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Ludwig Uhland

Die Entwicklung des Lyrikers

und

die Genesis des Gedichtes

Von

Hans Haag

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STUTTGART UND BERLIN 1907 J. G. COTTA'SCHE BUCHHANDLUNG NACHFOLGER

/ /

Alle Rechte vorbehalten

Drnek der Union Danttcbe VcrlugigeaelUcbaft in Stuttgart

Herrn Professor Henri Lichtenberger

in Paris

in Dankbarkeit gewidmet

Vorwort

Der erste Abschnitt der vorliegenden Untersuchung will eine zusammenhängende Schilderung des inneren Entwicklungsganges des Lpikers geben. Es sollen die Perioden lyrischer Stimmung und Produktion nach Umfang, Intensität und Wesenheit hervor- gehoben werden. Das Hauptaugenmerk wird dabei gerichtet sein auf den Zusammenhang von Leben und Dichtung, während der Beziehungen Uhlands zur Literatur, die in zahlreichen Unter- suchungen allgemeiner und besonderer Art eine ausgiebige Er- örterung gefunden haben, hier hauptsächlich nur so Erwähnung getan wird, daß der literarische Dunstkreis, in dem sich der Dichter jeweils befand, als der Hintergrund gedacht ist, von dem sich die Darstellung abzuheben hat. Die episch-lyrischen Ge- dichte sind nur insoweit in Betracht gezogen, als dies für die Ab- schätzung der dichterischen Produktion überhaupt unerläßlich war. Einzelne mußten auch wegen des ihnen innewohnenden lyrischen Stimmungselementes gelegentlich Erwähnung finden.

Im zweiten Abschnitt soll untersucht werden, wie sich der dichterische Vorgang bei Uhland gestaltet, von den Produktions- bedingungen allgemeinster Art bis zur Werkstattarbeit im engsten Sinne des Worts.

Der Verfasser.

Inhalt

Seite Einleitung 1

Erster Teil Die EntTvieklnng des Lyrikers

1. Frühzeit (bis 1804). Irrungen und Wandlungen 4

2. Das Jahr 1805. Reifende Eigenart 14

Fruchtbarkeit und vielfältiges Streben 14. Wehmutsstimmung und Todesgedanken 17. Übrige Gegenstände der Lyrik 19. ^Zustandslieder" 20. Deren Bedeutung für Uhlands dich- terische Eigenart 22.

3. 1806 bis Anfang 1810 23

Stocken der Produktion, Krisis; Abwendung von der Senti- mentalität, neue Pläne 23. Erste nähere Berührung mit der Romantik (Sonntagsblatt-Kreis) 25. Ein poetisches Glaubens- bekenntnis (der Aufsatz über das Romantische) 26. Bedeutung der Romantik und des Sonntagsblatt-Kreises im besonderen für Uhlands Entwicklung 28. Inniges Verhältnis zu Kunst und Natur (Goethe) 33. Liebeslyrik 35. Deren Zusammen- hang mit dem Leben; das Problem der toten Geliebten 36. Innere Zustände 1808 und 1809, Schwanken der Produktion, Zweifel 41.

4. Mitte 1810 bis Ende 1812. Stärkste Intensität des lyrischen Dranges 42

Negatives Ergebnis des Pariser Aufenthalts für die Lyrik 42. Schaffensdisposition nach der Heimkehr, Klagen 43. Reiche Entfaltung der lyrischen Produktion und Schaffensglück 44. Erneute Zweifel 46. Deren Begründung; Lyrik, Erlebnis und Charakter 47. Gemüt, Religiosität 51. Dichter und Heimat 52.

5. 1813 bis 1817. Die Ära der politischen Lyrik 55

Die Übersiedelung nach Stuttgart und deren Folgen 55. Ein- wirkung der Zeitereignisse 56. Des Dichters Stellung zu den- selben 1813 und 1814; 57. Eine neue Stilgattung 58. Zu-

YIII

Seite

sammengehörigkeit der politischen und der , vaterländischen" Lyrik 60. "Wie ühland die Wendung zur politischen Lyrik vollzog 61. Folgen derselben für ühlands übrige Lyrik ; Ge- sellige und Gelegenheitsgedichte 62. Stellung zur Romantik 65. Poetische Bilanz der Lyrik dieser Periode 67.

6. Nach 1817. Spätzeit. Versiegen der lyrischen Produktion . 68 Entstehung der Liebe zu Emilie Vischer und ihre Bedeutung für Uhlands Lyrik 68. Spärlichkeit der lyrischen Produktion 71, Vorwiegen der Gelegenheitsdichtung und deren Ab- stufung 72. Stellung ühlands zu seinem Schicksal 74. Kurzer Nachsommer der Lyrik 75. Bedeutung desselben innerhalb der Uhlandschen Lyrik überhaupt 76. Resignation 78. Gründe des frühen Versiegens der dichterischen Kraft 79.

Zweiter Teil Die Genesis des Gedichtes

1. Produktionsbedingungen 82

a) Die Art der dichterischen Produktion und die Produktions- bedingungen bei ühland im allgemeinen 82

Das Erlebnis 83. Ruhe und Sammlung 84. Jahres- und Tageszeit 84.

b) Besondere produktionsfördemde Faktoren 86

Berührung mit der Natur (Spaziergänge) 86. Akustische Eindrücke (Geräusch, Klang, Ton, Musik) 87. Träume 88. Lektüre 89. Aufforderung 90.

c) Kombination dieser Faktoren in konkreten Fällen ... 91

5. Verfahren 93

a) Gestaltung der Eindrücke 93

Wiedergabe 94. Steigerung 95. Umdeutung 97. Viel- fältige Verwendung eines Eindrucks 98. Mangelhafte Poetisierung 99. Unerklärliche Entstehung des dichte- rischen Dranges 99.

b) Gentaltung des Gedichtes 99

Andere Bedingungen als bei der Konzeption 100. Öko- nomie 101.

c) Die Werkstattarbeit im engsten Sinn 102

a) Änderungen nach inhaltlichen Gesichtspunkten 108. ß) Änderungen nach formellen Gesichtspunkten 107. Y) Eingreifende Änderungen 111.

oa) Umstellung, Einfügung, Streichung von Stro- phen 111. ßß) Völlige Umgestaltung des Gedichtes 118. •Schluß 117

Einleitung

Das Bild, das man von Uhlands dichterischer Persönlichkeit auf Grund der von ihm selbst veranstalteten Sammlung der Gedichte gewinnt, stellt sich von Anfang an als ein so in sich geschlossenes und von seiner Umgebung streng abgegrenztes dar, daß es den Anschein hat, als habe es sich rein aus eigenen Ge- setzen von innen heraus gestaltet. Der Literaturgeschichte, welche ühland in den Zusammenhang der literarischen Erscheinungen seiner Zeit einzugliedern hat, erwächst daher eine schwierige Aufgabe Doch steht sie meist nicht an, Uhland ohne weiteres dem bunten Zuge der Romantiker folgen zu lassen, in welchem sich freilich der ernst und bedächtig einherschreitende Meister eigenartig ausnimmt. Hat doch das Ganze seiner Persönlichkeit, wenn man nicht einzelne Triebe seines Dichtens im Auge hat, mit der Gesamterscheinung der Romantik scheinbar so wenig ge- meinsam, daß eine solche Zusammenstellung fast paradox an- mutet. D. F. Strauß hat für dieses in den Tatsachen begründete Paradoxon ein oft wiederholtes, geistreiches Wort geprägt, indem er Uhland als den „Klassiker der Romantik" bezeichnete, und diese schillernde Bemerkung ist vielleicht das Treffendste, was sich über Uhlands Zusammenhang mit der Literaturgeschichte sagen läßt. Mag Uhland in engste Fühlung mit den Romantikern getreten sein, mag er selbst eine „romantische Periode" gehabt haben, ja noch mehr: mag er sich selbst als Romantiker gefühlt haben es bleibt in seiner dichterischen Persönlichkeit doch immer ein bedeutender Rest, der in der Romantik nicht aufgeht.

Diese besondere Stellung, die Uhland in der Literaturgeschichte einnimmt, ist in seinem innersten Wesen begründet. Die Zeit, in der Uhland zum Dichter reifte, war von literarischen Anregungen derart gesättigt, daß es schwer schien, sich nicht wenigstens zeitweise einer derselben voll hinzugeben: Klopstock, Herder,

Haag, Uhland 1

2

Sturm und Drang, Goethe, Schiller, die Romantik lauter Er- scheinungen, denen faszinierende Kräfte innewohnten, wohl ge- eignet, einen aufstrebenden, suchenden Dichter zu Widerspruch und leidenschaftlicher Parteinahme hinzureißen. Und doch findet man wenig davon bei Uhland. In seinen ersten Jugend- jahren zwar neigte er sich bald diesen, bald jenen Vorbildern zu, deren Spuren eine eingehende Untersuchung wohl zu verfolgen vermag^), imd auch später noch finden sich in seinen Werken Fäden, die ihn mit anderen Dichtern verknüpfen. Aber die Jugend- vorbilder waren von ephemerer Bedeutung und die späteren Be- ziehungen zu einzelnen Dichtem, selbst diejenige zu Goethe, die nach seinem eigenen Geständnis die engste war, haben auf sein Schaffen nicht in der Weise einen bestimmenden Einfluß geübt, daß man sich ohne sie das Bild von Uhlands dichterischem Ent- wicklungsgang in wesentüchen Stücken verändert vorzustellen hätte. Wichtiger sind die Anregungen, die Uhland von ganzen Gattungen, wie vom mittelalterlichen Heldenepos, vom Minne- sang und Volkshed empfangen hat. In allen seinen Uterarischen Beziehungen aber kennzeichnet Uhland ein besonderes Ver- halten. Seine Natur war, nach den Schwankungen der ersten Jugendzeit, darin konsequent, daß sie, bei aller fein nachfühlenden Sensibilität, die sie auszeichnete, nur annahm, was ihr homogen war, alles andere einfach ablehnte; es gab Gebiete und Erschei- nungen, zu denen Uhland, da seine Natur sie als schlechthin fremd empfand, keinerlei Stellimg nahm, auch nicht feindUch oder kritisch tadelnd. Sie mochten wohl auch ihre Existenzberech- tigung haben, aber sie berührten ihn nicht und er sah keine Veranlassung, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. So kommt es, daß man in den Äußerungen Uhlands, die uns überkommen sind, vergebens nach einer kräftigen Verurteilung irgendwelcher ihm von Grund aus fremder poetischer Produkte sucht und daß aach Auslassungen lobender Art über zeitgenössische Dichter oder über solche der Vergangenheit bei Uhland selten sind').

') J>ie meisten positiven Ergebnisse im einzelnen bietet Harry Mayno (Uhlands Jugenddiohtung, Berlin, Diss. 1899), der die verschiedenen Einflüsse " auch noch in spätere Zeit hinein verfolgt.

') Vgl. Netter, Ludwig Uhland, sein Leben und seine Dichtungen, 1863 (Netter). K. 367.

Waren sie ihm wesensfeind, so bewirkte seine fast allzu passive Toleranz, daß er sich nicht kritisch mit ihnen auseinandersetzte. Waren sie ihm wesensfreund, so nahm er, was verwandte Saiten bei ihm in Schwingung versetzte, stillschweigend so in sich auf, daß es sich mit seinem Eigenen ganz verschmolz.

Dieses wichtige prinzipielle Verhalten Uhlands fremden Ein- flüssen gegenüber weist darauf hin, daß für das Verständnis des Lyrikers von der Bewertung der in dem Subjekt des Dichters selbst liegenden Faktoren und von der Untersuchung ihres Zusammenwirkens mit den wechselnden, im Lebensgang begründeten Bedingungen (worin der Schwerpunkt dieser Ab- handlung liegt) sich Ergebnisse erwarten lassen, welche die vielfach unternommene^) Herstellung der literarischen Zu- sammenhänge zu ergänzen geeignet sind. Man hat gezweifelt, ob es überhaupt möglich sei, dem Persönlichen und Erlebten in Uhlands Dichtungen auf die Spur zu kommen'). Allein diese Möglichkeit kurzweg leugnen, hieße sich den Hauptweg zum Verständnis eines großen Teils der Dichtungen Uhlands ver- schließen. Die Schwierigkeit eines solchen Versuches bei einem Lyriker, der im allgemeinen so wenig aus sich heraustrat und frühzeitig zur Objektivität des epischen Gedichtes hinneigte, soll nicht in Abrede gestellt werden, aber gerade sie mag zu einem Unternehmen herausfordern, das umso verlockender erscheint, als Uhland sich nicht jederzeit so verschlossen zeigte wie in späteren Jahren. Kennen wir doch auch den nach eigenem Zeug- nis^) in jugendlichen Ergüssen sich ergehenden Lyriker, der uns tief in seine Brust blicken läßt. Immer mehr wird freiUch später der Blick in sein Inneres verengt, immer mehr verstummen dann auch die lyrischen Töne, und gerade das soll unsere Aufgabe sein, den Wurzeln des lyrischen Dranges und den Bedingungen seines Wirkens auf den verschiedenen Lebensstufen so weit wie möghch nachzudringen.

^) Am umfassendsten von Herrn. Fischer, Ludwig Uhland. Eine Studie zu seiner Säkularfeier. 1887.

^) Herrn. Grimm, Deutsche Rundschau LI (1887), S. 63.

^) Ludwig Uhlands Leben von seiner Witwe, 1874 (Leben), S. 34.

I Die Entwicklung des Lyrikers

1. Frühzeit (bis 1804)

Jüie ersten Gedichte, die Uliland veröffentlicht hat, stammen aus dem Jahr 1805^). Daraus geht hervor, daß Uhland die Jahre 1800 bis 1804, in denen er sich zum Teil schon lebhaft dichterisch betätigt hat, als Lehrjahre auffaßte, deren Früchte auf allge- meines und bleibendes Interesse nach seiner Ansicht keinen An- spruch machen konnten. Man hat heute keinen Grund, Uhlands eigener Abgrenzung dieser Jugendperiode entgegenzutreten; denn in der Tat findet sich unter den in jenen vier bis fünf Jahren entstandenen Gedichten^) keines, das ganz den Stempel seiner Persönlichkeit trägt und dabei zugleich den von ihm selbst später an die Form gestellten Ansprüchen genügt, während anderseits manches Gedicht des Achtzehnjährigen neben dem Reifsten, was Uhland geschaffen hat, wohl bestehen kann. Eine so frühe Meisterschaft setzt, wie hoch man auch das dem Dichter verliehene Maß natürlicher Begabung veranschlagen mag, eine sich über Jahre erstreckende Übung voraus. Man darf bei Uhland, wenn auch seine Gedichte im Vergleich mit denjenigen der meisten Dichter eine auffallende Gleichmäßigkeit, jene „Staete" zeigen, die auch den Grundzug seines ('harakters bildet, doch den Ge- sichtspunkt der Entwicklung nicht vernachlässigen. Nur daß

') „Der blinde König" und „Die sterbenden Helden", beide vom Jahr 1804, sind erst in der Umarbeitung von 1814 erschienen.

') Sämtliche Gedichte Uhlands liegen in der größten erreichbaren Vollständigkeit und Ordnung vor in der von £. Schmidt und J. Hart- mMin b«forgten vollständigen, kritischen Ausgabe in 2 Bänden, 1898 (Gedichte).

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sich diese letztere mehr in ruhigem Fluß vollzieht als in heftigen Krisen und Umwälzungen. So finden sich schon im Verlauf der ersten Jugendperiode Züge, die Uhlands spätere, eigene Art im Keim erkennen lassen und, wenn sie auch besonders im Anfang von einer großen Anzahl nach Form und Inhalt konventioneller Ge- dichte überwuchert sind, von Jahr zu Jahr zu größerer Entfaltung gelangen. Nur diesen lebensfähigen Elementen von Uhlands Dichtung soll im folgenden eingehendere Betrachtung geschenkt werden.

Die wenigen kindlichen Versuche des Jahres 1800, sowie die durch die mittelbare oder unmittelbare Veranlassung des Schul- unterrichts entstandenen antikisierenden Gedichte des folgen- den Jahres sind von keinem Belang. Im übrigen steht dieses letztere sichtlich im Zeichen des Religionsunterrichts und der Vorbereitung zur Konfirmation. Breite Beschreibung, didaktische Betrachtung und paränetische Reflexion, die ganz mit den her- kömmlichen Mitteln kirchlicher oder rehgiöser Dichtung arbeitet Klopstock hinterläßt eine breite Spur und deren ganzer Apparat von Rhetorik und Allegorie, von schwülstigen Metaphern, stark aufgetragenen und aufgeregten Bildern und drastischen Ausdrücken^) reichlichen Gebrauch macht. Dabei war der Vier- zehnjährige von seinem Gegenstand jedenfalls tief durchdrungen; auch da, wo er das Ende des Sünders mit den Worten beschreibt :

Und in der Tiefe wüst und graus Schnaubt er zerquetscht die Seele aus

meint er es völlig ernst. Doch bleibt die religiöse Lyrik auf dieses Jahr beschränkt, und wenn sich auch Spuren eines tief religiösen Gemütes in seinen Gedichten später, und gerade in der letzten Periode seines Dichtens häufiger, finden, so hat er doch die dich- terische Behandlung religiöser Stoffe von nun an mit Bewußtsein*) unterlassen.

