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Leſſing's

Erziehung des Menſchengeſchlechts

kritiſch und philoſophiſch erörtert.

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Eine Beleuchtung der Bekenntniſſe in

W. Körte's: Albrecht Thaer.

Von

Dr. G. E. Guhrauer.

Berlin. 8 Verlag von Auguſt Hirſchwald. 1841.

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Seiner Hochwohlgeboren

Herrn

Profeffor Karl Lachmann.

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Daß Sie Gotthold Ephraim Leſſing wie einen der Alten herausgegeben haben, iſt eine Mahnung für Mit⸗ und Nachwelt, an dieſen Heros mit derſelben Ehrfurcht, wie an einen der Alten heranzugehen; und eine Warnung für diejenigen, welche keck und mit dumpfem Selbſtvertrauen an die großen Todten ſich wagen, nicht ahnend, daß ſie das Leben in ihnen be⸗ leidigen, das ſich gegen ſie wehren wird! Dieſem Leben in Leſſing habe ich mit Eifer nachgeſpürt, und wenn ich einen friſchen Hauch aus ſeiner Tiefe erfaßt habe, ſo verdanke ich viel der Sicherheit, mit welcher der, außerdem auch ſo glücklich erweiterte, Grund und Boden, Dank Ihrer Bemühung, den Forſcher trägt.

Man wird den Ernft, womit ich meiner Aufgabe mich hingegeben habe, nicht verkennen, und den inquiſtto⸗ riſchen Anſtrich, welchen die Kritik zum Schluſſe ge⸗ nommen, nicht mir, ſondern dem, welcher wider Wil⸗ len dieſe Unterſuchung hervorgerufen hat, ganz und allein auf Rechnung ſetzen. Das Polemiſche, das ſich an dieſe Verhandlung nothgedrungen knüpft, mag manchen Leſer gleichgültig laſſen; das gewonnene Er⸗ gebniß aber für eine vollſtändigere Würdigung Leſ⸗ ſing's, als bisher, wird den Freunden der Geſchichte der Literatur und Philoſophie, hoffe ich, willkom⸗ men ſein.

Berlin, Auguſt 1841.

Guhrauer.

Ih Leſſing der Verfaſſer der ihm bis vor Kurzem allges mein und unbedingt beigelegten berühmten Schrift: „Die Erziehung des Menſchengeſchlechts“ oder nicht? und im letztern Falle, werden wir die neuliche Entdeckung des Herrn Wilhelm Körte, als Verfaſſers der Schrift: „Albrecht Thaer. Sein Leben und Wirken als Arzt und Landwirth. Aus Thaer's Werken und literariſchem Nachlaſſe dargeſtellt (Leipzig 1839.),“ für wahr hal⸗ ten, wenn er, wie er in dem genannten Buche (S. 27.), auf eine aus feinen Papieren mitgetheilte Confeſſion Al⸗ brecht Thaer's ſich berufend, ſchreibt: „zur öffentlichen Kenntniß gebracht hat, daß die in Leſſing's Werke aufgenommene geiſtreiche kleine Schrift, die Erziehung des Menſchengeſchlechts, dem Stoff und dem Gedanken nach Thaer zugehört, von Leſſing jedoch weiter ausge⸗ führt worden iſt?“ ja, wenn er in noch beſtimmtern Aus⸗ drücken (S. 353.) hinſtellt: „es ſei nicht zu bezwei⸗ feln, daß die berühmte, bisher Leſſing zugeſchriebene kleine Schrift, die Erziehung des Menſchengeſchlechts „welche Leſſing den Fingerzeig gegeben hatte, in allen poſttiven Religionen nur den Gang zu erblicken, nach welchem ſich der menſchliche Verſtand jedes Orts einzig und allein ent⸗ Erziehung des M.⸗G. 1

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wickeln könne und noch ferner entwickeln ſoll, nicht aber über eine derſelben entweder zu lächeln oder zu zürnen“ “) eine Jugendarbeit Albrecht Thaer's und von Leſſing theils nur fortgeſetzt, theils nur hin und wieder überarbeitet iſt?“ Dies ſind im All⸗ gemeinen die Fragen, deren wiſſenſchaftliche Löſung uns hier aufliegen wird.

Dieſe Unterſuchung und Prüfung kann nicht für über- flüßig, noch unſtatthaft erachtet werden. Leſſing die in Frage geſtellte Schrift ſelbſt Albrecht Thaer Thaer's Biograph endlich die literariſche, hiſtoriſche und auch philoſophiſche Kritik, dies Alles iſt dabei be⸗ theiligt. Die Entdeckung des Herrn Körte, ſo jung und dabei ſo unerwartet ſie iſt, hat bereits auf angeſehene Ge⸗ lehrte und Schriftſteller Einfluß geübt, beſonders unter den Theologen. Unter dieſen ließ es ſich namentlich der Leipziger Profeſſor der Theologie, Präflvent der hiſtoriſch⸗ theologiſchen Geſellſchaft, und als ſolcher Herausgeber der Zeitſchrift für die hiſtoriſche Theologie, Chriſtian Friedrich Illgen, angelegen ſein, die Entdeckung des Herrn Körte empfehlend zu verbreiten; mit einer Ueberzeugung, mit einer Sicherheit, wonach die Frage ein- für allemal ſchlecht⸗ hin abgethan fehiene**). Die Folge davon war, daß auch

„) Worte aus Leſſing's Vorbericht zu der Erziehung des Menſchengeſchlechts.

as) Zeitſchrift für die hiſtoriſche Theologie. 1839. IV. Heft. ©. 99 148.: „Ein Beitrag zur Geſchichte der Wolfenbüttelſchen Fragmente. Aus Wilhelm Körte's Darſtellung von Albrecht Thaer's Leben, mitgetheilt und mit Bemerkungen begleitet vom Herausgeber.“ S. 104. ſagt Illgen: daß Thaer der Verſaſſer der Erziehung der Menſchengeſchlechts ſei, dies ſet „nach den von Thaer's Biographen angeſtellten Unterſuchungen keinem Zwei⸗

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unſere kritiſchern Köpfe, daß ſogar Strauß, der Ver⸗ faſſer des Lebens Jeſu, an der Echtheit der Erziehung des Menſchengeſchlechts, als einer Leſſing beigelegten Schrift, wenigſtens zweifelhaft, irre geworden iſt, was ehedem kaum möglich geſchienen hätte. Strauß's jüngſtes Werk: Die chriſtliche Glaubenslehre, in ihrer geſchichtlichen Ent⸗ wicklung und im Kampfe mit der modernen Wiſſenſchaft (Erſter Band 1840.), trägt die Spuren der Körte'ſchen Entdeckung in prägnanter Weiſe. Ihm iſt Leſſing der Ausgangs- und gewiſſermaßen der Mittelpunkt der ges ſammten modernen Theologie, in den mannichfaltigen Richtungen und Bildungen, denen fie ſich bis auf unſere Tage überlaſſen. Leſſing kommt in dieſer Kritik aller Glau⸗ benslehre, ſo zu ſagen, auf allen Blättern vor, die größte Rolle aber ſpielt die „Erziehung des Menſchengeſchlechts,“ ſowohl als Ganzes, als auch durch die Beſonderheit ge= wiſſer darin enthaltenen Ideen: wer mehr als Strauß hätte den Beruf gehabt, ſich für die Frage von dem Ur⸗ heber der Erziehung des Menſchengeſchlechts zu entſchei⸗ den? Die Frage muß wohl ſehr verwickelt fein oder we⸗ nigſtens es ſcheinen, wenn er ſie auf ſich beruhen ließ; nur, daß Strauß nicht conſequent war und dadurch feine

fel unterworfen.“ S. 131.: „Dieſe Thatſache iſt hier ſo au genſcheinlich erwieſen, daß ſelbſt das, was noch neulich aus Böttiger's handſchriftlichem Nachlaſſe (II. 19. aus einer Un⸗ terredung mit Eliſe Reimarus) für Leſſing's Autorſchaft veröf⸗ fentlicht worden iſt, nicht damit ſtreiten kann.“ Zuletzt: „Er: wieſen iſt aus der übrigens ſehr ſchätzbaren Arbeit (des Herrn Körte), nach unſrer unvorgreiflichen Meinung, weiter nichts als daß die Grundlage von Leſſing's berühmter Schrift, die Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts, von Thaer herrührt. Gewiß eine ſehr dankenswerthe Aufklärung!!!“ (sic.) 1 *

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Leſer erſt recht in Verwirrung ſetzt. Zuerſt, wie geſagt, iſt ihm ohne Zweifel zufolge der Körte'ſchen Entdeckung und, vermuthlich, der ihr von Illgen eilig gegebenen Sane⸗ tion, obgleich weder der Eine noch der Andere von ihm genannt wird der Verfaſſer der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts problematiſch. „Leſſing, oder wer der neueſtens ſtreitig gewordene Verfaſſer der Ab⸗ handlung über die Erziehung des Menſchengeſchlechts ift, erneuerte die montaniſtiſche Vergleichung u. ſ. w.“ leſen wir (a. a. O.) S. 260. Und S. 348.: „Wie die Er⸗ ziehung des Einzelnen, ſo giebt nach der bekannten, von Leſſing wo nicht verfaßten, doch adoptirten Abhandlung die Offenbarung dem menſchlichen Ge⸗ ſchlechte nichts u. ſ. w.“ Hier ging er ſchon ein wenig wei⸗ ter: als wenn es gleichgültig wäre, ob Leſſing ſein Eigenes, Urſprüngliches giebt, oder Fremdes nur adoptirt. Leffing hat Vieles adoptirt: wird man ihn wegen der Meinungen oder Schriften eitiren, die er blos adoptirt hat? Andrerſeits: Leſſing hat manches herausgegeben: hat er aber alles adoptirt, was er herausgegeben hat? z. B. die Wolfenbüttler Fragmente. Wie Viele haben mit Mel⸗ chior Göze geglaubt, glauben noch heutzutage, Leſſing habe dieſe, weil und inſofern er ſie herausgegeben, adoptirt? Nichts aber iſt ſchiefer, als dieſe Vorausſetzung, nichts kann ſo leicht berichtiget werden. Es müßte alſo, wenn N Leſſing blos der Herausgeber und nicht der Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts iſt, nicht blos voraus⸗ geſetzt, ſondern dargethan werden, daß er fie alsdann auch nur adoptirt habe. Im Laufe des Werkes vergißt Strauß aber ganz an das Problematiſche, welches ſich an jene Hauptſchrift unſers Leſſing knüpft oder zu knüpfen ſcheint; ſo oft er ſie in der zweiten Hälfte des Buches an⸗

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führt, legt er ſie ſchlechthin und ausſchließlich Leſſing bei, wie z. B. in dem Hauptſtück über die Auflöſung und Um⸗ deutung der Lehre von der Dreieinigkeit (S. 486). Der Verfaſſer hätte beſſer gethan, ſich für das eine oder das andere zu entſcheiden. So aber hebt bei ihm der Zwei⸗ fel die Gewißheit, und, wenn ich ſo ſagen darf, umgekehrt die Gewißheit den Zweifel, d. h. das Problem auf was uns, ſeinen Leſern, übrig bleibt, iſt nachgerade der Zweifel, und der Trieb, darüber, nach der einen oder der andern Seite, hinauszukommen.

Ich ſpreche von dem Einfluſſe, den die Entdeckung des Herrn Körte auf die Literatur bereits ausgeübt hat; von jener ſelbſt habe ich die Quelle und das Endergebniß nur im Allgemeinen angegeben. Da Wenige den Beruf oder die Luft gehabt haben mögen, die Körte'ſche Entdeckung an ihrer Quelle, nämlich in der angeführten Biographie von A. Thaer kennen zu lernen, ſo erwarten meine Leſer ver⸗ muthlich, daß ich fie vor Allem in die Urkunden, Hülfs⸗ mittel und die Argumentation des Herrn Körte, mit der erforderlichen Ausführlichkeit und Unparteilichkeit einführe; alsdann, daß ich, um die von mir behauptete Echtheit der Erziehung des Menſchengeſchlechts, als einer Schrift von Leſſing, darzuthun, nur die Argumentation des Herrn Körte Punkt für Punkt beſtreiten und widerlegen werde. Denn die unbedingte Beipflichtung von Seiten des einen der oben genannten Theologen, und der Zweifel von Seiten des an⸗ dern, allerdings viel berühmtern Kritikers und Theolo⸗ gen, geht auf nichts Aelteres, als die Körteſche Entdeckung zurück, bei welcher Leſſing gleichſam nur eine Nebenrolle, Thaer aber die erſte Rolle ſpielt, und zwar nach Herrn Körte. So viel ich auch ſonſt bemerken und erfahren konnte, ſcheinen die meiſten der Anſicht zu ſein, daß die

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eigentliche Schwierigkeit weniger in Leſſing fiele, als, es klingt etwas ſonderbar, in den Thaer des Herrn Körte: Strauß ſelbſt, einen Augenblick zweifelhaft, da, wo er an das Literar⸗Hiſtoriſche der Sache und ſomit an das Ge⸗ biet des Herrn Körte ſtreift, wird, ſobald er in das In⸗ nere der Sache eingeht, unwillkührlich von dem Geiſte Leſ⸗ ſing's erfaßt, er iſt dann ganz bei und für Leſſing: Herr Körte iſt auch nun einmal mit ſeiner Entdeckung da, er argumentirt, er hat neue Urkunden, er führt Beleg⸗ ſtellen an, er redet mit der ſchneidendſten Zuverſicht; und kurz, ſo lange Herr Körte nicht Punkt für Punkt wi⸗ derlegt iſt, ſcheint es, bleibt die Sache zweifelhaft; iſt aber Herr Körte erſt widerlegt, ſo wird in Zukunft keinem Menſchen einfallen, die Erziehung des Menſchengeſchlechts einem andern als Leſſing, geſchweige dem Agronomen Al⸗ brecht Thaer, was ſage ich? dem Studenten Albrecht Thaer denn als Student ſoll er ſich zum Führer eines Leſ⸗ ſing erhoben haben zuzuſchreiben. Alſo dies dürfte, nach dem Ermeſſen mancher Leſer, das ganze, wenigſtens das Hauptziel dieſer Blätter ſein. Herr Körte ſelbſt, ſollte er dieſe Blätter in die Hand nehmen, dürfte anfangs glau⸗ ben, daß der Kampf gegen ſeine Perſon uns hier haupt⸗ ſächlich und vornemlich beſchäftigen werde.

Sollten dies die Leſer wirklich vorausſetzen, ſo will ich fte ohne Zögern benachrichtigen, daß fie, ohne es zu wiſ⸗ ſen, dem Herrn Körte eine Wichtigkeit beilegen, an wel⸗ cher er, ſo zu ſagen, unſchuldig wäre; denn, um mich recht deutlich auszuſprechen: auch wenn Herr Körte mit allen feinen Citaten, Auslegungen, Anſichten und Argumenten ſchon widerlegt iſt, was viel leichter iſt, als auf den er⸗ ſten Anblick ſcheinen dürfte ſo iſt dadurch allein etwa noch nicht ausgemacht, daß Leſſing der wahre und

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einige, originelle Verfaſſer der Erziehung des Menſchen⸗ Rgeſchlechts iſt: der Gewinn bliebe ein bloß negativer, äu⸗ ßerlicher, der Sieg ein bloß perſönlicher. Andrerſeits, wenn jemand aus Leſſing und der Schrift: die Erziehung des Menſchengeſchlechts, gar ohne Rückſicht auf Herrn Körte, die Echtheit der letztern darthut was allerdings einer viel ernſtern Arbeit bedarf, als wieder auf den erſten Blick ſcheinen dürfte ſo iſt dadurch allein Herr Körte noch nicht widerlegt dies wird ein kritiſches Geſchäft für ſich allein; Herr Körte iſt auch der Mann nicht, der ſich ſo leicht abweiſen ließe, ich erſehe es aus der ungemeſſenen Dreiſtigkeit, womit er ſeine Entdeckung als ausgemacht und erwieſen uns aufdringen, auferlegen will. Das heißt die Kritik nicht erwarten, ſondern herausfordern; wohlan, es gilt, einer ſolchen Herausforderung entgegenzugehen. Dies wird geſchehen: nur nicht im Anfange, an der er⸗ ſten, ſondern nachher, in zweiter Stelle. Unſer Geſchäft iſt alſo ein zweifaches: zuerſt handelt es ſich, die Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts von Leffing im Zuſammen⸗ hange mit ſeinen Schriften und ſeiner Philoſo— phie genetiſch zu betrachten und ſo ihre innere ſo wohl als auch ihre äußere Originalität zur Evidenz zu bringen. Iſt dies geſchehen, ſo möge die Geduld unſrer Leſer nicht ermüden, bis wir das merkwürdige Gewebe von Täuſchung und Sophiſtik ganz auseinander gelegt haben, aus welchem die ganze Entdeckung des Herrn Körte in ihrem letzten Grunde beſteht. Ich weiß, was ich aus⸗ ſpreche: ich habe aber lange und gewiſſenhaft geprüft und wieder geprüft; was ſich mir ergeben hat, mitzutheilen und zu vertreten, halte ich nur für Pflicht. Ich hielt es für zweckmäßig, mich von vorn herein zu erklären und den Leſer über den Plan dieſer kritiſchen Erörterung zu

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unterrichten; nun iſt es Zeit, an die Sache ſelbſt heran zu gehen.

Wiefern iſt es überhaupt möglich das wird unſre erſte Frage wie iſt es möglich, daß an der Echtheit von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts von einem ernſthaften Manne gezweifelt werden kann, wenn ſeit län⸗ ger als einem halben Jahrhundert die Literaturgeſchichte und das traditionelle Bewußtſein in Deutſchland und au⸗ ßer Deutſchland beſonders in Frankreich dieſe Schrift unbedingt dem großen Leſſing zugeſchrieben hat? Umge⸗ kehrt, wie hat man ſo lange dieſer Ueberzeugung ſein können, wenn eine Möglichkeit ai Zweifels vorhanden war und blieb?

Die Aufklärung hierüber läßt ſich, in literar⸗ hiſtori⸗ ſcher Hinſicht, in zwei Worten geben: Leſſing hat die Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts, anfangs die erſte Hälfte, einige Zeit darauf ganz und vollſtändig wie wir ſie in ſeinen Schriften haben als die Schrift eines drit⸗ ten, unbekannten Verfaſſers herausgegeben: das iſt das eine. Das zweite iſt, Leſſing hat ſich, indem er dies that, nur einer, in neuern Zeiten nichts weniger als ſeltenen oder gar unerhörten Form bedient; er hat ſich zu der Schrift nicht bekannt, ſie nicht anerkannt, ſich als Verfaſſer verleugnet. In dieſen zwei Worten, de⸗ ren Richtigkeit wir ſogleich erhärten werden, iſt eigentlich die Kritik der Entdeckung des Herrn Körte, inſofern ſie ſich an Leſſing lehnt, ſchon enthalten: Herr Körte hat die Form, unter welcher Leſſing die Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts herausgegeben hat, gemißbraucht; er hat ſich den Schein gegeben, jene Form buchſtäblich und eigentlich zu faſſen; er hat gethan, als wäre dieſe Form immer und allgemein buchſtäblich genommen worden,

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und als hätte man bis auf den heutigen Tag gewartet, daß jemand käme, welcher den unbekannten Verfaſ⸗ ſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts ent— deckte, den er nun in der Perſon Albrecht Thaer's entdeckt haben will. Dies iſt ſein Kunſtſtück; es ſei vor⸗ erſt noch ganz allgemein angegeben, indem, wie geſagt, der Herr Körte mit feiner Entdeckung für ſich und im Zus ſammenhange den Gegenſtand einer Kritik abgiebt, welche mit der über Leſſing, als Verfaſſer der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts, nicht vermengt werden darf. * Leſſing alſo, ſagte ich, hat feine Schrift „die Erziehung des Menſchengeſchlechts“ öffentlich nicht anerkannt, ſon⸗ dern ſie einem unbekannten Verfaſſer zugeſchrieben; ich fügte hinzu, dies war eine von ihm nur ſo angenommene Form; und, in der That, daß es weiter nichts war, geht ſchon daraus hervor: daß er vor ſeinen Freunden kein Geheimniß gemacht hat, daß er nicht bloß der Her— ausgeber, ſondern auch der Verfaſſer ſei; vor dieſen bekannte er ſich mit großer Unbefangenheit, ohne die geringſte Zurückhaltung wiewohl für dieſe Freunde ſein Bekenntniß gar nicht nothwendig war: ſie hatten die Form, deren er ſich öffentlich bediente, bald von ſelbſt durchſchaut. 5 Für dieſe literar⸗hiſtoriſchen Punkte zunächſt die ſpre⸗ chendſten Textesſtellen als Belege! Ich gehe nachher auf das Innere der Sache ſelbſt ein. Die Fiction alſo eines unbekannt bleibenden Verfaſſers dieſer Nerv der Entdeckung des Herrn Körte begegnet uns bald an der Stelle, wo Leſſing die erſte Hälfte der Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts bekannt machte, nämlich in dem vierten der Beiträge zur Literatur und Geſchichte (1777), welcher fünf Fragmente des Wolfenbüttler Ungenannten

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enthält, denen Leſſing feine „Gegenſätze des Herausge⸗ bers“ beifügte; da heißt es!): „Unter einem gewif⸗ ſen Zirkel von Freunden iſt vor einiger Zeit ein kleiner Aufſatz in der Handſchrift herumgegan⸗ gen, welcher die erſten Linien zu einem ausführlichen Buche enthielt und überſchrieben war: Die Erziehung des Menſchengeſchlechts. Ich muß bekennen, daß ich von einigen Gedanken dieſes Aufſatzes bereits wörtlich Gebrauch gemacht habe. Was hindert mich alſo, oder vielmehr, was iſt alſo ſchicklicher, als daß ich den Anfang deſſelben in ſeinem ganzen Zuſammenhange mittheile, der ſich auf den Inhalt unſers vierten Fragments ſo genau bezieht? Die Indiscretion, die ich damit begehe, weiß ich zu verantworten, und von der Lauterkeit der Ab⸗ ſichten des Verfaſſers bin ich überzeugt. Er iſt auch bei Weitem fo Heterodor nicht, als er bei dem er⸗ ſten Anblick ſcheinet, wie ihm auch die ſchwierigſten Leſer zugeſtehen werden, wenn er einmal den ganzen Aufſatz, oder gar die völlige Ausführung deſſelben bekannt zu machen für gut halten ſollte. Hier iſt indeß, wie geſagt, der An⸗ fang, des verwandten und genutzten Inhalts wegen.“ Wer in der erſten Zeit etwa dieſe Worte buchſtäblich nahm, und die darunter verborgene Ironie nicht erkannte, der konnte allerdings was Lefſing für ſolche Leſer be⸗ zweckte getäuſcht werden; und dies widerfuhr z. B. dem Sohne von H. S. Reimarus: J. A. H. Reimarus in Hamburg, welcher damals ernſthaft an Leſſing die Frage nach dem Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts, mit Beziehung auf den ſo eben angeführten Text in den

) Leſſing's ſämmtliche Schriften. Herausgegeben von Karl Lachmann. 1839. X. 29.

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Beiträgen, richtete. Er verdiente, wegen einer ſolchen Frage von Leſſing mit wiederholter Ironie abgefertigt zu wer⸗ den, doch ſo, daß ihm daraus ein Licht aufgehen mochte. Leſſing antwortete ihm, vom 6. April 1778 (Sämmtliche Schriften, XII. 503.): „Die Erziehung des Menſchenge⸗ ſchlechts iſt von einem guten Freunde, der ſich gern allerlei Hypotheſen und Syſteme macht, um das Vergnü⸗ gen zu haben, ſie wieder einzureißen. Dieſe Hhpotheſe nun würde freilich das Ziel gewaltig verrücken, auf wel⸗ ches mein Ungenannter (der Vater von dem Empfänger dieſes Briefes, Verfaſſer der Fragmente) im Anſchlage ge⸗ weſen. Aber was thut's? Jeder ſage, was ihm die Wahr⸗ heit dünkt, und die Wahrheit ſelbſt ſei Gott empfoh⸗ len!“ Wer Leſſing aus ſeinen Schriften kennt, er⸗ kennt in der Schilderung dieſes „guten Freundes“ ſein eigenes Portrait, ganz wie in der Beſchreibung des „uns bekannten Verfaſſers,“ die wir oben mit Leſſing's Wor⸗ ten mitgetheilt haben.

Im Jahre 1780, alſo im dritten Jahre nach dem Ab⸗ druck der erſten Hälfte der Erziehung des Menſchengeſchlechts unter den Gegenſätzen zu den Fragmenten des Ungenann⸗ ten, machte Leſſing endlich das Uebrige, mithin die Schrift vollſtändig bekannt, indem er ſie als ein beſonderes Werkchen bei Voß in Berlin unter folgendem Titel herausgab: „Die Erziehung des Menſchengeſchlechts. Herausgegeben von Gotthold Ephraim Leſſing.“ Mit dem Motto aus dem Augu⸗ ſtinus: Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt. in Sedez, 6 Bogen *). Leſſing beharrte hier in dem Incognito. Er benutzte aber daſſelbe, um in dem „Vorbericht des Herausgebers“ einen

) Sämmtliche Schriften. X. S. 308 ff.

allgemeinen Gedanken auszuſprechen, von welchem er die Schrift von ſeinen Zeitgenoſſen zunächſt angeſehen haben wollte. Von dem unbekannten Verfaſſer ſpricht er nur wie von einem begeiſterten Seher, einem edeln Schwärmer. Die Beziehung, welche er der Schrift anfangs zu den Frag⸗ menten des Ungenannten gegeben, deutet er nur vorüber⸗ gehend an: „Ich habe die erſte Hälfte dieſes Aufſatzes in meinen Beiträgen bekannt gemacht. Jetzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu laſſen.“ Das iſt alles, was er zur literariſchen Orientirung der Leſer dort ſagt.

An ſeinen Bruder Karl dagegen ſchrieb Leſſing, als er eben das Manuſcript zum Druck abgeſchickt hatte, vom 25. Febr. 1780. (Sämmtliche Schriften XII. 539.): „Auch habe ich ihm (Voß) die Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts geſchickt, die er mir auf ein halbes Dutzend Bogen ausdehnen fol. Ich kann ja das Ding vol—⸗ lends in die Welt ſchicken, da ich es nie für meine Arbeit erkennen werde, und mehrere nach dem ganzen Plane doch begierig geweſen ſind.“ Hier in dem vertrauten Schreiben an den Bruder haben wir alſo das eigene, klare, unwiderſprechliche Bekenntniß und Zengniß Leſſing's, als des geheimen Verfaſſers der Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts, und zugleich die Erklärung über die von ihm gebrauchte Form: ich werde es nie für meine Arbeit erkennen d. h. anerkennen, nemlich öffent⸗ lich, denn ſo eben thut er es im Vertrauen. Der große Haufe der Leſer möge darüber in Unwiſſenheit, wenigſtens in Zweifel bleiben. („Das Ding,“ ſo ſprach Leſſing nur von ſeinen eigenen Arbeiten. „Wenn Sie das Ding an Hamann ſchicken,“ ſchrieb er einige Zeit darauf über ſeine Freimäurer⸗Geſpräche an Hamann vom 25. Juni 1780.

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(XII. 541.), „fo verſichern Sie ihn meiner Hochachtung“ u. ſ. w.) Von einem unbekannten Verfaſſer, deſſen Auf⸗ ſatz unter einem Cirkel von Freunden herumgegangen ſei, iſt hier nicht im entfernteſten Sinne die Rede; die Fic⸗ tion iſt handgreiflich, und es iſt eigentlich in dieſer Be⸗ ziehung kein Wort mehr zu verlieren. Beſonders erhält das Zeugniß Karl Leſſing's in dem Leben ſeines Bruders (I. S. 420.), in Folge des ihm von Leſſing gemachten Be⸗ kenntniſſes, einen doppelten und ganz unumſtößlichen Werth, ſo kurz dieſer auch über die Schrift, dem Inhalte nach, wegeilt “).

Nicht nur aber ſeinem Bruder, auch ferner ſtehenden Perſonen und Freunden gab Leſſing ſich zu erkennen, oder genauer, er ſetzte ganz beſtimmt voraus, daß ſie ihn her⸗ ausgefunden und erkannt hätten. Herdern z. B. bekannte ſich Leſſing als den Verfaſſer der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts, in dem Briefe vom 25. Juni 1780., in folgender Weiſe: „— Und nun wird ſich der Unge⸗ nannte ſchon ſelbſt ſo weit helfen, als er ſich, nach den Geſetzen etner höhern Haus haltung, helfen ſoll. Auf mein eignes Glaubensbekenntniß habe ich mich bereits eingelaſſen; wenigſtens mich darüber aus gelaſſen. Denn zum Einlaſſen gehören zwei; und nachdem ich es als ein ehrlicher Mann gethan, hat niemand davon etwas weiter zu wiſſen verlangt. Vermuthlich weil es noch zu ortho- dor war, und hierdurch weder der einen, noch der an— dern Partei gelegen kam. Iſt er noch ſo weit zurück? dachten die einen. Wenn er nur das will, dachten die

) „Der Satz, welcher der Schrift über die Erziehung des Menſchengeſchlechts zu Grunde liegt, kann zu Folgerungen Anlaß geben, die der Lehrer ohne Zweifel nicht bezweckte“ u. ſ. w.

andern, was haben wir denn für einen Lärmen über ihn angefangen?“ Um zu wiſſen, daß Leſſing hier unter ſeinem Glaubensbekenntniſſe die Erziehung des Menſcheu⸗ geſchlechts verſteht, muß man dieſe allerdings kennen und ſte in der von Leſſing gegebenen Charakteriſtik erkennen und zu würdigen wiſſen; zumal durch den Gegenſatz, iu welchen er dies ſein „eignes Glaubensbekenntniß“ zu den Fragmenten des Ungenannten ſtellt, was vollkommen an die oben angeführte Antwort Leſſing's an Reimarus, den Sohn, über den Verfaſſer der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts, erinnert. Gleichwohl hat Herder dieſe Anſpie⸗ lung nicht verſtanden; denn in dem von ihm zu Leffing’s Andenken, kurz nach deſſen Tode, das Jahr darauf, 1781. verfaßten Aufſatze (im Deutſchen Merkur. Herder's Werke XIII. 169.) drückt Herder ſich auf folgende, an und für ſich räthſelhafte Art aus: „Gut, daß Leſſing dieſe ſeine (theologiſche) Laufbahn mit einem Glaubensbekennt⸗ niß, und mit der Erziehung des Menſchenge⸗ ſchlechts ſchloß. Die letztere Schrift möchte mancher Theolog, ungeachtet mancher überſpannten Hypotheſe, ge⸗ ſchrieben haben wollen!“ Dieſe Stelle würde literar⸗hiſto⸗ riſch für uns dunkel und räthſelhaft bleiben ohne den eben angezogenen Brief von Leſſing an Herder. Denn wo exi⸗ ſtirte eine Schrift Leſſing's unter dem Titel, „mein Glau⸗ bensbekenntniß?“ woran hat Herder nur denken können? Offenbar an nichts Beſtimmtes; offenbar hatte er da die von ihm unverſtandene Aeußerung Leſſing's über „fein Glaubensbekenntniß“ im Sinne. Man ſieht aber ſchon aus Herder's Urtheil über die Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts, daß er weit entfernt war, ihre wahre Bedeu⸗ tung für Leſſing und ſeine Philoſophie durchſchaut zu ha⸗ ben. Nichtsdeſtoweniger, und das ſchon iſt für uns etwas

werth, hat er fie doch unbedingt als ein Produkt aus

Leſſing's Feder erkannt gehabt.

Endlich haben wir das Zeugniß von F. H. Jacobi, gegen welchen Leſſing, in der berühmten Unterredung mit ihm über Spinoza, ſich ohne allen Rückhalt bei ſeinem eignen Syſteme auf die Erziehung des Menſchengeſchlechts berief (Jacobi's Werke, IV. 1. 42.): „In einer ſolchen Unterredung, bemerkt Jacobi unter andern, äußerte ich ein⸗ mal meine Verwunderung darüber, daß ein Mann von ſo hellem und richtigem Verſtande, als Mendelsſohn, ſich des Beweiſes von dem Daſein Gottes aus der Idee ſo eifrig, wie es in ſeiner Abhandlung von der Evidenz geſchehen geſchehen wäre, hätte annehmen können; und Leſſing's Ent⸗ ſchuldigungen führten mich geradezu auf die Frage: ob er

ſein eigenes Syſtem nie gegen Mendelsſohn behauptet

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hätte? Nie, antwortete Leſſing —; einmal nur ſagte ich ihm ungefähr das, was Ihnen in der Erziehung des Menſchengeſchlechts (f. 73.) aufgefallen iſt. Wir wur⸗ den nicht mit einander fertig, und ich ließ es dabei.“ Hier gab Leſſing nicht allein zu, ihn als den Verfaſſer

der Erziehung des Menſchengeſchlechts zu halten, ſondern

er deutete noch auf die engere Beziehung des Inhalts die⸗ ſer Schrift zu ſeinem eigenthümlichen Syſteme an.

Käme es darauf an, die Zeugniſſe von Leſſing's Zeit⸗ genoſſen, welche ihn ſämmtlich unmittelbar hinter der Maske, welche er vor dem Publikum angenommen hatte, erkannt, anzuführen, ſo würden wir blos in den Schriften von Mendelsſohn, Herder, Jacobi, Nicolai u. A. zu blättern haben. Aber wozu dies? da wir an ſeinen eignen, mehr⸗ fältigen, unzweideutigen Bekenntniſſen genug haben. Um nun das Bisherige zuſammenzufaſſen, werden wir ſagen: Der Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts iſt

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oder war nur fo lange und in ſofern problematiſch, als man die Worte Leffing’s, als des Herausgebers, welche auf einen Unbekannten, als Verfaſſer, hinweiſen, buchſtäblich und ernſthaft nahm; von dem Augenblicke an aber, da aus dem Geiſte und dem Inhalt der Schrift Leſſing als dieſer „unbekannte Verfaſſer“ erkannt worden; vorzüglich aber, da er ſelbſt dieſes eingeſtand, und ſich auf das klärſte als identiſch mit dem vorgeblich unbekannten Verfaſſer be⸗ kannt hat, ſeitdem kann es keinem ernſthaften und un⸗ terrichteten Mann einfallen, auf die Entdeckung des un⸗ bekannten Verfaſſers der Erziehung des Menſchengeſchlechts auszugehen, wenn er ſich nicht dem Geſpötte ausſetzen will. Wer es dennoch thut, und zwar nicht ohne Auf⸗ wand der künſtlichſten Mittel, wie Herr Körte, erregt gleich den Verdacht, daß es ihm um etwas ganz anderes, als die wahre Aufklärung der literariſchen Welt zu thun fer; derjenige aber, welcher ihm ohne Weiteres beiſtimmt, wer es ſich von ihm einreden läßt, als wäre im Ernſte über den Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts, nach Leſſing ſelbſt, ein Problem vorhanden, und die Auflöſung, welche es auch immer ſei, z. B. die des Herrn Körte, welcher Albrecht Thaer dafür proklamiren kömmt, mit bei⸗ den Händen ergreift, der legt eine, einem deutſchen Ge⸗ lehrten ſchlecht genug ſtehende Unwiſſenheit in der claſſt⸗ ſchen Literatur der Nation an den Tag.

So einfach ſteht die Sache, literar⸗hiſtoriſch betrachtet, wenn man ſie nimmt, wie ſie liegt, und wie ſie bis zu der Entdeckung des Herrn Körte gelegen hat. Doch die hiſtoriſch⸗theologiſche und philoſophiſche Anſicht, welche dieſer Entdeckung von Seiten ihres Urhebers in Abſicht auf Leſſing's theologiſchen und philoſophiſchen Charakter und Standpunkt, und mit näherem Bezuge auf die Natur

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und die Form der Erziehung des Menſchengeſchlechts, zum Grunde liegt, und ohne welche er weder ſich noch Andere von der Gewißheit, ja auch nur von der entfernteſten Wahrſcheinlichkeit ſeiner Entdeckung hätte überreden kön⸗ nen, nöthigt mich, in das Innere der Sache einzugehen, und die Erziehung des Menſchengeſchlechts, literariſch, theo— logiſch und philoſophiſch in ihrem wahren Geſichtspunkte darzuſtellen, und gleichſam wiederherzuſtellen, damit, wenn wir nachher die Leiſtung des Herrn Körte im Zuſammen⸗ hange und im Ganzen durchnehmen, der Leſer bald wahr— nehme, daß ſein Syſtem, wie ich der Kürze wegen mich ausdrücke, ein ganz verkehrtes und ungereimtes iſt. Und auch davon abgeſehen, ſcheint es einmal der Mühe werth, unſern Gegenſtand einer allgemeinern, wiſſenſchaftlichen Be⸗ trachtung zu unterwerfen. Schiller und Göthe haben ja nicht allein die Nation gebildet und erhoben, und Leſſing iſt ſchon lange nicht mehr fo gekannt und erkannt, als berühmt. |

In der That, wenn heute jemand den Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts auch nur für ſtreitig erklärt, welche Vorausſetzung macht er da? Nothwendig denkt er ſich dieſe Schrift iſolirt in Bezug auf ihren Verfaſſer, den er bisher auf Glauben angenommen hatte. Eine ſolche Anſicht und Auffaſſung kann unmöglich ohne Einwirkung auf das Verſtändniß und die Würdigung der Schrift ſein; dieſes Verſtändniß kann unmöglich vollſtän⸗ dig, dieſe Würdigung ebenſo wenig gerecht und erſchöpfend ſein. Denn hat der Verfaſſer, hat Leſſing ein Sy⸗ ſtem, und zwar ein originelles, eigenthümliches Syſtem ge⸗ habt, ſo wird daſſelbe in einer Schrift, wie die Erziehung des Menſchengeſchlechts, zwar enthalten, aber vielleicht nicht ausgeſprochen, vielleicht gar verhüllt, und nur für

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denjenigen, welcher die Beziehung der Schrift zu den übri⸗ gen, zu dem Syſteme kennt, durchſichtig ſein; in beiden Fällen bleibt ihr Verſtändniß dann unvollſtändig. Desglei⸗ chen, da die Eigenthümlichkeit, die Originalität eines Den⸗ kers in ſeinem Syſteme und zunächſt in deſſen Prinzipien ſelbſt beſteht, hierin nur ſich entfaltet, und in den einzel⸗ nen Anwendungen dieſer Prinzipien, in den beſondern Schriften, worin ſie gemacht ſind, nur in einer einzelnen beſonderen Seite des Ganzen vorliegt: da mithin die Ori⸗ ginalität jeder dieſer Schriften weſentlich in dem beſteht, was das Band ihres Inhalts mit dem ganzen Syſteme des Urhebers ausmacht, und dieſes manchmal tiefer liegt, als beim erſten Anblick vermuthet wird, ſo wird, iſolirt angeſehen, eine ſolche für ſich beſtehende Schrift entweder gar nichts Originelles zu haben ſcheinen, oder man wird ihr eine Originalität beilegen oder unterlegen, welche ihr nicht zukömmt. Die Geſchichte der Leſſing'ſchen Schrift in Rede, von ihrem Erſcheinen bis zu der Entdeckung des Herrn Körte und deren Nachklängen in der Literatur, wird dieſes belegen.

Doch gleich beim erſten Schritte dürfte ich auf einen Widerſtand von eigner Art bei den Leſern ſtoßen. Ich ſpreche da von Leſſing als einem Philoſophen, als einem Denker, der ein Syſtem, ein originelles Syſtem gehabt habe. Weit entfernt, daß unſere Philoſophen von Fach Leſſingen einen ſelbſtſtändigen Platz in der Geſchichte der Philoſophie angewieſen hätten, hat ſich ſogar unter Phi⸗ loſophen wie Nichtphiloſophen die Anſicht eingebürgert, als habe Leſfing bei den Grundfragen über göttliche und menſchliche Dinge nicht einmal ſo recht eigentlich eine Ueber⸗ zeugung gehabt, als wäre es ihm mit ſeinen eignen Mei⸗ nungen oder Anſichten, zumal, wie geſagt, in der Theo⸗

logie und Philoſophie, kein rechter Ernſt geweſen, als habe er es, je nach dem augenblicklichen Intereſſe oder in einer Art von gymnaſtiſcher Kurzweil, aus Freude am Wider- ſpruche, an Paradorieen, bald mit dieſer, bald mit je= ner, ja mit den entgegengeſetzten Parteien oder Richtun⸗ gen, zu gleicher Zeit gehalten, weil ihm im Grunde die eine nicht mehr werth geweſen ſei als, die andere. Daß er eine Idee in ſeinem Leben, auch nur zu einer gewiſſen Zeit ſeines Lebens, und in ſeinen Schriften verfolgt, und für ſie mit Begeiſterung erfüllt geweſen, daß eine Einheit des Prinzips durch ſeine Gedanken und Beſtrebungen lief, ſchiene darnach gar nicht anzunehmen. Mit einem Wort, man hat bis auf dieſen Tag das Weſen und die Bedeu⸗ tung Leſſing's durch den negativen Begriff der Kritik, in dem Namen eines Kritikers par excellence zu er⸗ ſchöpfen geglaubt; eine Anſicht, die ſo allgemein iſt, daß es kaum nöthig ſcheint, ſich auf die Stimme des einen oder des andern zu berufen; denn welche geiſtreiche, beredte, glänzende Charakteriſtiken Leſſing's von Friedrich Schlegel bis zu Gervinus herunter wir erhalten haben, wie man⸗ nichfaltig auch ein ſo dankbares Thema von guten Federn benutzt worden iſt, es kam bisher immer auf daſſelbe hin⸗ aus; es war immer Leſſing im Kampfe mit ſeiner Zeit, niemals Leſſing in der Einheit und Harmonie mit ſich ſelbſt, Leſſing im Mittelpunkte eines harmoniſch geordne⸗ ten, feſt verbundenen Gedankenkreiſes. Wir haben treff⸗ liche Beſchreibungen der Art und Weiſe von Leſſing's Wirken, als Denker, Schriftſteller und Charakter; aber un⸗ ter dieſen keine einzige Erklärung; und wenn, nach Ari⸗ ſtoteles, das Erſtaunen der Anfang des Philoſophirens iſt, ſo blieb, muß man wohl ſagen, die Geſchichte der Litera⸗ - tur und Philoſophie, in Rückſicht auf Leſſing, die längſte

Zeit auf dem Standpunkte des Erſtaunens. Endlich aber ſollte das Erſtaunen aufhören, und dem Begreifen, dadurch aber erſt recht der Bewunderung Platz machen.

Es iſt wahr, Leſſing iſt durch unzählige Aeußerungen, in ſeinen Schriften, wie im Umgange, jenem weit verbrei⸗ teten Vorurtheile in Bezug auf ſeine Art zu forſchen und zu ſehen entgegengekommen. Er ſcheint ſehr häufig nur über den Dingen zu ſchweben, nicht ſich ihnen mit ſei⸗ nem ganzen innerſten Weſen hinzugeben; ſeinen Reden nach ſollte man ihn wenigſtens für den deutſchen Bayle, für einen ganzen Sceptiker halten. Wenn er z. B. einmal, was oft angeführt wird, in der Duplik “*) ſagt: „Wenn Gott in ſeiner Rechten alle Wahrheit und in ſeiner Lin⸗ ken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obſchon mit dem Zuſatze, mich immer und ewig zu irren, verſchloſſen hielte, und ſpräche zu mir: wähle! ich fiele ihm mit Demuth in ſeine Linke, und ſagte: Vater, gieb! die reine Wahrheit iſt ja doch nur für Dich allein!“ ſo könnte wirklich ein oberflächlicher Sinn Leſſing's Scepticismus oder ſeine Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit darin finden. Allein iſt der unauslöſchliche Durſt nach Erkenntniß wohl auf eine ergreifendere, erhabenere Weiſe ausgeſprochen worden, als in dieſer in's Paradore gehenden Verſicherung? wenn man nur das Vorhergehende, wodurch die Form jener Paradoxie motivbirt wird, hinzunimmt. Leſſing faßt dort in der Vertheidigung des Wolfenbüttler Ungenannten die Wiſſenſchaft als eine lebendige, wirkende Thätigkeit, im Gegenſatze zu einer blos todten Beſchaffenheit des Geiſtes, als Gedächtniß oder Glaube. „Nicht die Wahrheit, in de⸗ ren Beſttz irgend ein Menſch iſt, oder zu fein vermeinet,

) Sämmtliche Schriften. X. 49.

ſondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hin— ter die Wahrheit zu kommen, macht den Werth des Men— ſchen. Denn nicht durch den Beſitz, ſondern durch die Nachforſchung der Wahrheit erweitern ſich feine Kräfte, worin allein ſeine immer wachſende Vollkommenheit beſtehet. Der Beſitz macht ruhig, träge, ſtolz —“ und daran knüpft er die eben angeführte Verſicherung. In innigſter Ueber⸗ einſtimmung mit dieſer ſteht denn auch die vorhin beige— brachte Aeußerung aus Leſſtng's Briefe an Reimarus den Sohn, über ſich ſelbſt, den verſteckten Verfaſſer der Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts; beſonders das letzte Wort: „Jeder ſage, was ihm die Wahrheit dünkt, und die Wahr⸗ heit ſelbſt ſei Gott empfohlen!“ Wenn Leſſing dort ſich als einen Mann ſchildert, „der ſich gern allerlei Hypothe⸗ ſen und Syſteme mache, um das Vergnügen zu haben,

ſte wieder einzureißen,“ ſo braucht das ſchon nicht mehr

eigends erklärt zu werden. Wie er es meinte, zeigt ſchon, daß er darüber zu Herder als feinem Glaubensbekenntniſſe ſprach. Man halte auch feſt, daß Leſſing dort überall von ſeinen eignen Syſtemen und Hhpotheſen ſpricht; das macht, daß er ſich in ihrer Hinſicht nicht ſchonender aus⸗ drückt, als über ſeine eignen Schriften, welche bei ihm mit dem wegwerfenden Beiwort „das Ding“ oder gar „der Bettel“ (wie an Gleim: „der alte verlegene Bettel meiner vermiſchten Schriften, vom 22. März 1772.) und ähnlichen Prädikaten wegkommen. Dahin gehört, unter vielen, auch jenes bekannte Wort Leſſing's aus einem Briefe an ſeinen Bruder über das Sektenmachen in Bezug auf Baſedow's Vermächtniß für die Gewiſſen: „Ich haſſe alle die Leute (ſchreibt er vom 20. April 1774. XII. 416.), welche Sekten ſtiften wollen, von Grund meines Herzens. Denn nicht der Irrthum, ſondern der ſektiriſche Irrthum,

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ſogar die ſektiriſche Wahrheit machen das Unglück des Menſchen; oder würde es machen, wenn die Wahrheit eine Sekte ſtiften wollte.“ “)

Es fehlt auch gar nicht an Bekenntniſſen Leſſing's, aus welchen fein wahrer Charakter in poſttiver, direkter, un⸗ zweideutiger Weiſe hervorleuchtet. Er vertheidigt einmal den Enthuſtasmus, in ſeiner wahren Würde und ſeinem Unterſchiede von der Schwärmerei, und handelt von dem Verhältniſſe des Philoſophen zu beiden *). „Der Aufgabe fehlt eine Beſtimmung, heißt es hier, ohne welche ſie un⸗ endlicher Auflöſungen fähig iſt. Z. E. dieſe Herren, die ich nicht kenne und nicht kennen mag, hielten Wärme und Sinnlichkeit des Ausdrucks, inbrünſtige Liebe der Wahrheit, Anhänglichkeit an eigne beſondere Meinun⸗ gen, Dreiſtigkeit zu ſagen, was man denkt und wie man es denkt, ſtille Verbrüderung mit ſympathiſiren⸗ den Geiſtern hielten, ſage ich, dieſe Stücke, eins

) Hieher gehört noch folgende Aeußerung aus dem 1. Geſpräche für Freimäurer (X. 254.). Falk (dies iſt der ſpekulative Freimau⸗ rer). „Ich glaube ein Freimaurer zu ſein; nicht ſowohl, weil ich von ältern Maurern in einer geſetzlichen Loge aufgenommen wor⸗ den: ſondern weil ich einſehe und erkenne, was und warum die Freimaurerei iſt, wann und wo ſie geweſen, wie und wodurch ſie befördert oder gehindert wird. Ernſt. Und drückſt Dich gleich⸗ wohl ſo zweifelhaft aus? Falk. Dieſes Ausdrucks bin ich nun fo gewohnt. Nicht zwar, als ob ich Mangel an eigner Weber: zeugung hätte: ſondern weil ich nicht gern mich Ae ge⸗ rade in den Weg ſtellen mag.“

**) Ueber eine Aufgabe im deutſchen Merkur vom Jahre 1776 (ſämmtl. Schriften XI. 461 ff.). Die Aufgabe heißt: „Wird durch die Bemühung kaltblütiger Philoſophen und Luciantſcher Geiſter gegen das, was ſie Enthuſtasmus und Schwärmerei nen⸗

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oder mehrere oder alle, für Enthuſiasmus und Schwär⸗ merei: ei nun! deſto ſchlimmer für fl. Iſt es aber ſodann noch eine Frage, ob ihre Bemühungen gegen dieſe verkannten Eigenſchaften, auf welche das wahre philo— ſophiſche Leben des denkenden Kopfes beruht, mehr Böſes als Gutes ſtiften?“ In dieſem Sinne bekennt Leſſing hier ſich ſogar zu einem Enthuſtaſten: in⸗ brünſtige Liebe der Wahrheit! ſtille Verbrüderung mit ſympathiſirenden Geiſtern! jo lautete Leſſing's Wahlſpruch im Gegenſatze zu denjenigen, welche Sekten ſtiften wol⸗ len, welche er darum „von Grund des Herzens haßte.“ In dieſem Sinne hat Leſſing die Freimaurerei erklärt, und mit denſelben Worten es zu erkennen gegeben (Ernſt und Falk, fünftes Geſpräch, X. 299.). Die Freimaure⸗ rei, hatte Falk in einem vorhergehenden Geſpräche ge⸗ ſagt, iſt immer geweſen; „denn die beruht im Grunde nicht auf äußerliche Verbindungen, die ſo leicht in bürger⸗ liche Anordnungen ausarten; ſondern auf das Gefühl gemeinſchaftlich ſympathiſirender Geiſter.“ Hier ſpricht ein ganz anderer Leſſing, als der, welchen die Menge von ferne flieht, und wie er allerdings von der Menge zu⸗ weilen geſehen ſein wollte, weil er ſie nicht höher achtete; es iſt Leſſing, welcher ſich in unſichtbare Verbindung mit ſympathiſtrenden Geiſtern ſetzt; ſympathiſiren muß man auch heute noch mit ihm, um den wahren, lautern Leſ— ſing, in der erhabenen Einfalt ſeines Herzens, ohne die

nen, mehr Böſes als Gutes geſtiſtet? Und in welchen Schran⸗ ken müſſen ſich die Antiplatoniker halten, um nützlich zu ſein?“ Leſſing zergliedert in dieſem höchſt anziehenden, nur zu ſeiner Befriedigung zu Papier gebrachten Aufſatze das Schiefe, Ver⸗ worrene und Unvollſtändige in der geſtellten Aufgabe.

Ironie, welche er meiſt gegen die Welt kehrte, und welche die geheime Würze ſeines unvergleichlichen Stiles ausmacht, zu erkennen. So hat, um bei unſrer Frage zu bleiben, Leſſing nur dem großen Haufen der Leſer ſich als Ver⸗ faſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts verleugnet, einigen ſympathiſtrenden Geiſtern aber, oder welche er als ſolche vorausſetzte, den Herder, Jacobi, Mendelsſohn un⸗ befangen ſtch zu erkennen gegeben. Man merke wohl darauf darf ich hier ſchon hinweiſen, da die nähere Er⸗ örterung und wiſſenſchaftliche Erklärung davon Haupt⸗ zweck dieſer Schrift iſt man merke wohl, daß Leſſing in der Erziehung des Menſchengeſchlechts die Sprache ei⸗ nes Enthuſtaſten, ja eines Schwärmers ſpricht, einer zu ſein ſich anſtellt; wie er denn in dem „Vorbericht des Herausgebers“ den Verfaſſer mit Abſicht und Bewußt⸗ ſein als einen Schwärmer darſtellt, von dem er, der Herausgeber, einen Wink zu ſeinem Nutzen gewonnen habe. Wie Leſſing hier ſein Verhältniß als Herausge⸗ ber zu dem Verfaſſer darſtellt, gerade ſo, in nämlicher Weiſe, vermittelſt des nämlichen Bildes, giebt er in dem ſo eben benutzten Aufſatze (über eine Aufgabe im deut⸗ ſchen Merkur) das Verhältniß des Philoſophen zum Schwärmer und Enthuſtaſten an. „Was thut denn der Philoſoph gegen Enthuſiasmus und Schwärmerei?“ heißt es dort (a. a. O. 464.): „Gegen den Enthuſiasmus der Darſtellung thut er nicht allein nichts; ſondern er pflegt ihn vielmehr auf das allerſorgfältigſte. Er weiß zu wohl, daß dieſer die , die Spitze, die Blüthe al⸗ ler ſchönen Künſte und Wiſſenſchaften iſt, und daß einem Dichter, einem Maler, einem Tonkünſtler den Enthuſias⸗ mus abrathen, nichts anders iſt, als ihm anrathen, zeit⸗ lebens mittelmäßig zu bleiben. Aber gegen den En⸗

thuſtasmus der Spekulation? was thut er gegen den? Gegen den, in welchem er ſich ſelbſt ſo loft befin- det? Er ſucht blos zu verhüten, daß ihn dieſer En⸗ thuſtasmus nicht zum Enthuſtaſten machen möge Was nun der Philoſoph, an ſich, zu feinem eigenen Be⸗ ſten thut, das ſollte er nicht auch an Andern thun dür⸗ fen? Er ſucht ſich die dunkeln lebhaften Empfindungen, die er während des Enthuſiasmus gehabt hat, wenn er wieder kalt geworden, in deutliche Ideen aufzuklären. Und er ſollte dieſes nicht auch mit den dunkeln Empfindungen Anderer thun dürfen? Was iſt denn ſein Handwerk, wenn es dieſes nicht iſt? Trifft er endlich, der Philoſoph, auf den doppelten Enthuſiasmus, das iſt, auf einen Enthuſtas⸗ mus der Spekulation, welcher den Enthuſiasmus der Dar⸗ ſtellung in ſeiner Gewalt hat, was thut er dann? Er un⸗ terſcheidet. Er bewundert das Eine, und prüft das Andere.“

„Das thut der Philoſoph gegen den Enthuſiasmus! Und was gegen die Schwärmerei? Denn beides ſoll hier doch wohl nicht Eins ſein? Schwärmerei ſoll doch wohl nicht blos der überſetzte Ekelname von Enthuſtas⸗ mus fein? Unmöglich! denn es giebt Enthuſiaſten, die keine Schwärmer ſind. Und es giebt Schwärmer, die nichts weniger als Enthuſtaſten find; kaum daß ſie ſich die Mühe nehmen, es zu ſcheinen ... Die Frage ift (heißt es wei⸗ terhin): was der Philoſoph gegen die Schwärmerei thut? Weil der Philoſoph nie die Abſicht hat, ſelbſt Schwarm zu machen, ſich auch nicht leicht an einen Schwarm an⸗ hängt, dabei wohl einfteht, daß Schwärmereien nur durch Schwärmerei Einhalt zu thun iſt: ſo thut der Philoſoph gegen die Schwärmerei gar nichts. Es wäre denn, daß man ihm das für Bemühungen gegen die Schwär⸗ merei anrechnen wollte, daß wenn die Schwärmerei ſpe⸗

Erziehung des M.⸗G. 2

Zu

kulativen Enthufinsmus zum Grunde hat, oder doch zum Grunde zu haben vorgiebt, er die Begriffe, worauf es dabei ankommt, aufzuklären und ſo deutlich als mög⸗ lich zu machen bemüht if.

„— Denn was die Philoſophen ſogar ein wenig nach⸗ ſehend und partheiiſch gegen Enthuſtaſten und Schwärmer macht, iſt, daß fie, die Philoſophen, am allermeiſten da⸗ bei verlieren würden, wenn es gar keine Enthuſiaſten und Schwärmer mehr gäbe. Nicht blos, weil ſodann auch der Enthuſtasmus der Darſtellung, der für ſie eine fo le⸗ bendige Quelle von Vergnügungen und Beobachtungen iſt, verloren wäre; ſondern weil auch der Enthuſiasmus der Spekulation für ſte eine ſo reiche Fundgrube neuer Ideen, eine ſo luſtige Spitze für weitere Ausſich⸗ ten iſt, und ſie dieſe Grube ſo gern befahren, dieſe Spitze ſo gern beſteigen; ob ſte gleich unter zehn malen das Wetter nicht einmal da oben treffen, was zu Ausſichten nöthig iſt. Und unter den Schwärmern ſieht der Philoſoph fo manchen tapfern Mann, der für die Rechte der Menſchheit ſchwärmt, und mit dem er, wenn Zeit und Umſtände ihn aufforderten, eben ſo gern ſchwärmen, als zwiſchen ſeinen vier Mauern Ideen ana⸗ lyſiren würde.“

Des Bildes von der „Spitze für weitere Ausſichten, welche der Philoſoph ſo gern beſteigt,“ bediente ſich nun Leſſing auch, nur mit ein wenig veränderten Worten und der Sache angemeſſen, in dem Vorbericht zu der Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts, wo der Philoſoph gleichſam als der verklärte Schwärmer daſteht, mit einem Worte, wo der Philoſoph und der Schwärmer in Eine Perſon zu⸗ ſammengeht, und der erſtere von dem andern nur wie durch eine Reflexion über ſich ſelbſt ſich unterſcheidet, wenn er

ER,

ſagt: „Der Verfaſſer hat fich darin auf einen Hügel ge⸗ ſtellt, von welchem er etwas mehr, als den vorgeſchriebe⸗ nen Weg ſeines heutigen Tages zu überſehen glaubt. Aber er ruft keinen eilfertigen Wanderer, der nur das Nacht» lager bald zu erreichen wünſcht, von ſeinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Ausſicht, die ihn entzücket, auch jedes andere Auge entzücken müſſe. Und ſo, dächte ich, könnte man ihn ja wohl ſtehen und ſtaunen laſſen, wo er ſtehet und ſtaunt! Wenn er aus der unermeßlichen Ferne, die ein ſanftes Abendroth ſeinem Blicke weder ganz verhüllt noch ganz entdeckt, nun gar einen Fingerzeig mit⸗ brächte, um den ich oft verlegen geweſen!“ Ein edler, erhabener Schwärmer alſo, aber zuletzt doch immer ein Schwärmer, ein Enthuſtaſt (warum und in welcher Art, werden wir nachher begreifen, fo wie daß Leſſing noth⸗ wendig in dieſer Schrift das Anſehen und die Sprache eines Enthuſtaſten annehmen mußte), und daraus geht uns ſchon ein Licht auf, weshalb Leſſing keine Luſt hatte, ſich als den Verfaſſer, ſich ſelbſt als dieſen Schwärmer öffentlich zu bekennen nur „ſympathiſtrende Geiſter“ ſollten im Stillen ſein „Glaubensbekenntniß“ in der Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts finden.

Wenn demnach Leſſing hinter dem Scheine bald der Paradorie *), der Ironie und Polemik, bald aber des En⸗ thuſtasmus und der Schwärmerei die ernſteſte, heiligſte,

) An Eliſe Reimarus ſchreibt Leſſing 1780. (XII. 347.) : „Sind Sie erſchrocken? Mein gutes Kind, bei Gott, das war meine Abſicht nicht. Ebenſo wenig, als ich mit Ihnen zanken wollte, daß Sie mir ſo viel Paradoxie zutrauen, als wohl ſchwerlich natürlich zu ſein pflegt. Sie könnten ja wohl Recht haben, und was wäre es denn? Ich könnte ja eben ſo gut Pa⸗

2*

Pe

die unbedingte Liebe zur Wahrheit und deren Erkenntniß im Geiſte und Herzen gehegt hat, ſo müſſen die Ideen, die Principien, nach welchen er forſchte und arbeitete, welche ſeinen Schriften, und im Beſondern der Erziehung des Menſchengeſchlechts zu Grunde liegen, ſich finden laſſen; ſie werden gewiß zu Tage kommen, und die Frage, welche uns noch aufhalten kann, wird nur die ſein, ob dieſe Ideen und Principien ſeines Wiſſens und Forſchens in einem in⸗ nern genetiſchen Zuſammenhange geſtanden, ob Leſſing ih⸗ rer ſich bewußt geweſen, und ob ſie in der geſammten Peripherie ſeines Denkens und Bildens erkennbar, wirk⸗ ſam, individualiſtrend hervortreten mit andern Worten, ob Leſſing ſyſtematiſch gedacht, ob er ein Syſtem gehabt? und ob und wie dies in der Erziehung des Menſchenge⸗ ſchlechts ſich eine Geſtalt gegeben habe? Dies wäre die entſcheidende Frage, auf welche wir, nach den vorange⸗ ſchickten Betrachtungen über Leſſing's Charakter, als For⸗ ſchers und Weiſen, zurückkommen. Ich brauche nicht erſt zu wiederholen, daß die bisherigen Stimmführer in der Li⸗ teratur bei dieſer Lebensfrage für die Kritik über Leſſing, wo nicht ein unbedenkliches Nein, doch ein ſehr bedenk⸗ liches Fragezeichen in Bereitſchaft haben dürften, etwa, wie Saul unter die Propheten käme? wenn unter andern Karl Roſenkranz noch in ſeiner Geſchichte der Kantiſchen Phi⸗ loſophie, welche gewiſſermaßen eine Geſchichte der geſamm⸗ ten neuern Philoſophie von Leibnitz bis Kant und von Kant bis Hegel iſt, unſern Leſſing mit zwei Worten un⸗ ter den Popular-Philoſophen, hinter Moſes Men⸗

radoxte, als Andere Orthodoxie affectiren. Ich verſtehe dar⸗ über ſo gut Spaß, daß es faſt keine Luſt iſt, mit mir darüber zu ſpaßen.“

delsſohn abgefertigt, und ihm deutlich genug die Beziehung zur ſpekulativen Philoſophie abgeſprochen hat! Andere frei— lich, an deren Spitze Schelling ſteht, welchem Strauß in feinem neueſten Werke ſich angeſchloſſen hat, haben Leſ— ſingen, und zwar hauptſächlich wegen der Erziehung des Menſchengeſchlechts, den Rang und die Bedeutung eines ſpekulativen Kopfes, namentlich in Bezug auf Religion, beigelegt, und deshalb in jener Schrift ein Moment in der Geſchichte der neueren Philoſophie anerkannt *): nur was wird dies heute zur Hauptſache thun, da dieſe Schrift un⸗ erwartet Leſſingen abgeſprochen, und ihre Echtheit von demjenigen, welcher ſich in Bezug auf ſpekulative Theolo⸗ gie zuletzt ſo viel mit Leſſing obgegeben hat, von Strauß, zweifelhaft gemacht, oder doch belaſſen worden iſt? Wenn dies der normale Stand der Kritik bleiben ſollte, wieviel bliebe da an Leſſing's Ruf oder Ruhm, als eines ſpeku⸗ lativen Kopfes? ja, welche wahre Stütze hat er von früher her gehabt, als an der Echtheit der Schrift nicht der geringſte Zweifel erregt war, bei der Iſolirtheit, in welcher ſie, wie ſchon vorhin bemerkt, ſelbſt von denjeni⸗

) Nach Moritz Carriere (Vom Geiſt. Schwert und Handſchlag für Franz Baader. 1841. S. 18.) muß, wie nach Schillern die Aeſthetik, fo nach Leſſing (wegen der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts) die Philoſophie der Weltgeſchichte datiren.“ Vorher ſagt er: „Leſſing's und Schiller's Bedeutung für die Geſchichte der Philoſophie iſt noch nirgends gehörig feſtgeſtellt. Wie Schiller durch ſeine Anſchauung von Kunſt und ſchönem Leben, ſo iſt Leſſing durch ſeine Erziehung des Menſchengeſchlechts Vorläufer des abſoluten Idealismus.“ Dieſe Bemerkungen ſind uns viel werth, obſchon die Aufgabe hier zu eng gefaßt iſt.

