz- haut unabhängig machte, indem er den Nachweis führte, dafs solche Richtungsstrahlen zu identischen Stellen führen, welche mit den Gesichtslinien Winkel von gleicher Gröfse und Lage bilden. Ferner verweisen wir auf die gegebenen Erörterungen über die Lage der Trennung^slinien bei verschiedenen Au2:enstelluno:en. Wie wir eben- § 132. DER HOROPTER. 617 falls bereits andeuteten, hat Hering die übliche Einteilung der Netz- häute nach Meridianen und Parallelkreisen verlassen und dafür, besonders zur Erleichterung der Horopterkonstruktion, die Einteilung nach Längsschnitten und Querschnitten eingeführt. Die horizontale Trenn imgslinie nennt er den mittlen Querschnitt, die vertikale den mittlen Längsschnitt. Durch den mittlen Querschnitt und die Gesichtslinie wird eine Ebene und in dieser Ebene durch den Kreuzungspunkt der Richtungsstrahlen eine zur Gesichtslinie recht- winkelio-e Linie o-elewt; dreht man die Ebene um diese Linie als Achse, so erhält man die oberen und unteren Nebenquer- schnitte der Netzhaut, zu deren näherer Bezeichnung die Gröfse des betreffenden Drehuugswinkels der Ebene dient. In gleicher "Weise wird durch den mittlen Längsschnitt und die Gesichtslinie eine Ebene und in dieser durch den Kreuzungspunkt der Richtungs- strahleu eine zur Gesichtslinie rechtwinkelige Linie gelegt; die Dre- hung der Ebene um diese Linie als Achse gibt die rechten und linken Nebenlängsschnitte der Netzbaut. Jede durch einen Querschnitt um den .Kreuzungspunkt gelegte Ebene nennt Hering eine Querebene, jede durch einen beliebigen Längsschnitt und den Kreuzungspunkt gelegte Ebene eine Längsebene; jede Längs- oder Querebene enthält die Gesamtheit aller dem betreffenden Netzhaut- schnitt zugehörigen Richtuugsstrahlen. Diese in den äufseren Raum verlängerten Schnittebenen dienen zur Bestimmung des Horopters. Schneiden sich zwei identische Ebenen beider Augen irgendwo im äufseren Raum, so bilden sich alle auf dem Durchschnitt gelegenen Objektpunkte auf identischen Netzhautschuitten ab. Die Gesamtheit der Orte, wo identische Längsebenen sich schneiden, nennt Hering den Horopter der Längsschnitte, die Gesamtheit der Orte, wo identische Querebenen sich schneiden, den Horopter der Quer- schnitte; die Gesamtheit der Orte, welche ebensowohl im Quer- schnitts- als im Längsschnittshoropter liegen, bilden den eigentlichen Horopter, den „Horopter der Deckstellen." Der Horopter der Längs- und Querschnitte und der Horopter der Deckstellen hat dem- nach bei verschiedenen Stellungen der Augen folgende Gestalt. 1. Stehen beide Gesicbtslinien senkrecht zur Grund linie (Fixation eines unendlich fernen in der Medianebene gelegenei. Objekts) und die beiden mittlen Längsschnitte einander parallel, die mittlen Querschnitte demnach in der Visierebene, so stehen alle identischen Längsebenen parallel, schneiden sich also in unendlicher Entfernung, während je zwei identische Querebenen zu- sammenfallen, sich also überall schneiden. Der Horopter der Längs- schnitte ist demnach eine unendlich ferne, zu den Gesichts- linien senkrechte Ebene, der Horopter der Querschnitte der gesamte Raum nach seinen drei Dimensionen, und der Horopter der Längsschnitte zugleich der Horopter der Deckstellen. Die einfachste empirische Bestätigung dieses Horopters ist die That- ßl8 DER HOROPTER. § l'^2. Sache, dals bei ßetrachtuug des gestirnten Himmels mit geradaus gestellten Gesichtslinien alle Sterne einfach erscheinen. 2. Konvergieren beide Gesichtslinien symmetrisch (Fixation eines nahen in der Medianebene gelegenen Objekts), wäh- rend die mittlen Längsschnitte einander parallel bleiben, also senkrecht znr Visierebene stehen, so konvergieren je zwei iden- tische Längsebenen nach vorn und schneiden sich in einer zur Visier- ebene senkrechten Geraden, welche für die mittlen Längsebenen durch den Fixatiouspunkt geht. Die Gesamtheit der Durchschnitts- linien aller dieser identischen Längsebenenpaare bildet einen Cylin- dermantel, welcher die Blickebene senkrecht durchschneidet in einem durch den Fixationspunkt und die beiden Kreuzungspunkte der Richtungsstrahleu gehenden Kreis, den MuELLERschen Horopterkreis. Die beiden mittlen Querebeuen fallen in der Visierebene zusammen, je zwei identische Nebenquerebenen schneiden sich in einer zur Visier- ebene geneigten, in der Medianebene gelegeneu Geraden, die Gesamt- heit dieser Durchschnittslinien bildet die Medianebene ; Visierebene und Medianebene sind demnach der Horopter der Querschnitte. Beide Horopteren schneiden sich in dem bezeichneten Kreise und einer auf diesem Kreise durch den Fixatiouspunkt gehenden zur Visierebene senkrechten Geraden; dieser Kreis samt Gerade bilden den Horopter der Deckstelleu, d. i. den von Prevost und BuRCKiiARDT bereits angegebenen Horopter, während Müeller den Horopter der Längsschnitte, den bezeichneten Cylindermantel, für den Gesamthoropter gehalten hatte. Meissxkr war für die bezeichneten Augenstellungen, seine konvergenten Sekundärstellungen, zur Annahme eines theoretisch unmöglichen und empirisch leicht zu widerlegenden Horopters in Form einer senkrecht zur Medianlinie durch den Fixationspunkt gelegten Ebene gelangt Er suchte im Anschlufs an eine früher von Baum entwickelte Ansicht aus der Gestalt der Netzhaut die Not- wendigkeit abzuleiten, dafs der in der Visierebene gelegene Teil des Horopters nicht eine Kreislinie sein könne, sondern eine parallel zur Grundlinie durch den Fixationspunkt gehende Gerade sein müsse. Diese Ableitung ist theoretisch durchaus falsch, die Gestalt der Netzhaut, wie Herino gezeigt hat, überhaupt für den Horopter gleichgültig; es ist ferner durch einfache Versuche zu zeigen, dafs Punkte, welche auf Meissners angeblicher horizontalen Horoptergeraden seitlich vom Fixationspunkte liegen, nicht einfach gesehen werden. Dafs eine Linie, welche mit jener Geraden zusammenfällt, einfach erscheint, erklärt sich daraus, dafs sie im Querschnittshoropter liegt, beweist aber keineswegs, dafs sie im Totalhoropter liegt; es erscheint bei Sekundärstellungen jede in der Visier- ebene enthalteneLinie einfach, weil sie sich auf den identischen Mittelquerschnitten abbildet; Meissner hätte daher auf diesen Grund hin die ganze Visierebene seinem Horopter einverleiben müssen. Endlich, selbst wenn Meissners hori- zontale Horopterlinie richtig wäre, ist es ganz ungerechtfertigt, sie als hori- zontalen Durchschnitt zu betrachten und aus der Gegenwart einer ver- tikalen und einer rechtwinkeligen im Fixationspunkt sich kreuzenden Horopter- geraden zu schliefsen, dafs der Horopter eine Fläche sei. Ein einfacher durch V. Recklixghausen angegebener Versuch widerlegt diese angebliche Horopter- fläche schlagend. Man zeichne auf Papier zwei rechtwinkelig sich kreuzende Linien, halte das Papier senkrecht zur Medianlinie, so dafs die horizontale Linie in der Visierebene liegt, und fixiere bei Sekundärstellung den Kreuzungspunkt; beide § 132. DER HOROPTER. 619 Linien ei'scheinen einfach, obwohl nur die Vertikale beiden Horopteren angehört. Zeichnet man aber über oder unter der Horizontalen eine zweite parallele Linie, so erscheint diese in gekreuzten Doppelbildern, während sie auch einfach erscheinen müfste, wenn die Papierfläche Horopterfläche wäre, wie Meissner behauptet. 3. Stehen die Gesichtslinien einander parallel senk- recht zur Grundlinie (Fixation eines unendlich fernen Punkts in der Mediauebene), stehen dagegen infolge sogenannter Raddrehung der Augen die beiden mittlen Längsschnitte nicht parallel, sondern konvergieren sie gegeneinander in einem nach oben oder unten geöffneten AVinkel, sind demnach auch die mittlen Quer- schnitte aus der Visierebene herausgedreht, symmetrisch gegenein- ander geneigt, so schneiden sich je zwei identische Längsebenen unterhalb oder oberhalb der Visierebene in einer zu dieser und der Medianlinie parallelen Geraden, deren Abstand von der Visierebeue von dem Grad der Konvergenz der mittlen Schnittlänge abhängt. Die Gesamtheit dieser Durchschuittslinien aller identischen Längs- ebenen bildet eine zur Visierebene parallele Ebene oberhalb der ersteren, wenn die Längsschnitte nach oben konvergieren, unter- halb, wenn sie nach unten konvergieren, wie dies in der Hegel der Fall ist. Diese Ebene ist der Horopter der Längsschnitte. Je zwei identische Querebenen schneiden sich in einer der Mediauebene ange- hörigen Geraden, die Gesamtheit dieser Durchschnitte bildet die Medianebene, den Horopter der Querschnitte. Beide Horopteren schneiden sich in einer der Medianebene angehörigen, der Visierebene parallelen, unterhalb oder oberhalb derselben gelegenen Linie, deren Abstand von der Visierebene durch den Grad der Raddrehung, d. i. der Konvergenz der Längsschnitte bestimmt wird; diese Linie ist der Horopter der Deckstellen. 4. Konvergieren die Gesichtslinien symmetrisch nach einem in der Medianlinie gelegenen Punkt, während die beiden mittlen Längsschnitte gegeneinander nach unten oder oben konvergieren, so konvergieren je zwei identische Längsebenen nach unten oder oben und schneiden sich in einer zur Visierbeue geneigten Gei'aden. Die Gesamtheit dieser Durchschnittslinien, mithin der Horopter der Längsschnitte, bildet den Mantel eines schiefen Kegels, w^elcher die Visierebene in dem MüELLERschen Horopterkreis schneidet, und dessen Spitze senkrecht unter oder über dem hinteren Durch- schnittspunkt dieses Kreises mit der Medianlinie liegt. Die identi- schen Querebenen schneiden sich in geraden Linien, welche in der Medianebene enthalten und zur Visierebene verschieden geneigt sind; die Gesamtheit dieser Durchschnitte bildet eine mit der Medianebene zusammenfallende Ebene, den Horopter der Querschnitte. Beide Horopteren schneiden sich in einer der Medianebene angehöri- gen, zur Visierebene geneigten Geraden; dieselbe ist mit dem oberhalb der Blickebene gelegenen Ende vom Gesicht weggeneigt, wenn die mittlen Längsschnitte nach unten konvergieren , mit dem 620 I^ER HOROPTER. § 132. unteren Ende, wenn letztere nach oben konvergieren. Die GriUse der Neigung dieser Horopterlinie hängt von dem Grad der Konver- genz der Längsschnitte und der Konvergenz der Gesichtslinien, also der Entfernung des Fixationspuiikts, ab. Der letztbeschriebene Horopter ist bereits von Meissner auf experimeu- tellein Wege ricbtig aufgestellt worden mit Hilfe der Methode, welche wir bereits bei Erörterung der Lage der identischen Pujikte besprochen haben. Es bleibt dies ein Verdienst Meissners, wenn auch seine Methode mit gewissen Fehlern, welche HERiN(i gerügt hat, behaftet sein mag. Verschiedene einfache von Meissner angegebene Versuche sind zur Demonstration dieser Horopterlinie geeignet. Fixiert man bei horizontaler Visierebene (und geradgehaltenem oder vorgeneigtem Kopf) einen Punkt eines in der Medianebene ausgespannten nahen Fadens, so erscheint der Faden in gekreuzten Doppelbildern, sobald er senk- recht zur Visierebene steht; die Doppelbilder nähern sich, je mehr man den Faden aus seiner senkrechten Lage so neigt, dafs sein oberes Ende sich vom Gesicht entfernt, bei einer gewissen Neigung erscheint er einfach, weil er dann in der Horopterlinie liegt. Fixiert man einen vor dem Faden in der Median- linie gelegenen Punkt, so erscheint ersterer in parallelen Doppelbildern, sobald er in der angegebenen Weise und dem erforderlichen Grade gegen die Visier- ebene geneigt ist. Oder man bringt in der Medianlinie drei Punkte hinter- einander an und fixiert den mittelsten: es erscheint dann der vordere in ge- kreuzten, der hintere in ungekreuzten DojJpelbildern; die Dojjpelbiider nähern sich einander, sobald man den vorderen Punkt aus der Visierebene abwärts, den hinteren aufwärts bewegt, um bei einem gewissen Abstand der Punkte von der Visierebene zu einfachen Bildern zu verschmelzen. Die Verbindungslinie der drei Punkte bei dieser Lage ist die geneigte Horopterlinie der Tertiärstellungeu. Dafs aufser dem Fixationspunkt kein andrer Punkt der Visierebene bei der in Rede stehenden Augenstellung im Horopter liegt, zeigt sich evident an einem in der Visiei'ebene durch den Fixationspunkt gespannten Faden, welcher bei allen möglichen Neigungen gegen die Medianlinie (aufser wenn er mit der Gesichtslinie eines Auges zusammenfällt) in gekreuzten Doppelbildern erscheint. 