Neben diesen zahlreichen Gedichten reUgiösen oder morali- sierenden Inhalts stehen einige wenige, in denen sich der junge Dichter die Natur zum Gegenstande genommen hat. Auch sie

^) Vgl. Maync, a. a. 0. S. 16 ff.

) Vgl. Herrn. Fischer in der Zeitschrift für vergleichende Literatur- geschichte I (1887), S. 379.

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bewegen sich in breiter, umständlicher Schilderung, die mehr auf den klassischen Vorbildern der Schullektüre als auf selbständiger Verarbeitung der Natureindrücke zu beruhen scheint. Und doch, sieht man näher zu, so überrascht gerade in dem frühesten dieser Versuche, in dem „Zufriedenheit" überschriebenen Gedicht vom Januar 1801, ein Zug, der, kurz aufleuchtend, auf ein Lieblings- motiv von Uhlands späterer, reifer Naturljn-ik hindeutet : die Ver- einigung eines stimmungsvollen Naturbildes mit religiöser An- dacht. Von hier aus führen Fäden z. B. zu „Des Dichters Abend- gang", „Frühlingsfeier", besonders aber „Schäfers Sonntagslied" ^). Dazu kommt noch der für Uhlands Art so bezeichnende Zug, daß der Dichter jene andächtige Stimmung in einer in die Land- schaft passend eingefügten Gestalt zusammenfaßt und so die IjTische Stimmung objektiviert. Mag auch das künstlerische Ver- fahren in diesem Jugendgedicht noch so primitiv und dem Dichter selbst gewiß nicht zum Bewußtsein gekommen sein (waren ihm diese Eingangsstrophen doch sichtlich Nebensache im Vergleich mit dem moralisierenden Hauptteil des Gedichts) dem Eindruck, daß hier ein bedeutsamer Hinweis auf Uhlands spätere Art vor- liegt, wird man sich nicht entziehen können.

Das erste Gedicht Uhlands, das rein Persönliches ausspricht, sind die übrigens unbedeutenden zwei Strophen, die er im Dezem- ber desselben Jahres „In das Stammbuch einer Freundin" ge- schrieben. Es bildet den Übergang zu einer neuen Entwicklungs- stufe des Dichters, die sich schon im Jahre 1802 deutlich ausprägt. Wenn sich in diesem auch noch Nachklänge der moralisierenden, allegorißierenden Art des Vorjahrs finden, so gewährt es im ganzen doch ein völlig verändertes Bild dadurch, daß nunmehr das dichterische Subjekt in den Vordergrund tritt'). Freilich nimmt diese erste Betätigung der Subjektivität alsbald eine bedenk- liche Wendung. Das zeigt sich schon in dem ersten Gedicht

^) Ein Qedioht, das auch £. Nägele hier beigezogen: Beiträge zu Uhland, TQb. Progr. 1893. S. 30.

') Nur in diesem Sinne sehe ich mit Nägele (S. 36 f.) schon im Jahr 1803 einen Fortschritt, der aber, wie sich zeigen wird, nach einer anderen Seite stark einzuschränken ist. Wehmut und Liobo sind nicht, wie Nägele anzunehmen scheint, gleichzeitig in des Jünglings Seele eingezogen.

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des Jahres, das „Im Tannenhain" betitelt ist und in den Versen :

Unter der Tannen ümschattung, im Heiligtume der Schwer- mut, Sitz' ich verschlungenen Arms, über bemoostem Gestein,

treffend den Grundakkord der nächsten Jahre anschlägt. Dieses Gedicht bezeichnet den Anfang der „mystisch - sentimentalen Wehmutschwelgerei", die Gotthold Schmidt^) wohl mit Recht bis in das Jahr 1806 herab verfolgen zu können glaubt, wenn sie auch im Verlauf dieser Jahre, wie wir sehen werden, starken Modifikationen unterworfen war. Die Tatsache, daß diese Grund- stimmung Uhlands Dichtergemüt so lange Zeit beherrschte, legt von vornherein die Vermutung nahe, daß in der sonst so kräftigen Persönlichkeit Uhlands doch eine Strömung vorhanden gewesen sein muß, die sentimentalen Anwandlungen Vorschub leistete. Zunächst freilich, in den Jahren 1802 und 1803, ninmit diese Stimmung einen so unnatürlichen Ausdruck an und tritt gleich anfangs in einem so krankhaft gesteigerten Maße auf, daß man die Einwirkung der Dichter Hölty, Matthisson und Salis nicht leicht zu hoch anschlagen kann. So selbständig sich Uhland, von seinem ersten Auftreten in der Öffentlichkeit an, fremden Einflüssen gegenüber gezeigt hat, so völlig begibt sich der jugendliche Dichter seiner Eigenart in den Jahren 1802 und 1803. Nie ist er dem Leitstern seiner Dichtung so ferne gestanden, wie in dieser Zeit, in der er „horchend dem Stöhnen des Winds in mondbeglänzten Ruinen" auf Gräbern wandelte und (in dem Gedicht „An einen Freund") sich die Wehmut zur Freundin erwählt und ihre Losung: „fühle weich und weine!" zu der seinen macht.

Es ist kein Zufall, daß er gerade in dieser Zeit größter Un- selbständigkeit auch einem Dichter bedeutende Konzessionen machte, zu dem er, wenigstens in seiner Jugend , kein näheres Verhältnis zu gewinnen vermochte: Schiller^). Am unverkenn-

^) Gotthold Schmidt, Uhlands Poetik. Tüb. Diss. 1906, S. 7. ) In späteren Jahren scheint er Schiller eher gerecht geworden zu sein, wie aus einem Brief Karl Mayers an Uhland vom 22. September 1835 (Karl Mayer, Ludwig Uhland, 1867 [Mayer] II, S. 153) hervorgeht: „Vielleicht könntest Du die Bemerkung, die Du mir neulich machtest, daß Dich Schillers Gedichte jetzt, im späteren Alter, mehr als früher

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barsten ist dessen Einfluß in den Gedichten „Der Dichter" und „Dithyrambe", sowohl hinsichtlich der Strophenform ^) als auch in der überschwengUchen, dem Anschauungskreis der Antike entsprechenden Diktion : wie befremdend klingen bei Uhland Namen wie Phöbus, Helikon, Orkus, Aurora, Philomele, Elysium ! Ja selbst die Elegidien des Jahrs 1803, die noch am ehesten Per- sönHches aussprechen, zeigen noch starke schillerische Anklänge, wie aus dem Distichon zu ersehen ist:

Leiht auch das Auge mir blos der Schönheit größeren Umriß, Schöner füllet der Geist und idealisch ihn aus^).

Dieselbe Unwahrheit in Ausdruck und Empfindung läßt auch den Versuch scheitern, eine Naturstimmung festzuhalten: das Gedicht „Novembergedanken", in welchem der Dichter sich nach der Jahreszeit zurücksehnt, die „einst der Freude göttlichen Pokal uns bot", mutet uns so fremd an, wie kaum ein anderes Erzeugnis von Uhlands Naturljrik. Und ebensowenig will ihm noch die Ballade geüngen, in der er sich deutlich an ein weiteres Vorbild, an Bürger, anschließt^).

Aber lange konnte dieser Zustand der Abhängigkeit bei einer Natur wie der Uhlandschen nicht dauern. In der Tat sehen wir im Jahr 1804 eine Reaktion sich anbahnen, die ihn, freilich nach mancherlei Rückfällen und Irrwegen, in kurzer Zeit seiner wahren Eigenart zuführte. Gleich das erste Gedicht des Jahres „An F. H." („Einsam wandert' ich") nimmt in der Entwicklung des jungen Lyrikers eine hervorragende Stellung ein. Nach Form und

ansprechen, zu ein paar anerkennenden Versen benützen." Übrigens TFar zweierlei: das rhetorische und das philosophische Element in Schillers Dichtung, Uhlands Wesen gleich fremd, und es ist eine Frage, ob er, ■elbst später, sich mit beidem befreundet hat. Näheres über den Zu» •ammenhang mit Schiller siehe Maync S. 24 f!.

^) Die Strophe des ersteren Gedichtes ist, von einer kleinen Ab- weichung im letzten Vers abgesehen, identisch mit derjenigen der „Götter Griechenlands".

') Wie Düntzer (Erläuterungen zu den deutschen Klassikern, 7. Abt. 1890, S. 6) gerade in diesem Vers der Elegidien den Einfluß Ton Goethea Römischen Elegien erkennen kann, ist unverständlich. Dagegen kann man in den Worten: „Andre schwelgen im Schaun" eine Anspielung auf Goethe finden.

') Nigela S. 34

Inhalt ist es, wenn auch noch jugendlich unreif, das erste lyrische Gedicht Uhlands, in dem er sich ungezwungen gibt^). Nichts mehr von der ihm wesensfremden Reflexionspoesie früherer Jahre mit ihrer schwulstigen, metaphernreichen Diktion, nichts mehr von dem ihm nicht minder unnatürlichen, auf künstlicher Steigerung des Gefühls beruhenden Wehmutstaumel es ist, als ob sich ihm der Nebel, mit dem ihm „die Götter frühe das Auge um- florten"^), wenigstens vorübergehend plötzlich gelichtet hätte. Rein an persönlich Erlebtes und Selbstgefühltes anknüpfend er- wächst ihm das Gedicht. „Ein einsamer Spaziergang" im Mai bringt ihm die Bilder eines mit dem Freunde unternommenen Ausflugs mit schlichten Frühlingssensationen zurück, und daraus ergibt sich ihm der Matthisson- Jünger fällt glücklich aus der Rolle der Gedanke der Notwendigkeit, sich der Jugend zu freuen, solange es Zeit ist : das uralte Thema aller Frühlingslyrik. Die gute Natur des Dichters hilft sich hier selbst. Die durch Lektüre und auch durch jugendliche Schwärmerei genährte Schwer- mut hatte einen ungesunden Grad erreicht. Sie forderte ein Gegen- gewicht, und dieses bot sich in der dem jugendlichen Alter nicht minder als die Sentimentalität eignenden Lebenslust. Zugleich wird dieses Gedicht, das entschieden unter einem günstigen Stern geboren wurde, zum Gefäß einer tiefen Wahrheit für den Dichter. Es enthält in seinem Schluß eine Prophezeiung, die auch schon Frau Uhland aufgefallen ist") und die sich dem Dichter später buchstäblich erfüllen sollte:

Will der Mann noch mit der Muse ringen: Wird's ein ernstes, dämmeriges Lied; Will der Greis die goldnen Saiten rühren: Wird's ein Denkspruch, seinen Stein zu zieren.

Freilich sollte das Losringen von der düster -sentimentalen Gefühlsschwelgerei sich nicht so schnell vollziehen. Namentlich bildete Ossian eine Gefahr, dessen Gesänge, soweit sie nicht schon bisher wirksam gewesen waren, in dem ohnehin erweichten

) Auch der antithetische Parallelismus einzelner Verse, wie er zwischen Vers 27 f. und Vers 29 f. besteht, entspricht ganz Uhlands späterer Technik.

2) Elegidien I, Vers 1. Gedichte II, S. 258.

^) Siehe Leben S. 252.

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Gemüt des Dichters und in seiner durch die jetzt hinzutretende, noch unklare Kenntnis der Heldensage und -dichtung bereicherten Phantasiewelt einen doppelt empfänglichen Boden fanden. So entsteht die abstoßende Verquickung weinerlicher Stimmung mit den verblaßten Bildern eines entschwundenen nordischen Elraftheldentums, wie sie im „Mailied" und in der „Zauberin" zum Ausdruck kommt, von welchen Gedichten das erstere gerade- zu mit einer Anrufung Ossians schließt. In einer nicht minder unnatürlichen Weise werden in der kurz vorher entstandenen Elegie erotische Gedanken mit Todesgedanken verknüpft. Doch schlägt gerade dieses Gedicht in seiner Schlußzeile die zwei Themen an, die wenigstens aus der ganz plan- und haltlosen Schwelgerei in dem Todesgedanken allmähUch herausführen und in der nächstfolgenden Zeit im Vordergrund stehen: „Schöner Vergangenheit Traum, Ahnung des schönern Vereins". Das letztere wird Uhland ein beliebtes Balladenmotiv : die Vereinigung der Liebenden im Tode^). Das erstere wird ein neuer Ton seiner Empfindungslyrik : die Erinnerung, der in diesem Jahr ein eigenes Lied geweiht wird, wie im Vorjahr der Wehmut. Der junge Dichter hat nun schon des innerlich Erlebten genug hinter sich, um es in seiner Einbildungskraft „mit der Verklärung Kleid um- flossen" erscheinen zu lassen. Wenn sich dieses angenehme Dämmerlicht^) der Bilder der Erinnerung einerseits vortrefflich in die allgemeine Wehmutstimmimg der vorangegangenen Zeit fügt, so ist es doch anderseits geeignet, aus der reinen Schatten- welt der „Ahndung" und des „Traumes" den Dichter hinüber- zuführen in die lichteren Regionen der Seele, und hierzu wirkt als fördernder Hebel ein Konflikt mit, der sich in dem Dichter inzwischen vorbereitet und aus dem Zusammenstoß seiner er- träumten Tränen weit mit der Wirklichkeit sich ergeben hat. Wir lernen ihn aus dem interessanten „Fragment" vom 28. Juni')

*) Vgl, Düntzer 8. 6.

') Und in deiner Mondbelouchtung gatten

Wehmutd&mmorad Helle sich und Schatten.

(„Die Erinnerung", Vers 17 f.)

') Warum Erioh Schmidt in dem „chronologischen Verzeichnis"

•einer Ausgabe das Gedicht endgültig auf den 8. Juni datiert, ist nicht

ersichtlich , da in der Anmerkung 8. 333 die freiere erste Fassung (H ')

von Vers 1—23 als „Auf dem Spitzberg, den 28. Juni 1804" entstanden

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1804 kennen. Dieses Gedicht gehört mit den kurz vorher, im Mai, an Harpprecht gerichteten Strophen und mit dem folgenden „Die Berge" zu den ganz wenigen Produkten der Frühzeit, in denen der Dichter rein persönliche, äußere oder innere, Erlebnisse und Empfindungen ausspricht und uns einen Einblick in sein Inneres gewährt. Besonders in diesem Fragment gibt sich Uhland weit aufrichtiger und einfacher, als in der übrigen, der Wehmut geweihten Dichtung. Er setzt diese, wie auch die Todesgedanken und die Heldenwelt, für den Augenblick beiseite und gibt sich Rechenschaft über sein Leben. Schon die Objek- tivität, mit der er dies tut, und der gründliche Ernst, der auch vor den nüchternsten Erwägungen und Konsequenzen nicht zu- rückscheut, lassen den wahren Uhland erkennen, den Mann, der unter allen Umständen die Forderungen des Lebens zu erfüllen gesonnen ist, müßte es selbst unter Verzicht auf sein bestes Gut, die Dichtung, geschehen.

Der Gedankengang des „Fragments" ist der folgende: Zuerst beschreibt der Jüngling seinen bisherigen Seelenzustand, das Schwelgen in einer dem Licht der Wirklichkeit entrückten idealen Fabelwelt. Dann aber tritt eine Macht in sein Dasein ein, die einerseits „des Himmels Sphären" entstammt und auch wieder zu ihnen zurückkehrt, anderseits aber doch „auf Erden weilt": sie lockt den Jüngling aus dem höheren Leben im Ideal herab und „vertraut" ihn der Wirklichkeit. Wir belauschen also hier den Dichter in dem Zeitpunkt, wo er zum erstenmal sich mit der Liebe abfindet und sich ihr zwiespältiges Wesen, das sinnliche und das ideale Element in ihr zum Bewußtsein bringt. Nicht ohne Bedauern nimmt er von dem rein idealen Schwärmen der ersten Jugendzeit Abschied und setzt mit einer gewissen Resig- nation seinen Fuß auf den Boden der Wirklichkeit, wie der Pilger

dieses ansprechenden Bildes bedient er sich des Abends von den Höhen in das wirtliche Dörflein niedersteigt. Doppelt schmerzlich ist ihm dieses Niedersteigen: nicht nur, weil er damit dem materiellen Naturtrieb seinen Tribut zahlt, sondern auch

wie zielbewußt faßt Uhland gleich diese realen Konsequenzen ms Auge! weil es zugleich ein Herabsteigen von den Höhen

gedacht ist, H' aber im Datum eine undeuthche oder irrtümliche, von E. Schmidt selbst in Zweifel gezogene Ziffer bietet.