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gen angeſehen und behandelt wurde, welche etwas Tiefe⸗ res darin geſucht haben?

Jene vorhin in Betracht gezogenen, mehr oder weni⸗ ger herrſchenden Vorausſetzungen, erſtlich, daß Leſſing nur immer auf dem Wege zur Wahrheit verweilt hätte, ohne dogmatiſch mit ſich abzuſchließen, daß man ihn daher nie⸗ mals recht bei einer entſchiedenen, philoſophiſchen oder theo⸗ logiſchen Ueberzeugung feſthalten könnte, ohne daß er un⸗ ter der Hand entſchlüpfte, als wenn dieſer große Kopf aus lauter Paradoxien und Antitheſen zuſammengeſetzt ge⸗ weſen wäre ein Vorwurf, der auch Leibnitzen, obſchon hon einem andern Gefichtspunkt aus, von den Theologen gemacht worden war, und gegen den Leſſing ihn ſo warm, ſo beredt in Schutz genommen hat *); erſtlich alſo dieſes eine, und zum andern die Vorausſetzung, daß in Leffing's Gedanken und Schriften kein ſyſtematiſcher, kein organi⸗ ſcher Zuſammenhang vorhanden ſei: dies hat gemacht, daß auch in der Erziehung des Menſchengeſchlechts, nament⸗ lich in dem, was daran als ſpekulativ angeſprochen wurde, nichts Originelles, Leſſing Eigenthümliches anerkannt wor⸗ den iſt: und das iſt der tiefere Grund, warum es ſo leicht geweſen iſt, die Frage über den Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts zu verwirren. In der That, man gehe einmal die Urtheile und Anſichten über die Erziehung des Menſchengeſchlechts feit ihrem Bekanntwerden bis auf dieſen Tag durch, ob nun einer das Spekulative, Philo⸗ ſophiſche in dem Plane des Ganzen, oder in einzelnen Be⸗ ſtandtheilen deſſelben zu ſehen glaubte, und wie er es ſah,

) In den beiden Aufſätzen: Leibnitz, von den ewigen Stra⸗ fen, und: Des Andreas Wiſſowatius Einwürfe wider die Dreieinig⸗ keit, 1773 (im 1. u. 2. Stück der Beiträge).

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gleichviel, er blieb nicht bei Leſſing ſtehen, ſondern glaubte immer eine hiſtoriſche Quelle, ein früheres Syſtem, vor⸗ handene Anſichten, welche Leſſing, mit Strauß zu reden, blos adoptirt hätte, wiederzufinden. Zu Leſſing's Lebzei⸗ ten blieb die Schrift, zu ſeinem Mißvergnügen, zwar un⸗ beachtet (namentlich während des ganzen Streites über die Fragmente, obgleich die erſte Hälfte des Aufſatzes in den Gegenſätzen zu den Fragmenten und mit Bezug auf dieſe mitgetheilt worden war); doch bald nach ſeinem Tode fing die Erziehung des Menchengeſchlechts an, in dem Streite zwiſchen Jacobi und Mendelsſohn über die Frage: war Leſſing ein Spinoziſt? eine Rolle zu ſpielen; Jacobi bediente ſich dieſer Schrift, um aus ihr, namentlich aus dem $. 73., welcher eine ſpekulative Auslegung der Lehre der Dreieinigkeit enthält, zu erhärten, daß Leſſing ein Spi⸗ noziſt geweſen! Ihm zufolge war alſo die Seele der Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts Spinozismus, und nur der Leib die Bekleidung gehörte Leſſing; und weil Ja⸗ cobi in jenem berühmten Streite gegen Mendelsſohn das letzte Wort behalten, Mendelsſohn alſo, ſchon wegen der niedertretenden Behandlung, welche er erfuhr, für wider⸗ legt galt, ſo iſt es kein Wunder, wenn der größte Theil, beſonders unter den Theologen, noch immer überzeugt iſt, die Erziehung des Menſchengeſchlechts ſei der reine Spi⸗ nozismus. Es hat wenig geholfen, daß ſpäterhin Schel⸗ ling in ſeiner Streitſchrift gegen Jacobi (Denkmal von den göttlichen Dingen u. ſ. w., 1812.) auf das Einſeitige und Beſchränkte jener Anſicht hindeutete: Schelling hatte damals zu thun, den ihm ebenfalls von Jacobi gemach⸗ ten Vorwurf des Naturalismus und Spinozismus von ſich ſelbſt abzuwenden; und Leſſing's Rechtfertigung durch

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Schelling wird bei Manchem dem Ausſpruche Jacobi's nur ein Gewicht mehr gegeben haben.

Derjenige, welcher die Erziehung des Menſchengeſchlechts, als Leſſing'ſches Geiſteserzeugniß, zuerſt ihrem Plane nach einer Betrachtung und Zergliederung unterworfen hat, Friedrich Schlegel )), hat ſich ebenfalls nicht nur in Hinſicht des ſpekulativen Grundcharakters jener Schrift von Jacobi beſtimmen laſſen, ſondern ſich auch unfähig gezeigt, wie in dem Einzelnen und Beſondern etwas Eigenthüm⸗ liches, ſo in dem Ganzen einen innern Zuſammmenhang nachzuweiſen. Zwar hat er die Paragraphen von dem „neuen Evangelium“ als die eigentliche Spitze und das originelle Verdienſt des Aufſatzes bezeichnet, ja mit Be⸗ geiſterung in einem Sonnett gefeiert, wo es heißt:

„Es wird das neue Evangelium kommen.“

So ſagte Leſſing, doch die blöde Rotte

Gewahrte nicht der aufgeſchloſſnen Pforte.

Und dennoch, was der Theure vorgenommen

Im Denken, Forſchen, Streiten, Ernſt und Spotte,

Iſt nicht ſo theuer, wie die wen'gen Worte allein, da Leſſing ſelbſt §. 87. auf „gewiſſe Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts“ zurückweiſt, ſo kann, wie hoch man auch davon denke, von Origina⸗ lität der Conception dabei die Rede nicht ſein. Man muß nun Schlegel's Auslegung und Zergliederung im Zuſam⸗ menhange erwägen. Er ſieht alſo in Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts „einen Entwurf ſeines philoſophi⸗ ſchen Glaubensbekenntniſſes“ welches den Zweck

*) In der von ihm herausgegebenen Chreſtomathie aus Leſ⸗ ſing's Schriften: Leſſing's Gedanken und ene 3 Theile, im 3. Theile zu Anfang. D

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haben ſollte, „Leſſing's Religioſität in's Licht zu ſetzen, und zugleich zu zeigen, daß er nicht bloß ein proteſtanti⸗ ſcher Philoſoph (wiewohl eben die innige Verbindung der Philoſophie und der Religion das Weſen des Proteſtan⸗ tiſchen ausmache), ſondern ein Verfechter und Verkündiger der wahren Religion war.“ Schlegel ſetzt alſo den Zweck, die Tendenz, das Eigene der Erziehung des Menfchenge- ſchlechts gar nicht etwa in eine objektive philoſophiſche, neue Idee, als den Anfang einer neuen, originellen Ge⸗ dankenreihe in der Geſchichte der Philoſophie, ſondern in die perſönliche Geſinnung Leſſing's, alſo etwas blos Sub⸗ jectives, gegen welches das Objective zufällig ſich ver⸗ hielte). Man braucht nur blos Leſſing von vorn herein jene Geſinnung, die der wahren Religion nämlich, abzu⸗ ſtreiten (und wie viele ſind dafür bei der Hand), oder ſie in der Schrift nicht ausgedrückt ſinden (nach Jacobi war es ja der reine Spinozismus), und Schlegel müßte ent⸗ weder ſeine Apologie oder die ganze Schrift aufgeben. Aus dieſem Mangel eines Fundaments zur Beurthei⸗ lung oder vielmehr zur Erforſchung des objectiven Ge⸗ halts der Erziehung des Menſchengeſchlechts floß nun bei Schlegel die unzuſammenhängende Art, wie er die Ele⸗ mente des Aufſatzes, nach ſeinem Dafürhalten, darlegt, ſo daß ſie ſich ſelbſt widerſprechen und einander aufheben. Es find dies folgende drei Punkte, welche äußerlich neben

) Wenn Leſſing ſelbſt in ſeinem Briefe an Herder von der Erziehung des Menſchengeſchlechts als ſeinem Glaubensbekennt⸗ niſſe ſprach, ſo lehrt der Zuſammenhang, daß er dabei nicht blos ſeine ſubjektive Ueberzeugung, ſondern einen objektiven Ideengehalt meinte, nämlich in wiefern er es den Fragmenten des Ungenann⸗ ten entgegenſetzte.

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einander hingeſtellt werden: 1. ein Fatalis mus, der aus Pantheismus hervorgegangen ſei, welches auch das Sy⸗ ſtem des Realismus von ihm genannt wird. „Leſſing's Meinung von der Nothwendigkeit kam daher, weil die erſte Stufe feiner Philoſophie Pantheismus war.“ Darin zeigt ſich nun der Einfluß Jacobi's “). Indeſſen ſei doch dieſes Syſtem, fügt Schlegel hinzu, in Bezug auf die Re⸗ ligion ganz indifferent: „nicht durch ſein Syſtem, ſon⸗ dern durch ſein liebevolles Gefühl wurde Spinoza zur rein⸗ ſten Religion erhoben.“ So hätte ein wahrer Philoſoph ſich ſchwerlich ausgedrückt, weil hier eine unausgefüllte oder unausfüllbare Kluft zwiſchen der Philoſophie und der Religion vorausgeſetzt wird, für welche entweder die eine oder die andere die Schuld tragen müßte wieder wie Jacobi und allenfalls Mendelsſohn. Vielleicht ohne es zu wiſſen hat Schlegel hier nur letzteren wiederholt, welcher in ſeinen „Morgenſtunden“ (S. 274.), mit Rück⸗ ſicht auf den von Jacobi angeregten Streit über Leſſing's Religion, dieſem einen „verfeinerten Pantheismus“ beilegte, „welcher mit den Wahrheiten der Religion und der Sittenlehre beſtehe; der Unterſchied liege blos in der überfeinerten Speculation, die auf die menſchlichen Hand⸗ lungen und die Glückſeligkeit nicht den mindeſten Einfluß habe.“ Schlegel ſchlägt hier einen eigenen Mittelweg ein: Sei immerhin der Spinozismus oder Realismus nicht die

) Schlegel vermied gefliſſentlich den Namen: Spinozismus; ſonſt hat er vollkommen Jacobi's Meinung über Spinoza ge⸗ theilt (ſiehe Schelling's philoſoph. Schriften, I. S. 417. Anz merk.): „daß bei Spinoza allein das der Form und Conſequenz nach durchaus vollendete Syſtem des Pantheismus inte das reine Syſtem der Vernunft wäre.“

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wahre Philoſophie, ſo ſei er doch ein nothwendiger Durch⸗ gangspunkt zur wahren Religion: „das Syſtem des Rea⸗ lismus ſei der vorbereitende Anfang aller Philoſophie, kei⸗ nesweges aber die letzte Stufe; andrerſeits ſei es unleug⸗ bar, daß gerade die Unfähigkeit, zu dieſer Anſicht ſich erheben zu können, eigentlich das iſt, was die meiſten rai⸗ ſonnirenden Menſchen von der Religion entfernte.“ Wie dem auch ſei, ſo läßt es Schlegel im Unklaren, ob Leſſing in der Erziehung des Menſchengeſchlechts den Spinozismus als Durchgangspunkt ſchon überwunden und hinter ſich habe, oder ob er darin Anfänger ſei; das Verhältniß der Religion und Philoſophie in Leſſing bleibt alſo dunkel und unentſchieden. Zweiter Punkt. Leſſing lehrt die Metempſychoſe. Wie Leffing zu dieſem Glauben kam (denn als ſubjectiver Glaube ſteht es da), wie er ſich mit dem Spinozismus vertrug, dem er ſchnurſtracks widerſtrei⸗ tet das erklärt Schlegel nicht nur nicht, ſondern giebt entgegenkommend ſelbſt zu, daß man jenes Dogma bei Leſſing „nicht vermuthet hätte.“ Er ſchlägt hier aber ſogleich wieder einen Mittelweg ein. „Auch war, ſchreibt er, das Syſtem des Realismus (Panthefsmus Spino⸗ zismus) für Leffing gewiß mehr als nur Syſtem und Buchſtabe: das zeigt ſich aus der unmittelbar von ihm daran gefnüpften Hypotheſe der Metempſhchoſe, die obwohl mit jenem Syſtem verträglich (2), doch ſchon in einer weit höheren Sphäre liegt, als die erſten Principien deſſelben. Es ſetzt dieſe Hypotheſe bei einem Manne unſers Zeitalters eine wenn gleich unentwickelte Naturanſicht voraus, wie man ſie bei Leſſing gar nicht vermuthen ſollte.“ Was muß man aus dieſem Eingeſtänd⸗ niſſe ſchließen? Entweder daß Leſſing kein Philoſoph ge⸗ weſen, weil er ſo widerſprechende Grundanſchauungen in

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feinem Geiſte unmittelbar vereinigen konnte, oder daß es ſich mit letztern auf eine Weiſe verhalte, worüber Schle⸗ gel ganz im Dunkeln geblieben war. Dritter Punkt. Leſſing weiſet auf das neue Evangelium hin. Dieſer Punkt ſteht ebenſo äußerlich und unvermittelt gegen den zweiten da, wie dieſer gegen den erſten und alle drei zu einander. Der Uebergang iſt ſchön redneriſch ſo ausge⸗ drückt: „Nicht zu verwundern, daß er (Leſſing) das Ver⸗ gangene zu verſtehen anfing, da er die Zukunft ſo deut⸗ lich vor Augen ſah, und das iſt der dritte und wichtigſte Punkt feines Glaubensbekenntniſſes“ u. ſ. w. Bil⸗ lig muß man fragen: wenn Leſſing auch, vermöge ſeines Verſtändniſſes der Vergangenheit, die Zukunft deutlich vor Augen ſah, wie kam er dazu, das neue Evangelium zu ſehen, und nicht etwas anderes? das erſcheint hier alſo wieder ganz zufällig, ganz ſubjectiv, und was erklärt wer⸗ den ſollte, wird gleich vorausgeſetzt. Die ganzen drei her⸗ ausgeſtellten Punkte, Spinozismus, Metempfychoſe, ein neues Evangelium, welche nach Schlegel den Entwurf der Erziehung des Menſchengeſchlechts ausmachen ſollten, bilden ſo eine monſtröſe Zuſammenſetzung, welche Mitleid erre⸗ gen könnte. Es geht daraus hervor, wie Schlegel im Stillen von Leſſing als Philoſophen gedacht hat: er hat das auch gar nicht verhehlt, wenn er, in der Zueignung ſei⸗ ner Leſſing'ſchen Chreſtomathie an Fichte, „ſolche Miscel⸗ len und Fragmente von Philoſophie“ für „freiere Produe⸗ tionen und Reſultate des blos natürlichen philoſo⸗ phiſchen Geiſtes“ erklärte und an ihrer Stelle belaſſen wollte. Leſſing würde ſich für dieſes Prädikat bedankt haben. Ich führe blos an, wie er recht gut ſelbſt den Philoſophen von Profeſſion (als ſolchen hat ihn auch Schelling anerkannt, „ob er gleich bekanntlich noch einige

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andere Profeſſionen verſtanden“ *) von dem blos „natür⸗ lich philoſophiſchen Geiſte“ unterſchieden hat (In dem mehrgedachten Aufſatze über eine Aufgabe im deutſchen Merkur, XI. 462.). „Nicht alle Kaltblütige ſind Philo⸗ ſophen,“ ſchreibt er. „Aber alle Philoſophen, habe ich gedacht, wären doch kaltblütig. Denn ein warmer Philo⸗ ſoph! was für ein Ding! Ein warmer philoſophi⸗ ſcher Kopf, das begreife ich wohl. Aber ein philoſo⸗ phiſcher Kopf iſt ja noch lange nicht ein Philo- ſoph. Ein philoſophiſcher Kopf gehört zu einem Philo⸗ ſophen: ſo wie Muth zu einem Soldaten. Nur gehört beides nicht allein dazu. Es gehört noch weit mehr als Muth zum Soldaten, und noch weit mehr als natür= licher Scharfſinn zum Philoſophen.“ Und bald darauf macht er in Abſicht auf die Aufgabe die Anwen⸗ dung davon: „Philoſophiſche Köpfe, weiß ich wohl, moch⸗ ten einmal und möchten noch gern die Spötterei zum Pro⸗ bierſtein der Wahrheit machen. Aber eben darum waren und ſind ſie auch keine Philoſophen, ſondern nur phi⸗ loſophiſche Köpfe.“

Haben F. H. Jacobi und Friedrich Schlegel in der Beurtheilung von Leſſing's „Erziehung“ ihren Geſichts⸗ punkt in der Philoſophie genommen, und hier, nach ihrer Weiſe, ſcheinbare Gründe gehabt, Leſſingen die Originali⸗ tät und ſomit den wahren Beruf eines Denkers und Phi⸗ loſophen abzuſprechen, ſo haben andere ausgezeichnete Köpfe vom theologiſchen Geſichtspunkte aus Leſſing auch nicht höher geſtellt: ich nenne, als die bedeutendſten, Johannes von Müller und, aus unſern Tagen, David Strauß. Erſterer, obgleich kein Theolog von Fach, wie⸗

9 Schelling’s Denkmal von den göttlichen Dingen ©. 47.

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wohl er damit angefangen, und auf dieſem Grunde, ſelbſt als Hiſtoriker, fortgebaut hatte, hat bei Gelegenheit Leſ⸗ ſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts beim Epiphanius wiedergefunden, und gleichſam entdeckt zu haben geglaubt. Wenn dem ſo wäre, ſo würde zwar der philoſophiſche Ge⸗ ſichtspunkt derjenigen, welche in der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts eine Frucht des Spinozismus zu ſehen glauben, von vorn herein ein wenig verrückt werden; da⸗ gegen wird dann Leſſing von dem man weiß, wie ſehr er in den Kirchenvätern heimiſch war, deſſen er ſich ſelbſt auch rühmte *) dasjenige, wegen deſſen Viele ihn am meiſten bewundert haben, faſt ganz und gar aus einer, ſehr alten zwar, aber um nichts deſto weniger Allen zu⸗ gänglichen Quelle nur geſchöpft haben. Wäre es nun der Fall, daß die Erziehung des Menſchengeſchlechts eine Frucht ſetner Geſehrſamkeit, nicht ſeines Nachdenkens und eigener Inſpiration war: mußte es gerade Leſſing ſein, welcher jene Gedanken wieder auferweckte, konnte es nicht ein an⸗ derer, ihm in jeder andern Hinſicht weit nachſtehender Kopf ſein? wäre es uns dann nicht mit Recht gleichgül⸗ tig, wer der ſtreitig gewordene Verfaſſer der Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts ſei? Merkwürdig iſt dabei, daß, während nach Strauß Leſſing nur die Meinungen älterer Ketzer und Sektirer, namentlich die der Montani⸗ ſten im zweiten Jahrhunderte wiederholt hätte, Johannes von Müller die Grundideen der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts auf die Orthodoxie ſelbſt, nemlich auf den hei⸗ ligen Epiphanius in einer ſeiner Widerlegungen der Ketzer zurückführte. Es ſcheint der Mühe werth, ein we⸗

) Beſonders citirt iſt Epiphanius von ihm in der „Neuen Hypotheſe über die Evangeliſten.“ Lachmann XI. 496. 8

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nig näher darauf einzugehen, da wir w nicht mehr darauf zurückkommen können. | Joh. von Müller theilte die Entdeckung ſeinem Bru⸗ dor aus Wien vom 15. Juni 1805 (Werke VII. 72.) in folgenden Worten mit: „Weiter las ich S. Epiphanii zavagıov; ein gelehrterer Manni (als Chryſoſtomus), aber ſonſt jenem nicht zu vergleichen. Schreibart, Rai⸗ ſonnement, Urtheil fehlt auf allen Seiten, ehrlich iſt der Alte, lehrreich, nicht ohne Witz. Wer hätte Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts bei ihm ge- ſucht? Siehe die 33. Ketzerei §. 11.“ *) In der That, wer Leſſing's Schrift nicht tiefer, nicht individueller auffaßt, als Müller, der könnte wohl an der angeführten Stelle jenes Kirchenvaters von ſeiner Entdeckung betroffen werden. Die Ketzerei der Ptolemaiten, deren Darlegung und Widerlegung Gegenſtand und Inhalt des von Müller her⸗ ausgehobenen Abſchnitts des Panarion des Epiphanius iſt, war eine Abzweigung der Valentinianiſchen Gnoſis. Was uns im Beſondern angeht, iſt der Gebrauch jener gnoſti⸗ ſchen Weltanſicht zur Rettung der Göttlichkeit und Echt⸗ heit des alten Teſtaments, doch ſo, daß der Rechtgläubig⸗ keit nur um ſo größere Gewalt zugefügt wurde. Dieſe Rettung iſt enthalten in einem von Epiphanius vollſtän⸗ dig eingeſchalteten Briefe des Ptolemäus an eine ſeiner Schülerinnen, Namens Flora. Das alte Teſtament, heißt es kürzlich daſelbſt, ſei ebenſowenig das Werk des voll⸗ kommenen Gottes und Vaters, wie die einen glauben, noch auch das des böſen Princips oder Dämons, nach Andern.

) Exipaviov ra aw2ousva ed. Petavius. ParisiisMDCXXIT.“ (Epiphanius, Bifchof von Cypern, ward geboren in Paläſtina im Jahre 320 und ſtarb 403.)

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Jenes darum nicht, weil es minder vollkommen und in manchen Stücken mangelhaft und lückenhaft ſei, indem es gewiſſe Verordnungen enthalte, welche wider die Natur und die Geſetze Gottes ſtreiten. Aber ebenſowenig könne das Entgegengeſetzte wahr fein, wegen Matthäus XII. 25.: daß eine Stadt oder ein Haus nicht beſtehen möge, das mit ſich ſelbſt uneins ſei. Auch nicht wegen Ev. Joh. 1. Mit einem Worte, das alte Teſtament und im Beſondern die fünf Bücher Moſis rühren nicht von Einem Geſetz⸗ geber, nemlich von Gott, her, ſondern es ſeien ihnen ge⸗ wiſſe menſchliche Vorſchriften beigemiſcht, was der Heiland ſelbſt angedeutet habe. Das Geſetz ſei ferner dreifach, ein Theil ſei göttlich, ein anderer Theil rühre von Moſes als Staatsmann, nicht aber als Propheten, und der dritte von den Aelteſten (ok rgesgBregol) im Volke her. Da⸗ hin gehöre z. B. die von Moſes zugelaſſene Eheſcheidung. Das göttliche Geſetz an ſich ſei ſelbſt wieder dreifach an⸗ zuſehen; es fallen unter daſſelbe 1) reine Vorſchriften (zaSagai vonosscia:, sincera praecepta überſetzt Petau) ohne alle Beimiſchung eines Uebels, Geſetze im eigentlichen Sinne des Wortes, welche der Heiland zu erfüllen, nicht aber aufzulöſen gekommen ſei. 2) Vorſchriften mit Bei⸗ miſchung von Schlechtem, welche, als der Natur wider⸗ ſprechend, der Heiland von Grund aus aufgehoben habe. 3) Thpiſche oder ſymboliſche Vorſchriften, Schatten, Gleich⸗ niſſe von edlern, ſolche, denen der Heiland eine beſſere Bedeutung untergelegt habe. Zur erſten Ordnung gehöre der Dekalog, welchen jedoch der Heiland ergänzt habe; zur zweiten gewiſſe Geſetze, welche nicht frei von Ungerech⸗ tigkeit wären, z. B. die über Verfolgung und Rache ge⸗ gen Beleidigungen, Lev. 24. (Auge um Auge, Zahn um Zahn, Todtſchlag um Todtſchlag), wo ein Geſetz das an⸗

dere eigentlich aufhebe, wie wenn erſt der Todtſchlag ver⸗

boten und dann ein doppelter Todtſchlag geboten werde. Der Sohn habe dieſes Geſetz aufgehoben, jedoch geſtan⸗ den, daß es der Vater gegeben. Zur dritten Ordnung endlich gehören die Geſetze, betreffend Ceremonien, den Sabbath, die Faſten u. ſ. w. Bei dieſen ſeien die Na⸗ men beibehalten, die Sache aber verändert worden.

Frage man nun, bei ſolcher Anſicht von der Sache, nach dem wahren Urheber des Geſetzes, ſo erhelle, daß dieſer, wie geſagt, weder Gott, noch aber auch ein Dämon, ſondern daß es der Werkmeiſter und Verfertiger der Welt (Smmoveyog a xomens) ſei, welcher feiner Natur nach weder gut noch böſe, welcher in eigner Weiſe gerecht ſei, ſofern er die Gerechtigkeit mit einer gewiſſen Modifica⸗ tion handhabe, nicht unerzeugt, vielmehr durch Zeugung entſtanden u. ſ. w. Dieſe Dinge, endigt jener Gnoſtiker, ſeien durch Tradition von den Apoſteln zu ihm gelangt, und als eine Norm für die Lehre des Heilandes an⸗ zuſehen.

Dieſe und noch ähnliche erude Folgerungen über den Urſprung des Moſaiſchen Geſetzes widerlegt nun Epipha⸗ nius mit großem Eifer; am längſten verweilt er bei der gnoſtiſchen, ihm willkührlich erſcheinenden Sonderung des Geſetzes in göttliche und ungöttliche Beſtandtheile. Er vertritt, als rechtgläubiger Chriſt, die unbedingte Einheit und Göttlichkeit der Schrift. Hier nun iſt es, wo er den Begriff und das Gleichniß der Erziehung mit Glück, wenn ſchon im Einzelnen vielleicht nicht ohne Zwang, an⸗ wendet. Er ſagt: „Gott pflegt überall Verordnungen zu ge⸗ ben, welche theils den Zeiten angemeſſen, theils aber Gleich⸗ niſſe gewiſſer Dinge ſind, theils endlich zur Offenbarung künftiger Dinge gehören, deren Erfüllung auf Chriſtus

gewartet hat“). Die Geſetze des alten und neuen Bun⸗ des, welche ſich aufzuheben ſcheinen, ſind im Grunde Eins und nur der Form nach unterſchieden. Dies führt er nä⸗ her fo aus ($. 11. p. 126.): „Und wie der Vater feine Kinder unterrichten will, und jedem Alter ſich anpaſſend in feinem Unterrichte zu Werke geht **), nicht das Kind mit derſelben Lehre, welche er den Jünglingen ertheilt, noch die Jünglinge mit derjenigen, welche dem kräftigen und reifen Mannesalter vorbehalten iſt, in Zucht hält: das zarte Knäblein züchtiget er mit dem Finger, den et⸗ was größern Knaben durch einen Backenſtreich, den Jüng⸗ ling mit Riemen, den Vorgeſchrittnern mit Ruthen: fer⸗ ner, wenn er Mann unter Männern geworden iſt und ein ſchweres Verbrechen begangen hat, ſo wird er nach dem Geſetze mit dem Schwerte gerichtet: alſo hat Gott das einem jeden Alter Angemeſſene vorgeſchrieben. Nemlich jene Alten (wie wenn er mit Kindern und ſolchen, welche die Kraft des heiligen Geiſtes nicht kannten, verhandelte) züchtigte er durch Furcht und Schrecken. Später trug er den Vollkommnern vollkommene Myſterien vor; denn in dem Evangelium lieſt man, wie er da und dort die Jün⸗ ger anredete: Ihr wißt nicht, was ich thue, ihr werdet es aber ſpäter erfahren (Joh. 13.), nemlich: wann ihr vollkommen ſein werdet. Ferner: Sie wußten es nicht, bis er von den Todten auferſtand (Joh. 2, 22.) So auch

9 Kavraxod os Oed vovodEret T usr eig X00VOUg, Ta os sig rörovs 1 105 82 eb g ron, ra MERAOVTWV SOS- a Gp, 0 580 o log nud Imcodg N S0 elS? u Üimguaı Ev 10 Evapyehın,

**) 8 ye 6 re Boudera ] e 7% TERva, a6 Sud M GgmoLoLLEVog moosßaiveı N xaudsıd u K v.

Paulus: Denn ihr vermochtet es noch nicht, aber vermö⸗ get auch jetzt noch nicht (1 Cor. 3.); um zu zeigen, daß bei vorgerückteren Zeiten vollkommnere Vorſchriften gege= ben werden werden, welche, wenn ſie gleich immer dieſel⸗ ben ſeien (odoaı uev ai auraı), nichts deſto weniger eine andere Weiſe annehmen, und nicht dem Jünglinge und dem Manne in gleicher Weiſe gelehrt werden werden.“ Jetzt wendet Epiphanius dieſe Anſicht des allgemeinen Verhältniſſes zwiſchen dem alten und dem neuen Teſta⸗ mente im Beſonderen gegen Ptolemäus in Bezug auf das moſaiſche Gebot: Aug' um Auge u. ſ. w. an.

Dies iſt, wie geſagt, die Anſicht des Epiphanius ge⸗ weſen, und iſt um ſo merkwürdiger, als die Lehre der Mon⸗ taniſten, welche die Perfectibilität der Offenbarung als Princip aufgeſtellt, ſo gut als die mittelalterliche Lehre eines neuen Evangeliums, ſich mit der Theorie des Epi⸗ phanius in einem Punkte ganz nahe berührt, auch auf dieſelben Stellen im neuen Teſtamente, wie die von dieſem Kirchenvater gebrauchten, ſich berufet. Es iſt Ein Schritt von der Orthodoxie zur Philoſophie, um nicht zu ſagen zur Häreſte, inſofern die Negation von dem Geſichtspunkte einer dritten kommenden Offenbarung, ebenſo leicht auf das neue Teſtament angewandt wird, als Epiphanius, im guten Glauben, von dem Geſichtspunkte der Erziehung aus, das alte Teſtament, wenigſtens in formeller Rückſicht, ne⸗ girt. Dies führt uns zu den Betrachtungen, welche Strauß in ſeiner Glaubenslehre in der nemlichen Hinſicht und mit Bezug auf Leſſing angeſtellt. Die Stelle, von welcher wir oben den Anfang hergeſetzt haben, lautet ($. 18. Die Perfectibilität der geoffenbarten Religion, unter der Kategorie: Apologetik, I. S. 260.) vollſtändig folgen⸗ dermaßen: „Leſſing, oder wer der neueſtens ſtreitig ge⸗

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Bu

wordene Verfaſſer der Abhandlung über die Erziehung des Menſchengeſchlechts iſt, erneuerte die montaniſtiſche Vergleichung der verſchiedenen Perioden der Offenbarung mit den menſchlichen Lebensaltern, und erkannte in der mittelalterlichen Idee eines ewigen Evangeliums mehr als bloße Schwärmerei. Zwar gebrauchte er den Gedanken einer göttlichen Erziehung des Menſchengeſchlechts zunächſt dazu, um rückwärts blickend die Unvollkommenheiten der altteſtamentlichen Offenbarung gegen deiſtiſche Angriffe zu vertheidigen: doch erklärte er nicht blos das Alte Teſta⸗ ment für ein Elementarbuch, über welches die Menſchheit längſt hinausgewachſen ſei, ſondern auch das Neue Teſta⸗ ment nur für ein beſſeres desgleichen, welchem ſie ſeiner⸗ zeit gleichfalls entwachſen werde und müſſe. Und zwar nicht blos formell, durch Umbildung der geoffenbarten Sätze in Vernunftwahrheiten, ſondern auch materiell z. B. durch Auffindung edlerer Triebfedern zur Tugend, als die im Neuen Teſtamente in den künftigen Belohnungen ge⸗ gebenen geweſen wären.“ Was Strauß hier als das Weſen von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts ausſpricht, wäre demnach auch blos Wiederholung älterer, aber außerhalb der rechtgläubigen Kirche hervorgebrachter Ideen über die Offenbarung, welche ſich im Allgemeinen unter die Kategorie der: Perfectibilität der geoffenbar⸗ ten Religion befaſſen laſſen (laut der Ueberſchrift des Pa⸗ ragraphen), und an welche, nach dem Verfaſſer, in neue⸗ ſter Zeit Krug in den Briefen über die Perfectibilität der geoffenbarten Religion, Ammon in ſeinem Werke: die Fortbildung des Chriſtenthums zur Weltreligion, end⸗ lich in eigenthümlicher Weiſe Schleiermacher in ſeiner Glaubenslehre ſich anſchließen; Verſuche, an denen die Kritik dort als Reſultat zuletzt nur „die Negation des kirch⸗

lichen Offenbarungsbegriffes“ übrig läßt. Der dem Ver⸗ faſſer ſtreitig geltenden Schrift Leſſing's wird auf dieſe Weiſe alles irgend Hervorſtechende, Originelle ſchon ziem- lich abgeftreift: denn wenn er im Verfolge des Werks, wie wir ſehen werden, dem $. 73 der Erziehung des Men— ſchengeſchlechts, betreffend die ſpekulative Auslegung der Dreieinigkeit, eine gewiſſe beſondere Wichtigkeit beilegt, ſo geſchieht es ohne irgend ein Zurückgehen auf den Plan und die Idee der Schrift, als eines in allen feinen Thei⸗ len genau zuſammenhängenden Ganzen. Daher kam es auch andrerſeits, daß die Idee der Metempſychoſe, womit das Ganze fo feierlich ſchließt, und auf welche Fried— rich Schlegel ein gewiſſes Gewicht legt, hier bei Strauß ganz ausgefallen iſt, als etwas, das, ſo ſcheint es, bei dem Plane des Ganzen recht gut auch hätte wegbleiben können. Jetzt braucht man nur die allgemeine, theologiſche oder phi⸗ loſophiſche Tendenz der Erziehung des Menſchengeſchlechts noch abſtracter zu faſſen, nemlich als den Begriff der Per⸗ fectibilität, als ſolchen, überhaupt, und man langt bei ei⸗ ner abſtracten Formel an, welche gegen jeden beſondern, eigenthümlichen Inhalt ſich gleichgültig verhielte, am aller⸗ meiſten aber gegen des Verfaſſers Perſönlichkeit ſelbſt. Das that auch Roſenkranz, wenn er in der erwähnten Geſchichte der Kantiſchen Philoſophie über Leſſing's Er- ziehung des Menſchengeſchlechts weiter nichts bemerkt, als daß Leſſing die Idee der Perfectibilität, dem Geiſte ſeiner Zeit gemäß, nur auf Religion und Offenbarung ange— wandt habe, wie Kant nachher auf Geſchichte und Poli— tik. Das thaten auch die Schüler von St. Simon, ſo ſehr ihnen ſonſt auch Leſſing durch die Erziehung des Menſchengeſchlechts, als ein Vorläufer, willkommen war, um ihrem Meiſter zuletzt doch nur zur Folie zu die⸗

nen *). Wenn das alles iſt, worauf gründet ſich denn noch eigentlich der dunkle Reſpect vor Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts, wie vor etwas tief Geheimniß⸗ vollem? Doch es iſt Zeit, daß wir von den Anſich⸗ ten und Meinungen über Leſſing zu Leſſing und ſeiner Philoſophie, wie ſie in ſeinen Schriften vorliegt, zurück⸗ kehren, d. h. daß wir ihr ohne irgend ein Vorurtheil nach⸗ forſchen. Wir werden darthun, daß Leſſing zur Zeit, als er die Erziehung des Menſchengeſchlechts ſchrieb, ein eigen⸗ thümliches, durchgedachtes ſpeculatives Syſtem hatte, nach welchem dieſe bisher ſo verſchiedenartig beurtheilte Schrift

*) Siehe die Exposition de la Doctrine de St. Simon (1831. I. p. 111): Grace aux travaux de queldues hommes supé- rieurs du 18. siècle, la croyance à la perfectibilité indé- finie de l’espece humaine est aujourd'hui gènèfalement ré- pandue, et l'on retardera pas... lorsque le premier sourire de dedain sera efface, à traiter Saint-Simon du nom de pla- glare. . . L'idée de perfectibilite, entrevue par Vico, Les- sing, Turgot, Kant, Herder, Condorcet, est restee sterile dans leurs mains, parcequ’aucun de ces philosophes n’a su carac- tériser le progres ete. Die erſte Kenntniß von Leſſing's Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts erhielt Frankreich durch das be⸗ rühmte Werk der Frau von Stael De Allemagne (IV. 1.). Dies gab dem jung verſtorbenen und reich begabten Schüler von S. Simon, Eugene Rodrigues, die Anregung zu ſeiner gelun⸗ genen Ueberſetzung der Leſſing'ſchen Schrift (ſ. Lettres sur la Religion et la Politique 1829. suivie de I' Education du genre humain, traduit de l’allemand, de Lessing, par Eugene Ro- drigues. Paris 1832.) . Die gefeierteſte und eigenthümlichſte An⸗ erkennung fand die Erziehung des Menſchengeſchlechts in dem neueſten Werke von Pierre Leroux: De I'Humanité, de son principe et de son avenir etc. 2 tomes. Paris 1841. Darauf kommen wir zurück.

ganz allein zu erſchließen bleibt. Zu dem Behufe müſſen wir jedoch auf die Geſchichte von Leſſing's philoſophiſcher Bildung und Speculation einen Blick zurückwerfen.

Leſſing's eigentliches philoſophiſches Leben begann mit ſeinen Studien des Spinoza. Es geſchah dies während ſeines Aufenthalts in Breslau (von 1760 bis 1765), wie aus den Nachrichten eines der damaligen vertrautern Freun⸗ des Leſſing's in Breslau, des Rector Kloſe, an Karl Leſ⸗ fing *) hervorgeht: „— Imgleichen, heißt es dort, wurde Spinoza's Philoſophie der Gegenſtand ſeiner Unter⸗ ſuchungen. Er las diejenigen, welche ihn hatten widerle⸗ gen wollen, worunter Bayle, nach ſeinem Urtheil, derje⸗ nige war, welcher ihn am wenigſten verſtanden hatte. Dip⸗ pel war ihm der, welcher in des Spinoza's wahren Sinn am tiefſten eingedrungen. Doch hat er hier nie das min⸗ deſte, wie gegen Jacobi, auch gegen ſeine Vertrauteſten geäußert.“

Zum Beweiſe nun, daß Leſſing den Spinoza damals in objectiv⸗wiſſenſchaftlicher Weiſe ſtudirt hatte, beſonders aber auch zum Belege feines entſchieden fpeeulativen Ta⸗ lents in der Auffaſſung eines Philoſophen, wie Spinoza, ſo wie, daß er weit entfernt geweſen iſt, aus dieſer Be⸗ ſchäftigung gegen ſeine Freunde ein Geheimniß zu machen (wie Jemand aus Kloſe's Aeußerung vermuthen dürfte), können wir nicht umhin, ſeinen von Breslau aus mit Mendelsſohn über den Spinoza geführten Briefwechſel in Betracht zu ziehen. Mendelsſohn hatte in feinen philoſo⸗ phiſchen Schriften den viel Aufſehen machenden Satz auf⸗ geſtellt: daß Leibnitz die Lehre der präſtabilirten Harmonie von Spinoza entlehnt hätte, nur ohne es zu geſtehen.

) Leſſing's Leben von K. Leſſing, 1793. I. S. 246.

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Leſſing, noch warm von dem ganz friſchen Studium der Quelle, widerlegt ſeines Freundes allerdings nicht blos ſo⸗ phiſtiſche, ſondern, wie ſich zeigen wird, wirklich geiſtloſe Argumentation (vom 17. April 1768. Lachmann XII. 156.), indem er ſchreibt: „Laſſen Sie mich .. von Spi⸗ noza noch ein Paar Worte mit Ihnen plaudern. Ich muß Ihnen geſtehen, daß ich mit Ihrem erſten Geſpräche ſeit einiger Zeit nicht mehr ſo recht zufrieden bin. Ich glaube, Sie waren damals, als Sie es ſchrieben, auch ein kleiner Sophiſt, und ich muß mich wundern, daß ſich noch Niemand Leibnitzens gegen Sie angenommen hat.“ Dar⸗ auf zeigt er ihm, in der ihm eigenthümlichen plaſtiſchen Auseinanderſetzung, daß er, Mendelsſohn, durch Anwen⸗ dung des Begriffs der Harmonie auf das Verhältniß der Attribute in der Spinoziſchen Subſtanz einen Mißbrauch begangen, wo er unter andern ſagt: „Heißt das nicht mit den Worten ſpielen? Die Harmonie, welche das Ding mit ſich ſelbſt hat! Leibnitz will durch ſeine Harmonie das Räthſel der Vereinigung zweier ſo verſchiedener Weſen, als Leib und Seele ſind, auflöſen. Spinoza hingegen ſteht nichts Verſchiedenes, ſieht alſo keine Vereinigung, ſteht kein Räthſel, das aufzulöſen wäre.“ So geht er wei⸗ ter den radicalen Unterſchied der beiden Philoſophien durch, überzeugte aber Mendelsſohn nicht, welcher vielmehr in ſeiner Antwort (Leſſing's ſämmtliche Schriften XIII. 127.) auf ſeiner Entdeckung beſtand, daß Spinoza die präſtabi⸗ lirte Harmonie vor Leibnitz behauptet habe. Er fügt hinzu: „Freilich machte fie jener Weltweiſe (Leibnitz) ſei⸗ nem übrigen Syſtem ſo angemeſſen als möglich, und ſo oft Sie ihn auf ſeinem hobby horse antreffen, muß er Ihnen ganz querfeld zu galoppiren ſcheinen. Wenn wir aber die Meinungen verſchiedener Weltweiſen mit einan⸗

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der vergleichen wollen, ſo müſſen wir mehr auf die Sätze, als auf ihre ſyſtematiſche Einkleidung ſehen.“ Dieſer ein⸗ zige Satz reichte hin, Mendelsſohn's Unfähigkeit zu philo⸗ ſophiſcher Production und deshalb auch zum Verſtändniß eines wahren Philoſophen, und war es auch ſein Freund Leſſing in's Licht zu ſetzen: denn er nahm die Sache im eigentlichen Sinne verkehrt. Mendelsſohn ſtellte ſich das Syſtem eines Philoſophen als eine äußerliche Zuſam⸗ menfügung fertiger, man weiß nicht woher? erfundener Sätze durch ein logiſches Kunſtſtück vor, von ihm die „ſyſtematiſche Einkleidung“ genannt; ſtatt daß in Wahr⸗ heit die einzelnen beſondern Sätze aus dem Syſteme als Folgerungen erſt hervorgehen. Nach ihm ſollte man, um gewiſſe Dogmen zu verſtehen und zu prüfen, ſie aus dem Zuſammenhange reißen, was ſo viel iſt, als den Lebens⸗ faden einer Philoſophie durchſchneiden und die todten Theile unterſuchen. In der That war dies die Art der Behand- lung der Geſchichte der Philoſophie im vorigen Jahrhun⸗ dert. Mit dieſer beliebten geiſtloſen Methode gehörte we⸗ nig Scharfſinn und Geiſt dazu, die verſchiedenſten Syſteme gleichſam in einander einzuſchachteln, und z. B. den gan⸗ zen Leibnitz in Spinoza wieder zu entdecken. Nur Leſſing war von Anfang an dazu zu erhaben, man könnte hinzu⸗ ſetzen, zu ernſthaft *).

) Was Karl Leſſing unter der Rubrik: Spinoziſterei, und mit der Ueberſchrift: „Durch Spinoza iſt Leibnitz nur auf die Spur der vorherbeſtimmten Harmonie gekommen“ (Leſſing's Le⸗ ben II. 167. Lachmann XI. 112.) mitgetheilt hat, iſt weiter nichts als das Concept zu jenem Briefe Leſſing's an Mendelsſohn vom 17. April 1765. Ganz falſch und verkehrt iſt daher, was er zu jenem von ihm verkannten Concepte (a. a. O. S. 44.)

Erziehung des M.⸗G. 3

Was wir hier von Leſſing's Streite mit Mendelsſohn über das Verhältniß von Leibnitz zu Spinoza beigebracht haben, kann wenigſtens dienen, einen wichtigen Theil der berühmten, von Jacobi aufgezeichneten Unterredung zwiſchen ihm und Leſſing (im Jahre 1780) über Spinoza, und ſo den Charakter der ganzen Unterredung ſelbſt in ihr wah⸗ res Licht zu ſetzen noch bevor wir in poſitiver Weiſe auseinander gelegt haben, welches denn in Wahrheit das Syſtem Leſſing's geweſen iſt. Bekanntlich giebt ſich Ja⸗ cobi in ſeinem Briefe an Mendelsſohn, wo er von jener Unterredung Rechenſchaft giebt, durch den ganzen Ton und die Farbe ſeiner Darſtellung das Anſehen einer gewiſſen Superiorität über den großen Mann, namentlich maßt er ſich dort, wie nachher in allen ſeinen Schriften, das Ver⸗ dienſt an, den Spinoza gleichſam zuerſt verſtanden und der Welt aufgeſchloſſen zu haben. Nun hat Schelling (in dem Denkmal von den göttlichen Dingen) es noch blos dahin geſtellt ſein laſſen: wer von den beiden, Leſſing und Jacobi, den andern eigentlich ausgeholt habe; uns aber ſcheint, daß, wenn man auch weiter nichts kennt, als Leſ⸗ ſing's Charakter und die beſchränkte Art, wie Jacobi ſich damals über Spinoza gegen Leſſing ausgelaſſen, gar kein Zweifel ſtattfinden könne, daß Leſſing es war, welcher den jungen enthuſtaſtiſchen Jacobi nach ſeiner Art ausgeholt hat, um zu wiſſen, weß Geiſtes Kind dieſer wäre, ohne er ſich ſelbſt dieſem, nach ſeiner wahren eigentlichen Ueber⸗ zeugung, zu erkennen zu geben auch nur die Abſicht ge⸗

ſagt: „Als Mendelsſohn ſeine Schriften 1771 von Neuem her⸗ ausgab, wollte Leſſing ihm nicht allein fein Urtheil darüber ſchrei⸗ ben, ſondern ihm auch die Gegenmeinungen in aller Stärke an⸗ geben, damit ſie Mendelsſohn ebenſo männiglich abwieſe!!“

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habt hat; und wenn die wahre Natur von Leſſing's Spe⸗ culation, auf urkundlichen Grund, erſt ausgemacht ſein wird, ſo wird dieſes, für die Geſchichte der Philoſophie und Literatur nicht ganz gleichgültige Factum zur vollen Evidenz heraustreten. Zunächſt, wie geſagt, können wir uns wohl vorſtellen, was Leſſing gedacht haben mag, als er Jacobi'n die Mendelsſohn'ſche Entdeckung, deren Grund⸗ loſigkeit er ſchon ungefähr 20 Jahre früher eingeſehen und dem Entdecker ſelbſt kund gemacht hatte, mit Eifer mündlich wiederholen hörte. Auf Leſſing's Frage (Jacobi's Werke IV. 1. 65.): „Nach welchen Vorſtellungen glau⸗ ben Sie denn nun das Gegentheil des Spinozismus? Fin⸗ den Sie, daß Leibnitzens Prinzipien ihm ein Ende ma⸗ chen?“ antwortete Jacobi: „Wie könnte ich, bei der feſten Ueberzeugung, daß der bündige Determiniſt vom Fataliſten ſich nicht unterſcheidet? ... Uebrigens kenne ich kein Lehr⸗ gebäude, das ſo ſehr als das Leibnitziſche mit dem Spinozismus übereinkäme; und es iſt ſchwer zu ſa⸗ gen, welcher von ihren Urhebern uns und ſich ſelbſt am mehrſten zum beſten hatte: wiewohl in allen Ehren! Mendelsſohn hat öffentlich gezeigt, daß die Har- monia praestabilita im Spinoza ſteht. Daraus als lein ergiebt ſich ſchon, daß Spinoza von Leibnitzens Grundlehren noch viel mehr enthalten muß, oder Leibnitz und Spinoza (dem ſchwerlich Wolfens Unterricht ange⸗ ſchlagen hatte *),) wären die bündigen Köpfe nicht gewe⸗

*) Wenn Jacobi hier ein herabſetzendes Wort über Wolf hin⸗ wirft, ſo nennt er ihn dagegen an einem andern Orte „einen großen Denker,“ welcher „Leibnitzen überall richtig gefaßt, und auch, wenn er Leibnitzens Lehre nicht zu der ſeinigen machen wollte, vollkommen verſtanden hätte“ (IV. 2. 121.). Wie an⸗

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fen, die fie doch unſtreitig waren. Ich getraue mir, aus dem Spinoza Leibnitzens ganze Seelenlehre darzulegen...” und ſo perorirte Jacobi noch eine Weile, und würde es noch viel länger gethan haben, da er ſich in den handgreiflichſten Cirkel verfangen hatte, wo es kein Ende und keinen Anfang giebt, indem nach ihm Leibnitz ein Spinoziſt und Spinoza ein Leibnitianer geweſen ſein ſollte hätte ihn Leſſing nicht unterbrochen: „Ich laſſe Ihnen keine 4 7 Sie müſſen mit dieſem Parallelismus an den Tag... Reden die Leute doch immer von Spi⸗ noza, wie von einem todten Hunde!“ i

So ſtand es damals mit Jacobi's Verſtändniſſe von Spinoza, in Beziehung auf Leibnitz. Auch nachdem er ſpäter gründlichere Quellenſtudien in Leibnitz gemacht, und mittlerweile Heidenreich in ſeiner Schrift: „Natur und Gott nach Spinoza“ Mendelsſohn's Parallelismus ſcharf beleuchtet hatte, auch da noch bleibt er, nach einigen Zu⸗ geſtändniſſen und ſelbſt nach der ſehr treffenden Beobach⸗ tung, „daß durch das principium individuationis die zwei Syſteme von Spinoza und Leibnitz zu entgegengeſetzten wären,“ ſo wie daß die präſtabilirte Harmonie mehr als

ders Leſſing! „Weil Wolf, ſchreibt er (in dem mehr gedachten Aufſatze über eine Aufgabe aus dem deutſchen Merkur, XI. 467.) einige von Leibnitzens Ideen, manchmal ein wenig verkehrt, in ein Syſtem verwebt hat, das ganz gewiß nicht Leibnitzens Syſtem geweſen wäre; fo muß der Meiſter ewig ſeines Schü⸗ lers wegen Strafe leiden. Einige von ihnen wiſſen zwar ſehr wohl, wie weit Meiſter und Schüler von einander noch abſtehen, aber fie wollen es nicht wiſſen. Es iſt doch gar zu bequem, un⸗ ter der Eingeſchränktheit und Geſchmackloſigkeit des Schülers den ſcharfen Blick des Meiſters zu verſchreien.“

Hypotheſe ſei, und ſich aus der Theorie von den Mona den begriffsmäßig ableiten laſſe, auch dann, ſage ich, bleibt Jacobi bei ſeiner früheren, gegen Leſſing keck geäußerten Meinung (in der IV. Beilage zu der Schrift: „Ueber die Lehre von Spinoza,“ als Erörterung der von Leſſing an ihn, den Verfaſſer gerichteten Aufforderung: „Sie müſſen mit dieſem Parallelismus an den Tag!“ (Werke IV. 2. 97— 126.). Mit Mendelsſohn, ſeinem Führer, den er doch in dem ganzen Streite über Leſſing ſo verächtlich, ſo höh⸗ niſch behandelt, zeigt er wegen „einiger (von Heidenreich ihm gemachter) ziemlich harter Vorwürfe“ (ohne zu ah⸗ nen, daß Leſſing ſie Mendelsſohn im Vertrauen vor mehr als 20 Jahren gemacht hatte) ein gewiſſes Mitleid, und nimmt zuletzt mit der einen Hand, was er mit der an⸗ dern gegeben hatte. „Hingegen kann und darf ebenſo we⸗ nig geleugnet werden, daß zwiſchen den Formen des Leib— nitz und Spinoza u. ſ. w. (hier geht er die hervorſtechend⸗ ſten Züge in Mendelsſohn'ſcher Betrachtungsweiſe von Neuem durch) eine große Analogie ſtattfinde. Wie viel überhaupt oder wie wenig Leibnitz dem Spinoza ſchuldig war, darüber habe ich keine Meinung und ſuche keine! Aber geſetzt, Leibnitz hätte wirklich von Spinoza viel genommen, ſo wird Niemand, dem es bekannt iſt, wie allgemein und heftig dieſer Name damals verabſcheut wurde, Leibnitzen verargen können, daß er ſich auf die verſchrieene Lehre dieſes Weltweiſen nicht berief ...“ Bei dieſer Ueber⸗ einſtimmung in der beſchränkten Auffaffung eines großen Philoſophen, es ſei Spinoza oder Leibnitz oder Beider, mit Mendelsſohn, iſt es faſt komiſch, dieſe beiden Zeitge⸗ noſſen ſich auf das bitterſte über Leſſing ſtreiten und be⸗ kämpfen zu ſehen, der ihrem Verſtändniſſe gleich ſehr un⸗ erreicht blieb. Was Jacobi vor Mendelsſohn in Wahr⸗

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heit voraus gehabt hat, war die lebendigere Phantaſie, ſein Erbtheil als eines Poeten, wiewohl er es, wie ihm ſchon Schelling gelegentlich nachgewieſen hat, zu eigentli⸗ chen Geſtaltungen nicht gebracht hat. Genug, bei allen den Uebertreibungen, welche Jacobi's Urtheile über Spi⸗ noza und ſeinem Syſteme zum Grunde liegen, war der Poet mit im Spiele; der poetiſche Enthuſiasmus für Spinoza ließ ihn ſogar, Mendelsſohn zum Trotz, das: „heiliger Benedictus“ ausrufen, welches nachher Schleier⸗ macher mit ſo glücklicher Wirkung (in den Reden über die Religion) wiederholt hat. Als Dichter endlich nur war Jacobi auch Leſſingen werth: daß er kein Philoſoph war, Philoſoph im Sinne Leſſings (kein bloßer „phi⸗ loſophiſcher Kopf“), war dieſem bald einleuchtend ge⸗ worden, er gab es ihm deutlich genug anzuhören) und ſo ließ er den Enthuſtaſten ungeſtört ſich ausſpre⸗ then, provocirte ihn ſogar dazu, wie dies in Leſſing's Cha⸗ rakter⸗Eigenthümlichkeit lag“) wobei er freilich nicht

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*) „Leſſing. Und Sie find kein Spinoziſt, Jacobi? Ich. Nein, auf Ehre! Leſſing. Auf Ehre, ſo müſſen Sie ja, bei Ihrer Philoſophie, aller Philoſophie den Rücken kehren. Ich. Warum aller Philoſophie den Rücken kehren? Leſſing. Nun fo find Sie ein vollkommener Sceptiker!“ Zuletzt weiſt er Jacobi's salto mortale als Rettungsmittel gegen den Spinozis⸗ mus deſſen er in keiner Weiſe bedürftig war ironiſch von ſich.

**) Nicolai, der, wo er ſich in feinen Gränzen hielt, unfere ganze Hochachtung als guter Kopf und Charakter verdient, und der Leſſingen hinlänglich im Leben beobachtet hatte, ſchreibt bei Gelegenheit (Vorrede zu einer Predigt über zwei Texte: Leſſing's ſämmtliche Schriften, 1825. VII. 254.): „Leſſing konnte das allzu Deciſtve nicht wohl leiden, und pflegte in geſellſchaftlichen gelehrten Unterredungen oft die Parthie zu nehmen, welche

ahnen konnte, daß feine Gutmüthigkeit dereinſt zum Nach⸗ theile ſeines Rufes und zum Schaden der Philoſophie ge= mißbraucht werden würde. Das alles ſage ich aber nur, um zu begründen, warum ich jenen berühmten Bericht Jacobi's von ſeinen Unterredungen mit Leſſing über Spinoza kurz vor Leſſing's Tode (und bald nach dem vollſtändi⸗ gen Erſcheinen der Erziehung des Menſchengeſchlechts) als keine Quelle zur Kenntniß von Leſſing's wahrer Philoſo⸗ phie und religiöſer Geſinnung, ſondern höchſtens als einen Beitrag zur Charakteriſtik Leſſing's als Menſchen und Dia⸗ lektiker betrachte, welcher des Aufhebens, das man davon

die ſchwächere war, oder die, wovon jemand poſitiv das Gegen: theil glauben wollte, zuweilen auch umgekehrt gerade die, wo⸗ von jemand heftig eingenommen war; der aber die Sache aus einem ihm eigenen Geſichtspunkte zu betrachten ſchien. Dies that er, um jenem Muth zu machen, ihm feine Ge: danken ganz im Zuſammenhange zu ſagen. Auch nach: dem die Leute waren, die er vor ſich hatte, war er in Geſell⸗ ſchaften wohl Liebhaber eines Dinges, das die Engländer fun nennen, und wofür unſre ſolennen deutſchen Landsleute kein Wort haben.“ Auch folgende Bemerkung, welche Nicolai macht, iſt für unſern Fall von ſchlagender Anwendbarkeit: „Leſſing war dog⸗ matiſch in feinen Principien, aber ſkeptiſch in feinen Unter: ſuchungen: Eigenſchaften, die er auf die edelſte Weiſe anwandte, und die ihn oft zu den herrlichſten Ideen leiteten, wenn er ſich zu verirren ſchien. Er iſt deswegen nicht ſelten von Leuten, die ihn nicht recht kannten, ſehr mißverſtanden worden, wenn ſie das, was er irgend einmal, ſogar mit vieler Lebhaftigkeit und mit ſcharfſinnigen Gründen behauptete, für das Reſultat ſeiner Principien anſehen. Wer Leſſingen nicht ſehr genau kannte, konnte ſich ſehr an ihm irren, wenn er ihn disceptiren hörte.“ Aehnliches hat Mendelsohn gegen Jacobi vorgebracht; dieſer aber erkannte in feiner Ueberhebung keine Grenze und kein Maaß.

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vordem gemacht, nicht werth geweſen. Zumal wenn man ſich überzeugt, daß Jacobi, als er ſeinen Streit mit Men⸗ delsſohn führte (und auch vielleicht im ganzen Leben nicht anders), Leſſing's philoſophiſche und theologiſche Schriften nur deſultoriſch und oberflächlich geleſen hatte, weshalb er die ſchreiendſten Widerſprüche zu Tage gefördert und Leſ⸗ ſing mißverſtanden hat, was alles ſein Anſehen in Bezug auf Leſſing's Principien in der Religion und Philoſophie ſehr mindern muß. So finden wir bei ihm eine Stelle über die Erziehung des Menſchengeſchlechts (Werke, IV. 1. 87.), welche alſo lautet: „Ehe mir Leſſing's Meinun⸗ gen auf die erzählte Weiſe (d. h. vermittelſt der mit ihm gehabten Unterredung) waren bekannt worden, und in der feſten Ueberzeugung, die ſich auf Zeugniſſe ſtützte, Leſſing ſei ein rechtgläubiger Chriſt, war mir in der Erziehung des Menſchengeſchlechts einiges ganz unverſtändlich; beſonders der 73. §. Ich möchte wiſſen, ob ſich jemand dieſe Stelle anders, als nach Spi⸗ noziſtiſchen Ideen deutlich machen kann. Nach dieſen aber wird der Kommentar ſehr leicht“ ). Man merke

*) Damit übereinſtimmend ſagt er (a. a. O. II. 241.): „Vor dem Nathan und zugleich mit den Fragmenten machte Leſſing die erſte Hälfte feiner Erziehung des Menſchengeſchlechts bekannt. Des 73. $. hatte ich in meinem erſten Briefe an Mendelsſohn ausführlicher gedacht, und dieſer Stelle ihre wahre Auslegung ge⸗ geben. Die Richtigkeit dieſer Auslegung zeigt, nach gewieſener Spur, das Ganze dieſes tief durchdachten Aufſatzes ſo klar, daß ich bei Sachkundigen kein Wort darüber zu verlieren brauche!“ Doch Schelling nahm es anders: „Auch die philoſophiſche Explication der Dreieinigkeit in der Erziehung des Menſchenge⸗ ſchlechts $. 73. kam dem Erzähler ſpinoziſtiſch vor! Am kürze⸗ ſten wäre wohl, dieſe chriſtliche Lehre ſelber für Spinozismus zu

wohl, hier will er auf Zeugniſſe d. h. Stellen aus Leſ⸗ ſing's Schriften, die Ueberzeugung zu Leſſing mitgebracht haben, daß dieſer Bekenner des Theismus ſei. Doch an einer andern Stelle ſagte er gerade das Gegentheil davon aus, ſo daß das eine das andere aufhebt, und man zu— letzt nicht weiß, welches die Wahrheit geweſen (Werke IV. 2234); „Wo findet ſich auch nur Eine Stelle, ges ſchweige ein Aufſatz oder eine Schrift von ihm (Leſſing), die zur Abſicht hätte, Wahrheiten des Theismus darzu⸗ thun? Ich weiß, mit welchem Auge ich, fo oft von Leſ⸗ ſing etwas erſchien, darnach geſucht habe, ſeitdem ſein „Leibnitz über die ewigen Strafen“ und ſein „Wiſſowa⸗ tius“ meine Aufmerkſamkeit in einem nicht geringen Grade auf dieſen Punkt gerichtet. Ich ſuchte vergebens, was mir über Leſſing's eigentliches Syſtem einen befriedigenden Aufſchluß hätte geben können; fand den Theismus über⸗ all vorausgeſetzt, ohne eigenes Bekenntniß, irgend ein ent⸗ ſcheidendes Wort für ſeine Lehrſätze Alles war von dieſer Seite, man kann nicht unbeſtimmter, ſchwebender erhalten.“ Dieſe Stelle hatte Schelling im Auge, als er von Jacobi (Denkmal S. 45.) ſchrieb: „Schon zuvor hatte er dieſen Mann (Leffingen) über den Punkt des Theis⸗ mus ins Auge gefaßt, und im Verdacht, es möchte um ſeinen Glauben an einen perſönlichen Gott nicht zum Beſten ſtehen.“ Was in dieſer Verwirrung allein feſt⸗ gehalten werden kann, iſt das Bekenntniß, daß Ja⸗ cobi „vergebens geſucht hatte, was ihm über Leſſing's

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erklären. Der Begriff von Zeugung, wenn er nicht durch mo: derne Auslegekunſt zu einem nicht phyſiſchen, blos moraliſchen gemacht wird, bietet das beſte Mittel dazu“ (Denkmal von den göttlichen Dingen S. 48.).