5. Wenn die Gesichtslinien unsymmetrisch nach einem aufserhalb der Medianlinie gelegenen Punkt konvergieren, und keine Raddrehung der Augen stattfindet, die Längsschnitte also parallel stehen, die Querschnitte in der Visierebene liegen, so bleibt der Horopter der unter 2 angegebene, Muellers Horopterkreis und Prevosts vertikale Horopterlinie, mit dem einzigen Unterschied, dafs letztere nicht mehr durch den Fixationspunkt geht, dieser viel- mehr seitlich auf der Kreislinie liegt. Findet dagegen Raddrehung statt und zwar in ungleichem Grade auf beiden Augen, so dafs die Längsschnitte verschieden grofse Winkel mit der Visierebene bilden, so erhält man als Horopter der Läcgsschnitte und Querschnitte Flächen höherer Ordnung; dieselben durchschneiden sich stets in einer durch den Fixationspunkt laufenden Kurve doppelter Krüm- mung. Immer bleibt der Horopter eine Linie, nie reduziert er sich auf einen Punkt, den Fixationspunkt, wie Meissner und Volkmann irrifferweise für bestimmte Fälle angenommen haben. Die genauere geometrische Eotwickelung des Horopterproblems, wie sie Hering gegeben hat, und die von H. Hankel durch analytische Behandlung der gleichen Grundlagen gelieferte Kontrolle für die Richtigkeit derHERiNGschenLösung können wir hier nicht wiedergeben. §132. DER HOROPTER. 621 Die Resultate, zu welchen Helmholtz bei der analytischen Behandlung des Horopterproblems gelangte, sind teilweise von den HERiNGschen abweichend. Die Hauptursache davon ist, dafs Helm- holtz seiner Rechnung ein andres Schema der Anordnung der identischen Punkte und andre Lagerungen bestimmter Meridiane bei bestimmten Augenstellungen zu Grunde legt. Er geht von der Aunahme aus, dafs bei horizontal und parallel geradeaus gerichteten Gesichtslinien die horizontalen Trennuugslinien beider Netzhäute in der horizontalen Yisierebene liegen, die vertikalen Trennungslinieu dagegen nach unten konvergieren, die horizontalen daher nicht rechtwinkelig, sondern unter einem Winkel schneiden, welchen Helm- holtz für sein Auge um 1° 13' von einem Rechten abweichend fand. Da er wie Hering die Netzhäute in identische Längsschnitte, welche den vertikalen Trennungslinien parallel sind, und identische Querschnitte, welche den horizontalen Trennungslinien parallel sind, einteilt, so schneiden sich demnach alle Längsschnitte und Querschnitte unter dem angegebenen Winkel. Als direkten Beweis für die Rich- tigkeit dieser Voraussetzung gibt Helmholtz an, dafs, wenn man unter dem Stereoskop jedem Auge ein System paralleler Horizontal- linien bietet, welche von einem System nahezu vertikaler Linien in der Weise gekreuzt werden, dafs letztere in der für das linke Auge bestimmten Figur mit ihrem oberen Ende etwas nach links, in der rechten Figur etwas nach rechts geneigt sind, alle Linien vollkom- men sich decken. Nach Helmholtz verschmelzen demnach bei der genannten Auu-enstellung zwei wirklich horizontale Linien zu einer einfachen horizontalen, zwei wirklich nach unten konvergierende Linien zu einer einfachen scheinbar vertikalen, während zwei wirk- lich vertikale Linien in konvergenten Doppelbildern erscheinen. Er stimmt also mit Volkmann darin überein, dafs vertikale und hori- zontale Trennungslinieu nicht rechtwinkelig sich kreuzen, während Hering diese Abweichung vernachlässigt, weicht aber von Volkmann wie von Hering darin ab, dafs er nicht wie letztere bei der bezeichneten Augenstellung die horizontalen Meridiane regelmäfsig zur Visierebene geneigt findet, sondern nur ausnahmsweise nach anhaltendem Gebrauch der Augen für die Nähe. Auch Helmholtz macht sich von der Gestalt der Netzhaut unabhängig, indem er die Lage eines bestimmten identischen Punkts nicht nach dem Ort der Netzhaut, welchen eine bestimmte Richtungslinie trifft, sondern nach der Stelle bezeichnet, an welcher eine um den Kreuzungspunkt der Richtungslinien (oder vielmehr „Visierlinien", eine Unterscheidung, die hier wenig in Be- tracht kommt) als Zentrum gedachte Kugelfläche von der betreffen- den Visierlinie geschnitten wird; er bezeichnet diese Hilfskugelfläche mit dem Namen „Sehfeld", den Punkt dieses Sehfeldes, an welchem die zu einem Objektpuukt gehörige Visierlinie dasselbe trifft, als den geometrischen Ort des Objektpunkts. Die Art der geometri- schen Abmessung der Lage eines Sehpunkts geschieht in ganz 622 I^ER HOROPTER. § ] 32. älinlieliei- Weise, wie sie von Hering ausgeführt wurde, nach Breite und Höhe. Eine für jedes Auge durch den Kreuzungspunkt der Visierlinien gelegte Aquatorialebeue, deren Pol der Blickpunkt (d. i. der Durchschnittspunkt der Gesichtslinie mit dem Sehfeld) ist, wird von dem scheinbar horizontalen und den scheinbar vertikalen Meridianen geschnitten; die Schnittlinien nennt Helmiioltz die Äquatorialachsen dieser Meridiane. Die Lage eines Punkts im Sehfeld wird bestimmt, indem man den Höhenwinkel, welchen eine durch ihn und die Äquatorialachse des horizontalen Meridians gelegte Ebene mit diesem, und den Breitenwinkel angibt, welchen eine durch den fraglichen Punkt und die Äquatorialachse des verti- kalen Meridians gelegte Ebene mit letzterem bildet. Die Bestimmung der Form des Horopters, welchen Helmiioltz als „den Inbegriff' aller Punkte des Raums, welche in korrespon- dierende Punkte beider Sehfelder projiziert werden", definiert, erleichtert er dadurch, dafs er wie Hering zunächst zwei Partial- horopteren berechnet und dann deren Durchschnitt, den Totalhoropter, aufsucht. Er be.stimmt zunächst alle Punkte des Raums, welche beiden Augen auf gleicher Höhe erscheinen (infolge ihrer Abbil- dung auf identischen Querschnitten), und bezeichnet den Inbegriff derselben als Horizontalhoropter (Herings Querhoropter); zwei- tens bestimmt er alle Punkte, welche beiden Augen unter gleichen Breitenwiukeln erscheinen, der Inbegriff derselben ist der Vertikal- horopter (Herings Längshoropter), den Durchschnitt beider, den eigentlichen Horopter, nennt er Punkthoropter. Die durch Grleichungen bestimmte Form des Horizontal- und Vertikalhoropters ist im allgemeinen eine Fläche zweiten Grades, ein Hyperboloid mit einer Mantelfläche, welche aber bei gewissen Lagen des Fixier- punkts in eine Kegelfläche oder zwei sich schneidende Ebenen übergeht; der Punkthoropter ist daher im allgemeinen „die Schnitt- linie zweier Hyperboloide, also eine Kurve doppelter Krümmung, in Ausnahmsfällen aber kann er auf gerade Linien und ebene Kur- ven, d. h. Kegelschnitte und Kreise, zurückgeführt werden." Für die verschiedenen Augeustellungen aber ergeben sich nach Helm- HOLTZ folgende spezielle Horopterformen. 1. Der Fixationspunkt liegt in endlicher Entfernung in der Medianebene. Dann schneiden sich die beiderseitigen horizontalen Äquatorialachsen sowohl als auch die vertikalen in der Medianebene, erstere etwas hinter der Grundlinie, urn so weiter, je stärker die Augen konvergieren, letztere bei horizontaler Visierebene und der für Helmholtz' Augen gefundenen Konvergenz der verti- kalen Meridiane etwa 5 Fufs unter der Visierebene; letzterer Schnitt- punkt nähert sich der Visierebene, wenn diese gehoben wird, entfernt sich, wenn sie gesenkt wird, um bei starker Senkung aus unendlicher Entfernung unterhalb in eine endliche Entfernung oberhalb der Visierebene überzuspringen. Beide Schnittpunkte liegen notwendig § 132. DER HOROPTER. 623 in der senkreclit zur Visierebene stehenden gemeinsamen Schnittlinie beider Äquatorialebenen mit der Medianebene. Die Bestimmung der Lage beider Schnittpunkte ist erforderlich zur Horopterbestimmung. Der Horizontalhoropter besteht in diesem Fall aus zwei sich schnei- denden Ebenen, der Medianebene und einer durch den Schnittpunkt der Horizontalachsen und die Zentra der Visierlinien gelegten Ebene. Der Vertikalhoropter ist eine durch den MuELLERschen Horopterkreis gehende Kegelfläche, deren Spitze der Schnittpunkt der Vertikal- achsen bildet. Der Punkthoropter besteht erstens aus einer geraden Linie, welche durch den Fixationspunkt und den Schnittpunkt der Vertikalachsen gezogen ist (Schnittlinie des Kegels mit der Median- ebene), zweitens dem Durchschnitt der zweiten Horizontalhoropter- ebene mit dem Kegel. Dieser Kegelschnitt geht stets durch die beiden Zentra der Visierlinien und besteht bei der Primärlage der Visierebene aus dem MuELLERscheu Horopterkreis, bei gehobenem Blick aus einer Ellipse, deren mediane Achse kleiner als die quere ist und welche die gerade Horopterlinie unterhalb des Fixation,spunkts schneidet, bei gesenktem Blick aus einer Ellipse mit längerer Medianachse, welche die gerade Horopterlinie oberhalb des Fixationspunkts schneidet. 