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der Dichtung bedeutet, die hinfort hinter den notwendigen Pflichten des täglichen Lebens in Familie und Öffentlichkeit zurückzutreten hat. Noch einmal, wie in dem Gedicht „An F. H." gibt hier Uhland einen prophetischen Hinweis auf sein späteres Dichterschicksal: in der Tat ist ja die Zeit der großen Neigung, die für sein Leben entscheidend wurde, der Anfang seiner poetischen Unfruchtbarkeit geworden^).

Man mag sich, angesichts dieser weitblickenden Reflexionen, wohl mit Recht fragen, ob nicht irgend ein persönliches Erlebnis den Anstoß dazu gegeben habe, daß der siebzehnjährige Wehmut- sänger sich auf einmal gedrungen sah, in so ernster Weise über das Wesen der Liebe und ihre Bedeutung für das Leben nachzu- denken, und es muß sehr bezweifelt werden, ob ein bloß erträumtes Liebesgefühl vermögend gewesen wäre, gerade ein solches Gedicht hervorzurufen. Nun gewähren allerdings die Biographien keinerlei Anhaltspunkte für eine solche Vermutung und bieten sie auch für die späteren Jahre nur in sehr spärlichem Maße. Das erklärt sich aus der keuschen, spröden und unbeholfenen Art, die Uhlands Beziehungen zum weibHchen Geschlecht zeitlebens gekennzeichnet und eingeschränkt hat. Auf „Abenteuer", auch bescheidener Art, wird man sich bei Uhland von vornherein nicht gefaßt machen dürfen. Daß er aber, so gut wie ein anderer, die Erfahrung der ersten Liebe schon in jungen Jahren durchgemacht hat, dafür bedarf es keiner weiteren Belege als derjenigen, die in seinen lyrischen Gedichten selbst zu finden sind. Geht man dem erotischen Element in den Gedichten der Frühzeit nach, so wird man es zuerst in den Elegidien vom Spätjahr 1803 gewahr; doch ist die Form, in der es sich hier äußert, derart, daß man sich nicht berechtigt sieht, schon hier ein zu Grunde liegendes Erlebnis anzunehmen. Anders verhält es sich schon mit dem nächsten Fall, der zweiten Strophe des Gedichts an F. H. vom 5. April des nächsten Jahres. Das Bild des „Mädchens mit dem Halmen- hute" und dem Körbchen in der Hand, das dem Rudernden gegen- übersitzt und ihn mit dem Blick ihres „blauen Auges" zur Ent- faltung seiner jungen Kraft anspornt, ist so anziehend, so präzis und anschaulich skizziert, daß es, vollends wenn man bedenkt,

') Hiehe 2. AlMohnitt

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daß der Dichter sich bisher nur mit der prätentiösen Darstellung aufgebauschter Gemütszustände und phantastischer Begeben- heiten und Situationen abgegeben hatte, unbedingt den Eindruck der Naturwahrheit machen muß. Die überspannte „Elegie" fällt wieder aus der Reihe, Dagegen setzt dann gleich im Juni die kräftig-ernste Note des besprochenen Fragmentes ein, das trotz seiner allgemeinen Haltung schwer ins Gewicht fällt. Das bald darauf, im Juli oder August, entstandene Gedicht „Die Berge" scheint dann wieder an eine bestimmte Begebenheit anzuknüpfen, etwa einen Ausflug, den er in Gemeinschaft mit anderen mit dem Mädchen machte, das ihm damals im Sinne lag. Man erkennt die Szenerie der Tübingen vorgelagerten Alb mit ihren Felsen- wäldern und dem Schloß auf der Felsenspitze, worunter der Hohen-Neuffen, Hohen-Urach oder der Lichtenstein verstanden sein mag^). Wieder ist die Situation, trotz der etwas schwülstigen Diktion, wahr empfunden und anschaulich wiedergegeben. Der Dichter steht neben der Geliebten auf dem hohen Bergesgipfel; doch sieht er nur „ihr blaues Auge" ; sie aber lenkt erklärend seinen Blick auf die weite Landschaft, die nun erst, da er mit ihrem Aug' sie sieht, ihm freundlich und belebt erscheint. Endlich muß in dem Zusammenhang dieser Gedichte auch das Gedicht „Abschied" (Helwin und Helwine) vom 1. September angeführt werden, das, zwischen Ballade und lyrischem Gedicht in der Mitte stehend, dem rein erotischen Inhalt, der Situation und der dialogischen Form nach eine auffallende Ähnlichkeit mit der Gattung des mittelalterlichen Taglieds zeigt ^).

^) Schon Nägele (a. a. O. S. 39) hat die Beziehungen zur heimatlichen Natur hervorgehoben, die sich innerhalb der Jugendlyxik nur in diesem Gedicht finden. Doch wissen wir von dem „Fragment", daß es auf dem Spiizberg, von dem „HerbstHed", daß es auf dem Weg von Stuttgart nach Tübingen konzipiert ist.

*) Vgl. Uhland, Minnesang, Schriften V, 176: . . . es ergeht ein Abschied, süß und schmerzlich zugleich. " Ob Uhland sich so frühe schon bewußt an diese Gattung angelehnt hat, muß dahingestellt sein. (Tiecks Minneliedersammlung war 1803 erschienen.) Sicher ist dies bei einem geraume Zeit später (1815) entstandenen Gedicht: „Fräuleins Wache". In dem Exemplar der Tübinger Universitätsbibliothek von K. Goedekes „Deutschlands Dichter von 1813 bis 1843" findet sich nämlich S. 181 die auf dieses Gedicht sich beziehende Notiz von Hollands Hand: „Das Gedicht sei im Stil der Wächterlieder, sagte mir Uhland."

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Die Anhaltspunkte, welche diese Gedichte für die Vermutung gewähren, daß die Zeit der ersten Herzensneigung für Uhland in die Sommermonate des Jahres 1804 gefallen sei, sind nicht zahlreich, aber der Umstand, daß gerade diejenigen Gedichte, denen sie entnommen sind, im Unterschied zu der Mehrzahl der übrigen Produkte der Frühzeit ein trotz vielen Mängeln auf- fallendes, persönliches und natürliches Gepräge aufweisen, gibt ihnen Nachdruck. Nimmt man dazu die Tatsache, daß Uhland auch in jungen Jahren gewiß nicht dazu angetan war, von einer Blüte zur andern zu flattern, und bedenkt man, wie sein Emp- finden überhaupt weniger reich als nachhaltig und beständig war und wie zäh er Eindrücke festhielt, um sie oft Jahre später in der Erinnerung oder im Gedicht wieder aufleben zu lassen, so mag man sich versucht fühlen, die Worte des merkwürdig in sich ge- kehrten, von Uhland nicht veröffentlichten Gedichts „Kreis- lauf" vom August 1808 auf die Ereignisse des Sommers 1804 zu beziehen:

Wie mußte meines Lebens Kreis fiich schliessen! Es kehrt der Tag der hohen Liebesfreuden, Die mir nach Jahren namenloser Leiden So süsse Spuren noch im Herzen Hessen.

Die Erörterung über eine Jugendliebe Uhlands, deren Ent- stehung im Jahr 1804 nicht sowohl bewiesen als vermutet werden kann, muß hier unterbrochen werden, um der Entwicklung nicht vorzugreifen. Was hervorgehoben wurde, genügt, um die Wendung zum Subjektiven und Erlebten, die sich in Uhlands Lyrik am Ende der Frühzeit anbahnte, und die Rolle, die erste erotische Regungen dabei spielten, erkennen zu lassen.

2. Das Jahr 1805

Das Jahr 1805 hat ein besonderes Gepräge; es gibt, für sich betrachtet, ein gutes Bild von den Bemühungen Uhlands, sich zur Selbständigkeit durchzuringen. Dies ward ihm nicht leicht, denn immer mehr drangen jetzt die mannigfaltigsten Anregungen auf ihn ein. Neben den Denkmälern des deutschen Altertums in

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Heldensage und Minnesang, deren Kenntnis er zu erweitern und vertiefen begann, lernte er nun Herders Volkslieder und in der Folge Percys Reliques und Des Knaben Wunderhorn, dessen erster Teil wohl schon Ende 1805 erschien'), kennen*), und seine Lektüre der Gedichte Bürgers und Goethes, sowie die Hinwendung der Romantik zum Mittelalter mußte die Eindrücke, die ihm von dieser Seite kamen, unterstützen.

Uhland fühlte sich überhaupt von 1805 an besonders zur Poesie hingezogen'^) und als Gegengewicht gegen die Fülle der Eindrücke, die er zu verarbeiten hatte, brachte dieses Jahr eine reiche Entfaltung eigenen Ijn-ischen Dranges. Weist es doch das fruchtbarste nächst 1811 42 gleichmäßig auf das ganze Jahr verteilte Gedichte auf, gegen 17 des Vorjahrs. Man sieht, wie dem jungen Dichter sichtlich der Mut und die Kraft wächst. Er lernt das Werkzeug seiner Kunst handhaben. Es ist eine Zeit des Lernens, des Tastens nach neuen Formen und neuem Gehalt, des Ringens nach Kraft und Eigenart. So oszilliert denn Uhlands Lyrik in diesem Jahr zwischen sehr entfernten Polen. Vielfältiges Bemühen ist von wechselndem Erfolge gekrönt. Bald gelingt ihm ein glücklicher Wurf, bald greift er wieder völlig fehl: in dem- selben Monat, in dem er das Gedicht „Die Kapelle" verfaßt hat, das noch heute in sekier Schlichtheit und Anschaulichkeit zu seinen allerpopulärsten gehört, verliert er sich in einem anderen,

^ dem Dialog zwischen „Stimme" und „Greis" („Die Mahnung") ganz in sentimentale Nebelhaf tigkeit ; und zwei Monate nach dem Ent- stehen eines so in sich vollendeten Liedes wie „Des Dichters

-^ Abendgang", das seinen Platz am Kopf der Ausgabe mit Ehren behauptet, kommt es zu Gedichten wie „Der Wehmutsänger"

- und „Der Gräberschmuck", welche dem reifen Uhland durchaus fremd erscheinen mußten, nicht nur des schwächlichen Inhalts, sondern auch der Form wegen. Uhland hat hier das erste und das letzte Mal zu antiken Strophenformen, der alkäischen und der sapphisohen, gegriffen, wahrscheinlich in Anlehnung an die

) Goethes Rezension ist am 21. Januar 1806 erschienen. Vgl. Eiohholtz, Quellenstudien zu Uhlands Balladen, 1879, S. 102, An- merkung 1.

^) Leben S. 21.

^) Ebenda S. 25.

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damals vielgelesenen ^) Gedichte von Matthisson und Salis^), schwerlich in Nachahmung Hölderlinscher Gedichte^). Dies zeigt, wie Uhland damals noch mit der Form experimentierte, die in diesem Jahr in großer Mannigfaltigkeit auftritt. Neben der vierzeiligen und der achtzeiligen Reimstrophe mit steigendem und fallendem Rhythmus und mit ein- und zweisilbigen Senkungen"^) bietet „Der Sänger an die Sterbende" ein Beispiel für einen bei Uhland einzig dastehenden Versuch in freien Rhythmen, welche, von strengen metrischen Gebüden unterbrochen, an den Wechsel von Rezitativ und Arie in gewissen Gattungen der Musik erinnern. Auch hinsichtlich des U m f a n g s der Gedichte zeigen sich große Kontraste. Der Dichter scheint sich zwar der Gefahr der Weitschweifigkeit bewußt zu sein und strebt im allgemeinen größere Konzentration an; so erreicht er in einzelnen Gedichten („Die Kapelle", „Schäfers Sonntagslied", „Der König auf dem Turme") jene prägnante, konzise, und eindringliche Kürze, die einen Hauptschmuck seiner Lyrik ausmacht; die Mehrzahl der Gedichte dieses Jahres aber leiden trotz vereinzelter nachträglich vorgenommener Kürzungen'^) noch an einer zu großen Breite; besonders führt die Notwendigkeit, in den langatmigen, acht- zeiligen Strophen die Einheit zu wahren, zu manchem Füllsel und mancher entbehrlichen Wiederholung.

*) Beider Gedichte erlebten zwischen 1791 und 1811, bezw. zwischen 1793 und 1812, je 7 Auflagen.

^) Die Alkäische Strophe zeigt u. a. Matthiasens „Wunsch" (Ge- dichte, neue Auflage, 1808, S. 118), Salis' „Abendwehmut" (Gedichte, neue Auflage, 1808, S. 7) stimmt mit dem Gedicht „Gräberschmuck" auch bezüglich des Wechsels der Stellung des Daktylus in der Form überein.

^) Für Uhlands Stellung zu Hölderlin vgl. Leben S. 216 und den Aufsatz Schwabs, mit dessen Ausführungen Uhland sich im voraus ein- verstandenerklärt, in den Blättern für literarische Unterhaltung 1827, Nr. 27, S, 101 ff. (von Uhland noch unter dem nur bis 1826 geführten Titel „Literarisches Konversat ionsblatt" angeführt).

*) Vgl. das onomapoctischo, daktylonroicho Metrum im „Lied des Fischen".

■'') In: „Harfncrlied", „Der König auf dem Turme", „Maiklage", „Lied eines Armen" wurde je eine Strophe gestrichen. Vgl. auch die kürzende Umgestaltung von Vers 43 in „Der Sänger an die Ster- bende", Gedichte II, 8. 339 f.

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Wie die Form, so weist auch der Inhalt eine beträchtliche Mannigfaltigkeit auf, weniger in der Behandlung vieler und gegen- sätzlicher, als in der vielfältigen Abstufung einzelner Empfin- dungen und Gegenstände. Im allgemeinen setzt sich die Wehmut der vorausgegangenen Zeit fort und durchzieht als Grundton die überwiegende Mehrzahl der Gedichte dieses Jahres. Da ihre Zahl sehr groß ist und da sie, zuerst bekannt geworden, noch heute zu denjenigen Gedichten Uhlands gehören, die in jedermanns Gedächtnis sind, so hat sich schon frühe die Ansicht bilden können, daß eine gewisse naive Sentimentalität und Wehmut den Grund- zug von Uhlands Ljn-ik überhaupt ausmache^). Aber wenn man auch zugibt, daß dieser in den Jugendjahren vorherrschende Ton, der sich allerdings nie ganz verloren hat, tief in Uhlands Wesen seine Wurzel gehabt und nicht bloß in Anregungen, die ihm von außen kamen, so darf man zweierlei nicht außer acht lassen: einmal, daß dieser Ton, dem Umfang und der BeschafEenheit nach, einer Entwicklung unterworfen gewesen ist^), und so- dann: daß Uhland in der Folgezeit doch noch über ganz andere Töne verfügt. Zunächst freilich, in dem Jahr, das hier im Mittelpunkt der Betrachtung steht, befindet sich die Wehmut- stimmung noch in einem frühen Stadium der Entwicklung, und wenn sie auch im Vergleich mit den tränenseligen Ergüssen der Frühzeit mehr Maß und Fassung zeigt, so hat Uhland doch die Friedhofszenerie und die Mondschein-, Ruinen- und Klosterbilder der mehrfach erwähnten empfindsamen Dichter, sowie ossianische Reminiszenzen noch keineswegs überwunden.

Dagegen zeigt sich in anderer Richtung ein Fortschritt. Uhland gibt der früher sehr schwach motivierten düsteren Stim- mung einen Halt, indem er sie in einem bestimmten Gedanken konzentriert, der, neben der Liebe, für alle Kunst die universalste Bedeutung hat: in dem Todesgedanken. Der Tod wird nur vereinzelt mit düsteren Farben geschildert, als Vernichter alles irdischen Glückes, auch des höchsten und innerlichsten, wie in dem „Harfnerlied am Hochzeitsmahl", dessen skeptische Note so befremdlich klingt. Meist erscheint er als Freund, der dem

^) So u. a. bei C. C. Hense, Hallische Jahrbücher 1838, S. 893 ff. ) Daß es sich um eine in der Hauptsache vorübergehende Stimmung gehandelt, deutet Uhland selbst im „Vorwort", Strophe II f. an. Haag, uhland 2

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Greise Erlösung von des Lebens Unrast bringt, dem Jüngling Erfüllung des ungestillten Sehnens (An den Tod^), dem Armen Trost und Belohnung für erlittenes Unrecht, und der den Zugang erschließt zu einem unbekannten oder halbgeahnten Reiche des Friedens und ewigen Glückes (Der König auf dem Turme, Der Sänger an die Sterbende, Gräberschmuck). Gegen Schluß des Jahres kKngt der Todesgedanke nur noch abgedämpft wie eine tiefe Note in dem Akkord der Naturstimmung, als leise Mahnung in der „Kapelle", als friedliche Resignation in dem Gedicht „Die sanften Tage"; und zu seiner tiefsten Bedeutung wird er erweitert in dem ebenfalls im Herbst entstandenen Zwiegespräch zwischen Mönch imd Schäfer, wo er sich mit dem Bild des Ge- kreuzigten verknüpft.