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eigentliches Syſtem einen befriedigenden Aufi hätte geben können.“

Wir nehmen den Faden wieder auf. Weit entfernt, daß Leſſing mit dem Studium Spinoza's für die ganze übrige Zeit ſeines philoſophiſchen Lebens abgeſchloſſen hätte, iſt es vielmehr, nach einem vielbewegten, mehr als zehn⸗ jährigen Zeitraume, und ſeit ſeiner Anſiedelung als Biblio⸗ thekar in Wolfenbüttel (1770) Leibnitz geweſen, in wel⸗ chem er ſich ganz concentriren zu wollen ſchien. Eben waren die Schriften Leibnitzens zum erſten Male, wiewohl durch einen Ausländer, und daher unvollſtändig und un⸗ kritiſch genug, von L. Dutens (nemlich im Jahre 1768, in eine Sammlung gebracht worden; und wie das eigent⸗ liche zuſammenhängende Studium Leibnitzens in und außer Deutſchland von dieſer Epoche an im Allgemeinen begann, ſo erhielt auch Leſſing's Beſchäftigung und Forſchung da⸗ durch einen eignen Anſtoß. Als eigentliche literariſche Denkmäler von Leſſing's Thätigkeit für Leibnitz können wir zwar nur die in den Beiträgen enthaltenen Aufſätze „Leibnitz von den ewigen Strafen“ (Erſter Beitrag 1773) und „des Andreas Wiſſowatius Einwürfe wider die Drei⸗ einigkeit“ (Zweiter Beitrag 1773) anführen, Aufſätze, de⸗ ren anderweitige philoſophiſche Tendenz nur früher verkannt und mißverſtanden worden iſt, weil man ſie, ganz wie die Erziehung des Menſchengeſchlechts, iſolirt betrachtet hat. Außerdem zeigt ſein literariſcher Nachlaß, wie ernſtlich Leſ⸗ ſing, ſowohl philoſophiſch als kritiſch und hiſtoriſch mit Leibnitz in der Wolfenbüttler Periode, der jüngſten und reifſten ſeines Lebens in Hinſicht ſeiner Speculation, ſich zu beſchäftigen bedacht war. Hatten die beiden genannten Aufſätze in den Beiträgen zunächſt den Zweck gehabt, Lücken der Dutens'ſchen Sammlung auszufüllen, jo fand

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ſich unter ſeinen nachgelaſſenen Papieren ein chronologi⸗ ſcher Abriß des Lebens von Leibnitz (Leſſing's ſämmtl. Schriften IX. 43 47.) und Auszüge aus Leibnitzens Schriften, nach Dutens, behuf einer neuen Darſtellung des Lebens und der Philoſophie Leibnitzens (ebend. 47.); ſo⸗ gar der Anfang einer wörtlichen Ueberſetzung der, gleich- zeitig mit der Dutens'ſchen Geſammtausgabe erſchienenen Nouveaux Essais sur l’entendement humain von Leib⸗ nis, deren Wichtigkeit er ſogleich erkannt hat “). Dies find redende Anzeichen einer lebhaften Sympathie. Aus⸗ drücklich aber hat Leſſing bei jeder ſich darbietenden Ge⸗ legenheit, was Charakter, Streben und die Grundzüge der Perſönlichkeit anlangt, ſeine Sympathie mit Leibnitz und ſo die eigne Geiftes- und Wahlverwandtſchaft mit dieſem großen Philoſophen und Weiſen ausgeſprochen **).

*) Leſſing's ſämmtl. Schriften XI. 51. überſchrieben: „Neue Verſuche vom menſchlichen Verſtande.“ Irrig ſchrieb Karl Leſ⸗ fing (Leſſing's Leben 11. 75.): „Locke, vom menſchlichen Verſtande, war nicht weniger Leſſing's Studium, und er wollte ſogar eine Schrift unter dem Titel: Neue Verſuche vom menſchlichen Verſtande, herausgeben, wie man aus dem Anfang eines Vor⸗ berichts erſteht, der fo lautet.“ Hier folgt in Wahrheit nur der überſetzte Anfang des Avant-Propos zu den Nouveaux Essais etc.

*) Man leſe nur den genannten Aufſatz: Leibnitz von den ewigen Strafen. Gleich zu Anfange heißt es: „Wenn gar um: ter dieſen Vorgängern ſich Leibnitze befinden: was kann ſchlech⸗ terdings lehrreicher ſein, als ſich in die geringſten Fußſtapfen der⸗ ſelben zu ſtellen, und von da aus ſich umzuſchauen?“ Gegen Jacobi äußerte Leſſing (Jacobi's Werke a. a. O.): „Leibnitzens Begriffe von der Wahrheit waren ſo beſchaffen, daß er es nicht ertragen konnte, wenn man ihr zu enge Schranken ſetzte. Aus dieſer Denkungsart ſind viele ſeiner Behauptungen gefloſſen, und

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Von dem Charakter und den Sympathien eines Phi⸗ loſophen zu ſeinen ſpeculativen Conceptionen, ſeinen Ideen und Principien iſt nur ein Schritt: im Grunde iſt bei⸗ des identiſch, und nur unterſchieden wie Leben und Lehre; und ſo ſind wir vorbereitet, in Leſſing's ſpeculativen Con⸗ ceptionen mit denen von Leibnitz eine Verwandtſchaft zu finden, welche diejenigen, welche von Leſſing's Spinozis⸗ mus den Kopf eingenommen haben, überraſchen muß, ſo deutlich und ausgeprägt iſt ſie; man braucht nur mit dem Finger darauf zu weiſen. Und doch werden wir darin weder eine bloße Kopie, noch eine Wiederholung, ſondern eine wirkliche Erweiterung und Fortbildung, ja eine ganz originelle Wendung und Ergänzung des Leibnitianismus erkennen, und dies kam weſentlich daher, daß das Grund⸗ Problem der Speculation ein ganz anderes geworden war als das, welches Leibnitzen den Anſtoß gegeben hatte. Denn je nach dem das Grundproblem einer Philoſophie ge⸗ ſtellt iſt, wird die Richtung und der Zuſammenhang der von ihm hervorgerufenen Gedankenreihe beſtimmt. Daß z. B. die Frage nach dem Zuſammenhange und der Ueber⸗ einſtimmung von Leib und Seele, als zweier verſchiedenen

es iſt bei dem größten Scharfſinn oft ſchwer, ſeine eigentlichen Meinungen zu entdecken. Eben darum halte ich ihn ſo werth; ich meine wegen dieſer großen Art zu denken und nicht wegen dieſer oder jener Meinung, die er nur zu haben ſchien, oder auch wirklich haben mochte.“ In dem genannten Aufſatze ſagt er daſſelbe, doch mit Hinweiſung auf den poſitiven Grund und die Wahrheitsliebe in allen ſcheinbaren Paradoxien bei Leib⸗ nitz. „Er ſchlug aus Kieſel Feuer; aber verbarg ſein Feuer nicht in Kieſel.“ „er ſetzte willig fein Syſtem bei Seite, und ſuchte einen Jeden auf demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen, auf welchem er ihn fand.“

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Subſtanzen, das Grundproblem, mithin der Anknüpfungs⸗ punkt der Speculation von Leibnitz war (wie es Carte⸗ ſius und ſeine Schule, ja Spinoza ſelbſt es hinterlaſſen hatte) iſt an der geſammten Haltung und Organiſation ſeiner Philoſophie, an der relativen Vollſtändigkeit und dem Umfange derſelben nicht zu verkennen. Daß nun im acht⸗ zehnten Jahrhundert, vermöge des Compleres der verän⸗ derten Ideen und Richtungen, jenes berühmte Problem in den Hintergrund getreten war und ſeitdem auch den frü= hern Platz nicht wiedererlangt, ſchon dies, ja wohl dies allein hat eine treue Reproduction der echten Leibnitzſchen Philoſophie, auf Univerſitäten, wie in Schriften, verhin⸗ dert; geſchweige daß ein wahrhaft ſpeculativer und pro⸗ ductiver Kopf, daß ein Leſſing etwa in den Formen jenes Syſtems ſklaviſch gedacht haben könne. Nicht das daher iſt Chriſtian Wolf, nach Einigen, zum Vorwurf zu machen, daß er die ſpeculativen Grundprobleme der Leibnitz'ſchen Philoſophie, welche dieſer ihren typiſchen Charakter ver⸗ leihen, fallen ließ oder eliminirte, ſondern daß er um ein Philoſoph zu ſein des Problems der Zeit ſich nicht auf wahrhaft ſpeculative Weiſe productiv bemäch⸗ tigte. Welches aber war dies Problem? Kein anderes, als das, was, wenn man der Sache auf den Grund geht, noch dasjenige Kant's geweſen iſt: das theologiſche Problem; an den theologiſchen Fragen: Gott, Freiheit, Unſterblichkeit hängt Kant's Kritik der theoretiſchen und der practiſchen Vernunft. Wie er ſeine Aufgabe löſte, auf welchem Wege und mit welchen Reſultaten? iſt eine andere Frage. Aber daß er nicht der Kritik wegen, ſon⸗ dern um die Probleme ſeines Jahrhunderts zu löſen phi⸗ loſophirt hat, liegt den Unbefangenen zu Tage, wie ſehr auch nachher Zweck und Mittel verwechſelt und die Kri⸗

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tik für die fertige und ganze Philoſophie genommen wor⸗

den iſt. Leibnitz ſelbſt hat dieſe theologiſchen Probleme,

am Ziele ſeiner Laufbahn, in der Theodicee, dem achtzehn⸗

ten Jahrhundert als Vermächtniß hinterlaſſen; er konnte aber ſchon nicht mehr als Corollarien ſeines Syſtems, welches von ganz verſchiedenen Problemen ausging, geben; er hat am Ende ſeiner Laufbahn nicht mehr von vorn zu philoſophiren anfangen können kein Wunder, daß die Theodicee im Laufe des 18. Jahrhunderts ſich überlebt und Voltaire's Candide hervorgerufen hat. Von unſerm Geſichtspunkte aus läßt ſich die Mangelhaftigkeit der Lö⸗ ſung der theologiſchen Probleme in der Theodicee, an der hiſtoriſchen Organiſation des ganzen Syſtems erkennen. Leibnitzens philoſophiſches Syſtem iſt nemlich, in dem emi⸗ nenten und antiken Sinne, Phyſik, oder, in dem mo⸗ dernen Sinne, Natur-Philoſophie. Die chriſtliche Theo⸗ logie, als ſolche, liegt in gewiſſer Hinſicht außerhalb ſeines Syſtems; ausgenommen da, wo die Theologie recht eigent⸗ lich an die Phyſik die Frage ſtellte: bei dem Fatholifchen Dogma der Transſubſtantiation und ſchon dem lutheriſchen der praesentia realis. Es erklärt ſich daraus Leibnitzens Eifer, gerade bei jenem Dogma die Parteien zu befriedi⸗ gen und zu vereinigen: als Phyſiker und nicht eigentlich als Theolog beſchäftigte er ſich damit; wie wenn etwa ein heutiger Phyſiker aus dem Geſichtspunkte des animali⸗ ſchen Magnetismus eine Erklärung der bibliſchen Wun⸗ der verſuchte. Und dies erklärt ſich: die Theologie, als ſolche, war Leibnitzen, als Chriſten, hiſtoriſch gegeben,

als eine von Jahrhunderten überlieferte, in Symbolen aus⸗

geprägte und unantaſtbare: im Ganzen alſo noch der Standpunkt von Blaiſe Pascal in Abſicht der Myſterien

des Chriſtenthums, wenn man von dem Ascetiſchen ab⸗

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4 ſteht. Als Philoſoph alſo blieb Leibnitz, auch wenn er ſich mit Problemen der Theologie beſchäftigte, immer in der Natur, in der Welt. Er hat niemals über die Natur Gottes, als ſolche, d. h. als Subſtanz, als göttliche Natur, ſpeculirt: dies brauchte der Chriſt nicht, ja es ſchien der Kirche Frevel, Blasphemie. Spi⸗ noza hat ſich in dieſes kirchliche Bewußtſein nicht finden können, als er gegen die Theologen ſeiner Zeit ſein: proh dolor! ausrief, was im 19. Jahrhundert das Motto der Philoſophie gegen die Unphiloſophie (Schelling's gegen Jacobi *)) geworden iſt. Leibnitz, wie geſagt, hat Gott nie eigentlich anders als nach der Kategorie der Urſache, nicht der der Subſtanz, ſpeculativ betrachtet; immer nur in ſeinem Verhältniſſe zur Welt und Natur, als causa supramundana, extramundana, was die Grenze feiner ſpeculativen Theologie blieb. Was die Dogmen über die Natur Gottes, namentlich das Dogma der Trinität an⸗ langt, ſo verhielt er ſich ebenſo ſtreng auf dem Gebiete der formalen Logik, wie bei der Transſubſtantiation auf dem der formalen oder generellen Phyſik; alſo auf dem eigentlichen Gebiete der Theologie immer neutral. Von je⸗ nem Standpunkte aus begnügte er ſich, die Argumenta⸗ tionen der Socinianer abzulehnen; höchſtens hat er bisweilen eine Explication des Wortbegriffs durch Ana⸗ logie des Vorgangs im menſchlichen Bewußtſein, empiriſch⸗ pſychologiſch gegeben, das Speculative aber, als My⸗ ſterium, von ſich gehalten *). Wenn man die Leibnitz⸗

) Das Motto der Schrift: Denkmal von den göttlichen Din⸗ gen u. ſ. w.

**) Opp. V. 481. (Aus einem Briefe gegen den Socinianismus.) II y à quelque chose de profond et d’incomprehensihle dans

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ſche Philoſophie eine chriſtliche nennen will wir un⸗ ſerſeits werden wenigſtens keinen Widerſpruch einlegen ſo muß dies viel mehr wegen der chriſtlich⸗theologiſchen Vorausſetzungen des Syſtems, als wegen des Syſtems ſelbſt geſchehen, welches auf jene Vorausſetzungen (in den Lehren von der Natur, dem Staate, der Moral, dem Rechte u. ſ. w.) ruht. Die Argumentation für das Prä⸗ dikat des Chriſtlichen bei der Leibnitzſchen Philoſophie wird immer eine negative, gleichſam polizeiliche ſein: daß ſie dem Chriſtenthum nicht zuwider ſei, in dem Sinne wie Chriſtian Kortholt ihr eine eigne Abhandlung gewid⸗ met hat. Daß ſte aber chriſtliche Philoſophie in poſt⸗ tivem Sinne, in dem Sinne der Gnoſtiker, einiger Scho⸗ laſtiker und neuerdings Schelling's (der Anlage nach) und Hegel's daran fehlt viel! den Anſpruch zu machen war der Urheber jenes Syſtems entfernt. Das iſt der geheime Grund, daß, während Leibnitz durch die moderne Naturphiloſophie (Schelling, Steffens) ſo ſehr zu Ehren gekommen iſt, die ſpeculativen Dogmatiker unter die Theo⸗ logen eine ſo unzweideutige Geringſchätzung gegen jenen, als einen, der ihr Mann nicht ſei, zu Tage legen. (Da⸗ her die neueſten Syſteme, welche den Anſpruch wirk⸗ licher Gnoſis (wie ich, der Kürze wegen, mich ausdrücken will) machen, eine relativ größere Verwandtſchaft mit Spinoza, und unter den Chriſten mit Jacob Böhme haben, als mit Leibnitz.) Wie ungerecht, wie ganz ge⸗ gen die Geſchichte (welche ihnen immer im Munde iſt)

la Divinité, dont la Sainte Ecriture nous a donné quelque connoissance par des paroles empruntèes de ce qui se trouve d’analogique parmi les creatures, mais en excluant J’imper- fection qui s’y trouve jointe dans les creatures.

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braucht nicht weiter auseinandergeſetzt zu werden ). Das hier angedeutete Verhältniß der echten Leibnitz'ſchen Philoſophie zur Theologie, ich ſetze hinzu: zur lutheriſchen Theologie, giebt zu verſtehen, daß die orthodore Theolo⸗ logie im Zeitalter von Leibnitz die Philoſophie, als ſolche, nur tolerirte, in ſoweit tolerirte, als fte ihr nicht ent⸗ gegen war oder zu ſein wenigſtens das Anſehen nicht hatte: daß ſie aber noch die Philoſophie zu bekämpfen, ja aus⸗ zurotten bereit war, wenn dieſe den Inhalt der Theolo⸗ gie, der chriſtlichen Glaubenslehre in Frage ſtellte, „ſpe⸗ culativ zu conſtruiren“ ſuchte, kurz Gnoſts werden wollte. Das, was heute „chriſtliche Philoſophie“ heißt, wäre den Altvordern im 17. Jahrhundert eine contradictio in ad- jecto erſchienen. Im Laufe des achtzehnten Jahrhun⸗

) Folgende Aeußerung Leſſing's zeigt, daß auch er die Leib⸗ nische Philoſophie gerade von dieſer Seite ſcharf ins Auge ges faßt hatte. (Daß er franzöfifch ſchrieb, kam daher, daß er feine Gedanken auf Anlaß eines Excerpts aus den Nouveaux Essais sur l’entendement humain par Leibnitz, und hart hinter dem⸗ ſelben zu Papier brachte, fo daß Karl Leſſing (Leſſing's Leben, II. 186. Lachmann XI. 50.) fie für ein Leibnitianum mitgege⸗ ben hat): La philosophie de Leibnitz est fort peu connue; mais sa Theologie l’est encore moins. Je ne parle pas de cette Theologie, qui fait partie de la Philosophie; mais de cette (oet) autre d'origine cëleste, en un mot de la chrétienne. La maniere comment celle- ci a existé dans la téte de notre Philosophe, comment elle s’cst arrangèe avec les principes de pure raison, quelle influence elle a eu partant (muß tant heißen) sur la vie que sur ses raisonnements et sur sa fa- con de les proposer: c'est ce due j’appelle sa Theolo- gie, dont je dis qu'elle est ir&s inconnue, tout (toute) digne qu'elle est d’etre bien Eclairci (e).

derts zeigte ſich dagegen das merkwürdige Phänomen, daß die Theologie die Philoſophie als ebenbürtige Schweſter heranzog: man hatte von beiden Seiten nachgelaſſen. Die Wolfianiſchen Theologen bewieſen die Dreieinigkeit; ein Ding, woran der große, der ſcharfſinnige Leibnitz ſich nie gewagt hatte. Seitwärts ſtanden die „orthodoxen Theo⸗ logen“ und proteſtirten, aber mit geringem Erfolg. Dies war freilich erſt in dem zweiten, dem triumphirenden Zeit⸗ alter der Wolfiſchen Philoſophie, welche von der Zurück⸗ berufung Chriſtian Wolf's nach Preußen durch Friedrich den Großen (1740) datirt, jo wie die kaͤmpfende Wolfiſche Kirche in Wolf's Hegira von Halle ihren Höhepunkt gehabt.

Das triumphirende Wolfiſche Zeitalter nun, welches mit dem Mittag und Abend von Leſſing's Leben zu⸗ ſammenfällt, kann als die Vorbereitung zu derjenigen Kri⸗ ſis angeſehen werden, welche von Leſſing bis auf dieſe Stunde ſich erſtreckt und deren Ende kaum abzuſehen iſt: denn wer dieſe Kriſis in die Geſchichte des deutſchen Gei⸗ ſteslebens eigentlich herbeigeführt, war eben Leſſing, als der erſte chriſtliche Philoſoph nach der Reformation, im modernen Sinne des Worts, als der nemlich, welcher, um zu philoſophiren, ſich gerade hin auf den Boden der ortho⸗ doren Theologie geſtellt hat, um von da aus ein „Chri⸗ ſtenthum der Vernunft“ a priori oder durch Speculation zu conſtruiren; was ihn von Leibnitz, und um wie viel mehr noch von Spinoza oder Carteſius radical unterſcheidet “). Dies erklärt feine ſcheinbare Paradorxie. Als Schöpfer

*) Die folgende Auseinanderſetzung wird zu Tage legen, daß Leſſing's Syſtem, wie nach der Vergangenheit auf Leibnitz, ſo nach der Zukunft hin auf Schelling (der ihn zuerſt als eben⸗ bürtig anerkannt) weiſt.

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mußte er gegen das ihm entgegengeſetzte Poſttive und Gel⸗ tende zerſtörend, polemiſch auftreten: aber durch dieſe of⸗ fene, polemiſche Thätigkeit iſt die im Hintergrunde wal⸗ tende, ſchöpferiſche, ſpeculative Thätigkeit nur verdeckt worden. Die Geſchichte ſollte wohl ihr Recht behalten und behaupten, die ſpeculative Vernunft aber die Zukunft, als werdende Geſchichte, herbeiführen helfen. Von dieſem Standpunkte aus mußte Leſſingen die Aufklärungs⸗Theo⸗ logie, welche weder Theologie noch Philoſophie war, und welcher die Mehrzahl in Deutſchland huldigte, widerlich und verächtlich fein. Dieſe feine Geſinnung ſprach Leifing in der letzten Periode ſeines Lebens ſehr oft aus, um ſich gegen den ihm, beſonders von ſeinem Bruder ihm gemach⸗ ten Vorwurf, als trete er der Aufklärung in den Weg, zu vertheidigen; jetzt werden wir ihn erſt ganz verſtehen. So, wenn er vom 2. Februar 1774 (XII. 409.) ſeinem Bruder verfichert, daß er ſich „wahrlich eine ganz falſche Idee von ihm mache, und ſein ganzes Betragen in An⸗ ſehung der Orthodoxie ſehr unrecht verſtehe“, und dann fortfährt: „Ich ſollte es der Welt mißgönnen, daß man ſie mehr aufzuklären ſuche? Ich ſollte es nicht von Her⸗ zen wünſchen, daß ein Jeder über die Religion vernünf⸗ tig denken möge? Ich würde mich verabſcheuen, wenn ich ſelbſt bei meinen Sudeleien einen andern Zweck hätte, als jene großen Abſichten befördern zu helfen. Laß mir aber doch nur meine eigne Art, wie ich dieſes thun zu kön⸗ nen glaube. Und was iſt fimpler, als dieſe Art? Nicht das unreine Waſſer, welches längſt nicht mehr zu brauchen, will ich beibehalten wiſſen; ich will es nur nicht eher weg⸗ gegoſſen wiſſen, als bis man weiß, woher reineres zu neh⸗ men; ich will nur nicht, daß man es ohne Bedenken weggieße, und ſollte man auch das Kind hernach in Miſtjauche baden.

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Und was iſt ſie anders, unſere neumodiſche Theologie, ge⸗ gen die Orthodoxie, als Miſtjauche gegen unreines Waſſer?“ „Mit der Orthodoxie war man, Gott ſei Dank, ziem⸗ lich zu Stande; man hatte zwiſchen ihr und der Phi⸗ loſophie eine Scheidewand gezogen, hinter welcher eine jede ihren Weg fortgehen konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was thut man nun? Man reißt dieſe Scheidewand nieder, und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Chriſten zu machen, zu höchſt un⸗ vernünftigen Philoſophen. Ich bitte Dich, lieber Bruder, erkundige Dich doch nach dieſem Punkte genauer und ſiehe etwas weniger auf das, was unſre neuen Theo⸗ logen verwerfen, als auf das, was ſie dafür in die Stelle ſetzen wollen. Darin ſind wir einig, daß unſer altes Religionsſyſtem falſch iſt: aber das möchte ich nicht da⸗ mit ſagen, daß es ein Flickwerk von Stümpern und Halb⸗ Philoſophen ſei. Ich weiß kein Ding in der Welt, an welchem ſich der menſchliche Verſtand mehr gezeigt und geübt hätte, als an ihm. Flickwerk von Stümpern und Halbphiloſophen iſt das Religionsſyſtem, welches man jetzt an die Stelle des alten ſetzen will; und mit weit mehr Einfluß auf Vernunft und Philoſophie, als ſich das alte anmaßt. Und doch verdenkſt Du es mir, daß ich dieſes alte vertheidige? Meines Nachbars Haus drohet ihm den Einſturz. Wenn es mein Nachbar abtragen will, ſo will ich ihm redlich helfen. Aber er will es nicht abtragen, ſondern er will es, mit gänzlichem Ruin meines Hauſes, ſtützen und un⸗ terbauen. Das ſoll er bleiben laſſen, oder ich werde mich ſeines einſtürzenden Hauſes fo annehmen, als meines eigenen“ *).

) Vgl. auch die Briefe an feinen Bruder vom 8. April 1773 und vom 20. März 1777.

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Wir kennen jetzt den ſpeculativen Standpunkt, das Grundproblem Leſſing's. Ausgeſprochen iſt beides in dem⸗ jenigen ſeiner nachgelaſſenen Fragmente, welches wir der folgenden Entwicklung zu Grunde legen, und das über- ſchrieben iſt: „Das Chriſtenthum der Vernunft“ (XI. 604.). Dieſe Wendung des ſpeculativen Geiſtes iſt Leſſing eigen und neu, ſo wie der Gang und die Me⸗ thode, welche davon bedingt find. Was dagegen den on⸗ tologiſchen und kosmologiſchen Inhalt betrifft, ſo hat ſich Leſſing eng an Leibnitz angeſchloſſen. Hier folgt dieſes Fragment einer ſynthetiſchen Skizze des ganzen Sy⸗ ſtems, von dem mehr beſprochenen Geſichtspunkte. An die⸗ ſes wird ſich die Betrachtung und Zergliederung eines an⸗ dern wichtigen Fragments anſchließen; von da gehen wir unmittelbar zur Analhſe der Erziehung des Menſchenge⸗ ſchlechts über. Alle dieſe Schriften, Bauſteine eines groß⸗ artigen Syſtems, fallen in die letzte Zeit aus Leſſing's Leben, nach 1770, ſeinem vierzigſten Lebensjahre, an ge⸗ rechnet.

Das Chriſtenthum der Vernunft.

§. 1. Das einzige vollkommenſte Weſen hat ſich von Ewigkeit her mit nichts als mit der Betrachtung des Voll⸗ kommenſten beſchäftigen können.

§. 2. Das Vollkommenſte iſt er ſelbſt; und alſo hat Gott von Ewigkeit her nur ſich ſelbſt denken können.

§. 3. Vorſtellen, Wollen und Schaffen iſt bei Gott eines. Man kann alſo ſagen, alles was ſich Gott vor⸗ ſtellet, alles das ſchafft er auch.

§. 4. Gott kann ſich nur auf zweierlei Art denken; entweder er denkt alle ſeine Vollkommenheiten auf einmal

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| a und ſich als den Inbegriff derſelben, oder er denkt feine Vollkommenheiten zertheilt, eine von der andern abgeſon⸗ dert, und jede von ſich ſelbſt nach Graden abgetheilt.

§. 5. Gott dachte ſich von Ewigkeit her in aller ſei⸗ ner Vollkommenheit; das iſt, Gott ſchuf ſich von Ewigkeit her ein Weſen, welchem keine Vollkommenheit mangelte, die er ſelbſt beſaß.

$. 6. Dieſes Weſen nennt die Schrift den Sohn Gottes, oder welches noch beſſer ſein würde, den Sohn Gott. Einen Gott, weil ihm keine von den Eigenſchaf⸗ ten fehlt, die Gott zukommen. Einen Sohn, weil un⸗ ſerm Begriffe nach dasjenige, was ſich etwas vorſtellt, vor der Vorſtellung eine gewiſſe Priorität zu haben ſcheint.

§. 7. Dieſes Weſen iſt Gott ſelbſt und von Gott nicht zu unterſcheiden, weil man es denkt, ſobald man Gott denkt, und es ohne Gott nicht denken kann; das iſt, weil man Gott ohne Gott nicht denken kann, oder weil das kein Gott ſein würde, dem man die Vorſtellung ſeiner ſelbſt nehmen wollte.

§. 8. Man kann dieſes Weſen ein Bild Gottes nen⸗ nen, aber ein identiſches Bild.

$. 9. Je mehr zwei Dinge mit einander gemein ha⸗ ben, deſto größer iſt die Harmonie zwiſchen ihnen. Die größte Harmonie muß alſo zwiſchen zwei Dingen ſein, welche alles mit einander gemein haben, das iſt, zwiſchen zwei Dingen, welche zuſammen nur eines ſind.

§. 10. Zwei ſolche Dinge ſind Gott und der Sohn Gott oder das identiſche Bild Gottes; und die Harmonie, welche zwiſchen ihnen iſt, nennt die Schrift den Geiſt, welcher vom Vater und Sohn ausgehet.

§. 11. In dieſer Harmonie iſt alles, was in dem

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Vater iſt, und alſo auch alles, was in dem Sohne iſt; dieſe Harmonie iſt alſo Gott.

§. 12. Dieſe Harmonie iſt aber ſo Gott, daß ſie nicht Gott ſein würde, wenn der Vater nicht Gott und der Sohn nicht Gott wären, und daß beide nicht Gott ſein könnten, wenn dieſe Harmonie nicht wäre, das en alle drei find eines.“

Hiemit iſt die eine Seite Gottes als des &v xal zav dialcetiſch zergliedert, was bei Jacobi ein ſchlagender Be⸗ weis für den Spinozismus Leſſing's gegolten haben müßte. Gleichwohl iſt ſchon in dieſer Argumentation, wonach die Idee Gottes weſentlich und nothwendig als eines Drei- einigen dargelegt wird, ein Moment enthalten, welches ſie unendlich mehr der Leibnitz'ſchen, als der Spinsoziſtiſchen Philoſophie nähert: das Moment der concreten Viel⸗ heit, als Gegenſatz der abſoluten Einheit in Gott; jenes Moment wird im andern Theile weiter für ſich entfaltet. Wir verſchieben daher einige Betrachtungen, welche ſich uns über jene erſte Seite, mit Rückſicht auf den viel be⸗ ſprochnen §. 73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts aufdrängen, bis wir zu jenem $. gelangen, und laſſen jetzt den andern Theil der Betrachtung folgen:

§. 13. Gott dachte ſeine Vollkommenheiten zertheilt, das iſt, er ſchaffte Weſen, wovon jedes etwas von ſeinen Vollkommenheiten hat; denn, um es nochmals zu wieder⸗ holen, jeder Gedanke iſt bei Gott eine Schöpfung.

§. 14. Alle dieſe Weſen zuſammen, heißen die Welt.

$. 15. Gott könnte feine Vollkommenheiten auf un⸗ endliche Arten zertheilt denken; es könnten alſo unendlich viel Welten möglich ſein, wenn Gott nicht allezeit das Vollkommenſte dächte, und alſo auch unter dieſen Arten

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die vollkommenſte Art gedacht, und dadurch wirklich ge⸗ macht hätte.

$. 16. Die vollkommenſte Art, feine Vollkommenhei⸗ ten zertheilt zu denken, iſt diejenige, wenn man ſie nach unendlichen Graden des Mehrern und Wenigern, welche ſo auf einander folgen, daß nirgends ein Sprung oder eine Lücke zwiſchen ihnen iſt, zertheilt denkt.

§. 17. Nach ſolchen Graden alſo müſſen die Weſen in dieſer Welt geordnet ſein. Sie müſſen eine Reihe aus⸗ machen, in welcher jedes Glied alles dasjenige enthält, was die untern Glieder enthalten, und noch etwas mehr; welches etwas mehr aber nie die letzte Gränze erreicht.

$. 18. Eine ſolche Reihe muß eine unendliche Reihe ſein, und in dieſem Verſtande iſt die Unendlichkeit der Welt unwiderſprechlich.

§. 19. Gott ſchafft nichts als einfache Weſen, und das Zuſammengeſetzte iſt nichts als eine Folge ſeiner Schöpfung.

§. 20. Da jedes von dieſen einfachen Weſen etwas hat, welches die andern haben, und keines etwas haben kann, welches die andern nicht hätten, ſo muß unter die⸗ ſen einfachen Weſen eine Harmonie ſein, aus welcher Har⸗ monie alles zu erklären iſt, was unter ihnen überhaupt, das iſt, in der Welt vorgehet.

$. 21. Bis hieher wird einſt ein glücklicher Chriſt das Gebiethe der Naturlehre erſtrecken: doch erſt nach lan⸗ gen Jahrhunderten, wenn man alle Erſcheinungen in der Natur wird ergründet haben, ſo daß nichts mehr übrig iſt, als ſie auf ihre wahre Quelle zurückzuführen.

§. 22. Da dieſe einfachen Weſen gleichſam einge⸗ ſchränkte Götter ſind, ſo müſſen auch ihre Vollkommen⸗

heiten den Vollkommenheiten Gottes ähnlich fein; fo wie Theile dem Ganzen.

§. 23. Zu den Vollkommenheiten Gottes gehöret auch dieſes, daß er ſich ſeiner Vollkommenheit bewußt iſt, und dieſes, daß er ſeinen Vollkommenheiten gemäß handeln kann: beide ſind gleichſam das Siegel ſeiner Vollkom⸗ menheiten.

§. 24. Mit den verſchiedenen Graden feiner Vollkom⸗ menheiten müſſen alſo auch verſchiedene Grade des Be⸗ wußtſeins und der Vermöͤgenheit derſelben gemäß zu han⸗ deln, verbunden ſein.

F. 25. Weſen, welche Vollkommenheiten haben, ſich ihrer Vollkommenheiten bewußt find, und das Vermögen beſitzen, ihnen gemäß zu handeln, heißen moraliſche We⸗ ſen, das iſt ſolche, welche einem Geſetze folgen können. FS. 26. Dieſes Geſetz iſt aus ihrer eigenen Natur ge⸗ nommen, und kann kein anders fein, als: handle dei⸗ nen individualiſchen Vollkommenheiten gemäß.

§. 27. Da in der Reihe der Weſen unmöglich ein Sprung Statt finden kann, ſo müſſen auch ſolche Weſen exiſtiren, welche ſich ihrer Vollkommenheiten nicht deutlich genung bewußt find, —“ Hier bricht es ab. Zum Glück, wie geſagt, bietet ſich uns ein anderes Fragment aus Leſ⸗ ſing's Nachlaſſe dar, den abgebrochenen Faden dahin fort⸗ zuführen, wo ſich die Ausſicht bis zu dem Punkte erwei⸗ tert, um den Sinn der Erziehung des Menſchengeſchlechts und den Zuſammenhang dieſer Schrift mit den übrigen philoſophiſchen Schriften Leſſing's aus- demſelben Zeit⸗ raume zu faſſen. Den Uebergang dazu möchten uns fol⸗ gende Betrachtungen bahnen.

Zweierlei drängt ſich uns an dem „Chriſtenthum der Vernunft“ für die Charakteriſtik der Leſſing'ſchen Specu⸗

Erziehung des M.⸗G. 4

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lation auf: der ſtreng logiſche und ontologiſche Zuſam⸗ menhang des zweiten, kosmologiſchen Theiles dieſer Skizze mit dem erſten theologiſchen Theile, von welchem er, wie ſchon bemerkt iſt, nur die nähere Entfaltung eines in dem⸗ ſelben liegenden, in die Natur Gottes fallenden Momen⸗ tes iſt und dann, wie auch angedeutet worden, der un⸗ verkennbare Thpus Leibnitz'ſcher Ontologie und Natur⸗ philoſophie. Da das letztere ehedem ſo gut wie überſehen worden iſt, und doch dem ältern Vorurtheil über Leſſtug's Philoſophie und Religion eine ganz neue, ich ſetze hinzu, die allein richtige Wendung zu geben geeignet iſt, ſo ver⸗ weilen wir dabei vorzugsweiſe. Wie geſagt, der Kenner der Geſchichte der Philoſophie wird in Leſſing's Welt als göttlicher Schöpfung oder Gedanke d. h. als Syſtem der göttlichen Ideen oder Einzelſchöpfungen in ihrem Zuſam⸗ menhange, beim erſten Blicke Leibnitz wiederfinden, mit ſei⸗ nen Monaden, ihrer innern Unendlichkeit, dem Geſetze ih⸗ rer Spontaneität und Continuität, fo wie ihrer Harm o⸗ nie; endlich mit den ſpezifiſchen Kriterion der Erkenntniß nach Graden, als dem allgemeinen Maaße aller geſchaf⸗ fenen Weſen, beſonders der moraliſchen, als gleichſam „eingeſchränkter Götter.“ Mit einem Wort, das prinei- pium individuationis in Leſſing's Syſtem beruht auf Leib⸗ nitz'ſcher Baſis. Faſt jeder §. beſtätiget dies im Beſon⸗ dren. So iſt $. 13. der Grundgedanke von Leibnitzens Theodicee. Man ſollte ihn auf den erſten Anblick blos formell, für einen Lückenbüßer der Reflexion halten; gleich⸗ wohl, wenn wir den Satz von dem, ihm anheftenden Re⸗ latiben entkleiden, ſo bleibt als poſttiver Gedanke der Be⸗ griff der Manifeſtation der Freiheit Gottes, welche durch die Idee des Guten determinirt iſt; was bekanntlich ſchon Leibnitz gegen Spinoza's Natur oder geometriſche Noth⸗

wendigkeit in Gott geltend gemacht, was Leſſing nicht ohne Bedacht aufgenommen hat. Man muß aber zu gleicher Zeit beachten, wie Leſſing es verſtanden hat, den abſtrakt⸗ ontologiſchen Begriffen Leibnitzens eine ſelbſtſtändige frucht⸗ bare Anwendung auf die lebendige Natur zu geben. In $. 17. hat Leſſing auf wahrhaft überraſchende Weiſe das Princip der geſammten modernen Naturbetrachtung in ſei— ner Univerſalität anticipirt: die Idee einer durch die Na⸗ tur gehenden Entwickelung, deren Beſtätigung durch die Naturforſcher er vorherſah. Ferner beruht auch die Idee der Harmonie bei Leſſing auf einer breitern ontologiſchen Baſis, als bei Leibnitz, fo daß das Begriffsmäßige, Aprio⸗ riſche hier ſofort in die Augen ſpringt, ſofern ſie, dieſe Harmonie aus dem großen Satze $. 19.: „Gott ſchafft nichts als einfache Weſen“ u. ſ. w. direkt folgt; während bei Leibnitz es einer Reflexion bedarf, um die „präſtabilirte Harmonie“ ohne den Schein des Zufälligen, Endlichen, in die Zeit fallenden, rein zu denken. Leibnitz verfuhr mehr analhtiſch, von dem menſchlichen Bewußtſein aus⸗ gehend, und in dem Reiche der Natur auf- und nieder- ſteigend; Leſſing iſt ſynthetiſcher, von der Idee des Alls ausgehend. Der F. 21. iſt wichtig und charakteriſtiſch für Leſſing's Syſtem, inſofern die Zukunft als weſent⸗ licher Moment hineingenommen iſt; und zwar zunächſt für das Studium der Natur. Dieſer Gedanke wird uns bald auch in den übrigen Richtungen begegnen. Die $$. 22— 26. liefern zu dem Syſteme die Keime einer Ethik und Politik, im Zuſammenhange mit der Theologie und Kos— mologie. Hier tritt namentlich eine weſentliche Differenz zwiſchen den Geſchöpfen und dem Schöpfer oder Gott und den „eingeſchränkten Göttern“ hervor; er beſteht darin: was in Gott unzertheilt und eins, daher total und un⸗ 4 *

endlich iſt, tritt zertheilt in den Geſchöpfen auf: Vorſtel⸗ len, Wollen und Schaffen iſt bei Gott eins (§. 3). Das Vorſtellen iſt daher bei Gott als ein transcendentales zu faſſen (wir kommen nachher auf dieſes Moment zurück); bei den Geſchöpfen treten dieſe Momente auseinander und hier treten verſchiedene Grade ein. Mit dem $. 25— 26. iſt Leſſing bis zu dem Punkte vorgedrungen, wo das Be⸗ wußtſein das Zuſammentreffen von Speculation und Er⸗ fahrung vermittelt, zugleich für die phyſiſche und die ethi⸗ ſche oder religiöſe Seite des Gottes⸗ und Weltbewußtſeins. Nachdem er F. 26. die allgemeinſte Formel der Moralität hingeſtellt, nimmt er in dem folgenden $. einen neuen An⸗ lauf, um das Geſetz der Entwickelung in der Natur zu finden, ohne Zweifel um für das Formale des Sittenge⸗ ſetzes den Inhalt zu erhalten, wo es aber abbricht. Ich bemerke nur noch, daß das pſychologiſche Moment der dunkeln und klaren Vorſtellungen und der Abſtufung der⸗ ſelben wieder ganz an Leibnitz erinnert, der dieſer von ihm gemachten Entdeckung (ſo kann man ſagen) beſonders in den damals von Raspe herausgegebenen Nouveaux Es- sais sur l’entendement humain die vielſeitigſte Ausfüh⸗ rung gegeben hat. Wir haben jetzt aber zu betrachten, wie Leſſing, unabhängig von Leibnitz, die Lehre von den Sin⸗ nen und der Sinnlichkeit ebenſo tief auf ontologiſcher Ba⸗ ſis und ſynthetiſch begründet, wie die Idee der Harmo⸗ nie. Es iſt nur ein Blatt von ihm, nicht mehr, was uns dieſe Lücke auszufüllen dient, aber ein Blatt, welches uns mit Bewunderung vor dem Scharffinn und der Tiefe der Conception in Leſſing erfüllt; es iſt überſchrieben: „Daß mehr als fünf Sinne für den Menſchen ſein kön⸗ nen (XI. 458.), was von dem erſten Herausgeber, Karl Leſſing, herrührt. Dieſe Betrachtung ſchließt ſich auf das

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genaueſte, ergänzend, an das Fragment „das Chriſtenthum der Vernunft“ an. Eigentlich iſt das von den Sinnen ent⸗ nommene Moment nur das Vehikel der Betrachtung, welche etwas viel Allgemeineres, nemlich das Geſetz der Entwick— lung in der Natur zum Object und zum Ziele hat. Da uns, ich wiederhole es, dieſe Betrachtung den letzten Auf⸗ ſchluß über die Erziehung des Menſchengeſchlechts ver⸗ ſpricht, ſo finden wir uns doppelt veranlaßt, ſie wörtlich anzuführen, um die dadurch veranlaßten Bemerkungen nachher zuſammenzufaſſen.

1. „Die Seele iſt ein einfaches Weſen, welches unend⸗ licher Vorſtellungen fähig iſt. |

2. Da fie aber ein endliches Weſen ift, fo iſt ſie die⸗ ſer unendlichen Vorſtellungen nicht auf einmal fähig, ſon⸗ dern erlangt ſie nach und nach in einer unendlichen Folge von Zeit.

3. Wenn ſte ihre Vorſtellungen nach und nach erlangt, ſo muß es eine Ordnung geben, nach welcher, und ein Maaß, in welchem ſie dieſelbe erlangt.

4. Dieſe Ordnung und dieſes Maaß ſind die Sinne.

5. Solcher Sinne hat fie gegenwärtig fünfe. Aber nichts kann uns bewegen, zu glauben, daß ſie Vorſtel⸗ lungen zu haben fo fort mit dieſen fünf Sinnen ange⸗ fangen habe.

6. Wenn die Natur nirgends einen Sprung thut, ſo wird auch die Seele alle unteren Staffeln durchgegangen ſein, ehe ſie auf die gekommen, auf welcher ſie ſich gegen⸗ wärtig befindet. Sie wird erſt jeden dieſer fünf Sinne einzeln, hierauf alle zehn Amben, alle zehn Ternen und alle fünf Quaternen derſelben gehabt haben, ehe ihr alle fünf zuſammen zu Theil geworden.

7. Dieſes iſt der Weg, den ſte bereits gemacht; auf

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welchem ihrer Stationen nur ſehr wenige können geweſen

fein, wenn es wahr iſt, daß der Weg, den fie noch zu machen hat, in ihrem jetzigen Zuſtande ſo einförmig bleibt. Das iſt, wenn es wahr iſt, daß außer dieſen fünf Sin⸗ nen keine andern Sinne möglich, daß ſte in alle Ewigkeit nur dieſe fünf Sinne behält, und blos durch die Vervoll⸗ kommnung derſelben der Reichthum ihrer Vorſfelungen anwächſt.

8. Aber wie ſehr erweitert ſich dieſer ihr zurückge⸗ legter Weg, wenn wir den noch zu machenden auf eine des Schöpfers würdige Art betrachten. Das iſt, wenn wir annehmen, daß weit mehrere Sinne möglich, welche die Seele ſchon alle einzeln, ſchon alle nach ihren einfachen Complexionen (das iſt jede zwei, jede drei, jede viere zu⸗ ſammen) gehabt hat, ehe fle zu dieſer jetzigen Verbindung von fünf Sinnen gelangt iſt.

9. Was Grenzen ſetzt, heißt Materie.

10. Die Sinne beſtimmen die Grenzen der Vorſtel⸗ lungen der Seele ($. 4.); die Sinne find folglich Materie.

11. Sobald die Seele Vorſtellungen zu haben anſing, hatte ſie einen Sinn, war fie folglich mit Materie ver⸗ bunden.

12. Aber tücht ſofort mit einem organiſchen Körper. Denn ein organiſcher Körper iſt die h meh⸗ rerer Sinne.

13. Jedes Stäubchen der Materie kann einer Seele zu einem Sinn dienen. Das iſt, die ganze materielle Welt iſt bis in ihre kleinſten Theile beſeelt.

14. Stäubchen, die der Seele zu einerlei Sinne die⸗ nen, machen homogene Urſtoffe.

15. Wenn man wiſſen könnte, wie viel homogene

Maſſen die materielle Welt enthielte: ſo könnte man auch wiſſen, wie viele Sinne möglich wären.

16. Aber wozu das? Genug, daß wir zuverläſſig wiſ⸗ fen, daß mehr als fünf dergleichen homogene Maſſen exi⸗ ſtiren, welchen unſre gegenwärtigen fünf Sinne entſprechen.

17. Nemlich, ſo wie der homogenen Maſſe, durch welche die Körper in den Stand der Sichtbarkeit kommen, (dem Lichte) der Sinn des Geſichts entſpricht: ſo können und werden gewiß z. B. der elektriſchen Materie, oder der magnetiſchen Materie ebenfalls beſondere Sinne entſprechen, durch welche wir es unmittelbar erkennen, ob ſich die Kör⸗ per in dem Stande der Electricität, oder in dem Stande des Magnetismus befinden, welches wir jetzt nicht anders als aus angeſtellten Verſuchen wiſſen können. Alles, was wir jetzt noch von der Elektricität oder von dem Magne⸗ tismus wiſſen, oder in dieſem menſchlichen Zuſtande wiſ⸗ ſen können, iſt nicht mehr, als was Saunderſon “) von der Optik wußte. Kaum aber werden wir den Sinn der Electricität oder den Sinn des Magnetismus ſelbſt haben: ſo wird es uns gehen, wie es Saunderſon würde ergangen ſein, wenn er auf einmal das Geſicht er⸗ halten hätte. Es wird auf einmal für uns eine ganz neue Welt voll der herrlichſten Phänomene entſtehen, von denen wir uns jetzt ebenſo wenig einen Begriff machen können, als er ſich von Licht und Farben machen konnte.

18. Und jo wie wir jetzt von der magnetiſchen und elektriſchen Kraft oder von dem homogenen Urſtoffe (Maſſen),

) Nicolaus Saunderſon, geboren 1683, verlor durch die Blattern in ſeinem erſten Lebensjahre das Geſicht, legte ſich gleich⸗ wohl auf die Mathematik und las in Cambridge über Newton's Optik. Er ſtarb 1739.

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in welchem dieſe Kräfte wirkſam ſind, verſichert fein kön⸗ nen, ob man gleich irgend einmal wenig oder gar nichts von ihnen gewußt: ebenſo können wir uns von hundert, von tauſend anderen Kräften in ihren Maſſen verſichert halten, ob wir gleich von ihnen noch nichts wiſſen, wel⸗ chen allen ein beſonderer Sinn entſpricht.

19. Von der Zahl dieſer uns noch unbekannten Sinne iſt nichts zu ſagen. Sie kann nicht unendlich ſein, ſon⸗ dern ſie muß beſtimmt ſein, ob ſte ſchon von uns nicht beſtimmbar iſt.

20. Denn wenn ſie unendlich wäre, ſo würde die Seele in alle Ewigkeit auch nicht einmal zum Beſitze zweier Sinne zugleich haben gelangen können.

21. Ebenſo iſt auch nichts von den Phänomenen zu ſagen, unter welchen die Seele im Beſitz jedes einzelnen Sinnes erſcheint.

22. Wenn wir nur vier Sinne hätten, und der Sinn des Geſichts uns fehlte, fo würden wir uns von dieſem ebenſo wenig einen Begriff machen können, als von einem ſechsten Sinne. Und alſo darf man an der Möglichkeit eines ſechsten Sinnes und mehrerer Sinne ebenſo wenig zweifeln, als wir in jenem Zuſtande an der Möglichkeit des fünften zweifeln dürften. Der Sinn des Geſichts dient uns, die Materie des Lichts empfindbar zu machen, und alle dieſelben Verhältniſſe gegen andere Körper. Wie viel andere dergleichen Materie kann es nicht noch geben, die ebenſo allgemein durch die Schöpfung verbreitet iſt!“

Damit wir die Richtung, welche Leſſing in dieſer ſcharf⸗ ſinnigen Deduction die Möglichkeit von mehr als fünf Sinnen genommen hat, ganz überſehen, fügen wir gleich eine Anmerkung hinzu, welche ſich, nach Karl Leſſing, auf

der letzten Seite dieſes Fragments befand und die ſo lau⸗ tet (XI. 460.): 0

„Dieſes mein Syſtem iſt gewiß das älteſte aller phi⸗ loſophiſchen Syſteme. Denn es iſt eigentlich nichts als das Syſtem von der Seelenpräeriſtenz und Me⸗ tempſychoſe, welches nicht allein ſchon Pythagoras und Plato, ſondern auch vor ihnen Aegyptier und Chaldäer und Perſer, kurz alle Weiſen des Orients, gedacht haben. Und ſchon dieſes muß ein gutes Vorurtheil dafür wirken. Die erſte und älteſte Meinung iſt in ſpeculativen Dingen immer die wahrſcheinlichſte, weil der men Menſchen⸗ verſtand ſofort darauf verfiel“ “).

Daß dieſe, von den Sinnen den Ausgang nehmende, metaphyſiſche Deduction der Metempſychoſe (dieſes Wort

) Die letzten Worte dieſer Anmerkung lauten: „Es ward (in der neuen Ausgabe ſteht wird, ein Druckfehler) nur dieſes älteſte, und wie ich glaube, einzig wahrſcheinliche Syſtem durch zwei Dinge verſtellt. Einmal“ hier bricht es ab. Karl Leſſing bemerkt dazu (Leſſing's Leben II. 78.): „Was dieſes für zwei Dinge geweſen, davon iſt unter allen ſeinen Papieren nichts zu finden.“ Leſſing deutete im Allgemeinen auf das Phantaſti⸗ ſche und Rohe, welches ſich dem Glauben an die Metempſychoſe bei den älteſten Völkern und Schulen beigemiſcht hatte, wodurch der eigentliche ſpeculative Gedanke verſtellt d. h. entſtellt, verdun⸗ kelt worden. (In demſelben Sinne braucht Leſſing das Wort in „Leibnitz von den ewigen Strafen“ §. XVII. wenn er ſagt: „Dieſe Wahrheit von den ewigen Folgen der Sünde und die Lehre von den ewigen Strafen iſt im Grunde eines; nur in den ver⸗ ſchiedenen Religionen durch die Bemühung, dieſe Strafen ſinn⸗ lich zu machen, mehr oder weniger verſtellet.“ Welche zwei Momente Leſſing beſonders im Sinne gehabt haben werde, will ich weiter unten anzudeuten wagen.

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von aller rohen Beimiſchung des Phantaftifchen in den aſtatiſchen Religionsſyſtemen, rein gedacht) nur eine Fol⸗ gerung der ontologiſchen Principien Leſſing's auf analyti⸗ ſchem Wege ſei, wie er ſie in dem Fragmente „das Chri⸗ ſtenthum der Vernunft“ ſynthetiſch entwickelt hat, leuchtet ein. Wodurch ſich Leſſing's Verfahren hier wie überall vor dem der modernen Philoſophen auszeichnet, iſt das Plaſtiſche, welches an Plato erinnert. Aus dem Satze: „die Seele iſt ein einfaches Weſen, welches unendlicher Vorſtellungen fähig iſt,“ welcher in der dialectiſchen Ent⸗ wicklung des Weltbegriffes in dem „Chriſtenthum der Ver⸗ nunft“ ſeine Begründung hat, entfaltet ſich das Uebrige in ſtrenger Folge, ohne daß Reflexionsbegriffe äußerlich hineingenommen werden. So ſehen wir in $. 2. die An⸗ ſchauung der Zeit aus dem Verhältniß des Endlichen und Unendlichen in der Seele vor unſern Augen entſtehen. Die Metempſychoſe iſt alſo in Leſſing's Syſtem keine bloße Hypotheſe, wiewohl er ſie ſo nennt, wo er außer dem Zuſammenhange und in populärer Weiſe (wie am Schluſſe der Erziehung des Menſchengeſchlechts) davon ſpricht, ſondern bildet den Schlußſtein des Syſtems, wo Phyſik und Ethik ſich berühren. Der Zuſammenhang iſt leicht zu überſehen: Gott ſchafft nichts, als einfache We⸗ ſen, und das Zuſammengeſetzte iſt nichts als eine Folge feiner Schöpfung (Chriſtenthum der Vernunft F. 18.). Dieſe einfachen Weſen ſind geordnet nach dem Geſetze der Continuität. Ein jedes Weſen ſetzt die ganze vorherge⸗ hende Reihe der Weſen in der Stufenleiter der Schöpfung voraus, und weiſt auf die ganze nachfolgende hin, welche an keinem anzugebenden Punkte ſtill ſteht, ſondern in das Unendliche fortgeht. Jedes Weſen iſt Seele und begränzt d. h. mit Materie begabt. Als Seele iſt es vorſtellende

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Kraft, und zwar, als Glied einer unendlichen Reihe, un⸗ endlicher Vorſtellungen fähig. Die Vermittelung der ihr anhaftenden Endlichkeit mit der Unendlichkeit der Vorſtel⸗ lungen geſchieht in der Form der Zeit, als der Form einer unendlichen, continuirlichen Folge. Die Natur thut kei⸗ nen Sprung. Keine Seele iſt daher in einem Momente, wo ſie von ſich oder andern Intelligenzen als Object er⸗ faßt iſt, ein unmittelbares, wenn gleich einfaches und mit ſich identiſches, ſondern ein durch die hinter ihr liegende Reihe von Weſen Vermitteltes: „Wenn die Natur nir⸗ gends einen Sprung thut, ſo wird auch die Seele alle untern Staffeln durchgegangen fein, ehe fie auf die ge⸗ kommen, auf welcher ſie ſich gegenwärtig befindet.“ Die unterſte Staffel der Seele iſt die, wo die Seelen zwar einen Sinn haben d. h. Grenzen ihrer Vorſtellungen oder Materie, aber nur ganz allgemein in Nacht und Dunkel (vergl. Chriſtenthum der Vernunft §. 27.). Sie haben noch keinen organiſchen Körper: ſie machen die, die un⸗ organiſche Natur conſtituirenden, einfachen Weſen oder Seelen aus. Denn „die ganze materielle Welt iſt bis in ihre kleinſten Theile beſeelt; jedes Stäubchen der Materie kann einer Seele zu einem Sinne dienen.“ Sobald ein Weſen mehr als einen oder mehr als Sinn überhaupt hat, wenn es z. B. nur zwei Sinne hat, ſo tritt es in eine höhere Ordnung über, in die der Weſen mit organi⸗ ſchen Körpern. Denn die Sinne ſind die Blüthe und gleichſam der Exponent der Reihe, zu welcher ein gewiſſer Organismus gehört. Wie nun, zufolge der Continuität, jedes organiſche Weſen einmal ein unorganiſches geweſen war, welches ſich in eine höhere Ordnung erhoben, ſo ſchließen wir, von unſerm, d. h. dem menſchlich⸗thieriſchen Organismus auf unſre ehemaligen, niedrigern zurück, welche

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wir durchlaufen haben, und nach der andern Seite auf höhere Organismen, welchen entgegen wir uns entwickeln, wo wir z. B. wie jetzt für das Licht, ſo auch für äthe⸗ riſche Potenzen, wie Electricität und Magnetismus, eigen⸗ thümliche offene Sinne haben werden, und ſo zu noch an⸗ dern homogenen Urmaſſen, von denen wir jetzt noch nicht einmal eine vermittelte Erfahrung haben dürften. Dies iſt der Gang der allgemeinen Natur. Und das iſt die Idee der Palingeneſte, oder Seelen-Präexiſtenz, Metem⸗ pſychoſe.

An dieſem Punkte wird nun das anſchaulich, was wir oben über das Grundproblem der Speculation, als das eigenthümliche, ſpezifiſche Kriterion eines Syſtems geſagt haben. Auf den erſten Blick glauben wir nichts als Leib⸗ nitz'ſche Conceptionen und Formeln zu ſehen, wie nament⸗ lich die berühmte Formel: die ganze materielle Welt iſt bis in ihre kleinſten Theile beſeelt. Dennoch iſt das Sy⸗ ſtem ein ganz verſchiedenes, worin dieſelben Begriffe, die⸗ ſelben Formeln eine andere Bedeutung und Stellung ha⸗ ben. Dieſe Grundverſchiedenheit liegt zunächſt darin, daß der Dualismus, womit Leibnitz zu ſpeculiren anfängt, und welcher durch ſeine präſtabilirte Harmonie nicht überwun⸗ den wird, welcher namentlich auch feiner Pſychologie und Phyſiologie zu Grunde liegt, daß dieſer Dualismus, ſage ich, bei Leſſing von vorn herein überwunden iſt, und Idea⸗ lis mus der unterſcheidende Charakter dieſes Syſtems iſt, die Sinnlichkeit ein rein und abſolut Metaphyſiſches, und die Harmonie nicht in der Uebereinſtimmung zweier ver⸗ ſchiedener, abſoluter Potenzen, welche in einem Weſen ſich vereinigen, liegt, ſondern darin, daß jedes Einzelweſen im wahren und abſoluten Sinn Mikrokosmus iſt. Der Or⸗ ganismus iſt hier ein rein Innerliches, Idealiſches, und

aus dem Begriffe eines Weſens, z. B. des Thieres, Er⸗ klärbares, nicht, wie noch bei Leibnitz, etwas äußerlich Te⸗ leologiſches. Dieſes alles aber kommt daher, weil Leſſing ein theologiſches, kein phyſikaliſches Problem geſtellt hat; wiewohl dies den Nachtheil mit ſich führte, daß er ſein Syſtem nach der phyſtkaliſchen oder vielmehr naturphilo⸗ ſophiſchen Seite nur ſkizzenhaft abgehandelt, während er die ethiſche oder theologiſch-religiöſe Seite mit aller Ener⸗ gie bei den Fragen der Zeit, über Chriſtenthum, Of⸗ fenbarung und Geſchichte, freilich nicht ſyſtematiſch, ſon⸗ dern an beſtimmte Objecte knüpfend, geltend gemacht hat. Nichtsdeſtoweniger enthält die naturphiloſophiſche Seite ſeines Syſtems, wie es aus Leſſing's ontologiſchen Prin⸗ zipien ſich entwickelt, allein den Schlüſſel zu den „zur Ethik“ (im allgemeinſten Sinne des Worts) gehörigen Schriften.

Ehe wir weiter gehen ſcheint es zweckmäßig, auf ein drittes Fragment hinzuweiſen, welches jenen Grundgedan⸗ ken und zwar ſchon direkt in Beziehung auf Religion rein ausſpricht; Karl Leſſing hat es (Vorrede zum theo⸗ logiſchen Nachlaß. Lachmann XI. 37.) als Fragment „aus einem Bogen ſehr unleſerlicher Anmerkungen über die: Philoſophiſchen Geſpräche über die unmittelbare Bekannt⸗ machung der Religion und über einige unzulängliche Be⸗ weisarten derſelben, von J. H. Campe *), 1773. ent⸗

) Die Veranlaſſung, fo wie Zeit und Umſtände dieſes Bruch⸗ ſtücks erfahren aus einem von Leſſing in Hamburg an J. G. Campe 1778 geſchriebenen Briefe, wo am Anfange von Campe's philoſophiſchen Geſprächen die Rede iſt, und es am Schluſſe heißt: „Dieſer Anfang eines Briefes, der ſich mit einer Grille über eine

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nommen. Es iſt ſo kurz, und dabei von ſo enger Be⸗ ziehung zu unſrer Aufgabe, daß wir es wörtlich wie⸗ dergeben. Karl Leſſing leitet es durch folgende Bemer⸗ kung ein: „Nachdem in dem zweiten Geſpräche derſelben zwiſchen Agathokles und Hermogenes ausgemacht worden, daß die allgemeine Beſtimmung des Menſchen eine unbe⸗ ſtimmte Entwicklung ſeiner Kräfte und Fähigkeiten ſei, ſo kommt Hermogenes S. 119. auf die Frage: Warum denn die göttliche Weisheit eine ſolche Verſchiedenheit in Ab⸗ ſicht der Grade der Ausbildung unter den Menſchen be⸗ liebt, und warum ſte dieſelben nicht vielmehr alle zu einem gleich hohen Grade der Vollkommenheit beſtimmt habe? Dieſe Frage, antwortet mon. gehört offenbar 0 für uns.“

Stelle Ihrer philoſophiſchen Geſpräche Seite 119. ſchließen ſollte, iſt ſchon vor 8 Tagen geſchrieben. In dieſer Zeit bin ich ſelbſt krank geweſen, und würde meine Reiſe haben aufſchieben müſſen, wenn ich auch ſonſt keine Kranken zu warten gehabt hätte.“ Dies war ſeine Stieftochter, mit welcher Leſſing im Sommer 1778 ſechs Wochen in Hamburg zubrachte. Vgl. XII. S. 511. (Der Brief iſt ohne Datum; er ſteht irrig unter den Briefen von 1779, wie ich in meiner Schrift: Das Heptaplomeres von Vodin ©. 295. in der Anmerkung gezeigt. Nachträglich fand ich dies durch den Herausgeber unter den „Berichtigungen und Zuſätzen“ XII. 664. mit Bezug auf die Buchhändlerzeitung auf das Jahr 1778 beſtätiget. Auch trete ich der Anſicht des Herausgebers über die Chronologie des Briefes an Eliſen S. 335. bei, wonach er in das Jahr 1780 und nicht in das Jahr 1778 zu ſetzen iſt; in⸗ dem Leſſing auch im Sommer 1780 in Hamburg war. Für den davon für die Autorſchaft der Fragmente gemachten Gebrauch bleibt ſich das ganz gleich.

Zu dieſer Frage merkte Leſſing Folgendes an: „Soll dieſes heißen: wir ſind nicht berechtigt, auf dieſe Frage Mißvergnügen mit der Einrichtung des Be zu e

„In dieſem Verſtande habe ich nichts dagegen. Auch lerne ich aus der täglichen Erfahrung, daß kein Menſch mit der gegenwärtigen Ausbildung ſeiner Geiſtesfähigkeit mißvergnügt iſt: und es dünkt mich, daß es ganz wider die Natur des Menſchen wäre, wenn er damit mißver⸗ gnügt ſein könnte. Er kann ſich wohl einbilden, daß dieſe nemliche Ausbildung unter andern annehmlichen äußer⸗ lichen Umſtänden eben ſo wohl geſchehen könnte: aber das iſt nicht Mißvergnügen mit dem Grade der Ausbildung, ſondern mit Dingen, die er bei dieſer Ausbildung anders ſein zu können vermeint.“

„Oder ſoll es heißen: der menſchliche Verſtand iſt von der Einſchränkung, daß er über dieſe Frage ganz und gar keine Auskunft geben kann?“

„So hüte ich mich ja zu ſagen.“

„Denn wie? wenn ich aus der Unbeantwortlichkeit der Frage ſchlöſſe, daß der Gegenſtand der Frage ein Unding ſei? Wie, wenn ich ſagte, daß der Menſch oder jede Seele, ſo lange ſie als Menſch erſcheint, vollkommen zu der nemlichen Ausbildung ſeiner Fähigkeiten gelange?“

„Iſt es denn ſchon ausgemacht, daß meine Seele nur einmal Menſch iſt? Iſt es denn ſchlechterdings ſo ganz unſinnig, daß ich auf meinem Wege der Ver⸗ vollkommnung wohl durch mehr als eine Hülle der Menſchheit durchmüßte?“

en war auf PA: Wanderung der Seele durch

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verſchiedene menſchliche Körper ein ganz neues eignes Syſtem zum Grunde? *)

„Vielleicht war dieſes neue Syſtem kein andres, als das ganz älteſte“ hier bricht es ab. Die Wendung, welche Leſſing eingeſchlagen, trifft ganz mit der überein, welche die Anmerkung zu dem Fragment über die fünf Sinne beſchließt. Wir werden ſtillſchweigend auf jenes Fragment und das von dem Chriſtenthum der Vernunft verwieſen, wo das Syſtem, welches Leſſing als „ein ganz neues eignes Syſtem“ ſelbſt bezeichnet, wenn auch nur in großen Zügen, doch überſchaulich und zuſammenhängend dargelegt iſt. Ich ſetze endlich noch hieher, was Karl Lef- ſing (in Leſſing's Leben II. 78.) aus den Unterredungen mit ſeinem Bruder über dieſes Thema aufgezeichnet hat.