2. Der Fixationspunkt liegt in unendlicher Ent- fernung in der Medianebene, die Gesichtslinien demnach parallel und die horizontalen Meridiane in der Visierebene. Dann liegen die Äquatorialachsen der letzteren, folglich auch ihr Schnitt- punkt mit der Medianebene in der Verbindungslinie der Zentra der Visierlinien, es stellt demnach jede durch diese Zentra gelegte Ebene, d. i. der ganze unendliche Raum den Horizontalhompter dar. Der Kegel des Vertikalhoropters reduziert sich, da der MuELLERsche Kreis unendlich grofs wird, auf zwei sich schneidende Ebenen, eine durch die Zentra der Visierlinien senkrecht zur Visierebene gelegte Ebene, welche nicht in Betracht kommt, und eine parallel zur Visier- ebene durch den Schnittpunkt der Vertikalachseu gelegte Ebene, w^elche zugleich den Punkthoropter darstellt. Da dieser Schnitt- punkt bei horizontaler Visierebene etwa in der Gegend der Fül'se liegt, 80 ist nach Helmholtz unter den in E,ede stehenden Bedingungen die gesamte horizontale Bodenfläche Horopter. Diese Horopterform bildet die wesentlichste Abweichung von denen, welche die Rechnung auf Grund des alten Identitätsschemas und der von andern beobachteten Lage der Trennungslinien ergibt. Wie oben erörtert wurde, fanden sowohl Hering als Volkmann bei horizontaler Visierebene und Fixation eines unendlich fernen, in der Medianebene gelegenen Punkts die horizontalen Trennungslinien nicht in der Visierebene, daher der Horopter unter diesen Verhältnissen keine Ebene, sondern nur eine der Blickebene parallele Linie sein kann. Aufserdem würden bei Hering, wenn selbst bei der genannten Augenstellung die horizontalen Trennungslinien in der Visierebene lägen, die vertikalen Trennungslinien nahezu vertikal stehen, und 624 DAS STEREOSKOPISCHE SEHEN. § 133. bei Volkmann so schwach nach unten konvergieren, dafs die HELMHOLTZsche Horopterebene tief unter die Ebene des Fufsbodens fallen würde. Diese Abweichung ist darum wichtig, weil Helm- HOLTZ dem Zusammenfallen des Horoptei'S mit der Fufsbodenfiäche eine hohe praktische Bedeutung zuschreibt. Er ist der Ansicht, dafs die räumlichen Anschauungen, welche wir beim Binokularsehen erhalten, ihre gröfste Genauigkeit für diejenigen Objekte erreichen, welche im Horopter liegen, dafs demnach für unsre Ortsbewegungen u. s. w. die richtige Beurteilung der Tiefendimension der Boden- fläche, der Entfernung ihrer Einzelheiten von grufsem Wert sei. Wir werden erst im folgenden Paragraphen von den Tiefenwahr- nehmungen des Doppelauges handeln, können daher hier auf eine Kritik dieser HELMHOLTZschen Ansicht nicht eingehen. 5. Der Fixationspunkt liegt aufserhalb der Median- ebene bei Primärlage der Visierebene, also bei in der Visier- ebene liegenden horizontalen Trennungslinien. Dann liegt der Schnittpunkt der Äquatorialachsen der letzteren aufserhalb der Median- ebene und zwor auf derjenigea Seite, von welcher der Blick abge- wendet ist. Der Horizontalhoropter besteht aus zwei sich schneiden- den Ebenen, der Visierebene und einer Ebene, welche senkrecht zur Visierebene so durch den Schnittpunkt der Äquatorialachsen gelegt ist, dafs sie parallel zur Halbierungslinie des Konvergenzwinkels der Gesichtslinien steht. Der Vertikalhoropter ist ein Hyperboloid, dessen zur Visierebene parallele Durchschnitte kreisförmig sind. Der Punkthoropter besteht aus dem MuELLERschen Kreis und einer ge- raden Linie, welche durch den Durchschnittspunkt der Medianebene mit dem MuELLERschen Kreis geht, welche aber infolge der Neigung der vertikalen Trennungslinien nicht senkrecht zur Kreisebene steht, sondern eine durch Konstruktion zu findende Abweichung von dieser Lage zeigt. § 133. Vom stereoskopischen Sehen. Der -wesentliche Unter- schied des binokularen Sehfeldes dem monokularen gegenüber ist die zwangsmäfsig der Wahrnehmung sich aufdrängende Körperlichkeit seines Inhalts, die unmittelbare Ausarbeitung des- selben nach der dritten Dimension des Raums, der Tiefendimension. Sehen wir mit beiden Augen auf eine Landschaft, so erscheinen auf den ersten Blick alle ihre Einzelheiten in den der Wirklichkeit mehr oder weniger entsprechenden Verhältnissen hintereinander geordnet, das Nahe drängt sich uns entgegen, das Ferne weicht zurück, selbst die ebene Strafse oder Eisenbahn streckt sich vor dem Doppelauge, der wirklichen Länge des sichtbaren Teils mehr oder weniger gemäfs, in die Tiefe. Betrachten wir die Landschaft durch ein Fenster oder ein nahe vor den Augen befindliches Gitter, so erscheinen die Teile der ersteren weder in den Bahmen des Fensters oder die § 133. DAS STEREOSKOPISCHE SEHEN. 625 JVJasclien des Gitters hereingezogen, noeli letztere auf den fernen Häusern oder Bergen ruhend, sondern Gitter und Landschaft er- halten sich selbständig, die Maschen des Gitters drängen sich als einer nahen Ebene angehörig der Wahrnehmung auf, die Landschaft weicht plastisch hinter derselben zurück. Betrachten wir einen in deutlicher Sehweite vor uns befindlichen Körper, z. B. einen AVürfel oder eine Kugel, binokular, so erscheint er uns unmittelbar körper- lich, die Kanten und Ecken des Würfels in ihren wahren Ent- fernungen hintereinander geordnet, die Kugel nicht als Scheibe, sondern ihre Oberflächenpunkte von dem uns zugewandten Pol aus successive zurückweichend. Allerdings legen wir auch das mono- kulare Sehfeld nach der Dimension der Tiefe aus, ordnen den Inhalt desselben in mehr oder weniger richtigen Verhältnissen hinter- einander, erkennen auch monokular die Form des Würfels und unterscheiden die Kugel von der Scheibe, ja oft zeigt sich kein merklicher Unterschied in der körperlichen Erscheinung eines Objekts bei doppeläugiger und bei einäugiger Betrachtung. Dennoch besteht ein solcher Unterschied in allen Fällen. Die einäugige Tiefen- wahrnehmung ist wenigstens grofsenteils eine direkte, beruht auf der bewufsten oder unbewufsten, auf Erfahrungen begründeten Interpretation gewisser Eigentümlichkeiten der flächenhaften Netzhaut- bilder, welche bereits bei der Erörterung des Monokularsehens auf- gezählt wurden. Fehlen diese Erfahruugsunterlagen, so wird die monokulare Tiefenanschauung unsicher oder fällt ganz weg; beseitigen wir durch gleichförmige Beleuchtung von allen Seiten an einer Kugel die charakteristische Verteilung von Licht und Schatten, so unterscheidet sie das Einauge nicht mehr von einer Scheibe, zeichnen wir von einem vielflächigen Kristall nur die. Konturen, ohne zugleich die Flächenschattierung wiederzugeben, so wird die Auffassung seiner Form erschwert oder unmöglich, während die Konturen allein, sobald sie dem Doppelauge unter den sogleich zu erörternden Bedingungen dargeboten werden, genügen, ein überraschend körperliches An- schauungsbild zu erzeugen. Nichts beweist evidenter die Überlegenheit der binokularen über die monokulare Tiefen auflfassung, als wenn man die bekannten, für das Stereoskop bestimmten Konturzeichnungen von Kristallen zunächst monokular und sodann unter dem Stereoskop binokular betrachtet. Diesen Unterschied auf seine Ursachen zu- rückzuführen, die Bedingungen aufzusuchen, welche beim Gebrauch des Doppelauges das direkte sichere Sehen nach der dritten Dimension des Raums vermitteln, und das Gesetz der binokularen Tiefen- lokalisation festzustellen, ist die Aufgabe dieses Paragraphen. Eine allseitig adoptierte Lösung derselben gibt es noch nicht; man streitet noch, ob das binokulare Tiefsehen das Resultat einer angeborenen Einrichtung des Doppelauges, oder doch auch auf dem Erfahrungswege erworben ist, d. i. auf der erlernten Auslegung gewisser Verhältnisse der gleichzeitigen Bilder beider Augen zueinander beruht, wobei ORUENHAGEN, Physiologie. 7. Aufl. U. 40 626 DAS STEREOSKOPISCHE SEHEN. § 133. die Vertreter der letzteren Anschauung vieUeicht zu wenig berück- sichtigen dürften, dafs das Erlernen docli immer nur möglich ist, wenn bestimmte anatomische Mechanismen von Geburt an gegeben worden sind, und dafs das von dem Individuum einstmals vielleicht wirklich empirisch Erworbene auf die Nachkommen vererbt worden, diesen also angeboi'en sein kann. Offenbar steht das stereoskopische Sehen des Doppelauges in irgend welchem Kausalverhältnis zu dem Vorgang der Zusammen- setzung eines einfachen gemeinschaftlichen Sehfeldes aus den gleich- zeitigen Eindrücken beider Netzhäute; es handelt sich ja eben darum, zu erklären, wie die zum einfachen Anschauungsbild eines Körpers verschmolzenen Doppeleindrücke seiner einzelnen Punkte in dem richtigen Verhältnis hintereinander geordnet werden. Es ist daher vor allem erforderlich, genau die Beschafl'euheit der Bilder zu analysieren, welche ein gleichzeitig mit beiden Augen betrachteter B A Körper auf beiden Netzhäuten entwirft. Auf Grund einer solchen Analj'se hat zuerst Wheatstois'E den wichtigen Umstand hervor- gehoben, dafs ein nah'er Körper notwendig zwei wesentlich, verschiedene Bilder auf beiden Netzhäuten entwerfen mufs. Von dieser Thatsache kann man sich leicht überzeugen. Halten wir z. B. einen AVürfel in deutlicher Sehweite so vor das Gesicht, dafs zwei diametral gegenübergelegene Kanten in der Medianebene liegen, und schliefsen abwechselnd das eine und das andre Auge, so über- zeugen wir uns leicht, dafs die perspektivische Verkürzung, in welcher er erscheint, für das eine Auge auffällig von derjenigen für das andre Auge abweicht. Während wir mit dem linken Auge die nach links von der Vorderkante befindliche Fläche unverkürzt, die rechte dagegen mehr oder weniger perspektivisch verkürzt sehen, verhält es sich für das rechte Auge umgekehrt, dem linken Auge erscheint der Würfel wie B, dem rechten wie A. Die Unterschiede der beiden Bilder nehmen ab mit der Entfernung des Würfels von den Augen und werden bei einem gewissen Abstand endlich unmerklich. Es liegt nun auf der Hand, dafs die beiden zusammengehörigen Bilder B und Ä desselben Objekts sich unmöglich auf beiden Netzhäuten vollkommen decken, alle entsprechenden Punkte und ^ 133. DAS STEREOSKOPISCHE SEHEN. 627 Linien beider Bilder auf identische Punkte beider Netzhäute fallen können. Denken wir uns die Augen z. B. so gestellt, dafs die Punkte hh auf den beiden Polen der Netzhäute sich abbilden, so kaan c oder d im linken Auge nicht auf einen identischen Punkt zu demjenigen treffen, auf welcläen c oder d im rechten Auge fällt; c fällt links weiter vom Pole entfernt, d näher als rechts auf; identisch sind aber nur gleichweit vom Pole abstehende Netzhautpunkte. Wie kommt es nun, dafs beim Betrachten des Würfels mit beiden Augen derselbe trotz der Nichtdeckung der beiden Bilder einfach, und durch diese Nichtdeckung körperlich erscheint? Wheatstone^ war es, welcher nachwies, dafs wirklich die körperliche Erscheinung eines Gegenstandes durch die Differenz der beiden Netzhauteindrücke bedingt ist, nicht blofs trotz derselben zustande kommt, liefs sich aber beim Versuch, zu erklären, wie wir trotz dieser Differenz ein- fach sehen, zu falschen Schlüssen verleiten. Den erstgenannten Beweis liefert das von Wheatstone erfundene Stereoskop. Liegt die Ursache der körperlichen Erscheinung in der Differenz der beiden Netzhautbilder, so mufs ein beliebiger Gegenstand vollkommen körperlich sich uns darstellen, wenn wir jedem Auge für sich eine Zeichnung des Gegenstandes darbieten, welche genau dem auf die Netzhautfläche projizierten Bilde desselben entspricht: die gleich- zeitige Betrachtung der beiden künstlichen Projektionen mufs in gleicher Weise zur einfachen und körperlichen Wahrnehmung des Gegenstandes führen, wie die direkte Abbildung des Gegenstandes in denselben Projektionen auf beiden Netzhäuten, wenn wir nur durch passende Augenstellung dafür sorgen, dafs die Zeichnung die- jenige Stelle jeder Netzhaut einnimmt, auf welche bei direkter Betrachtung das entsprechende Bild fällt. Der Erfolg bestätigte diese Voraussetzung Wheatstones vollkommen. Es bedarf zum Stereoskopieren nicht notwendig eines besonderen In- struments, sobald man sich durch Übung die Fähigkeit erworben hat, will- kürlich die Gesichtsliuien parallel geradeaus zn stellen und diese Stellung aiich bei Betrachtung einer nahen Fläche festzuhalten, ungeachtet der schwer zu be- kämpfenden Neigung, den Gesichtslinien eine solche Konvergenz zu geben, dafs sie sich in einem dieser Fläclie angehörigen Fixationspunkt schneiden. Bringen wir die den beiden Netzhautbildern entsprechenden Projektionszeichnungen eines Gegenstandes so auf die Papierfläche, dafs die Distanz der beiden Bilder des Fixationspunkts der Distanz der Knotenpunkte des Auges gleich ist, und halten das Papier in deutlicher Sehweite senkreclit zu den parallel gestellten Gesichtslinien, sodafs das Bild des Fixationspunkts jederseits in die betreffende Gesichtslinie zu liegen kommt, so fallen die Bilder der beiden Zeichnungen genau auf dieselben Netzhautstellen, auf welchen bei direkter binokularer Betrachtung des Gegen- standes derselbe in seinen dift'erenten Projektionen sich abbildet. Diejenigen, ■welche die Parallelstellung der Gesichtslinien nicht in der Gewalt haben, können den gleichen Erfolg erzielen, wenn sie die beiden Zeichnungen vertauschen, die für das rechte Auge bestimmte links, die für das linke rechts in der be- ' WheATSTONK, Philmoph. Tranxactions. 