Der nicht ganz natürliche, weil nicht in Lebenserfahrungen begründete Kult, den Uhland in diesem Jahr in so ausschließlicher Weise mit schmerzHchen Empfindungen und insbesondere mit dem Todesgedanken trieb, breitete über die Mehrzahl der Ge- dichte etwas Düster- Weihevolles, das die ganze Skala der diesem Grundton verwandten Stimmungen durchläuft, von der stillen Ergebenheit und dem sanften Mitleid bis zur heftigen Todes- sehnsucht. Das konnte nicht ohne Wirkung auf die dichterische Sprache bleiben, die vielfach noch die sonst gerade Uhland aus- zeichnende schlichte Natürlichkeit und Nüchternheit (das Wort im guten Sinne genommen) vermissen läßt ein Mangel, der sich umso fühlbarer macht, als einzelne Produkte dieser Zeit schon ganz von ihm frei sind. Wenn z. B. das Epitheton heilig in dem Empfindungskreis eines Hölderlin recht eigentlich heimisch ist, so fällt auf, daß man es bei Uhland 1805 so häufig findet'). Ebenso befremdet die Verwendung des Wortes üppig in den Ausdrücken „üppiges Bedeuten" (II, S. 283, Vers 40), „üppige Thränenkraft" (II, 8. 289, Vers 53), oder Wendungen wie:

Die milde Gegenwart der Süßen Verklärte mir das Blumenjabr.

') Auch die Qentslt des Qreuses, für die Uhland, wie Nägele S. 30 hervorhebt, eine Vorliebe hat, fügt sich gut in diesen Rahmen.

•) Gedichte II, 280, Vers 10; 281, Vers 20; (282, Vors ö: Heilig- tum der Sterne;) 289, Vera 60; 330, Vera 2. I, 3, Vors 7; 4, Vers 14; 9, Vers 22; so im „Gesang der Jünglinge" häufig; II, Vers 31 und 39.

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(„Mein Gesang" Vers 5), „Blumenflur der Sterne" (I, S. 4, Vers 29) oder gar „der Sternenbeete Blumenscliein " (II, S. 290, Vers 90). Es läßt sich, was die Sprache anbetrifft, kaum ein größerer Gegensatz denken als derjenige zwischen den Gedichten „Die Kapelle" und „Der Sänger an die Sterbende", von denen das erste mit fast dürftigen Mitteln gearbeitet ist, während in dem letzteren der Dichter sich in Überschwenglichkeit der Diktion kaum genugtun kann. Uhland hat später die verschiedenen Stilarten in den einzelnen Gedichten in der Sprache deutlich unterschieden; hier aber liegt noch etwas anderes vor: jenes Schwanken und Experimentieren, das sich in der Wahl der Formen wahrnehmen ließ, und das eben zeigt, daß der Dichter noch nicht das Gleichgewicht seiner künstlerischen Persönlich' keit erreicht hat.

Auch im Inhalt zeigen sich Gegensätze : es finden sich neben der Mehrzahl jener trübseligen einige Gedichte, in denen sich lautere, unbefangene Heiterkeit ausspricht. Es ist wohl kein Zufall, daß man bei jedem einzelnen derselben Goethe als Vorbild zu erkennen meint. Die vorwiegend lyrische Ballade „Gretchens Freude" ist wohl „in Situation und Empfindung einer Stelle in Goethes Egmont entnommen"^); auch der «Ent- schluß" erinnert an Goethesche Art, wenn auch Reminiszenzen an die Minnesänger hier mitgespielt haben mögen ^), und der schalkhafte, verhebte Dialog zwischen Jäger und Mädchen („Die Apfelbäume") mit den schnippischen Antworten des letzteren und der charakteristischen Schlußwendung erinnert deutlich an Goethes Müllerin-Balladen.

Bezeichnend ist die objektive Gestaltung, die das erotische Element in den Gedichten des Jahres erfährt: Liebeslyrik, die sich an Selbsterlebtes knüpfte, wie mehrere Gedichte des Vor- jahres, finden sich mit Ausnahme des über verlorene Liebe klagen- den Liedes „Mein Gesang", auf das unten zurückzugreifen ist, in diesem Jahre nicht ^). Auch die auf eigener Anschauung be- ^) Herrn. Fischer, Ludwig Uhland, 1887, S. 50. ) Vgl, die Begegnung Hadlaubs mit der Geliebten in Bodmer, Minnesänger II, 197 a, 35 flE. und ähnliche Situationen, die Uhland Minnesang (Schriften V) S. 171 zitiert.

) In „Entschluß" tritt die Empfindung gegen die epigrammatische Zuspitzung der Situation und des Gedankens zurück. Ob mit der „Ge-

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ruhende Naturlyrik zeigt noch keine reiche Entfaltung, dagegen zählen die wenigen Erzeugnisse derselben zu den wertvollsten Gedichten des Jahres. Sie entstehen in der Weise, daß der Dichter für die Grundstimmung, die ihn damals beherrschte, ein Echo in der Natur sucht: im Frühlingsglanz und in der Sommerpracht, am hellen Sommertag findet er es nicht; so sucht er es zur Zeit der sinkenden Sonne, in den „sanften Tagen", wo die Natur dämmernd sich regt oder leuchtend schwindet^). In die Stim- mungen der Andacht, stiller Sammlung und friedlichen Ent- sagens klingen auch die Naturgedichte dieser frühen Zeit aus. Denen, die über Uhland handelten, ist von jeher eine diesem Dichter ganz besonders eigene Gattung von Gedichten aufge- fallen, welche im Jahr 1805 nicht nur ihren Ursprung hat, sondern auch ihre häufigste Verwendung findet. Es ist schwer, eine be- friedigende Bezeichnung für sie zu finden, und Namen, wie „Zu- standslieder"^) oder „mimische Poesie"*), die man vorgeschlagen hat, haben keinen Anklang gefunden. Die Gedichte, die dieser Gattung angehören, werden dadurch charakterisiert, daß hier der Dichter nicht, wie es gemeinhin die Art der Lyrik ist, selbst als Träger der im Gedicht zum Ausdruck kommenden Empfindung oder Stimmung auftritt, sondern diese auf Personen seiner Ein- bildung überträgt, die sie aussprechen oder verkörpern: Harfner, Schäfer, Fischer, Nonnen u. s. w. Es findet also eine Art von Objektivierung der Empfindung, ein Akt der Selbstentäußerung des Dichters statt ^). Dieser Akt kann nun in verschiedener Ab- stufung durchgeführt sein; die Verkleidung kann flüchtig über-

liebten" die vierzehnjährige Schwester Alb. Schotts gemeint ist, wie Notter (S. 168) annimmt, oder irgend ein anderes Mädchen, ist von keinerlei Belang. Notter läßt sich übrigens im Nachweis derartiger periiönlicher Beziehungen einzelner Gedichte schwere Irrtümer zu Schulden kommen. Siehe unten S. 38.

') Wie diese Jahreszeiten auf Uhlands Produktion überhaupt von Einfluß waren, siehe unten II. Abschnitt.

') DOntzer, a. a. 0. S. 23.

') Wilh. Waokernagel, Poetik, Rhetorik und Stilistik, herausgegeben yOD Ludw. Sicher, 1873, S. 127.

*) Vgl. D. P. Strauß, Zwei friedliche Blätter, 1830, S. 32: „Uhland's 0*be ist, sksh in beitimmte Zustände hinein*, Kerner 's sich über sie hinauszuempfinden. "

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geworfen oder mit Sorgfalt zusammengestellt, das Gebärdenspiel berechnet oder subjektivem Impuls überlassen sein. Danach bemißt sich dann der Grad der Objektivität oder Subjektivität des Gedichts. Was anderes, als der Titel, läßt den Leser ver- muten, daß der Träger der in Schäfers Sonntagslied sich aus- drückenden Andacht nicht der Dichter, sondern ein Schäfer sei? Und anderseits, was hat der achtzehnjährige Dichter, der in durch- aus glücklichen Verhältnissen und ohne Konflikte aufgewachsen ist, viel gemeinsam mit dem Armeen, dem er das bekannte Lied in den Mund legt: etwa die Resignation, etwa das Gottvertrauen, aber jedenfalls nicht die ganz bestimmten Lebenserfahrungen, die das Lied für den, der es singt, voraussetzt. Zwischen diesen zwei Extremen bewegen sich nicht weniger als neun bis zehn der Gedichte dieses Jahres'). Das Verfahren ist im einzelnen Fall verschieden : bisweilen drücken nicht nur einzelne Personen, son- dern eine Mehrzahl von solchen, ihre, bezw. des Dichters Emp- findungen aus, entweder so, daß zwei, wie Mönch und Schäfer, im Dialog sich gegenüberstehen, oder so, daß eine zusammen- gehörige Gruppe von Menschen, welche demselben Stande oder denselben Lebensbedingungen u. s. w. angehören, ihre Gefühle aussprechen (Gesang der Jünglinge, Gesang der Nonnen [1806]). Das Wesentliche und Gemeinsame aber bei allen diesen Gedichten ist der Umstand, daß der Dichter in eine gedachte Situation, eines einzelnen oder einer Gesamtheit, sich versetzt. Ursprüng- lich diente zur Veranschaulichung wohl auch eine kurze, die nötigen Angaben über dieselbe enthaltende Einleitung, wie sie die ersten Fassungen des Harfnerlieds und des Königs auf dem Turme noch aufweisen, meist aber ist eine solche vom Leser zu ergänzen oder wird nur im Titel angedeutet.

Es ist offensichtlich, daß bei dieser ganzen Gattung, beson- ders aber bei den Gedichten in dialogischer Form, eine Entschei-

^) Nämlich „Harfnerlied", „Der König auf dem Turme", „Lied eines Armen", „Der Sänger an die Sterbende" („Gretchens Freude"), .Gesang der Jünglinge", „Lied des Gärtners", „Mönch und Schäfer", „Mein Gesang", „Schäfers Sonntagslied". Später treten solche Gedichte nicht mehr in so geschlossenen Eeihen, sondern mehr vereinzelt auf. Beispiele sind: „Gesang der Nonnen", „Des Knaben Berglied" (1806), „Lied des Gefangenen" (1807), „Der Schmied", „Des Hirten Winterlied" (1809).

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düng darüber, ob das einzelne Gedicht der Lyrik oder den Balladen beizuzählen sei, oft schwer zu treffen ist, und Uhland selbst hat später, als er seine Dichtungen für die Ausgabe ordnete, solche Erzeugnisse, nicht immer mit ersichtlichem Grund, bald in dieser, bald in jener Abteilung untergebracht. Wir befinden uns hier auf dem eigentlichen Grenzrain der lyri- schen und der episch- lyrischen Dichtung, doch so, daß wir der ersteren doch noch näher stehen als der letzteren. Es handelt sich um eiuen lyrischen Kern mit ideeller epischer Schale, insofern nämlich das Wesentliche der lyrische Gehalt ist, die epi- schen Voraussetzungen aber von dem Dichter (wie die späteren Kür- zungen beweisen) nur nahegelegt, von dem Leser zu ergänzen sind.

Die Gattung ist für Uhlands dichterische Wesenheit sehr be- zeichnend und in seiner ganzen Geistesart begründet. Es fehlte seiner Subjektivität sei es, daß sie nicht stark genug, sei es, daß sie zu scheu war an dem gebieterischen Drang, im Gedicht unmittelbar in die Erscheinung zu treten. Sie geht darauf aus, sich an greifbare Gestalten zu knüpfen oder auf dem sicheren Fundament bedeutender und ehrwürdiger Überlieferung weiter- zubauen. Uhland kann sich seiner Individuali- tät jederzeit scheinbar begeben, ohne sie dochjemals zu verlieren^). Mit merkwürdig sicherem Instinkt trifft Uhland schon früh, was seiner Natur am meisten gemäß ist, wenn er in dem Brief an Seckendorf im November 1806 die Dichtung am höchsten stellt, die „das tiefste Leben der Seele zu objektiver Erscheinung fördere"^). Ein scharf- blickender Beobachter konnte demnach schon in dieser frühen Zeit erkennen, nach welcher Seite sein Talent gravitierte, und daß der junge Dichter, der sich noch als empfindsamen Lyriker gab, im Grunde zum Balladendichter oder Epiker prädestiniert war.

Überblickt man die stattliche Reihe der Gedichte von 1805, so ist man leicht geneigt, von dem Wehmutskult, dem Uhland damals ergeben war, den Blick einseitig fesseln zu lassen. Und in

^) Dies ist auch mit dem bei Uhland stark entwickelten Gofülil der ZnsammengeböriKkeit ntit einem Ganzen in Verbindung zu bringen, dM UhlMida Familiensinn, seine Heimatliobe und seine Wahlverwandt- schaft mit allem VolksmäOigen erklärt.

') Leben S. 28.

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der Tat drückt dieser, was den Gefühlsinhalt dieses Zeitabschnittes betrifft, demselben den Stempel auf. Das für die fernere dichte- rische Entwicklung wichtigste Moment wird aber nach dem oben Ausgeführten nicht darin, sondern in der entschiedenen Hin- wendung zu einer Gedichtgattung zu erblicken sein, die seinem innersten Wesen entsprach, und in der sich lyrische und epische Elemente durchdrangen.

3. 1806 bis Anfang 1810

Es ist, als ob durch den starken dichterischen Impuls des Jahres 1805 die produktive Kraft bei Uhland zunächst etwas erschöpft worden sei; denn die vier ersten Monate des folgenden Jahres weisen nur zwei Gedichte auf. Dann hebt sich die Produktion wieder und dauert an bis zum Oktober, um hierauf wieder vier Monate fast gänzlich zu versiegen. Es ist eine Zeit der Samm- lung, der Selbstprüfung und des Übergangs : Altes klingt aus und Neues bereitet sich vor. So hat das Jahr 1806 kein besonderes Gepräge und von eigentlich lyrischen Gedichten sind nur drei, worunter zwei „Zustandsgedichte" ^), später in die Sammlung über- gegangen. Eines aber läßt sich mit Bestimmtheit feststellen : die ge- sunde Natur des Dichters bewirkte eine seelische Kräftigung, die sich gleich im Januar in den Worten der Ballade „Der Pilger " ankündigte :

Die Sehnsucht und der Träume Weben, Sie sind der weichen Seele süß, Doch edler ist ein starkes Streben Und macht den schönen Traum gewiß.

In der Tat überwand Uhland im Verlauf dieses Jahres vollends endgültig die schwermütigen, zum Teil mystisch gefärbten*) Anwandlungen und besonders das sentimentale Schwelgen im Todesgedanken; und wenn die Gestalt des Todes im schwarzen Ritter auch noch einmal über die Szene schreitet, so ist diese letztere von den Nebelgestalten der Könige, Harfner, Schäfer u. s. w. geräumt^), und zwar für immer. Die „Abendphantasie"

^) Siehe oben S. 21, Anm. 1.

*) Vgl. „Das Münster", „Gesang der Nonnen" (Frühüng 1806).

^) Siehe G. Schmidt, a. a. 0. S. 7.

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betitelte Parodie Matthissons ist das Siegel auf jene Wehmuts- periode. Ein eingreifender Umschwung vollzieht sich damit in Uhlands Entwicklung, und der Dichter bedarf einiger Zeit, um mit dem Alten abzuschließen und neue Bahnen zu suchen. Es ist damit notwendig ein gewisser innerer Kampf verbunden'). Das scheint sich schon äußerlich in dem zeitweiUgen Stocken der Produktion zu zeigen, dann aber auch in dem ungeduldigen,, unbefriedigten Tasten nach einem neuen Anhalt für seinen SchafEensdrang, der sich auf Großes richtet: „Ein Drama, ein Roman, welches Entzücken muß es sein, so was vollendet zu sehen," schreibt er Januar 1807 an KöUe^). Doch kommen Ent- würfe, die er anlegt, nicht zur Vollendung, weil es seinem Gemüt an der Ruhe und Fassung fehlt, die zielbewußtes Streben gibt. „Mein poetisches Leben," schreibt er verdrossen, „ist jetzt ein Umherschweifen von einem Entwurf zum anderen. " „Werfen Sie Strahlen in mein düstres Gemüth"^).