„Aus ſeinen mündlichen Unterredungen, ſchreibt er, erinnere ich mich nur ſo viel. Die menſchliche Seele, glaubte er, wäre ſchon in viele Körper gewandert und im⸗ mer aus dem letztern vollkommner gekommen, als aus dem vorhergehenden; es könnte fein, daß ſie auch Anfangs gar in thieriſchen Körpern geweſen und durch Verlaſſung end⸗ lich in menſchliche übergegangen, aus denen fie noch in weit edlere Weſen wandeln würde, wenn ſte nicht vorſätz⸗ lich dieſer Veredlung entgegen arbeitete.“ *) Karl Les

) So wird Leſſing nicht geſchrieben haben; das Rechte war wohl für K. Leſſing unleſerlich. Der Sinn wenigſtens iſt klar.

) Tiefer als feinen Bruder wird Leſſing den jüngern Jer u⸗ ſalem (Karl Wilhelm) in ſeine Speculation eingeweiht haben; und eine Stelle in Leſſing's Zuſätzen zu Jeruſalem's philoſophi⸗ ſchen Aufſätzen (1776.) und zwar zu dem III. Abſchnitt: Ueber die Freiheit (Lachmann X. 6.) erhält aus dem bisher von uns Erörterten ihr Licht. Leſſing, erſehen wir nemlich, gründete auf

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ſing war verlegen, wie er dies zu nehmen hätte: „wer dieſe Meinung für eine ganz eigene Sonderbarkeit in Leſ⸗ ſing's Denkart erklärt, gegen den habe ich nichts,“ bekennt er; er wußte nicht, daß er den ſpeculativen Grundge⸗ danken der Erziehung des Menſchengeſchlechts ausgeſprochen hatte, wie er daſelbſt am Schluſſe ($. 93. bis zu Ende) unverhüllt, durch eine raſche Wendung, her⸗ vortritt, der Gedanke, durch welchen aber erſt der ganze Aufſatz ſeine Einheit und Gliederung und ſeine tiefere phi⸗ loſophiſche Bedeutung erhält. Dies genauer zu verfolgen iſt unſre Aufgabe: denn nur jener ſpeculative Grundge⸗ danke macht das ſpezifiſch Unterſcheidende und Originelle von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts gegen alle ältern und jüngern, damit verglichenen Ideen und Begriffe, in summa das bisher überſehene, geheime Kriterion der

die Seelenwanderung oder vielmehr die Wiedergeburt auch ſein ſpeculatives Moral⸗Syſtem. Dies hier näher auszuführen, liegt außer unſrer Aufgabe; auch müßte man auf Jeruſalem's Aufſatz und auf die Schrift, auf welche dieſer wieder ſich be⸗ zieht, zurückgehen. Ich wollte hier blos darauf aufmerkſam ma⸗ chen, und führe nur die letzten Worte Leſſing's (a. a. O.) an: „Alſo, von Seiten der Moral iſt dieſes Syſtem (welches die „kahle Vermögenheit“ das liberum arbritrium ohne beſtim⸗ menden Grund bei unſern Entſchlüſſen, unbeſchadet Tugend oder Laſter, verwirft) geborgen. Ob aber die Speculation nicht noch ganz andere Einwendungen dagegen machen könne? Und ſolche Einwendungen, die ſich nur durch ein zweites, gemeinen Augen ebenſo befremdendes Syſtem heben ließen? Das war es, was unſer Geſpräch ſo oft verlängerte, und mit weni⸗ gen hier nicht zu faſſen ſteht.“ F. H. Jacobi wußte nicht, was er aus dieſer Stelle machen ſollte, da ſeine zwei Kategorien „Spi⸗ nozismus, Theismus“ ihn hier im Stiche ließen.

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unbedingten Echtheit der Schrift aus. Denn, vermöge des uns deutlich gewordenen Schlüſſels, erhalten auch die beſondern conereten Gedanken, welche den Inhalt der Schrift ausmachen, über die Offenbarung, als Erziehung, über die Unſterblichkeit, über das neue ewige Evangelium Dinge, welche bei jenen frühern Vergleichungen ganz allein in's Auge gefaßt wurden, eine ganz eigenthümliche Bedeutung, ſowohl an ſich, als in ihrer Verbindung durch den ſte zuſammenhaltenden Grundgedanken. Die ältere und ge⸗ wöhnliche Auffaſſung hielt ſich an das Exoteriſche der Sache, hinter welcher der eſoteriſche Sinn verborgen liegt, zu welchem man nur vermöge der Einſicht in den ſpeeu⸗ latiben Grundgedanken des Ganzen durchdringt; welcher wieder das ganze Syſtem zur Vorausſetzung hat. Wegen dieſes Exoteriſchen und daher der Form nach Shpotheti⸗ ſchen (alſo Enthuſtaſtiſchen, ja Schwärmeriſchen) hat Leſ⸗

ſing die Erziehung des Menſchengeſchlechts, gegen Herder,

auch nur ein Glaubensbekenntniß genannt. Dieſe Bezeichnung ſollen wir auch beibehalten; eine Abhandlung ſoll man die Schrift nicht nennen. Hätte Leſſing abhan⸗ deln d. h. methodiſch zu Werke gehen wollen, ſo würde er das, was den Schluß der Erziehung des Menſchenge⸗ ſchlechts macht, an die Spitze geſetzt haben. Aber, wie geſagt, Leſſing hat dort nicht beweiſen wollen.

Wir ſagen: wir haben den ſpeculativen Schlüſſel zum Verſtändniß der Erziehung des Menſchengeſchlechts. Jetzt fehlt uns aber noch der andere Factor, vermöge deſſen die einzelnen Formeln, ſo zu ſagen, heraustreten müſſen: ich meine das Problem, auf welches jener Schlüſſel ange⸗ wandt wird. Denn die Erziehung des Menſchengeſchlechts iſt, formell, die ſpeculative Auflöſung eines gegebenen Pro⸗ blems; durch dieſes Problem wird dann die Tendenz

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der Leſſing'ſchen Schrift beſtimmt. Die Durchdringung dieſer Tendenz mit jener ſpeculativen Idee macht in kriti⸗ ſcher und philoſophiſcher Beziehung erſt die wahre con⸗ crete Einheit und Individualität der Erziehung des Men- ſchengeſchlechts aus.

Auch dieſes, das Problem, mithin die Tendenz hat Leſſing gewiſſermaßen verhüllt nemlich dadurch, daß und indem er die Erziehung des Menſchengeſchlechts einer unbekannten Feder zugeſchrieben hat. Indeſſen brauchen wir nicht lange danach zu ſuchen: jenes Problem war kein anderes, als das, welches der Ungenannte (Reis marus) in den Wolfenbüttler Fragmenten von der Theologie in die Philoſophie gleichſam verwieſen hatte: das Verhältniß der Bibel zur Offenbarung mit be⸗ ſonderer Rückſicht auf die Lehre von der Unſterblich- keit; und die Tendenz Leſſing's ging auf Wider- legung des Ungenannten, in deſſen Folgerungen zum Nachtheile der Bibel.

Dieſe kritiſch-genetiſche Beziehung der Erziehung des Menſchengeſchlechts zu den Fragmenten, beſonders zu dem vierten daß die Bücher alten Teſtaments nicht gefchrie= ben worden, eine Religion zu offenbaren iſt ja feſt⸗ zuhalten; und weit entfernt, damit etwas Neues darthun zu wollen, wollen wir nur etwas Vergeſſenes in's Bewußt⸗ ſein zurückrufen. Angedeutet hat Leſſing dieſe Beziehung durch die That, indem er die erſte Hälfte des Aufſatzes den Gegenſätzen (d. i. Widerlegungen) zu den Fragmen⸗ ten, und zwar zu dem vierten einverleibt hat, mit dem Bekenntniſſe, „daß er von einigen Gedanken dieſes Auf⸗ ſatzes bereits wörtlich Gebrauch gemacht habe; daß ihn alſo nichts hindere, oder vielmehr daß nichts ſchicklicher ſei, als daß er den Anfang deſſelben in ſeinem ganzen

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Zuſammenhange mittheile, der ſich auf den Inhalt unſers vierten Fragments ſo genau beziehe.“ Nachher freilich, als Leſſing die Schrift vollſtändig und für ſich herausgab, da er unterdeſſen wegen der Fragmente und wegen feiner von Göze mißverſtandenen Gegenſätze, jo hämiſch angegriffen und in Streitigkeiten verwickelt wor⸗ den war, benutzte Leſſing die einmal von ihm vorge⸗ nommene Myſtification dazu, das urſprüngliche Verhält⸗ niß der Erziehung des Menſchengeſchlechts zu den Frag⸗ menten des Ungenannten noch mehr zu verhüllen und zu verſtecken, als wenn die Einſchaltung der erſten Hälfte da⸗ von in den Gegenſätzen etwas Zufälliges geweſen wäre: „Ich habe die erſte Hälfte dieſes Aufſatzes in meinen Beiträgen bekannt gemacht. Itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu laſſen.“ In dieſer Zufälligkeit hat es unter andern F. H. Jacobi genommen; ein Beweis, wie aufmerkſam er Leſſing geleſen haben muß. Aber in dieſer Zufälligkeit und Iſolirtheit nahm es ja ſpäter die ganze literariſche Welt, was hinlänglich von uns beſpro⸗ chen worden iſt. In Folge jener Vergeſſenheit haben ſich in neueſter Zeit Kritiker und Philoſophen an einen ge⸗ wiſſen Particularismus in der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts geſtoßen, die darin beſtände, daß Leſſing bei der Idee der Offenbarung als Erziehung, oder der Per⸗ fectibilität der Religion nicht über das jüdiſche Volk und das alte Teſtament in der Geſchichte hinausgegangen ſei, ſtatt daß er ſie hätte auf die ganze vorchriſtliche Aera und Offenbarung überhaupt ausdehnen ſollen: dieſer Vor⸗ wurf iſt ungerecht. Die Idee, wonach Leſſing das gege⸗ bene Problem auflöſte, nemlich jener auf ontologiſchen Be⸗ ſtimmungen des Menſchen, als eines moraliſchen Weſens, ruhende Grundgedanke, iſt weſentlich univerſell, auf jede

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Religion, auf alle Offenbarung anwendbar; das Problem nur iſt ein particuläres, und bleibt bei dem jüdiſchen Volke und dem alten Teſtamente ſtehen. Was war natürlicher als daß Leſſing ſich auf den Grund und Boden des Frag⸗ mentiſten ſelbſt, von dem er das Problem aufnahm, ver⸗ fügte? Es iſt auch für jeden, welcher die Oekonomie von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts vollkommen ſich vergegenwärtigen will, unerläßlich, das vierte Fragment einmal im Zuſammenhange durchzuleſen. Unſre Analyſe der Leſſing'ſchen Schrift wird dies Alles ins Klare ſetzen.

Das Problem des vierten Fragments des Ungenann⸗ ten iſt nun dieſes: Das alte Teſtament lehrt keine Unſterblichkeit der Seele. Der Fragmentiſt verwirft die Göttlichkeit des alten Teſtaments; er zerhaut den Kno⸗ ten, ſtatt ihn zu löſen. Leſſing hält die Göttlichkeit des alten Teſtaments gegen die Schlußfolge des Ungenannten feſt: er hat alſo folgendes Problem zu löſen: „Warum lehrte Gott im alten Teſtamente keine Unſterblichkeit der Seele? So gefaßt iſt das Problem ſchon ein ſpecula⸗ tives durch das Moment der Frage von der Unfterblich- keit der Seele; es iſt klar, daß nach der Weiſe, wie dieſe Frage in einem Syſteme beantwortet wird, die Löſung des Problems eigenthümlich ausfallen muß. Daß und wie Leſſing dieſes Problem gelöſt, nach dem Begriffe, den er von der Unſterblichkeit hatte (und den wir im Zuſam⸗ menhange kennen), dies hat ihn auf die Idee der Offen⸗ barung, als Erziehung, urſprünglich gebracht: er hätte ſich, in dieſem Betrachte, auf das Moment der Unſterblichkeit der Seele beſchränken können und dürfen: daß er das Moment der Gottes-Idee in die Betrachtung mit hinein zog, geſchah eigentlich ſchon lehns- oder beiſpielsweiſe: das wird klar, wenn man ſieht, wie Leſſing die drei un⸗

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terſcheidenden Hauptlehren des Chriſtenthums, von der Dreieinigkeit, der Erbſünde und der Genugthuung oder Erlöſung §. 73 75. ausdrücklich durch ein „Z. E.“ gleichſam nur einſchaltet. Und der $. 73. von der Drei⸗ einigkeit wird durch die §§. 13 15. von der Einheit Gottes, und zwar dem wahren transcendentalen Be⸗ griffe des Einigen, welchen „die Vernunft ſo ſpät erſt aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicherheit ſchließen lernen“ (F. 14.), der Anlage nach vorbereitet. Die ſpe⸗ culative Idee Gottes, ſelbſt der Erbſünde und der Genug⸗ thuung, gehören ſchon nicht zu dem eigentlichen Problem der Erziehung des Menſchengeſchlechts, in ſeiner Schärfe gefaßt, welches herauszuſondern und feſtzuhalten uns vor Allem gelegen iſt. Man kann auch darauf kommen, wenn man den Anfang der Gegenſätze zu dem vierten Frag⸗ mente, welches wie eine Einleitung der Erziehung des Menſchengeſchlechts daſteht, in's Auge faßt (X. 25.). Dort heißt es: „Das alte Teſtament weiß von keiner Unſterb⸗ lichkeit der Seele, von keinen Belohnungen und Strafen nach tiefem Leben ). Es ſei fo. Ja, man gehe, wenn man will, noch einen Schritt weiter. Man behaupte, das A. T. oder doch das Iſraelitiſche Volk, wie wir es in den Schriften des A. T. vor den Zeiten der Babyloni-

*) Es bezieht ſich auf den Anfang des 4. Fragments (Bei: träge IV. S. 384.). „Ich verſtehe aber beſonders eine überna⸗ türliche, felig machende Religion, welche vor allen Dingen eine Erkenntniß von der Unſterblichkeſt der Seelen, von der Beloh⸗ nung und Beſtrafung unſrer Handlungen in einem zukünftigen ewigen Leben, von der Vereinigung frommer Seelen mit Gott zu einer immer größern Verherrlichung und Seligkeit, erfordert und zum Grunde legen muß“ u. ſ. w.

ſchen Gefangenschaft kennen lernen, habe nicht einmal den wahren Begriff von der Einheit Gottes gehabt. .. Ge— wiß iſt es wenigſtens, daß die Einheit, welche das Iſrae⸗ litiſche Volk feinem Gotte beilegte, gar nicht die transcen— dentale metaphyſiſche Einheit war, welche itzt der Grund aller natürlichen Theologie iſt“ u. ſ. w. Dieſe Mo- mente, welche allerdings in der Erziehung des Menſchen— geſchlechts an ihrem rechten Orte wirken, und planmä⸗ ßig angelegt ſind, ſind Corollarien der Auflöſung des Problems, ohne daß ſie das Problem ſelbſt ausmachen: Leſſing hätte ja ſonſt eben ſo gut die ganze chriſtliche Glaubenslehre, z. B. die Lehre von den letzten Dingen, beſonders von den ewigen Strafen, in die Betrachtung hin- einziehen können, ohne daß eine ſolche ſpeculative Dogma⸗ tik das Weſentliche des Aufſatzes, und wenn es zu einem Buche geworden wäre, ausgemacht oder es wahr⸗ haft bereichert hätte; während im Gegentheil das Weſent⸗ liche des Aufſatzes bleibt, wenn man ſich jene beiſpiels— oder lehnsweiſe hineingezogenen ſpeculativen Dogmen von Gott, dem Dreieinigen, der Erbſünde und der Genug— thuung fortdenkt. Ebenſo wenig haben die in die Augen fallenden Begriffe: Offenbarung und Erziehung des Men- ſchengeſchlechts, das Problem geliefert, ſondern es find wie⸗ der nur Corollarien der Auflöſung des den Mittelpunkt bildenden, ſpeculativen Problems: denkende Leſer mußten ſchon deshalb darauf kommen, weil man bei einem phi⸗ loſophiſch durchdachten Aufſatze nicht mit dem Kern der Sache, als dem Schwierigen und Problematiſchen, an- fängt, dieſes nicht zu dem populären Aushängeſchilde macht, das geeignet ſei, den großen Haufen anzulocken; ſondern durch den Anfang bereitet man auf das Problem und auf die Auflöſung nur vor, welches fortſchreitend dem

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Leſer ſich enthüllt. Denn wenn auch in einem wohl an⸗ gelegten Aufſatze, wie die Erziehung des Menſchengeſchlechts, Problem und Auflöfung vorn, mitten und am Ende, kurz überall, in jeder Zeile iſt dies macht ſeine Einheit aus ſo muß doch dieſe Einheit wieder ihre Gliederung an Haupt⸗ und Nebentheilen zeigen: wie die Seele im Men⸗ ſchen zwar in jedem Punkte des Leibes und des Lebens ſchwebt, doch in Kopf und Herz am hellſten und wärm⸗ ſten leuchtet und geſehen wird. Bis zu dieſem Herzen, dem Sitz der Seele, müſſen wir vordringen, um die Glie⸗ derung des Leibes zu verſtehen. Die Vorſtellungen von Offenbarung, Erziehung, ſelbſt von Perfectibilität haben aber an ſich nichts Speculatives; fie beruhen auf Erfahrung, auf Analogie, und es braucht keiner tiefen Philoſophie, um auf dergleichen Vorſtellungen zu fallen; ſie haben alſo auch an ſich nichts innerlich Zeugendes und Treibendes, ſondern laſſen die Dinge und Begriffe, wie ſie ſind. Es iſt z. B. nicht einzuſehen, wie jemand durch dieſe bloßen Reflexionen und Analogieen zu einer ſpeculativen Ausle⸗ gung der Dreieinigkeit, der Erlöſung u. ſ. w. gelange, wie ſie Leſſing in der Erziehung des Menſchengeſchlechts gege⸗ ben; folglich iſt er auch auf ſolchem Wege dazu nicht ge⸗ kommen. Andrerſeits hat ja Leſſing die Erziehung des Menſchengeſchlechts nicht in der Abſicht geſchrieben, um Proben einer ſpeculativen Dogmatik zu geben; dazu ent⸗ hielte die Anlage theils zu viel, theils zu wenig. Man kann ſich leicht überzeugen, daß die Paragraphen über Gott, die Dreieinigkeit, die Erbſünde und die Genugthuung ohne Einfluß auf den Fortgang und die Geſtaltung des Ge⸗ dankens daſtehn. Es bleiben dann noch die zwei hervor⸗ ſtechenden Punkte: von dem neuen ewigen Evangelium und von der Seelenwanderung. Der erſtere enthält im Grunde

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nur den negativen Gedanken, daß das neue Teſtament ebenſo abrogirt werden werde, wie es dem alten Teſtament durch das neue Teſtament oder das Evangelium ergangen iſt: ſo weiſt mithin das prophezeite ewige Evangelium über das neue Teſtament hinaus auf das alte zurück, womit die Betrachtung anhebt; d. h. das Problem eines ewigen Evangeliums hängt ſelbſt von dem, an das alte Teſtament geknüpften, Probleme ab: es weiſt auf ein Abſolutes hin, welches die Beziehung des neuen Teſtaments rück⸗ wärts zu dem alten Teſtamente, und nach vorn zu dem ewigen Evangelium vermittelt, und der Relativität aller Dreier zu Grunde liegt. Mit andern Worten, die ganze Betrachtung der zwei aufeinander folgenden Offenbarun⸗ gen und der verkündigten dritten Offenbarung weiſt auf einen Grundgedanken hin, inſofern dieſer in der Auflöſung eines gegebenen Problems vorhanden iſt: wir kennen nun das Problem, und kennen jenen Grundgedanken, welcher in dem Schluſſe der Erziehung des Menſchengeſchlechts ausgeſprochen iſt: die Idee der Seelenwanderung. Dies alſo iſt der Kern nnd die Seele des Ganzen; dies iſt das Eſoteriſche; die Vergleichung der Offenbarung mit der Er⸗ ziehung, das Empiriſch-Pädagogiſche, iſt das Exoteriſche, welches denn auch, je weiter man in dem Auſſatze lieſt, mehr und mehr zurücktritt “). Man hat aber früher, wie

) Auf dieſen Unterſchied des Exoteriſchen und Eſoteriſchen bat Leſſing bei Leibnitz fo ſcharf hingewieſen; wir find alſo be⸗ rechtigt und verpflichtet, ihn auch bei ihm ſelbſt anzuerkennen (Leibnitz von den ewigen Strafen $. 1.). „Er, Leibnitz, that, was alle alte Philoſophen in ihrem exoteriſchen Vortrage zu thun pflegten. Er beobachtete eine Klugheit, für die freilich un⸗ fere neueſten Philoſophen viel zu weiſe geworden find.“ §. IV.

Erziehung des M.⸗G. 3

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ſchon geſagt, das Exoteriſche für ein Eſoteriſches angenom⸗ men, oder vielmehr man hat ein ſolches, ein Eſoteriſches, gar nicht vermuthet. Hier entdeckt es ſich, daß die ganze Anwendung und Ausführung des pädagogiſchen Moments, namentlich bei der Betrachtung der Geſchichte des jüdiſchen Volkes, großentheils faſt nur redneriſche Ausſchmückung iſt, welche ſogar, was bei Leſſing auch ſonſt auffällt, in das Triviale fällt (z. B. §. 19. §. 55 und ſonſt). Das hat allerdings auch ein Epiphanius gegen die Ptolemäiten ge⸗ than, wie wir geſehen; aber das iſt das Weſen der Sache gar nicht. Von dem eigentlichen Probleme aus und deſ⸗ ſen Beantwortung tritt erſt dieſer Umſtand, und der Zu⸗ ſammenhang des Ganzen in ſein rechtes Licht.

Warum lehrt Gott in dem alten Teſtamente keine Unſterblichkeit? das, wir wiederholen es, iſt das Pro⸗ blem des vierten Fragments. Der Fragmentiſt ponirt die rationaliſtiſch⸗philoſophiſche Unſterblichkeit und negirt die Göttlichkeit des Alten Teſtaments. Leſſing dagegen negirt die erſtere natürlich ponirt er eo ipso das erſtere. Jene Himmels⸗ und Höllen⸗-Unſterblichkeit iſt gar nicht; hat gar keine abſolute Wahrheit. In ſpeculativer, aber abſtracter Hinſicht kommt die Antwort ſehr einfach heraus: Das alte Teſtament weiß von keinem jenſeitigen Leben mit Belohnungen und Strafen es weiß alſo im Grunde nur noch nichts von einem durch die Abſtraction gewon⸗ nenen Irrthum. Wenn Gott dieſe Lehre im alten Teſta⸗ mente nicht offenbart hat, ſo hat er wenigſtens keinen Irr⸗ thum vorgetragen. Auf dieſem ſpeculativen Standpunkte

„Ich gebe es zu, daß Leibnitz die Lehre von der ewigen Verdam⸗ mung ſehr exoteriſch behandelt hat, und daß er ſich eſote⸗ riſch ganz anders darüber ausgedrückt haben würde.“

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fällt alſo das Problem des Fragmentiſten ganz fort: die Rechtfertigung Gottes verſteht ſich hier von ſelbſt.

Nun aber hat das Problem ſelbſt zwei Seiten, außer der ſpeculativen noch, und vornehmlich, die practifche: die Bibel iſt kein ſpeculatives Syſtem, ſondern dem Chri⸗ ſten (und ein Chriſt ſetzt das Problem) ein Mittel zur Seligkeit durch Religion. Wenn alſo dem Ungenannten nach der einen Seite, durch die bloße Negation ſeines Mit⸗ telbegriffs, die Concluſion abgeſchnitten wird, ſo legt er nur um ſo verſtärktern Nachdruck auf das Praetiſche. Hier kam ein hiſtoriſches Motio dazu. Jenes Problem war alt, und vor Leſſing hatte im Laufe des 18. Jahr⸗ hunderts der engliſche Biſchof Warburton es ſpeeulativ zu beantworten, und ſo die Göttlichkeit des alten Teſta⸗ ments, freilich durch ein Wunder, zu retten geſucht. Der Fragmentiſt polemiſirt deshalb gegen Warburton aus dem praetiſch⸗religiöſen Geſichtspunkte “), und in Bezie⸗ hung auf dieſe entgegenſtehenden Anſichten, des Fragmen⸗ tiſten und Warburton's, giebt Leſſing in der Erziehung des Menſchengeſchlechts diejenige Vermittlung, welche das Speculative und Brartifche in einer höhern und wah-

) Viertes Fragm. §. 2. „Es hat zwar der gelehrte Herr Warburton die göttliche Sendung des Moſes eben daher zu beweiſen geſucht, weil er von der Unſterblichkeit der Seelen nichts gelehret hat. Allein ich muß geſtehen, daß ich in denen drei Bänden, ſo er davon zuſammengeſchrieben, ſonſt viele ſchöne An⸗ merkungen, aber nur das Eine nicht gefunden, worin der Grund ſeines Beweiſes liege“ u. ſ. w. Jetzt braucht man nur noch zu leſen, wie Leſſing im §. 24 25 der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts ſich ausſpricht. „So weit hätte Warburton auch

nur gehen müſſen, und nicht weiter“ u. ſ. w. b 39

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ren Idee von der Unſterblichkeit, nemlich als Metempſy⸗ choſe, nach feinem Syſtem, herſchmelze; und das iſt es, was den Kern der Schrift ausmacht, um welchen alles übrige ſich herumlegt. Zugleich kann man daraus recht ſehen, wie genau Leſſing dem vierten Fragmente in TEST Meditation nachgegangen ift.

Hiernach iſt der Ideengang der Erziehung des M ſchengeſchlechts folgender:

Gemäß der Lehre von der Metempfychofe, wie ſte aus dem Syſteme Leſſing's folgt, und wie ſie, am Schluſſe der Erziehung des Menſchengeſchlechts, angedeutet iſt, wird das ſpeculative und practiſche Bedürfniß des religiöſen Men⸗ ſchen, bei ſeinem Anſpruche an die Offenbarung, zu glei⸗ cher Zeit befriedigt. Es giebt nemlich drei Stufen ſitt⸗ licher Entwickelung: die niedrigſte iſt die, wo ein Volk oder ein Menſch erſt nur noch durch zeitliche Strafen und Be⸗ lohnungen bewegt wird, mithin um die Ewigkeit ſich noch gar nicht kümmert, weder ſpeculatib noch practiſch: Stufe des Judenthums, und zwar in ſeinem Urſprung. Die zunächſt höhere iſt die, wo der Menſch ſich allerdings ſchon um die Ewigkeit ſeiner Seele bekümmert; allein erſt⸗ lich ſpeculativ unvollſtändig und abſtract, indem er zwi⸗ ſchen der Zeitlichkeit und der Ewigkeit eine unausgefüllte Kluft ſetzt, einen Sprung von der einen in die andere mit der Phantaſie thut; alsdann in Folge deſſen auch practiſch die Folgen ſeines guten oder ſchlechten Han⸗ delns äußerlich transcendent, als ewige Belohnungen oder Strafen oder als Himmel und Hölle faßt. Die dritte und vollkommene Stufe iſt die philoſophiſche, oder das „Chriſtenthum der Vernunft,“ wo die Ewigkeit der Zeitlichkeit immanent erfaßt wird, daher auch die Hand⸗ lungen nach dem Geſichtspunkte der Ewigkeit d. h. wegen

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ihrer eigenen ewigen Folgen, eingerichtet werden, wobei die Belohnungen oder Strafen nicht von außen kommen, ſondern von den Handlungen in ihrem Weſen und Wir⸗ ken ſich nicht trennen. Auf allen dieſen drei Stufen alſo Uebereinſtimmung zwiſchen Speculation und Moral in der Religion (oder Philoſophie). Dieſe drei, allgemein menſchlichen Stufen beziehen ſich ſo aufeinander, daß die höchſte die beiden frühern als Bedingungen vorausſetzt, ſo wie die mittlere an ſich die unterſte; mithin das Totale dieſer Reihe ſich in Glieder einer ſpeculativ-moraliſchen Entwickelung auseinanderlegt. Die beiden untern Stufen behalten alſo, in dieſer Reihe, ihre relative Wahrheit, abſolut gefaßt erſcheinen ſie dagegen als Unwahrheit; dieſe Relativität erkennt der Philoſoph an, während er doch ihren abſoluten Werth leugnet: dies iſt im All- gemeinen der dialectiſche Charakter der ganzen Betrach⸗ tungsweiſe, wie ſte in der Erziehung des Menſchengeſchlechts, ponirend, negirend, durchgeführt iſt; dies hat auch Leſſing durch das vorangeſetzte Motto aus dem Auguſtinus ange⸗ deutet: Haec omnia inde esse in quibusdam vera, unde in quibusdam falsa sunt).

9) Leſſing iſt nur polemiſch gegen die Orthodoxie, ſobald fie ihren Standpunkt als abſoluten feſthält; alſo auch bei der or⸗ thodoxen Unſterblichkeitslehre. Belehrend iſt das Fragment: „Wo: mit ſich die geoffenbarte Religion am meiſten weiß, macht fie mir gerade am verdächtigſten (XI. 611.) wo es zuletzt heißt: „Doch, ich will es ganz ungezweifelt ſein laſſen, daß uns die geoffenbarte Religion allein die völlige Verſiche⸗ rung von der Unſterblichkeit der Seele gewährt... Ich will ja von dieſer Seite den Streit nicht ſuchen. Der Anz griff ſcheint mir von einer andern Seite noch leichter.“ Vgl. das gleich darauf folgende Fragment: „Daß man die

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Das iſt das erſte. Die menſchliche Natur (ſo ent⸗ wickelt ſich der Gedanke weiter) iſt aber von ſolcher Be⸗ ſchaffenheit, daß kein Menſch dieſe drei Stufen der Voll⸗ kommenheit im Laufe Eines irdiſchen Lebens hintereinan⸗ der überſchreiten kann; wenigſtens hat es ſehr lange ge⸗ dauert, daß das menſchliche Geſchlecht oder einzelne Völ⸗ ker von der einen Stufe zu der andern ſich erhoben haben. Viele, der meiſte Theil der Menſchen in einer frühern Zeit iſt von der Erde geſchieden, ohne die unterſte; ein ſehr großer Theil ſpäter, ohne die zweite Stufe überſchritten zu haben; ja die meiſten auf dem fortdauernden Stand⸗ punkte der Moral und Religion befinden ſich erſt noch auf der zweiten Stufe.

Wenn aber die vollendete Stufe der Moral und Se eulation (Religion) die Bedingung zur wahren Seligkeit iſt: wie werden die Menſchen ſelig? oder iſt jene voll⸗ endete Stufe nicht bei Allen möglich oder nothwendig? oder werden nicht alle Menſchen ſelig, oder gerettet, erlöſt? | Die Antwort, die Löſung des Problems lautet: Wohl werden alle Menſchen ſelig: „Weh dem menſchlichen Geſchlechte (ruft Leſſing in den Gegenſätzen zu dem 2ten Fragmente, Lachmann X. 19.), wenn in dieſer Oekono⸗ mie des Heils auch nur eine einzige Seele verloren geht. An dem Verluſte dieſer einzigen müſſen alle den bit⸗ terſten Antheil nehmen, weil jede von allen dieſe einzige hätte ſein können. Und welche Seligkeit iſt ſo über⸗ ſchwänglich, die ein ſolcher Antheil nicht vergällen könnte?“

Menſchen ebenſo von der Begierde, ihr Schickſal in jenem Leben zu wiſſen, abhalten ſolle, als man ihnen abräth, zu N was ihr Schickſal in dieſem Leben ſei.“

Wohl gelangen auch alle Menſchen zu dem nemlichen Grade der Ausbildung, der Erkenntniß: dieſes Thema be⸗ rührte Leſſing unter andern in der Bemerkung gegen eine Stelle in Campe's philoſophiſchen Geſprächen. „Iſt es denn ſchon ausgemacht, daß meine Seele nur einmal Menſch iſt?“ u. ſ. w. Alſo dies iſt der Schlüſſel zu allen dieſen Fragen: jeder Menſch, unter allen Völkern, allen Him⸗ melsſtrichen und allen Zeiten kommt ſo oft wieder, bis er die höchſte Stufe der Speculation und Moral durch eigne Anſtrengung oder Leiden erlangte.

Dies iſt die Metaphyſik der Erziehung des Men- ſchengeſchlechts, alſo das Univerſelle, auf alle Völker und alle Offenbarung, ja nicht blos auf Offenbarung oder Religion, ſondern auch auf alle Inſtitute der Politik und der Cultur, wodurch die Menſchen erzogen d. i. ver⸗ edelt werden, alſo beſonders auch auf die Kunſt anwend⸗ bar. Wie denn nachher Ernſt und Falk von uns nach derſelben Metaphyſik betrachtet werden wird. Dieſe Metaphyſik bildet die Spitze der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts; alles Uebrige iſt eine particuläre Anwendung derſelben auf das alte und neue Teſtament, mit Bezug auf das verkündigte ewige Evangelium. Juden und Chri⸗ ſten werden in der fo gewonnenen hiſtoriſchen Formel dem allgemeinern Begriffe des Men ſchen überhaupt in der metaphyſiſchen Formel ſubſtituirt; und die dialectiſche Be⸗ wegung des ganzen Aufſatzes iſt die von der hiſtoriſchen For⸗ mel zur metaphyſiſchen; aus Juden und Chriſten der Offen⸗ barung ſollen Chriſten der Vernunft, aus Offen- barung alſo Vernunft oder Speculation werden. Jude und Chriſt haben ſich daher gegen das Ende zu allge⸗ meinen Begriffen, zu Gattungsnamen erweitert, je mehr das Hiſtoriſche in den Hintergrund gerückt iſt: §. 93.

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„Eben die Bahn, auf welcher das Geſchlecht zu ſeiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Menſch (der früher, der ſpäter) erſt durchlaufen haben. „„In einem und eben demſelben Leben durchlaufen haben? Kann er in eben demſelben Leben ein ſinnlicher Jude und ein geiſtiger Chriſt geweſen ſein? Kann er in eben dem⸗ felben Leben beide überholet haben?““ „Das nun wohl nicht! Aber warum könnte jeder einzelne Menſch auch nicht mehr als einmal auf dieſer Welt vorhanden geweſen ſein?“ (F. 94.) N

Wir brauchen daher in der univerſellen metaphyſiſchen Formel der Erziehung des Menſchengeſchlechts nur die hi⸗ ſtoriſchen Momente, welche das Problem des Ungenann⸗ ten enthält, zu ſubſtituiren, und wir erhalten die hiſto⸗ riſche (die ſpeculativ⸗, nicht empiriſch⸗hiſtoriſche) Formel der Erziehung des Menſchengeſchlechts. Gott erzog die Juden durch eine Offenbarung, wie ſie im Verhältniß zu ih⸗ ren Fähigkeiten ſtand: Gott iſt ihnen erſt noch National⸗ Gott, und die Ewigkeit bildet noch kein integrirendes Mo⸗ ment ihrer Speculation (wenn dieſer Ausdruck ſchon an⸗ wendbar iſt) und ihrer Moral. Zeitlichkeit, Endlichkeit des Daſeins: Zeitlichkeit, Endlichkeit von Tugend oder La⸗ ſter, Lohn oder Strafe. Gott konnte den Iſraeliten keine höhere Offenbarung geben. Gott brauchte ihnen aber keine höhere Offenbarung zu geben, gleichſam aufzudrin⸗ gen. Und warum? Die Juden, alle die Individuen, welche das Volk der Juden ausmachten, ſollten wiederkommen und ſind wiedergekommen, ſind von Neuem Menſchen ge⸗ worden. Was hatten ſie bei der Unvollſtändigkeit der er⸗ ſten Offenbarung zu verlieren? („Verloren? Und was habe ich denn zu verſäumen? Iſt nicht die ganze Ewig⸗ keit mein? ß. 100.). Alle jene Seelen waren in dem

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Plane Gottes prädeterminirt, unter Chriſten als Chriſten

wieder geboren und erzogen zu werden; oder alle chriſt⸗ lichen Seelen ſind in einem frühern Leben in Körpern von Iſraeliten geweſen. Noch einmal, eine höhere Offenba⸗ rung, die der zweiten Stufe, wo die Ewigkeit bereits in die Speculation und Moral eingeht, als practiſches Mo⸗ tiv, aber noch unvollſtändig und äußerlich, die chriſtliche Offenbarung des Himmels und der Hölle, als Formen eines jenſeitigen Lebens, dieſe chriſtliche Offenbarung war den Sfraeliten weder nöthig noch nützlich. Dies iſt der

tiefere, aber deutlich durchſcheinende Sinn der mit ſo viel Nachdruck geſchriebenen Worte ($. 23.): „Der Mangel je⸗ ner Lehren in den Schriften des alten Teſtaments bewei⸗ ſet wider die Göttlichkeit nichts. Moſes war doch von Gott geſandt, obſchon die Sanction feines Geſetzes ſich nur auf dieſes Leben erſtreckte. Denn warum weiter? Er war ja nur an das Iſraelitiſche Volk, an das da— malige Iſraelitiſche Volk geſandt: und ſein Auftrag war den Kenntniſſen, den Meinungen dieſes damaligen Iſrae⸗ litiſchen Volks, ſo wie der Beſtimmung des künftigen vollkommen angemeſſen. Das iſt genug.“ Verſtehe: je⸗ jenes damalige und dieſes künftige Iſraelitiſche Volk, dies ſind daſſelbe Volk, d. h. dieſelben Menſchen inner⸗ halb dieſer Nation, welche in der ſpätern Generation zu der größern Vollkommenheit wiedergeboren werden ). Das

) Bis zu dieſem Punkte iſt Pierre Leroux, ehemaliger Anhänger der St. Simoniſtiſchen Religion, in ſeinem, voriges Jahr erſchienenen Buche: De PHumanité, de son principe et de son avenir ete. 2 tomes. Paris MDCC CxL. in der Aug: legung des ſpeculativen Sinnes von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts, aus ihr ſelbſt und allein, vorgedrungen; eine

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durch aber iſt jede Religion eine ſelig machende, ſofern ſie dieſelben Seelen Br eine ee wee in em er

45 90

Is THE

merkwürdige Erscheinung. Jedoch, 1 er ſelbſt, a an e Mangel einer tiefern ontologiſchen Begründung, über den Reflexionsbegriff der Perfectibilität nicht hinausging, ſo kam er mit feinem. Theorem von der Palingeneffe, welche er dort verträgt, nicht über den abſtracten Gattungsbegriff hinaus, den er von St. Simon em⸗ pfangen hatte. Nichtsdeſtoweniger war er doch der erſte, welcher dem ſpeculativen Grundgedanken der Erziehung des Menſchenge⸗ ſchlechts ſehr nahe kam. Er ſchreibt unter andern, II. p. 488. On trouve dans Lessing cette idée dont nous sommes oceupes à fournir la démonstration en ce moment, savoir que „Moise a eu raison de ne pas enseigner aux Juifs l’immortalite de ame, telle que les paiens Pont en general comprise, telle que ie vulgaire l’a acceptee chez tant de peuples, et telle qu’on ja eoncoit ordinairement aujourd'hui; car l’immortalit, ainsi comprise, est une erreur et une chimaire. Enfin, audessous encore et plus profondement, re trouve aussi 915 Lessing, la vérité fondamentale que nous proclamons, savoir que: l’im- mortalit& des ämes humaines est indissoluhlement attachee au developpement de notre espece; que nous qui vivons, sommes non seulement les fils et la posterit& de ceux qui ont deja veécn, mais au fond et r&ellement ces générations elles mémes, et que c'est ainsi, et uniquement ainsi, que nous vivrons tou- jours, et que nous sommes immortels.“ Und in Bezug auf unſern $. 23. (S. 500.) Qui ne voit des à présent l'idée de Lessing? Dieu mentait, et ne mentait pas. Les Hebreux d'a- lors &taient trompèés, et pourtant ils ne furent pas trompés. Le secret de l'enigme; c'est que le peuple israélite d'a- lors et le peupleisraélite futur, c'est au fond le m&me penple, la mèéme humanite qui croit et se developpe, enfant avec Moise, plus avancée avec Jösus-Christ, parde que P’homme et chaque homme est immortel dans I’humanite,: et

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tigen Erdenleben innerhalb der Gattung vorbereitet, daß keine Seele verloren gehe. Denn das iſt am Ende das Ziel und der abſolute Maaßſtab aller Religion: die Ret⸗ tung und Erlöſung der einzelnen Seelen, nicht blos eines

Abſtractums. Das iſt der tiefere Sinn: daß die Offen⸗ barung Erziehung iſt. „Die Erziehung hat ihr Ziel: bei dem Geſchlechte nicht weniger, als bei dem Einzel- nen. Was erzogen wird, wird zu Etwas erzogen.“ (F. 82.)

Was nun zur Erklärung des Verhältniſſes des alten Teſtaments zum neuen geſagt iſt, iſt auch auf das des neuen Teſtaments zu dem neuen ewigen Evangelium anwendbar; wo die dritte Stufe der Speculation und Moral Allen offenbart werden wird. Hier lernt man, wie Leſſing auf die Verkündigung des neuen ewigen Evange— liums genetiſch gekommen iſt: lediglich aus der metaphy⸗ ſiſchen Formel des Ganzen. So wäre der Plan der Schrift im Ganzen, wie in der einzelnen Ausführung und im Zu⸗ ſammenhange, vollkommen deutlich, indem wir den Kreis der darin enthaltenen Ideen durchmeſſen haben.

Der Leſer wird alſo in dieſem exoteriſch verfaßten Glau⸗ bensbekenntniſſe Leſſing's, durch Feſthaltung des Abſoluten und Speculativen, das Relative und Empiriſche auf ſeinen wahren Werth ſetzen; und für die Oekonomie des Gan⸗ zen zugleich immer das theologiſche Problem im Auge be-

n'est immortel que par T'humanitè et en elle. WVoilä Lessing fut conduit, par une logique rigoureuse, en exami- nant, avec toute la force de sa pensée et toute la droiture de son coeur, ce problöme si embarrassant: Pourquoi, dans l’Ancienne Loi, la vie future n’est-elle pas enseignée? si em- barrassant, dis-je, dans I'hypothèése ordinaire sur le sens du dogme de l’immortalit&.

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halten und beurtheilen. Die Rettung der Seelen ver⸗ möge ihrer Reinigung und ſucceſſtoen Vervollkommnung durch die Seelenwanderung auf Erden, dies iſt und bleibt der religiöſe Nerv der ganzen Schrift, welche allen übri⸗ gen Momenten ihre Bedeutung und ihre Auslegung, theils hiſtoriſch, theils dogmatiſch, theils moraliſch giebt, und wonach andrerſeits die Geſchichte, die Dogmatik und die Moral in dem göttlichen Plane der Erziehung des Menſchengeſchlechts berechnet, angelegt iſt. Im Hinter⸗ grunde bleibt immer für das in der Erziehung begriffene Individuum die Ausſicht, nach vollendeter ſpeculativer und moraliſcher Erziehung, durch Wiedergeburt und Seelen⸗ wanderung in eine höhere Gattung moraliſcher Weſen, in eine neue Sphäre organiſcher Geſchöpfe, mit vermehrten und verfeinerten Sinnen zu gelangen, nach dem Geſetze der unendlichen Entwicklungsreihe in Leſſing's Syſtem (ſiehe das Fragment: daß mehr als fünf Sinne möglich); und dieſe abſolute Beziehung des einzelnen Weſens zur Unendlichkeit und Ewigkeit macht das tief Religiöſe der Idee der Erziehung des Menſchengeſchlechts aus“). Die

*) So wie der Mangel dieſer Beziehung auf das Ewige und Unendliche dem St. Simonismus, aus welchem P. Leroux her⸗ vorgegangen iſt, nur die Hülle und die Vorhalle einer Religion für das menſchliche Geſchlecht belaſſen hat. Die Tendenz dieſes ausgezeichneten Kopfes iſt, wenn ich recht ſehe, der Lehre von St. Simon oder der Formel der Perfectibilität einen ſpeculativ⸗ religiöſen Boden unterzubreiten, namentlich durch eine Reviſton und neue Formullrung des Dogma's von der Unſterblichkeit. Er trifft ſich mit Leſſing auf dem Wege, bleibt aber, wie vorhin be⸗ merkt, weit, ja unendlich hinter Leſſing zurück. Um nur eins anzuführen, fo wirft er ſich unter andern das Problem auf, wie die Lehre der Palingenefie mit der wechſelnden Zahl der Men⸗

—. 19.

Speculation und Moralität Einzelner kann, vermöge der Spontaneität der Vernunft, das Ziel der Erziehung an ihnen beſchleunigen; denn die Vernunft und ihre Wir⸗ kungen ſind allein das Abſolute, und nicht ſchlechterdings abhängig von den äußern Mitteln der Erziehung. Dies iſt in $. 4. 20. 21. der Erziehung des Menſchengeſchlechts ausgeſprochen; und noch allgemeiner in den Gegenſätzen zu dem vierten Fragmente, welche, wie geſagt, als Ein⸗ leitung zu der Erziehung des Menſchengeſchlechts daſtehen: der Gedanke, daß die Vernunft und die Offenbarung dem Inhalte nach identiſch ſind, nur daß in der Geſchichte, un⸗ ſchen auf dem Erdboden zu vereinigen ſei, da dieſe Zahl eigent⸗ lich doch ſich ſtets gleich bleiben müßte und er nimmt zu ei⸗ nem göttlichen Myſterium Zuflucht. Ein ſolches Problem reicht allein hin, den Geiſt des ganzen Syſtems zu durchſchauen; in Leſſing's Syſtem kann eine ſolche ſtatiſtiſch e Bedenklichkeit nicht vorkommen. Die ganze unendliche Reihe der Geſchöpfe, die Un⸗ endlichkeit ſelbſt iſt hier das abſolute Maaß des einzelnen We⸗ ſens; die Gattung iſt für es nur ein Durchgang, keine abſo⸗ lute Begränzung. Desgleichen bei dem Problem über die Identität der einzelnen Weſen in der Seelenwanderung oder Palingeneſte, wegen des Mangels der Erinnerung früherer Daſeinsformen; Leroux behandelt in dem 5. Buche ſeines Werks, Kap. XIV. Reponse à Pobjection tirèe de l’absence de mé- moire dieſe Frage, nach Platoniſchen und Leibnitzſchen Principien befriedigen genug, wonach das Gedächtniß etwas Untergeordnetes und Vorübergehendes erſcheint. Allein er nimmt die Vergeſſen⸗ heit abſolut, während Leſſing auch dieſe, mit einem Blick auf die Ewigkeit, als verſchwindend denkt, in $. 99. der Erziehung des Menſchengeſchlechts: „Oder, weil ich es vergeſſe, daß ich ſchon da geweſen? Wohl mir, daß ich es vergeſſe. Und was ich auf itzt vergeſſen muß, habe ich denn das auf ewig vergeſſen? Iſt nicht die ganze Ewigkeit mein?“

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ter den verſchiedenen Völkern, bald die Vernunft, bald die Offenbarung vorhergeht. Dort heißt es (X. 27.): „Wahr⸗ heiten, die allerdeutlichſten, die allererhabenſten, die aller⸗ tiefſten von dieſer Art (der natürlichen Religion) kann je⸗ des andere ebenſo alte Buch enthalten (als die Bücher des alten Teſtaments); wovon wir itzt die Beweiſe haben. Die heiligen Bücher der Braminen müſſen es an Alter und an würdigen Vorſtellungen von Gott mit den Bü⸗ chern des alten Teſtaments aufnehmen können, wenn das Uebrige den Proben entſpricht, die uns itzt erſt zuverläſ⸗ ſige Männer daraus mitgetheilt haben. Denn obſchon der menſchliche Verſtand nur ſehr allmählig ausgebildet wor⸗ den, und Wahrheiten, die gegenwärtig dem gemeinſten Manne ſo einleuchtend und faßlich ſind, einmal ſehr unbegreiflich, und daher unmittelbare Eingebungen der Gottheit müſſen geſchienen haben, und als ſolche auch damals nur haben angenommen werden können: ſo hat es doch zu allen Zeiten und in allen Ländern privilegirte Seelen ge⸗ geben, die aus eignen Kräften über die Sphäre ihrer Zeitverwandten hinausdachten, dem größern Lichte ent⸗ gegen eilten, und andere ihre Empfindungen davon, zwar nicht mittheilen, aber doch erzählen konnten Was ſich alſo von dergleichen Männern herſchreiben kann, de⸗ ren noch itzt von Zeit zu Zeit einige aufſtehen, ohne daß man ihnen immer Gerechtigkeit widerfahren läßt, das kann zu keinem Beweiſe eines unmittelbar göttlichen Urſprungs gebraucht werden.“ Daß hiemit Einzelne, ſo zu ſagen, von dem Geiſte oder, wenn man will, von dem Fatalis⸗ mus der Geſchichte ſich emancipiren, und die Bande der Gattung oder des logiſchen Begriffs ſprengen (indem fie endlich in höhere Naturweſen übergehen), nicht aber, wie z. B. in dem Syſteme von Pierre Leroux zur ewigen

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Seelenwanderung auf der Erde verdammt ſind, dieſe on⸗ tologiſche Freiheit des moraliſchen Weſens, innerhalb der phyſiſchen und hiſtoriſchen Gattung, iſt mit ihrer Wurzel in dem ontologiſchen Begriffe des einzelnen Weſens in dem Syſteme Leſſing's (dem Monadismus) begründet. Immer aber geht der Gedanke durch: alle und jede ſind beru⸗ fen: nur „der früher, der ſpäter.“ „Warum ſollte ich nicht ſo oft wiederkommen, als ich neue Kenntniſſe, neue Fertigkeiten zu erlangen geſchickt bin? Bringe ich auf Einmal ſo viel weg, daß es der Mühe wiederzukommen etwa nicht lohnet?“ ($. 98.)

Oben ſagten wir: die dialectiſche Wiwegung der Er⸗ gung des Menſchengeſchlechts iſt die (analytiſche) von der hiſtoriſchen Formel zur metaphyſiſchen. Dieſe Bewe⸗ gung würde aber ein Sprung heißen, wenn ſie durch eine bloße redneriſche Wendung bewerkſtelligt würde; oder es wäre nichts wirklich Dialectiſches dabei. Es findet in der That eine Vermittelung und ein Uebergang der Art ſtatt, daß die Keime und Anlagen in jeder Stufe gegen die nächſt vollkommnere, in Bezug auf Speculation und Moral, nach⸗ gewieſen werden; alſo z. B. die Lehre von der Unſterb⸗ lichkeit der Seele, dem Keime nach, ſchon im alten Teſta⸗ mente, und das ſpeculative Chriſtenthum, das Chriſten⸗ thum der Vernunft, in dem neuen Teſtamente. Dadurch bekommt das Ganze erſt den rechten Zuſammenhang, die rechte Einheit.

Was das alte Teſtament betrifft, fo will ich hier wie⸗ der nur den Bezug auf das vierte Fragment des Unge⸗ nannten hervorheben, als kritiſch von einer beſondern Er⸗ heblichkeit. Wir haben es ſchon bei dem Paragraphen über Warburton erkannt; wir finden das nemliche in Be⸗ zug auf die Unſterblichkeit der Seele, in den $$. 43—46;

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daß es an Vorübungen, Anfpielungen und Fin⸗ gerzeigen auf den Glauben daran im alten Teſtamente nicht fehle. Dies geht, wie geſagt, gegen den Frag⸗ mentiſten, welcher (a. a. O. S. 405.) den Schriftſtellern alten Teſtaments Schuld giebt, daß fie die Unſterblichkeit der Seele nicht nur nicht lehrten, ſondern ſie noch aus⸗ drücklich leugneten. Neuere Ausleger hätten einer Menge von Stellen in dieſer Beziehung Gewalt angethan. Er geht zu dem Ende ſolche Stellen kritiſch durch. Zum Beſchluſſe verweilt er bei der Unterredung Jeſu mit den Sadducäern (S. 433 36.). „Jeſus, ſchreibt er, würde ſich gegen jene Leute außer Zweifel auf einen ſolchen Ort alten Teſtaments bezogen haben, wäre er irgend zu finden geweſen. So aber bringt Jeſus keinen Ort der Schrift hervor, wo die Sache ausdrücklich geſagt wird, ſondern nur einen Spruch, woraus es ſoll geſchloſſen werden, und zwar nicht eher kann geſchloſſen werden, als wenn man erſt den buchſtäblichen Verſtand verläßt. Es iſt der Ort, da Gott ſagt: Ich bin der Gott Abrahams, Iſaacs und Jacobs, woraus Jeſus folgert: Gott aber iſt nicht ein Gott der Todten, ſondern der Lebendigen; und will damit den Schluß in die Gedanken bringen, als leben Abraham, Iſaae und Jacob“ u. ſ. w. Gegen dieſe Rede geht, das iſt nicht zu verkennen, der $. 46. der Erziehung des Menſchengeſchlechts direct: „Einen Fin⸗ gerzeig nenne ich, was ſchon irgend einen Keim enthält, aus welchem ſich die noch zurückgehaltene Wahrheit ent⸗ wickeln läßt. Dergleichen war Chriſti Schluß aus der Benennung „Gott Abrahams, Iſaacs und Jacobs.“ Die⸗ ſer Fingerzeig ſcheint mir allerdings in einen ſtrengen Be⸗ weis ausgebildet zu werden. Dieſes allerdings kann befremden; denn aus dem Vorhergehenden läßt es ſich

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nicht erklären. Es überraſcht den Leſer noch mehr, wie die plötzliche Wendung im F. 24.: „So weit hätte War⸗ burton auch nur gehen müſſen und nicht weiter.“ Wir werden auf den Gedanken geleitet, daß Leſſing bei der Abfaſſung der Erziehung des Menſchengeſchlechts noch nicht den Vorſatz gehabt, ſowohl ſich ſelbſt, als den polemi⸗ ſchen Bezug zu dem Fragmentiſten zu verleugnen und zu verſtecken, weil er ſonſt nicht dieſe Vertrautheit mit ge⸗ wiſſen Stellen des vierten Fragments bei dem Leſer vor⸗ ausgeſetzt hätte *).

) Der Bekanntſchaft Leſſing's mit dem Manuſcripte von Reimarus iſt überhaupt ein großer und weſentlich anregender An⸗ theil an der Epoche feines philoſophiſchen Denkens und Schaf⸗ fens, welche um 1770 beginnt, zuzuſchreiben. Nach 1768, als er in Hamburg war, ſchrieb er ſcherzend an Ebert, welcher Jor⸗ din's Abhandlungen über die Wahrheiten der chriſtlichen Religion, anonym, überſetzt hatte (Lachmann XII. 207.) : „Noch könnte ich Ihnen melden, daß unſer Freund Ebert den Jordin überſetzt, wovon er mir bei ſeinem Hierſein nicht ein Wort geſagt hat. Ich will ihm gern jede Ueberſetzung als ein eignes Werk anrech⸗ nen; aber nur von der Religion müßte es nicht handeln. Das pro und contra über dieſen Punkt habe ich eines ſo ſatt, wie das andere. Lieber ſchreibt von geſchnittnen Steinen, ihr werdet ſicherlich wenig Gutes, aber auch wenig Böſes ſtiften!“ In der kurzen Zwiſchenzeit bis zu ſeinem Abgange nach Wol⸗ fenbüttel, 1770, hatte er bei der Familie Reimarus das Manu⸗ ſeript in Rede kennen gelernt; er brachte eine Abſchrift nach Wol- fenbüttel mit, und vertraute ſie noch in demſelben Jahre Men⸗ delsſohn nach Berlin (vergl. die Ahhandlung: Zur Vergleichung mit den Wolfenbüttelſchen Fragmenten, in meinem Buche: Das Heptaplomeres von Jean Bodin. Berlin 1841.). Wie ſticht jetzt der ernſthafte Ton in dem Schreiben an Mendelsſohn vom 9. Jan.

1771. (XII. 281.) über Ferguſon's Essay on civil society und

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Was das neue Teſtament anlangt, hatte Leffing den ſiche⸗ ren hiſtoriſchen Boden nicht, wie bei dem alten, bei deſſen dia⸗ lectiſcher Betrachtung er an der chriſtlichen Kirche und Moral

das Manufeript des Ungenannten von dem wenig ältern Briefe an Ebert ab! „Wenn man lange nicht denkt, ſchreibt er, ſo kann man am Ende nicht mehr denken. Iſt es aber auch wohl gut, Wahrheiten zu denken, ſich ernſtlich mit Wahrheiten zu beſchäftigen, in deren beſtändigem Widerſpruche wir nun ſchon einmal leben, und zu unſrer Ruhe beſtändig fortleben müffen? Und von dergleichen Wahrheiten ſehe ich in dem Engländer ſchon manche von weitem. Wie auch ſolche, die ich längſt für keine Wahrheiten mehr gehalten. Doch ich beſorge es nicht ſeit ge⸗ ſtern, daß, indem ich gewiſſe Vorurtheile weggeworfen, ich ein wenig zu viel mit weggeworfen habe, was ich werde wiederholen müſſen. Daß ich es zum Theil nicht ſchon gethan, daran hat mich nur die Furcht verhindert, nach und nach den ganzen Un⸗ rath wieder ins Haus zu ſchleppen. Es iſt unendlich ſchwer, zu wiſſen, wenn und wo man bleiben ſoll, und Tauſenden für Ei⸗ nen iſt das Ziel ihres Nachdenkens die Stelle, wo ſie des Nach⸗ denkens müde geworden. Ob dieſes nicht auch manchmal der Fall unſers Ungenannten geweſen, will ich nicht ſo geradezu leug⸗ nen. Nur Unbilligkeit möchte ich nicht gern auf ihn kommen laſ⸗ ſen.“ Der denkende Leſer findet in dieſen Worten die Keime von Leſſing's nachherigem doppelten Verhalten zu den Fragmen⸗ ten: von deſſen Widerlegung und Berichtigung in den Gegenſätzen und der Erziehung des Menſchengeſchlechts, und andrerſeits zu deſſen Vertheidigung in der Duplik und den Anti⸗Göze'n. Jetzt leſe man noch G. E. L. Bibliolatrie. Erſter hiſtoriſcher Abſchnitt. (Aus Leſſing's Nachlaſſe Lachmann XI. 542.), wo er erklärt, daß und warum die Bücher für und wider die chriſtliche Religion ſtets eine entgegenſetzte Wirkung auf ihn gemacht, als die Verfaſſer beabſichtigten; was „von einer bloßen Antiperiſtaſts, von einer natürlichen Gegenwirkung unſrer Seele, die mit Ge⸗

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einen Rückhalt hatte; ſondern er mußte ſich an die Speculation allein halten, um Keime ſpeculativer theologiſcher Begriffe in dem chriſtlicheu Symbolum nachzuweiſen, ſofern dies ſich auf den Text des neuen Teſtaments ſtützt. Hier fühlte er ſich aber doppelt gebunden: erſtlich, weil er fein wahres ontologi⸗ ſches Syſtem (nach dem „Chriſtenthum der Vernunft“) nur ſtreifen durfte, ohne es im Zuſammenhange vorzutragen, und dann, weil er auch nicht das Syſtem der chriſtlichen Glaubenslehre vollſtändig zu behandeln hatte, wo ein Dogma auf das andere Licht wirft und wiederum von ihm em⸗ pfängt. Deshalb auch hat Leſſing jene Sätze über die Dreieinigkeit, die Erbſünde und die Genugthuung des Soh⸗ nes nur beiſpiels⸗ oder lehnsweiſe und in flüchtiger Skizze ($. 73—75.) eingeſchaltet, was der Plan der Schrift ihm allerdings erlaubte. Nur muß man Leſſing nicht nach dieſen Skizzen als ſpeculativen Dogmatiker beurtheilen, oder man thut ihm Unrecht; eine Bemerkung, zu welcher wir durch Urtheile von Schelling und von Strauß, jedem in einer andern Beziehung, uns veranlaßt finden. Schelling) hat Leſſing's Erörterung der transcendenta⸗ len Einheit Gottes, als welche eine Mehrheit nicht aus⸗ ſchließe, in dem $.73., zwar „das Speculatioſte, das Lef⸗ ſing überhaupt geſchrieben“ genannt; jedoch mit der Ein⸗ ſchränkung: „es fehle Leſſing's Anſicht an der Beziehung dieſer Idee (der Dreieinigkeit) auf die Geſchichte der Welt, oder daran, daß ſie als den ewigen, aus dem Weſen aller Dinge gebornen Sohn Gottes nicht das Endliche ſelbſt

walt ihre Lage ändern ſoll, nicht herkam; folglich mit an der Art liegen mußte, mit der jeder ſeine Sache vertheidigte.“

) Vorleſungen über die Methode des akademiſchen Studiums. S. 184.