18?.S. Part H. p. 371, u. POOGENDORKKs Annal. 1839. Bd. XLVII p. 625, 18-12. Supplementbd. p. 1. 40* {i2S DAS STEREOSKOPISCHE SEHEN. § 13o. zeichneten Distanz anbringen und durch al)sichtliches Schielen die Gesichts- linien vor dem Papier so zur Kreuzung bringen, dafs jede nach der Kreuzung das ihr zugehörige Bild des Pixationspunkts trift't. Das unter dem Namen Stereoskop jetzt allgemein bekannte Instrument erfüllt die erwähnten Bedin- gungen dadurch, dafs es mit Hilfe entweder passend geneigter Spiegel (Whk.vtston'e) oder prismatischer Gläser (Brewster) bei konvergent gestellten Gesichtslinien jedem Auge das Bild der ihm zugehörigen stereoskopischen Zeichnung auf die geeigneten Netzhautstellen, die Bilder des Pixationspunkts demnach auf die beiderseitigen Netzhantpole leitet. Der Voraussetzung ent- sprechend erzeugen die unter diesen Verhältnissen betrachteten stereoskopischen Zeichnungen ein einfaches körperliches Anschauungsbild. Legen wir unter das Stereoskop die obigen Zeichnungen B und Ä, so dafs B dem linken, Ä dem recliten Auge geboten wird, so erscheint uns ein einfacher Würfel nnd dieser so überraschend körperlich, dafs wir trotz der sicheren Kenntnis von der flächen- haften Zeichnung, welche der Anschauung zu Grunde liegt, die Ecke h als vor a befindlich erkennen, und aufserstande sind, beide in eine Ebene zusammenzudrängen. Es erscheint uns auch die Ecke h nicht mehr ungleichweit von c und d entfernt, weder näher an cl, wie sie dem linken Auge allein erscheint, noch ferner, wie sie dem rechten Auge allein erscheint, sondern in der Mitte zwischen c und AS STKRKOSKOPISUHE .SKHEN. 641 -auch ausfalleu möge, beide Erklärimgeu der trotz der Diö'erenz der Netzliautbilder stattiindendeu einfachen Wahrnelimung körperlicher Objekte beim Binokiilarsehen sind vollkommen befriedigend und mit der wohlbegründeten Lehre A'on dei' Identität dei- Xetzhänte in Einklang. Weit schwieriger ist es. die definitiv widerlegte BRUECKESche Erklärung der binokularen Tiefen Wahrnehmungen durch eine andre ei'schöpfende und haltbare Theorie zu ersetzen. Panums Versuch einer solchen Theorie ist in so weit verfehlt, als ei- auf die irrige Projektionslehre basiert ist; verwertbar und, wie wir sehen werden, von Herixg auch wirklich verwertet ist sein Gedanke, dal's die Ausarbeitung des binokularen Sehraums nach der Dimension der Tiefe das Resultat einer angeborenen spezifischen Sinnesenergie sei, unabhängig von dem Eingreifen psychischer Thätigkeiten, nicht er- worben auf dem Erfahrungswege. Volkmann dagegen hat zwar eine eigentliche Erklärung der binokularen Tiefenwahrnehmungen nicht gegeben, hält sie aber für etwas Erworbenes, wie die mono- kularen. Er bezeichnet es als undenkbar, dafs die Tiefen Unter- scheidung, also das Unterscheiden des Nahen und Eerneu, einem Individuum zukomme, welches den Gegensatz des empfindenden Subjekts zum empfindungbedingenden Objekt noch nicht kenne, da eine Wahrnehmung der Tiefe ohne ein Nachaufsensetzen des Empfundeneu nicht möglich sei. Das ist nicht beweisend; denn es bleibt eine primitive Tiefenwahrnehmung in dem Sinne denkbar, dafs wir vor der Erkenntnis jenes Gegensatzes zwar nicht er- kennen, was näher oder ferner von unserm Ich ist, wohl aber was vor oder hinter dem Fixationspunkt liegt, dafs wir also von Geburt an die Gesichtseindrücke ebenso gut vor- und hinter- einander zu ordnen befähigt oder Aielmehr gezwungen wären, als wir sie richtig nach den Dimensionen der Höhe und Breite ordnen, ohne doch ihre Bichtung zu unserm Ich wahrzunehmen. Sind die binokularen Tiefenanschauungen erworben, so müssen notwendig die Momente, auf denen sie beruhen, und der Erfahr ungs weg, auf dem sie erlernt sind, wesentlich andre als für die monokularen Tiefen- anschauungen sein, weil erstere auch da noch evident auftreten, wo alle früher bezeichneten Anhaltepunkte für letztere fehlen oder ab- sichtlich beseitigt sind. Welches aber die gesuchten Momente sind, ist schwer zu ergründen; was man bisher als solche bezeichnet hat, reicht zur Ausarbeitung einer erschöpfenden widerspruchsfreien Theorie nicht aus. Volkmann meinte, dafs der innige Zusammen- hang zwischen der stereoskopischen Verschmelzung nichtidentischer Bilder beider Ketzhäute einerseits und der Tiefeuauschauung ander- seits auf eine Gemeinsamkeit der Bedingungen beider hinweise, d. h. also, dafs wir gleichzeitig lernen, auf Grund der Erfahrungen von der objektiven Einfachheit eines vor oder hinter dem Fixationspunkt gelegenen Objektpunkts seine Doppel])ilder zu einem zu ver- fiRUP:NHAGEN, Physiologie. 7. Aiitl. II. 41 (;42 l'AS STEKEOSKörisr'HK SKHEN. i? H'H, sclnnelzon und diese Punkte, wclclie so und so bescludt'eiie versclimelz- l)are Doppelbildor liefern, dem erprobten objektiven Vei-holten ent- sprccliend auch voi- und liintei' dem Fixatious])unkt /u lokalisiei'eu. Wenusc'bon nun aber ein innig-er Zusaunnenliang /wiseben stere()sk(i])iscliem und "^Mefenseben von Niemand in Abrede g-estellt werden, überdies eindringlicb genug dur(di die Tbatsacbe demonstriurt wird, dafs zwei identische Zeichnungen l)ei Betrachtung unter dem Stereosko]) stereoskopischen Eliekt gelten, so lieweist das immer noch niclit die Gemeinsaudceit der für Ijeide W^ahi'uelimungskategorien ar- forderlichen Bedingungen, und zwar um so weniger, als derselben sogar ein thatsächliches Bedenken in der j-ichtigen namentlich vouPanum her- vorgehobenen Beobachtung gegenübersteht, nach welcher das ^'^ej-- schmelzen von Doj^pelbildei'u durchaus keine unerläl'sliche Voi'aus- set/ung für die binokuhii'e Tiefenanschauung bildet, letztere auch zu- stande kommt, wenn z. B. ein vor oder hinter dem Fixationspunkt liegender Objektpunlct sei es infolge allzu grofser Differenz der perci- pierendeu Netzhautelemente sei es infolge einer besonderen Anstrengung unsrei' Aufmei'ksamkeit in getrennten Trugbildern erscheint. Es ist un- leugbar, dafs, wenn A\ir von drei hintereiuander in der Medianebene ge- legeneu Punkten den mittleren fixieren und der voi'dere ebenso wie der hintere mithin je zwei getrennte Bilder geben, die gekreuzten Doppel- bilder des A'orderen Objektpunktes für näher, die ungekreuzten des hintei'en füi- ferner als der Fixations])unkt geschätzt und zwar mehr odej" weniger genau in der wahren Entfernung des zugehöi-igen Objekt- ])uukts gesehen werden, durchaus aber nicht, wie die Anhänger der Projektionstheorie meistens behauptet haben, in gleichei' Entfernung wie der Fixationspunkt in einer durch diesen senkrecht zur Median- linie gelegten Ebene. Welche ^lomente der Seele zui- Erlernung dieser richtigen Tiefeulokalisation der Doppelbilder verhelfen könnten, haben die Vertreter des erworbenen Tiefeusehens stets auf sich beruhen lassen. Was soll aber ohne absichtlich angestellte Monokularversuche die Unterscheidung der gekreuzten von den ungekreuzten Doppelbildern und daraufhin bei Ausschlufs aller nachweisbaren Erfahrungsmoniente die eutgegengesetzte Lokalisation beider vermitteln? Kurz, es ist vor- läufig niclit möglich alle die Schwierigkeiten zu besiegen, welche sich der Erklärung der spezifischen binokularen Tiefen Wahrnehmung als einer erworbenen Fähigkeit entgegenstellen, und daher begreiflich, dafs Hering auch hier versucht hat, die „psychische'" Theorie durch eine „physiologische" zu verdrängen, d. h. eine primitive, in angeboi'enen Einrichtungen des Sinnesorgans begründete TiefenAvahrnehraung zu statuieren und dieselbe in gleicher AVeise auf ein System von „Raumgefühlen" zurückzuführen, ^\ie die primitive Lokalisation der Eindrücke nach den Dimensionen der Höhe und Breite. Auch hier müssen wir einerseits anerkennen, dafs Hertngi mit grol'sem Scharf- sinn alle thatsächlicheu Verhältnisse in plausibler Weise seiner Theorie untero:eordnet hat, können aber anderseits nicht ver- g 1 tja. DAS STP]REOSKOPISOHE SEHEN. 64;3 Kehleu, dals die Hypothese, auf welcher die Theorie ruht, eben nur eine den Thatsacheu zuliebe gemachte Annahme, eine Um- schreibung des Grundi'cätsels ist, für welches auch Hering keine Erklärung zu geben A'ermag. Die Grundzüge der HERlisGschen Theorie sind folgende. Das gemischte Raumgefühl, Avelches nach Hering jedej' Punkt jeder Netzhaut bei seiner Erregung neben der Lichtem])lindung im Sensorium auslöst, enthält als dritte Komponente neben den bereits bespi'ocheneu Höhen- und Breitengefühlen auch ein ..Tiefen- gefühl", welches unmittelba]- ohne jede psychische Operation dem betreifenden Eindruck einen bestimmten Ort im Sehfeld, d. h. auf der durch das Hrdien- und Breitengefühl gegebenen Sehrichtuug eine bestimmte Entfernung ainveist. Da beim primitiven Sehen von eine]' Beziehung der räumlichen Lagerung der Sehdinge zum empfindenden Ich keine Rede sein kann, so bestellt auch die primitive Tiefenlokali- sation nur in einer Ortsanweisung vor oder hinter dem Fixations- punkt, dem Kernpunkt aller ursprünglichen räumlichen Beziehungen. Jedem Netzhautpuukt kommt vermöge des bestimmten von ihm erweckten Tiefeugefühls ein bestimmter Tiefenwert zu; der Tiefen- wert des Netzhautpols und aller Punkte der vertikalen Trennuugslinie ist null. Dieselbe trennt jede Netzhaut in zwei Hälften, deren Tiefen werte entgegengesetzte Vorzeichen haben, nämlich eine innere Hälfte, deren sämtliche Punkte einen positiven Tiefenwert be- sitzen, d. h. ihre Eindrücke hinter dem Fixationspunkt lokalisieren, und eine äu-fsere Hälfte, deren sämtliche Punkte einen negativen Tiefenwert oder Nahewert besitzen, d. h. ihre Eindrücke vor dem Fixationspunkt lokalisieren. Die Tiefenwert-e der einzelnen Punkte jeder Hälfte bilden ein analog gegliedertes System wie die Höhen- und Breitenwerte, es nimmt die Grölse der positiven wie der negativen Tiefenwerte mit dem Abstand des Längsschnitts, welchem ein bestimmter Netzhautpunkt angehört, von der vertikalen Trennnngsliuie zu. Je weiter z. B. ein Punkt de]- horizontalen Trennungslinie vom Netzhautpol nach der Nasenseite zu entfernt ist, desto Aveiter setzt er seine Eindrücke hinter den Fixationspunkt, je weiter er nach der Aufsenseite absteht, desto weiter lokalisiert ei- sie >'or demselben. Hie]'aus geht hervor, dais die relative An- ordnung der Tiefenwerte auf beidei] Netzhäuten nach Hering eine andre ist, als die der Höheii- und Breitenwerte; während letztere gleichsinnig verteilt sind, so dais, Avenn beide Netzhäute überein- ander geschoben werden, Punkte von identischen Höhen- und Breiten- werten sich decken, sind die Tiefenwerte symmetrisch oder gegen- sinnig verteilt, so dais Deck])unkte zwar gleich grofse Tiefenwerte, aber von entgegengesetzten Vorzeichen besitzen. Identische Punkte, welche nach der oben gegebenen Definition zwangsmäfsig einfach sehen, sind also Herings Anschauung zufolge nicht voll- kommen identisch , sie haben nur identische Höhen- und Breiten- 41* 644 !