Im Frühjahr 1807 aber wird er sich darüber wenigstens klar, daß er unter sein bisheriges Dichten einen Strich machen müsse, und daß, was er Ende 1806 in Seckendorfs Almanach geliefert hatte, die letzten Früchte einer Periode seien, die nun hinter ihm liege. Es seien so charakterisiert er in dem für die Kenntnis seines Entwicklungsganges sehr wichtigen Brief an Seckendorf vom 6, März 1807^) jene „erste Periode seiner Poesie" „größten- teils lyrische Ergüsse eines jugendlichen Gemüthes . . . die ersten Gefühle und Lebensansichten einer erwachenden Seele". Was er nun überwunden glaubt, das ist einmal die Unreife dieser Ge- fühle und Lebensansichten, kurz die Sentimentalität, und sodann die Form, in der er sie geäußert hatte: der l)aTsche Erguß. Nicht das Individuelle, Persönlich-Empfundene überhaupt: er ist über- zeugt, daß das Ich des Dichters auch in anderen poetischen Gattungen zu seinem Rechte komme. Aber es liegt ihm daran, dieser ^idealen Individualität" „Objektivität für andere" zu geben. Es ist nicht zu verkennen, daß ihm dabei, wie auch der

') An Leo v. Seckendorf, 6. März 1807: „Ein gewisser Kampf in mit ließ keinen [der Entwürfe] zur Vollendung kommen. " Loben S. 34. *) Leben H. 36 ff. ') EbMuU. *) Leben 8. 32 ff.

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oben erwähnte Brief an Kölle und seine Entwürfe aus jener Zeit zeigen, als Ziel seines Ehrgeizes das Epos in größerem Stil und besonders das Drama vorschwebte. Dieses Ziel hat er nun aber, wenigstens in der nächsten Zeit, nicht und auch später nur unvoll- kommen erreicht. Im Gegenteil: selbst das Epische in dem kleinen Rahmen der Ballade trat zurück und es begann eine Periode lyrischer Dichtung^), die sich freilich von der voran- gegangenen wesentlich unterschied.

Daß Uhlands Dichtung damals eine von seinen Absichten so abweichende Richtung nahm, erklärt sich aus zwei Gründen: der erste, ausschlaggebende lag in Uhlands Talent selbst, das für Dichtungen großen Stils wohl schwerlich die genügende Spannkraft besaß""); der zweite, akzidentielle, ist in der Art und Weise zu erblicken, in der Uhland in den Jahren 1806 und 1807 mit einer gewissen Richtung der Romantik in engere Berührung trat.

Der Tübinger Freundeskreis, dem Uhland damals angehörte, vertrat im allgemeinen den Zweig der Romantik, welcher, von der Auflehnung gegen jeden mehr oder weniger verkleideten oder modernisierten Rationalismus und Klassizismus ausgehend, das Heil der Poesie vor allem von einer Erneuerung des deutschen Altertums und der volksmäßigen Dichtung erwartete, und für welchen besonders „Des Knaben Wunderhorn" und die Erscheinung Fouques vorbildlich waren. Diese jungen Männer, größtenteils selbst dichtend, standen in regstem, zuerst mündlichem, später schriftlichem Verkehr, in dem sie ihre poetischen Ansichten und Produkte, frisch, wie sie aus der Feder geflossen waren, gegenseitig mitteilten und besprachen. Ihr Organ war das in den ersten Monaten des Jahres 1807 einmal wöchentlich handschrift- lich erscheinende Sonntagsblatt ^). Auch wurde, was die all- gemeine Anerkennung fand, in Almanachen Gleichgesinnter und später in eigenen alsbald veröffentlicht. Die Stimmung, welche diesen Kreis beseelte, hat Uhland zusammengefaßt in dem Liede

^) Vgl. Herrn. Fischer, a. a. O. S. 50.

*) Die Mängel seiner beiden, in manchem Betracht so wertvollen Dramen bestätigen dies, noch mehr aber die Zahl der dramatischen Fragmente und der Torso des Fortunat.

') Näheres und Mitteilungen daraus siehe Mayer I, S. 16 ff.

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JFreie Kunst", mit dem er den „Deutschen Dichterwald" er- öffnete (1813); und wenn auch die Aufforderung:

Kann man's nicht in Bücher binden, Was die Stunden dir verleihen: Gieb ein fliegend Blatt den Winden, Muntre Jugend hascht es ein.

für Uhland selbst keine Gefahr bedeutete, so ist doch verständ- lich, daß ein so lebhafter Austausch unter jenen leicht entzünd- lichen Gemütern von vornherein die für ein Kunstwerk größeren Stils nötige Ruhe und Konzentration nicht aufkommen ließ. Dagegen verdanken wir der Anregung, die Uhland aus diesem Kreis schöpfte, außer vielen Ijn-ischen Gedichten insbesondere ein für die Kenntnis seines dichterischen Entwicklungsganges wichtiges Dokument, den Aufsatz „Über das Romantische", der ein Hauptstück des Sonntagsblattes bildete. Da er erkennen läßt, welche Fäden Uhland damals mit der Romantik verknüpften, oder besser, welche Vorstellung Uhland sich von dem Roman- tischen — und das bedeutete für ihn das Poetische machte, so muß der Inhalt dieses Aufsatzes, der weniger eine ästhetische Abhandlung ist als ein poetisches Glaubensbekenntnis, hier kurz wiedergegeben werden.

Was den romantischen Menschen nach Uhland charakteri- siert, ist seine Beziehung zum Unendlichen, das Bewußtsein des Eingeschlossen- oder Eingewobenseins in das Unendliche, so zwar, daß dieser Zusammenhang nicht begrifflich erkannt, son- dern empfunden und geahnt wird, oder daß um ein von Uhland nicht gebrauchtes Bild einzuführen das Gemüt des roman- tischen Menschen wie eine zitternde Magnetnadel jenem magischen Punkt der Berührung der irdischen Erscheinung mit der Unend- lichkeit zustrebt^). Dem so Empfindenden ist ungläubige Skepsis ebenso fremd, wie eine derb zugreifende, rein verstandesmäßige Auffassung der Welt. Fremd ist ihm auch die heiter-plastische, an der Formenwelt haftende Geistesrichtung des griechischen Altertums*). Im Gegensatz zu diesem erscheint „Der Sohn des

^) ,^estgegründei und ins Unendliche deutend" mußte die Dichtung Min, die zu sobafiFen ihn verlangt. (An KöUe, 26. Jan. 1807, Leben S. 30.)

*) An Seckendorf, 0. März 1807: „Verschiedene Ursachen, besonders aber meto« Vorliebe für das Romantische, dem der griechische Boden

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Nordens", der Germane, mit seiner tiefsinnigen Naturreligion als der Hauptträger der romantischen Anschauung.

In zwei Erscheinungen offenbart sich ferner das Romantische : in dem Christentum mit seinen „erhabenen Lehrworten aus dem Reiche der Unendlichkeit", und in der Liebe, sofern sie rein, d. h. als das höchste gemeinmenschliche Mysterium gefaßt wird.

Es leuchtet ein, daß ein so verstandenes Romantische nicht in Begriffe gebannt, sondern nur in Bildern und Symbolen aus- gedrückt werden kann: so ist dem Christen Kreuz, Abendmahl und Grab des Herrn, so ist dem Mann das reine, kindlich ein- fältige Weib als Sinnbild des verschleierten Unendlichen heilig. Beide, romantisches Christentum und romantische Liebe, haben ihre reinste Ausprägung, wie Uhland meint, im Mittelalter er- fahren.

Romantisch ist so läßt sich Uhlands Erörterung zusammen- fassen — zunächst allgemein das ahnende Beziehen des Endlichen auf das Unendliche, und romantisch sind dann ferner im be- sonderen solche Erscheinungen, welche ihrer Natur nach ein solches Beziehen möglich machen und nahelegen: Charaktere, wie die des Mönchs oder des Kreuzritters so gut wie gewisse Wolkenbilder oder wie das Auge der Geliebten.

Man sieht: die Essenz von Uhlands Wesensbestimmung des Romantischen ist so allgemein, daß sie schließlich auf den noch heute verbreiteten landläufigen Begriff herauskommt, wonach man etwa eine zerklüftete, wilde Felsenlandschaft oder ein spuk- haftes Theaterstück romantisch nennt. Was aber diesen Aufsatz wertvoll macht, ist nicht die Definition des Romantischen, die sich daraus deduzieren läßt, sondern die subjektiven Einzel- anwendungen derselben, welche Uhland in seinen Ausführungen gibt und welche ein helles Licht werfen auf die Grundzüge seines dichterischen Wesens: einen tiefgründigen Natursinn, der durch das Äußere der Erscheinungen zu ihrer höheren Bedeutung vor- dringt; die Vorliebe für germanische Kultur, Religion und Kunst, die Wertschätzung des Mittelalters mit seinen Idealen, Lebensformen und Sitten, und unter diesen besonders die mittel-

nicht angemessen war, hielten mich von der Ausführung [der Tragödie Achilles Tod] ab." (Leben S. 34.) Es ist bemerkenswert, daß Uhland noch bis in diese Zeit sich mit antiken Stoffen trug.

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alterliche Liebe in der geläuterten Form, in der er sie sich vor- stellte.

Das ist es, was Uhland damals mit der literarisclien Richtung, die er für die Romantik hielt, gemeinsam hatte und was be- wirkte, daß er sich ihr anschloß. Inwieweit sie früher ihrerseits für Uhlands Hang zum Altertümlichen bestimmend gewesen sei, läßt sich schwer feststellen. Aber wenn man bedenkt, wie schon in der ganz frühen Zeit der Vorbereitung zur Universität die Quellen des deutschen Altertums selbst gleich einer beseligen- den Offenbarung auf Uhland gewirkt haben, so gewinnt man den Eindruck, daß Neigung und Studien allein schon genügt hätten, auch sein Dichten in den Kreis altertümlicher und volkstümlicher Stoffe und Formen zu ziehen, und daß jene Romantik nur ein akzidentielles Moment in seiner Entwicklung gewesen ist. Sie hat bei Uhland die empfindsamen Dichter abgelöst, und zwar so, daß der Übergang sich unmerklich vollzog. Romantisch in dem allgemeinen Sinn, in welchem Uhland das Wort nahm, waren auch Gedichte eines Ossian, Hölty, Matthisson u. a. Der Friedhof z. B. wäre eine echt romantische örtlichkeit nach dem Sinn des Sonntagsblattes. „Ossianische Nebelgebilde" nennt Uhland die Götter des Nordländers in dem Aufsatz, und von den Helden des Nibelungenliedes, aus dem Uhland mit begeisterten Worten den Freunden Bruchstücke vorlegte, sagt er : „Sie schweben auf in die Höhen der Poesie und thronen wie ein ossianisches Geisterreich riesenhaft in den Wolken" ^); und wenn er noch im Jahr 1812 einen seiner Lieblingsorte in der Umgebung Tübingens das „Ossianstal "'') nennt, so meint er damit gewiß nichts anderes, als was er sonst mit „romantisch" bezeichnet. Und Hölty führt er im Vorwort zum zweiten Sonntagsblatt"), wo er von „unseren Dichtergenies " redet, in einem Atem mit Wackenroder, Novalis u. a. auf. Romantisch kann man also auch die Gedichte Uhlands

>) Mayer I, S. 22.

•) UhlancU Tagbuch 1810—1820, herausgegeben von J. Hart- manD 1808, 10. Mai 1812. Gemeint ist das Tal, das sonst im Tag- buch und auf den Karten als „Käsebachtal" verzeichnet, in seinem oberen« engeren Teil aber heute unter dem minder prosaischen Namen fElysium" bekannt ist. ») Mayer I, 8. 17.

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vom Jahr 1805 nennen. Und die Wandlung, die in und nach, diesem Jahr in Uhland vorging: seine Befreiung von der Senti- mentalität und von der Welt verschwommener „romantischer Charaktere", ist nicht sowohl seiner näheren Berührung mit der Romantik zu verdanken als einer natürlichen, seelischen Grund- stimmung und seiner, allerdings mit Bestrebungen der Roman- tiker Hand in Hand gehenden gründlichen Beschäftigung mit einer historisch greifbaren „romantischen" Vorwelt und mit be- stimmt umrissenen „romantischen Charakteren". So hatte denn das unklare, schon deutlich romantisch gefärbte Sehnen des Jahres 1805 seine Heimat gefunden: die Dichtung des deutschen Mittelalters erschien ihm geradezu als Altromantik, die von der zeitgenössischen durch die Kluft des unpoetischen Aufklärungs- zeitalters getrennt sei: „0 daß erschiene die Zeit", ruft er aus^), „da zwischen den zwei sonnigen Bergen der alten und neuen deutschen Poesie, zwischen denen das Alter der Unpoesie als eine tiefe Kluft hinabdämmert, eine befreundende Brücke ge- schlagen und darauf ein frohes Hin- und Herwandeln lebendig würde ! "

Als Mitstreiter im Kampf um dieses Ideal hat Uhland die- jenigen Romantiker freudig begrüßt, die es mit ihm teilten oder zu teilen schienen. Im übrigen hat die Romantik schon deshalb, weil Uhland sich Elementen, die ihm fremd waren und es gab deren viele unter den Romantikern instinktiv fernhielt, damals nicht tiefer in seine Entwicklung eingegriffen; nur daß sie ihm die Formen der Oktave und des Sonettes nahebrachte, in denen er sich zunächst noch nicht sehr häufig, doch mit Glück versuchte.

Doch darf man ein Verdienst, das sich die Romantik um Uhlands Dichten erworben hat, nicht unterschätzen. Es ist ganz allgemeiner Natur und betrifft die hohe Wertschätzung des Poetischen überhaupt.

Dies bedarf einer ausführlicheren Erklärung.

In Uhlands Natur bestand von frühe an eine Rivalität zwischen dem Drang zu dichterischer Produktion und dem Bedürfnis zu wissenschaftlicher Erfassung der Gegenstände, die ihm am Herzen lagen. Und gerade der Umstand, daß beide Tendenzen

^) Mayer I, S. 22.

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sich auf dieselben Gegenstände ricliteten, daß also das Gebiet des einen vom anderen nicht geschieden war, ermöglichte und begünstigte jene Kivalität, die übrigens durchaus nicht immer offen als solche zu Tage trat : im Gegenteil, die Forschung schien oft der Dichtimg vorzuarbeiten und die Dichtung ihrerseits die Forschung durch intuitives Nachempfinden zu unterstützen. Trotzdem ist die Gefahr, die aus einer solchen Teilung der Kräfte für die künstlerische Betätigung erwuchs, nicht zu verkennen, besonders, wenn man dazu nimmt, daß diese letztere aus dem Leben wenig Zufluß erhielt; lag Uhland doch von jeher nichts femer als der Drang, in kräftigem Sichausleben das vielgestaltige Leben nach seinen Höhen und Tiefen zu durchmessen^). Nach- dem sich nun im Jahre 1805 die jugendHche Sentimentalität, wie wir oben sahen, in lyrischen Ergüssen Luft gemacht hatte, hatte sich in dem folgenden Jahr in dem Dichter eine Wandlung vollzogen, die ihn dazu bestimmte, sich offen und bewußt von dieser Art von Dichten loszusagen und eine objektive Gestaltung der Poesie anzustreben. Mit dieser Wendung war eine Reaktion ver- bunden, die sich vor allem in einem sehr eifrigen Studium der Quellen des deutschen Altertums zeigte. Der erste Brief an Seckendorf vom Ende des Jahres 1806^) ist besonders bezeichnend dafür: er enthält nichts von eigenen poetischen Plänen; da- gegen ist er angefüllt von Fragen, die das ernsteste wissenschaft- liche Interesse verraten; der Mangel an einer ansehnlichen Biblio- thek wird beklagt; es ist die Rede von Ausgaben, Bearbeitungen, neuentdeckten und neuzuentdeckenden Quellen, nach Sprache, Versart und Alter der Texte fragt der Wissensdurstige kurz, alles scheint auf den angehenden Gelehrten, nichts auf den Dichter zu deuten.

Jene Reaktion zeigt sich aber auch noch in einer anderen Weise, nämlich in dem Hervorkehren einer Seite der geistigen Veranlagung Uhlands, die sich vor 1806 nicht geltend macht und vielleicht noch zu wenig Beachtung gefunden hat: in der Vorliebe Uhlands für die antithetische Zuspitzung des Gedankens

^) Daß 0ohon der junge Student sich mit Vorliebe in die Einsamkeit und die Bücher vergrub, weiß auch Frau Uhland zu berichten (Loben S. 21).

') Leben S. 26 ff.

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(bezw. der Situation) und der Form. Ein Gedicht des Jahres 1806, „Des Mädchens Trauer" betitelt, stellt sich in scharfen Gegensatz zu der Behandlungsweise ähnlicher Gegenstände im Vorjahr. Ein Mädchen, das den Tod des Geliebten betrauert, beschließt seine Klage mit den Worten:

Wie könnt' ich sterben, da er lebte! Wie könnt' ich leben, da er starb!