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begreife, wie es in der ewigen Anſchauung Gottes iſt, und als ein leidender, den Verhängniſſen der Zeit unterwor⸗ fener Gott erſcheint.“ Hier iſt das dem $. 73. geſpendete Lob ebenſo wenig gegründet, als die ihm hinzugefügte Ein⸗ ſchränkung. Denn kurz, die Darlegung der Dreieinigkeit in dem Fragment: das Chriſtenthum der Vernunft, iſt viel ſpeculatiber, als die unvollſtändige Art, wie das Pro⸗ blem im F. 73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts er⸗

blickt wird, und iſt zugleich wirklich von jener Einſchrän⸗

kung frei. In dieſer Hinſicht hat auch bereits Strauß Leſſingen gegen Schelling, mit Hinweiſung auf das ge⸗ nannte Fragment (das Schelling nicht gekannt haben muß) vertheidiget. Daß Schelling in dem Plane der gan⸗ zen Schrift nichts Speculatives erkannt haben muß, weil er, wie Jacobi, den $. 73. iſolirt davon betrachtet, geht zu gleicher Zeit hervor. Er wäre ſonſt von der Ver⸗ wandtſchaft dieſes großen Vorgängers freudig überraſcht worden. Uebrigens aber deutet ſchon der $. 75. über die Lehre von der Genugthuung des Sohnes, auf ein imma⸗ nentes Verhältniß des Sohnes Gottes d. h. Gottes, zur Endlichkeit. Gott, heißt es, habe dem Menſchen verzei⸗ hen wollen, in Rückſicht auf ſeinen Sohn d. h. in Rück⸗ ſicht auf den „ſelbſtſtändigen Umfang aller ſeiner Voll⸗ kommenheiten, gegen den und in dem jede Unvollkom⸗ menheit des Einzelnen verſchwindet.“

Strauß andrerſeits hat in der chriſtlichen Glaubens⸗ lehre bei dem Abſchnitt von der Dreieinigkeit (S. 486.) zwar für die Einſicht und Würdigung von Leſſing's An⸗ ſicht die erſten 12 Paragraphen von dem „Chriſtenthum der Vernunft“ zu Grunde gelegt, ja wörtlich im Texte angeführt; aber in einer Anmerkung mit zwei Wor⸗ ten auf den $. 73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts

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zum Vergleiche hingewieſen, wo das Nemliche, durch „eine Art von onthologiſchem Beweis“ unterſtützt, enthalten ſei. Man ſoll denn doch auch nach ihm nicht glauben, daß zwiſchen der Deduetion der Dreieinigkeit in dem Chriſtenthum der Ver⸗ nunft und in dem $.73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts ein wirklicher Unterſchied obwalte, ungeachtet der Berich⸗ tigung des Urtheils Schelling's über Leſſing; und ſo muß wirklich Beides für Eins gelten in der Kritik, welche der Verfaſſer über die von ihm zuſammengeſtellten Arten der Deductionen der Trinität, von Leſſing, Schelling und He- gel gemeinſchaftlich fällt, mit den Worten: „Dieſe Con⸗ ſtructionen der Dreieinigkeit aus dem menſchlichen Bewußtſein haben alle den Fehler, daß ſie Gott als vorſtellenden Geiſt ſchon vorausſetzen, welche Daſeinsform des Geiſtes doch erſt in Folge der Entäußerung des Ab⸗ ſoluten an die Welt eintreten kann.“ Ohne mich weder auf die Paralelle Leſſing's mit Schelling und Hegel, noch auf den allgemeinen, philoſophiſch⸗theologiſchen Standpunkt des Verfaſſers einzulaſſen, will ich nur auf einen weſent⸗ lichen Unterſchied der beiden Deductionen Leſſing's in dem Chriſtenthum der Vernunft und dem $. 73. der Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts hinweiſen, vermöge deren die Kritik von Strauß wenigſtens nicht beide in nemlicher Weiſe treffen kann. Wenn Leſſing in dem erſtern Frag⸗ mente eine vollſtändige ontologiſche Deduction der Drei⸗ einigkeit, Gott Vater, Sohn und heiliger Geiſt verſucht hat, fo hat er dagegen in dem $. 73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts nichts weiter gewollt, als zeigen, daß ſelbſt von dem Standpunkt der gemeinen Pſychologie und Logik, oder auch des Wolfianis mus, die transcen⸗ dentale Einheit Gottes ſich von der Einheit endlicher Dinge unterſcheide, und eine Mehrheit überhaupt

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nicht ausſchließe, und dies vermöge einer blos logiſchen Reflexion über den Begriff der vollſtändigſten und abſo⸗ luten Vorſtellung, welche ein Weſen von ſich ſelbſt hat. Die ſpeculative Deduction der vollſtändigen Trinität iſt zwar ontologiſch, die Definition der transcendentalen Einheit aber in dem §. 73. der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts iſt es nicht, wenn gleich Strauß die Sache um⸗ gekehrt vorſtellt. Die Tendenz iſt beidemal auch weſent⸗ lich verſchieden. In dem Chriſtenthum der Vernunft wird das Dogma nach ſeiner Subſtanz beibehalten, und nur ontologiſch conſtruirt; dagegen nach der Erziehung des Menſchengeſchlechts ſoll die kirchliche Lehre von der Drei⸗ einigkeit den Chriſten nur darauf führen, den Begriff Gottes überhaupt zu erweitern, gemäß der Stellung, welche in dem ganzen Aufſatze die Offenbarung zur Vernunft erhalten hat. Dies lehrt ja deutlich der Eingang des F. 73.: „Z. E. die Lehre von der Dreieinigkeit. Wie, wenn dieſe Lehre den menſchlichen Verſtand, nach unend⸗ lichen Verirrungen rechts und links, nur endlich auf den Weg bringen ſollte, zu erkennen, daß Gott in dem Verſtande, in welchem endliche Dinge eins ſind, unmöglich eins ſein könne; daß auch ſeine Einheit eine transcendentale Einheit ſein müſſe, welche eine Art von Mehrheit nicht ausſchließt?“ Leſſing will, wie ge⸗ ſagt, nur den Begriff der damals ſo genannten natürli⸗ chen Religion von Gott erweitern, ſeine eigne ſpecula⸗ tive Dogmatik bei Seite laſſend, in Leibnitzens Geiſte, von dem er (Leibnitz von den ewigen Strafen) rühmt: „Er ſetzte willig ſein Syſtem bei Seite, und ſuchte einen Jeden auf demjenigen Wege zur Wahrheit zu führen, auf welchem er ihn fand.“ Ich habe vorhin ſchon die Be⸗ merkung gemacht, daß in der erſten Hälfte der Erziehung

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des Menſchengeſchlechts im $. 14. auf den $. 73. vorbe⸗ reitet wird, indem es heißt: „Aber wie weit war dieſer Begriff des Einigen noch unter dem wahren transcen⸗ dentalen Begriff des Einigen, welchen die Vernunft ſo ſpät erſt aus dem Begriffe des Unendlichen mit Sicher⸗ heit ſchließen lernen!“ Welches dieſer wahre transcenden⸗ tale Begriff ſei, das ſagt er an dieſer Stelle noch nicht das erklärt er erſt im $. 73. Daher ſchrumpft hier die kirchliche Dreinigkeit, jo zu ſagen, zu einer philoſophi⸗ ſchen Zweieinigkeit zuſammen: die Verdoppelung in Gott, vermöge „der vollſtändigſten Vorſtellung“ von ſich ſelbſt, welche „nothwendig wirklich“ ſei, ſei von der Art, daß „diejenigen, welche die Idee davon populär machen wol⸗ len, ſich ſchwerlich faßlicher und ſchicklicher hätten aus⸗ drücken können, als durch die Benennung eines Sohnes, den Gott von Ewigkeit zeugt.“ Der Kern der ganzen Betrachtung iſt, abgeſehen von der Beziehung zu der Tendenz der Erziehung des Menſchengeſchlechts, nichts als eine logiſche Analyſe des Begriffs des Selbſtbewußt⸗ ſeins oder der Reflexion mit Bezug auf ein abſolutes, ein unendliches Weſen, ohne über dieſes Weſen ſelbſt ir⸗ gend eine concrete Beſtimmung auszuſagen; alſo auch ohne eine concrete Beziehung dieſes Weſens auf die Welt end⸗ licher Dinge, was Schelling ſo aufgefallen iſt. Noch ein⸗ mal, es iſt der Standpunkt der ältern Vernunftreligion, nicht der der chriſtlichen Dogmatik, welche dabei ganz zur Seite bleiben kann. Der Beweis iſt, daß man dieſen Kern des F. 73., ganz rein für ſich, in dem kurzen Aufſatze aus Leſſing's Nachlaß, mit der, ohne Zweifel von Karl Leſ—⸗ ſing herrührenden Ueberſchrift: Ueber die Wirklichkeit der Dinge außer Gott (Leſſing's Leben II. 164. Lachmann XI. 111.) wiederfindet. Es ſteht zuſammen mit dem

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Concepte von Leſſing's Briefe an Mendelsſohn aus Bres⸗ lau (ſ. oben S. 48.) gegen des letztern Auslegung der präſtabilirten Harmonie von Leibnitz; und der beiden ge⸗ meinſchaftliche Titel: Spinoziſterei paßt auf das eine fo wenig wie auf das andere. Von beiden ſagt K. Leſ⸗ fing (S. 93.): „Sie find an Moſes Mendelsſohn gerich⸗ tet.“ Von dem einen, dem Concepte zu dem Briefe, iſt es bewieſen; von dem andern iſt es wenigſtens ſehr wahr⸗ ſcheinlich, ungeachtet oder vielmehr wegen der Ueberein⸗ ſtimmung des Inhalts mit dem $. 73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts, weil ja Leſſing Jacobi'n auf die Frage, ob er Mendelsſohn ſein Syſtem nicht mitgetheilt, geant⸗ wortet: „einmal nur habe er ihm ungefähr daſſelbe ge⸗ ſagt, was im §. 73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts ſtehe, Mendelsſohn habe ihn aber nicht verſtanden, und er habe den Gegenſtand fallen laſſen.“ Daß es Spino⸗ zismus geweſen, das ſpukte nur in dem Kopfe Jacobi's. Jener Aufſatz iſt nun der wirkliche und vollſtändige Kommen⸗ tar zu dem berühmten 73. Paragraphen“). Wohl find die

*) Im F. 73. heißt es: „Muß Gott wenigſtens nicht die vollſtändigſte Vorſtellung von ſich ſelbſt haben? d. h. eine Vor⸗ ſtellung, in der alles ſich befindet, was in ihm ſelbſt iſt. Würde ſich aber alles in ihr finden, was in ihm ſelbſt iſt, wenn auch von ſeiner nothwendigen Wirklichkeit, ſo wie von ſeinen übrigen Eigenfchaften fich blos eine Vorſtellung, fich blos eine Mög⸗ lichkeit fände? Dieſe Möglichkeit erſchöpft das Weſen ſeiner übrigen Eigenſchaften u. ſ. w. Folglich kann entweder Gott gar keine voll⸗ ſtändige Vorſtellung von ſich ſelbſt haben: oder dieſe vollſtändige Vorſtellung iſt ebenſo nothwendig wirklich, als er es felbft iſt u. ſ. w.“ (Dies u. ſ. w. ſteht im Text.) So heißt es in dem ge⸗ nannten Aufſatze: „Man ſage: die Wirklichkeit eines Dinges ſei der Inbegriff aller möglichen Beftimmuns.

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Begriffe: Möglichkeit und Wirklichkeit ontologiſche, doch, wohlgemerkt, in dem Wolfiſchen Syſteme, welches, wie man zugiebt, in ſeinen Beweiſen über Gott und die Unſterblichkeit der Seele die Logik des raiſonnirenden Ver⸗ ſtandes für Ontologie nahm, und daher mit der Meta— phyſik ſo geſchwind fertig wurde. Möglichkeit und Wirk⸗

gen, die ihm zukommen können. Muß nicht dieſer Inbe⸗ griff auch in der Idee Gottes ſein? Welche Beſtimmung hat das Wirkliche außer ihm, wenn nicht auch das Urbild in Gott zu finden wäre? Folglich iſt dieſes Urbild das Ding ſelbſt; und fagen, daß das Ding auch außer dieſem Urbild exiſtire, heißt, deſ—⸗ fen Urbild auf eine ebenſo unnöthige als ungereimte Weiſe ver⸗ doppeln. Ich glaube zwar, die Philoſophen ſagen, von einem Dinge die Wirklichkeit außer Gott bejahen, heiße weiter nichts, als dieſes Ding blos von Gott unterſcheiden, und deſſen Wirk⸗ lichkeit von einer andern Art zu ſein erklären, als die nothwen⸗ dige Wirklichkeit Gottes iſt. Wenn ſie aber blos dieſes wollen, warum ſollen nicht die Begriffe, die Gott von den wirklichen Dingen hat, dieſe wirklichen Dinge ſelbſt ſein? Sie ſind von Gott noch immer genugſam unterſchieden, und ihre Wirklichkeit wird darum noch nichts weniger als nothwendig, weil fie in ihm wirk⸗ lich ſind. Denn müßte nicht der Zufälligkeit, die ſie außer ihm haben ſollte, auch in ſeiner Idee ein Bild entſprechen? Und die⸗ ſes Bild iſt nur ihre Zufälligkeit ſelbſt. Was außer Gott zu⸗ fällig iſt, wird auch in Gott zufällig ſein, oder Gott müßte von dem Zufälligen außer ihm keinen Begriff haben. Ich brauche dieſes außer ihm, ſo wie man es gemeiniglich zu brauchen pflegt, um an der Anwendung zu zeigen, daß man es nicht brauchen ſollte. Aber, wird man fchreien: Zufälligkeiten in dem unver: änderlichen Weſen Gottes annehmen! Nun? bin ich es al— lein, der dieſes thut? Ihr ſelbſt, die ihr Gott Begriffe von zus fälligen Dingen beilegen müßt, iſt euch nie beigefallen, daß Be: griffe von zufälligen Dingen zufällige Begriffe find?“ Erziehung des M.⸗G. 6

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lichkeit bedeuten hier nichts mehr und nichts weniger als Merkmale des logiſchen Begriffs; und Leſſing's Bemühen und, will man, Verdienſt beſtand eben darin, daß er ſelbſt Wolfianer und Deiſten von ihrem eignen Standpunkt aus zu einer dialektiſchern Idee der transcendentalen Ein⸗ heit Gottes hinüberführen wollte. Wie ihm nun in dem Aufſatze „über die Wirklichkeit der Dinge außer Gott“ die Wolfiſche Ontologie zum Vehikel der Dialektik diente, jo. benützte er im F. 73. der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts das kirchliche Dogma der Dreieinigkeit dazu. Allerdings liegt beidemale die ſpeculative Anſicht von Gott und der Welt, wie fie das Syſtem Lefſing's ent⸗ hält, im Hintergrunde; eben aber weil fie blos im Hin⸗ tergrunde liegt, war es den, von Vorurtheil eingenomme⸗ nen Leſern leicht, ſich den Vordergrund beliebig auszulegen: Jacobi mit ſeinem Spinozismus, Mendelsſohn mit ſeinem „geläuterten Pantheismus,“ Mendelsſohn, welcher, bei den meiſten und ſcheinbar gegründetſten Anſprüchen, Leſſingen als Philoſophen am wenigſten begriffen hat; nicht bei deſſen Leben, was wir von Leſſingen ſelbſt (gegen Jacobi) wiſſen; noch weniger aber nach deſſen Tode, was die ge⸗ ringſchätzige Art, wie er in den Morgenſtunden über die Erziehung des Menſchengeſchlechts und zwar vornemlich wegen des §. 73., „wie über glühende Kohlen“ nach Ja⸗ cobi's Ausdruck hinweggeht, fattſam beweiſt “). Um aber

) Leſſing hatte ſchon in einer frühern Periode feines Lebens eine und zwar ſcholaſtiſche Erklärung der Trinität verſucht, an welche ihn Mendelsſohn im Jahre 1773, auf Anlaß von Leſſing's Aufſatz: „Des Andreas Wiſſowatius Einwürfe wider die Drei⸗ einigkeit“ im II. Stück der Beiträge, erinnerte, und worauf Leſ⸗ fing ihm den 1. Mat 1774 (XII. 417.) antwortete: „Meiner

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auf Strauß zurückzukommen, ſo wäre ſo viel ausgemacht, daß ſein Urtheil über Leſſing's Beweis der Dreieinigkeit unmöglich die ganz verſchiedenen Darſtellungen in dem Chri⸗ ſtenthum der Vernunft und in der Erziehung des Men- ſchengeſchlechts auf gleiche und die nemliche Weiſe treffen könne; ob überhaupt die eine von beiden und welche von beiden, dürfte ich dahingeſtellt ſein laſſen, weil ich auf die⸗ ſen Blättern nur der Ausleger von Leſſing, und zwar in Bezug auf ihn ſelbſt und nicht auf die Urtheile Dritter, zu ſein mich beſchränke. Nur ſcheint mir, daß ſte auf keine recht paßt: nicht auf das Chriſtenthum der Vernunft, weil ich keine bloße „Conſtruction aus dem menſchlichen Bewußtſein“ dort finden kann; „vorſtellen“ ift dort in einem transcendentalen Sinne genommen, als identiſch, ununter⸗ ſchieden von Wollen und Schaffen: §. 3. „Vorſtellen, Wollen und Schaffen iſt bei Gott eins,“ und §. 13. „Je⸗

ehemaligen Grillen über dieſen Gegenſtand erinnere ich mich wohl, und ebenſowohl auch deſſen, was Sie mir damals darauf ant⸗ worteten, und worauf ich anf einmal abgebracht ward, weiter für mich ſelbſt im Ernſt daran zu denken.“ In Bezug darauf will Mendelsſohn ſogar das Fragment „das Chriſtenthum der Ver⸗ nunft“ in Leſſing's Jugendperiode zurückſetzen (was keine be⸗ ſondere Widerlegung verdient), und ſchreibt endlich über dieſe Argumentation (Morgenſtunden S. 274.) : „Sie iſt zwar, wie ich mich erinnere, aus einem jugendlichen Aufſatze, davon er mir das Weſentlichſte gleich zu Anfange unſrer Bekanntſchaft vorge— leſen. Allein ſie zeigt Ihnen doch wenigſtens die Wendung, die er ſchon ſo früh dieſer Speculation zu geben wußte, und wo mir recht iſt, ſo trägt eine kleine Schrift, die er kurz vor ſeinem Tode herausgegeben, nicht undeutliche Spuren von eben derſelben Denkungsart.“ So hat Mendelsſohn die Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts aufgenommen!

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der Gedanke iſt bei Gott eine Schöpfung.“ Die Begriffe: Vorſtellen, Gedanke, Betrachtung ſtehen im Eingange blos dialetkiſch da, um uns zu dem abſoluten Begriffe der göͤtt⸗ lichen Thätigkeit überhaupt zu erheben. Daß das Vor⸗ ſtellen und Denken in Leſſing's Syſtem nicht das Prius iſt, auch bei den Geſchöpfen nicht, wie viel weniger in dem abſoluten, unendlichen Weſen, lehrt uns das Fragment von den fünf Sinnen. Hier kommt uns eine ſpeculative, von Jacobi aufbewahrte Aeußerung Leſſing's, in dem Briefe an Mendelsſohn, zu Hülfe. „Es gehört zu den menſch⸗ lichen Vorurtheilen, ſagte Leffing, daß wir den Gedanken als das erſte und vornehmſte betrachten, und aus ihm al⸗ les herleiten wollen; da doch alles, die Vorſtellungen mit einbegriffen, von höhern Principien abhängt. Aus⸗ dehnung, Bewegung und Gedanke ſind offenbar in einer höhern Kraft gegründet, die noch lange nicht damit erſchöpft iſt. Sie muß unendlich vortrefflicher ſein, als dieſe oder jene Wirkung; und ſo kann es auch eine Art des Genuſſes für ſie geben, die nicht allein alle Begriffe überſteigt, ſondern völlig außer dem Begriffe liegt. Daß wir uns nichts davon denken können, hebt die Möglichkeit nicht auf.“ Dies erſchien dem guten Mendelsſohn als eine luſtige Paradorie Leſſing's, wie er ſich ausdrückt, als „einer von ſeinen Luftſprüngen, mit welcher er Miene machte, gleichſam über ſich ſelbſt hinauszuſpringen;“ ein Wort, das Jacobi ſehr witzig fand. Ein Denker, wie Strauß, wird ſich, ohne weitern Kommentar, das Seine dabei herausnehmen. Was jedoch ſeine erwähnte Kritik betrifft, ſo könnte ſie eher auf die Explication der trans⸗ cendentalen Einheit Gottes im §. 73. der Erziehung des Menſchengeſchlechts bezogen werden, inſofern das Vehikel von der formalen Logik, alſo dem empiriſchen menſchlichen

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Bewußtſein und Denken hergenommen iſt; wenn nur nicht hier der Wurf über das Ziel hinaus träfe, da, wie ge⸗ zeigt iſt, Leſſing dort gar nicht Willens war, die kirchliche Dreieinigkeit als ſolche, beizubehalten, und ſpeculativ zu conſtruiren. Wir können ſchließlich den Gang, den Leſſing in der frühern Periode feines Lebens eingeſchla⸗ gen, die Trinität zu deduciren, aus dem erwähnten Schrei⸗ ben Mendelsſohn's an ihn, vom 1. Febr. 1774 (XIII. 496.) entnehmen und, zur Vergleichung mit ſeiner ſpätern Speculation, in Betracht ziehen. Da heißt es: „Für Ihr intelligibile, intelligens und intellectus werden ſich die Herren höflichſt bedanken. Sie müſſen unter Ihren ju⸗ gendlichen Aufſätzen noch einen ſinden, worin Sie dieſe Dinftinetion mit vielem Scharfſinne auseinandergeſetzt ha⸗ ben. Unſre Cabbaliſten haben auch ein Principium ema- naticum, emanans und emanatum“ ). Leſſing's Er⸗ wiederung darauf kennen wir ſchon.

Den Ungenannten und das Verhältniß Leſſing's zu ihm haben wir über dieſe Erörterung der transcendenta⸗

*) Mendelsſohn ſchließt mit folgender Anekdote: „Man er⸗ zählet ſich, daß einſt ein Chriſt einem Juden dadurch die Drei⸗ einigkeit habe beweiſen wollen. Der Jude hatte zu gleicher Zeit 3 Diüukaten zu bezahlen und gab dem Chriſten nur einen, zeigte ihm aber erſt die Bildſeite, dann die Schildſeite und endlich den Rand. Dieſes ſind ſo gut 3 Dukaten, ſprach er, als Ihre 3 Principia 3 Perſonen find.“ Leſſing entgegnete in feiner Ant⸗ wort (a. a. O.): „Der Jude gefällt mir auch itzt gleichwohl doch nicht, welcher in dem Geiſte dieſes Geheimniſſes einen Dukaten für drei bezahlen wollte. Ich würde mir den Juden loben, der ſich von einem armen Teufel von Chriſten ſo bezahlen ließe. Ich bin Dir, Freund, ſagt der Chriſt, 3 Dukaten ſchuldig; hier ſind ſie! Sind das 3 Dukaten? ſagt der Jude; das iſt ja nur

= Be

len Einheit Gottes im F. 73. der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts faſt aus den Augen verloren; gleichwohl geht dieſe Beziehung durch das Ganze und wirft ihr Licht darauf, ſo wie fie von der Sache ſelbſt Licht wieder empfängt. Denn Reimarus war, wie bekannt, eifriger Wolfianer; und Leſſing merkte es vor dem erſten Trage mente: von Duldung der Deiſten, an, daß „der Verfaſſer durchgängig aus Wolfiſchen Grundſätzen philoſophire; und blieb dabei (im Neunten Anti⸗Göze), gegen Maſcho, daß jenes Fragment „ganz auf Wolfiſche Definitionen gegrün⸗ det ſei; wenn in allem Uebrigen die ſtrenge mathematiſche Methode weniger ſichtbar fei, fo habe ja wohl die Ma⸗ terie mit Schuld, die ihrer nicht fähig war.“ Leſſing iſt alſo auch hier, wie überall, von dem Standpunkte des je⸗ nigen, den er widerlegen wollte, ausgegangen. Bei dem §. 74., über die Lehre von der Erbfünde, läßt ſich wie⸗ der ſogar die Stelle nachweiſen, welche Leſſing im Auge hatte, nemlich den §. 6. des erſten Fragments: von Ver⸗ ſchreiung der Vernunft auf den Kanzeln (Beiträge II. S. 281.) *). Er hat in dem $. 74. in wenige Zeilen

einer. Aber ſchon gut, gieb nur her: Du biſt mir auch nur ei⸗ nen ſchuldig, Freund der Jude iſt bezahlt, und der Chriſt hat bezahlt: was ſollen fie noch um Ziffern zanken?“

) „Wenn die Verdrehung der angeregten Schriftörter etwa nicht mehr helfen ſollte, dem Gehorſam eines blinden Glaubens, zum Nachtheil der gefunden Vernunft, zu autorifiren: fo muß der klägliche Sündenfall der erſten Eltern und das dadurch auf uns gebrachte Verderben unſrer Naturkräfte die Sache unter⸗ ſtützen. Es wäre nach dieſem Syſtem eine gewaltige Ver⸗ änderung in der Natur des menſchlichen Geſchlechts vorgegangen, und auch unſre edelſte Naturkraft, die Vernunſt, a in geiftlichen Dingen, ſehr verdorben.“ 8

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das zuſammengezogen, was er in den „Gegenſätzen“ zu den Fragmenten ausführlich und mit denſelben Worten vor⸗ trägt. Er giebt (wie durchweg) dem Verfaſſer nur zur Hälfte Recht, und ſo Recht, daß ſchon in dieſem halben Recht ſein Unrecht mit enthalten iſt (X. 14.) „Er mag immerhin ſehr Recht gegen die armſeligen Homileten ha⸗ ben, welche zu dem kläglichen Sündenfalle der erſten El⸗ tern ihre Zuflucht nehmen, eine Sache zu beweiſen, die dieſes Beweiſes gar nicht bedarf. . .. Aber wie es nicht wahr iſt, daß daraus ein nachheriges Verderben der menſchlichen Vernunft zu folgern: ſo ſcheinet mir doch auch Er nicht völlig eingeſehen zu haben, was darin liegt.. .. Denn über dieſes wird auch die Urſache darin angedeutet, wie und warum ihre Vernunft unwirkſam ge⸗ blieben. Mit einem Worte: die Macht unſrer ſinnlichen Begierden, unſrer dunkeln Vorſtellungen über alle noch ſo deutliche Erkenntniß iſt es, welche zur kräftigſten An⸗ ſchauung darin gebracht wird. Von dieſer Macht berichtet die Moſaiſche Erzählung entweder die erſte traurige Erfah⸗ rung, oder ertheilet das ſchicklichſte Beiſpiel. Factum oder Allegorie: in dieſer Macht allein liegt die Quelle aller un⸗ ſerer Vergehungen, die dem Adam, des göttlichen Ebenbil⸗ des unbeſchadet, ebenſowohl anerſchaffen war, als ſie uns angeboren wird. Wir haben in Adam alle geſündiget, weil wir alle fündigen müſſen: und Ebenbild Gottes noch genug, daß wir doch eben nichts anders thun, als ſündi⸗ gen; daß wir es in uns haben, jene Macht zu ſchwächen, und wir uns ihrer ebenſowohl zu guten als zu böſen Hand⸗ lungen bedienen können. Dieſer lehrreichen Auslegung we⸗ nigſtens iſt das ſo oft verhöhnte Mährchen Moſis ſehr fähig u. ſ. w.“ Dieſes iſt kurz, doch vollſtändig zuſammen⸗ gefaßt in dem §. 74. der Erziehung des M.⸗G. „Und

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die Lehre von der Erbſünde. Wie, wenn uns endlich alles überführte, daß der Menſch auf der erſten und nie⸗ drigſten Stufe ſeiner Menſchheit ſchlechterdings ſo Herr ſeiner Handlungen nicht ſei, daß er moraliſchen Geſetzen folgen könne?“

Von dieſem, wie von dem folgenden, ſchon beſproche⸗ nen Paragraphen, über die Lehre von der Genugthuung des Sohnes, läßt ſich wieder das Nemliche ſagen, wie von dem F. 73., nemlich, das fie die Tendenz haben, von dem Standpunkte des Rationalismus zu dem ſpeculativen Be⸗ griff des chriſtlichen Dogma, und zwar hier zu dem von der Sünde, blos hinüberzuführen. Mehr hat Leſſing, ver⸗ möge der Tendenz der Erziehung des Menſchengeſchlechts, nicht leiſten wollen und können. Nun könnten wir es zwar, wenn uns an dem Verſtändniſſe dieſer Schrift ver⸗ möge der ihr zu Grunde liegenden Idee und Tendenz aus ihr ſelbſt genügte, dabei bewenden laſſen; und die Grenze unſrer Betrachtung für erreicht anſehen. Allein ſofern wiederum das Unvollſtändige bei jenem ſo wichtigen Punkte über die Schrift hinaus, und eben dadurch auf den innern genetiſchen Zuſammenhang der Erziehung des M.⸗G. mit den in denſelben Kreis gehörigen Schriften hinweiſt, ſo erfordert es die Vollſtändigkeit unſrer Aufgabe, jetzt auch noch den Berührungspunkten der Erziehung des M.⸗G. mit jenen Schriften nachzugehen. Sie ſelbſt wird in ih⸗ rer Eigenthümlichkeit und wahrhaften Originalität dadurch in ein immer helleres Licht treten.

Die Lehre von der Sünde, ihrem Urſprung und ihren Folgen, von dem Verhältniſſe des Menſchen zu Gott und zur Welt aus dem Geſichtspunkte der Sünde iſt der Eck⸗ ſtein eines jeden philoſophiſchen und Religions-Syſtems; fie bildet das Problem der Theodicee. Man wird ge⸗

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ſpannt, wie Leſſing, welcher, durch die Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts, der Kämpe der Lehre der Perfectibilität, im Sinne eines Condorcet oder Saint⸗Simon, geweſen zu ſein ſcheint, die Sünde des Einzelnen mit dem Fortſchritte des Ganzen in der Welt im Einklange gebracht haben möge; ich füge hinzu: mit dem Ganzen der beſten Welt, welche Leſſing, mit und nach Leibnitz, für die erſte Wahr⸗ heit hielt, von welcher aus er ja in dem „Vorbericht des Herausgebers“ die Erziehung des Menſchengeſchlechts an- geſehen haben will, und von der er in dem Aufſatze, zu welchen wir ſo eben übergehen, ſagt: „Schlimm genug, daß man die Lehre von der beſten Welt noch immer ſeine (Leibnitzens) Lehre nennt“... Aber eben in der Erzie⸗ hung des M.⸗G. ſelbſt iſt ſchon der Punkt deutlich ange⸗ geben, wo die Löſung dieſes Problems einer Theodicee anknüpfen muß: nicht in den beiden §§. von der Erb⸗ fünde und der Genugthuung des Sohnes, denn da liegt nicht der ſpeculative Grundgedanke der ganzen Schrift, ſondern eben in dieſem und folglich in denjenigen Sätzen, wo er am hellſten zu Tage bricht, alſo in den letzten 89. Leſſing hat es dort zuerſt ausgeſprochen, daß die Welt⸗ geſchichte nicht in gerader, ſondern in krummer Linie ſich bewege. §. 91. 92. „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorſehung! Nur laß mich dieſer Unmerklichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn ſelbſt deine Schritte mir ſcheinen ſoll⸗ ten, zurückzugehen! Es iſt nicht wahr, daß die kürzeſte Linie immer die gerade iſt. Du haſt auf deinem Wege ſo viel mitzunehmen! ſo viel Seitenſchritte zu thun! Und wie? wenn es nun gar ſo gut als ausgemacht wäre, daß das große langſame Rad, welches das Geſchlecht ſeiner Vollkommenheit näher bringt, nur durch kleinere

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ſchnellere Räder in Bewegung geſetzt würde, deren jedes ſein Einzelnes eben dahin liefert?“ Hier wird deutlich, was wir aber ſchon a priori aus Leſſing's Prineipien ab⸗ geleitet haben, daß das Prototyp der Erziehung des Ge⸗ ſchlechts in der Erziehung des einzelnen Weſens, alſo in deſſen Freiheit, liege. In der franzöftfchen (von deutſchen Philoſophen jedoch adoptirten) Perfectibilitäts⸗Lehre iſt es gerade umgekehrt: da müſſen, in Leſſing's Sprache zu re⸗ den, die kleinern Räder dem großen Rade, welches das Geſchlecht ſeiner Vollkommenheit näher bringt, folgen, ſte mögen wollen und können oder nicht; das große Rad iſt ein kategoriſcher Imperativ und zugleich eine kategoriſche Execution der Weltgeſchichte; ein tyranniſcher Optimismus, welcher in ſeiner Einſeitigkeit und Abſtraction einen eben ſo, d. h. ebenſowenig berechtigten Peſſimismus und den Spott des Zweiflers hervorgerufen. Man kann aber die ganz moderne Theorie der Perfectibilität, welche die Lo⸗ ſung des heutigen philoſophirenden Frankreich abgiebt, mit allen ihren Folgerungen für die Zukunft der Menſch⸗ heit, umſtoßen: Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts bleibt beſtehen, weil ſie in ihrem Grunde auf einer ſpe⸗ culativen Idee der Natur ruht. Das Syſtem Leſſing's müßte derjenige umſtoßen, welcher die Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts von Grund aus widerlegen wollte. Die Skepſis, welche ſich gegen jene abſtracte, in ihrem Stre⸗ ben oft revolutionäre Perfectibilität erhoben, oder doch ſte als einen philanthropiſchen Traum belächelt hat, berührt Leſſingen nicht, ja findet wohl eher in ſeiner Erziehung des Menſchengeſchlechts ihre Rechtfertigung). Wenn nun

) Das diene uns zum Maaßſtab für die Beurtheilung der Wahrheit und Richtigkeit der Anekdote aus Böttiger's hand⸗

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3. B. auch die Schriften von Krug und Ammon über die Perfectibilität der geoffenbarten Religion jene abſtracte Theorie zur Vorausſetzung haben, ſo nimmt in dem Buche

ſchriftlichem Nachlaſſe (II. 19.), nach einer Unterredung, die die⸗ fer berühmte Gelehrte und Anekdotenträger zu gleicher Zeit, 1795, mit Eliſe Reimarus in Hamburg gehabt hat: „Zufällig kam ich in einer meiner Unterredungen darauf zu ſprechen, daß ich ſchon längſt von dem ſüßen, aber täuſchenden Traume von der Erziehung des Menſchengeſchlechts, einer von Jahrhundert zu Jahrhundert wachſenden Vollkommenheit zu hö— herer Humanität in dieſer Periode unſers Erdenlebens erwacht ſei. (Wer hieß ihn das träumen?) Hier funkelte ihr Auge, und ſie verſicherte mir mit Innigkeit, daß ſie ſeit vielen Jahren an dies Gedicht gutmüthiger Schwärmerei nicht mehr glauben könne. Zugleich erfuhr ich die Anekdote, daß Leſſing ſelbſt zu der Zeit, wo er ſeine Erziehung des Menſchengeſchlechts herausgab, nicht mehr an dieſen früher geträumten Traum ge glaubt, ihn aber (ihn! den Traum?) blos darum herausgegeben habe, um den theologiſchen Streiten eine Diverſton zu machen. Daß es Leſſingen ſelbſt damit kein Ernſt geweſen ſei, beweiſen auch, recht verſtanden, mehrere Stellen ſeines Nathan.“ Auf den Nathan kommen wir zu ſprechen. Daß aber Eliſe Reimarus ſich ſo lächerlich gemacht haben könne (da man ſie durch die bloße Chronologie widerlegen könnte), iſt ſchwer zu glauben. Merk⸗ würdig bleibt der Gebrauch, den Herr Prof. Illgen (a. a. O.) von dieſem locus elassicus in feiner Anmerkung zu dem Schluſſe Körte's, daß „die Erziehung des Menſchengeſchlechts eine Ju⸗ gendarbeit unſeres Albrecht Thaer und von Leſſing theils nur fortgeſetzt, theils nur hin und wieder überarbeitet iſt“ gemacht hat: „Dieſe Thatſache (ſiehe oben S. 3.) iſt hier fo augen: ſcheinlich erwieſen, daß ſelbſt das, was noch neulich aus Bötti— ger's handſchriftlichem Nachlaſſe für Leſſing's Autorſchaft veröffentlicht iſt, nicht damit ſtreiten kann.“ Alſo Böttiger's

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von Strauß Leſſing, wegen der vermeinlichen Verwandt⸗ ſchaft mit jenen, nicht feinen wahren Platz ein; denn jene ſind, von dem betrachteten Geſichtspunkte aus, die wah⸗ ren Gegner Leſſing's.

Jener Punkt nun, die ontologiſche Bedeutung der Sünde (nicht blos des Irrthums), welcher in der Erzie⸗ hung des M.⸗G. nicht mehr als angedeutet iſt, hat bei Leſ⸗ ſing ſeine ausführlichere, begriffsmäßige Erledigung gefun⸗ den in ſeinem Aufſatze: Leibnitz von den ewigen Stra⸗ fen (1773.). Indem Leſſing dort nur der Ausleger von Leibnitz zu ſein ſich beſcheidet, entwickelt er zu gleicher Zeit in Wahrheit eine eſoteriſche Lehre ſeines eignen, allerdings aus Leibnitz hervorgegangenen Syſtems. Die Fragen von Himmel und Hölle, von der Vollkommenheit der Welt, unbeſchadet der Sünde des Einzelnen, Fragen, in welchen das Grundthema der Erziehung des M.-G. durchklingt, werden gegen Eberhard, welcher den Wolfiſchen Rationa⸗ lismus vertritt, erörtert. Zur Orientirung über Leſſing's Polemik gegen Eberhard dene man ſich nur anf den Bo⸗ den geſtellt, wichen Leſſing in den Gegenſätzen zu den Fragmenten eingenommen hat; es iſt gar kein weſentlicher Unterſchied vorhanden. Eberhard, um es kurz zu ſagen, hat in ſeinem Buche über die Seligkeit der Heiden, Leib⸗ nitzen gerade denjenigen abſtracten Begriff der Perfeeti⸗ bilität, von dem wir ſo eben gehandelt, dieſe Frucht der Reflexion des 18. Jahrhunderts, ohne es zu wiſſen, un⸗ tergeſchoben, und ſo Leibnitzens Syſtem zwingen wollen, ſich gegen die Ewigkeit der Hölle auszuſprechen, eben weil

Anekdoten ſind Alles, was dieſer deutſche Gelehrte und Theolog „für Leſſing's Autorſchaft“ gekannt und angeführt hat! Nur Böttiger! oder will man lieber: ſogar Böttiger! Und Leſſing?!

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dieſe der Perfectibilität zu widerſtreiten ſchiene. Leſſing's ganzes Beſtreben geht dahin, den wahren ſpeculativen Be⸗ griff der Perfectibilität feſtzuſtellen nur, wenn er uns dieſen in der Erziehung des Menſchengeſchlechts von dem Geſichtspunkte des Individuums oder einer Sphäre von Individuum gezeigt hat, ſo ſtellt er uns hier in den Ge⸗ ſichtspunkt der Totalität der ganzen Reihe der Geſchöpfe, worin jener ſelbſt aufgeht. Leibnitz hatte es, zeigt Leſ⸗ ſing, noch in ſeinen letzten Tagen problematiſch belaſſen, ob nach ſeinem Syſteme eine immer wachſende oder eine ſich immer gleich bleibende Vollkommenheit des Weltganges, der Schöpfung, das Wahre ſei. Das letztere hat Leibnitz durch den Rectangel, das erſtere theils durch die Hyperbel, theils durch den Triangel ſchematifirt; indem durch den Triangel angezeigt würde, daß die Natur einen Anfang, durch die Hyperbel, daß ſte keinen Anfang habe, und deſſenungeachtet der Fortſchritt oder die Vervollkommnung von Ewigkeit her geſchehe “). Wie geſagt, Leibnitz beläßt dies problematiſch. Eberhard, von ſeinem Begriffe der Perfectibilität verführt, gab zu verſtehen, daß „obſchon Leibnitz keine von den gedachten Hypotheſen im eigentli⸗ chen Verſtande habe demonſtriren können, er gleichwohl für die von dem beſtändigen Fortgange zu größe⸗ rer Vollkommenheit einen merklichern Hang gehabt habe.“ Umgekehrt Leſſing; ſeine Worte führen wir an, weil ſie, mit Rückſicht auf ſein eignes Syſtem und den metaphyſiſchen Grundgedanken der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts, eine früher nicht beachtete Bedeutung ge⸗ winnen. Er ſchreibt alſo: „Leibnitz ſcheinet mir vielmehr

») Mit Bezug anf Leibnit. Opp. II. 332 Lettre à Bour- guet. Leſſing's Beiträge I. S. 222.

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der immer gleichen Vollkommenheit um Vieles ge⸗ neigter geweſen zu ſein, ja ſeinen Freund (Bourguet) einer förmlichen Demonſtration derſelben ſehr nahe gebracht zu haben, welche er vielleicht ſeine Urſachen hatte, lieber aus ihm herauszuholen, als ihm vorzulegen. (Hier folgt der Tert Leibnitzens *).) Mich dünkt nemlich, wenn dieſe Folge auch nicht nothwendig, ſondern wenn ſie nur mög⸗ lich iſt, daß dadurch die Hypotheſe des Rectangels ſchon einen großen Vorzug gewinnt. Denn das Ganze könnte ſonach in jedem Augenblicke diejenige Vollkommenheit ha⸗ ben, der es ſich, nach der andern Hypotheſe, nur immer näherte, ohne ſie jemals zu erreichen; und ich ſehe nicht, warum es nicht eben daher das Wählbarere für die ewige Weisheit ſein ſollte. Die Möglichkeit aber, daß die un⸗ endliche Zahl der endlichen Weſen gleich Anfangs in den vollkommenſten Zuſammenhang, deren ſie fähig ſind, gebracht werden können, giebt Leibnitz nicht allein zu, ſondern rettet ſie auch gegen den Vorwurf des immer Einerleien; indem er zeigt, daß wenn der nemliche Grad der totalen Vollkommenheit ſchon bliebe, dennoch die ein⸗ zelnen Vollkommenheiten unaufhörlich ſich ändern würden.“ |

„Doch geſetzt auch (fährt Leſſing fort) alles dieſes ver⸗ hielte ſich nicht fo, wie ich ſage; geſetzt, es wäre ganz ohnſtreitig, was Herr Eberhard vorgiebt, daß Leibnitz den unaufhörlichen Wachsthum der gleichmäßigen Vollkommen⸗

*) Vous avez raison, Monsieur, de dire que de ce que les Eires finis sont infinis en nombre, il ne s’ensuit point, que leur syst&me doit recevoir d'abord toute la perfection dont il est capable. Car si cette hypothèse étoit bonne, I’hypothese du Rectangle seroit demontree,

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heit augenſcheinlich vorgezogen habe: würde er nicht ſo⸗ dann wenigſtens den Begriff, den Leibnitz mit dieſem Wachs⸗ thume verband, viel zu weit ausdehnen? Leibnitz hätte ihn zuverläſſig blos von den allgemeinen Zuſtänden des Gan⸗ zen verſtanden, und Herr E. erſtreckt ihn auf alle ein⸗ zelnen Weſen. Wenn aber auch dieſe in beſtändiger Bewegung zu mehrerer Ausbreitung ſein ſollen: ſo möchte ich wiſſen, wie bei moraliſchen Weſen überhaupt Sünde Statt haben könnte? Es wäre denn, daß die Sünde ſelbſt nichts anders, als eine Bewegung zu mehrerer Ausdehnung ſein ſollte. Nein, ſo hat Leibnitz gewiß nicht gedacht; ſondern was er von dem einzelnen Zuſtande des Ganzen, nach der Hypotheſe der gleichmäßi⸗ gen Vollkommenheit ſagt: cette collection peut avoir toute la perfeetion, quoique les choses singulieres qui la composent puissent augmenter et dimi- nuer en perfection, das iſt ſchlechterdings auch von jedem Zuſtande des Ganzen, nach der Hypotheſe des im— merwährenden Wachsthums, zu verſtehen. Das Ganze mag in dem nemlichen Grade der Vollkommenheit fortdauern, oder jeden Augenblick an Vollkommenheit wachſen: ſo hin⸗ dert das eine ebenſo wenig als das andere, daß nicht ein⸗ zelne Weſen ebenſowohl an Vollkommenheit zuneh- men als abnehmen können. Ohne dieſes mögliche Abnehmen iſt bei moraliſchen Weſen die Sünde unerklär⸗ lich, und mehr, als eben dieſes mögliche Abnehmen braucht es nicht, auch die Strafe, ja die ewige Strafe der Sünde, ſelbſt in dem Syſtem der immer wachſenden Vollkommen⸗ heit, zu erklären.“

Wir wollen den letzten Gedanken, das eigentliche Thema des Aufſatzes, verfolgen, um zu erkennen, wie die Lehre von den ewigen Strafen bei Leſſing in ſeinem Religions⸗

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ſyſteme ſich formulirt haben werde. Es heißt weiter: „Aber ich muß zuvörderſt jene große eſoteriſche Wahrheit ſelbſt anzeigen, in deren Rückſicht Leibnitz der gemeinen Lehre von der ewigen Verdammniß das Wort zu reden für gut fand. Und welche kann es anders ſein, als der fruchtbare Satz, daß in der Welt nichts inſuliret (iſoliret), nichts ohne Folgen, nichts ohne ewige Folgen iſt? Wenn da⸗ her auch keine Sünde ohne Folgen ſein kann, und dieſe Folgen die Strafen der Sünde ſind: wie können dieſe Strafen anders als ewig dauern? wie können dieſe Fol⸗ gen jemals Folgen zu haben aufhören? Wenn aber nun die Ewigkeit der Strafen in ungezweifelten Leibnitz⸗ ſchen Lehren ſo offenbar gegründet iſt: ſo muß ſie ſich auch zu beiden Hhpotheſen von der Vollkommenheit der Welt, der gleichmäßigen ſowohl als der wachſenden, ſchicken; wenn ſich anders das ganze Syſtem von Leib⸗ nitz, wie ich geſagt habe, gleichgültig gegen dieſe Hypothe⸗ ſen verhält. Und das thut ſie auch wirklich; unter der Einſchränkung nämlich, daß ſowohl die eine als die an⸗ dere Art der Vollkommenheit nicht von jedem einzelnen Weſen, ſondern von den totalen Zuſtänden aller Weſen zugleich prädicirt wird. Unbeſchadet der einen und der andern, kann ein moraliſches Weſen nicht allein in ſeinem Fortgange zur Vollkommenheit ſtocken, nicht allein einige Schritte zurückgehen: ſondern ich ſehe nicht, warum es nicht auch in dieſem Rückgange ewig beharren, und ſich immer weiter und weiter von ſeiner Vollkommenheit entfernen könnte? Auf dieſer Möglich⸗ keit beruhet der exoteriſche Grund, den Leibnitz für die unendliche Dauer der Verdammniß, aus der endloſen Fort⸗ ſetzung der Sünde hernahm. Nur hätte er, um ganz or⸗ thodor zu fein, nicht nur eine ewige Verdammniß, ſon⸗

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dern eine ewige in alle Ewigkeit wachſende Verdammniß daraus folgern müſſen.“

In dem Satze: „Ob auch die Vollkommenheit der Welt ſich gleich bleibe oder wachſe, fo kann ein morali⸗ ſches Weſen nicht allein in feinen Fortgange zur Voll⸗ kommenheit ſtocken, nicht allein einige Schritte zuruckgehn: ſondern es könnte auch in dieſem Rückgange ewig behar⸗ ren, und ſich immer weiter und weiter von feiner Voll- kommenheit entfernen“ iſt der ſpeculative Grundge⸗ danke der Erziehung des Menſchengeſchlechts ausgeſprochen, als conereter Wille des einzelnen Weſens, welcher, als gu⸗ ter Wille, bei dem einzelnen moraliſchen Weſen als Be- dingung auf dem Wege zur Vollkommenheit vorausgeſetzt wird; dadurch unterſcheidet ſich deſſen Entwickelung von der bloßen Natur⸗ Entwickelung. Nun aber müſſen die Folgen der Freiheit des Individuums wieder in conereten Lebens⸗ und Daſeinsformen deſſelben ſich darſtellen, und dies iſt der Inhalt des Folgenden, da Leſſing fortfährt: „Allerdings ſchaudert die Menſchheit bei dieſer Vorſtellung, ob ſie ſchon nur auf die bloße Möglichkeit ſich beziehet. Ich möchte aber darum doch nicht fragen: warum mit einer bloßen Möglichkeit ſchrecken? Denn ich müßte mich der Gegenfrage beſorgen: warum nicht damit ſchrecken? wenn ſie doch nur eigentlich für den erſchrecklich ſein kann, dem es mit ſeiner Beſſerung nie ein Ernſt geweſen? Ge⸗ ſetzt aber auch, daß es ſelbſt mit dieſer Möglichkeit noch nicht feine Richtigkeit hätte; daß ſie zwar mit der Volle kommenheit des Ganzen beſtehen könnte; daß aber der ewige Rückgang eines moraliſchen Weſens in ſich ſelbſt widerſprechend wäre: ſo bleibt auch ſo noch die Ewigkeit der Strafen nach den ſtrengſten Leibnitz ſchen Grundſätzen gerettet. Genug, daß jede Verzögerung

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auf dem Wege zur Vollkommenheit in alle Ewig⸗ keit nicht einzubringen iſt, und ſich alſo in alle Ewig⸗ keit durch ſich ſelbſt beſtrafet. Denn nun auch angenom⸗ men, daß das höchſte Weſen durchaus nicht anders ſtra⸗ fen kann, als zur Beſſerung des Beſtraften; angenommen, daß die Beſſerung über lang oder kurz die nothwendige Folge der Strafe ſei: iſt es ſchon ausgemacht, ob über⸗ haupt die Strafe anders beſſern kann, als dadurch, daß fie ewig dauert? Will man ſagen: „allerdings; durch die lebhafte Erinnerung, welche ſie von ſich zurückläßt“ als ob dieſe lebhafte Erinnerung nicht auch Strafe wäre?“ Bei allen dieſen Erörterungen klingt die Idee der Ewig⸗ keit für die Einzelweſen und insbeſondere die moraliſchen, als Grundton vom ganzen Syſteme durch. Mit der Erziehung des Menſchengeſchlechls aber hängt dieſe Erör⸗ terung darin zuſammen, als dort die höhere Wiedergeburt eines Menſchen in eine edlere Ordnung der moraliſchen Weſen, von der ſittlichen Stufe und relativen Vollkommen⸗ heit deſſelben abhängig gemacht wird.

Da ſtellt ſich das anziehende Problem, ob, nach Leſ⸗ ſing's Ideen, die Metempſhchoſe im Sinne der Alten, na⸗ mentlich Plato's, und der Kabbaliſten, nemlich ein Rück⸗ gang menſchlicher Seelen in thieriſche denkbar und an⸗ nehmbar wäre? Dies ſchiene aber, wenn „der ewige Rückgang eines moraliſchen Weſens in ſich ſelbſt nicht widerſprechend,“ und nicht blos in abstracto, ſondern ver⸗ möge der ganzen moraliſch⸗-pſychiſchen Verfaſſung mög⸗ lich wäre. Die Ewigkeit der Strafe in dieſem Sinne wäre allerdings, mit Leſſing zu reden, nicht nur eine ewige Ver⸗ dammniß, ſondern eine ewige in alle Ewigkeit wachſende Verdammiß kurz wäre die Hölle ſelber. Aber dieſe iſt es, welche Leſſing ebenſo beſtimmt und energiſch leug⸗

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net, als er jene, als mit der Natur übereinſtimmend, be= hauptet. Er definiert nemlich im Verfolge die Hölle als die intenſive Unendlichkeit der Strafen, welche nicht ei⸗ nem Vernunftbegriffe, ſondern einem Bilde der Phantaſie ihren Urſprung verdanke. Leſſing ſucht hier den bibliſchen Ausdruck Hölle in dem Sinne, wie er andere Ausdrücke der Schrift in der Erziehung des Menſchengeſchlechts aus⸗ legt, zu retten: er wendet den Begriff der Offenbarung als Erziehung auf die bibliſche Vorſtellung der Hölle an. So ſagt er hier von der Hölle, als dem Inbegriff der ewigen Strafen, einem dauernden Zuſtande derſelben: „In der ganzen Religion iſt nichts, was ſo etwas zu glauben nöthigte. Vielmehr kann und darf man mit aller Sicher⸗ heit annehmen, daß die in der Schrift gedrohten Strafen keine anderen ſind, als die natürlichen, welche auch ohne dieſe Androhung auf die Sünde folgen würden. Wenn aber eine höhere Weisheit eine dergleichen außerordentliche Androhung noch für nöthig gehalten hat: ſo hat ſie für eben ſo zuträglich erkannt, ſich ganz nach unſern gegen⸗ wärtigen Empfindungen davon auszudrücken. Und hier, denke ich, ſtehen wir an der Quelle, woraus alle die Schwie⸗ rigkeiten gefloſſen find, warum man die Ewigkeit der Ver⸗ dammniß leugnen zu müffen geglaubt. Man hatte das Bild für die Sache genommen. So ſind aus Strafen Qualen, aus Qualen ein Zuſtand von Qualen, aus der Empfindung eines ſolchen Zuſtandes ein alles andere aus⸗ ſchließende, unſers ganzen Weſens ſich bemächtigende Em: pfindung geworden. Kurz die intenſive Unendlichkeit, die man, mehr oder weniger, ſtillſchweigend oder ausdrück⸗ lich, den Strafen der Hölle unbedachtſam beigelegt, oder gar beilegen zu müſſen geglaubt: dieſe weder in der Ver⸗ nunft noch in der Schrift gegründete intenſive Unendlich⸗

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keit allein iſt es, welche die unendliche Dauer derſelben ſo unbegreiflich, mit der Güte und Gerechtigkeit Gottes ſo ſtreitend, unſern Verſtand und unſre Empfindung ſo em⸗ pörend macht, von jeher gemacht hat und nothwendig ma⸗ chen muß.“

Hier nimmt Leſſing den Gedanken der Strafe als einer Beſſerung, der ewigen Strafe als einer ewigen Beſſerung, mithin als einer Vervollkommnung des einzelnen Weſens wieder auf; daß alſo die Sünde und deren Fol⸗ gen aufhört ein Hinderniß in der fortſchreitenden Entwick⸗ lung in der Erziehung des Menſchengeſchlechts ſelbſt zu ſein. Er ſtellt der Sünde und ihren Folgen den Ur⸗ keim des Guten mit deſſen Folgen entgegen. „Nicht durch die unendliche Dauer der Strafen wird die Beſſerung aus⸗ geſchloſſen, ſondern durch die intentive Unendlichkeit der⸗ ſelben. Denn zu dieſer intenſiven Unendlichkeit gehört vor⸗ nehmlich ihre Stetigkeit; und dieſe Stetigkeit iſt es, welche alle Beſſerung unmöglich macht. Ich will ſagen, und habe zum Theil ſchon geſagt: wenn die Strafen beſſern ſollen, ſo hindert die immerwährende Fortdauer des phy⸗ ſiſchen Uebels derſelben ſo wenig die Beſſerung, daß viel⸗ mehr die Beſſerung eine Folge dieſer Fortdauer iſt. Aber die Empfindung dieſes dauernden Uebels muß nicht ſtetig, muß wenigſtens in ihrer Stetigkeit nicht immer herrſchend ſein: weil es unbegreiflich iſt, wie bei dieſer herrſchenden Stetigkeit auch nur der erſte Entſchluß zur Beſſerung ent⸗ ſtehen könnte.“

Strafe und Belohnung, gefaßt als Hölle 15 Himmel, werden alſo etwas Relatives und, was noch mehr iſt, Individuelles; Hölle und e fließen durch un⸗ endliche Uebergänge in eins, ſie werden Momente der in⸗ nern Entwickelung des Individuums und haben als ſolche

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ihre ewige Wahrheit. „Ich darf fragen, ſchreibt Leſſing, ob jene unzertrennte Fortſchreitung, welche beide Stände, Himmel und Hölle, durch unendliche Stufen verbin— det, ohne daß jemals weder der eine noch der andere ſeine relative Benennung verlieret, nicht ſchon aus dem Syſtem der beſſernden Strafen folget? und ob die gänzliche Schei⸗ dung, welche die gemeine Denkungsart zwiſchen Himmel und Hölle macht; die nirgends gränzenden Grän⸗ zen, die auf einmal abgeſchnittenen Schranken derſelben, die, ich weiß nicht, durch was für eine Kluft von Nichts, getrennet ſein ſollen, diesſeits welcher ſchlechterdings nur lauter ſolche, und jenſeits welcher ſchlechterdings nur lau⸗ ter andere Empfindungen Statt haben würden: ob alle dergleichen Dinge nicht weit unphiloſophiſcher ſind, als der allergröbſte Begriff von der ewigen Dauer der Strafen nur ſein kann?“

Hier ſtehen wir ganz auf dem Boden der Leſſing'ſchen Speculation: die Idee, daß kein Jenſeits die Welten ſcheide, daß die Welt und die Natur in der Ewigkeit ſei, und die einzelnen Weſen ewig inmitten der Natur fortgehen, dringt hier deutlich zu Tage. Leſſing zeigt nun, daß eine ſolche Spaltung nicht allein die menſchliche Seele in ih⸗ rem Weſen ſpalten, ſondern auch die Gerechtigkeit Gottes von einer abſoluten zu einer bedingten und unvollſtändi⸗ gen herabſetzen würde. Das erſtere, weil die Seele keiner abſtraet lautern Empfindung fähig iſt, das iſt, keiner ſol⸗ chen, die bis in ihr kleinſtes Moment nichts als ange⸗ nehm oder nichts als unangenehm wäre: geſchweige daß fie eines Zuſtandes fähig wäre, in dem fie nichts als dergleichen ausſchließende Empfindungen hätte. Wichtiger iſt das andere: „Wenn es wahr iſt, daß der beſte Menſch noch viel Böſes hat, und der ſchlimmſte nicht ohne alles

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Gute iſt: ſo müſſen die Folgen des Böſen jenem auch in den Himmel nachziehen, und die Folgen des Guten die⸗ ſem auch bis in die Hölle begleiten; ein Jeder muß ſeine Hölle noch im Himmel und ſeinen Himmel noch in der Hölle finden. Die Folgen des Böſen müſſen von den mehrern Folgen des Guten, und die Folgen des Gu⸗ ten von den mehrern Folgen des Böſen nicht blos abge⸗ zogen werden: ſondern jede derſelben müſſen ſich, in ihrer ganzen poſitiven Natur, für ſich ſelbſt äußern. Nichts anders meinet die Schrift ſelbſt, wenn ſte von ange 1580 Hölle und des Himmels redet.“

Deutlicher endlich giebt Leffing ſeinen Gedanken PR ‚Het ſtehen, indem er zum Schluſſe und zwar auf Anlaß der Socratiſchen beſſernden Hölle (im Gorgias des Plato), ſich zu Gunſten des reinigenden Fegefeuers der ältern Kirche erklärt. „Was iſt denn in unſrer Religion, das uns hindert, dieſen Unterſchied nicht auch anzunehmen? Was uns hindert? Als ob nicht der größere Theil unfrer Glaubensgenoſſen ihn wirklich angenommen hätte? Jener mittlere Zuſtand, den die ältere Kirche glaubet und lehret, und den unſere Reformatores, ohngeachtet des ärgerlichen Mißbrauchs, zu dem er Anlaß gegeben hatte, vielleicht nicht ſo ſchlechtweg hätten verwerfen ſollen: was iſt er anders, als die beſſernde Socratiſche Hölle?“ Zum Schluſſe aber ruft Leſſing noch aus: „O meine Freunde, warum ſollten wir ſcharfſinniger als Leibnitz, und menſchenfreund⸗ licher ſcheinen wollen als Soerates?“ Um Leibnitz und Socrates, eigentlich aber um Leſſing ganz beizutreten, ha⸗ ben wir nur noch nöthig, dieſe ontologiſche Erörterung von Himmel und Hölle, oder vielmehr von dem reinigen⸗ den Feuer, aus dem Geſichtspunkte der metaphyſiſchen For⸗ mel der Erziehung des menſchlichen Geſchlechts zu betrach⸗

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ten, fie gleichſam in dieſe zu überſetzen. Dieſe Hölle, in welcher jeder noch ſeinen Himmel ſindet, und dieſer Him⸗ mel, in welchem jeder noch ſeine Hölle findet, kurz dieſes Purgatorium es iſt das menſchliche Leben auf Erden ſelbſt, als die Sphäre und das Element der Erziehung, welche, laut dem eignen Texte Leſſing's, eine Reinigung des zurückbleibenden Individuums iſt, welches das bleibt der Eckſtein dieſes ganzen Syſtems ſo oft wiederkommen muß, als es Stufen zur ſittlichen und intellectuellen Voll⸗ kommenheit zu überwinden hat. Dies iſt der religiöſe Ge⸗ ſichtspunkt, aus welchem der ſpeculative Chriſt, nach Leſ⸗ ſing, das irdiſche Leben, mit Ausſicht auf die Ewigkeit, betrachten ſoll. Die Seligkeit, ſo wie die Strafe iſt rela⸗ tiv nach der Würde des einzelnen Menſchen, und relativ nach dem Vorſprung, den ein Menſch vor dem andern hat. Dies drückt Leſſing in demſelben Aufſatze (XIII.) allego⸗ riſch noch ſo aus: „Der reiche Mann in der Hölle mag ſich immer beſſern; mag ſich immer, von dem erſten Au⸗ genblicke der empfundenen Strafe an, ſeiner Vollkommen⸗ heit wieder zugewandt, und mit jedem folgenden Augen⸗ blicke ſich ihr mehr und mehr genähert haben. Hört er darum auf, in Anſehung des Lazarus in der Hölle zu blei⸗ ben, der von dem erſten Augenblick ſeiner empfundenen Seligkeit an, indeß um eben ſo viel Schritte einer höhe⸗ ren und höheren Vollkommenheit zugeeilet iſt? Wer hierwider im Ernſte den Einwurf machen kann, daß auf, dieſe Weiſe Hölle und Himmel in eins fließen, und ſich jeder Sünder ſonach tröſten könne, über lang oder kurz dennoch einmal in den Himmel zu kommen: der iſt gerade derjenige, mit dem man ſich über dergleichen Dinge in gar keine Erklärung einlaſſen müßte. Für ihn mag es immer bei dem Buchſtaben bleiben, denn auf ihn und

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ſeinesgleichen ward gerade bei dem Buchſtaben geſehen.“ Das Wort des Geheimniſſes hielt Leſſing hier zurück: er trug es nach in der Erziehung des Menſchengeſchlechts. Indeß hätte ein Scharfſinniger auch ſo Leſſing ganz er⸗ rathen können: denn unter feinen in eins fließenden Him⸗ mel und Hölle hat er das eigne menſchliche Bewußt⸗ fein oder, religiös, das Gewiſſen, jo prägnant analyſtrt und beſchrieben, daß für uns wenigſtens alles klar und zuſam⸗ menhängend vorliegt. Das Gewiſſen, das iſt der Ort, wo Himmel und Hölle in eins fließen, „wo jeder ſeine Hölle noch im Himmel, und ſeinen Himmel noch in der Hölle finden muß.“ Die gänzliche Scheidung, welche die gemeine Denkart zwiſchen Himmel und Hölle macht, die nirgends grenzenden Grenzen, die auf einmal ab⸗ geſchnittenen Schranken derſelben, die, ich weiß nicht, durch was für eine Kluft von Nichts, getrennt ſein ſollen, dies⸗ ſeits welcher ſchlechterdings nur lauter ſolche, und jenſeits welcher nur lauter andere Empfindungen Statt haben würden (XIV.) dieſe ſtreiten mit dem Weſen der Seele, weil die Seele keiner lautern Empfindung fähig iſt.“ Die Gerechtigkeit Gottes aber, mit welcher ſie eben⸗ ſoſehr ſtreitet, iſt Gottes, welcher durch das Gewiſſen zu uns redet, und welcher die Unvollkom⸗ menheit der menſchlichen Gerechtigkeit, bei ihren Stra⸗ fen, wie bei ihren Belohnungen, beſonders wenn beide collidiren, gut macht; vermindernd oder vermehrend, ver⸗ möge deſſen die Folgen des Guten und des Böſen nicht etwa nur ſich untereinander äußerlich aufheben (wie äußer⸗ licher Lohn und Strafe), ſondern jede derſelben, in ihrer ganzen poſitiven Natur, für ſich ſelbſt ſich äußern. Und da das Individuum ewig iſt, ſo äußern ſich die Folgen ſeines Gewiſſens auch ewig. Und ſo wies Leſſing noch

fpäter, die Einwendungen Mendelsſohn's und Eberhard's, mit dem prägnanten Worte zurück (an ſeinen Bruder, 14. Juli 1773. XII. 399.): „Die Hölle, welche Herr Eberhard nicht ewig haben will, iſt gar nicht, und die, welche wirklich iſt, iſt ewig.“ “)

Hier iſt zu bemerken, daß Leſſing, um die Ewigkeit der Strafen (wozu er eigentlich ſetzen mußte: und der Be⸗ lohnungen), nach feiner Erklärung, gegen Eberhard, durch⸗ zuführen, auf die Uebereinſtimmung aller und zwar der älteſten Religionen hinſichtlich des Dogma von der Ewigkeit der Hölle für ſich, d. h. zu Gunſten der Phi- loſophie, und insbeſondere zu Gunſten der älteſten Philoſophie Gewicht legt. Eberhard beſchuldigte die Kirche, daß ſie einer ſolchen „barbariſchen Lehre“ zuerſt den Urſprung gegeben; Leſſing beſtreitet dieſes aus hiſtoriſchen und phi⸗ loſophiſchen Gründen: „Vielmehr dürfte ſich der Zeitpunkt weit leichter angeben laſſen, wenn man eine allen Reli⸗ gionen ſo gemeine Lehre in der chriſtlichen Religion zu⸗ erſt angefangen habe, theils aus vermeinten philoſophi⸗ ſchen Gründen, theils aus eignen mißverſtandenen Vor⸗ ausſetzungen zu beſtreiten. Und auch ſchon wegen dieſer Uebereinſtimmung aller Religionen möchte ich nicht mit dem Herrn E. ſagen: daß die Vernunft dieſe ſchreck⸗ liche Lehre verkennen, oder wie er ſich an einem andern Orte noch nachdrücklicher ausdrückt: daß die Vernunft an dieſem Lehrſatze unſchuldig; daß in dem ganzen Umfange ihrer Wahrheiten ſich nicht eine finde, die durch eine rich- tige Folgerung dahin führe. Was alle Religionen gemein haben, kann ja wohl in der Vernunft nicht

) Nicht beſſer ward Leſſing von Schink verſtanden (Leſſing's ſämmtliche Schriften, 1825. 1. S. 215—16.) Erziehung des M.⸗G. 7

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ohne Grund ſein; und ohnſtreitig iſt die von jeher, obſchon mehr dunkel empfundene, als klar erkannte Wahr⸗ heit von den ewigen Folgen der Sünde, hinlänglich ge⸗ weſen, darauf zu bringen. Oder vielmehr dieſe Wahrheit und die Lehre von den ewigen Strafen iſt im Grunde eines; nur in den verſchiedenen Religionen durch die Be⸗ mühung, dieſe Strafen finnlich zu machen, mehr oder we⸗ niger verſtellet.“ Dies ſchrieb Leffing 1773; alſo auch in dieſem Punkte ſprach er den Gedanken aus, welchen er in der Erziehung des Menſchengeſchlechts ſo fruchtbar, doch mit Einſchränkung auf ein gegebenes theologiſches Problem, angewandt hat (ogl. oben S. 93.). Das andere betrifft den Gegenſatz von Religion und Philoſophie, oder Ver⸗ nunft und Offenbarung überhaupt, wie ihn die Erziehung des Menſchengeſchlechts zwiſchen der altteſtamentlichen Of⸗ fenbarung und der orientaliſch-griechiſchen Philoſophie auf⸗ ſtellt; und zwar in Hinſtcht des transcendentalen Begriffs der Ewigkeit, welchen Eberhard den älteſten Syſtemen und Sprachen gern abgeſprochen hätte. „Die Geſchichte der Weltweisheit, entgegnet Leſſing unter andern, iſt auch völ⸗ lig dagegen. Denn er ſei immerhin, dieſer Begriff der Ewigkeit, eine beſondere Anſtrengung der erhabenſten Phi⸗ loſophie; wenigſtens iſt die Philoſophie einer ſolchen An⸗ ſtrengung ſehr früh fähig geweſen; und dieſe erhabenſte Philoſophie iſt keine andere, als die allerälteſte. Selbſt das Transcendentalſte, deſſen er fähig iſt, dieſer Begriff der Ewigkeit, und wozu ſich ſelbſt noch itzt ſo wenige er⸗ heben können; ich meine die Ausſchließung aller Folge: ſelbſt dieſes war den alten Philoſophen ſchon ſehr geläu⸗ fig, und wie geſagt, faſt geläufiger, als unſere.“ (XVI.)