>A8 STEKEOSKOPISCHE SEHEN ij i;};}. werte, sehen daher ihre Eindrücke zwangsmäl'sig in derselben Richtung, haben aber entgegengesetzte Tiefenwerte, sehen also ihre Ein- drücke ursprünglich auf gleicher Richtung hintereinander, der eine vor, der andre ebenso weit hinter dem Fixationspunkt. Sind die beiden Eindrücke auf zwei identischen Punkten vollkommen gleich, so heben sich die beiden entgegengesetzten gleichgrofsen Tiefenwerte zu null auf, d. h. dei' einfach gesehene Eindruck erscheint in gleicher Tiefe wie der Fixationspunkt, in einer durch den scheinbaren Ort des letzteren gehenden senkrecht zur Visierebene stehenden Ebene, welche Hering als die „Kernfläche des Sehraums" bezeichnet. Alle auf identischen Netzhautpunkten sich abbildenden Objektpunkte d. h. also alle dem Horopter ungehörigen Aufsen- punkte erscheinen daher ursprünglich in dieser Kerufläche des Sehraums, und erscheinen, wie Hering durch zahlreiche Ex- perimente konstatiert hat, auch bei erzogenem Gresichtssinn darin, sobald alle Motive der erworbenen Tiefenanschauungen sorgfältig ausgeschlossen werden. Es zeigt sich dies bei der schon erwähnten Thatsache, dal's zwei vollkommen kongruente Zeichnungen, unter dem Stereoskop betrachtet, keinen stereoskopischen Effekt machen, aus der Fläche des Papiers nicht heraustreten. Gehört ein Objekt- punkt dem Längshoropter an. d. h. bildet er sich auf identischen Längsschnitten beider Netzhäute ab, aber nicht (sofern er nicht zu- gleich im Totalhoropter liegt) auf identischen Querschnitten, so er- scheint er doppelt, wird aber, wenn die DifPerenz der Querschnitte, denen seine Bilder angehören, nicht zu beträchtlich ist, den vor- stehenden Erörterungen zufolge einfach gesehen, und zwai' wiederum in der Kernfläche des Sehraums, da die entgegengesetzten gleich- grofsen Tiefenwerte der identischen Längsschnitte sich zu null ausgleichen. Jede einem Längshoropter ungehörige unbegrenzte gerade Linie erscheint selbstverständlich einfach und wiederum in der Kernfläche des Sehraums. Ebenso verhält es sich mit einer unbegrenzten Geraden, die in irgend einem andren der zahllosen Partialhoropteren, z. B. dem Meridianhoropter, liegt, d. h. sich auf identischen Meridianen abbildet. Ist der Meridianhoropter z. B. ein Kegel, so erscheint ein System von Linien, welche im Fixations- punkt sich kreuzen, als ebener Stern, sobald sie in dieser Kegelfläche verlaufen, wie bereits y. Recklinghausen ^ nachgewiesen hat. Von den HEKiNaschen Versuchen zur Demonstration des Lehrsatzes, dafs alle Punkte des Totalhoropters und Längshoropters und alle in irgend einem Partialhoroiiter gelegenen unbegrenzten Geraden ursprünglich in der Kernfläche des Sehraums erscheinen, heben wir folgende hervor. Schaut man bei horizon- taler Blickebene binokular durch eine kurze Eöhre nach einer gleichfarbigen Wand, läfst von einem Gehilfen einen feinen geraden Draht, dessen Mitte man fest fixiert, in der Medianebene so lange drehen, bis er dem Beobachter senk- recht zu stehen scheint, so zeigt es sich, dafs er in der Eichtung und dem Grade geneigt ist, wie der Längshoropter der vorhandenen Augenstellung. ' V. RECKLINOHAISEN. Air/i. f. Ophtliatvi . 1809. Hd. V. Abth. 2. p. VI:). i^ 13:-^. DAS STEREOSKOPISCHE SEHE>v\ 645 Oder bringl man eine Reihe feiner senkrechter Drähte in einer halben Cylindei-- fläche an, stellt sie senkrecht zur Blickebene (bei symmetrischer Konvergenz und horizontaler Visierebene), fixiert den in der Medianebene verlaufenden Draht und nähert das System den A.ugen, so wird die Cylinderfläche scheinbar flacher und dacher, bis sie zur Ebene wird, wenn das ganze System im Längshoroptrr liegt. Ebenso scheint unter gleichen Umständen ein in einer Kreislinie ange- ordnetes System feiner Kügelchen, von denen man das in der Medianebene be- findliche fixiert, eine gerade Linie zu bilden, sobald es im Mi'Ei.i.EKSchen Horo]jterkreis liegt. Die HERiNGSclie Theorie der binokularen Tiefenwahrnelimung verleiht dem Horopter und ganz besonders dem Längshoropter eine hohe praktische Bedeutung, da ihr zufolge alle dem Horoptei- ange- hörigen Punkte der unmittelbaren richtigen Lokalisation nach der Dimension der Tiefe entzogen sind, die zwaugsmälsige Einlagerung in die ebene Kernfläche des Sehraums nur durch die trügerischen Erfahrungsmotive des Körperlichsehens aufgehoben werden kann. Diese Wichtigkeit des Horopters erhellt am besten aus folgendem. Nach Helmholtz ist unter den oben besprocheneu Bedingungen die ebene Ful'sbodenfläche Totalhoropter; wäre dies richtig, so würde aus Herings Theorie folgen, dals der Fufsboden bei Ausschluff> aller erworbenen Motive des Tiefsehens als eine zur Bliokebene senkrechte ferne Ebene erscheinen müfste, während Helmholtz im Gegenteil der in Hede stehenden Horopterform darum eine hohe praktische Wichtigkeit zuspricht, weil nach seiner Ansicht alles im Horopter liegende am richtigsten, d. h. der Wirklichkeit am ent- sprechendsten lokalisiert werden soll. Die Gründe, welche Helm- holtz für diese Ansicht geltend gemacht hat, sind nicht stichhaltig, abgesehen davon, dals jene Gestalt des Horopters nur bei den wenig- sten Augen möglich sein dürfte. Helmholtz führt zum Beweise, dafs die Raumauschauung und insbesondere auch die Tiefenlokalisation ihre gröfste Genauigkeit für die im Horopter ge legenen Punkte erreiche, die bekannte Thatsaehe an, dals eine Landschaft, welche bei gewöhnlicher Haltung des Kopfes eindringlich nach der Dimension der Tiefe ausgearbeitet erscheint, ein mehr fläch enhaftes Ansehen erhält, und dafs ihr Relief viel weniger deutlich unterschieden wird, sobald man sie mit seitwärts geneigtem Kopfe oder mit nach unten gekehrtem Kopfe zwisclien den Beinen hindurch l^etrachtet, wohingegen die Farben der ferneren Gegenstände viel autfälliger hervortreten. Diese Veränderung betrachtet Helmholtz als Folge davon, dafs die vor uns hingestreckte Bodenfläche, welche bei gewöhnlicher Haltung des Kopfes und Fernstellung der Augen im Horopter liegt, bei der unge- wöhnlichen in jenen andern beiden Fällen aus dem Horopter herauskommt. Das deutlichere Hervortreten der Farben erklärt er daraus, dafs die Farben, welche die Luftperspektive fernen Gegen.ständeu gibt, dem durch Erfahrung geübten Auge als Zubehör der Ferne erscheinen und uns deshalb an Gegenständen, die war als i'ern erkennen, nicht auffallen, der Wahrnehmung sich al>er sofort rein aufdrängen, wenn uns die fernen Gegenstände scheinbar näher rücken. Hering wendet gegen diese Erklärung, abgesehen von seinem im Text erörterten Ein- s])ruch gegen die HelmholtzscIic Gestalt des Horopters und von seiner gegen- teiligen Behauptung, dafs alles im Horopter gelegene am w-enigsten richtig nach der Dimension der Tiefe lokalisiert werde, besonders die Thatsaehe ein, dafs die fragliche Veränderung des Aussehens der Landschaft auch beim Sehen mit nur (J4() DAS 8TEKK()SK01'IS(HK SKHEN. § l'^'-J- einem Auge in gleicher Weise eintritt; er führt dieselbe ilnraut' zurück, dafs wir überhaupt viel jj'eneigter und infolge der langen Gewoiinhcit, liorizontalc Flächen von oben herab zu betrachten, geübter sind, das auf der Netzhaut tiefer gelegene ferner, das höher gelegene näher zu sehen. Dafs wir das Re- lief einer P^läche feiner unterscheiden, wenn sie im Horopter liegt, gibt Herinc zu, leugnet aber, dafs dandt notwendig eine richtige Tiefenlokalisation ver- l)unden sei. Die umuittelbare Tiefen lokulisatioii tiütt tiacL .Hi<:iux(i nur bei aulserhall) des Horopters gelegeneu Teilen des Seliraums eiu, alle aulserhalb des Läugshoropters gelegeneu Punkte und alle nicht in einem Partialhoropter verlaufenden unbegrenzten Geraden müssen seiner Theorie zufolge aufserhalb der Kern- fläche des Sehraums, vor oder hinter derselbeu erscheinen. Trifft das Bild eines Punkts auf diH'ereute Längsschnitte beider Netzhäute, so sehen wir denselben entweder doppelt oder, wenn die Differenz der Netzhautschnitte nicht zu grofs ist, einfach. Im letz- teren Falle hat also eiu Verschmelzungsprozefs zweier Bilder zu einem einzigen stattgefuuden oder, irm uns einer sehr zweckmäfsigen, Aon Helmholtz eingeführten Redeweise zu bedienen, es ist aus der Verschmelzung zweier Halbbilder ein Ganzbild hervorgegangen. Jedem der Halbbilder haben wir aber nach Hering einen verschie- denen Tiefenwert zuzuschreiben, dem Ganzbilde demnach einen solchen, welcher dem arithmetischen Mittel der beiden einzelnen Tiefenwerte entspricht. Der neu gewonnene Wert kann imter den hier vorausgesetzten umständen niemals tiull sein, sondern mui's stets eine bestimmte negative und positive Gröfse haben, welche dem Ganzbilde eine bestimmte Entfernung vor oder hinter der Kern- iiäche des Sehraums anweist. Je beträchtlicher die Differenz der Längsschnitte ist, denen die beiden Halbbilder angeh()ren, desto be- trächtlicher ist der F'ern - oder Nahewert, welchen das Ganzbild erhält. Die Qualität des mittleren Tiefen wertes, d. i. sein Vor- zeichen, läfst sich aus iler Theorie unschwer ableiten, wie folgende Beispiele darthun. Der Einfachheit wegen beschränken wir uns auf die Betrachtung der l^iefenlokalisation solcher Punkte, welche dem Querhoropter angehören, also sich auf identischen Querschnitten ab- bilden. Nehmen wir an, die horizontalen "^rrennirngslinien liegen in der Blickebene bei Fixation eines nahen in der Medianlinie befind- lichen Punkts, so erscheint ein vor dem Fixationspunkt in der Medianlinie gelegener Punkt in gekreuzten, ein hinter ihm gelegener in ungekreuzten Doppelbildern, wie es die Lage der jedem der Punkte zugehörigen Halbbilder auf der Retina erheischt. Werden die von den Halbbildern ausgelösten Empfindungen in der Wahr- nehmung zu einem Ganzbilde vereinigt, was beim gevtöhnlichen Sehen innerhalb gewisser Grenzen möglich ist, so ist in bezug auf die damit verbundene Verschmelzung der Tiefengefühle zu beachten, dafs die Halbbilder jedes Punkts auf symmetrischen Hälften der beiden Netzhäute liegen, die des vorderen auf den äufseren, die .