Dieses erkältende Spiel mit dem Gedanken und Ausdruck lassen auch nicht wenige Gedichte des Jahres 1807 wahrnehmen. So werden in dem „Lied im Frühling " zwei Strophen einander gegen- übergestellt, welche bis auf ein einziges Wort, den Träger der Antithese, wörtlich identisch sind. In ähnlicher Weise kon- trastieren in den zwei Strophen „Die Schlummernde" die Vor- stellungen: „im Sarge schlafen" und „in Blumen schlafen". Auf einer Antithese der Situation beruht das Gedicht „Das Mädchen am Bache", wo das eine Mädchen den Bach hinauf-, das andere den Bach hinabwandelt, beide aber von derselben Empfindung beseelt sind. Das Gedicht „Mutter und Kind" von 1805, in dem sich die Empfindung frei entfaltet und den epigrammatischen Kern verhüllt hatte, wird nun hervorgeholt und zum herben, knappen Epigramm zugespitzt. Dabei läuft auch dann und wann eine Spitzfindigkeit mitunter, wie z. B. im zweiten Teil der Greisenworte, von denen sich schwer begreifen läßt, daß sie ursprünglich einem dramatischen Entwurf angehörten:

Komm her, mein Kind! o du mein süßes Leben! Nein, komm, mein Kind! o du mein süßer Tod! Denn alles, was mir bitter, nenn' ich Leben, Und was mir süß ist, nenn' ich alles Tod.

Auch wenn man Fälle, in denen das antithetische Spiel sich minder deutlich nachweisen läßt*), nicht in Betracht zieht, so genügen die angeführten Beispiele, die sich vermehren ließen^), um zu zeigen, daß auf die sentimentale Breite in der Behand- lung des Gedichts als Reaktion eine bisweilen zu weit gehende verstandesmäßige Kürze folgte, welche in Uhlands geistiger Veranlagung begründet war.

^) Vgl. das Gedicht „Seliger Tod".

*) Vgl. „Das Bild des Gestorbenen", „An Sie",

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Diese Reaktion und die oben betonte starke Hinneigung zur wissenschaftlichen Betätigung fand nun aber ein glückliches und wirksames Gegengewicht in der näheren Berührung Uhlands mit den Romantikern, die überall das Poetische aufsuchten und der Phantasie und dem Gemüt zu ihrem Recht verhalfen dem Verstände gegenüber. Besonders eine so durchaus poetisch ge- stimmte Natur wie Kerner konnte nur einen glücklichen Einfluß auf ihn üben. Denn eines hatte dieser vor Uhland voraus : die stärkere Initiative der dichterischen Phantasie. Mit welchem Feinsinn Uhland dies zu erfassen vermochte, geht aus der Stelle eines Briefes an Karl Mayer hervor, wo er von Kerners Reise- schatten rühmt, daß darin „das meiste im Äther der Poesie flattere und nur auf einen geringen Boden der Wirklichkeit ge- gründet" sei'). Was er hier an dem Freunde bewunderte, davon hätte man seinem Dichten, das leicht zu eng an den Boden der Wirklichkeit gefesselt war, einen stärkeren Zusatz wünschen mögen; und er selbst fühlte diesen Mangel, wenn er gelegentlich Kemers dichterisches Talent höher stellte als das seinige ^). Kerner scheint ihm überhaupt das Romantisch-Poetische am besten verkörpert zu haben. So dankt er ihm am 4. Oktober 1807 für eine Gedichtsendung mit den Worten: „Deine Lieder haben mich sehr gefreut, besonders das Nächtliche^). Es hüllte mich in einen romantischen Duft wie ein glänzender Staubregen." In ähnlicher Weise sagte er später (1811) von Kerners Märchen „Goldener", es sei „ganz Goldglanz"*). Kein Zweifel, daß der intime Umgang mit Kerner und die poetische Regsamkeit des Tübinger Freundeskreises überhaupt dazu beigetragen haben, den dichterischen Funken in Uhland glühend zu erhalten. Uhland war damals von einem Mitteilungsbedürfnis und einer Hin- gebung den Freunden gegenüber, die sich vor 1807 und nach 1812 nicht mehr finden.

*) An K. Mayer, 18. April 1809, I, S. 125

•) An K. Mayer, 12. August 1809 (I, S. 129): „So viel aber mein ich doch, daß Kemer ungleich mehr Dichter ist, als ich." Vgl. auch ebenda 8. 134.

') Wahrscheinlich das Uüdicht „Abschied", Zeitung für Einsiedler, U. Juni 180S.

*) Ju«t. Kcmcrs Briefwechsel mit seinen Freunden, herausgegeben von 'Ibeob. Kemer, erläutert von Ernst Müller, 1897 (Briefwechsel), I, S. 236.

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Diese sechs Jahre ^) begrenzen eine Periode in Ühlands Ent- wicklung, die sich dadurch kennzeichnet, daß, mit der einzigen Ausnahme des Pariser Aufenthalts, die Poesie und besonders die Lyrik bei Uhland im Vordergrund des Interesses steht, und die eröffnet wird mit den Worten, die Uhland am 26. Januar 1807 an KöUe richtete: „Ich kann mir kein größeres Glück denken, als . . . aus dem unendlichen Gebiete des Schönen und Großen, der inneren und der äußeren Welt, Gestalten aller Art wie in einem Zauberkreis hervorzurufen"^). Auch als die Freunde, die sich um das Sonntagsblatt zusammengeschlossen hatten, im Herbst 1807 auseinander gegangen waren, dauerten die innigen Beziehungen, wenn auch „die schöne unmittelbare Ergießung" fehlte, wenigstens zwischen einzelnen fort, und in dem regen Briefwechsel, der sich entspann und in dem die ungebundene Rede oft ganz ungezwungen in die gebundene überging'), nahm das Poetische weitaus den breitesten Raum ein.

Man teilte den Freunden die neuentstandenen Gedichte mit, drang auf eine offene, freundschaftliche Kritik, klagte, wenn der Schaffensdrang stockte, freute sich, wenn er sich wieder einstellte, und munterte sich gegenseitig zum Dichten auf. Von der Wärme der Freundschaftsgefühle, die Uhland damals beseelten, zeugen die von dem Treniiungsschmerz eingegebenen Gedichte vom An- fang 1808 „Zum Abschied" und „Dem Sänger", die in über- schwenglichen Worten das Glück der Freundschaft preisen:

O! wie wir uns zuerst umwunden! Wie Seel' in Seele sich verlor! Steigt nicht in solchen Bundesstunden Ein Ew'ges von der Erd' empor?

(„Zum Abschied", Vers 13fif.)

Freundschaft, Poesie und Natur hießen ihm damals die höchsten Güter. „Wie sehne ich mich," schreibt er mitten unter leidigen

^) Wenn man den Entwicklungseinschnitt des Jahres 1806 über- springt, so kann man als Anfangstermin schon das Jahr 1805 ansetzen.

^) Leben S. 38 f.

') Vgl. an Kerner, 4. Oktober 1807, I, S. 13; 8. Dezember 1809, I, S. 86; an Mayer, Dezember 1807, I, S, 29, Anm. Vgl. auch die poetische Epistel an Mayer vom 21. Oktober 1807, I, S. 7 ff. und den pathetischen Schluß des Briefs an Kerner vom 4. Oktober 1807, I, S. 15. Haag, Uhland 3

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Examensvorbereitungen, „nach der Zeit, wo ich . . . für Freund- schaft, Poesie, Natur einmal wieder frei erwarmen kann. Die letzte werd' ich freilich nur gerade noch wie sie hinstirbt, umarmen und ihrem bleichen Mund ein glühendes Lebewohl aufdrücken können" ^). Für das innige Verhältnis zur Natur, das sich in diesen letzten Worten ausspricht und sich in der Zeit der Vereinsamung, nach dem Weggang der Freunde, vertiefte, sind besonders zwei Gedichte des Jahres 1808, „Naturfreiheit" und „Dem Künstler", bemerkenswert. Während nämlich Uhland sich sonst damit begnügt, ein Naturbild zu entwerfen, und dieses in Beziehung zu setzen zu dem Zustand des dichterischen Subjekts, wird in dem ersten Gedicht die Naturempfindung erweitert zum Gefühl der Zusammengehörigkeit alles NaturgeschafEenen : wie „Sonnenstrahl und Quell und Blüte" ist der Mensch ein Kind der Natur und mit seinen Leiden und Freuden in sie verwoben:

Alle Wesen sollen Brüder, Du, Natur, uns Mutter seyn!

Es ist zu bedauern, daß das zweite der erwähnten Gedichte, „Dem Künstler" betitelt, von Uhland nicht in die Ausgabe auf- genonmien worden ist. Denn es enthält eine so tiefgehende Reflexion über Natur und Kunst, wie sie sonst kein anderes Gedicht bietet, und es ist für die Art, wie Uhland zur Zeit seiner Reife die Poesie geübt hat, umso bezeichnender, als es anzu- deuten scheint, daß sich Uhland zur Erkenntnis der seinem Talent gesteckten Grenzen durchgerungen hat, wie auch der Inhalt des Gedichts scheinbar auf Allgemeingültigkeit Anspruch macht.

Die Natur, so führt das Gedicht aus, ist des Künstlers große Lehrmeisterin. Sie bewahrt ihn vor Selbstüberhebung, indem sie ihm zeigt, daß auch sie schöne Formen schaffe, allerdings in so ungeheurem Maßstab, daß der Künstler sie nur stückweise zu fassen vermag, so sehr sein Auge „nach dem Ganzen trachtet". So muß er darauf verzichten, mit seiner Kunst das All zu umspannen, und muß sich damit bescheiden, sie in ehrlicher, mühsamer Arbeit am Kleinen zu zeigen und durch dieses auf das große Ganze zu deuten :

*) An K. Mftyor, 14. September 1808 (I, S. 93 f.).

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Will deine Dichtung auch das All umfassen, Da schwindet oft die Form den schwachen Blicken; Am Kleinen wird sie leicht sich merken lassen. Da müssen Bild und Klang zusammenrücken. Du siehst die Ordnung nicht der Blumenmassen, Die weit zerstreut sind auf der Erde Rücken; Doch ordnest wen'ge du zum schönen Kranze, Du triffst im Kleinen wohl das große Ganze.

Nicht nur die innige Naturgemeinscliaft, die sich in dem ersten, sondern auch der künstlerische Ernst und die Besonnenheit, die sich in dem letzten Gedicht aussprechen, lassen Uhland hier Goethe fast näher als der Romantik stehend erscheinen. Und in der Tat: so bewunderungswürdig, ja so beneidenswert vielleicht das freie Walten der Phantasie ihm bei seinen romantischen Freunden er- scheinen mochte, so mußte er sich seinem innersten Wesen nach doch mehr Goethes ausgeglichener und abgeklärter Dichternatur verwandt fühlen; hatte er doch ohnedies mit Goethe den Trieb zur volksmäßigen Dichtung gemein und konnte auf diesem Gebiet, das sich ihm ebenfalls erst jetzt, in den Jahren 1808 und 1809, recht erschloßt), mit ihm wohl in die Schranken treten*).

Auf einem Hauptgebiet der Lyrik konnte sich freiUch Uhland nicht entfernt mit Goethe vergleichen : auf dem der Liebeslyrik. Das Element, ohne welches eine solche sich nicht denken läßt: die sinnliche Erregung, war bei Uhland nur in ganz geringem Maße vorhanden ; das Sonett „Liebesfeuer" vom Jahr 1808 ist wohl das einzige Gedicht, in dem dieses Element rückhaltlos und mit dem Anschein des subjektiv Empfundenen zum Ausdruck kommt. Doch ist dieses Gedicht nicht in die Sammlung aufgenommen worden, dafür aber ein anderes, ganz kurz darauf entstandenes, „Die Zufriedenen", in welchem sich eine so matte und schwäch- liche Liebesempfindung ausspricht, daß man sich vorstellen kann, es sei unter den Gedichten gewesen, die Goethe bewogen haben,

^) 1809 kam „Des Knaben Wunderhorn" zum Abschluß.

^) Greifbares läßt sich über das Kapitel „Uhland und Goethe", wie überall, wo es sich mehr um Wahlverwandtschaft als um Einfluß handelt, wenig mehr sagen als das von F. Sintenis in der Abhandlung „Goethe's Einfluß auf Uhland" (Dorpat 1871 und: Neue Jahrb. für Philologie u. Pädagogik Bd. 106, S. 369 fT.) Hervorgehobene verglichen mit Herrn. Fischers (a. a. O. S. 43 f.) Einschränkungen und Zusätzen.

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den Band mißmutig aus der Hand zu legen ^). Wenn aber auch in Ulilands Liebeslyrik das sinnliche Element schwach vertreten ist, und wenn vollends eine lüsterne Behandlung des Erotischen ihn ungehalten machte wie er denn z.B. das schlüpfrige „Wunder- blümchen" sofort aus seinem Exemplar der Gedichte J. L. StoUs') entfernte , so lag ihm, wie er im „Graf Eberstein" bewies, doch jede Prüderie fem. Dünkte ihm ein Gedicht in das Element des Poetischen getaucht, so konnte er auch solchen, die seiner eigenen Axt fernlagen, wie Assurs (Assings) „Der Rücken"^) oder Thor- beckes „Der hohe Apfelbaum" das wärmste Lob spenden.

Auch wäre die Annahme irrig, daß ühlands Liebesgedichte der Grundlage der Erfahrung ganz entbehrt haben. Es wurden schon oben*) die Anzeichen hervorgehoben, welche für das Jahr 1804 auf ein frühes Liebeserlebnis schließen lassen. Obgleich nun sowohl die biographischen Hilfsmittel als Uhlands eigene Be- kenntnisse nicht zureichen, um bestimmte Behauptungen zu be- gründen, so erwächst uns hier doch die Notwendigkeit, wenigstens die möglichen Kombinationen zu erschöpfen, etwa schon ange- stellte zu vergleichen und zu berichtigen.

Läßt man Gedichte, in denen sich die Liebesempfindung ent- weder in oberflächlicher oder in sehr unbestimmter Weise kund- gibt (wie in „Entschluß", „Schlimme Nachbarschaft", „Nachts" und ähnliche), außer Betracht, und zieht nur solche zum Vergleich heran, die einem tieferen Gefühl ihren Ursprung zu verdanken scheinen, so ergibt sich folgende Reihe: „Mai- klage", Strophe 1 (Mai 1805), „Mein Gesang" (November 1805), «Letztes Lied" (Januar 1806), „An die Ferne" (Juli 1807), „Das Bild der Gestorbenen" (November 1807), „Hohe Liebe" (Februar 1808), „Ein Abend" (7. März 1808), „Kreislauf" (August 1808), .Rückleben" (September 1808, Juli 1809), „Er- träumter (ursprünglich: „Alter) Schmerz" (Januar 1810). Diesen

*) Siehe Goethes Gespräche mit Eckermann, herausgegeben von Dfinizer, I, S. 4ßf.

*) Vgl. Briefwechsel I, S. 226. Joseph Ludwig Stoll, Poetische Schriften (1811) I, S. 106 f.

') Aal Uhl&nds ausdrückliche Empfehlung in den .. Deutschen Diobterwald" (S. 14) aufgenommen. Vgl. Briefwechsel I, S. 206.

*) S, 12«.

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Gedichten ist gemeinsam die Klage um die verlorene Geliebte, so zwar, daß diese letztere bis zu dem im Mai 1806 entstandenen Gedicht „Im Frühling" als noch unter den Lebenden befindlich^), dann aber, und besonders bestimmt in den vier letzten Gedichten, als gestorben erscheint. Wollte man annehmen, dieser letztere Zug beruhe rein auf dichterischer Erfindung, so würde dies bei dem Dichter eine Sentimentalität voraussetzen, die er ja gerade in den Jahren nach 1805 bezw. 1806 überwunden hatte und die er tatsächlich in dieser Zeit nicht mehr an den Tag legte. Außer- dem sind diese Gedichte so schlicht vorgetragen und machen so sehr den Eindruck des Tiefempfundenen, daß man die An- nahme, Uhland habe an ein wirkliches Erlebnis angeknüpft, nicht wohl abweisen kann. Da nun zwei dieser Gedichte („Ein Abend" Vers 11; „Rückleben" Vers 15 f.) noch den Hinweis darauf enthalten, daß es sich um eine der Ge- spielinnen Uhlands aus der Kinderzeit handelt, unter diesen aber die einzige Wilhelmine Gmelin früh verstorben ist, so kann nur an diese gedacht werden. Frau Uhland selbst tritt dieser Vermutung nicht entgegen, sondern unterstützt sie eher, wenn sie sagt: „Frau Schwab war ihm [Uhland] als Landsmännin und als Freundin seiner Schwester schon lange werth, und wenn die Annahme Grund hat, daß ihre frühe schon als Braut verstorbene Schwester in des Dichters erster Jugend Eindruck auf sein Herz gemacht (die zwei Lieder : „Ein Abend" und „Rückleben" sollen sich auf sie beziehen), 80 wäre . . . noch ein weiterer Grund vorhanden gewesen, eine Anziehungskraft auf ihn auszuüben"^). Es liegt nahe, zu ver- muten, daß Frau Uhland hier mit den Worten : „wenn die Annahme Grund hat" mit feinem Takt ein sichereres Wissen verschleiert^). Wäre dem nicht so, hätte Uhland ihr gegenüber nie von seiner Jugendliebe gesprochen, so hätte Frau Uhland daraus entweder

^) Daß die Worte „Du schiedest hin" in „Mein Gesang", Vers 26 nicht buchstäblich zu nehmen sind, siehe unten S. 40.