Hier haben wir daſſelbe Argument, vermöge deſſen Leſ⸗ fing für das Syſtem der Metempſhchoſe jedesmal, wo er

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davon ſpricht, ſowohl in den ungedruckten Fragmenten (ſ. oben S. 81.) als in §. 95. der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts, den Leſer zu gewinnen ſucht. Vielleicht erhal⸗ ten wir zugleich einen Fingerzeig, um zu entnehmen, was Leſſing unter den „zwei Dingen, durch welche dieſes äl⸗ teſte und, wie er glaube, einzig wahrſcheinliche Syſtem verſtellt ward“ verſtanden haben müſſe. Der Mangel des Moments der Ewigkeit in dem älteſten Syſtem der Metempſychoſe wird es nicht geweſen fein. Wenn wir aber Leſſing's Syſtem im Ganzen, nach feiner ontologi⸗ ſchen Baſis, mit jenen älteſten vergleichen, und fragen, was es wahrhaft Speculatives und zugleich Eigenthüm⸗ liches habe, ſo möchten es eben die beiden Momente: der Entwickelung in das Unendliche, und der Immanenz des Unendlichen in dem Endlichen, ſein, Momente, welchen die Beſchränkung der Entwickelung und ein abſtractes, ſowohl örtliches als zeitliches Jenſeits gegenüberſteht was frei⸗ lich von einander abhängt. In der phantaſtiſchen Metem⸗ pſychoſe, wonach die Seelen der Menſchen in Leiber von Thieren oder gar Pflanzen über- und zurückgehen, und eine Weile zur Strafe herumwandeln, um dann als ein Abſtractes, in einem abſtracten Jenſeits in Ewigkeit Himmel oder Hölle zu verbleiben, iſt dieſes beides ent⸗ halten. Jene Thier⸗ und Menſchen-Metempſychoſe wäre der intenſiven Hölle zu vergleichen, welche Leſſing bekämpft hat. Möglich, daß Leſſing ſich etwas als zwei d. h. ge⸗ ſondert gedacht, was ein anderer als eins denken d. h. zu⸗ ſammenfaſſen würde: weſentlich machte dies keinen Unter⸗ ſchied. Denn ein Syſtem, das aus dem Ganzen geſchöpft iſt, iſt untheilbar; es hat Glieder, aber keine Theile oder Stücke.

Derſelbe ſpeculative ene welcher die Erziehung

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des Menſchengeſchlechts zu einem äſthetiſchen Ganzen run⸗ det, bildet jetzt noch ihren innern, wenn auch freien Zu⸗ ſammenhang mit den zwei andern berühmten Schriften aus derſelben Periode, von denen bisher die eine den Phi⸗ loſophen und Kritikern zu verſtändig, und die andere im Gegentheil zu myſtiſch erſchien; jenes iſt Nathan der Weiſe, das andere: Ernſt und Falk oder Ge⸗ ſpräche über die Freimäurerei. Ueber beide wird uns ſchließlich ein Wort geſtattet ſein: ſchon, weil die Erzie⸗ hung des M.⸗G. dadurch das RR 5 10 für unfere Betrachtung erhält.

Wenn ein Dichter wie Göthe, Nathan den Weiſen „ein Stück, wo der Verſtand faſt allein ſpricht,“ nennt (Werke XLV. 7.), ſo hat er wohl etwas anders damit ſagen wollen, als daß es dieſem Stücke an Begeiſterung fehle, welches den Zuſchauer und Leſer erwärme und er⸗ leuchte; er hat vielmehr dieſe Wirkung hinlänglich gewürdi⸗ get und erbauliche Worte daran geknüpft (daſ. 22.); und je weniger die unverſiegbare Wirkung dieſes Schauſpiels der Afthetifchen Vollkommenheit oder auch nur der darin wal⸗ tenden dichteriſchen Phantaſie zuzuſchreiben ſein ſollte, deſto mehr muß ſie in der Würde des Prinzips, der Idee oder der Tendenz, welche dieſem Stücke unterliegt, geſucht wer⸗ den. Der gemeinen Anſicht nach hätte Leſſing im Nathan die Duldung aller Religionen auf Koſten der poſitiven Of⸗ fenbarung einer jeden, und beſonders der chriſtlichen, ge⸗ predigt (abſichtlich ſage ich: gepredigt, weil der Dichter ſich feiner Tendenz bewußt war ); daß alſo Indifferenz

) Leſſing ſchrieb auch über dieſes Stück an Eliſe Reimarus, vom 6. Sept. 1778 (XII. 510.) : „Ich muß verſuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigſtens, noch

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in der Religion die Vorausſetzung der Duldung und der Liebe ſei. Dies iſt, wie geſagt, die gewöhnliche Anſicht, welche ſich mit einigem Schein auf den Zeitpunkt beruft, in welchem Leſſing den Nathan herausgab, als er von den Theologen wegen der Herausgabe der Fragmente und durch den Streit mit Göze gereizt worden war. Doch ab— geſehen davon, daß Leſſing, wie wir wiſſen, den Nathan lange vor jenen Streitigkeiten entworfen (wie er den 11. Auguſt 1778 an ſeinen Bruder ſchreibt, XII. 509.), und daß es „nichts weniger als ein ſatiriſches Stück ſein ſollte, um den Kampfplatz mit Hohngelächter zu verlaſſen“ (an denſelben, 20. Oct. 1778. XII. 511.), fo hat er in der Vorrede wenigſtens fo viel, um dem Mißverſtändniſſe ent⸗ gegenzukommen, erklärt: daß man tolerant fein und den- noch an einer poſitiven Religion feſthalten könne: „Bei⸗ des, ſagt er (ſowohl lehren, daß es nicht erſt von geſtern her unter allerlei Volke Leute gegeben, die ſich über alle geoffenbarte Religion hinweggeſetzt hätten und doch gute Leute geweſen wären, als auch, dergleichen Leute in einem weniger abſcheulichen Lichte vorſtellen, als in welcher der chriſtliche Pöbel ſie gemeiniglich erblickt), kann auch ein Menſch lehren und zur Abſicht haben wollen, der nicht jede geoffenbarte Religion, nicht jede ganz verwirft. Mich als einen ſolchen zu ſtellen, bin ich nicht verſchlagen ge⸗ nug: doch dreiſt genug, mich als einen ſolchen nicht zu verſtellen“ (XI. 536.). Deutlich genug ſpricht dieſes Glau⸗ bensbekenntniß, wie es der Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts nur abgeben konnte: Ich bin der

ungeſtört will predigen laſſen.“ Ganz von ſelbſt hat Hoffmeiſter in dem Leben Schiller's das Theater die Kanzel Schiller's ge⸗ nannt: dies möge Leſſingen zu Gute kommen.

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Menſch, der nicht jede geoffenbarte Religion, wenigſtens nicht jede ganz verwirft dieſe kate⸗ goriſche Erklärung giebt er in einer künſtlichen Wendung, womit er dem möglichen Verdachte der Orthodoxen und der ſogenannten Philoſophen ſich entgegenſtellt. Gleich⸗ wohl hat Leſſing in dem andern Fragmente ſeiner Vor⸗ rede zu Nathan dem Weiſen (XI. 535.) unumwunden er⸗ klärt: „Nathan's Geſinnung gegen alle poſttive Religion iſt von jeher die meinige geweſen. Aber hier iſt nicht der Ort, ſie zu rechtfertigen.“ Folglich hat man umge⸗ kehrt Nathan's Geſinnung, d. h. die Tendenz des Stückes in Leſſing's philoſophiſchen und religiöſen Prinzipien ſelbſt zu ſuchen; und ſo findet man die allein wahre des Na⸗ than. Eine jede poſitive Religion weiſt ſowohl auf die Idee aller Religion oder auf das Chriſtenthum der Ver⸗ nunft hin, als auch, vermittelſt dieſer Beziehung, auf alle ihre Schweſtern, alle Mit⸗ Religionen: auch die unterſte und beſchränkteſte hat ihre Wahrheit, welche in dem Grade einleuchtet, als man ſelbſt auf einer höhern Religion ſteht, indem das hellere Licht fähig iſt, auch in eine niedrigere Region zu dringen: folglich ſteigt die Dul dung in Progreſſion mit der wahren Religion, mit dem wahren Chriſtenthum. Jetzt einen Schritt weiter. Alle Menſchen find, vermöge des Weltſyſtems (nach Leſſing), zu der nemlichen Ausbildung der wahren Religion, folg⸗ lich zur Seligkeit berufen: wenn gleich nicht alle zu glei⸗ cher Zeit, unter allen Himmelsſtrichen; auch nicht ein Menſch im Laufe eines einzigen Lebens, ſondern dadurch, „daß er ſo oft wiederkommt, als er neue Kenntniſſe, neue Fähig⸗ keiten zu erlangen geſchickt iſt“ (§. 98. der Erziehung des M.⸗G.); denn „iſt nicht die ganze Ewigkeit ſein?“ Dieſe Ueberzeugung wird in der That die Grundlage der

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wahren Humanität. Es giebt eine abſtracte Humani⸗ tät, entſprechend der falſchen Perfectibilität, welche auf einer ebenſo abſtracten, hypothetiſchen Gleichheit aller lebenden Menſchen ruht, und daher die beſtehende Ungleichheit nicht anerkennen, oder plötzlich und gewaltſam nivelliren will, in allen Dingen. Wie lehrt Leſſing? Alle beſtehende innere Ungleichheit unter den Menſchen iſt ſowohl in der Natur der Dinge, als in den weltgeſchichtlichen Verhält⸗ niſſen gegründet: alle aber ſind nichtsdeſtoweniger nur auf verſchiedenen Stationen zu einem und demſelben Ziele begriffen; die Ungleichheit iſt, wenn auch im Ganzen bleibend, im Einzelnen im Fluſſe und Verſchwin⸗ den begriffen: „die Erziehung hat ihr Ziel: bei dem Ge⸗ ſchlechte nicht weniger, wie bei dem einzeln.“ Folglich ſind, nicht wegen der Gleichheit, ſondern ungeachtet der beſtehenden Ungleichheit, alle Menſchen Brüder: die⸗ ſer Satz, als Reſultat einer ſpeculativen Naturbetrachtung, führt zur reinſten Liebe, zur Duldung und Geduld. Die, welche wir hinter uns oder neben uns erblicken, find, nach dem Plane der Erziehung des M.⸗G., „unſere ſchwäche⸗ ren Mitſchüler.“ Und dieſe religiöſe Idee, unter der Form der Humanität, iſt, von jedermann herausgeahnt, das begeiſternde Prinzip in: Nathan der Weiſe. Richtig ge⸗ faßt, kann man ſagen: die Religion Nathan's iſt das Chriſtenthum der Vernunft als Humanität, vermöge deren die Bekenner aller poſttiven Religionen ſich als Men⸗ ſchen, als Brüder begrüßen. Nichts anders hat Leſſing durch die e mit den drei Ringen bezweckt:

„Nun; wen lieben zwei N

Von euch am meiſten? Macht, ſagt an! Ihr ſchweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht 525 . Nach außen? Jeder liebt ſich ſelber nur

Am meiſten? O fo feid ihr alle Drei

Betrogene Betrüger! N

We

Es eif re jeder feiner unbeſtochenen

Von Vorurtheilen freien Liebe nach!

Es ſtrebe von euch jeder um die Wette, | Die Kraft des Steins in feinem Ring' an Tag 2 Zu legen! komme dieſer Kraft mit Sanftmuth,

Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohlthun,

Mit innigſter Ergebenheit in Gott,

Zu Hülf! Und wenn ſich dann der Steine Kräfte

Bei euren Kindeskindern äußern:

So lad' ich über tauſend tauſend Jahre

Sie wiederum vor dieſen Stuhl.“

Nathan (Leſſing) iſt dem Humanus zu vergleichen, welchen Göthe *) in dem Fragmente „die Geheimniſſe“ myſtiſch gefeiert hat:

„Humanus heißt der Heilige, der Weiſe“ *).

) Vergl. Göthe's Bekenntniß „über das Fragment! die Ge⸗ heimniſſe.“ Werke XLV. 327332.

) Will man ſehen, wie Leſſing den nemlichen Gedanken auf das geſchichtliche und politiſche Verhältniß der Religionen gegen einander angewandt hat, ſo leſe man das Fragment: „Ueber die itzigen Religionsbewegungen“ (XI. 590.), aus einer Denk⸗ ſchrift über ein „Gutachten über die dermaligen Religionsbewe⸗ wegungen, beſonders der Evangeliſchen Kirche,“ welches das Con⸗ ſiſtorium irgend eines evangeliſchen Reichsſtandes bei dem Cor- pore Evangelico 1780 einreichen laſſen, das der Herzog von Braunſchweig Leſſingen mitgetheilt, und darüber ſeine ſchriftliche Meinung verlangt. (An Eliſe Reimarus, ohne Datum, doch Ende 1780. XII. 547.)

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Wir kommen zu Ernſt und Falk, Geſpräche für Freimäurer aus dem Jahre 1778. (Wenn gleich der erſte Druck der beiden letzten Geſpräche die Jahreszahl 1780 trägt [X. 252.], fo hat doch Campe fie in der Hand⸗ ſchrift bereits im Sommer 1778 von Leſſing, während ſeines Aufenthalts in Hamburg, zu leſen erhalten, vergl. XII. 534. 511., XIII. 629. und oben S. 86.) Was das Literariſche betrifft, ſo bilden dieſe berühmten Geſpräche, ihrer innern Oekonomie zufolge, zuſammen ein abgeſchloſ— ſenes Ganze, nemlich in Bezug auf das in ihnen behan⸗ delte philoſophiſche Problem; zum Ende des fünften Ge⸗ ſpräches geht es in das Hiſtoriſch-Kritiſche über, worüber der Verfaſſer einige kühne Sätze aufſtellt, welche nur noch auf literariſche Belege verweiſen, die Leſſing ſchuldig ge⸗ blieben iſt; für die Tendenz und den Grundgedanken von Ernſt und Falk ſind dieſe kritiſch-literariſchen Belege ent⸗ behrlich.

Abgeſehen von der meiſterhaften Geſprächsform, iſt die Analogie zwiſchen „Ernſt und Falk“ und der Erziehung des Menſchengeſchlechts (beide aus derſelben Zeit, vielleicht aus demſelben Jahre herrührend) in Hinſicht auf die ſpe⸗ culative Grundlage und die Auffaſſung des Problems ſo ſchlagend, daß man ſie nur anzudeuten braucht, um ſagen zu dürfen: Kein anderer, als der Verfaſſer von Ernſt und Falk hat die Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts ſchreiben können und umgekehrt. Hät⸗ ten wir keinen andern Zweck gehabt, als die innere Ori⸗ ginalität und die Tendenz von Ernſt und Falk kritiſch und philoſophiſch zu erörtern, wie uns für die Erziehung des Menſchengeſchlechts die Aufgabe geſtellt ward, wir hätten den nemlichen Weg, den wir zurückgelegt haben, einſchla⸗ gen müſſen. Bei der Iſolirung, womit Ernſt und Falk,

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fo gut, ja noch mehr als die andere Schrift, bisher er⸗ wähnt worden, müßte es in der That nicht minder lockend geworden ſein, einen unbekannten Verfaſſer dieſer berühm⸗ ten Geſpräche, ich weiß nicht in wem? (bvermöge Selbſtbe⸗ kenntniſſe) zu entdecken, wie bei der Erziehung des M.⸗G. Ernſt und Falk iſt wirklich vor dem Drucke einige Zeit in der Handſchrift umhergegangen, wie wir aus Leſſing's Briefwechſel wiſſen; auch hier hat eine leichte Myſtifica⸗ tion ſtattgefunden, welche der Scharfſinn eines Entdeckers vor leichtgläubigen und gleichgültigen Leſern hätte benutzen, d. h. mißbrauchen können. Dieſe Myſtification beſtand in der „Vorrede eines Dritten“ (X. 252.). Leſſing hat als dieſer „Dritte“ den Leſern ebenſo einen Fingerzeig in phi⸗ loſophiſcher und kritiſcher Hinſicht geben wollen, wie in dem „Vorbericht des Herausgebers“ vor der Erziehung des Menſchengeſchlechts; nur daß hier der Verfaſſer ein Dritter ſein ſollte, und dort der Herausgeber. Dieſe Be⸗ merkung möchte noch jetzt bei manchen Leſern nicht über⸗ flüffig fein *).

Vermöge dieſer Iſolirung halten wir es für einen blo⸗ ßen Zufall, daß, während die Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts das Stichwort vieler Philoſophen, Theologen, Politiker und Hiſtoriker geworden iſt, die Geſpräche über die Freimäurerei, welche in Wahrheit nichts ſind, als, ſo zu ſagen, eine höhere Variation eines und deſſelben Thema,

) Auch die „Vorrede eines Dritten“ vor der Fortſetzung von Ernſt und Falk (X. 286.) gehört Leſſing, ungeachtet es darin heißt: „daß der Herausgeber kein aufgenommener Maurer iſt.“ Dies iſt durch eine Art reservatio mentalis zu erklären, inſofern nemlich Leſſing behuf der Herausgabe durch einen Dritten 7 Vorrede ſchrieb; vgl. die Anmerkung ebend.

niemals dieſe Art Popularität erlangt haben, und gewiß auch viel weniger geleſen wurden. F. H. Jacobi, welcher ſich vermaß, Leſſing's wahre Philoſophie an den Tag ge⸗ bracht zu haben, hat nicht ein Wort über Ernſt und Falk vorgebracht. Philoſophen von Fach kenne ich auch weiter nicht, welche dieſe Schrift Leſſing's einer Berückſichtigung, einer Unterſuchung oder Prüfung für werth gehalten hät⸗ ten; am wenigſten diejenigen, welchen alles erſt zubereitet (präparirt) werden und mit einer fach-wiſſenſchaftlichen Etiquette: wie Moral, Politik, Religionsphiloſophie u. ſ. w. überwieſen werden muß, damit ſie, ihren fertigen Maaß⸗ ſtab in der Hand, kommen und ein Urtheil ſprechen. Andere mögen von „Ernſt und Falk“ ſich fern gehal⸗ ten haben, weil ſie glaubten, daß Leſſing darin wirklich nichts als Myſterien der Freimäurerei, ſcheinbar fragmen⸗ tariſch, und das alles in der ſchwierigen dialektiſchen Ge⸗ ſprächsform vorgetragen, hinter welcher der wahre Sinn des Autors ſich ja immer ein wenig verhüllt zeigt. Räth⸗ ſel löſen, in Geheimniſſe eindringen, dies läßt ſich der be⸗ queme Leſer nicht gern zumuthen; er denkt am Ende, Le= ſing habe nur für aufgenommene Maurer ſeinen Ernſt und Falk verfaßt; nur dieſe hätten einen Schlüſſel dazu, und man müſſe, um Leſſing zu verſtehen, nothwendig Frei⸗ maurer werden. Daß dieſe Meinung wirklich im Schwange war, beweiſt eine in Leſſing's Leben (von Karl Leſſing J. 298.) erzählte Anekdote, welche an und für ſich uns ganz gleichgültig laſſen könnte, weil ſie einen handgreiflichen Anachronismus enthält, und ihren Urſprung eben nur je⸗ ner Vorausſetzung verdankt. Wie bekannt, hat Leſſing während feines Aufenthaltes in Hamburg ſich in die dor⸗ tige Loge aufnehmen laſſen. „Man ſoll ihm auch, erzählt ſein Bruder, einen ehrenvollen Vorzug bei ſeiner Annahme

angeboten haben, der gewöhnlichen Candidaten ſo leicht nicht gewährt wird. . .. Dieſe ſchmeichelhafte Ausnahme zu Gunſten ſeiner beſtand darin, ihn ſogleich durch alle Grade hindurchzuführen, wenn er die Fortſetzung ſei⸗ nes Ernſt und Falk unterdrücken und ſich aller wei⸗ tern Unterſuchung enthalten, oder ſie wenigſtens nur für ſich anſtellen wolle, ohne etwas darüber drucken zu laſſen. Man ſetzt hinzu, er hatte die Wahrheit zu lieb, als daß er eine ſolche Bedingung eingegangen wäre. An der Rich⸗ tigkeit dieſer Anekdote iſt noch zu zweifeln (meint K. Leſ⸗ fing), weil er dieſe Geſpräche erſt zu Wolfenbüttel voll⸗ endete, ob er fie gleich in Hamburg angefangen haben mochte: denn er pflegte ſelten, zumal zu dieſer Zeit, aus ſeinen unvollendeten Handſchriften ſeinen Bekannten vor⸗ zuleſen.“ Vielmehr widerlegt ſich dieſe Anekdote ganz von ſelbſt, wenn man erſt das Geheimniß von Ernſt und Falk in deſſen Beziehung zu dem Syſteme Leſſing's verſteht. Ohnehin wird das Nächſtfolgende ergeben, daß und warum Leſſing dieſe Geſpräche erſt in Wolfenbüttel nicht blos vollendet, ſondern auch erſt concipirt und angefangen hat.

Es erging aber Leſſing mit Ernſt und Falk, ſeinem „Freimäurer-Bekenntniſſe“ (wie er es an Clau⸗ dius nannte), bei den Freimäurern, ſeinen Brüdern, nicht beſſer, als mit der Erziehung des M.⸗G., „ſeinem Glau⸗ bensbekenntniſſe,“ wie er ſte an Herder bezeichnet, bei den Theologen, und Theologen wie Herder. Und dieſer Umſtand deutet ſchon von fern auf eine Verwandtſchaft beider, wie⸗ wohl er ſein volles Licht erſt aus der Ergründung dieſer Verwandtſchaft ſelbſt erhalten wird. Wir erfahren das Nähere aus einem eignen, früher ungedruckten Briefe Leſ⸗ ſing's an Claudius (den Wandsbecker Boten), aus Wol⸗ fenbüttel den 19. April 1778 (Lachmann XII. 504.), wo

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Leſſing, in Bezug auf ſeinen Fragmenten⸗Streit (mit be⸗ ſonderer Hinſicht auf ſeine Gegenſätze zu den Fragmen⸗ ten), ſchreibt: „Danken Sie Ihrem ehrlichen Vetter, dem weltberühmten Asmus, von mir tauſendmal, daß er ſich meiner bei Seiner Majeſtät dem Kaiſer von Japan ſo günſtig erinnern wollen. Da übrigens Hr. Asmus meine theologiſchen Geſinnungen ſo vortrefflich inter⸗ pretirt hat: ſo wäre ich beinahe Willens, ihm auch mein F.⸗M.⸗Bekenntniß zukommen zu laſſen. Es iſt ſchon einmal in Hamburg geweſen; bei Herrn Boden: aber und itzt läuft es hier durch die Hände der andern Ob- ſervanz. Es ſoll mich verlangen, ob es am Ende doch auch nur Einer verſtehen wird.“ Aus einem Briefe Campe's an Leſſing aus Hamburg vom 1. Juni 1780 (XIII. 637.) erſehen wir ebenfalls, daß die Frei⸗ maurer⸗Geſpräche von Freimaurern als Chimären be⸗ trachtet worden waren *). Dieſe üble Aufnahme, welche

) „Hier ſchicke ich Ihnen Ihre mir gütigſt mitgetheilte Hand⸗ ſchrift zurück (ogl. XII. 533.). Ich dachte Wunder, wie viel ich an Einſicht gewinnen würde, wenn ich ſie von denen leſen ließe, die mich, noch ehe ſie ſie geleſen hatten, in einem ſo zu⸗ verſichtlichen Tone verſicherten, daß ſie lauter Chimären ent⸗ hielte! Aber was war's? Ein mitleidiges und geheimniß⸗ volles Achſelzucken über Ihre Verblendung, und eine trium⸗ phirende Verweiſung auf den erſten Theil des Zoroaſters, auf gewiſſe mikrokosmiſche Vorſpiele und auf das Geheimniß der Verweſung und Verbrennung aller Dinge Schar— teken, die ich nie geſehen habe und nie zu ſehen verlange wa⸗ ren alles, was man mir einzuerndten gab. Mit dem letztgenann⸗ ten Buche, glaube ich, tröſtet man fich: weil, wenn alles ver⸗ weſen und verbrennen ſoll, Ihre leidigen Geſpräche ja auch nicht ewig dauern können

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Ernſt und Falk bei den orthodoxen Freimaurern, wenn ich ſo ſagen darf, gefunden, entſpricht alſo der Aufnahme, welche die Erziehung des Menſchengeſchlechts bei den or⸗ thodoren Theologen erlangt; Leſſing ſtellt ſich zur exote⸗ riſchen Freimaurerei, wie zur exoteriſchen Offenbarung; er iſt verſichert, daß ſeine Geſpräche „die wahre Ontologie der Freimäurerei enthalten,“ wie die Vorrede anfängt; nemlich in dem Sinne, wie die Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts die wahre Ontologie oder Weſenheit der ge⸗ ſchichtlichen Offenbarung zu geben ſich anheiſchig macht; wenn nun dieſe auch auf einer poſttiven ſpeculativen Idee der Natur und der Geſchichte beruht, ſo iſt doch ihr Ver⸗ halten gegen die Orthodoxie, als dialektiſch, auch negativ, verneinend; die Offenbarung iſt während des Laufs der Weltgeſchichte in ihrer eignen Aufhebung begriffen. Ebenſo iſt die Freimaurerei, eine Art von Offenbarung und Kirche, im Begriffe, ſich continuirlich aufzuheben: und ein drittes Zeitalter (das ewige Evangelium der ewige Friede) wird als das Ziel und Ende der Weltgeſchichte aufgeſtellt, wo die Freimaurerei wie die Offenbarung über⸗ flüſſig gemacht ſein werden: dies iſt der Punkt, wo die beiden, von verſchiedenen Ausgängen ſich bewegenden Be⸗ trachtungen in eine und dieſelbe Idee zuſammenfallen und ſich decken werden. Ein kurzer hiſtoriſcher Anlauf wird den Leſer auf den Geſichtspunkt ſtellen, von wo aus er die gemeinſchaftliche Quelle, wie die gemeinſchaftliche Mün⸗ dung der Betrachtungen über die Ontologie der Offenba⸗ rung und der Freimaurerei entdecken wird.

Wir verſetzen uns in die Epoche zurück, da Leſſing dieſe Geſpräche ſchrieb. Eine Gährung der Geiſter und Gemüther hatte die ganze civiliſtrte, chriſtliche Welt er⸗

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griffen: man ahndete aller Orten eine Regeneration, eine Reform von Grund aus, in dem Verbande der chriſtlichen und bürgerlichen Geſellſchaft. Eben (1775) war der Kampf für Unabhängigkeit und bürgerliche Freiheit in Amerika ausgebrochen, welcher eine faſt allgemeine Sympathie auf dem Continente der alten Welt erregte. In Frankreich ſammelte ſich der Zündſtoff der Revolution; die Zukunft lag ſchwer, aber dunkel auf den Gemüthern; ſo viel glaubte man, daß ein Ereigniß, welches nahte, kein einzelnes Land oder Volk, keine einzelne Inſtitution, ſondern ganz Europa, die geſammte bürgerliche Geſellſchaft in ihren Grundfeſten erſchüttern und mit ſich fortreißen würde; es war zu glei⸗ cher Zeit das Zeitalter politiſcher und ſocialer Schwär⸗ merei. Durch J. J. Rouſſeau war die Form der bür⸗ gerlichen Geſellſchaft in ihren Hauptbeziehungen, vermöge einer Abſtraction von ihrem geſchichtlichen Gewordenſein, theils negirt, theils in Frage geſtellt worden; und dieſe Keime, Vorzeichen der blutigſten Umwälzung, wucherten bei dem einen Theile. Andere dagegen wollten durch Ver⸗ bindungen und Orden die Periode des ewigen Frie- dens herbeiführen oder Sekten ſtiften. Es iſt überſtüſſig, zu fagen, daß dieſen politiſch-ſocialen Combinationen der⸗ jenige Begriff der Perfectibilität als Anſtoß diente, über deſſen Natur und Wirkung wir auf Anlaß von Leſ⸗ ſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts ſattſam gehan⸗ delt haben. Am prägnanteſten wird dieſer Begriff reprä⸗ ſentirt durch das Weis haupt'ſche Syſtem und den durch Weishaupt am 1. Mai 1776 geſtifteten Orden der Per⸗ fectibiliſten, in welchem Carové ſchon den Hauptgrund⸗ ſatz der Saint-Simoniſten für das Praktiſche: „Je⸗ dem nach ſeiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Wer⸗

160 = ken“ wiedergefunden hat“). Dieſer Orden, heißt es, ſollte allen Uebeln ſteuern, die durch Aberglauben und Un⸗ wiſſenheit hervorgebracht werden. Zu dieſem Zwecke ſoll⸗ ten an alle Stellen die Würdigſten gebracht; auf fried⸗ lichem Wege ſollte ein allgemeines Reich geſtiftet, die Abſonderung des Eigenthums, als Quelle des größten Uebels, und nach und nach überhaupt jede Grenzmarke zwiſchen den Menſchen aufgehoben, jeder Familien⸗ vater wieder König und Prieſter in ſeiner Hütte werden.

Leſſing erkannte die Gebrechen der bürgerlichen Geſell⸗ ſchaft nicht minder als ſeine Zeitgenoſſen **), war nicht minder von dem Vorgefühl einer großen politiſchen Zu⸗ kunft ergriffen; doch wie er ſich den Schwärmern auf dem Gebiete der Theologie und Offenbarung entgegenſtellte, ſo hier den Revolutionären und Ordenſtiftern auf dem Ge⸗ biete der Politik und des Socialismus. Die Revolution verurtheilte er, inſofern ſie Blut koſtet. „Was Blut ko⸗ ſtet, iſt gewiß kein Blut werth“ ſagt Ernſt mit Hinſicht auf den Freiheitskampf in Amerika (fünftes Geſpräch. X. 298.) Das Orden- und Sektenſtiften war ihm zwar auch von Herzen zuwider (ſiehe oben S. 21.). Nun aber be⸗

*) F. W. Carové, der Saint⸗Simonismus und die neuere franzöſiſche Philoſophie. Leipzig 1831. S. 197. Es iſt wich⸗ tig, daß hier die Grundideen der Schule und Religion St. Si⸗ mon's ſchon bei deutſchen Philoſophen, namentlich Krauſe, Fichte, J. J. Wagner nachgewieſen werden: Leſſing, von dem dieſe alle gelernt haben, Leſſing, der Verfaſſer der Erziehung des Menſchen⸗ ſchengeſchlechts und von Ernſt und Falk, wird aber nicht ein⸗ mal genannt.

) Vgl. das kurze ſarkaſtiſche „Geſpräch über die Soldaten und Mönche.“ XI. 612. und oben S. 114. die Anmerk.

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ſtand bereits ſeit uralter Zeit in der ganzen civiliſirten chriſtlichen Welt ein von den Regierungen geduldeter, zum Theil beſchützter Orden, der Freimaurer-Orden; Leſſing ſelbſt war Mitglied deſſelben. Im Geiſte ſeiner Zeit, welche einmal die Darſtellung höchſter Wahrheiten über die ewi⸗ gen Fragen der Menſchheit an irgend ein Myſtiſches zu knüpfen liebte (man denke an Wilhelm Meiſter's Lehrjahre von Göthe, und die Aufnahme des Helden in den Orden. der Erziehenden, eine Art Freimaurer-Orden), aber auch nach feiner eignen plaſtiſchen Denk- und Darſtellungsweiſe hat Leſſing feine Ideen über den Staat und die bür⸗ gerliche Geſellſchaft, in heutiger Sprache zu reden, fein politiſches Glaubensbekenntniß, in eine „On- tologie der Freimaurerei“ oder, wie er ſich auch ausdrückt, in fein „Freimaurer-Bekenntniß“ eingekleidet. Was Leſſing für ſeine Perſon von dem Orden gehalten hat, geht aus Ernſt und Falk, beſonders den beiden letzten Geſprä⸗ chen, hervor, wo Ernſt, der ſich, von Falk's Speculation verlockt, hatte aufnehmen laſſen, enttäuſcht zurückgekehrt, dieſen mit bittern Vorwürfen überhäuft *): wir brau⸗ chen daher kaum die Anekdoten zu wiſſen, welche Karl Leſ⸗

*) Ernſt. Du haſt mich zu einem albernen Schritte ver⸗ leitet was konnte Dich bewegen, mich auf dies Eis zu füh⸗ ren? Falk. Dein Verdruß macht Dich ſehr ungerecht. Ich ſollte mit Dir von der Freimaurerei geſprochen haben, ohne es mehr als auf eine Art zu verſtehen zu geben, wie unnütz es ſei, daß jeder ehrliche Mann ein Freimaurer werde wie unnütze nur? ja, wie ſchädlich.“ Mendelsſohn's Zudringen, ihm etwas zu verrathen, unterbrach Leſſing lachend: „Hören Sie auf, lieber Moſes. Da habe ich meinen Orden für nichts und wieder nichts compromittirt.“ (Leſſing's Leben 1. 301.)

rl

fing in Leſſing's Leben darüber vorbringt. Er hielt es daher für vollkommen unnöthig, ein aufgenommener Frei⸗ maurer zu ſein, um nichtsdeſtoweniger ein Freimaurer der Idee nach zu ſein, was in Ernſt und Falk auf je⸗ der Seite vorkommt. Dies genügt. Das Myſtiſche al⸗ lein oder hauptſächlich war alſo das Motiv, ſeine ſpecu⸗ latiben Ideen und Hoffnungen über die Zukunft der bür⸗ gerlichen Geſellſchaft oder über den ewigen Frieden, an den Orden zu knüpfen; wie das Myſtiſche in den Dog⸗ men der chriſtlichen Religion ihm das Vehikel war, die Folgerungen ſeines naturphiloſophiſchen und ontologiſcheu Spyhtems an dieſelben zu knüpfen. Der Orden iſt ihm zwar gegeben, aber zugleich ein hypothetiſcher: wenn es einen Orden giebt oder gäbe, welcher im Staaten⸗Verbande nütz⸗ lich und nothwendig iſt oder wäre, wie müßte er, ſollte er beſchaffen ſein? und zuletzt kommt es gar da hinaus, daß dieſer hypothetiſche Orden als Orden gar nicht exi⸗ ſtire: „Denn, ſagt Falk, 5. Geſpräch (X. 299.), die (Frei⸗ maurerei) beruht im Grunde nicht auf äußerliche Ver⸗ bindungen, die ſo leicht in bürgerliche Anordnun⸗ gen ausarten; ſondern auf das Gefühl gemeinſchaft⸗ lich ſympathiſirender Geiſter.“ Wir erinnern uns hier (ſ. oben S. 23.), daß Leſſing an einem andern Orte, mit den nemlichen Worten: „ſtille Verbrüderung mit ſym⸗ pathiſtrenden Geiſtern“ unter den Eigenſchaften nannte, „auf welchen das wahre philoſophiſche Leben des den⸗ kenden Kopfes beruht.“

Da wir nun das Syſtem Leſſing's, ſeine Ideen über Perfectibilität überhaupt, welche die Metempſychoſe zum Hintergrunde hat, nicht nur im Allgemeinen ontologiſch und naturphiloſophiſch, ſondern auch, durch die Erziehung des Menſchengeſchlechts, in ihrer Anwendung auf die Ge⸗

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ſchichte bereits kennen, wollen wir den Plan von Ernſt und Falk, einer Schrift, welche ſich wegen ihres geſchicht⸗ lichen Problems, an die Erziehung des M.⸗G. anſchließt, hiernach zergliedern. Der Freimaurer⸗Orden verhält ſich zur ſpeculatiben Freimaurerei wie eine poſttive Religion, z. B. die chriſtliche, zum Chriſtenthum der Vernunft. Der Nutzen des Ordens beſteht (nach Ernſt und Falk) in der Er⸗ ziehung ſeiner Mitglieder zu weſentlichen Freimaurern mit einem Wort: zu Philoſophen. Ich habe die Worte Falks gegen Ernſt's Vorwürfe, daß er ihn verlockt habe, in den Orden zu treten, angeführt; hier folge deſſen Ant⸗ wort: Falk. „Und warum ſagteſt Du mir nicht ein Wort von Deinem Vorſatze? Ernſt. Würdeſt Du mich davon abgerathen haben? Falk. Ganz gewiß! Wer wollte einem raſchen Knaben, weil er dann und wann noch fallt, den Gängelwagen wieder einſchwär⸗ zen? (Von Leſſing ſelbſt hervorgehoben.) Ich mache Dir kein Compliment; Du warſt ſchon zu weit, um von da wieder abzugehen. Gleichwohl konnte man mit Dir keine Ausnahme machen. Den Weg müſſen Alle betreten.“ Weiterhin von den Neulingen des Ordens: „Aber Kin⸗ der werden Männer laß ſie nur genug, wie geſagt, daß ich ſchon in dem Spielzeuge die Waffen erblicke, welche einmal die Männer mit ſicherer Hand führen werden.“ Hier iſt das pädagogiſche Moment ebenſo heuriſtiſch (nicht ſpeculativ) angewandt, wie in dem erſten Theile der Erziehung des M.⸗G.; denken wir an Stellen wie §. 55. 85. der Erziehung des M.⸗G.: „das Kind wird Knabe.“ „Die ſchmeichelnden Aus⸗ ſichten, die man dem Jünglinge eröffnet ... was find fie mehr, als Mittel ihn zum Manne zu erziehen?“ Um nun zu dem ſpeculativen Kern von Ernſt und

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Falk vorzudringen, haben wir die Worte Freimaurer und Freimaurerei als bloße Symbole zu behandeln: der Phi⸗ loſoph, die Philoſophie, das iſt das wahre Wort; der Philoſoph iſt der vernünftige Chriſt, wie der vernünf⸗ tige Freimaurer. Die Philoſophen, die großen Männer, die privilegirten Seelen aller Orten und Zeiten, oder wie es in Ernſt und Falk geradezu heißt: „die Weiſeſten und Beſten eines jeden Staats (X. 271.), oder welche Na⸗ men man dieſen Führern ihres Geſchlechts gebe“ von denen iſt die Rede. Das Problem iſt mithin das allge⸗ mein ſpeculative: wie verhält ſich der Philoſoph zu der bürgerlichen Geſellſchaft? Die Verwandtſchaft mit der Er⸗ ziehung des M.⸗G. ſpringt in die Augen. Dort hieß es: Was iſt Offenbarung? und wie verhält ſich der Philo⸗ ſoph zur Offenbarung? Hier heißt es: Was iſt das We⸗ ſen der bürgerlichen Geſellſchaft, und wie ER ſich der Philoſoph ihr gegenüber?

Offenbarung, hieß es, iſt Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts zum freien Gebrauche der ſpeculativen Vernunft. Hiemit gab Leſſing wohl zu verſtehen, daß keine poſitibe Religion die abſolute Wahrheit und Vernunft, ſondern Wahrheit, vermiſcht mit Irrthum, enthalte; aber gerade in dem Irrthum erkannte er, „daß Gott dabei ſeine Hand im Spiele habe.“ Analog wendet ſich Leſſing, wenn gleich ohne ihn zu nennen, gegen Rouſſeau, und alle diejenigen, welche wegen der Mängel der beſtehenden bürgerlichen Ge⸗ ſellſchaften und Staaten, dieſe ſelbſt umkehren möchten. In dem zweiten Geſpräche iſt es, wo alle Gebrechen und Mängel der Staaten aus ihrer Vielheit und Verſchie⸗ denheit, aber als einer nothwendigen, wiederum ſelbſt als nothwendige, d. h. unumgängliche abgeleitet werden; ſelbſt nach der Hhypotheſe eines beſten Staats. Die Vielheit

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der Religionen kommt dabei auch zur Sprache: aber als ein Moment der bürgerlichen Verfaſſungen ſelbſt, als das Verhältniß von Kirche und Staat. Dies alles giebt Ernſt dem Freunde zu, und fragt endlich (X. 270.): „Aber was willſt Du damit? Mir das bürgerliche Leben dadurch ver- leiden? Mich wünſchen machen, daß den Menſchen der Gedanke, ſich in Staaten zu vereinigen, nie möge gekom⸗ men ſein? Falk: Verkennſt Du mich ſo weit? Wenn die bürgerliche Geſellſchaft auch nur das Gute hätte, daß allein in ihr die menſchliche Vernunft angebauet werden kann: ich würde ſie auch bei weit größern Uebeln noch ſegnen.“ Die Staaten find alſo, trotz ihren Män⸗ geln, ein unendlicher Fortſchritt gegen den Stand der Natur. |

Welches war, zweitens, das Verhältniß des Philoſophen zur Offenbarung? Nach dieſer Seite muß ihm „die Aus⸗ bildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten geſtattet werden; es iſt nicht wahr, daß Speculationen über dieſe Dinge jemals Unheil geſtiftet, und der bür⸗ gerlichen Geſellſchaft nachtheilig geworden. Nicht den Speculationen: dem Unſinne, der Tyrannei, dieſen Speculationen zu ſteuern: Menſchen, die ihre eignen hat⸗ ten, nicht ihre eignen zu gönnen, iſt dieſer Vorwurf zu machen.“ |

So ſoll nun auch der Staat die Philoſophen (ganz im antiken Sinne des Wortes, die Weiſen, die Geſetzge— ber ſubſtituirt den Freimaurern) ungeſtört und unge⸗ fährdet ſich mit Sperulationen und Ideen über die Ver⸗ beſſerung und Veredlung der Menſchheit beſchäftigen laſſen. Darum ſoll die Freimaurerei, wenn ſie das iſt, was ſie ſein ſoll (und ſie ſoll ſein, was ſie dem Weſen nach iſt, nemlich Philoſophie, nach Leſſing) geduldet werden. Und

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ſo ſagt Falk (im. 5. Geſpräche X. 209.): „Wie ſich die bürgerliche Geſellſchaft befand, befand ſich aller Orten auch die Freimaurerei, und ſo umgekehrt. Es war immer das ſicherſte Kennzeichen einer geſunden, nervöſen Staatsver⸗ faſſung, wenn ſich die Freimaurerei neben ihr blicken ließ; ſo wie es noch jetzt das ohnfehlbare Merkmal eines ſchwa⸗ chen, furchtſamen Staats iſt, wenn er das nicht öffentlich dulden will, was er im Geheimen doch dulden muß, er mag wollen oder nicht. Ernſt. Zu verſtehen: die Frei⸗ maurer! Falk. Sicherlich! denn (wir ſetzen die Worte noch einmal her) die beruht im Grunde nicht auf äußer⸗ liche Verbindungen, die ſo leicht in bürgerliche Anordnun⸗ gen ausarten; ſondern auf das Gefühl gemeinſchaftlich ſympathiſirender Geiſter. Ernſt. Und wer unterfängt ſich denen zu gebieten!“ Kurz vorher aber ſagt Falk ſehr prägnant: „Ihrem Weſen nach iſt die Freimaurerei eben ſo alt, als die bürgerliche Geſellſchaft. Beide konnten nichts anders, als miteinander entſtehen wenn nicht gar die bürgerliche Geſellſchaft nur ein Sprößling der Freimaurerei iſt. Denn die Flamme im Brennpunkte iſt auch Ausfluß der Sonne. Ernſt. Auch mir ſchimmert das ſo vor. Falk. Es ſei aber Mutter und Tochter, oder Schweſter und Schweſter; ihr beiderſeitiges Schickſal hat immer wechſelſeitig in einander gewirkt.“ Alſo ganz das nemliche Verhältniß zwiſchen bürgerlicher Ge⸗ ſellſchaft und Freimaurerei, d. h. Vernunft oder Philoſo⸗ phie, wie zwiſchen Offenbarung und Vernunft oder Phi⸗ loſophie: und wie hätte es anders ſein können? Die Idee das iſt der Sinn iſt überall den Inſtitutionen vorangegangen; und aus und an den Inſtitutionen ent⸗ wickelt der Philoſoph wieder die Idee. Wenn in der Er⸗ ziehung des M.⸗G. dieſer Gedanke nicht ſo allgemein dar⸗

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gelegt wird, wie in Ernſt und Falk, ſo liegt das zum Theil an der Particularität des Problems.

Dies führt, drittens, zur Idee der bürgerlichen Geſell⸗ ſchaft, denn auf dieſer beruht die Freimaurerei, d. h. die ſpeeulative Politik, fo wie das Chriſtenthum der Vernunft auf der Idee der chriſtlichen Offenbarung beruht. Die Wurzel dieſer letztern Idee, der Idee der Religion, iſt in Leſſing's Syſtem die unendliche Entwickelungsfähigkeit der einzelnen Weſen (Monaden), und inſofern ihre Seligkeit, welche nur, wie über die Lehre von den ewigen Strafen auseinandergeſetzt ward, als keine reine, paſſive Seligkeit zu faſſen iſt, ſo wenig als es eine abſolute Unſeligkeit giebt. Der Raum und das Element dieſer Entwickelung und der fie begleitenden Folgen iſt ebenſo wenig ein ab⸗ ſtractes Jenſeits; ſondern ſie iſt der Natur der Dinge, ih⸗ ren phyſiſchen Verhältniſſen, inſofern ſie zugleich metaphy⸗ ſiſche ſind, immanent. Die Erde ſelbſt und das Menſchen⸗ geſchlecht iſt für die einzelnen Weſen nur ein Durchgangs⸗ punkt, um in Folge ihrer Vervollkommnung nach mehr⸗ maliger Wiedergeburt einen höhern Begriff ihrer ſelbſt zu erreichen. Auf dieſem religiöfen Grunde ruht nun noth⸗ wendig auch das Daſein und der Begriff oder die Idee der bürgerlichen Geſellſchaft; und gemäß demſelben iſt dieſe Idee, wie ſie im zweiten Geſpräche entwickelt wird, zu faſſen. Die Geſellſchaft iſt Mittel zum Zweck, und dieſer Zweck iſt die Glückſeligkeit der Einzelnen, entſprechend der Se⸗ ligkeit, aus dem Geſichtspunkte der Religion. Falk. „Die Staaten vereinigen die Menſchen, damit durch dieſe und in dieſer Vereinigung jeder einzelne Menſch ſeinen Theil von Glückſeligkeit deſto beſſer und ficherer genießen könne. Das Totale der einzelnen Glückſeligkeiten aller Glieder iſt die Glückſeligkeit des Staats. Außer

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dieſen giebt es gar keine. Jede andere Glückſeligkeit des Staats, bei welcher auch noch ſo wenig einzelne Glieder leiden und leiden müſſen, iſt Bemäntelung der Tyrannei. Anders nichts! (X. 263.) Ernſt. Gut! Das bürger⸗ liche Leben des Menſchen, alle Staatsverfaſſungeu find nichts als Mittel zur menſchlichen Glückſeligkeit. Was weiter? Falk. Nichts als Mittel! Und Mittel menſch⸗ licher Erfindung; ob ich gleich nicht leugnen will, daß die Natur alles ſo eingerichtet, daß der Menſch ſehr bald auf dieſe Erfindung gerathen müſſen. Ernſt. Dieſes hat

denn wohl auch gemacht, daß Einige die bürgerliche Ge⸗

ſellſchaft für Zweck der Natur gehalten. Weil alles, unſre Leidenſchaften wie unſre Bedürfniſſe, alles darauf führe, ſei ſie folglich das Letzte, worauf die Natur gehe. So ſchloſſen ſie. Als ob die Natur nicht auch die Mittel zweckmäßig hervorbringen müſſen! Als ob die Natur mehr die Glückſeligkeit eines abgezogenen Begriffs wie Staat, Vaterland und dergleichen find als die Glück⸗ ſeligkeit jedes wirklichen einzelnen Weſens zur Abſicht ge⸗ habt hätte!“ 5

Dies iſt der Zweck des Staats. Aber erfüllen die Staa⸗ ten dieſen Zweck? Sie entſprechen ihm nicht allein öfters nicht, ſondern bewirken auch wohl gerade das Gegentheil davon. Man ſetze die beſte Staatsverfaſſung, als erfun⸗ den und allgemein angenommen, ſo werden auch aus die⸗ ſer beſten Staatsverfaſſung Dinge entſpringen, welche der menſchlichen Glückſeligkeit höchſt nachtheilig ſind, und wovon der Menſch in dem Stande der Natur ſchlechterdings nichts gewußt hätte. Denn wegen der Vielheit und Ver⸗ ſchiedenheit der Nationalitäten, National-Intereſſen und beſonders der Religionen: Ein Staat: mehrere Staaten. Mehrere Staaten: mehrere Staatsverfaſſungen. Mehrere

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Staatsverfaſſungen: mehrere Religionen. Die bürger⸗ liche Geſellſchaft kann die Menſchen nicht vereinigen, ohne ſie zu trennen: nicht trennen, ohne Klüfte zwiſchen ihnen zu befeſtigen, ohne Scheidemauern durch ſie hinzuziehen. Ja, die bürgerliche Geſellſchaft ſetzt ihre Trennung auch in jedem dieſer Theile gleichſam bis in's Unendliche fort.“ Verſchiedenheit der Stände. „Wenn ſie auch alle an der Geſetzgebung Antheil haben: ſo können ſie doch nicht gleichen Antheil haben, wenigſtens nicht gleich unmittel= baren Antheil. Es wird alſo vornehmere und gerin- gere Glieder geben. Wenn Anfangs auch alle Be⸗ ſitzungen des Staats unter ſie gleich vertheilet worden, ſo kann dieſe gleiche Vertheilung doch keine zwei Menſchen⸗ alter beſtehen. Einer wird ſein Eigenthum beſſer zu nutzen wiſſen, als der andere. Einer wird ſein ſchlechter genutz⸗ tes Eigenthum gleichwohl unter mehrere Nachkommen zu vertheilen haben, als der andere. Es wird alſo reichere und ärmere Glieder geben.“ (Problem der modernen So⸗ cialiſten.) |

Es iſt mithin in dem Begriffe der Staaten, wie ſie ſind und ſein müſſen, wenn ſte ſind und weil ſte ſind, ein Widerſpruch enthalten, welcher den Philoſophen mit ſeinem Denken darüber hinaustreibt. Dies iſt das Dia⸗ lektiſche, das Relative, wie bei den Offenbarungen, den poſitiven Religionen, wo es hieß: „Die Erziehung hat ihr Ziel: bei dem Geſchlechte nicht weniger als bei dem Einzeln. Was erzogen wird, wird zu etwas erzogen“ (F. 82. Erziehung des M.⸗G.). Der Sinn iſt: Die po⸗ ſitiven Religionen werden und ſollen ſich aufheben in der Religion der reinen Vernunft: in dem „Chriſtenthum der Vernunft.“

Erziehung des M.⸗G. 8

a

Der nemliche Gedanke von dem Ziele der Staaten. Mit weiſer Kunſt hat der Philoſoph dies im Eingange des zweiten Geſprächs allegoriſch an dem Leben und Trei⸗ ben der Ameiſen angedeutet. Ern ſt. (Sieh!) „Das Leben und Weben auf und in und um dieſen Ameiſen. Welche Geſchäftigkeit und doch welche Ordnung! Alles trägt und ſchleppt und ſchiebt, und keines iſt dem andern hinderlich. Sieh nur! Sie helfen einander ſogar. Falk. Die Amei⸗ fen leben in Geſellſchaft, wie die Bienen. Ernſt. Und in einer noch wunderbarern Geſellſchaft als die Bienen. Denn fie haben niemand unter ſich, der fie zuſammenhält und regiert. Falk. Ordnung muß alſo doch auch ohne Regierung beſtehen können. Ernſt. Wenn jedes einzelne ſich ſelbſt zu regieren weiß: warum nicht?“ Falk. Ob es wohl auch einmal mit den Men⸗ ſchen dahin kommen wird?“ Hier, in dieſen Worten iſt das Ziel der Menſchheit und ſomit der Schlüſſel zum Verſtändniß der ganzen Dialektik zwiſchen dem Beſtehen⸗ den und der Idee gegeben. Hier coincidiren die religiöſe und die politiſch⸗ſociale Betrachtung. Die poſttiven Re⸗ ligionen wirken durch Verheißungen und Drohungen von Lohn und Strafe in einer andern Welt; die Regierungen wirken durch Belohnungen und Strafen ſchon in dieſer Welt. Aber für den Philoſophen giebt es keine „nirgends gränzenden Gränzen“ zwiſchen einem Diesſeits und Jen⸗ ſeits. Daher folgt: die Zeit eines neuen ewigen Evan⸗ geliums, welche der ſpeculative Chriſt mit ſolcher Zu⸗ verſicht verkündiget („fie wird kommen, ſie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung“ ..), wird mit der Zeit des ewigen Friedens zuſammenfallen. Das iſt das ſpe⸗ culative letzte Geheimniß des Philoſophen oder des Frei⸗ maurers.

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Wir ſehen, daß Leſſing ſich die Probleme des moder⸗ nen Liberalismus und Socialismus ſo ſcharf geſtellt hat, als ſie in den Anfängen der franzöſiſchen Revolution ein Jacobiner (welche bekanntlich ſpeculativ-ſociale Schwärmer waren, ehe ſie blutige Revolutionairs wurden) oder nach der Juli⸗Revolution ein Jünger St. Simon's nur ſtellen konnte: was würde Leſſing zu jenen Revolutionairen und Schwärmern geſagt haben oder ſagen, wenn er lebte?

Was er von den „Schwärmern des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts“ geſagt, welche „einen Strahl des neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten, und nur darin irrten, daß ſie den Ausbruch deſſelben ſo nahe verkündigten“ ($. 87. der Erziehung des M.-G.). „Es blieb auch bei ihnen immer die nemliche Oeconomie des nemlichen Gottes. Immer ſte meine Sprache reden zu laſſen der nemliche Plan der allgemeinen Erziehung des Menſchengeſchlechts“ (§. 88.). „Nur daß fle ihn über⸗ eilten: nur daß ſie ihre Zeitgenoſſen, die noch kaum der Kindheit entwachſen waren, ohne Aufklärung, ohne Vor⸗ bereitung, mit Eins zu Männern machen zu können glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig wären“ ($. 89.). „Und eben das machte ſie zu Schwärmern. Der Schwär⸗ mer thut oft ſehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann dieſe Zukunft nur nicht erwarten. Er wünſcht dieſe Zukunft beſchleuniget, und wünſcht, daß ſie durch ihn be⸗ ſchleuniget werde. Wozu ſich die Natur Jahrtauſende Zeit nimmt, ſoll in dem Augenblicke ſeines Daſeins ars

Ein politiſcher Schwärmer oder Träumer ift Gegen⸗ ſtand der Betrachtung zwiſchen Ernſt und Falk im fünf⸗ ten Geſpräche: ein Freimaurer „von denen, die in Europa für die Amerikaner fechten und die Grille hat, daß

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der Congreß eine Loge iſt; daß da endlich die Freimau⸗ rer ihr Reich mit gewaffneter Hand gründen. Ernſt. Bei Gott! wenn ich wüßte, daß ich mich in den Freimaurern gar ſo betrogen hätte! Falk. Sei ohne Sorge. Der Freimaurer „— der Philoſoph —“ erwartet ruhig den Auf⸗ gang der Sonne, und läßt die Lichter brennen, ſo lange ſie wollen und können. Die Lichter aus⸗ löſchen, und wenn ſie ausgelöſcht find, erſt wahrnehmen, daß man die Stümpfe doch wieder anzünden, oder wohl gar andere Lichter wieder aufſtecken muß; das iſt der Frei⸗ maurer Sache nicht.“ N

Was iſt der Freimaurer, d. i. der Philoſophen Sache?

Im erſten, zweiten und dritten Geſpräche iſt ſte in all⸗ gemeinſter Weiſe beſchrieben: das Gegenſtück der Schwär⸗ mer; man leſe: „Die wahren Thaten der Freimaurer ſind ſo groß, fo weit ausſehend, daß ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man ſagen kann: das haben fie ge⸗ than! Gleichwohl haben ſie alles Gute gethan, was noch in der Welt iſt, merke wohl: in der Welt! Und fahren fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird merke wohl: in der Welt.“ Am Schluſſe wiederholt Falk dieſe Frage (X. 276.): „Be⸗ greifit Du nun, warum ich ſagte, ob die Freimaurer ſchon immer thätig wären, daß Jahrhunderte dennoch vergehen könnten, ohne daß ſich ſagen laſſe: das haben ſie gethan?“ „Nun geh, und ſtudiere jene Uebel, und lerne ſie alle kennen, und ſei verſichert, daß Dir dieſes Studium Dinge aufſchließen wird, die in den Tagen der Schwermuth die niederſchlagendſten, unauflöslichſten Einwürfe wider Vor⸗ ſehung und Tugend zu ſein ſcheinen. Dieſer Aufſchluß, dieſe Erleuchtung wird Dich ruhig und 1 ie auch ohne Freimaurer zu heißen.“.

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An dieſen Stellen iſt es, wo der ſpeculative Grund- gedanke, womit die Erziehung des Menſchengeſchlechts ſchließt, durchbricht, wenn auch ohne, wie dort, ausgeſpro⸗ chen zu ſein, durch welchen allein aber die Betrachtung ſich vollkommen abrundet: der Gedanke der Ewigkeit, als der Form der unendlichen Entwickelung der einzelnen Weſen. Der Gegenſatz zwiſchen dem Schwärmer und dem Freimaurer oder dem Philoſophen findet in jenem Ge— danken ſeine Auflöſung. Unmittelbar greift die Erziehung des Menſchengeſchlechts an dieſem Punkte in Ernſt und Falk ein, und führt die Betrachtung, der Idee nach, zum Schluſſe, wenn der Philoſoph bei der Rede von den Schwär⸗ mern des dritten Zeitalters, eine neue Wendung nehmend, fagt: ($. 40.) „Denn was hat er davon, wenn das, was er für das Beſſere erkennt, nicht noch bei ſeinen Lebzeiten das Beſſere wird? Kommt er wieder? Glaubt er wiederzukommen? „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorſehung! Nur laß mich dieſer Unmerk⸗ lichkeit wegen an dir nicht verzweifeln. Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn ſelbſt deine Schritte mir ſchei⸗ nen ſollten zurückzugehen! Es iſt nicht wahr, daß die kürzeſte Linie immer die gerade iſt. Du haſt auf deinem ewigen Wege ſo viel mitzunehmen! ſo viel Seitenſchritte zu thun!“ Doch ich breche ab, damit ich nicht den ſchon einmal durchlaufenen Kreis von Neuem zu be⸗ treten ſcheine; genug wenn ich den eigentlichen nächſten Zweck erreicht habe, klar zu machen, daß die Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts und „Ernſt und Falk“ die Theodicee in Leſſing's Syſtem, nur von zwei verſchiedenen Seiten, dar⸗ ſtellen, welche auf einen und denſelben Mittelpunkt die Idee der Metempſychoſe bezogen werden. Wenigſtens wird kein Philoſoph Leſſing's Erziehung des Menſchen⸗

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geſchlechts, ſo wie Ernſt und Falk, wie bisher, iſolirt, ſondern nur in ihrer Beziehung zu ſeiner Philoſophie und ſeinen übrigen Schriften, in welchen dieſe enthalten iſt, nennen; auf dieſem genetiſchen Zuſammenhang hauptſäch⸗ lich beruht ja die Originalität und Eigenthümlichkeit die⸗ ſer Schriften, wie auf der Uebereinſtimmung der Idee mit der Darſtellung ihre Schönheit, ihre Klaſſtzität.

Was unſre Stellung, gegenüber dem Funde des Herrn Körte, betrifft, fo iſt fie, vermöge der uns gewordenen Er⸗ gebniſſe, nicht mehr diejenige, welche es vorher zu ſein ſchien. Weder Leſſing noch eine ſeiner Schriften, die Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts ſo wenig, als jede an⸗ dere, als z. B. Ernſt und Falk, oder Nathan der Weiſe, ſteht oder kommt mehr in Frage: in Frage ſteht dagegen die Echtheit der Selbſtbekenntniſſe Albrecht Thaer's; für welche ſein Biograph, Herr Körte, uns ver⸗ antwortlich iſt. Und dies darf weder unſre Leſer, noch jenen überraſchen: er ſelbſt hat ſich die größte Mühe ge⸗ geben, zu beweiſen, daß Thaer ſich in dieſen Selbſt⸗ bekenntniſſen als den Verfaſſer von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts angegeben habe: was will er mehr? wir ſtimmen ihm vollkommen bei, daß der Text, den er ſo ausgelegt hat, dieſer Aus⸗ legung fähig, jeder andern Auslegung ſog ar un fähig iſt; da dies aber Unſinn giebt, indem ein Mann von nur mäßigem Verſtande und von Charakter nur in einem Augenblicke von Geiſtesabweſenheit ſich als den Verfaſſer von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts ausgeben könnte wie kann man ohne die ſtrengſte Un⸗

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terſuchung und Prüfung jene Bekenntniſſe für echt anneh⸗ men! Dieſe Prüfung gehört noch zu unſerer Aufgabe. Ich muß aber vor Allem von der Natur dieſer Bekennt⸗ niſſe, und von ihrer Redaction durch den Biographen Herrn Körte ein Wort ſagen.