^ 133^ DAS STEREOSKOPISCHK SKHEX. (J47 des hinteren auf den inneren Hälften und zwar iu beiden Fällen gleich weit aoh den vertikalen Treanuugslinien entfernt. Jedes Halbbild des vorderen Punkts erhält daher denselben negativen, jedes Halbbild des hinteren Punkts denselben positiven Feruwert; der mittlere .Fernwert, welcher dem Ganzbilde zukommt, mul's somit demjenigen der Halbbilder an Grölse genau entsprechen; das Ganz- bild des vorderen Punkts erscheint daher in bestimmte!' Entfernung vor, dasjenige des hinteren iu bestimmter Entfernung hinter dem Fixationspunkt, um so weiter, je gröfser der Abstand der Längs- schnitte, denen die Halbbilder angehören , von der vertikalen Tren- nungsliuie, je gröfser also deren positiver oder negativer Tiefenwert ist. Liegen die beiden Punkte nicht in der ^Medianlinie, sondei-]) etwas seitlich davon, aber innerhalb des von den Gesichtslinien ein- geschlosseneu Teiles der Yisierebene, so liegen die Halbbilder zwar noch auf symmetrischen Xetzhauthälften, aber ungleich weit von den vertikalen Trennungslinien; sie erhalten deshalb zwar immer noch Tiefenwerte von gleichem Vorzeichen, aber von verschiedener Gröfse. Der mittlere Tiefenwert der Ganzbilder ist folglich etwas gröfser als der Tiefenw^ert des einen der ihnen zugehörigen Halbbilder, etwas kleine]' als der des andren, und mufs um so beträchtlicher ausfallen, je erheblicher die Differenz der Längsschnitte ist. Liegt ein Aufsen- punkt aufserhalb des von den Gesichtslinien eingeschlo.ssenen Teils der Blickebene, so treffen seine Halbbilder auf korrespondierende Hälften beider ]S[etzhäute, erhalten daher Tiefen^verte a'OU entgegen- 2:esetztem Yorzeichen und ungleicher Gröfse. Der Tiefenwert des Ganzbildes entspricht auch hier dem arithmetischen Mittel aus der Summe der Tiefeuwerte beider Halbbilder: er ist po.sitiv, wenn die Ijetrachteten Punkte vor, negativ, ^^-enn sie hinter dem Fixations- punkte gelegen sind, und hängt seiner Gi'öfse nach wiederum von der Differenz der Längsschnitte ab, welche von den Halbbildern eingenommen werden. Das VDii Hekixg aus seiner Theorie abgeleitete Gesetz der Tiefeulokali- r :. Physiul. des tiehena in subjecliecr Hinsicht. Pia;,' 1819. p. 89, Berrm 1825. p. 117. — G. Meisskkk, lieitrü'je z. Pliysiol. d. Sehens. Leipzig, p. 78. — H. MUKLLKK, jO/f? entopttuche Wahrnehmunri ,L. NetzhaiitgefüJ'xe. WQrzburg 1855, u. Gesammelte u. hinterlassene Schriften, lierausgeg. von O.' BECKEK. Leipzig l'S'i'l. I5d. I. p. 27. — RUETK, nhiisik. Unters, d. Ai'fie-s. Leipzig 1854. — HELMIIOLTZ, Phii-ii(A. Optik, p. 156. § r^4. DIR ADKRFIGIIR. 05 1 liat folgende Mittel sie hervorzunifeu augegebeii. Entweder bewegt man eine Kerzenllamrae wenige Zoll vor dem Auge im Kreise hernni; oder man führt eine feine Öffnung, welche man in ein Kartenblatt gestochen, vor der Pupille hin und her. während man den hellen Himmel betrachtet; oder drittens, man \A-irft mittels einer Lupe einen intensiven Lichtpunkt ^. ^^, auf den äufseren Teil der Sclerotica, während man den Blick auf einen dunklen gleichfarbigen Hintergrund lichtet oder auch die Pupille mit dem Augenlide ganz bedeckt. Auf die letzt- genannte Weise ist das Phänomen am deutlichsten und schönsten zu erzeugen; es erscheint das ganze Seh- feld intensiv erleuchtet und in demselben dunkel und scharf abstechend die Ge- fäfsfigur (Fig. 172) bis in die feinsten Verzweigungen. Auch bei den übrigen Methoden ist die Figur stets dunkel auf hellem Grunde, nicht, wie Meissnek für die zweite Art der Hervorrufuns- l)ehaui)tet, hell auf dunklem Grunde. Wohl aber zeigt sich die dunkle Figur zuweilen hell verbrämt, und dieser helle Saum kann so beträchtlich breit werden, dals ungeübte Beobachter den schwachen Schatten daneben übersehen, da die Aufmerksamkeit stets den intensiveren Eindruck zu bevorzugen geneigt ist. Xach H. MuELLEK beruht dieser Saum vielleicht zum Teil auf seitlicher Ablenkung einer Anzahl von Lichtstrahlen durch die konvexen Gefäfse, wird aber im wesentlichen jedenfalls durch die Bewegung des Schattens erzeugt, indem die eben vom Schatten verlassenen Retinaelemente intensiver auf den Lichtreiz reagieren als die vorher schon demselben ausgesetzt gewesenen und hierdurch in gewissem Grade ermüdeten. Der Beweis, dals \\irkiich der Schatten der Gefäfse, nicht etwa die Gefäfse selbst, wie einige glaubten, durch die angeführten Yersuchsmethoden sichtbar gemacht wird, ist von H. Müellek in befriedigender Weise geliefert worden. Es spricht nach ihm für die erste Deutung der Erscheinung zunächst ganz entschieden der Umstand, dals die Gefäfsfigur immer dunkel auf hellem (jl-runde er- scheint; sie würde rot erscheinen, wenn hinreichende Mengen von Licht von den Gefäfsen durchgelassen würden. Zweitens spricht dafür die Thatsache, dafs die Dicke und Schärfe der dunklen C,Ö2 lUK A1)K1-{F1(jIJK. §1->4. Streifen von der (Irölse dei' .Li('Iit(|uelle abhängt, wie sich dies mit Hilfe der dritten Versuclisiuetliode erweisen läfst. V/irft man einen hellen Liclitpiiükt auf die Selerotica, so ist es dei- erleuchtete Flec]< der Augenhäute, welcher, indem jeder Pimkt im liniern des Auges nach allen Richtungen divergierende Strahlen aussendet, die schattenerzeugende Lichtquelle darstellt, nicht aher etwa die in ihrer ursprünglichen Hichtung durch die Augenhäute dui'chtretendeii Strahlen. Ist nun dieser Lichtfleck kleiu, so werden alle, auch die leinsten Gefäfse, scharf l)egrenzte Schatten wej'fen; ist der Licht- Heck bi'eit, so werden zwar gröfsere Gefäfse einen breiten Schatten liefern, derselbe kann aber nur in der Mitte total, an den Seiten nur ein allmählich abnehmender Halbschatten sein; kleine Gefäfse werden überhaupt nur einen schwachen Halbschatten entwerfen, in- dem sie (bei der schon angegebenen Entfernung der den Schatten wahrnehmenden Retinaschicht von den Gefäfsen) von keinem Teil alles Licht abhalten können. Der Versuch bestätigt vollkommen die Richtigkeit dieser Voraussetzungen. Dafs die feinsten Gefäfse überhaupt nur in der Achsengegend der Retina deutlich, an der Peripherie selbst die gröfseren Aste nicht mehr wahrgenommen werden, erklärt sich leicht aus den früheren Erörterungen über die verschiedene Schärfe des Raumsinns an A^erschiedenen Retinapartien. In der Umgebung des gelben Flecks wird der Schatten eines Ge- fäfses von bestimmter Breite mehrere nebeneiuander liegende Reihen sensibler Punkte treffen, am Rande der Retina dagegen wird der- selbe nicht einmal eine einfache Reihe vollkommen decken, sondern dieselbe Reihe wird gleichzeitig neben dem Schatten auch vom Licht getroffen werden; sie wird daher notwendig letzteres, nicht den Schatten zur Wahrnehmung bringen, weil der Eindruck des ersteren den des letzteren bei weitem überwältigt. Am evidentesten beweisen die Schattennatur des Phänomens die scheinbaren Be- wegungen der Gefäfsfigur bei Bewegung der Lichtquelle, deren Richtung, Gröfse und andre Eigentümlichkeiten sich nur nach jener Entstehungstheorie vollkommen erklären lassen, und zwar bei allen drei Methoden des Vei'suchs. Be^A'egt sich die auf der Selerotica befindliche Lichtquelle, so macht die Figur stets die gleichsinnige scheinbare Bewegung Avie diese, bewegt sich mit dieser in gleicher Richtung im Kreise, rückt nach rechts, wenn der Lichtfleck nach rechts verschoben wird, und umgekehrt. Es leuchtet ein, dafs der Schatten im Auge, da die Lichtstrahlen von jenem Fleck aus nicht durch die Linse gehen, mithin geradlinig vom Ent- stehungsort aus divergieren, die entgegengesetzte wirkliche Bew^egung von der Lichtquelle machen mufs; die scheinbare in das objektive Sehfeld projizierte mufs daher gleichsinnig mit der Lichtquelle sein, da wir, wie oben erörtert, was auf der Retina rechts ist, bei der Projektion nach aufsen links im Räume suchen und umgekehrt. Ebenso ist die scheinbare Bewegung der Figur § IM. 1>IK ADERFIGUE. 653 bei der zweiten Versnohsmetliode gleiclisinnig- mit der Bewegung der Löcher im Kartenblatt; es erklärt sich dies auf dieselbe Weise, wie im ersten Falle, da das Loch im Kartenblatt als eine Quelle divergenter Strahlen zu betrachten ist, welche bei der grofsen Nähe am Auge nur weniger divergent durch den dioptrischen Apparat gemacht werden, so dal's auch hier der Schatteu die entgegengesetzte wirkliche Bewegung, wie die Lichtquelle, mithin die gleiche schein- bare ausführt. Gegen den Zerstreuungskreis der Lichtquelle mufs dagegen bei diesem Versuch die scheinbare Bewegung der Figur die entgegengesetzte sein, als die Bewegung der Lichtquelle, wie auch wirklich der Fall ist. Mueller gibt an, dafs, w^enn die feine Öffnung nach rechts geht, die Figur zwar mit derselben nach rechts wandert, aber in dem hellen Kreis auf die linke Seite Av eicht. Bei der oben zuerst genannten Versuchsmethode, der Be- \\ eguug einer Kerzenflamme vor dem Auge, verhält sich die schein- bare Bewegung der Figur andei's, sie bewegt sich zwar mit der Kerze im Kreise, betiudet sich aber stets auf der diametral gegen- überliegenden Seite des Kreises, rechts, wenn die Flamme links ist, oben, wenn jene unten ist, und umgekehrt. Hieraus haben Meissner und andre einen Beweis gegen die Richtigkeit der fraglichen Theorie ■ des Phänomens ableiten zu müssen geglaubt, weil sie irrigerweise die Kerzenfiamme selbst als die schattenwerfende Lichtquelle voraus- setzten, wobei die Bewearuno: notwendio; eine gleichsinnip-e mit der Flamme sein müfste. Alles erklärt sich aber auf das vollkommenste, wenn man mit H. Muellek nicht die Flamme, sondern deren ver- kehrtes Netzhautbild für die Lichtquelle hält, \velche das Innere des Auges, mit Ausnahme der Stellen, vor denen Gefäfse liegen, erleuchtet, wobei man freilich zugeben mufs, dafs im Auge auch eine unregelmäfsige nach allen Seiten zerstreute Spiegelung statt- findet, nicht alle Strahlen auf dem Wege, auf w^elchem sie ge- kommen, zurückgeworfen werden. Unter der gleichen Voraussetzung hat Mtteller ferner auch die von Meissner gemachte interessante Beobachtung erklärt, dafs bei plötzlichen Bewegungen der Kerzen- flamme die Aderfigur oft ruckweise Verzerrungen erleidet, in- dem sich die relativen Lagen und Entfernungen der einzelnen Ge- fäfse ändern. Es läfst sich auf die einfachste Weise durch Konstruktion nachweisen, welche beträchtliche relative Lageveränderungen die Schatteu zweier noch dazu in ungleicher Höhe über der Stäbchen- schicht befindlichen Gefäfse auf letzterer erleiden müssen, je nachdem das schatten werfende Flammenbild rechts oder links, nahe oder fern von ihnen auf der sphärisch gekrümmten Retina sich befindet. Bei tiUen andern Versuchsmethoden können keine so beträchtlichen Ver- schiebungen der schattenwerfenden Lichtquelle, daher auch keine so auffallenden Verzerrungen der Figur hervorgebracht werden. Durch alle diese Thatsachen ist demnach der oben gesuchte Beweis voll- ständis: sreführt, und ieder fernere Zweifel an der Deutung- der ()o4 DTK (iEKÄss!ii;r(K]-j(iri;. §134 (hiroh ji'iiv di'ei ]\Jellier. Slatli.