*) Leben S. 141.

^) Vgl. Notter S. 152: „. . . wie denn auch Uhland . . . ganz der Mann war, eine solche Neigung, falls sie wirklich stattgefunden, als ewiges, vielleicht nur gegen die spätere Gefährtin seines Lebens enthüllte Geheimnis in der Brust zu tragen."

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mit Recht ein Argument gegen jene Vermutung machen können, oder, was wahrscheinlicher ist, sie hätte sie ganz übergangen. So viel also steht mindestens fest, daß Frau Uhland sich zu der Annahme hinneigte. Bei der Beurteilung der Angaben und Ver- mutungen, die Notter bietet^), ist zu berücksichtigen, daß er nur eine unvollkommene Kenntnis der Chronologie der Gedichte hatte; bezieht er doch das 1811 entstandene Sonett auf die 1806 verstorbene Wühelmine Gmelin. Gegen die Annahme, daß Uhland zu dieser früh eine tiefere Neigung gefaßt habe, macht Notter zwei Gründe geltend: einmal, daß die Freundinnen der Verstorbenen ihm zugemutet haben, ein Trauergedicht für sie zu verfassen, und sodann, daß er vermögend gewesen sei, dieser Bitte zu entsprechen^). Beide Gründe sind hinfällig. Wenn, wie Notter selbst sagt, auch Personen, die „mit Uhlands Jugend- geschichte zum Teil sehr genau bekannt" waren, keine bestimmte Aussage sich zu machen getrauten, so war es auch nicht ver- wunderlich, wenn die Freundinnen, die ihm ja gar nicht be- sonders nahe zu stehen brauchten, sich mit der Bitte um ein Trauer- gedicht an ihn wandten. Den zweiten Einwand Notters entkräftet die Tatsache, daß Wilhelmine Gmelin wenige Wochen vor ihrem Tode Braut geworden. Daraus folgt, daß, wenn je nähere Beziehungen zwischen Uhland und ihr stattgefunden hatten, schon seit einiger Zeit eine Entfremdung zwischen ihnen ein- getreten sein mußte. Uhland hatte sie also schon verloren, ehe sie gestorben war, so daß ihr Tod wohl noch erschütternd auf ihn wirken mußte, der peinigendere Schmerz aber schon überstanden war. Jetzt mußte ihm das Bild der Geliebten in verklärtem Lichte erscheinen, und die poetische Behandlung an sich schon brachte es mit sich, daß in den Gedichten, die ihrem Andenken geweiht waren, die Zeit der Entfremdung, die dem Tod voran- gegangen, keine Erwähnung mehr fand. Wenn aber Notter meint, „eine um die Verstorbene schwebende Zuneigung" habe sich erst durch „die Fertigung des Gedichtes und Vertiefung in die vorliegende Situation zur wirklichen Liebe entzündet", so ist dies psychologisch kaum verständlich, am wenigsten, daß eine also künstlich genährte Neigung noch nach Jahren ein so tief emp-

^) Notter, S. 161 ff.

*) Siehe Gedichte I, 8. 377 f.

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fundenes Gedicht wie „Ein Abend" habe ins Leben rufen können. So nachhaltig eine starke Empfindung, die einmal auf Uhland eingedrungen, in ihm fortwirkte, so fern lag es ihm, eine solche künstlich zu züchten.

Läßt man also die Beziehung jener nach 1806 entstandenen Gedichte auf Wilhelmine Gmelin gelten, so muß man annehmen, daß Uhland schon vor ihrem Tod, und ehe sie sich einem andern zuwandte, eine Neigung zu ihr gefaßt hatte, die in seinem Dichten so lange noch tiefe Spuren hinterlassen sollte. Bedenkt man ferner, daß Wilhelmine Gmelin, die als „ungemein reizend und seelen- haft" geschildert wird^), fast gleichen Alters mit Uhland war und mit ihm in Tübingen aufgewachsen ist, so liegt die Vermutung nahe, sie sei dieselbe, deren Spuren wir in einigen Gedichten des Jahres 1804 wahrnahmen. Das Gedicht „Kreislauf", auf das hier erst näher einzugehen ist, schlägt die Brücke. Der Dichter feiert hier das Gedicht ist im August 1808 verfaßt ein doppeltes Gedenken :

Es kehrt der Tag der hohen Liebesfreuden,

Die mir nach Jahren namenloser Leiden

So süsse Spuren noch im Herzen liessen.

Es kehrt der Tag, wo sich zu meinen Füssen

Die Gruft erschließt, in die mein Licht sich neiget . . .

Die Geliebte, von der ihm solche Freuden gekommen, ist also dieselbe wie die, welche er als tot betrauert. Die Zeit, in der beides, Freud und Leid, sich jährt, ist der Sommer. Die Frage ist nun nur noch, welches Jahr dem Dichter die Freuden, von denen er spricht, gebracht habe. Nur 1804 und 1805 können in Betracht kommen. Von diesen aber ist wahrscheinlicher das Jahr 1804, da im Jahr 1805 gerade solche Gedichte, in denen sich persönliche Empfindung ausspricht, Klagen über den Verlust der Geliebten enthalten:

Achl die Gute, die ich meine, Schenkt mir keinen Maienstrahl.

(„Maiklage", Vers 5f.)

und besonders in dem für diese Entwicklungsstufe eminent p«- sönlichen Gedicht „Mein Gesang" die Worte, mit denen er die

*) Vgl. Netter, S. 152 f.

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Geliebte auffordert, des entschwundenen Liebesglückes zu ge- denken:

Du aber zeuge, meine Traute,

DuFernemir,duNahedooh!

Du denkst der kindlich frohen Laute,

Du denkst der sel'gen Blicke noch.

An eine Tote kann der Dichter eich mit dieser Aufforderung nicht gewandt haben; die Worte „Du schiedest hin" sind darum nicht im Sinne des Hinscheidens aus dem Leben, sondern im Sinne einer räumlichen oder innerlichen Trennung aufzufassen. Das letztere liegt insofern näher, als nur mit dieser Annahme der Schluß des Gedichts sich rechtfertigt, der sonst frivol klingen würde:

Was bleibt mir , . .

Als mich schmerzlich hinzueehnen

In neue goldne Liebeszeit?

Am einleuchtendsten aber rekonstruiert sich der wahre Sachverhalt aus dem Gedicht „Im Frühling" (Anfang 1806). Nachdem der Dichter wehmütig der Gunst gedacht, die ihm die GeUebte früher im Lenz erzeigt hatte, berichtet er, wie sie sich jetzt zu ihm verhalte:

Wenn Sie jetzt, durch Blüthen eilend. In den goldnen Locken fleugt. Dann, im raschen Laufe weilend, Sich zur dunkeln Blume beugt: Solche Blum' ist mein Geschick , Weh! in eines Kindes Hand. Aber Sie, mit treuem Blicke, Steckt sie fest ans Busenband.

Wenn diesem Gedicht irgend persönliche Bedeutung beizu- messen, und wenn es mit der ausführlich hier erörterten Jugendliebe Uhlands in Zusammenhang zu bringen ist, so geht daraus hervor, daß das noch sehr jugendliche Mädchen des Dichters viel tiefere Neigung wohl anfangs vorübergehend erwidert hat, dann aber, aus Laune oder weil ihr Herz sie nach einer anderen Seite zog, die ohnedies gewiß zurückhaltende Huldigung des schüchternen Liebhabers sich eben gefallen ließ, ohne sie zu belohnen.

Wenn Uhland die verstorbene Jugendgelicbte noch so viele Jahre lang erst 1810 erlischt ihre Spur in treuem Gedächtnis

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behielt und von der Erinnerung an sie zehrte, so beweist schon dies, wie wenig er von erotischen Anwandlungen heimgesucht wurde. So war denn sein Leben, da auch seine Freunde ferne waren in der Zeit, da er seine Studien abschloß, in den Jahren

1808 und 1809, sehr einsam, und Freud und Leid kam ihm einzig von der Poesie. Während er in späteren Jahren die starken Schwankungen, denen seine dichterische Produktion unterworfen war, mit gelassener Resignation hinnimmt, so wartet er jetzt mit Ungeduld auf die poetische Stimmung und läßt sich von ihrem Ausbleiben tief entmutigen. „Was die Stimmungen betrifft," schreibt er am 22. April 1808 an Mayer, „so bin ich jetzt eigent- lich in gar keiner, klanglos, wie ein Stein, oder nicht wie ein Stein, denn dieser hat doch Widerhall"'); und am 28. Juli, „. . . ob ich gleich seit meinem Facultäts-Examen nicht viel gearbeitet habe und gewünscht hätte, daß einmal wieder eine poetische Stimmung in mir wach würde, so brachte ich doch indeß nichts zu Stande, als ein Hundert Verse zu einem Trauerspiele. . . . Aber gleich war der Anflug wieder verschwunden und jetzt kommen wieder die schweren Zeiten"'). Diese Klage war berechtigt, denn von Ende April bis zum Schluß des Jahres entstanden nur drei Gedichte. Dann aber setzte die Produktion wieder ein und hielt ziemlich gleichmäßig an bis gegen den Zeitpunkt der Abreise nach Paris im Frühjahr 1810. Trotzdem finden sich gegen Ende des Jahres

1809 erneute und wiederholte Klagen ernster Art: Uhland be- ginnt an seinem Dichten zu zweifeln: „Meine Gedichte hab' ich in neuerer Zeit . . . mit ziemlich mißtrauischen Augen betrachtet. Es ist mir überhaupt oft, als wäre Manches nicht Poesie, was ich sonst dafür hielt "^). In ähnlicher Weise wie nach der Krisis vom Jahr 1806 wendet er sich gegen die Poesie des lyrischen Er- gusses, denn er fährt fort: „Das bloße Reflectieren oder das Aus- sprechen von Gefühlen . . . scheint mir nemlich nicht die eigent- liche Poesie auszumachen. Schaffen soll der Dichter, Neues hervorbringen, nicht bloß leiden und das Gegebene beleuchten." Aber die frohe, unternehmungslustige Zuversicht, die sich trotz der Abwendung von seinem seitherigen Dichten in dem Brief

^) Mayer I, S. 78.

*) Ebenda I, S. 89.

^) An K. Mayer, 12, August 1809, I, S. 129.

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an Seckendorf vom 6. März 1807 ausgesprochen hatte, fehlt jetzt, und Uhland geht bis zu Zweifehl an seinem dichterischen Beruf: „Wie weit in dieser Rücksicht meine Gedichte so zu heißen verdienen, kann ich nicht entscheiden. So viel aber mein ich doch, daß Kerner ungleich mehr Dichter ist, als ich. " Er ver- mißt den rechten schöpferischen Funken: „Ich wende mich," heißt es wenig später in einem anderen Brief ^), „oft weniger aus Lust und Drang, als um mich aus den Bedrängnissen zu flüchten, zur Poesie. Die Resultate mögen aber auch darnach sein." In der Tat ist, wenn man ganz vereinzelte geglückte Balladen aus- nimmt, das Vorwiegen des Verstandesmäßigen in den Ende 1809 und Anfang 1810 entstandenen Gedichten unverkennbar. Bald hierhin, bald dorthin lenkt der Dichter die Wünschelrute des Sinngedichts: Liebe, Natur, Kunst, ja antike Mythologie und Sage*) wird in seinen Bereich gezogen; aber obgleich es in der Form große Mannigfaltigkeit aufweist, vom Distichon sich bis zum Sonett bewegte, so konnte es doch den wahren Zustand des Dichters, den Mangel an innerster Nötigung zum Schaffen, nicht verdecken. Uhland selbst meinte, es fehle ihm Muße, innere Ruhe und Lebensanregung, besonders die letztere: „Dem Dichter mag freiUch das Umtreiben in der Fremde unter den Menschen das Vortheilhaf teste sein. Was mein Treiben in der Poeterei be- trifft, so fehlte mir bisher, besonders in der letzten Zeit, jenes Leben"'). Man sieht, Uhland, der seine ganze Jugendzeit in dem engen Kreis der Verwandten und Bekannten der kleinen Stadt und des kleinen Heimatlands zugebracht hatte, versprach sich viel von einem gründlichen Wechsel der Lebensverhältnisse.

4. Mitte 1810 bis Ende 1812

Anfangs Mai trat Uhland endlich die lang geplante und immer wieder verschobene Reise nach Paris an. Wenn man aber erwartet,

*) An K. Mayer, 9. September 1800, I, S. 134.

') Die Sage von Narziß und Echo wurde in einem Nachmittag in einem vierzehn Glieder zahlenden Üiatichenzyklus behandoll. Siehe Gedichte II, 40 f.

•) An K. Mayer, 6, Februar 1810, I, 8. 145.

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er habe sich der Lebensanregung, die sich ihm in dieser glänzenden Stadt in Fülle bot, begierig bemächtigt und sie für sein Dichten nutzbar gemacht, so ist das ein Irrtum. Das im Januar 1810 be- gonnene Tagbuch zeigt, wie Uhland, nur mit einigen Lands- leuten Umgang pflegend, sich mit vollem Eifer auf das Studium der romanischen Sprachen und Literaturen warf kaum daß er ab und zu dem Theater oder den Kunstsammlungen Besuche abstattete. Kein Wunder, daß die Lyrik den gelehrten Interessen gegenüber ganz in den Hintergrund trat: von ganz wenigen epigrammatischen Kleinigkeiten abgesehen, ist ein einziges subjektiv empfundenes Gedicht, „Todesgefühl", in Paris ent- standen und selbst dieses wurde „veranlaßt durch die Gefühle der Nacht "^). Dieser verschwindenden lyrischen Produktion stehen nicht weniger als sechzehn, zum Teil umfängliche und be- deutende erzählende Gedichte, worunter freilich einige Über- setzungen, gegenüber ein Beweis, wie die Balladendichtung bei Uhland anderen Bedingungen unterworfen war als die lyrische Dichtung. Wenn auch das Gelehrtenleben, das er in Paris führte, ihn unmittelbar zu befriedigen schien und er nur wünschte, es noch länger ausdehnen zu können, so verhehlte er sich, als er unmittelbar nach seiner Heimkehr das Fazit aus seiner Reise zog, doch nicht, was ihm in dieser Zeit gefehlt hatte: Ein- drücke und Erlebnisse des Gemütes, die der Nährboden der Lyrik sind; denn noch war der dichterische Drang stark genug, um sich den wissenschaftlichen Neigungen gegenüber zu behaupten: „Wenn ich den Werth einer Reise," schreibt er an Mayer, „nach ihrem Werthe für das Gemüth schätze, worin ich immer mehr das höchste Interesse des Lebens anerkenne, so war wahrschein- lich die Deinige um Vieles bedeutender als die meinige "^). Doch scheint der Einzug in Tübingen für Uhland, trotz seiner An- hängUchkeit an die Heimat, kein fröhlicher gewesen zu sein. „Seit acht Tagen bin ich wieder hier und fühle mich entsetzlich ein- sam"^). Es bangt ihm vor der Enge der heimischen Verhält- nisse, und die Aussicht, sein Leben als Beamter beschließen zu müssen, hat ihm durchaus nichts Verlockendes. „. . . es scheint

^) Tagbuch, 23. November 1810.

*) An K. Mayer, 23. Februar 1811, I, S. 170.

*) Ebenda S. 172.