Sie führen die Ueberſchrift: „Mein Lebenslauf und Bekenntniſſe, für Philippine.“ (S. 4— 20. S. 32—49. „Celle. Fortſetzung der Bekenntniſſe.“) Der Bio⸗ graph ſchreibt (S. 50.): „Als Thaer obige Bekenntniſſe niederſchrieb, war er bereits Stadtphyſikus und Zuchthaus⸗ arzt (ſeit 1778) und (ſeit 1780) kurfürſtlicher Hofmedi⸗ cus. Philippine, welche er Jahrelang im Aug' und Herzen gehabt hatte, und mit welcher er kurz nach jenen „Bekenntniſſen“ förmlich verlobt ward, war die Toch⸗ ter des Vice⸗Präſidenten am Ober⸗Appellationsgericht zu Celle, Georg Wilhelm von Willich. Thaer hatte ſie

kennen gelernt, als man ihn bei einer frühern bedenklichen

Krankheit ärztlich zu Rathe gezogen hatte, wo ihr eigent⸗ licher Zuſtand verkannt und fie wirklich dem Tode nahe gebracht worden war. Durch ſein Verfahren gerettet, ge⸗ dieh ſie zu einer geſunden friſchen Blüthe.“ Ueber das Vorkommen dieſer Confeſſion ſchreibt derſelbe S. 4., nach Meldung von Geburt“) und Eltern des Gefeierten: „Von dieſen feinen Eltern, fo wie von feinen Kinder-, Schul⸗ und Univerſitäts⸗Jahren haben wir glücklicherweiſe einen etwas ausführlichen Bericht mitzutheilen, von ihm ſelbſt, im Jahre 1785, für feine nachherige Gattin, mit der ihm eigenen ſchlichten Offenheit niedergeſchrie⸗ ben.“ Dazu unter dem Texte die Anmerkung: „Der Auf⸗

*) „Albrecht Daniel 2 ward geboren zu Celle am 14. Mai 1752.“

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ſatz wird hier Wort für Wort mitgetheilt. Es giebt kein vollgültigeres Zeugniß für Reinheit der Seele, Tüchtigkeit der Geſinnung und eminentes Talent, als eine ſo rückhaltloſe Selbſt-Anſchauung, wie man ſte hier findet.“ Und ebenſo im Nachworte zu die⸗ ſen Bekenntniſſen (S. 49.): „Hier endigen die „Bekennt⸗ niſſe,“ aus welchen wir das Innere eines wahrhaft red⸗ lichen, allem Guten und Rechten mit echter Sittlichkeit, aller Wahrheit mit Anſtrengung nachſtrebenden Jüng⸗ lings und Mannes ſo vollſtändig, ſo unumwunden kennen lernen, wie es ſelten vergönnt iſt (sie). Unſer Hiſto⸗ riker und reſp. Herausgeber ſteht alſo nicht allein für die wörtliche, ja buchſtäbliche Treue ſeiner Papiere ein die wird von dem wohlwollenden Leſer vorausgeſetzt ſondern auch für des Helden höchſte und edelſte Geſinnun⸗ gen, deren Ausdruck und Zeugniß eben dieſe Bekenntniſſe ſein ſollen; und weit entfernt, zu glauben, daß der Leſer betroffen werden möchte, wenn Thaer ſich fremdes Gut, Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts, zuſchreibt, iſt er es vielmehr, welcher mit aller Gewalt darauf beſteht, und von Leffing’3 klaſſtſcher Schrift ſagt (S. 27.): „Sie iſt ein merkwürdiger Beitrag zur Charakteriſtik Thaer's, zugleich aber auch ein glänzender Beweis, daß dem Selbſt⸗ denker das ganze Gebiet des Wiſſens und Forſchens of⸗ fen ſteht, ſo daß er ſich in demſelben ſichere Pfade zu bah⸗ nen weiß nach jedem Ziele, welches zu erreichen er irgend der Mühe werth achtet.“ Thaer zeigte ſich alſo nach je⸗ nen Bekenntniſſen nicht allein als offenen, edeln Charak⸗ ter, ſondern obenein, vermöge der Erziehung des Men⸗ ſchengeſchlechts, als ein Genie erſten Ranges.

Wie nun Herr Körte ſich durch das Letztere an und für ſich eine lächerliche Blöße giebt, und übrigens am

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Schluſſe des Buches ſelbſt einräumt (S. 328.): „Thaer war nicht eigentlich ein erfindendes Genie,“ und vorher (S. 327.): „Poeſie und Philoſophie waren in ihm nicht aetiv, ſondern nur paſſiv vorhanden,“ was aber das wichtigſte iſt: von der Thaer'n zugeſprochenen Schrift biographiſch nicht den entfernteſten Gebrauch macht... fo macht er durch den ganzen Paneghrikus, um des willen er ſich auf die „Bekenntniſſe“ beruft, ſowohl ſich ſelbſt als die Natur ſeiner Papiere höchſt verdächtig; denn dieſe Bekenntniſſe laſſen uns die entgegengeſetzten Eigen⸗ ſchaften erblicken; und ich verweiſe meine Leſer nur an dieſelben “). Nicht „ſchlichte Offenheit,“ ſondern berech— nete und geſchraubte Heimlichkeit, und anſtatt „Tüchtigkeit der Geſinnung und rückhaltloſer Selbſtanſchauung“ zeigen ſie Myſtification, Prahlerei und ungemeſſene Eitelkeit. Die Schreibart iſt auch darnach; bombaſtiſch, zerfahrend, loſe, in allem das Gegentheil derjenigen Eigenſchaften, durch welche echte Bekenntniſſe ſich auszeichnen, und von untergeſchobenen ſich unterſcheiden. Der Leſer wird urtheilen; wir aber brauchen zum Belege unſrer Ausſagen nicht weit zu gehen.

Die Stelle in den Bekenntniſſen, laut welcher, nach Herrn Körte, Thaer als den Verfaſſer von Leſſing's Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts im höchſten Ernſte ſich zu erkennen giebt, lautet (S. 17. bei Illgen S. 103.): **)

) Den Theologen wird Illgen's Zeitſchrift für die hiſtoriſche Theologie 1839. IV., wo dieſe Bekenntniſſe im Auszuge wieder abgedruckt ſind, leichter als Körte's Buch zu Gebote ſtehen.

*) Als Zeit und Ort iſt das Ende des Jahres 1773 und die Univerſität Göttingen zu denken. Vgl. S. 350., wo Herr Körte mit der Miene des Kritikers, auf den Paſſus zurückblickend,

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„In der Vorſtellung der Lehren (der chriſtlichen Glaubens⸗ lehren) war ich weder mit den orthodoxen, noch mit den neuen fogenannten (2) Berliner Theologen einig. Ich er⸗ ſchuf mir ein neues Syſtem und brachte es flüchtig zu Papier. Er ward wider meinen Willen abgeſchrie⸗ ben, fiel in die Hände eines großen Mannes, der den Styl etwas umänderte und einen Theil davon, als Fragment eines unbekannten Verfaſſers, heraus⸗ gab. Nachher iſt auch der 2. Theil herausgekommen, aber mit Zuſätzen, woran ich keinen Antheil habe. Bis jetzt wiſſen es nur drei lebendige Menſchen, daß ich der Urheber bin; doch giebt es Mehrere, die es vermuthen, und gegen die ich es ſtreng leugne. Ich kann mich auf Ihre Verſchwiegenheit verlaſſen. In meiner und der Dinge jetziger Lage möchte ich um Alles nicht, daß es bekannt würde. Wegen des Namens des Herausgebers und der zu großen Abkürzungen der Sätze iſt es ganz wider⸗ ſinnig von allen Parteien mißverſtanden worden (es? das Syſtem wohl!), und es iſt doch ſo klar für Jeden, der es unbefangen in die Hand nimmt. Anfangs las ich alles, was dafür, dawider und darüber herauskam; jetzt ekelt's mich an. Von Allem, was ich Ihnen vertrauet habe und vertrauen werde, müſſen Sie dieſes am ſtrengſten ver⸗ ſchwiegen halten, bis ich es einmal rathſam finde, hervor⸗ zutreten. Ich hätte es Ihnen ſelbſt nicht geſagt, wenn Sie mich nicht über meine religiöſen Meinungen gefragt

ſchreibt: „In einem handſchriftlichen autobiographiſchen Aufſatze des im Jahre 1828 verſtorbenen Staatsraths Albrecht Thaer vom Jahre 1785 fand man neulichſt folgende Stelle, betreffend ſeine nebenbei getriebenen theologiſchen Studien in 5 0 gen, am Ende des Jahres 1773“ u. ſ. w.

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hätten. Aber ich habe mir vorgenommen, Ihnen über Al⸗ les, was Sie wiſſen wollen, die reinſte Auskunft zu ge⸗ ben. Wollen Sie das Büchlein leſen, ſo will ich es Ihnen bringen.“ Das Uebrige iſt hohler Wort⸗ ſchwall, welcher gar nichts zur Sache thut.

Es gehört wahrlich eine große Ruhe dazu, zu dieſer Geſchichte ernſthaft zu bleiben; wenn ſie gleich ihre ſehr ernſthafte Seite hat. Der Schatten Thaer's verzeihe mir, wenn ich, um ihn von dem Scheine eines moraliſchen Diebſtahls zu retten, ſeinen Namen eine Weile noch mit einmiſche. Thaer alſo bietet ernſthaft der Geliebten an, ihr „das Büchlein,“ wenn ſie es leſen will, zu bringen. Dieſes „Büchlein“ vertritt in dem Prozeſſe, den wir gleich⸗ ſam im Namen des Schattens Leſſing's gegen den Schat⸗ ten Thaer's vor dem Richterſtuhle der Kritik führen müſ⸗ ſen, das corpus delicti. Ein Büchlein alſo dies paßt; die Erziehung des Menſchengeſchlechts erſchien 1780 als ein für ſich beſtehendes Büchlein (ſ. oben S. 11.); es war ein theologiſches Büchleinz auch dies iſt im All⸗ gemeinen richtig. Ein großer Mann gab dies Büchlein als das Werk eines unbekannten Verfaſſers heraus richtig; Leſſing war dieſer große Mann, welcher, wie wir wiſſen, ſich als den Urhrber ſeiner eignen Schrift verleug⸗ net, und ſich blos als Herausgeber vorgeſtellt hat. Dieſe drei literar⸗hiſtoriſchen Kennzeichen thäten dar, daß Thaer ſeiner Geliebten die Erziehung des Menſchengeſchlechts von Leſſing als ein Büchlein angeboten habe, von dem er der wahre, aber unbekannte Verfaſſer ſei; womit er denn die fromme Jungfrau freilich arg betrogen hätte. Geſtehen wir, etwas Schrecklicheres kann man auf den Ruf eines Eh⸗ renmannes, in welch' immer einer Poſition des Lebens, nicht kommen laſſen: denn, wie wir S. 57. der Biographie

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Thaer's leſen, Thaer hätte durch jenes Bekenntniß ſeine Geliebte, welche am orthodoxen Chriſtenthum feſt hielt, beruhigen wollen; aber durch welchen Betrug! Herr Körte ſchreibt dort: „Philippine ſah ſich durch das, was er in feinem „Lebenslauf“ von feinem religiöſen Syſtem ihr bekannt hatte, weder befriedigt noch beruhigt; der kindlich frommen Jungfrau ſchien beſonders der Gedanke ſchreck⸗ lich: der Geliebte könne, wegen ſeines kirchlichen Unglau⸗ glaubens, den göttlichen Strafen unterliegen müſſen.“ Wird ſie ſich wohl das „Büchlein“ nicht ausgebeten ha⸗ ben, um das religiöſe Syſtem ihres Freundes an der Quelle kennen zu lernen? .. um fo mehr, als die mitgetheilten Worte ohne allen eigentlichen Inhalt und nichts als Re⸗ densarten ſind. Und wenn die Dame, Leſſing's Büchlein in der Hand, in dem Wahne war, das Werk ihres Ge⸗ liebten, nachherigen Gatten zu leſen!! Dieſe Vorſtel⸗ lungen ſind unabweisbar, wenn man dieſes Bekenntniß für echt hält, und Herrn Körte Vertrauen ſchenkt. Eine harte Alternation! Um da herauszukommen, giebt es kein anderes Mittel, als Thatſachen reden zu laſſen: die Folgerungen werden fich den unpartheiiſchen Leſern, und ſelbſt den partheiiſchen, nemlich denjenigen, welche für den Schatten A. Thaer's, oder gegen den Ruf ſeines Biogra⸗ phen Partei nehmen, von ſelbſt ergeben.

Thatſache iſt: daß Albrecht Thaer in ſeinem ganzen Leben nicht daran gedacht hat, einen moraliſchen Diebſtahl an Leſſing zu begehen, dadurch, daß er ſich die Grund⸗ lage oder einen Theil oder das Ganze von Leſſing's Er⸗ ziehung des Menſchengeſchlechts zugeſchrieben hätte: er hatte dazu zu viel Verſtand, zu viel Charakter. Fern ſei ein ſolcher Gedanke: es ſchmerzt, ihn nur auszuſprechen; allein wir ſprechen, wie wir auf unſerm Standpunkte

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ſprechen müſſen; und es iſt nicht unſre Schuld, daß wir ſo reden müſſen.

Thatſache iſt dagegen: daß Herr Körte, welcher uns für die Echtheit von Thaer's Selbſtbekenntniſſen allein ver⸗ antwortlich iſt, den wahren, kritiſch-philoſophiſchen Ge⸗ ſichtspunkt für die Erziehung des Menſchengeſchlechts von Leſſing theils nicht gekannt, theils ſogar vorſätzlich und gewaltſam gefälſcht hat. Thatſache iſt drittens: daß dieſer theils an und für ſich falſche, theils literariſch gefälſchte Geſichtspunkt obigem Paſſus und der übri⸗ gen Oeconomie der Bekenntniſſe zu Grunde liegt, ſo daß es kein Wunder iſt, wenn die Auslegung des Biogra— phen ſo vortrefflich zum Texte ſtimmt (welche Ueberein⸗ ſtimmung zwiſchen Auslegung und Text den Herrn Prof. Illgen ſo arg berückt und Andere wenigſtens irre gemacht hat), indem das größere Wunder iſt, daß der Text ſo hübſch zu der Auslegung ſtimmt. Thatſache iſt vier⸗ tens: daß dieſer Paſſus mit einem andern in der „Fort- ſetzung der Bekenntniſſe“ in dem allergenaueſten Zuſam⸗ menhange ſteht, welcher Paſſus die umſtändlichſte Darſtel⸗ lung eines früher ganz unerhörten, perſönlichen Verhält⸗ niſſes zwiſchen Albrecht Thaer und Leſſing enthält, welches aber niemals ſtattgefunden hat, was ſich, kraft beglaubigter Urkunden, erhärten läßt. Thatſache iſt fünftens: daß Herr Körte dieſem von Thaer, dem Scheine nach, erlogenen Verhältniſſe zwiſchen ihm und Leſſing nicht allein in den Anmerkungen und Erläuterungen ſeine Zu⸗ ſtimmung giebt, ſondern auch die Beweisführung, daß Thaer der Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts geweſen ſei, weſentlich auf jenes erlogene Verhältniß (er- logen muß ich ſagen, weil es in „Selbſtbekenntniſſen“ vor⸗ kommt) zwiſchen Thaer und Leſſing ſtützt. Thatſache

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iſt ſechstens: daß dieſes doppelt erdichtete Verhältniß Thaer's zu Leſſing ſowohl überhaupt und perſönlich, als in Bezug auf die Erziehung des Menſchengeſchlechts, den Kern und Mittelpunkt der ganzen vorgeblichen Selbſtbekenntniſſe ſind. Ich könnte die Zahl dieſer Thatſachen noch vermehren; aber ich glaube, wenn ich die hier genannten darlege, wird der Leſer Data genug haben, ſich zu Gunſten Thaer's ge⸗ gen ſeinen Biographen oder zu Gunſten ſeines Biographen gegen A. Thaer zu entſcheiden, indem ein Drittes nicht zu⸗ gelaſſen wird. Denn eine Fiction iſt nachgewieſen; auf beiden Seiten zugleich kann ſie nicht liegen, ſondern nur auf einer von beiden; und es bleibt nur auszumachen, auf welcher von beiden?

Ich beginne mit dem Geſichtspunkte des Herrn Körte über Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts, welcher, ſage ich, zeigt, daß er (trotz den ſehr fleißigen Studien in Leſſing, welche wir wider feinen Willen entdecken werden) dieſe Schrift ihrem Geiſte und ihrer Bedeutung nach nicht gekannt, und daß er die literariſchen Data verfälſcht hat. Weitläuftig brauche ich nicht zu ſein, indem ich mich auf die bevorſtehende Erörterung als Maaß⸗ ſtab beziehe, wo ich auch ſchon hie und da im Vorbeigehn auf Herrn Körte mit hingewieſen habe. Er hat Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts nicht gekannt: er ſetzt ſie mit den Wolfenbüttler Fragmenten in Pa⸗ rallele, wirft ſie mit ihnen auf einen Haufen. Dies iſt das xewrov abeböog, aus welchem feine ganzen verun⸗ glückten Künſte gefloſſen ſind; er hat nicht geſehen, daß die Erziehung des Menſchengeſchlechts die Widerlegung der Fragmente beabſichtigte, noch viel weniger, daß dieſe auf einer tiefern ſpeculativen Idee, einem Syſteme beruht, wel⸗ ches ein ganzes philoſophiſches Leben vorausſetzt; er hat

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alſo nicht bedacht, daß die Fragmente und die Erziehung des Menſchengeſchlechts nicht in einem und demſelben Kopfe, wenigſtens nicht zu Einer Zeit, Platz haben können, in⸗ dem ſie ſich gegenſeitig ausſchließen. Dieſe Unwiſſen⸗ heit hat ihn zu der, für einen Biographen Thaer's un⸗ ſtatthaften und gar lächerlichen, Bemühung veranlaßt, über den Verfaſſer der Fragmente Unterſuchungen anzuſtellen; da doch der erſte Entwurf der Fragmente des Reimarus aus dem Jahre 1744 herrührt, A. Thaer aber erſt 1752 ge⸗ boren wurde *); und auf apagogiſche Art zu ſchließen: Thaer hat entweder eines von den Wolfenbüttler Frag⸗ menten, oder die Erziehung des M.-G. verfaßt; jenes nicht folglich dieſes! Seine ganze Beweisführung, welche wie ein Rechenexempel gehalten iſt, und wo die Argumente, ſo zu ſagen, in den Sack gezählt werden, aus dem, wie durch's Loos, die Erziehung des Menſchengeſchlechts her⸗ ausſpringt dieſe Beweisführung trägt die auffallendſte Affectation an ſich, unter andern darin, daß Herr Körte, um gar nichts zu wünſchen übrig zu laſſen, Brief und Porto nicht ſcheut, ſondern ſich von den an den Biblio» theken zu Wolfenbüttel und Göttingen angeftellten Ges lehrten (S. 350. 351., bei Illgen S. 128. 129.) Aus⸗ kunft über die dortigen oder dort vermuthlichen Manu⸗ ſeripte von Reimarus erbeten hat. Dies betraf namentlich das Fragment: Von Duldung der Deiſten, auf welches er ſich Knall und Fall ſofort geworfen haben will *) (in Leſ⸗

) Vgl. meine Abhandlung: Zur Vergleichung mit den Wol⸗ fenbüttelſchen Fragmenten in: Das Heptaplomeres von Jean Bo⸗ din. Berlin 1841. S. 270 ff. f ) „Dieſe Notiz (ſchreibt Herr K. S. 350. in Bezug auf den Paſſus der Befenntniffe über das Büchlein) konnte kaum

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ſing's Beiträge, III. Bd. 197 226.). Wird wohl Herr Körte, bevor er nach Wolfenbüttel und Göttingen wegen dieſes Fragments Briefe ſchrieb, die Vorrede und die Nachſchrift Leſſing's zu dieſem ſelben Fragmente nicht geleſen haben? nicht S. 198 und S. 225., ſo wie auch S. 263. geleſen haben, daß Leſſing dieſen Fragmenten ſammt und ſonders ein Alter von dreißig Jahren giebt? ſo daß der im Jahre 1773, 21 Jahr alte Thaer ſchon deshalb keinen Antheil daran haben konnte? (eine Angabe, welche ſich vollkommen beſtätiget) und hat doch das Porto nach Göttingen und Wolfenbüttel nicht ge⸗ ſcheut?! f

Während alſo Herr Körte endlich für die Erziehung des Menſchengeſchlechts im Namen ſeines Helden Beſitz nimmt, ſteht die Gleichheit der Tendenz zwiſchen Leſſing's Schrift und den Fragmenten in ſeinem Kopfe ſo feſt, daß er zu den Selbſtbekenntniſſen Thaer's (S. 8. 9. 10.) über ſeine frühere religiöſe Entwickelung lange Auszüge aus dem genannten Fragmente: „Von Duldung der Deiſten“ unter den Text ſetzt, und merkwürdig, der Tert ſtimmt hier zu den Noten; Thaer ſoll dieſes Fragment (das geben die Noten zu verſtehen) geſchrieben haben können, wenn er gleich die Erziehung des Menſchengeſchlechts ge⸗ ſchrieben hat, d. h. Thaer hat, nach Herrn Körte, das eine ſo gut als das andere zu gleicher Zeit haben ſchrei⸗ ben können. Das geſteht er denn auf das Bereitwilligſte ein. Denn in der Erörterung zu dem Paſſus in Rede

auf etwas Anderes bezogen werden, als auf die Fragmente, namentlich auf das iſolirte Fragment: Von Duldung der Deiſten. Um der ſich aufdringenden Vermuthung auf den Grund zu kom⸗ men“ u. ſ. w.

wirft er die Frage auf (S. 23.): „Wer aber war jener dort erwähnte „große Mann?“ Kein anderer als Gott— hold Ephraim Leſſing! Wem fielen hier wohl nicht unwillkührlich die „Fragmente des Wolfenbüt⸗ telſchen Ungenannten“ ein? und dabei macht er die Note: „Der geneigte Leſer wird hier leicht errathen, zu welchem Zweck mehrere Stellen aus dieſen Fragmen⸗ ten oben als Anmerkungen mitgetheilt wurden.“ Wir glauben ihn, ohne einer der geneigten Leſer zu ſein, mehr als errathen zu haben. Im Texte ſelbſt folgt nun eine zwei Seiten lange bombaſtiſche Tirade über die Fragmente, welche blos den leeren Raum ausfüllt; aus welchem man jedoch ſo viel lernt, daß Herr Körte für den Verfaſſer der Fragmente unbedingt Partei nimmt, in der Vorausſetzung (man merke wohl), daß Leſſing, als Herausgeber der Frag⸗ mente, die darin enthaltene Anſicht von Chriſtenthum und Bibel ebenfalls zu der feinigen gemacht habe! Erſt nach⸗ dem Herr Körte ſeinem Herzen gegen Prieſterthum und poſitive Religion Luft gemacht, und im erhabenſten Pa⸗ thos declamirt“) kommt er wieder zu feiner kritiſchen Ruhe, und indem er, vermöge dieſer Declamation, den Beweis erſetzt zu haben glaubt, daß jener große Mann

*) Eine Probe: „Der Geift der Menſchheit aber weiß, was ſüßer iſt als Honig und ſtärker als die Stärke des Löwen, und dem ſtrebt er nach; unbekümmert um das Prieſterthum, wenn es ſeine Bundeslade, unter allerlei Saitenſpiel von Tännenholz, Schellen und Cymbeln, auf einem neuen Wagen von Gibea nach Gath fährt; er lächelt nur über den Wagenführer Uſa, der plump zugriff, die Lade Gottes zu halten, weil die hungrigen Rin⸗ der beim Geruch der nahen un beiſeit austraten (2 Sa⸗ muelis 6, 6.).“

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auch wirklich kein anderer als G. E. Leſſing war, und daß die Fragmente des Wolfenbüttler Ungenannten nicht blos unwillkührlich, ſondern nothwendig dabei ge⸗ dacht werden müßten fährt er fort: „Was aber war es für eine Handſchrift Thaer's, die Leſſing herausgab als „Fragment eines ungenannten Verfaſſers?“ Um dieſe Frage beantworten zu können, mußte man das Laby⸗ rinth der geheimnißvollen Fragmenten⸗Geſchichte vollſtän⸗ dig durchſchreiten (ſ. die Beilage I.: Die Autorſchaft der Fragmente des Wolfenbüttelſchen Ungenannten), und es ergab ſich, daß jene Handſchrift den Aufſatz enthielt: „Die Erziehung des Menſchengeſchlechts“, welchen Leſ⸗ ſing im 4. Beitrage zur Geſchichte und Literatur, 1777, in ſeinen Zuſätzen zu jenen Fragmenten bekannt machte, als den Anfang eines Aufſatzes, welcher vor einiger Zeit unter einem gewiſſen Zirkel von Freunden er gen iſt. r

Ueber den Mißbrauch dieſes Citats aus Leſſing habe ich mich gleich im Anfang (S. 8—10.) ausgeſprochen. Jetzt iſt zu zeigen, daß dieſer Mißbrauch mit der handgreiflich⸗ ſten und plumpeſten Fälſchung verbunden iſt, durch welche man den Leſern den klaren lautern Text Leſſing's vor ihren ſehenden Augen mit höchſter Dreiſtigkeit verdreht.

„Was aber war es (ich wiederhole 8.8 Worte) für eine Handſchrift Thaer's, die Leſſing herausgab, als Frag⸗ ment eines ungenannten Verfaſſers?“ es ergab ſich, daß jene Handſchrift den Aufſatz enthielt: die Erzie⸗ hung des Menſchengeſchlechts.“ Was haben wir da geleſen? Die Erziehung des Menſchengeſchlechts ein Frag⸗ ment?! Das hat, ſeit Erſcheinung dieſer Schrift, bis auf Herrn Körte, niemand gedacht oder geſagt; Leſſing ſelbſt am allerwenigſten. Ich habe gewiß nicht nöthig

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darüber mich in lange, für meine Leſer überflüſſige und ermüdende Erörterungen darüber einzulaſſen, daß die Er⸗ ziehung des M.⸗G. von Leſſing ein Ganzes und kein Frag⸗ ment iſt. Wer es ein Fragment nennen will, der weiß entweder nicht, was ein Fragment iſt, oder er hat eine ſchlechte Abſicht. Herr Körte glaubt es ſelbſt nicht; aber er braucht ein Fragment; er bringt auch nur ein Frag⸗ ment durch Hinterliſt und Fälſchung heraus, denn er ſetzt zu den Worten: die Erziehung des Menſchengeſchlechts, hinzu: „welchen Leſſing im 4. Beitrage u. ſ. w. bekannt machte, als den Anfang eines Aufſatzes, welcher vor einiger Zeit unter einem gewiſſen Zirkel von Freunden herumgegangen iſt.“ Was war das? Die Erziehung des M. ⸗G. der Anfang eines Aufſatzes? nicht der ganze Aufſatz? Ich verſtehe! Wir ſollen ſo kindiſch ſein und glauben, die erſte Hälfte der Erziehung des M.⸗G., welche Leſſing in den Beiträgen mittheilt, ſei ein Frag⸗ ment, mit dem Titel: die Erziehung des Menfchenges ſchlechts. Unter dem Fragmente ſoll alſo die erſte Hälfte verſtanden werden. Die erſte Hälfte ein Fragment! iſt das nicht ein Widerſpruch? In dem Wörterbuche des Herrn Körte iſt die Hälfte ein Fragment, iſt jeder Theil ein Fragment, und aus ſo vielen Theilen ein Werk beſteht, aus ſo viel Fragmenten beſteht es! Denn wie ſchreibt Leſſing? (in dem Vorbericht zu der vollſtändigen Heraus⸗ gabe der Schrift 1780.) „Ich habe die erſte Hälfte die⸗ ſes Aufſatzes in meinen Beiträgen bekannt gemacht; itzt bin ich im Stande, das Uebrige nachfolgen zu laſſen“) (ogl. oben S. 12.). In den Worten: „die Erziehung des

*) Daß Leſſing das Ganze in der Handſchrift fertig hatte, als er vorläufig die erſte Hälfte bekannt machte, zeigt ſchon das

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M.⸗G., als der Anfang eines Aufſatzes“ liegt der hand⸗ greifliche Betrug, vermöge deſſen es Herrn Körte glücken ſollte, die Erziehung des M.⸗G., dieſes ſchöne Ganze, un⸗ ter die Fragmenten⸗Literatur zu werfen. Wirklich hat er die Keckheit, gleich an die Spitze ſeines Buches, in der „Chronologiſchen Ueberſicht“ zum Jahre 1774 zu ſetzen:

1774. Die Erziehung des Menſchengeſchlechts. Frag⸗

ment. Herausgegeben von Leſſing. g Habemus reum confitentem!

In Folge dieſer ziemlich plumpen Taſchenſpielerri hat er das ihm nöthige Fragment. Was thut er nun? Er ſchiebt unter der Hand dem überrumpelten Leſer, welcher in ſeiner Unſchuld an das Ganze der Leſſing'ſchen Schrift denkt, ſeinen verfälſchten Begriff von Leſſing's Schrift, als eines Fragmentes, unter; er legt das weggenommene Stück unvermerkt wieder hinzu. Es iſt ein Fragment und kein Fragment, d. h. die Erziehung des M.-G. iſt bald das Ganze, bald das Halbe des Leſſing'ſchen Aufſatzes. Er ſteckt ſeine Leſer in die arge Verwirrung, wo er ihm das Entgegengeſetzte zugeben ſoll. A. Thaer iſt zweimal Ver⸗ faſſer der Erziehung des M.⸗G., 1) als des Fragments, d. h. als der erſten Hälfte, 2) als des Ganzen, inſofern der Herausgeber Leſſing eigentlich doch nichts gethan, als man denke! auf die Grundlage Thaer's fortgebaut, den Styl verändert und abgekürzt. Welch ein Begriff kommt da von Leſſing's herrlicher Schrift zu Tage! Zwei Fe⸗ dern, Albrecht Thaer und Leſſing; die erſte Hälfte gehört ganz Thaer (bis auf den Styl), die zweite gehört zum Theil Thaer, zum Theil Leſſing; ein wahres literariſches

an feinen Bruder geſchriebene Wort (ſ. oben S. 12.) : „Ich kann ja das Ding vollends in die Welt ſchicken.“ N

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Monſtrum. Sofort ſchiebt Herr Körte mit ausdrückli⸗ chen Worten die Vorſtellung dieſer Mißgeburt den Bei⸗ den, Thaer und Leſſing unter, indem er ſchreibt (S. 27.): „Thaer ſelbſt ſagt in den „Bekenntniſſen,“ daß Leſ⸗ ſing (daß Leſſing! in den Bekenntniſſen ſtand erſt noch blos „ein großer Mann“) den Sthyl feines Aufſatzes in etwas umgeändert und Zuſätze dazu gemacht habe. Da nun (fährt er fort), wie wir weiter unten erfahren wer⸗ den, Thaer's frühere Handſchriften theils von ihm ſelbſt vernichtet, theils ſonſt verloren gegangen ſind, ſo kann ſein Aufſatz, ſo wie er ihn geſchrieben, leider nicht herbeige⸗ ſchafft werden, um das, was ihm eigends zugehört, für ſeine Werke zurückzunehmen. Alſo muß es genügen, hier zur öffentlichen Kenntniß zu bringen, daß die in Leſſing's Werke aufgenommene geiſtreiche kleine Schrift, welche 1786 (ſoll heißen 1780) zu Berlin auch beſonders er⸗ ſchien: die Erziehung des Menſchengeſchlechts, dem Stoff und Gedanken nach unſerm Thaer zugehört, von Leſſing jedoch weiter ausgeführt worden iſt.“ In dem „auch beſonders“ wird richtig das Ganze dem Theile oder, nach der Terminologie Körte's, dem Fragmente d. i. der erſten Hälfte der Leſſing'ſchen Schrift untergeſchoben; Thaer iſt nun nicht blos der Urheber und Verfaſſer des Fragments: die Erziehung des M.⸗G., ſondern dieſer Schrift, wie ſie „auch beſonders“ erſchien. Fälſchung, Sophiſterei, Lüge à la Münchhauſen in einem Athem; denn nur ein literariſcher Münchhauſen kann es bedauern, daß er Thaer's Aufſatz nicht herbeiſchaffen könne, um das, was ihm eigends von der Erziehung des Menſchengeſchlechts gehörte, für ſeine Werke zurückzunehmen! ein neues Ur⸗ theil Salomonis, wobei die falſche Mutter ſchnell beeifert iſt, daß das lebendige Kind in zwei Stücke zerlegt werde,

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damit nur der wahren Mutter nichts übrig bleibe. Sehr fein berechnet iſt die, wiewohl unbeſtimmte Hinweiſung auf eine ſpätere Stelle in den Bekenntniſſen, wo wir erfah⸗ ren ſollen, daß Thaer's frühere Handſchriften theils von ihm ſelbſt vernichtet, theils ſonſt verloren gegangen find; wir leſen dies S. 40.: „Ich las nichts weiter als etwa die alten Autoren, und widmete mich ganz dem eigenen

Nachdenken. Ich theilte mich anfangs zwiſchen Mediein

und Philoſophie, legte in jener ein neues Syſtem an, welches ein Probierſtein aller wahren und falſchen Erfah⸗ rungen ſein ſollte. In dieſer ſchrieb ich kleine Abhandlun⸗ gen, die ich größtentheils in Geſpräche mit meinen Berliniſchen Freunden einkleidete. Viele davon ſind jetzt zerſtreut und verbrannt, einige liegen noch im Manuſcripte unvollendet da.“ Mit dieſen Papieren, ſollen wir nun glauben, wäre denn auch die Urſchrift zu dem „Frag⸗

mente: die Erziehung des Menſchengeſchlechts“ entweder

verbrannt oder zerſtreut worden.“ Das eben Erzählte be⸗ trifft das Jahr 1776, und zwar die nächſte Zeit nach einer geſchilderten Reiſe in Begleitung des Dichters Leiſe⸗ witz nach Berlin, und einem Beſuche bei Leſſing auf der Rückreiſe. Darauf bezieht ſich das „von den Geſprächen mit ſeinen Berliner Freunden.“ Nun werde ich aber be⸗

weiſen, daß ſowohl jene Berliner Reiſe, als der Beſuch

bei Leſſing Lügen ſind, mithin auch die Geſpräche mit den Berliner Freunden nichts als Lügen, und dieſen Beweis bis zu dem eines durch das Ganze vorgenommenen litera⸗ riſchen Betruges ausdehnen, von welchem Herr Körte nichts ahnen will: welcher Herr Körte ſeine Münchhauſeniade über die Erziehung des Menſchengeſchlechts höchſt fein an jene, weil nie geſchriebenen, darum auch nie verbrannten,

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noch zerſtreuten, in keinem Falle alſo eriftivenden Papiere anzuknüpfen verſteht.

Mit dieſem Schlüſſel verſtehen wir jetzt ganz den 10. cus classicus der Bekenntniſſe, wo A. Thaer ſeiner Ge⸗ liebten „das Büchlein,“ das „ein großer Mann“ als das Erzeugniß „eines Ungenannten“ herausgegeben, als ſein Werk überbringt. Es ſoll, nach Herrn Körte, Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts geweſen ſein, und iſt es wirklich, d. h. der materielle Betrug und der conatus zu betrügen liegt im Texte. Nun finden wir aber auch die ganze Fäl⸗ ſchung und Lüge des Herrn Körte, vermöge deren er die Erziehung des Menſchengeſchlechts als ein Fragment dar⸗ ſtellt, im Terte wieder; denn ohne Fälſchung kann über⸗ haupt von Fragment hier nicht die Rede ſein. Daß Thaer feine Geliebte habe mhyſtifiziren oder belügen wollen das könnte noch in Bezug auf Herrn Körte zufällig erſcheinen; daß er aber, behuf dieſer Myſtiſication, eine Fälſchung und einen Mißbrauch des Textes Leſſing's in den Beiträgen (ſ. oben S. 10.) ſich geſtattet, und zwar die nemliche Fälſchung, den nemlichen Mißbrauch, mit der nemli⸗ chen Unwiſſenheit über das Weſen von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts und der nemlichen Münchhauſeniade: das iſt doch wohl mehr als zufällig. Wir werden noch mehr Fälſchungen in den Bekenntniſſen entdecken, und fin⸗ den, daß Herr Körte dieſe Fälſchungen theils ſelbſtſtändig fortſpinnt, theils vorbereitet, theils überhaupt unterſtützt und ſanctionirt. |

Faſt ergötzlich wird es für uns, zu lesen, wie Herr Körte zuvörderſt einen kleinen Roman ſpinnt, um zu er⸗ klären, wie Leſſing zu der Handſchrift Thaer's gekommen ſei. Er bedient ſich als Mittelsmannes der Figur des Dich⸗ ters von Julius von Tarent, Leiſewitz; und die apokry⸗

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phiſche Gefchichte, die er mit feinem ſelbſteignen Namen vertritt, wird auf die apokryphiſche Reiſe Thaer's mit Leiſewitz nach Berlin im Jahre 1776, mit Empfehlungen von Leſſing, und auf den apokryphiſchen Beſuch Thaer's bei Leſſing auf der Rückreiſe von Berlin, im Auguſt 1776, Licht werfen. Denn das Jahr darauf, 1777, gab Leſſing die erſte Hälfte von der Erziehung des Menſchengeſchlechts (nach Körte: das Fragment) heraus: die Bekanntſchaft, ja die große Vertrautheit, welche Leſſing's Worte mit dem Verfaſſer der Erziehung des Menſchengeſchlechts (d. i. mit ſich ſelbſt) und ſeinen Geſinnungen an den Tag legen, ſoll, inſofern Thaer darunter gemeint werden ſoll, ohne Zwei⸗ fel durch jenen Beſuch motivirt werden. So hängt das zuſammen. Gehen wir nur der Ordnung nach; zuerſt alſo der Roman des Herrn Körte, Roman für jeden, wel⸗ cher mit der Geſchichte vertraut iſt.

Herr Körte fährt nach den Worten: „es ergab ſich, daß jene Handſchrift den Aufſatz enthielt: die Erziehung des Menſchengeſchlechts“ u. ſ. w. fo fort (S. 26.): „Leſ⸗ fing erhielt Thaer's Aufſatz durch Leiſewitz (wir werden nachher von Thaer's Verhältniß zu Leiſewitz, wie es hi⸗ ſtoriſch iſt, handeln), ihren beiderſeitigen Vertrauten (Lei⸗ ſewitz den Vertrauten Leſſing's zu nennen, iſt erdacht), dem es eine nicht geringe Freude war, den ihm ſo nah am Herzen liegenden Jugend-Genoſſen dem hochver⸗ ehrten Meiſter als einen Gleichgeſinnten zuzuführen (ri- sum teneatis —). Ueberdem war das „Syſtem“ ſeines geliebten Freundes ihm ſelber wie aus der Seele geſchrie⸗ ben, ſo daß es ihn innerlich drängte, ſich auf gut Glück mit ihm auf das hohe Meer zu begeben, feſt ent⸗ ſchloſſen, jeden Windſtoß zu nutzen, und ihn ir⸗ gendwo ans Land zu ſetzen.“ Halten wir einen

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Augenblick ſtill. Dieſer Satz, mit der Miene eines ge⸗ ſchmackloſen, aber unſchuldigen Bombaſts, iſt kein bloßer Lückenbüßer; er hängt mit der nachgewieſenen Fälſchung in den Bekenntniſſen und bei Herrn Körte durch einen verſteckten Faden zuſammen. Wie nemlich der inhaltſchwere Paſſus der Bekenntniſſe nach Leſſing's Einleitung zu der erſten Hälfte der Erziehung des Menſchengeſchlechts (f. oben S. 10.) geſchmiedet iſt, ſo iſt der oben angeführte Text des Herrn Körte (er mag es eingeſtehen oder nicht) nach einem Gedanken und Bilde Leſſing's im Siebenten Anti⸗Göze (Lachmann X. 205.) gemodelt. Leſſing lehnt dort Göze's burlesk klingende und zugleich unwahre Be⸗ ſchuldigung ab, als habe er „die Advocatur des Verfaſſers der Fragmente“ übernommen; und nach den Worten: „Ich komme auf die Advocatur zurück und ſage: der wahre eigentliche Advokat meines Ungenannten, der mit ſeinem Clienten über den abhängigen Streit Ein Herz und Eine Seele wäre, bin ich alſo nicht, kann ich alſo nicht ſein,“ ſetzt Leſſing hinzu: „Ja ich kann auch nicht einmal der ſein, der von der Gerechtigkeit der Sache ſeines Clien⸗ ten nur eben einen kleinen Schimmer hat, und ſich den⸗ noch, entweder aus Freundſchaft oder aus andern Urſachen, auf gutes Glück mit ihm auf das Meer der Chi⸗ cane begiebt; feſt entſchloſſen, jeden Windſtoß zu nutzen, um ihn irgendwo glücklich an's Land zu ſetzen. Denn der Ungenannte war mein Freund nicht“ u. ſ. w. Die wörtliche Uebereinſtimmung der beiden letz⸗ ten Zeilen mit dem Satze Körte's überführt dieſen, daß ex wirklich hier nichts gethan, als Leſſingen abge⸗ ſchrieben, ohne ihn zu nennen; die kleinen Verän⸗ derungen, die er mit Leſſing's Terte vorgenommen, zei⸗ gen nur, daß er das Plagiat hat verhehlen wollen, wo⸗ Erziehung des M.⸗G. 9

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durch er aber erſt recht das Siegel darauf drückte. Denn indem er Leſſing's Worte: „das Meer der Chicane“ in „das hohe Meer“ veränderte, verzerrte er das ſchöne Bild, und machte daraus einen wirklich ſinnloſen Bombaſt. Je⸗ dermann wird fragen, was unter dem „hohen Meer“ zu verſtehen ſei? wie überhaupt das Bild vom Meere und Windſtoß und an's Land ſetzen hier im Geringſten paſſe? Ganz anders bei Leſſing; „das Meer der Chicane“ giebt dem Bilde die Haltung und Farbe; und das Ganze iſt eigentlich nur die Fortführung desjenigen Bildes, welches auf derſelben Seite (a. a. O.) kurz vorher geleſen wird: „Sollte ich wirklich umgeſchlagen ſein, ſeitdem ich die nem⸗ liche Luft mit ihm (Göze'n) nicht mehr athme? .. Sollte ich an der Klippe, die ich in dem ſtürmiſchen Alter brau⸗ ſender Aufwallungen vermieden habe, itzt erſt nachläſſig ſcheitern, da ſanftere Winde mich dem Hafen zutreiben, in welchem ich eben ſo freudig zu landen hoffe, als Er?“ Beide Male, das merke man wohl, kommt das Bild in einer Verneinung vor, was für den äſthetiſchen Ge⸗ brauch und die Beurtheilung eines Bildes von großer Be⸗ deutung iſt; indem dadurch allein ſich ſehr oft Geſchmack von Bombaſt und Abgeſchmacktheit ſich unterſcheidet. Aber eines zieht das andere nach ſich. Das Plagiat, das Herr Körte an Leſſing hier beging, iſt ja nicht zufällig, ſon⸗ dern dieſer Gedanke leitete ſeine Feder dabei; wenn es anders ein Gedanke war, denn es iſt viel Verwirrung da⸗ bei: Wenn Leſſing den Ungenannten zu Tage gefördert hat, ohne „Ein Herz und Eine Seele mit ihm zu ſein“ ſo muß Leiſewitz ſeinen Freund, deſſen Syſtem „ihm aus der Seele geſchrieben war,“ (ihr merket den Anklang!) um ſo viel mehr für ihn das gethan haben, was Leſ⸗ ſing für den Ungenannten; wenn mithin Leſſing leugnete,

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daß er aus Freundſchaft für den Ungenannten „auf gutes Glück mit ihm auf das Meer der Chicane ſich be⸗ geben“ u. ſ. w., ſo iſt im Gegentheil von Leiſewitz zu denken, daß es „ihn innerlich drängte, ſich auf gut Glück mit ihm auf das hohe Meer! zu begeben u. ſ. w.“ Hätte Herr Körte dieſen Vergleich offen an den Tag ges legt, und dabei das Bild Leſſing's ehrlich für Thaer in ſeinem Verhältniſſe zu Leiſewitz angeführt, ſo würde man höchſtens gefunden haben, daß dieſer Gebrauch hinkend ſei. Dafür hat er ſich aber wohl gehütet! Und welch einen tiefen Blick werfen wir hier in die geheime Werkſtätte die⸗ ſes Schriftſtellers. Wir entdecken, daß Herr Körte ſehr geheime Studien in Leſſing gemacht hat, nur um ihn zu mißbrauchen; wenigſtens um ihn ganz verkehrt zu benutzen. Ein willkommenes Seitenſtück zu obigem Plagiate liefert uns das von Herrn Körte ſeiner Unterſuchung: „Die Autorſchaft der Fragmente des Wolfenbüttelſchen Unge⸗ nannten (Albrecht Thaer S. 341., bei Illgen S. 120.) vorangeſchickte Motto, welches lautet: Qui auctorem li- bri dogmatici absconditum mihi revelat, non tam utilitat i meae, quam curiositati servit: immo non raro damnum mihi affert, locum faciens prae- judicio auetoritatis (Heumannus de lib. an. et. pseudon.). Dieſen Satz als Motto vor einer Unterſu⸗ chung über den geheimen Verfaſſer eines Werkes, wie die Fragmente, oder irgend eines dogmatiſchen Buches zu ſetzen, läßt auf eine ſeltſame Zerſtreuung, oder Verwirrung der Begriffe ſchließen: denn welcher Menſch wird eine Deviſe anführen, welche ſein Streben verurtheilt, mißbilligt? ſo daß ich mich faſt wundere, daß dies Herrn Illgen, der Herrn Körte abgeſchrieben und Noten unter den Text ge⸗ ſetzt hat, nicht aufgefallen iſt. Wenigſtens ſchmeckt ein ur ?

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ſolcher verkehrter Gebrauch nicht nach der Quelle; ich ſuche nach und entdecke, daß Herr Körte, mit ſeiner affec⸗ tirten theologiſchen Erudition (den Heumann wird unſer gelehrte Forſcher nicht in den Händen gehabt haben), das Motto zu Leſſing's Neuntem Anti⸗Göze (Lachmann X. 215.) ſtillſchweigend, zu ſeinem Unglück, auf ſein Beet verpflanzt hat. Daß es da ſtimmt, das kann ſich der Leſer ſchon denken: dort ſpottet Leſſing der Neugierde, den Urheber der Fragmente zu wiſſen; und die Stelle S. 219.: „Welche elende Neugierde, die Neugierde nach einem Na⸗ men“ bezieht ſich ganz genau auf die Sentenz von Heu⸗ mann, welche faſt wörtlich im Texte vorkommt: „Er (der Name) nutzt nicht allein nichts, ſondern ſchadet auch wohl öfters, indem er einem Vorurtheile Raum giebt, welches alle vernünftigen Prüfungen ſo jämmerlich ab⸗ kürzt“... So urtheilen ſelbſt Literatores, die es ſonſt für keine kleine Sache halten, auf anonyme und pſeudonyme Schriftſteller Jagd zu machen... Prudentis est, ſagt Heumann an dem nemlichen Orte, woher das emma dieſes Stücks genommen iſt, ita quosvis dog- maticos libros legere, quasi auetor plane sit ignotus.“ Gier hat unſern Kritiker und Entdecker die eigene Ne⸗ meſis ereilt. Doch wir fahren in ſeinem eignen Texte fort: „Leſſing erhielt die Handſchrift eben zur rech⸗ ten Zeit; er benutzte ſie ſofort; denn ſie gab ihm einen Fingerzeig, um den er oft verlegen geweſen: „in al⸗ len poſitiven Religionen nur den Gang zu erblicken, nach welchem ſich der menſchliche Verſtand jedes Orts einzig und allein entwickeln könne, und noch ferner entwickeln ſoll; nicht aber über eine derſelben entweder zu lächeln oder zu zürnen.“ Dieſe Worte Leſſing's in dem Vorbe⸗ richt zu der Erziehung des M.⸗G. (X. 308.) als ein hi⸗

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ſtoriſches Motio zu gebrauchen, als wenn Leſſing ſofort, d. h. in der Stunde, wo er die Handſchrift erhalten, jene Reflexion darüber gemacht (etwa wie ein Mathematiker, der über eine geometriſche Aufgabe lange vergebens nach= gedacht, mit ihrer Auflöſung überraſcht wird), iſt doch ge⸗ wiß ſehr albern; wozu kommt, daß dieſer Vorbericht drei Jahre nach dem Bekanntmachen der erſten Hälfte der Er⸗ ziehung des M.⸗G. aufgeſetzt if. Nun aber was jetzt folgt, ſetzt dem Ganzen die Krone auf: „Um jedoch den jugendlichen Autor außer allen Bereich der Verantwort⸗ lichkeit und der Angriffe der Orthodoxen zu ſetzen, ums ſchirmte er auch ihn, wie den Fragmentiſten ſelbſt, mit einem undurchdringlichen Dunkel, wie Athene den Odyſſeus:

Breitete Nacht ringsher, voll ſorgſamer Huld für Odyſſeus:

Daß nicht einer begegnend der ſtolzgeſinnten Phäaken,

Ihn mit Schmähungen kränkt' und wer er fer ihn befragte!“

Dieſe poetiſche Begeiſterung ſchien ſogar dem nichts ahnen⸗ den Prof. Illgen ein wenig bedenklich; er ließ ſie ſtill⸗ ſchweigend fort.

Ich komme nun zu dem Roman in den Selbſtbekennt⸗ niſſen Pſeudo⸗Thaer's (jo muß und darf ich mich von jetzt ab ausdrücken), auf welchen ſich der Roman des Herrn Körte ſo genau bezieht, wenn er ſagt, daß es „Leiſewitz eine nicht geringe Freude war, den ihm am Herzen lie- genden Jugendgenoſſen dem hochverehrten Meiſter als einen Gleichgeſinnten zuzuführen.“ Ich werde erſt von dem Ver⸗ hältniß Thaer's zu Leiſewitz und dann dem von Leiſewitz zu Leſſing handeln; der Literator hüte ſich, die in dieſen untergeſchobenen Bekenntniſſen gegebene ſcheinbare Berei⸗ cherung der Geſchichte dieſer Verhältniſſe zu benutzen; ſte iſt leicht in ihrer Falſchheit aufzuweiſen.

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Was das erſtere, das Verhältniß Thaer's zu Leiſewitz betrifft, ſo will ich erſt in Kürze das Hiſtoriſche darüber nach den beglaubigten Urkunden feſtſetzen. Es wird mehr⸗ mals von dieſem Verhältniſſe in „Johann Anton Leiſe⸗ witz's Leben,“ welches ſich in den Sämmtlichen Schrif⸗ ten von Joh. A. Leiſewitz, Braunſchweig 1838. befindet, gehandelt. Der ungenannte Herausgeber ſagt in der Vor⸗ rede (S. VI.), daß er nur „aus den gedruckten Hülfs⸗ mitteln eine neue Biographie des Dichters zuſammengeſtellt hat, deren Reviſion und Ergänzung jedoch ein viel⸗ jähriger, noch lebender Freund und Verwandter von Lei⸗ ſewitz, Herr Geheime Finanzrath Langerfeldt in Braun⸗ ſchweig ſich unterzogen hat.“ Ich muß bekennen, daß dieſe biographiſche Compilation nicht ohne Kritik zu benutzen iſt und nur da unbedingte Beiſtimmung verdient, wo eine Urkunde als Beleg angeführt iſt. Dies gilt nun nament⸗ lich das Verhältniß zwiſchen Leiſewitz und Thaer ), wo⸗ bei drei Perioden unterſchieden werden müſſen: 1) das Zuſammenleben Beider in Göttingen, zwiſchen 1770 1774; 2) der Zeitraum zwiſchen 1774 bis November 1775, nemlich der Niederlaſſung Thaer's in feiner Vaterſtadt Celle als Arzt, bis zur Ueberſiedelung Leiſewitz's als Sach⸗ walter in Braunſchweig; 3) der nächſtfolgende Zeitraum, mit beſonderer Beziehung auf Leiſewitz's Reiſe nach er Yin 1776, mit Empfehlungen von Leſſing.

Was die erſte Periode betrifft, ſo ſind die Nachrichten ganz unbeſtimmt und dunkel; es heißt blos S. XI.: „Un⸗ ter ſeinen (Leiſewitz's) dortigen (Göttinger) Umgangs⸗ freunden treten beſonders zwei hervor, Hölty und Thaer.“

) Sie waren beide von Sieber Alter, nemlich beibe 4752 geboren.

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Von Hölth wird das Bekannte aus der Geſchichte des Göttinger Hainbundes beigebracht; über Thaer gar nichts Urkundliches; es wird nur wiederholt verſichert (S. XIII.): „Ihm früher und näher befreundet war Albrecht Thaer, der nachher fo berühmt gewordene Agronom, deſſen Freund- ſchaft auch über die akademiſchen Jahre hinausdauerte.“ Das hat blos Sagen⸗-Werth, aber durchaus keinen Quel⸗ len⸗ Werth.

Der geheime Autor von Thaer's Bekenntniſſen verſteckt in Bezug auf dieſe erſte Periode ſeine Blöße un⸗ ter einige allgemeine Phraſen, welche gar nichts ſagen, außer in ſofern, als die kecke Myſtification über Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts ſich daran knüpft. Es heißt (Albrecht Thaer S. 16, bei Illgen S. 102.): „Aus dem großen Studenten-Commerſch (sic) hatte ich mich herausgezogen, und nur einen eignen Cirkel von Freun⸗ den. (Dieſer ſchleppende und platte Styl geht durch das Ganze.) Auf's innigſte war ich mit Leiſewitz verbun⸗ den; unſre Seelen waren in beſtändigem Einklange; faſt hatten wir nur Ein Herz. Sein unerſchöpflicher Witz verſammelte alle ſogenannten ſchönen und uns ſtarke Gei= ſter (sic) um ihn her, ſo ſehr er ihnen auch auswich. Darunter war eine Bande theoretiſcher und practiſcher Re⸗ ligionsſpötter. So wenig ich Chriſt war, ſo hatte ich doch Spott über Religion nie leiden können“ u. ſ. w.) Dieſe

) Was im Texte folgt, enthält die pſychologiſche Moti⸗ virung des „Syſtems,“ welches Leſſing als die Erziehung des M.⸗G. herausgegeben hätte, und zwar vermöge einer ähnli⸗ chen „Antiperiſtaſts oder natürlichen Gegenwirkung der Seele,“ welche Leſſing nach dem Fragmente einer Confeſſion (ſ. oben, S. 114.) den freigeiſteriſchen Autoren entgegenſetzte; ſo daß hier wie

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Einführung von Leiſewitz hat, nach dem verſteckten, aber verrathenen Plane des Autors keinen andern Zweck, als N * N A ee

der die Nachbildung Leſſing's zu erkennen iſt. Es heißt: „So wenig ich Chriſt war, ſo hatte ich doch Spott über Reli⸗ gion nie leiden können. Ich fing daher an, ihnen mit Gründen zu widerſprechen, wie ſie deren eben noch nicht gehört hatten. Um dies mit mehrerem Nachdruck thun zu können, las ich in der Madame Baldinger (Gattin des Prof. der Mediein Baldin⸗ ger in Göttingen, über welche Herr Körte eine biographiſche Note macht) Vibliothek alle die beſten Schriften, die für und wider die Religion geſchrieben worden. (So ſchreibt Leſſing, XI. 542.: „Nicht lange und ich ſuchte jede neue Schrift wider die Religion nun ebenſo begierig auf, und ſchenkte ihr ihr eben das geduldige unpartheiiſche Gehör, das ich ſonſt nur Schriften für die Religion ſchuldig zu ſein glaubte.“) Sie ſelbſt gab mir Anleitung mit vieler Ausdauer, beſonders da ſie hoffte, daß ich auch ihren Mann bekehren würde, der ſie ihrer Religion wegen auslachte (würzhafte Zuthat des „Bekenners“). Ich ward im Ganzen überzeugt, und ſo bewirkte die Vorſehung durch den Umgang mit frechen Spöttern gerade das, was fie durch den Um: gang mit den beſten und frömmſten Leuten vielleicht nicht er⸗ reicht hätte (1). Dennoch aber ſchienen mir alle Beweiſe manche Schwierigkeit nicht zu heben, und in der Vorſtellung der Lehren war ich weder mit den orthodoxen, noch mit den neuen ſogenann⸗ ten Berliner Theologen einig. Ich erſchuf mir ein neues Sy⸗ ſtem u. ſ. w.“ Das Uebrige kennen wir. Dieſe pſychologi⸗ ſche Erklärung wäre an ſich recht gut; bei Leſſing wenigſtens iſt die Geneſis ſeiner Erziehung des Menſchengeſchlechts daraus mit zu erklären; und ſo weit wäre die Uebertragung dieſes Motivs auf einen Dritten, auf Thaer, conſequent. Aber dieſe formelle Erklärung reicht nicht aus: der materielle genetiſche Bezug von Leſſing's Schrift zu den Fragmenten des Ungenannten, beſonders dem vierten, muß dazu kommen; erſt beide Motive erklären die

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von weitem auf die fingirte, d. h. erlogene Vermitte⸗ lung deſſelben in Bezug auf die Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts, als eines Fragmentes Thaer's, das aus dem Leiſewitz'ſchen Kreiſe in Göttingen feinen Urſprung genom⸗ men häite, vorzubereiten. Dieſes falſche Bekenntniß und die lächerliche Verſicherung des Herrn Körte: „Leſſing er⸗ hielt Thaer's Aufſatz durch Leiſewitz welchem das Sy⸗ ſtem ſeines geliebten Freundes wie aus der Seele geſchrie⸗ ben war, ſo daß es ihn innerlich drängte, ſich auf gut Glück mit ihm auf das hohe Meer zu begeben“ u. ſ. w., ſind eine Lüge aus Einem Stück. Nur, was den Fonds der Lüge, nemlich das Verhältniß von Leiſewitz zu Thaer in Göttingen überhaupt betrtfft, fo ſchließen fie ſich, wie ich bemerke, an die genannte Nachricht über Leiſewitz's Leben in den Geſammelten Schriften, 1838; auf welche nemlich Herr Körte S. 26. zu den Worten „Leſſing erhielt Thaer's Aufſatz durch Leiſewitz“ verweiſt, in der Anmerkung: „Leiſewitz lebte ſeit November 1775 als Sachwalter in Braunſchweig.“ In Summa: Die allgemeine, ſagenhafte Nachricht über Thaer's freundſchaftliches Verhältniß zu Leiſewitz auf der Univerſität Göttingen, wie ſie die bio⸗ graphiſche Nachricht über Leiſewitz vom Jahre 1838 giebt, iſt zwar in den untergeſchobenen Bekenntniſſen Thaer's aus dem Jahre 1785, und dem Kommentar des Herrn Körte behuf des Mährchens von dem Fragmente: die Erziehung des Menſchengeſchlechts, rechtſchaffen mißbraucht was jene Nachricht aber an ſich ſelbſt betrifft, ſo iſt ſie weder hinreichend documentirt, noch motivirt. Sie iſt vielmehr

Schrift (vgl. oben S. 92.). So weit ift der Verfaſſer nicht eingedrungen. An dieſem einen Punkte gefaßt, bricht das ganze ſo mühſam aufgerichtete Gebäude über den Haufen.

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ſtark zu bezweifeln. Ein Jüngling, welchen Leiſewitz einer noch innigern Vertrautheit gewürdigt hätte, als den Dich⸗ ter Hölth, ſollte von den zahlreichen Freunden dieſes Dich⸗ ters und den Mitgliedern des Hainbundes ſo ganz und gar ignorirt worden ſein, daß ſein Name nicht ein einzigesmal in ihren Briefen und Schriften genannt worden iſt? na⸗ mentlich nicht von J. H. Voß, welcher in ſeinen Briefen (ſ. Leiſewitz's Leben S. XIII XVI.) ſo vielfach von Lei⸗ ſewitz ſpricht. Dazu kommt, daß wenn auch Thaer ſelbſt nicht productiver Dichter war (was in den „Bekenntniſſen“ S. 6, bei Ilgen S. 100 ſteht: „im zehnten Jahre machte ich Verſe; eine lange Reihe derſelben, die ich auf Chriſti Geburt gemacht hatte, habe ich nachher einmal wiederge⸗ ſehen. Seitdem hat mir kein Vers glücken wollen“ hat als Beſtandtheil dieſer Confeſſion den ihm gebührenden Werth), er doch ſpäter, wie wir ſehen werden, eine ſchöne Anlage äſthetiſcher Kritik bei Leiſewitzens Julius von Ta⸗ rent entwickelt hat. Deshalb halte ich jenes innigere Verhältniß zwiſchen beiden in Göttingen für ſagenhaft und unwahrſcheinlich; und eine Vorausſetzung von denjeni⸗ gen, welche von dem ſpätern Verhältniſſe Beider in Celle einen Rückſchluß auf Göttingen gemacht haben; es ſei denn, daß uns eine beglaubigte Urkunde vorgehalten würde. Der Pſeudo-Bekenner hat übrigens für gut befunden, das Verhältniß zum Göttinger Hainbunde ganz zu übergehen; während die Geſchichte von einer „Bande theoretiſcher und practiſcher Religionsſpötter“ (ex ungue leonem), die ſich um Leiſewitz verſammelt hätte, ſchweigt. a

Was die zweite Periode betrifft, ſo berichtet die bio⸗ graphiſche Notiz über Leiſewitz, daß dieſer October 1774 von Göttingen nach Hannover abreiſte, wo ihn Voß kurz vor Oſtern 1775 noch traf (S. XV. XVI. mit Bezug

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auf Voß's Briefe I. S. 178 und 257.); daß er ſchon den 27. October 1774 in Celle das Advokaten⸗Examen ge⸗ macht, und in Folge deſſen als Advokat zugelaſſen wor⸗ den. Es heißt dann: „Er behielt als ſolcher ſeinen Wohn⸗ ſitz in Hannover bei, lebte jedoch, da die Advocaten⸗ Praxis feiner Neigung nicht zuzuſagen ſchien, und er ſich mehr mit literariſchen Arbeiten beſchäftigte, abwechſelnd auch in Celle. In Albrecht Thaer (fährt der Ver- faſſer fort), der ihm ſchon auf der Univerfität befreundet war, und jetzt dem Wunſche ſeines Vaters nachgebend,

in Celle als practiſcher Arzt auftrat, fand Leiſewitz dort

einen gleichgeſinnten Freund. Während feines Auf- enthaltes dort ſchloß ſich Leiſewitz faſt einzig an die Familie des Predigers der Blumlager Gemeinde, Wichmann, an, und ward von beiden Gatten innigſt geſchätzt. (Mit Hin⸗ weiſung auf Wieland's Teutſch. Merkur, 1806. Bd. 3. S. 286.) Zeugniſſe dieſes freundſchaftlichen Verhältniſſes geben die Briefe, welche Leiſewitz nach ſeinem Abgange von Celle an die Gattin des genannten Predigers fihrieb... Was ihn aber bewog, ganz von Hannover weg und nach Braunſchweig ſich zu wenden, darüber haben wir nir— gends eine Andeutung gefunden *). Seine Anſtedelung in Braunſchweig fand gegen Ende November 1775 ſtatt.“ Der Nero dieſer Erzählung, das zeitweiſe Zuſammen⸗ leben von Leiſewitz mit Thaer in Celle und beſonders in der Zeit vor der Ueberſtedelung nach Braunſchweig, ſtützt ſich

) Eine Andeutung kann man finden in Leiſewitz's verwandt⸗ ſchaftlichen Verhältniſſen in Braunſchweig, wo ihm eine Schwe⸗ ſter Mariane Louiſe, geb. Leiſewitz, an den Kaufmann Winkel⸗ mann verheirathet war, wie einige Blätter vorher, S. X., daſelbſt erwähnt wird.