-iinUv. Ol. ISfil. 2. Ablh. lid. XLTII. p. 163. — XTEl.. Arch. de hi'Mjqie. 1883. T. IV. p. C41. (356 KNTorTlSCHE EKSCHKlNUNli DES (iELl'.KN ibM;K('KS. §134. aulseu folgert aber BuRO"\v , dai's auf der iS'etzliaiit umgekehrt die obere Fläche die dunkle, die uutere der Flamme zugekehrte die helle sei, mithin die Erscheinung bedingt sein müsse durch eine kegelförmige, in den Glaskörjier vorspringende Hervorragung, welche er allerdings irrigerweise sogar anatomisch im Zentrum des gelben Flecks am Oi'te der f'ovva (■cntralis nachweisen zu können glaubte. In ganz euts])jvchender Weise hat auch Meissner das Phänomen beschrieben als matt glänzende , an dem der Flamme zugekehrten llande von einem halbmondförmigen Schatten umgebene Scheibe, und mutmafst ganz richtig, dafs es eher durch eine Vertiefung als durch einen Hügel der Netzhaut im gelben Fleck erzeugt sei, die Art der Schattierung aber dadurch zustande käme, dafs nicht die Flamme, sondern das lietinabild derselben die reizende Lichtquelle abgäbe. Diese von Meissner nur angedeutete (und aus andern Gründen nicht für zureichend gehaltene) Annahme ist, wie wir oben sahen, durch Muellek als richtiges Erklärungsprinzip erwiesen worden. Die Lichtquelle, welche den glänzenden schattierten Achsenlieck und die Grefälkschatteu erzengt, ist nicht die Flamme, sondern ihr JSIetzhautbild; dieses erzeugt das Phänomen durch seitliche Beleuchtung der bekanntlich anatomisch nachgewiesenen ' grubenförmigen Vertiefung, welche im gelben Fleck vorhanden und durch die Verdünnung der Retina daselbst bedingt ist. Die glänzende Scheibe bewegt sich wie die Aderfigur mit der Bewegung der Kerzenflamme; auch diese Bewegung, welche Meissner uner- klärlich findet, wird ohne Schwierigkeit nach Muellers Gedanken- gang begreiflich; es niufs bei Verschiebung des Flammenbildes die gröfste Helligkeit, wie auch der Bandschatten, allmählich auf andre sensible Punkte fallen. Setzt man die Betrachtung des gelben Flecks im entoptischen Bilde längere Zeit hindurch fort, so überzieht sich schiiefslich der Bezirk des direkten Sehens mit einer regelmäl'sigen Mosaikzeichnung aus runden Scheibchen, welche kaum etwas andres als das Querschnittsbild der musivisch geordneten Foveazapfen vor- stellen können.^ Da das Zustandekommen auch dieser entoptischen Erscheinung eine vor dem beobachtenden Auge hin und her bewegte Lichtquelle zur Voraussetzung hat, so kann es sich im vorliegenden Falle wiederum nur um die Wahrnehmung eines schattenwerfenden Objekts und zwar am Umfange der Zapfen handeln, und als solches bietet sich hier nur die Pigmentscheide dar, mit welcher die Eetina- epithelien das Zapfenaufsenglied einhüllen. Auf die Bedeutung, m' eiche die Wahrnehmbarkeit des einzelnen Zapfenquerschnitts im entopti- schen Bilde für die Auffassung der Zapfen als Empfindungskreisen hat, ist schon früher (p. 545) aufmerksam gemacht worden. Ent- sprächen jene Retinaelemente wirklich diesen hypothetischen Empfin- dungseinheiten, so könnten sie niemals im entoptisohen Bilde in » CZEKMAK, Wiene^r Stzher. Math.-nutw. Gl. 2. Abth. 1861. Bd. XLUI. p. 16:5. — NUEL, de hioloqte. 1S83. T. IV. p. 641. § 184. ENTOPTISGHE ERSCHEINUNG DES BLINDEN FLECKS. 657 Form gesonderter Scheiben zur Wahrnelimung gelangen, sondern müfsten ein eiDheitlicli zusanmienliängendes Sehfeld lieferu. Hier mag nur noch besonders hervorgehoben werden, dal's, wenn der Schat- ten des Pigmentmantels die entoptische Wahrnehmung der Zapfen- umrisse bedingt, damit zugleich das Aufseuglied des Zapfens als lichtpercipierendes Organ nachgewiesen worden ist, und zwar deshalb, weil die epitheliale Pigmeuthülle nur bis zur Grenze von Aufsen- und Innenglied in die Zapfeuschicht hineinreicht, also nur das erstere äul'serlich umschlielst. Die Augaben über die eutoptische Erscheinuug der Eintritts- stelle des Sehnerven sind etwas unklar und lauten nicht völlig übereinstimmend. Purkinje will an der Ursprungsstelle der Zweige der Aderfigur einen dunklen senkrecht stehenden länglichen Fleck, mit einem Hellten Scheine umgeben, wahrgenommen haben , und bildet die Aderfigur so ab, dafs von jedem Gefäfs das Ursprungsstück, welches innerhalb der blinden Stelle verläuft, fehlt. Meissner gibt an, dal's er die Eintrittsstelle bei dem Versuch mit der Kerzen- flamme nicht schwarz, sondern durch einen hellen, gelbrötlichen Glanz in der Nähe des Ursprungs der grofseu Gefäfsstämme, der nur einen kleinen Teil des MARiOTTEschen Flecks decke, angedeutet sehe, dal's dagegen dieselbe als schwarzer Fleck erscheine, M'enn man eine enge Öfl'nung vor der Pupille hin und her bewege. Ebenso beschreibt MuELLER, welchem sich 0. Funke ^ im wesentlichen anschliefst, die fragliche Stelle als hellen Fleck oder Saum, welcher sich am zen- tralen Schnittpunkte der irgendwie sichtbar gewordenen Gefäi's- ramifikationen zeige. Es erscheint dieser Fleck nach ihm ganz un- bestimmt, ohne jedes positive Merkmal, bei keiner Versuchsmethode aber jemals schwarz. Was die Erklärung der geschilderten Ver- hältnisse angeht, so wird eine solche zunächst wohl an die Ver- mutung MuELLERs, dafs durch Reflexion aus dei- Tiefe der papilla n. optici oder von den schräg abfallenden Flächen des von derselben gebildeten CoUiculus her eine intensivere Beleuchtung imd Erregung der dem blinden Fleck angrenzenden als der entfernter gelegenen Retinaelemente heiworgebracht werde, anzuknüpfen haben. Unter dieser Voraussetzung, und weil wir an der Stelle des blinden Flecks eben nichts empfinden, werden aber die Lichtempfindungen, welche von den die Sehnervenpapille einrahmenden Retinaelementen ver- mittelt werden, in unsrer V^orstellung räumlich zusammenfliefseu, die Wurzeln des Gefäfsbaums ims aber unter allen Umständen als heller Fleck erscheinen müssen. 3. Entoptische Erscheinungen durch Formelemente in^den brechenden Medien des Auges bedingt.^ Es gehören > O. Funke, dieses Lehrbuch. 4. Aufl. Bd. II. p 496. ' Listing. Heitraq z. phmiol. Optik. Göttingeu 1845. — DONDEKS, Nederl. Luvcet. 1S4C-47. 2. Ser. U. II f. 345, 43i2 u. 5.37, Deutsch im Arch. f. physiul. Ifeilk. 1849. Bd. VIII. l>. 30. - BkewSTEK, Trartsactiu-ns of the rot/al Socielij o/ Edinburgh. 1844. Vol. XV. p. 377. — DONCAX, Onderzoek. fffd. in lief phys. Lahor, der Utrecht, hoogesch. Jaar VI. 1853—1854. ]i. 171. — IIEI,IM- HOI/rz, a. a. O. OKÜEJSHAGKN, Physiologie. 7. Aufl. II. ^^ 058 MOUCHES VOLANTES. § 134. liieruer mehrere zum Teil sehr bekannte, iu den meisten Augen vorhandene entoptische Wahrnehmungen. Eine der bekanntesten und allgemeinsten ist die der sogenannten jiiouchcs volcüifes, fliegen- den Mücken, d.i. beweglicher Gebilde von höchst schwankender Gestalt. DoNDERS und Doncan unterscheiden folgende fünf Formen : 1. Eigentümliche Ringe, einige mit dunkleren, andre mit blasseren Umrissen und hellem Zentrum; 2. Perlschnuren von verschiedener Breite, welche fast jedes Auge, wenn es z. B. gegen den Himmel blickt, in dem Sehfeld schweben sieht; 3. Gruppen von Ringen, nicht selten in Verbindung mit einer kurzen Perlschnur; 4. Gruppen sehr feiner Kügelchen, worunter einzelne isoliert erscheinen; 5. breite Fasern, durch zwei dunkle Linien begrenzt. DexcAN wies durch genaue mikroskopische Untersuchungen die Beschaffenheit aller der im Glas- körper befindlichen Formelemente nach, deren auf die Netzhaut geworfene Schatten diese einzelnen Arten der moucJies volantes bilden. i\.ls Ursache für die erste Form fand er Zellen, die in der „Schleim- metamorphose" begriffen sind, für die Perlschnuren mit Körnchen be- setzte Fasern, für die dritte und vierte Form Körnchengruppen, und für die letzte Form gefaltete Häutchen in der Glasfeuchtigkeit. Es gibt mehrere zwar schon längst geübte, durch Listing und Donders aber vervollkommnete, theoretisch entwickelte und zu Bestimmungen der Lage der eutoptisch gesehenen Körper benutzte Methoden, die nionchcs volantes deutlich zur \yahruehmung zu bringen. Alle beruhen darauf, einen Büschel paralleler Lichtstrahlen durch den Glaskörper zu schicken, und durch diese von den suspendierten trüben Form- elementen der durchsichtigen Augenmedien Schatten auf der Netz- haut entwerfen zu lassen. Und zwar bringt man entweder in den vorderen Brennpunkt des Auges einen undurchsichtigen Schirm mit feiner Öffnung, durch welche mau nach dem Himmel blickt; es stellt diese Öffnung eine Quelle homozentrischer Strahlen dar, welche als vom vorderen Brennpunkt ausgegangene im Glaskcirper parallel ver- laufen müssen. Oder man blickt durch eine bikonvexe Linse nach einem iu bestimmtem Abstand befindlichen Lichte; oder drittens, man benutzt das von einer sphärischen Spiegelfläche entworfene Spiegelbild einer Kerzenflamme. ^ Die Lage eines entoptisch gesehenen Körperchens im Glaskörper, seinen Abstand von der den Schatten auffangenden Retinafläche kann man auf doppelte Weise ermitteln. Listing be- nutzte zu diesen Bestimmungen die Parallaxe der Schatten bei veränderter Richtung der Gesichtsachse, während er jene feine Öff- nung unverrückt im vorderen Brennpunkt des Auges hielt. Entop- tische Körperchen, welche iu der Ebene der Pupille liegen, zeigen keine Parallaxe, d. h ihre Schatten behalten denselben Platz in dem wahrgenommenen Zerstreuuugskreis der Lichtquelle, mögen wir die Gesichtsachse nach der Mitte dieses Kreises, nach abwärts oder 1 Vgl. MVlT.INKR, Wirn^r SUh^r. Math.-ii.itw. Ol. ISlü. B.l. Xr,Vn. p lOG. § 134. MOUCHES YOLANTES. 659 nach aufwärts richteu; dagegen erleiden vor der Pupillarebeue ge- legene eotoptische Kürperchen eine negative Parallaxe, sie bewegen sich in dem Zerstreuuugskreis nach der entgegengesetzten Seite von deijenigen, nach welcher wir die Sehachse wenden; hinter der Pupillar- ehene o-ele?ene Körnerchen zeiijen eine positive Parallaxe ihrer Schatten, dieselben verändern ihren Platz gleichsninig mit der Seh- achse. Eine zweite Methode, die Lage der entoptischen Objekte zu bestimmen, ist die von Brewster angegebene, vouDonders vervoll- kommnete. Statt einer Öffnung bringt man zwei in geringem Ab- stand voneinander (1,5 mm) in einer Metallplatte vor das Auge, so dafs zwei divergierende Büschel paralleler Strahlen durch den Glas- körper gehen und zwei Zerstreuungskreise auf der Netzhaut bilden, mithin auch von jedem entoptischen Objekt ein Doppelbild entsteht. Die Doppelbilder müssen um so weiter voneinander abstehen, je ent- fernter die Objekte, denen sie augehören, von der Netzhaut liegen. Bei Objekten, welche sich in der Pupillarebeue befinden, werden die ihnen entsprechenden Doppelbilder eben so v.'eit voneinander entfernt sein, wie die Mittelpunkte der beiden Zerstreuungskreise; Objekte, welche vor dieser Ebene liegen, bilden Doppelbilder von gröi'serem, solche, welche hinter der Ebene liegen, Doppelbilder von geringerem Abstand, als der der Mittelpunkte ist. Die Abstände mifst man, indem man die Doppelbilder auf eine weifse Fläche projiziert. Die mouclhcs volanUs zeigen Bewegungen, und zAvar mufs man zwischen wahren und scheinbaren Bewegungen derselben unter- scheiden. Die scheinbaren sind von den Bewegungen der Sehachse abhängig. Zeigt sich ein solches Gebilde in seitlichen Teilen des Sehfeldes, .so bemühen wir uns unwillkürlich, um es deutlich zu sehen, die Sehachse darauf zu richten; da nun der Schatten in ent- sprechendem Grade, wie wir diese bewegen, ausweicht, so kommt es uns vor, als ob ein objektiver Körper im äufseren Sehfeld hinweg- schwebte (daher der Name: fliegende Mücken), indem wir uns meist der ausgeführten Drehungen des Auges nicht klar bewufst werden. Allein es gibt auch wahre Bewegungen dieser Gebilde. Wenn man das Auge von unten nach oben bewegt hat und plötzlich die Gesichtsachse in unveränderter Richtung festhält, so bemerkt man, dafs ein Teil der B-inare und Küo-elchen nach oben schwächt, um bald darauf wieder allmählich nach unten zu sinken. Doncan hat diese Bewegungen und ihre Ursachen in Verbindung mit den übrigen Eigenschaften der einzelnen Formen der nwnchcs volantcs einer sorg- fältigen Untersuchung unterworfen, deren Resultate wir kurz wieder- geben. Alle entoptisch wahrgenommenen Schattenbilder sind gröfser als die sie werfenden Körperelemente; je näher die letzteren der Netzhaut liegen, desto kleiner sind im allgemeinen die Schatten. AVenige der Körperchen befinden sich bei ruhendem Auge in der Nähe der Sehachse, obwohl sie auch hier nicht ganz fehlen; die drei ersten der oben genannten Formen sind reichlicher oberhalb 42* 660 MOUCHES VOLANTES. § 134. als imterlmlb der Sehachse im Glasliörjier vertreten und kehren zn dem bevorzugten Aufenthalte stets zurück, wenn sie durch Augen- hewegungen aus demselben herausgebracht Avorden sind ; ihr Abstand von der Retina ist auf höchstens 4 mm berechnet worden, was auch die anatomische Untersuchung bestätigt. Dagegen liegen die oben zu- letzt beschriebenen Häutchen zum gröl'sten Teil dicht hinter der Linse und strecken sich hauptsächlich von oben nach unten aus; ein kleiner Teil solcher Häutchen, und zwar der dünneren, liegt aber auch näher an der Netzhaut, und zwar besonders unterhalb der Gesichtsachse, nur einzelne oberhalb. Einige dieser Häutchen scheinen mit der mcmhrcma Jiyaloidea zusammenzuhängen, andre frei in dem Glaskörper zu schweben. Die Bewegungen der Mücken zA\'ingen uns zu der Annahme, dafs die schattenwerfenden Gebilde in einer Flü.ssigkeit beweglich suspendiert sind. Die Eigenbeweguugen, welche beim plötzlichen Stillhalten des Auges hervortreten, leitet Doncan aus dem Verharren der schwebenden Körpercheu in dei' ihnen mit- geteilten Bewegung ab und erläutert diese Erklärung durch Versuche mit in Flaschen eingeschlossenen Flüssigkeiten, in welchen kleine Teilchen suspendiert waren. Die fraglichen Körperchen liegen gröfstenteils oberhalb der Sehachse. Wii'd nun das Vorderende der letzteren schnell nach oben bewegt und in horizontaler Lage still- gehalten, so hat sich das hintere Gegenende natürlich eben so schnell nach unten bewegt; die in der Nähe dieses Endes schwebenden Gebilde setzen nach dem Stillstand die empfangene Abwärtsbewegung fort, so dafs sie unter die Achse sinken, ihre Schatten also scheinbar nach oben steigen. Darauf kommen sie zur Ruhe und st igen später Avieder in die Höhe, teils infolge ihres geringen spezifi eben Gewichts, teils infolge der durch die Abwärtsbewegung erzeugten Torsion von Fasern und Häutchen , mit denen sie verbunden sind ; dieses Aufsteigen zeigt sich als scheinbares vSinken der nach aufseii projizierten Schatten. Soviel von den mouclies volanfcs. Schliefslich bemerken wir noch, dafs manche mit diesem Namen nicht die eben beschriebenen Schatten, sondern die im Sehfeld durcheinander- fiimmernden Lichtpunkte, also das durch die Blutströmung bedingte Druckphänomeu bezeichnen. Aufser den im vorigen erörterten entoptischen Ei'scheinungen gibt es noch eine Anzahl andrer, welche jedoch zum teil weniger genau untersucht, zum teil nur individuelle Wahrnehmungen sind. Wer mit solcher Sorgfalt und Ausdauer sein Sehfeld unter den ver- schiedensten Verhältnissen studiert, wie Purkinje, wird sicher all- mählich zur Wahrnehmung einer grofsen Menge der a'O)] diesem Forscher beschriebenen und abgebildeten wunderbaren Phänomene gelangen. Die Ursachen dieser zweiten Art ento])tischer Phänomene, welche in Form unbeweglicher lichter oder dunkler Figuren im Sehfelde sich zeigen, sind teils vorübergehende, teils beständige, teils von der Aufsenfläche der Hornhaut, teils von der Kristalllinse, teils §134. ANDEE ENTOPTISCHE EESCHEIKUNGEN. 661 vom Glaskörper herrülirende. Was die Hornhaut betrifft, so ent- stehen (abgesehen von den Erscheinungen, welche von pathologischen Verdunkelungen herrühren) durch unregelmäfsige Benetzung mit Thränenfeuchtigkeit oder Konjunktivalsekret die verschiedenartigsten streifigen, sternförmigen, tropfenförmigen lichten Flecke im Sehfeld, welche durch Blinzeln mit den Augenlidern entweder ganz zum Verschwinden gebracht werden oder wenigstens Formveränderungen erleiden. Hat mau die Augen stark gerieben, so erzeugt die gerunzelte Oberfläche der Hornhaut (Conjunctiva) eigentümliche wellenförmige, zum teil netzartig sich kreuzende Linien. Als von der Linse her- rührend beschreibt Listing vier fernere entoptische Erscheinungen, ■ welche nachstehende Figuren darstellen: Fig. I glänzendhelle Scheibchen mit dunklem Rand (wie Luftbläscheu unter dem Mikroskop), Fig. II unregelmäfsige dunkle Flecken (partielle Ver- dunkelungen der Linse oder ihrer Kapsel), Fig. III ein Stern aus lichten Streifen (nach LiSTixG der Nabel , welcher im embryonalen Auge bei der Trennung der Kapselmembran von der Innenseite der Hornhaut entstanden ist), Fig. IV dunkle radiale durch den strahliwen Bau der Linse bedius^te Linien. Fig. 175. Fig. 176. 662 ANDRE ENTOPTISCHE ERSCHEINUNGEN. §134. Unter eleu von Purkinjk l)eschriebenen entoptischen' Phänomenen heben wir noch zwei hervor, welche Czermak' einer sorgfältigen Prüfung unterworfen und aus gewissen Fonn- und Strukturverhältnissen der Netzhaut zu erklären versucht hat. Die erste dieser Erscheinungen ist die von Purkin-ie unter dem Namen der „elliptischen Lichtstreifen" beschriebene. Bringt man in einem finsteren Raum das Bild eines kleinen leuchtenden Gegenstandes (glimmen- den Schwammes) etwas nach aufsen vom Pol auf die Netzhaut, so sieht man „vom oberen und unteren Umfang des leuchtenden Bildes zwei elliptische Streifen, erst l^reiter dann dünner werdend, auf- und abwärts und quer nach aufsen, gleich einem liegenden Hörnerpaar gebogen, und mit den äufsersten Spitzen nahe an der Eintrittsstelle des Sehnerven sich beinahe berührend." Czermak erklärt diese Erscheinung aus einer Dispersion des Lichts an den bogenförmig den gelben Fleck umrahmenden Fasern des Opticus. Die zweite Erscheinung ist die von Pcrkinje sogenannte „Lichtschattenfigur." Die- selbe besteht in einer das Sehfeld überziehenden zierlichen schachbrettartigen Zeichnung von lichten und schattigen viereckigen Felderchen, welche von der Peripherie gegen das Zentrum an Gröfse ab-, an Schärfe zunehmen. Die Zeich- nung kommt zum Vorschein, wenn man das Auge in raschem Wechsel erhellt und verdunkelt, z. B. durch eine am Rand einer rotierenden Scheibe in regel- mäfsigen Abständen angebrachte Reihe von Löchern gegen den hellen Himmel blickt. Auf der primären Zeichnung sah Purkinje in wechselnder Folge andre sekundäre Zeichnungen auftreten ; der bei längerer Fortsetzung des Versuchs im Bereiche des direkten Sehens auftretenden Tüpfelung des Sehfeldes, w^elche wahrscheinlich dem entoptischen Querschnittsbilde der Zapfenaufsenglieder ent- spricht, wurde schon früher (p. 656) gedacht. Hierher gehört ferner das sogenannte HAiDiXGKRsche Polarisations- büschel'^ eine Erscheinung, welche einige Beobachter dann regelmäfsig wahr- nehmen, wenn sie durch ein Nicoi-sches Prisma den Ijlauen Himmel anblicken. Nach Helmholtz^ beruht dieselbe darauf, dafs die radienartig von der fovea centralis retinae ausstrahlenden Zapfenfasern schwach doi^peltbrechend sind und den blauen aufserordentlichen Lichtstrahl stärker absorbieren, wenn seine Schwingungsrichtung der Faserrichtung parallel verläuft, als wenn sie die letztere senkrecht schneidet. Je nach der Stellung des Nicols zur Augenachse werden aber abwechselnd bald die nach oben und unten, bald die senkrecht dazu in seitlichem Zuge abbiegenden Zapfenfasern diese Bedingung erfüllen müssen, und demgemäl's bei Drehung des polarisierenden Kristalls bald über und unter, bald rechts und links von der Netzhautgrube dunklere Schatten werfen, deren Gesamtlnld etwa einem in der Mitte zusammengeschnürten Garbenbüschel verglichen werden könnte und der von Haidixgek beschriebenen entoptischen Wahrnehmung in allen Punkten entspricht. Alle diese Beobachtungen sind von hohem physiologischen Interesse, da sie schärfer noch als die Gefäfsfigur beweisen, dafs wir die lichtpercipierenden Elemente einzig und allein in be- stimmten Abschnitten der Stäbchen und Zapfen zu suchen haben. Wäre z. B. absolut sicher gestellt, dafs wir einerseits die Schatten der Zapfenfasern (Hei.m- HOi/rz), anderseits vielleicht auch die Stäbchen- und Zapfenaufsenglieder sehen könnten, so würde mit apodiktischer Gewifsheit folgen, dafs das percipierende Retinaelement zwischen diesen beiden Sehdingen gelegen sein mufs, also nur im Zapfen- oder Stäbcheninnengiied zu suchen wäre. Von dem sogeuanuten Akkommodatioiisphosplieu, der Lichterscheinung, welche beim plötzlichen Nachlassen der Akkommo- dation eintritt und vod einer Zerrung der Retina abgeleitet wird, ist bereits oben p. 398 ausführlich die Rede gewesen. i~CZERMAK, Wiener Suher. Math.-natw. Cl. 1861. Bd. XLUI. p. 163. 2 HAIDINGER, POGGENDORFFs Annalen. 1844. Bd. LXIII. p.29; ebenda. 1846. Bd. LXVni. p. 73. HEI.MHOLTZ, Handh. d. pJnjsiol. Optik. Leipzig 1867. p. 422. COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES This book is due on the date indicated below, or at the expiration of a deflnite period after the date of borrowing, as provided by the library rules or by special arrangement with the Librarian in Charge. DATE BORROWEIO DATE DUC DATE BORROWED ^40^^^