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auf gute Quellen, und beſonders auf die im deutſchen Merkur mitgetheilten Briefe von Leiſewitz an die Paſtorin Wichmann, wieder abgedruckt in Leiſewitz's ſämmtl. Schrif⸗ ten 1838. S. 219—224., namentlich auf den erſten die⸗ fer Briefe, von Braunſchweig den 18. November 1775, welcher anfängt: „Madam, Vielleicht iſt es ein wenig ſtolz, daß ich ohne Abſchied abgereiſt bin, weil ich Ihnen dadurch eine unangenehme Empfindung zu erſparen hoffte“ dann heißt es: „ich war den ganzen Tag in Gedan⸗ ken auf der Blumlage; ich habe Morgens bei Ihnen Thee getrunken und Mittags bei Ihnen gegeſſen; Abends woll⸗ ten Sie mich, wie gewöhnlich, nicht weglaſſen, und ich, unter uns geſagt, auch nicht weggehen.“ Zum Schluß: „Grüßen Sie unſern Karl (der Gatte der Empfängerin), ſeine Schweſter, Thaern und Alles, was einen freundſchaft⸗ lichen Odem hat.“ 4

Hiezu kommt eine, dem Verfaſſer damals noch nicht bekannte, anziehende Urkunde, betitelt: „Thaer an Lei⸗ ſewitz über deſſen Julius von Tarent,“ Beilage VII. zu Körte's Albrecht Thaer, S. 404 ff., für welche Herr Körte ſich dem Geheimen Finanzrath Langerfeldt zu Braun⸗ ſchweig, demſelben, deſſen bereits Erwähnung geſchehen, dankbar bekennt, wie für zwei ander ungebrudte Briefe Thaer's an Leiſewitz, welche Herr Körte mit einem auf⸗ fallenden Stillſchweigen übergeht. Möchte es doch Herrn Geh. Finanz-Rath Langerfeld gefallen, dieſe beiden dort zurückgehaltenen Briefe, von denen er die Originale nicht fortgegeben haben wird, auch dem Publikum nicht zu mißgönnen; da ohnehin ſein Name uns für die Echt⸗ heit dieſer Documente bürgen muß. Vermuthlich rührt auch von ihm das Datum des Briefes über Julius von Tarent her, das bei Herrn Körte To ausſieht: (Celle) „den

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18. Juli, wo ich nicht irre“ (1775). Das Jahr ſtimmt vollkommen zu der Geſchichte des Trauerſpiels von Leiſe⸗ witz, welcher ſich damit im Jahre 1775 um den, von den Unternehmern des deutſchen Theaters in Hamburg „aus⸗ geſetzten Preis bewarb (die Ankündigung der Preisaufgabe war vom 28. Febr. 1775, Leiſewitz's Leben S. XVIII.), aber ihn Klingemann, wie bekannt, überlaſſen mußte, wo⸗ für aber die Nation ihm Erſatz gegeben hat. Auch ſtimmt der Schluß der Beurtheilung Thaer's damit überein, wo es heißt: „Wenn Dir im Uebrigen meine Beurtheilung abſurd vorkömmt, ſo haſt Du Dir's ſelbſt zuzuſchreiben Du haſt ſie verlangt. Du hätteſt bedenken ſollen, daß ſeit 6 Jahren das Bischen, was ich von Beobachtungs⸗ geiſt und Genie beſitze, blos zu mediziniſchen Sachen gewöhnt, zu allem Andern faſt unbrauchbar geworden iſt.“ Da Thaer 1769 Student ward *), fo kommt für 1775 gerade 6 Jahre heraus. Das Ganze iſt übrigens, äußer⸗ lich, gar kein Brief, ſondern blos eine ſchriftliche Benr⸗ theilung, wie Thaer ſeine Schrift ſelbſt nennt. Es iſt mithin nicht für einen Brief zu halten, den Thaer etwa in die Ferne, mit dem Manuſcripte von Julius von Ta⸗ rent ab⸗ und zurückgeſchickt hätte; beide lebten in den Sommermonaten 1775 in Celle (das iſt conſtatirt), und der Briefwechſel, wenn es dieſen Namen verdient, ging von dem Hauſe des einen nach dem des andern. Und dies wird durch die erſten und die letzten Worte der Beur⸗ theilung beſtätiget; der Aufſatz beginnt medias in res: „Da, Liebſter, empfange Dein Kind zurück. Achte nicht der Schmerzen, die Dir feine Geburt gemacht u. |. w.“

) S. die chronologiſche Ueberſicht in Albrecht Thaer: „1769. Göttingen. Student der Medicin.“

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und ſchließt: „O wenn doch Dein Trauerſpiel erſt gedruckt wäre, oder wenn ich die ſchönſten Scenen daraus abſchrei⸗ ben laſſen und alle Tage leſen könnte. Ich habe es nur zwei Tage in Händen gehabt und zwar eben, wie ich entſetzlich viel Geſchäfte hatte.“ Das letztere ſcheint mir ſchlagend. „Du haft meine Beurtheilung verlangt ich habe es nur zwei Tage in Händen gehabt.“ So ſchreibt man nicht, ſo verfährt man nicht, wenn uns ein Dichter aus weiter Ferne ein neues, ungedrucktes Manu⸗ ſeript überſchickt! Dies iſt ein inneres Argument, dieſen anziehenden Aufſatz Thaer's in den Zeitraum von Leiſe⸗ witzens Aufenthalt in Celle, in die letzten Monate vor deſſen Ueberſiedelung nach Braunſchweig, zu ſetzen. Man erſteht aus dieſem Aufſatze, daß Leiſewitz im Stillen ein Urtheil über ſein Drama hören wollte, ehe das Urtheil der Preisrichter erfolgte: von dieſer Abſicht und Beſtim⸗ mung ſeiner Tragödie kommt in Thaer's Schrift nicht die leiſeſte Spur vor; dieſer glaubte vielmehr, Leiſewitz werde die Tragödie ſofort herausgeben; ein intereſſanter Beitrag zur Geſchichte derſelben. Herr Körte will „Thaer's kriti⸗ ſche Anſichten faſt alle von Leiſewitz genau befolgt finden.“ Das verdient erſt eine beſondere Unterſuchung. Es ge⸗ reicht Thaer'n in jedem Falle zum Ruhme, den ausgezeich⸗ neten Werth des Stücks, welches ſeinem Urheber einen bleibenden Namen in der National-Literatur gemacht hat, ſogleich erkannt und anerkannt zu haben; und überhaupt bildet dieſe kritiſche Verhandlung unbeſtritten einen Glanz⸗ punkt in ſeinem Jugendleben. Wir werden ſehen, wie ge⸗ ringen und ſchlechten Gebrauch ſein Biograph davon ge⸗ macht hat: wir werden ſogar daraus eine ſtarke Waffe gegen ihn zu machen genöthiget. Doch gebietet der Zuſammenhang, mit der kritiſchen Auseinanderſetzung des Verhältniſſes zwi⸗

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ſchen Thaer und Leiſewitz bis zu dem 1 cheidenden Punkte fortzufahren.

Seit Ende November 1775 lebte alfo Leiſewitz für fein ganzes übriges Leben in Braunſchweig, während Thaer in Celle blieb (bis 1804, da er in preußiſche Dienſte trat). Der Verfaſſer der biographiſchen Notizen über Leiſewitz wiederholt zunächſt über den Anlaß zu deſſen Bekanntſchaft mit Leſſing das Bekannte. Julius von Tarent war ohne Namen des Dichters zur Oſtermeſſe 1776 in Leipzig her⸗ ausgekommen. Karl Leſſing erzählt (Leſſing's Leben I. 423.): „Leſſing war die Oſtermeſſe 1776 mit Eſchenburg im Buchladen, um ſich das Neueſte und Merkwürdigſte auszuſuchen. Dieſes Trauerſpiel (Julius von Tarent) war mit darunter. Leſſing las es und fand es vortrefflich. Er glaubte, es ſei von Göthe. Eſchenburg äußerte dagegen einige Zweifel. Deſto beſſer! ſagte Lefſing, ſo giebt es außer Göthe noch ein Genie, das ſo etwas machen kann. Sobald alſo Leiſewitz von Hannover, wo er damals lebte, nach Braunſchweig kam, brachte ihn Eſchenburg zu Leſſin⸗ gen. Mit der Zeit beſuchten ſie einander oft, und wurden bald Freunde.“ Hier miſchte der Erzähler ſchon einen hi⸗ ſtoriſchen Lückenbüßer mit ein; aus Unwiſſenheit, daß Lei⸗ ſewitz bereits über den Winter 1775 —76 in Braunſchweig lebte, wohin er auch nicht aus Hannover, ſondern aus Celle (wenn auch über Hannover) gekommen war. Der ungenannte Autor der Nachricht über Leiſewitz, welcher vorſtehende Erzählung Karl Leſſing's mit deſſen eignen Worten, doch ohne feine Quelle anzugeben, in einer An⸗ merkung (S. XXIII.) wiedergiebt, ließ zwar mit Recht den unhiſtoriſchen Zuſatz fort, erſetzte ihn aber im Texte durch einen ähnlichen Lückenbüßer, wenn er ſchrieb: „Die⸗ ſes (die gute Meinung Leſſing's von Julius von Tarent)

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legte auch den Grund zu ihrer näheren Bekanntſchaft. Eſchenburg führte Leiſewitz bei Leſſing ein, und dieſer würdigte ihn ſeiner Freundſchaft.“ Seinen Gewährsmann nennt er nicht. Doch ob Eſchenburg oder Ebert oder überhaupt ein Dritter die Bekanntſchaft von Leiſewitz mit Leſſing vermittelt habe, das möge hier dahingeſtellt blei⸗ hen; wir halten uns an das Factum: durch Julius von Tarent wurde Leiſewitz Leſſingen empfohlen und mit ihm bekannt; auch von ihm empfohlen und begünſtigt. Be⸗ freundet? das wiſſen wir ſchon nicht. Dagegen bleibt uns unſer Anonymus für einen zweiten Lückenbüßer ver⸗ antwortlich, den er ſich rein erfunden, oder von einem Dritten ohne alle Kritik angenommen hat, wenn er in Einem Athem hinzuſetzt: „— und (Leſſing) gab ihm, als Leiſewitz mit ſeinem Freunde Thaer im Juni 1776 eine Reiſe nach Berlin machte, Empfehlungsbriefe an ſeinen Bruder und an ſeine Freunde Mendelsſohn und Nicolai mit. Beide fanden auch nicht nur bei denen, welchen ſie ſpeziell empfohlen waren, ſondern überhaupt in Berlin, namentlich im Hauſe des Miniſters von Zed⸗ litz und des Probſtes Spalding, die freundlichſte Auf⸗ nahme. Leiſewitz hatte hier auch die Freude, ſeine Tra⸗ gödie auf der Bühne dargeſtellt zu ſehen. Sein Aufent⸗ halt in Berlin dehnte ſich bis zu Anfang des Auguſt aus; dann kehrte er nach Braunſchweig zurück. Thaer ging nach Celle, blieb aber mit Leiſewitz in brieflichem Verkehr; von Ueberbleibſeln daraus verlautet jedoch nichts.“ Dieſe im Tone der beglaubigten Geſchichte vorgetragene Erzäh⸗ lung iſt, ſage ich, apokryphiſch in Rückſicht der Perſon von Albrecht Thaer; und die Dreiſtigkeit des Anony⸗ mus um ſo auffallender, als er überall Texte aus Leſſing's Briefwechſel beibringt, welche das Gegentheil ſchließen laſ⸗

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ſen, indem in allen von Thaer nicht eine Sylbe (ſo we⸗ nig als von dem Miniſter von Zedlitz und Spalding) vor⸗ kömmt. Weil nun, wie wir ſehen werden, der Verfaſſer der Bekenntniſſe Thaer's aus dem Anonymus geſchöpft und nur die Umſtände durch ſeine Phantaſte, und mit eini⸗ gen Anekdoten, ausgemalt, dieſe Ausgeburt zugleich mit einem fingirten Beſuche Thaer's bei Leſſing auf der Rück⸗ reiſe bereichert hat, ſo müſſen wir uns um ſo mehr an die anonyme Quelle der apokryphiſchen Erzählung des Bekenners halten. Wiewohl, ſelbſt wenn Thaer Leiſe⸗ witzen 1776 nach Berlin begleitet hätte, ſelbſt dann würde der Betrug mit den Bekenntniſſen an dieſer Stelle in die Augen ſpringen, wegen der Form der Erzäh⸗ lung; um ſo mehr, wenn die Materie ſo unächt iſt, wie die Form. | | Die Mittel zur Gefchichte dieſer Reiſe beſchränken ſich auf den Briefwechſel Leſſing's mit feinen Freunden in Ber⸗ lin, welchen er Leiſewitzen bei ſeiner Reiſe dorthin em⸗ pfahl. Die Empfehlungsbriefe, welche Leiſewitz mitnahm, find ſämmtlich in Braunſchweig vom 16. Juni 1776 aus⸗ gefertiget, und wir kennen deren vier: an Ramler (Lach⸗ mann XII. 454.), an Karl Leſſing (daf.), an Engel (456., früher ungedruckt) und an Mendelsſohn (daſ.). Ein fünfter, an Nicolai, welchen dieſer aus Berlin den 29. Juni 1776 erwiedert (XIII. 557.), iſt verloren ge⸗ gangen. Karl Leſſing erwähnt Leiſewitzens in ſeiner Ant⸗ wort an Leſſing vom 4. Juli (XIII. 558.) und vom 2. Auguſt 1776 (562.), in einem Briefe, welchen Leiſe⸗ witz an Leſſing mitnehmen ſollte; denn denſelben Tag reiſte er von Berlin ab. („Ich möchte noch manches mit Dir plaudern; aber Herr Leiſewitz, der Dir dieſen Brief ein⸗ händigt, will fort.“)

= - Ab

In allen dieſen Briefen ift von einem Begleiter Leis ſewitzens nicht die Rede, ja nicht die entfernteſte Spur; und da der Anonymns nur dieſe Briefe (bis auf den an Ramler und den ungedruckten an Engel) anführt, ſo er⸗ ſcheint ſeine Erzählung in Hinſicht auf Thaer als voll⸗ kommen grundlos. Aus dem von ihm überſehenen Briefe Leſſing's an Ramler hätte er entnehmen können, daß Leiſe⸗ witz zugleich von Ebert in Braunſchweig ein Empfeh⸗ lungsſchreiben an jenen mitgenommen hatte; aber zugleich wieder, daß auch da von einem Begleiter und Freunde Thaer's nicht die Rede iſt; Leſſing ſchreibt: „Ihr lieber Milchbruder (das war Ebert “)) hat es zwar ſchon auf ſich genommen, den Ueberreicher dieſes, Herrn Leiſewitz, bei Ihnen anfzuführen, wie man in Wien zu reden pflegt. Ich kann es aber doch nicht unterlaſſen, ihn gleich⸗ falls mit ein Paar Worten zu begleiten“ u. ſ. w. Alle diefe Briefe beweiſen nicht mehr und weniger, als daß Leiſewitz dieſe Reiſe allein, vielleicht mit einem Bedienten, gemacht hat. Und damit ſtimmt vollkommen ein Brief von Leiſe⸗ witz ſelbſt, einige Tage vor dieſer Reiſe, aus Braunſchweig zan feine und Thaer's Freundin, die Paſtorin Wichmann in Celle, wo er ihr von ſeinem Vorhaben Nachricht giebt. Der Brief iſt vom 12. Juni 1776 (Leiſewitz's Schriften S. 224.), in ſehr aufgeräumter Stimmung geſchrieben. Nachdem er über ein ideales Schäferleben unter ſeinen

) Zu Leſſing's Briefe an Ramler vom 16. December 1770 (XII. 274.): „Daß Sie dieſen Dank nicht eher bekommen, daran iſt Ihr Milchbruder Schuld,“ machte Nicolai die Anmerkung: „So nannte Herr Ramler Herrn Hofrath Ebert, von dem fehr Viele und unter andern auch der Herzog von Braunſchweig ge⸗ ſagt hatten, daß er ihm außerordentlich ähnlich wäre.“

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Freunden geſcherzt, fährt er jo fort: „Weil unterdeſſen dieſes Arcadien zukünftigen Monat noch nicht zu Stande

kommen möchte, ſo werde ich während der Zeit nach Ber⸗

lin reiſen. Weil ich aber dieſe Reiſe nicht gern ohne Ihre Verzeihung antreten möchte, ſo bitte ich Sie noch vorher um ein Paar Zeilen. Ich will Ihnen antwor⸗ ten aus Braunſchweig aus Magdeburg aus Berlin aus dem Lande der Menſchenfreſſer, wenn ich bis dahin reiſen und nicht gefreſſen werden ſollte.“ Von Thaer kein Wort. Könnte man auch denken, Leſſing und ſeine Freunde hätten Leiſewitzens Begleiter, den Dr. Thaer, ſo vollkommen wie einen Bedienten ignorirt, ſo wird ihn doch der eigne Freund im Angeſicht der gemeinſchaftlichen Freundin nicht ignorirt haben. Thaer lebte in Celle; um auf einige Tage nach Berlin zu reiſen („er wird ſich ei⸗ nige Tage in Berlin aufhalten und wünſcht durch Dich unſre dortigen Freunde kennen zu lernen,“ ſchreibt Leſſing an ſeinen Bruder) hätte alſo Leiſewitz Thaer'n auffordern müſſen, erſt die Reiſe von Celle nach Braun⸗ ſchweig zu machen. Leiſewitz wußte nicht, daß er über anderthalb Monate in Berlin bleiben würde, und doch

ſoll Thaer an Einem Tage mit ihm von Berlin zurück⸗ gekehrt ſein! Eine Hypotheſe iſt hier ungereimter, als die

andere, und es iſt nur zu klar, daß der anonyme Autor

der Nachricht über Leiſewitz nicht nur ohne Grund, ſon⸗

dern ſogar im Widerſpruche mit den Urkunden und hiſto⸗ riſchen Umſtänden, Thaer'n ſeinem Freunde zum Begleiter nach Berlin gegeben hat. Dafür hat er es zu verſchul⸗ den, daß Thaer in feinen apokryphiſchen Bekenntniſſen ſich ſelbſt rühmt, dieſe Reiſe mitgemacht und in Allem Leiſe⸗ witzen gleich geſtanden zu haben.

Laßt uns zu Herrn Körte und ſeinen „Bekenntniſſen

zurückkehren. Um ihre geheime Beziehung zu einander zu entdecken, wollen wir thun, als wäre der Poet der Be⸗ kenntniſſe und Herr Körte zwei vollkommen verſchiedene Perſonen, und einen nach dem andern in's Auge faſſen. Erſtlich, was weiß Pſeudo⸗Thaer von feinem eignen Zus ſammenleben mit Leiſewitz in Celle zwiſchen 1774 752 was weiß er namentlich von dem höchſt anziehenden Um⸗ ſtande, daß ihm der Freund während ſeines Aufenthaltes in Celle ſeine berühmte Tragödie vor dem Einſenden nach Hamburg zur Beurtheilung unterworfen hatte? Werden wir vielleicht Näheres darüber hier erfahren? Ach, er iſt in der kläglichſten Unwiſſenheit über ſein eignes Le⸗ ben! und dieſe Unwiſſenheit wird die Grundlage der handgreiflichſten Erdichtungen! Seine Rede enthält nichts als Klagen über ſeine Iſolirung und Verkennung in ſeiner Vaterſtadt; namentlich heißt es Seite 34., bei Illgen Seite 105. „Das Aergſte war mir, keinen Freund, kaum Einen Menſchen zu haben, der mich ver⸗ ſtand. Das Bedürfniß war ſo groß (sic), daß ich Tag für Tag an Leiſewitz ſchrieb. Dieſer war in Han⸗ nover ebenſo verkannt, und tröſtete mich mit feinem Bei⸗ ſpiel. Aber dies paßte nicht ganz. Er hatte keine Paſ⸗ ſion für ſein Metier (sic) wie ich, und fühlte den Schmerz nicht, ſein Pfund ſo vergraben zu müſſen; dann hatte er doch etliche Freunde, und hatte Credit oder Geld, was mir fehlte.“ Das letztere, der Geldpunkt, ſpielt eine große Rolle; es folgen Klagen über Abhängigkeit von ſeinem Vater, Verleidung des Studiums der Mediein; Uebergang zur Philoſophie; man hätte ihm (das erfuhr er ſpäter) eine Lehrſtelle in Göttingen gern übertragen (2). Und nun heißt es auf einmal: „Drei Jahre hatte ich in dieſem Stande des Drucks gelebt und allen Muth verloren, als

=

mir Leiſewitz ſchrieb, ob ich mit ihm nach Berlin rei⸗ ſen wolle, ſein Schwager in Braunſchweig wolle mir gern das Geld vorſchießen: Mein Bündel war gleich ge— ſchnürt.“ Auf einmal Leiſewitz wie ein deus ex ma- china! man weiß nicht woher! Das punctum saliens des Betruges iſt hier die Cauſalverbindung zwiſchen der dreijährigen Trennung von Leiſewitz und deſſen Ein⸗ ladung zur Reiſe nach Berlin, d. h. der genetiſche Zu⸗ ſammenhang zwiſchen der Ignoranz des Autors und der darauf fließenden Erfindung. Jene Ignoranz wird um ſo greller, als man bedenkt, daß Thaer's Geliebte in Celle geboren und erzogen war, und wenn ſie Leiſewitzen nicht ſelbſt in jüngern Jahren in Celle geſehen hatte, ohne Zwei⸗ fel wußte, daß der unterdeſſen berühmt gewordene Dich- ter im Jahre 1775 ſich dort aufgehalten. Den Worten: „Das Bedürfniß war ſo groß, daß ich Tag für Tag an Leiſewitz ſchrieb,“ würde ſie die Frage entgegengeſetzt ha⸗ ben: auch als. er bei uns in Celle war?

Herr Körte, der mit ſeinen Noten überall an der Hand iſt, beobachtet bei jener Ignoranz des Bekenners ein bei⸗ fälliges Stillſchweigen. Billig muß man ihn fra⸗ fragen, warum er die ganz deutliche Stelle in den bio⸗ graphiſchen Notizen über Leiſewitz, in der neuen Ausgabe von deſſen Schriften, ſo wie die Briefe von Leiſewitz an die Paſtorin Wichmann, ignorirt: da er dieſes Buch ſonſt gekannt und benutzt hat? freilich würde er dann das Mo⸗ tiv der Reiſe nach Berlin verdächtig gemacht haben; das hat er alſo nicht thun wollen, thun dürfen. Noch ver⸗ antwortlicher iſt er für das Stillſchweigen über Thaer's Beurtheilung der Tragödie von Leiſewitz, aus dem Jahre 1775, während ſeines Aufenthalts in Celle, den wir nachgewieſen. Verdiente dieſer Glanzpunkt, welcher für

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jeden andern Biographen unſchätzbar wäre, nicht einmal die Stelle einer elenden Anmerkung, wenn ſchon die Be⸗ kenntniſſe darüber weggehen? Freilich wäre wieder der ganze Text ſelbſt und der Nexus deſſelben mit der Berliner Reiſe erſchüttert oder aufgelöſt worden. War ihm das ſchöne Document deshalb mitgetheilt worden, um es zu verſtecken? und iſt es etwas anderes, als verſtecken, wenn man einen ſo merkwürdigen Umſtand am rechten Orte verſchweigt, und hinter der Nachricht von Tod und Begräbniß, in der Leichenrede als Anhang, mit einer Zeile durchſchlüpft (S. 327.): „Der Dichter des Julius von Tarent hat auf fein Urtheil greßes Gewicht gelegt;‘ mit der Anmerkung: „Siehe die Beilage VII. Thaer an Leiſewitz, über deſſen Julius von Tarent.“ Herr Körte nehme es uns nicht übel: er iſt der Biograph von Gleim, von F. A. Wolf, aber in der Technik einer guten Biographie zeigt er ſich uns hier noch als Anfänger; oder auch nicht.. Aber weiter. Der Bekenner ſchreibt: „Als mir Lerſe⸗ witz ſchrieb, ob ich mit ihm nach Berlin reiſen wollte, ſein Schwager in Braunſchweig wolle mir gern das Geld vorſchießen.“ Ort und Zeit werden übergangen. Der mit Leiſewitz's Leben unbekannte Leſer kann nicht anders glau⸗ ben, als daß Leiſewitz von Hannover aus nach Celle an Thaer geſchrieben; Thaer möge zunächſt nach Hannover hinauf reifen, von da würden fie über Braunſchweig, wo er einen Schwager hatte, der Thaer'n Geld vorſchießen würde, nach Berlin gehn. Wer kann aus dieſen Worten errathen, daß Leiſewitz von Braunſchweig aus an Thaer geſchrieben haben müßte, da feine Anftevelung dorthin ganz mit Stillſchweigen übergangen wird. Freilich hätte dann geſagt werden müſſen, daß dieſe Ueberſiedelung von Celle aus geſchehen; und das ging nicht: denn Thaer ſoll Lei⸗

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ſewitzen drei ganzer Jahre, 1774—1776, nicht geſehen haben. Unſer Herr Körte begleitet dieſen Wirrwarr mit einem beifälligen Stillſchweigen und mit der Note: „Im Juni 1776“ (scil. ſchrieb ihm Leiſewitz). Woher wiſſen Sie dieſen Zeitpunkt mit eins ſo genau, Herr Körte? welches iſt Ihre Quelle? iſt es nicht Leſſing's Briefwech⸗ ſel mit ſeinem Bruder und den Freunden in Berlin? Nicht? So werden Sie gewiß eine ungedruckte Quelle haben. Kommt die Reiſe und das luſtige Leben in Berlin, Rückreiſe im Auguſt und Beſuch bei Leſſing. Dieſer Be⸗ ſuch verſpricht uns etwas; es wird ein Beitrag zu den beliebten Cabinetsſtücken unſerer Novelliſten, welchen un⸗ ſer Hiſtoriker ſich anreiht. Der Freiherr von Sternberg hat uns in ſeiner anmuthigen Novelle „Leſſing“ dieſen auf einer Reiſe mit dem alten Gellert zuſammengeführt, der dem großen Mann die Fabel zu Nathan der Weiſe an die Hand giebt. Der berühmte Kanzelredner Franz The⸗ remin machte uns zu Zeugen eines Beſuches, welchen gar der ewige Jude, unter dem Namen eines Barons von Wal⸗ ler, Leſſingen in Wolfenbüttel abſtattet, wo dieſer zum zweitenmal die Fabel zum Nathan annehmen muß ).

) Der ewige Jude. Eine Legende. In den Abendſtunden, von Dr. Franz Theremin. Zweiter Bd. Verlin 1836. Leſſing führt dort (S. 208 215.) ein heiteres Geſpräch mit dem ewigen Ju⸗ den („dem Indifferentismus“), welcher ihm das Mährchen von den drei Rlngen erzählt, wofür Saladin ihm um den Hals ge⸗ fallen wäre. „Ich falle Ihnen nicht um den Hals, fagte Leſ⸗ ſing, denn ich möchte nicht gern den ewigen Juden umarmen. Aber Ihr Mährchen iſt gut, und ich werde mich deſſelben bedie⸗ nen. Sie ſollen unter dem Namen: Nathan der rin der Held eines Drama's werden.“

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Dieſem Beſuche ſchließt ſich der von A. Thaer an, wo Leſſing ſeinen Mitarbeiter an der Erziehung des Menſchen⸗ geſchlechts wie einen Bruder aufgenommen Um #4 une Tage mit ihm eingeſchloſſen hat. :

Die Reife von Celle nach Braunſchweig und von da nach Berlin bot nichts Merkwürdiges. Der Dichter ſetzt uns mit Einem Sprunge von Celle nach Berlin: „Mein Bündel war gleich geſchnürt. Hier kam ich auf einmal in mein Element, fand Luſt wieder zu athmen.“ Hier! wo denn? voranging nichts als: „mein Bündel.“ Dieſes hier kommt komiſch heraus. „Wir hatten von Jerufa⸗ lem und Leſſing vollwichtige Adreſſen an alle großen in Berlin.“ Wir! Von Jeruſalem? wenn er noch ge⸗ ſagt hätte: von Ebert. In Leſſing's Briefen aber wird Thaer's nicht gedacht. Doch was iſt das bei einem Poe⸗ ten? „Aber wir fanden uns auch ohne fie ſchon gekannt und geachtet; Leiſewitz durch ſeinen Julius von Ta⸗ rent, ich durch meine Diſſertation.“ Endlich iſt doch ein⸗ mal von Julius von Tarent die Rede. Aber ein guter Dichter würde dieſen Anachronismus nicht gemacht haben; denn Leiſewitz war damals noch gar nicht als Dichter bekannt; ſein Julius von Tarent war ſo eben erſt, und ohne ſeinen Namen erſchienen, und Leſſing ſtellte ihn jedem ſeiner Freunde ausdrücklich, als den anonymen Dichter von Julius von Tarent erſt vor *), mit der Auf⸗

) An K. Leſſing: „Der Dir dieſes überbringt, iſt Paz Lei⸗ ſewitz, oder, wenn Du dieſen Namen noch nicht gehört haſt, der Verfaſſer von Julius von Tarent. Dieſes Stück wirſt Du ohne Zweifel geleſen haben; und wenn es Dir ebenſo gefal⸗ len, als mir, ſo kann es Dir nicht anders als angenehm ſein, den Urheber perſönlich kennen zu lernen.“ An Engel: „Schrei⸗

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forderung, das Stück zu leſen. Denken wir uns, daß Lei⸗ ſewitz geſchrieben hätte: „wir fanden uns auch ohne ſte (die Adreſſen) ſchon gekannt und geachtet,“ ſo wäre es eine unerträgliche Aufſchneiderei und Prahlerei geweſen, in welche aber unſer Poet, ohne poetiſches, wie morali— ſches Gewiſſen, Thaer'n verfallen läßt, von deſſen medici— niſcher Inaugural-Diſſertation (de actione syslematis nervosi in febris, 14 Bogen in 4., nach Angabe Körte's S. 28.) die große Welt noch viel weniger gewußt hat, als von Julius von Tarent, wenn ſchon Zimmermann, nach Körte S. 29, ſie in der Allgemeinen deutſchen Biblio— thek von 1775 recenſirt hatte. Aber leider geht ein ſo unedler, aufſchneideriſcher, ja burlesker Ton durch das ganze Stück von Anfang bis zu Ende; und in demſel— ben Tone wickelt ſich das Uebrige hier ab: „Es kam nur auf uns an, welche Geſellſchaften, welche Ver— gnügungen wir wählen wollten; Mittags und Abends warteten an mehreren Tiſchen Couverte auf uns, auch beim Miniſter von Zedlitz.“ (Das hat er von der ano— nymen Nachricht über Leiſewitz in der Ausgabe von 1838, wobei, wie bemerkt, kein Gewährsmann angeführt iſt, für Leiſewitz verſteht ſich. Von Thaer kann keine Rede ſein.) „Ich mußte mich zwiſchen Aerzten und Philoſophen thei— len, gab aber letztern doch mehr von meiner Zeit. Ihrer vertrauteſten Freundſchaft würdigten uns Spalding, Mendelsſohn, Eberhard, Engel, Nicolai, Reis

ben Sie mir doch auch, wie Ihnen Julius von Tarent gefallen, deſſen Verfaſſer eben der Ueberbringer iſt.“ An Mendelsfohn: „Der Ihnen dieſes überreicht, iſt ein ſo guter junger Mann Er hat eine Tragödie geſchrieben, die Sie vielleicht noch nicht geleſen haben“ u. ſ. w.

Erziehung des M.⸗G. 10

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chard und Madame Bamberger, eine Frau (hört!), die über die abſtracteſten Materien der Philoſophie roſen⸗ farbenes Licht und Grazie zu verbreiten weiß, welcher Je⸗ rufalem jede feiner Schriften zum Auspoliren ſchickt; die ihm beim Tode ſeines Sohnes allein Troſtgründe fühlbar machen konnte; die bei dem Allen im gemeinen Leben die Geſtalt einer gewöhnlichen Frau annimmt (sic), während ſie bei Hofe, als Freundin der Königin und der Prinzeſſin Amalie, ſo beliebt iſt, als im philoſophiſchen Klubb.“ Poet, zeige uns an, woher Du dieſe ſchönen Dinge genommen, und ob Du uns nicht etwas Genaue⸗ res über die treffliche Madame Bamberger mittheilen kannſt? Wer ſich meldet, iſt Herr Körte, mit folgender Anmer⸗ kung: „Antonie Charlotte Victorie, Gattin des Hofpredi⸗ gers Bamberger zu Potsdam, Tochter des Ober-Conſiſto⸗ rialraths Sack; ſie war geboren zu Magdeburg 1733, und ſtarb in Berlin am 30. Mai 1805. Sie ſtand auch fährt Herr Körte gefällig fort mit Gleim (hört!) in einem nicht blos freundſchaftlichen, ſondern auch ge⸗ wiſſermaßen amtlichen Briefwechſel, indem ſie ihm für das hochwürdige Dom⸗Capitel zu Halberſtadt regelmäßig Bes richt erſtattete von allem, was in Berlin Wichtiges vor⸗ fiel.” Schön, Herr Körte! da Sie mit dem Poeten, wel⸗ cher uns ſein Machmerk für die Bekenntniſſe eines Albrecht Thaer unterſchieben will, und welche Sie, als Biograph, uns commentiren wollen, in ſo genauer Bekanntſchaft ſte⸗ hen, daß Sie aus Einer Quelle mit ihm ſchöpfen, ſo kön⸗ nen Sie uns gewiß ſagen, wer der Poet ſei?!

Aber laßt uns nicht ernſthaft werden, denn es geht in der Geſchichte luſtig zu: „Doch waren wir nicht im⸗ mer unter Gelehrten, ſondern kamen auch durch ſie, be⸗ ſonders durch die Bamberger“ (alſo die Bamberger

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welche, wie eine Fee, „die Geſtalt einer gewöhnlichen Frau annahm“ ein Gelehrter) in die ausgeſuchteſten Geſell⸗ ſchaften von Frauenzimmern, wo Leiſewitzens damals fo heitere Laune“ (Leiſewitz iſt nemlich am Ende feines Le— bens melancholiſch geweſen!) „und meine dort gefallende Art zu tanzen denn wo Frauenzimmer ſind, wird dort alle Abend, obgleich ſehr mäßig, getanzt uns immer ſehr willkommen machte.“ Armer Leiſewitz! hier mußt Du gar zum Gecken werden! (während ſein Julius von Tarent gleichzeitig bis zum 4. Juli viermal bei immer ziemlich vollem Theater aufgeführt ward; Karl Leſſing an feinen Bruder XIII. 559.) Sein Freund vertanzt die Abende.

„Das Alles war ein Himmel für mich! Berlin ward auch durch die Ankunft des Großfürſten noch brillianter (sic), als es ſonſt im Sommer iſt.“

Bis hieher iſt die Sache ſpaßhaft. Jetzt wird es aber ernſthaft, denn es kommen gleich Lügen: „Man bot mir unter den beſten Bedingungen an, in Berlin zu blei⸗ ben. Aber ich mußte doch erſt zurück, und verließ es nach einem vierteljährigen Aufenthalte, jedoch mit dem fe⸗ ſten Verſprechen und Vorſatze, bald wieder zu kommen.“ Das Anerbieten, Thaer'n in Berlin anzuſtellen, iſt eine zu dreiſte Erdichtung, um uns damit zu beſchäftigen.

Der Autor läßt wohlweislich dieſen Punkt ſelbſt fal⸗ len. Es iſt gar nicht weiter die Rede davon. Mit der, zwei Seiten weiter folgenden Phraſe: „Ich ſah Celle nur als ein Exil an, welches ich zur Vorbereitung auf meine Wiedererſcheinung in der Welt (nicht etwa: in Berlin) gebrauchen wollte, und hielt jede Stunde für verloren, die ich nicht bei meinem Schreibtiſche zubringen konnte,“ iſt das ganze Geſchäft abgethan. Und zum Beweiſe, daß

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Herr Körte die Sache nur für einen pikanten Lücken⸗ büßer der Bekenntniſſe angeſehen, dient das, ſonſt nur zu auffallende, Uebergehen dieſes Punktes an dem Orte, wo von Thaer's Berufung nach Preußen und erſter Reiſe nach Berlin, im Febr. 1804, die Rede iſt (S. 168470).

Thaer reiſte alſo, laut dem Poeten, nach einem vier⸗ teljährigen Aufenthalte von Berlin ab. Wie kommt ein Vierteljahr heraus? ein Vierteljahr ſind drei Monate oder ungefähr drei Monate. Herr Körte giebt die Zeit näher an, indem er zu der Abreiſe nach Berlin die Note „im Juni 1776“ und zu der Rückreiſe die Parentheſe „Auguſt 1776“ in den Text ſetzt. Juni bis Auguſt bilden, ſcheint es, ein Vierteljahr. Aber von dem 16. Juni bis zum 2. Auguſt (da Leiſewitz von Berlin abreiſte) find nicht mehr als eben anderthalb Monate. Wenn alſo Herr Körte die Rückreiſe Thaer's in den Auguſt ſetzt, ſo muß er nicht nachgerechnet, und einen außer den Bekenntniſ⸗ jen liegenden Anhaltspunkt in Bauſch und Bogen ange⸗ nommen haben, d. h. er, wie der Verfaſſer der Bekenntniſſe haben auf ein und daſſelbe literar-hiſtoriſche Factum ge⸗ ſehn, an welches der Betrug geknüpft iſt. Das iſt nun nichts anders, als die Reiſe und Rückreiſe von Leiſewitz, mit Beziehung auf Leſſing's Briefwechſel mit ſeinem Bru⸗ der. Denn auch der anonyme Verfaſſer von Leiſewitz's Leben (a. a. O. S. XXV.) knüpft ja die erdichtete bei⸗ derſeitige Heimkehr von Leiſewitz und Thaer an nichts, als an Karl Leſſing's Schreiben vom 2. Auguſt 1776, mit wörtlicher Anführung der Worte: „Herr Leiſewitz, der Dir dieſen Brief überbringt, will fort.“ So knüpft denn auch Körte an daſſelbe Datum, ſo wie er bei der Hinreiſe von Thaer und Leiſewitz gethan er knüpft daran, ungeachtet der vierteljährliche Aufenhalt nur durch einen

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Rechnungsfehler herauskommt. Weil der Tert der Be⸗ kenntniſſe ſich ein wenig dunkel über die Rückreiſe aus Berlin, in Beziehung auf das Zuſammenreiſen der bei⸗ den Freunde, ausdrückt, ſo will Herr Körte, durch ſeine, von Leſſing's Briefwechſel entlehnte Beſtimmung uns ſa⸗ gen: der Bekenner will, daß man glaube, die Rückreiſe ſei gemeinſchaftlich geweſen. Folglich habt die Güte, es zu glauben. Und damit ſtimmt er dem Anonhmus in Lei⸗ ſewitz's Schriften bei: „Thaer ging nach Celle, blieb aber mit Leiſewitz in brieflichem Verkehr.“ Da nun Herr Körte unſern Poeten ſo friſchweg com⸗ mentirt, ſo iſt er uns für ſeine Perſon von dem Poeten gar nicht mehr unterſchieden, indem er den freiwilligen Chro⸗ nologen zu der folgenden kecken Erdichtung abgegeben: „Auf der Rückreiſe (Auguſt 1776) brachte ich zwei Tage bei Leſſing zu, die ich unter die intereſſanteſten meines Lebens rechne, weil ich da Dinge geſehen und ge= hört habe, die bis dahin noch in keines Menſchen Auge und Ohr gekommen waren, die ich aber nur halb vers ſtand.“ Da Thaer die Reiſe nicht gemacht hat, ſo kann er Leſſing nicht auf der Rückreiſe beſucht haben. Das Hohle, Nichtsſagende, Platte in dieſen drei Zeilen verräth ſchon das Unächte; von Leſſing wird da wahrhaftig, wie von einem Alchymiſten und Charlatan, mit einer lächer⸗ lichen Geckerei geſprochen. Ich begreife nicht, wie ein Mann wie Illgen das alles wie blind glauben und nachſchrei⸗ ben konnte. Damit aber die Farce vollſtändig an's Licht trete, jo will ich auf einen Umſtand aufmerkſam machen, der unſerm Poeten entgangen iſt, und der ihn über⸗ raſchen wird: Zur Zeit, wo Thaer Leſſingen auf zwei Tage beſucht zu haben ſich rühmt war Leſſing gar nicht zu Hauſe, ſondern faſt den ganzen Monat ſelbſt

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zum Beſuche in Hamburg. Der Zuſammenhang iſt ſo: Einen Tag, nachdem Leiſewitz von Berlin abgereiſt war, den 3. Auguſt 1776 iſt Leſſing von Braunſchweig nach Hamburg zu Madam König, ſeiner nachherigen Gattin, in Geſellſchaft von Eſchenburg abgereiſt, um die Angele⸗ genheit ſeiner Verbindung mit dieſer Frau ins Reine zu bringen; und erſt den 29. oder 30. Auguſt 1776 ging Leſſing mit Eſchenburg von Hamburg zurück, und traf Anfang September in Wolfenbüttel wieder ein: wie aus feinem Brieſwechſel hervorgeht ). Sein Bruder Karl er⸗ hielt daher auf den Brief, den Leiſewitz bei ſeiner Abreiſe von Berlin nach Braunſchweig mitgenommen, keine Ant⸗

) An Madame König. Braunſchweig 11. Juli 1776 (XII. 458.): „Schwerlich aber wird es mir eher möglich ſein, als vor Anfang Auguſt abzureiſen. Den dritten deſſelben geſchieht es ganz gewiß. Und zwar komme ich in Geſellſchaft des Herrn Pro⸗ feſſor Eſchenburg.“ An dieſelbe. Braunſchweig, den 2. Auguſt 1776 (XII. 460.): „Dieſes blos Ihnen zu melden, daß ich Mor⸗ gen, Sonnabend den 3. Auguſt, unfehlbar von hier abreiſe.“ Vgl. den Brief Leſſing's aus Hamburg an Ebert S. 460., die Briefe der Madame König an Leſſing, von Hamburg den 30. Auguſt und 31. Auguſt 1776, während Leſſing's Rückreiſe von Ham⸗ burg nach Wolfenbüttel (XIII. 564. 565.), Leſſing's Anzeige ſei⸗ ner glücklichen Ankunft von Braunſchweig und von Wolfenbüt⸗ tel; der erſtere Brief ohne Datum, der andere vom 2. Septbr. 1776.: „Meine Liebe. Die Paar Worte, die ich noch eben Zeit hatte, Ihnen am Freitag Abends zu ſchreiben, werden Sie hof⸗ fentlich erhalten, und meine glückliche Ueberkunft daraus erſehen haben.“ Die Antwort der Mad. König iſt vom 4. Sept. (XIII. 566.): „Ich bin von Herzen froh, daß ich Sie glücklich und geſund in Wolfenbüttel weiß, und erkenne mit Dank, daß Sie, müde und matt von der Reiſe, mir 0 ii. einige in ge⸗ ſchrieben haben“ u. ſ. w.

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wort; und in ſeinem nächſten Briefe vom 10. September (XIII. 569.) macht er ihm leiſe Vorwürfe, daß er von Andern habe erfahren müſſen, er, Leſſing, fei in Hamburg geweſen, um ſeine Heirath völlig in Richtigkeit zu bringen. Endlich, von Wolfenbüttel den 15. Septbr. 1776 (XII. 466.), entſchuldigt ſich Leſſing, daß er ſo lange nichts von ſich hören laſſen, und berichtet ihm nun alles, was in den letzten 6 Wochen vorgefallen. Leiſewitzens wird ſchon nicht mehr gedacht, obſchon anzunehmen iſt, daß dieſer Leſſingen nach ſeinem Wiedereintreffen in Wolfenbüttel, dort oder in Braunſchweig, den Brief von Karl Leſſing vom 2. Aug. eingehändiget haben wird.

Das heißt doch auf der That ertappt! Die Inten- tion des Bekenners muß jedem unbefangenen Leſer ganz klar geworden ſein. Wer aber bei dieſen intereſſanten Be⸗ kenntniſſen die Feder geführt hat, darüber kann wohl auch kein Zweifel ſein. Wir haben in neueſter Zeit mehr als eine ſolcher Entdeckungen erlebt (man denke an den wieder aufgefundenen Sanchuniaton, und das gemachte Tage— buch einer ſchleſiſchen Prinzeſſin aus der Zeit des 30jäh⸗ rigen Krieges), doch hier iſt der moraliſche Geſichtspunkt ebenſo wichtig, als der literariſche. Es leben Perſonen, welche den nähern Beruf haben, das Andenken Als brecht Thaer's in feiner Reinheit und Lauterkeit zu bes wahren oder vielmehr wiederherzuſtellen. Ich werde nicht über das Literariſche hinausgehen; vielleicht war es genug, ausgemacht zu haben, daß Text und Auslegung, nach wel= cher Albrecht Thaer ſich ſo blos geſtellt haben ſollte, Ver⸗ faſſer von Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts ſchei— nen zu wollen, augenſcheinliche Erdichtung iſt. Nur da dies mit dem Ganzen auf das engſte verflochten iſt, da ein Satz aus dem andern folgt, und Eine Feder durch das

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Ganze geht, ſo folgt, daß Albrecht Thaer entweder Alles oder nichts an dieſen Pſeudobekenntniſſen Schechen ha⸗ ben muß. . Der letzte Theil der falſchen Confeſſton ſchließt ſich genau an die fingirte Berliner Reiſe und den Beſuch bei Leſſing an. Die Tendenz dieſes Theiles iſt ſowohl hiſto⸗ riſche, als pſychologiſche Fälſchung. Nach der Rückkehr von Berlin wirft Thaer ſich in die Philoſophie (da macht er die kleinen Abhandlungen, die er in Geſpräche mit ſeinen Berliner Freunden einkleidete, welche aber, mit der Erziehung des Menſchengeſchlechts „leider“ verloren gegangen ſind). Er verſteigt ſich in die höchſten Regionen der Metaphyſik; dies führt ihn zur Schwärmerei zum Platonismus. „Faſt alle junge Metaphyſiker ſind da hinein gefallen, Freund Jacobi zum Exempel.“ Herr Körte macht zu dieſer recht abgeſchmackten Bemerkung die Note: „Wer muß hier nicht ganz unwillkührlich an „„All⸗ will's Papiere““ an „„Woldemar““ denken?“ Thaer wird aus einem Platoniker ein finnlicher Schwärmer; und dies führt ihn man denke zum gemeinen Ehebruch mit einer Frau, in deren Hauſe er Arzt iſt, mit Bewilli⸗ gung ihres Mannes! Dieſe abſcheuliche Geſchichte kam ſelbſt Herrn Illgen zu kraus vor, er ließ ſie weg; ich muß hier aber dieſe Lücke ergänzen: „Ich bat, ich flehte den Mann, er möchte mich nicht quälen, in ſein Haus zu kommen, um einem Geſpräche, das meiner, feiner und ſei⸗ ner Frauen Ehre nachtheilig ſei, ein Ende zu machen. Es half nichts, ich mußte hin, mußte der in Krämpfen und Ohnmachten liegenden Frau beiſtehen. Ich that vie⸗ les vieles, was ich keinem Weltmann ſagen möchte, wenn ich nicht von ihm für den ärgſten Einfaltspinſel gehalten fein wollte.“ Empörend,

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das einen Bräutigam der Braut jagen zu laſſen! Nach⸗ her „Ich fiel fiel tief in Sinnlichkeit und Wol⸗ luſt.“ Er verfällt in Folge dieſer Laſter in eine völlige moraliſche und intellektuelle Apathie und Lethargie. Lang⸗ ſam und ſchwer erholt er ſich, wird aber ein ganz andrer Menſch (S. 47, bei Illgen S. 110.). „Jetzt ſtehe ich wieder, ja ich bin geſtiegen; nicht bis auf den Gipfel der Vollkommenheit, wohin ich hätte kommen können, wenn ich ununterbrochen im Guten fortgegangen wäre; ich bin nicht einmal da, wo ich war, ehe ich fiel u. ſ. w. Mein Verſtand hat nicht den hohen ſchnellen Flug, den er ſonſt wohl hatte (verſtehe, als er noch Schriſten wie die Er— ziehung des Menſchengeſchlechts flüchtig zu Papier brachte). Was ich jetzt denke und ſchreibe, iſt lahm, ſchaal, unge⸗ ſchliffen gegen das, was ich ſonſt dachte und ſchrieb, den Menſchen aber verſtändlicher (darum war auch die Erziehung des Menſchengeſchlechts, zum Theil freilich „we⸗ gen des Namens des Herausgebers und der zu großen Abkürzung der Sätze [er meint die Paragraphen in der genannten Schrift], fo widerſinnig von allen Parteien miß⸗ verſtanden worden“). Mein Verſtand überficht nicht mehr ſo die weite Ferne, ſondern hält ſich mehr an das, was vor ihm liegt, und da iſt er ziemlich ſcharfſichtig. Mein ſonſt unbändiger Stolz iſt heruntergeſetzt zur beſchei⸗ denen Ehrliebe, welche die Achtung jedes Menſchen ſchätzt, aber doch auch nicht erſchleicht.“ Dies weiſt zurück auf den Hochmuth, womit er von Berlin und von Leſſing nach Celle zurückgekommen war. (S. 38.) „Als ich wie⸗ der innerhalb der Thore meiner lieben Vaterſtadt war, erſtaunte ich über die Zwerggeſtalt, welche unter der Zeit alles mir bis dahin Rieſenmäßige angenommen hatte. Vor⸗ her bückte ich mich immer, um mit dem Kopfe nicht an⸗

zuſtoßen; jetzt war ich bange, Allen den Kopf zu zertre⸗ ten, wenn ich darüber wegmarſchirtel!“ u. ſ. w. Den Beſchluß machen einige Worte über ſeine Geſund⸗ heit und äußern Umſtände. Hier ſteht das freche Wort: „Ich habe völlig reines Blut. Eine Schande für unſere Zeiten, daß man dies unter Vorzüge rechnen muß.“ Ja wohl! In dieſe traurige Geſchichte ſind noch verſchiedene mo⸗ raliſch⸗pſychologiſche Reflerionen über Tugend und Laſter zur Würze eingemiſcht. Die Farbe dieſer Reflexionen gleicht denen des Herrn Körte, wo er ſelbſt ſpricht, auf ein Haar, ſo wie es auch ganz ſein Styl iſt, nur etwas ſchlechter, wegen der Unficherheit, des Bodenloſen, des Un⸗ zuſammenhängenden, womit ein ſolches Machwerk im⸗ mer behaftet iſt. Im empfehle zu dieſem Behufe be⸗ ſonders eine Vergleichung mit Thaer's „Beurtheilung von Julius von Tarent,“ wo ein gar anderer Geiſt, eine ganz andere Farbe vorhanden iſt. Thaer ſtarb 1828. Seine Pſeudo⸗Bekenntniſſe fallen zwiſchen 1828 und 1838, oder näher, in die Zeit, ſeit welcher Herr Körte, in Folge der an ihn von der Frau Profeſſor Körte, geb. Thaer, auf Lüdersdorf und Biesdorf, laut Zueignung, ergangenen Auf; forderung, an der Biographie arbeitete. Wir ſahen, daß noch die neue Ausgabe von Leiſewitz's Schriften von 1838 von Herrn Körte eitirt und in den Bekenntniſſen, bei dem Mährchen von der Berliner Reiſe und dem Beſuche bei Leſſing, benutzt worden. Die genannte Zueignung, aus Halberſtadt im Juli 1839, läßt uns erwarten, daß die Verwandten Thaer's dieſen kritiſchen Handel nicht auf ſich beruhen laſſen werden. Herr Körte ſagt hier der Tochter Thaer's, er hatte fie allein für befugt und fähig gehalten, die Biographie ihres Vaters zu ſchreiben; wogegen fie ſich ablehnend auf ihre Stellung als Familienmutter berief.

„Leider, fährt unſer Autor fort, war auch von den Dir Zunächſtſtehenden dergleichen gar nicht zu erwarten, da ſte ſich ebenfalls durch vielſeitige anderweitige Geſchäfte nur zu ſehr in Anſpruch genommen ſahen. Da meinteſt Du: „ich ſolle und könne die Biographie ſchreiben.“ Aber ich bin kein Landwirth kein Mann von Fach! Du lächelteſt: „Lies des Vaters Werke“ ſprachſt Du, „und ſte werden Dir die Bahn hell genug machen, welche Du zu beſchreiten haſt. Deine Liebe für den Meiſter und ſein großartiges Streben wird Dich mit einem geiſtigen Anſchaun ſeines Lebens und Wirkens trefflicher dazu aus⸗ ſtatten, als Dich die Praktik des Landbaues ſelbſt dazu befähigen möchte.“ Als Du nun auch Deine theuern Ge— ſchwiſter Wilhelmine und Albrecht für Deinen Plan gewanneſt, fo daß ſie mir alle ihnen zu Gebote ſte⸗ henden biographiſchen Materialien mündlich und ſchriftlich mittheilten, ja unſer Albrecht mir auch die un⸗ begrenzte Benutzung des ihm vererbten väterlichen Nachlaſſes geſtattete, da entſchloß ich mich, Deinen Wunſch mit aller Anſtrengung, mit aller Treue, mit al⸗ ler meiner Verehrung und Liebe für unſern Un⸗ ſterblichen zu erfüllen“. ... Mit aller Treue! mit aller Verehrung und Liebe für den Unſterblichen!

Eine kritiſche Reviſton des übrigen Theils der Bio⸗ graphie wird den Sachverſtändigen obliegen ). Sehr häue

) Auf den Anfang der Bekenntniſſe, die Kinder- und Kna⸗ benjahre enthaltend, habe ich keinen Anlaß mich einzulaſſen. Ein authentifcher Biograph A. Thaer's wird ſich die Aufgabe ftellen, die Elemente des Wahren, wenigſtens Traditionellen, über welche das Gewebe der Pſeudo⸗Confeſſton künſtlich gezogen iſt, fo ſehr als möglich herauszuſondern und zuſammenzuſtelen; er wird na⸗

u

fig bezieht ſich Körte auf die Pſeudo⸗Bekenntniſſe, wodurch das Ganze verderbt worden. Noch ganz zum Schluſſe ſchreibt Körte (S. 336.): „Thaer's religiöſe Anlagen ha⸗ ben wir aus ſeinen Selbſtbekenntniſſen kennen gelernt“; und faßt dieſe noch einmal zuſammen. Auch in der Bei⸗ lage II. zu Seite 77. wendet ſich Herr Körte (S. 359.) mit einer Anmerkung an „die aufmerkſamen Leſer der oben mitgetheilten Bekenntniſſe Thaer's.“ Wir hoffen, Bi wir ihm aufmerkſam genug gewefen find.

Ich kann jedoch nicht ſchließen, ohne noch einmal auf den von Herrn Körte S. 58 —61. eingeſchalteten vorgeblichen Brief Thaer's an Philippine, als Pen danten zu den Bekenntniſſen, hinzuweiſen. „Philippine, ſchreibt er, ſah ſich durch das, was er in ſeinem Lebenslauf von jeinem religiöſen Syſtem ihr bekannt hatte, weder be⸗ friedigt noch beruhigt; der kindlich frommen Jungfrau ſchien beſonders der Gedanke ſchrecklich: der Geliebte könne, we⸗ gen ſeines kirchlichen Unglaubens, den göttlichen Stra⸗ fen unterliegen müſſen. Sie benutzte daher jeden Brief, jedes vertraute Geſpräch dazu, ſeinen Glauben nach allen Beziehungen hin mit dem ihrigen, wie ſie ihn durch den Pfarrer überkommen, in Einklang zu bringen. Er ſchrieb ihr: Man findet das Uebrige auch bei Illgen S. 111— 113. Ich erkenne an dieſem Briefe den Stem⸗ pel der Bekenntniſſe; und wie die Tendenz der ganzen Wen⸗ dung leibhaftig an das Geſpräch zwiſchen Gretchen und Fauſt bis auf den Pfarrer erinnert:

Margarethe. Verſprich mir, Heinrich!

mentlich das Verhältniß zu Leiſewitz 0 und vollſtändig darſtellen.

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Fauſt. Was ich kann! Margarethe.

Nun ſag', wie haſt Du's mit der Religion?

Du biſt ein herzlich guter Mann,

Allein ich glaub', Du hältſt nicht viel davon.

Das iſt alles recht ſchön und gut;

Ungefähr ſagt das der Pfarrer auch,

Nur mit ein bischen andern Worten. ſo glaube ich in dem ganzen Raiſonnement über die ewi⸗ gen Strafen als Folge der Sünde Leſſing in dem uns wohlbekannten Aufſatze: Leibnitz von den ewi— gen Strafen, vollkommen, trotz der Verzerrung in ein⸗ zelnen Zügen, wieder zu erkennen; ja Leſſing iſt hier zum Theil wörtlich abgeſchrieben. Der Leſer urtheile nach dem Anfange, den ich herſetze: „Ich bin ſo feſt überzeugt, wie irgend einer ſein kann, daß Sünde gewiß und allemal beftraft werde; daß ihre Strafen, ohne eine ganz voll⸗ kommene Gemüthsänderung (von Körte unterſtrichen), die vielleicht nach dieſem Leben nicht weiter möglich iſt, ewig fortdauern werden; daß Gott ſelbſt dies nicht ändern kann, weil es in den ewigen un veränderlichen und nothwendigen Geſetzen der Dinge liegt.“

„Aber dieſe Strafen ſind unmittelbar Folge der Sünde ſelbſt; keine willkührlichen Strafen nach menſchlicher Art. Solche Strafen laſſen ſich mit den Begriffen, die uns Of— fenbarung ſowohl, als Vernunft vom höchſten Weſen ge⸗ ben, durchaus nicht reimen. Was in der Offenba— rung dahin gedeutet worden, iſt unverkenntliche Bilderſprache, die Gott nach den ſinnlichen Begrif— fen ſolcher Menſchen einrichtete, welche die hohe Wahrheit

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von der Seligkeit der Tugend und der Unſeligkeit des La⸗ ſters noch nicht fühlen konnten.“ Dies iſt eine Para⸗ phraſe der Stelle Leſſing's (ſ. oben S. 139.): „Vielmehr kann und darf man mit aller Sicherheit annehmen, daß die in der Schrift gedroheten Strafen keine andern ſind, als die natürlichen, welche auch ohne dieſe Androhung auf die Sünde folgen würden. Wenn aber eine höhere

Weisheit eine dergleichen außerordentliche Androhung noch

für nöthig gehalten: fo hat ſie für ebenſo zuträglich er⸗ kannt, ſich ganz nach unſern gegenwärtigen Empfindun⸗

gen davon auszudrücken.“ Alſo ein Seitenſtück zu den

andern Plagiaten an Leſſing, das wir Herrn Körte bes reits oben nachgewieſen haben. Den geheimen Bezug die⸗ ſes Plagiats zu dem Mährchen von Thaer's Erziehung des Menſchengeſchlechts zu durchſchauen, gehört ſchon kein zu großer Scharfſinn. Wir ſelbſt haben oben (S. 132.) auf die Verwandtſchaft dieſes Gedankens mit der Erzie⸗ hung des M.⸗G. hingewieſen; und der Bekenner muß zu⸗ letzt wider ſeinen Willen Zeugniß für die Wahrheit ablegen *).

Es iſt ein Unglück, daß verwegene Schriftſteller zu allen Zeiten auf die ſchwache Seite irgend einer Par⸗

tei oder eines Standes rechnen können, welchen die Fa⸗

brikate ihrer Feder in gewiſſen Beziehungen angenehm oder nützlich erſcheinen, und von welcher ſie daher in Schutz genommen werden. Einen ſolchen gutmüthigen Beſchützer

) Daß etwa das S. 57., bei Illgen S. 111, eingeſchaltete Bekenntniß: „Man hat immer geſagt, daß Liebe zur ‚Religion führe“ u. ſ. w. aus einem Briefe Thaer's herrühre, glaube wer da will.

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hat Hr. Körte in Hrn. Illgen gefunden, welcher, wie er ſich ausdrückt, „bei dem in den Bekenntniſſen enthaltenen Bil⸗ dungsgange A. Thaer's abſichtlich etwas länger verweilte, weil er nicht nur, ſchon an ſich betrachtet, in mehr als einer Hinſicht auch für den Theologen ſehr lehrreich ſei, ſondern auch einen neuen Beleg zu der Wahrheit gebe, daß Freigeiſterei und Deismus auf dem chriſtlichen Ge⸗ biete meiſtens auf einer verkehrten Jugenderziehung und auf einer mangelhaften Kenntniß des echten Chriſtenthums beruhen;“ im Hintergrunde liegt der erbauliche Gedanke: und zu Syſtemen führen, wie Leſſing's Erziehung des Menſchengeſchlechts; denn vorher ſagt er, der Umſtand, daß Leſſing's berühmte Schrift nur eine Ueberarbeitung une weitere Ausführung einer Abhandlung von Thaer ſei, „erhalte erſt aus Thaer's geiſtigem, namentlich religiöſem Bildungsgange ſein volles Licht.“ Während ſolche Täuſchungen beim erſten Auftauchen ihre Begünſtiger fin⸗ den, halten wohl Andere es unter der Würde der Wiſ— ſenſchaft, ſolchen Abgeſchmacktheiten, wie die hier beleuch⸗ tete Entdeckung, und Affectationen gelehrter Haarſpalte⸗ rei, entgegenzutreten, während die falſchen Entdecker ei⸗ nes Triumphs genießen, und im Stillen über die Gut⸗ müthigkeit des Publikums lachen. Aber „genug (um mit einem Worte Leſſing's über gewiſſe Entdeckungen, Wort⸗ verdrehungen und unerhörte Urkunden “) zu ſchließen), daß bei ihnen keine Verjährung Statt findet freilich, ſetzt Leſſing hinzu, wäre es beſſer, wenn man vor dem Pu⸗ blico ganz und gar keine Geckereien unternähme; denn gerade das Verächtlichſte iſt, daß ſich Niemand die Mühe

) Ernſt und Falk. X. 301.

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nimmt, ſich ihnen entgegenzuſtellen, wodurch ſie mit dem Laufe der Zeit das Anſehen einer ſehr ernſthaften, heili⸗ gen Sache gewinnen. Da heißt es dann über tauſend Jahre: würde man denn fo in die Welt haben ſchrei⸗ ben dürfen, wenn es nicht wahr geweſen wäre? Man hat dieſen glaubwürdigen Männern damals nicht widerſprochen, und Ihr wollt ihnen jetzt widerſprechen?“ 1

Gedruckt bei Julius Sittenfeld, Burg: Straße Nr. 25.

Berichtigungen.

Seite 56. Zeile 6. von unten ſtatt Chriſt, lies: Theiſt r 5 „unter die, lies: unter den 10. D dene, lies: denke 133. 6. von oben - Individuum, lies: Indi⸗

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