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mir, daß ich hier bleiben und seiner Zeit Prokurator werden werde; es ist mir, wie wenn ich in die Eiswüsten von Sibirien hineinliefe"^). So bedarf er einiger Zeit mid Anstrengung, um sich der alten Lebensweise und besonders der leidigen juristischen Tätigkeit, die er in Paris ganz beiseite gelassen hatte, wieder anzupassen und das Gleichgewicht der Seele wiederherzustellen. „Ich bin jetzt," schreibt er, nachdem er das „Pantheon" erhalten, in dem unter anderem Gedichte von ihm und Fouque veröffent- licht waren, „für solche Leetüre . . . ziemhch verstimmt, und fühle mich so recht wieder in die alte Bangigkeit verstrickt, besonder» durch meine erste juridische Arbeit"^). Noch kn September gibt er der Hoffnung Raum, von Tübingen wegzukommen, und klagt : J)er hiesige Aufenthalt ist mir entleidet "^). Einmal erwähnt er auch die verstimmenden Zeitereignisse*), doch ist von deren Ein- fluß in Tagbuch, Briefwechsel und Gedichten sonst nichts zu merken. Einsamkeit und widrige Geschäfte allein sind es, die ihm,, auch als er sein altes Leben in der Heimat wieder aufgenommen^ noch trübe Stimmungen bereiten und noch manche Klagen ent- locken. Allein für die Trennung von den Freunden entschädigt er sich durch einen sehr regen brieflichen Verkehr, besonders mit Kemer und K. Mayer, mit denen er literarische und poetische (Gegenstände ausgiebig bespricht. Man würde sich ein falsches Bild von seinem inneren Zustand machen, wollte man jenen pessimistischen Äußerungen zu viel Gewicht beilegen. Schon ein Blick auf die ungemein reiche dichterische Ernte des Jahres 1811 belehrt uns eines Besseren: es ist das erträgnisreichste seines ganzen Lebens. Nach der Rückkehr von Paris bis Schluß des Jahres sind (einschließlich der wenigen Übersetzungen bezw. Bearbeitungen) 48''), im ganzen Jahr 51 Gedichte entstanden. Häufiger, anhaltender und intensiver als je suchen ihn produktive

*) An K. Mayer, 12. August 1800, I, S. 129.

») An denuelben, 6. April 1811, I, S. 174.

') An denHelben, 21. September 1811, I, S. 180 f.

*) Ebenda I. S. 186.

') In dem chronologischen Verzeichnis der Gedichte am Schluß ▼on E. Sohmidts Ausgabe (II, 362 IT.) ist irrtümlich das Gedicht „Tausch" Tom 10. Dezember 1809 auch im Jahr 1811 angeführt. JJie beigefügten Daten (3. Februar, 1. März) sind auf „Vorschlag" (lag buch „Die Loose") zu beziehen.

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Stimmungen heim: viermal entstanden in diesem Jahre zwei, zweimal drei Gedichte an einem Vormittag, auf den 28. August 1811 entfallen vier, auf den 21. März des folgenden Jahres gar sieben Gedichte. Im ganzen ist der größere Teil des Jahres 1811 und der Anfang von 1812 für Uhland eine Zeit glücklichen Schaffens und ein Höhepunkt künstlerischen Könnens. Technische Hindernisse scheint er gar nicht zu kennen. Meistert er doch die Sonettform, auf deren technische Schwierigkeiten er selbst hinwies^), derart, daß ihm einmal in einem Zeitraum von zwanzig Tagen (18. August bis 7. September) nicht weniger als neun Sonette gelingen, worunter zweimal je zwei, einmal gar drei an einem Vormittag entstanden sind'). Allein auch andere Gedichte, wie „Das Thal", „Scheiden", die Ballade „Märchen", „Winterreise", „Einkehr" u. s. w. tragen den Stempel einer formellen Vollkommenheit, einer Un- gezwungenheit des Ausdrucks und Satzbaus, einer fein abge- stuften Anpassung der Form und des Umfangs an den Inhalt, daß man sich bei aller Eigenart, die dem Lyriker Uhland gerade 1811 auf 1812 eigen ist, noch häufiger als in der vorangegangenen Zeit an Goethe erinnert fühlt. Zu der angeregten produktiven Stimmung dieser zwei Jahre trug nicht wenig der Umstand bei, daß die Freunde die ihnen mit der glücklichen Zeit des Sonntags- blattes liebgewordene Gewohnheit, sich ihre Gedichte gleich nach dem Entstehen zur Kritik vorzulegen, mit erneutem Eifer aufnahmen und sich gegenseitig zu fleißigem Dichten anspornten. Außerdem galt es, Kerners „Poetischen Almanach für das Jahr 1812" und den „Deutschen Dichterwald" gemeinsam zuzurüsten, die Beiträge der Mitarbeiter kritisch zu sichten und mit eigenen Produkten möglichst vorteilhaft hervorzutreten, wie denn die Be- ratungen über diesen Gegenstand einen breiten Raum in der Korrespondenz Uhlands von 1811 und 1812 einnehmen. Nimmt man dazu noch die Tatsache, daß Uhland sich, wie fast jede Seite

^) An Graf von Loben, 18. März 1812, Leben S. 81 f.

^) Auch bei anderen Dichtern, wie Bürger, A. W. Schlegel, Tieok u. a. trat damals, teilweise im Zusammenhang mit dem „Sonettenkrieg" (ca. 1803 bis 1813) die Sonettenproduktion periodisch, um nicht zu sagen epidemisch, auf. Vgl. Welti, Die Geschichte des Sonetts (1884) S. 151 f., 180.

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des Briefwechsels und des Tagbuchs beweist, zu dieser Zeit einer ausgedehnten poetischen Lektüre hingab, so begreift man, daß das Schmerzliche, welches dem so in eine ganz poetische Atmo- sphäre Gehüllten aus dem Zusammenstoß der Welt der Dichtung mit der nüchternen Wirklichkeit erwuchs, ihm das Schaffens- glück doppelt zum Bewußtsein kommen ließ.

In dieser Zeit war Uhland ganz Dichter. Die wissenschaftliche Betätigung trat zurück. Den Zeitereignissen hielt er sich noch fem. Nur im dichterischen Schaffen suchte und fand er volle Befriedigung, Die Poesie ist ihm das einzige Heilmittel gegen das schale, alltägliche Leben. Nur dadurch, daß die Poesie dieses vernichtet oder läutert, wird das Leben lebenswert. In diesem Sinne sucht er den schon damals von düsteren Stim- mungen schwer heimgesuchten Kerner zu trösten: „Glaube ja nicht, daß Du allein der Traurige bist und daß jene Schmerzen Dir allein zugehören. Welches edlere Gemüt kennt sie nicht? Es ist die himmliche Flamme, die ihr irdisches Leben zu Asche gebrannt hat und ängstlich nach Brennstoff umherflackert und ihn aus den Höhen saugen wül. . . . Warum sind die beschränk- testen Menschen die zufriedensten und lächeln die Simpel immer ? Weil die Erkenntnis des höheren Lebens, die Poesie, fehlt, die das schale, niedere Leben vernichtet; nein! nicht vernichten soll sie es, läutern, erheben; und kann sie es nicht immer, so läßt sie es fallen, wie der Adler die Schildkröte, und fliegt allein der Sonne zu . . . laß uns nicht sterben ! wenn uns kein Handeln ver- gönnt ist, so laß uns leiden und dichten!"^).

Und doch, trotz dieses Hochgefühls poetischer Betätigung, kommen ihm auch jetzt wieder, wenigstens vorübergehend, jene Zweifel über sein Dichten, die ihn schon 1809 heimgesucht hatten: »Verschiedene kleine Lieder habe ich gedichtet, schreibt er an K. Mayer ^), doch fehlt meinem Dichten jetzt der Zusammen- hang, die bestimmte Richtung, ein herrschendes Princip. Ich bemerke dies besonders im Gegensatze von Kerners neueren Dichtungen, in denen Wald und Waldleben die Einheit bildet." Und in ähnlicher Weise äußert er sich Kemer gegenüber^), daß

^) An Kemer, 8. Februar 1812, I, S. 277.

*) An K. Mayer, am 30. Novombor 1811, I, 8. 212.

*) Am 7. Dezember 1811, I, 8. 256 f.

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er sich beim Dichten zu sehr zersplittere, „vom Hundertsten ins Tausendste komme," daß es ihm „an einer Richtung fehle".

Das Auftauchen solcher Bedenken, zumal in diesem Zeitpunkt, ist höchst bemerkenswert. Uhland befindet sich damals in einer Periode lyrischer Dichtung. (Die erzählenden Gedichte, be- sonders diejenigen des Jahres 1811, stehen an Zahl und Bedeutung hinter den lyrischen zurück.) Alles begünstigt die Entfaltung seiner lyrischen Fähigkeiten: die verhältnismäßig reichliche Muße, die der freilich ihm widerstrebende Beruf ihm läßt; die Stille und Zurückgezogenheit seines Aufenthalts; der rege Aus- tausch mit teilnehmenden Freunden; eine eminente Leichtigkeit in der Handhabung der Form und in der Produktion überhaupt; und endlich die Möglichkeit, sich in eigenen Almanachen in der literarischen Welt alsbald geltend zu machen nichts oder wenig scheint zu mangeln; und doch fehlt Uhland die volle Be- friedigung: es ist ihm, als sei in seiner Dichterpersönlichkeit eine Lücke ; schmerzlich scheint er etwas zu vermissen. Er nennt es Richtung, Zusammenhang, Prinzip, näher aber war er der Wahr- heit schon im Jahr 1809 gekommen, als er in einem Brief an K. Mayer ^) meinte, es sei vielleicht nicht so übel, wenn der Dichter in seinem Inneren etwas zerfalle und ihm das jugendliche Schwel- gen in Gefühlen und Reflexionen vergehe, damit er mehr das Äußere, das Leben, ergreife.

Der ferne gerückte Beobachter, der das ganze Leben und Schaffen des Dichters überblickt, vermag heute, was Uhland in seinem lyrischen Dichten ahnend vermißte, deutlicher zu erkennen: es ist der Ballast des Lebens; es ist das die Grundfesten der Persönlichkeit erschütternde Erlebnis; eines jener Ereignisse, die plötzlich in dem eigenen Wesen, dessen man so sicher zu sein glaubte, eine unergründhche Kluft aufreißen, und in deren Sturm auch der stärkste Arm die Macht über das Steuer zu verlieren droht. Derartiges hat Uhland nicht bloß nie erlebt, sondern was wichtiger ist es fehlten in seiner Natur die Grundbedingungen für die Möglichkeit eines solchen Erlebnisses. Man hat darauf hingewiesen, wie ruhig und ereignislos im Grunde Uhlands Leben dahingeflossen sei. Allein, wenn es überhaupt gilt, daß der Mensch selbst sich das Leben

1) Vom 9. September 1809, I, S. 134.

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gestaltet, so hätte, abgesehen davon, Uhlands Leben genug An- laß zu Konflikten gegeben: es sei nur erinnert an den ihm tief widerstrebenden Beruf eines Juristen; ferner an die Liebe zu seiner späteren Gattin, die Uhland lange Zeit in sich verschloß, weil die Verhältnisse eine Vereinigung nicht zuließen^); oder endlich an den Konflikt zwischen dem geliebten akademischen Lehrberuf und der ihm überlästigen, nur pflichtmäßig übernom- menen politischen Tätigkeit. Uhlands Persönlichkeit war aber von vornherein zu fest gefügt, als daß ein solcher Konflikt hätte reifen und ihn auch nur vorübergehend wankend machen können. Den Mann, der einen großen Teil seines Hochzeitstages in der Kammersitzung verbrachte, beherrschten unverrückbare sittliche Normen. Uhland besaß Elastizität des Geistes und des Gemütes davon legen seine Gedichte sattsam Zeugnis ab , allein er besaß nicht die geringste Elastizität der moralischen Haltung. Gibt man dies zu und nimmt man diese letztere Eigenschaft in dem Sinne, in dem man sie dem Goethe, der das Idyll von Sesenheim erleben und in der Liebe zu Frau von Stein vielleicht seines großen Lebens höchstes Glück und größten Reichtum finden durfte, zuschreiben muß, so versteht man ohne weitere Erörterung, warum Uhland Erfahrungen, wie die oben angedeute- ten, erspart oder versagt blieben. Nie hat sich Uhland an das Leben verloren oder hingegeben; als Jüngling stand er ihm so sicher gegenüber wie in höherem Alter. Man hat bei der hohen Bewunderung, die man Uhlands Charakter jederzeit gezollt hat, wenig beachtet, wie viel ererbter, wie viel im Leben errungener Besitz war. Vielleicht ist gerade in dem geringen Maß solchen erworbenen Gutes jener schwer definierbare Mangel der Uhland- schen Ljmk zu finden, den jeder fühlen muß, der, abgesehen von den heiteren Tönen, nicht nur sanfte Rührung, weihevollen Ernst oder gefaßte Kraft in der Lyrik sucht, sondern auch die Spuren von einem Erlebnis irgendwelcher Art, das die Persönlichkeit des Dichters in ihren Wurzeln erzittern machte.

Der Umstand, daß Uhland gerade in dieser Zeit, und nach- mals (d. h. nach 1812) nie mehr, solche Bedenken und Klagen über sein Dichten äußerte, ist aus der damals in ihm vorhandenen

») Vgl. Üben 8. 167.

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Intensität des lyrischen Dranges zu erklären, der in dem Leben nicht genügende Nahrung fand. Sich aber eigene Lagen und Schicksale vorzuspiegeln, denen in der Wirklichkeit nichts ent- sprach, war Uhland nicht willens^). Wohl aber verstand er es, einen scheinbar noch so geringfügigen Eindruck, den ihm das Leben bot, für die Poesie nutzbar zu machen, indem er ihn derart steigerte, ergänzte und umgestaltete, daß etwas ganz Neues daraus entstand"). In diesem Sinn ist auch das Geständnis zu verstehen, das Uhland selbst 1811 in dem Sonett „Entschuldigung" machte :

Was ich in Liedern manchesmal berichte

Von Küssen in vertrauter Abends bunde,

Von der Umarmung wonnevollem Bunde,

Ach! Traum ist, leider, Alles und Gedichte.

Es ist hier der Ort, den Dichter gegen sich selbst und gegen diejenigen in Schutz zu nehmen, welche sich durch diese Worte zu der Annahme berechtigt glauben, Uhlands Liebeslyrik beruhe größtenteils auf reiner Erfindung und habe der Anregung durch das Leben fast ganz ermangelt. Daß diese Ansicht nicht nur im allgemeinen, sondern insbesondere auch für den engeren hier in Frage stehenden Zeitraum irrig ist, mögen einige aus dem Tagbuch ausgehobene Notizen erweisen. Diese sind freilich äußerst lakonisch und durch Abkürzung der Namen wohl ge- flissentlich verschleiert. Doch verdienen gerade, weil Uhland mit seinen Aufzeichnungen so sehr geizte, auch geringfügige Bemerkungen Beachtung, wie die dreimalige ausdrückliche Er- wähnung der Anwesenheit von Sophie Schott bei Tanzgesell- schaften: 29. April 1812: „Erstes Kasino; S. Seh, grün und rotes Band"; 15. Juh 1812: „Kasino, S. S." und 28, November 1812: „Tanz mit S, Schott". Diese und ähnliche Notizen zeigen auch, daß sich Uhland, trotz seines ungelenken Wesens, nicht ungern auch in einem größeren geselligen Kreis bewegte. Freilich mag ihn dabei seine Schüchternheit, die er in dem Gedicht „Entschluß"

^) Daher bezeichnete er es später im Stilistikum gelegentlich als Unnatur, wenn in der Dichtung Schmerz zum Ausdruck komme, der nicht ein unfreiwillig quälender, sondern ein selbstgefällig gepflegter sei. (W. L. Holland, Zu L. Uhlands Gedächtnis, 1886, S. 54 f.)

") Das Nähere über dieses Verfahren siehe im 2, Abschnitt. Haag, Uhland 4

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ironisch beleuchtet hat, im Verkehr mit dem weiblichen Ge- schlecht oft unliebsam gehemmt haben. Ärgerlich vermerkt er einmal anläßlich eines Herbstkranzes : „H verwünschte Blödig- keit, die mich nicht mit ihr sprechen ließ"'). Beachtung verdient auch die Aufzeichnung vom 7. April 1811: „Spaziergang in das Käsebachtal . . . [folgen Naturbilder]. Gesellschaft bei Klotz; die Minnigliche, der Spitzberg, die Wurmlinger Kapelle". Die Bedeutung dieser Notiz wird dadurch gehoben, daß Uhland Tags darauf schrieb: „Idee zu einem Gedicht von einer Liebe, welche hätte werden können " ; und am nächstfolgenden Tag : „Beruhigung und Sicherheit des Liebenden in Ungunst und Öde der Zeit, durch den Gedanken, daß ein Herz ihrer [seiner?] gedenkt." Nimmt man dazu den Umstand, daß Uhland genau ein Jahr später „zum Andenken an das vorige Jahr" dieselben Wege ging"), 80 liegen in diesen Notizen vielleicht die Elemente vor zu dem „nach einer früheren Idee" es kann dem Inhalt nach wohl kaum eine andere sein, als die vom 8. und 9. Aprü am 3. September 1811 gedichteten Sonette „Trost". Der Dichter beklagt hier die Trennung von der Geliebten, die nun schon seit dem Frühjahr währen soll, und über die er sich nur in dem Gedanken tröstet, die Feme werde ihm bekennen, daß sie mit Sehnsucht seiner ge- dacht. Liest man dieses Gedicht ohne Kenntnis des hier ange- deuteten Zusammenhangs, so mag man, da Uhland damals doch wohl von einer tieferen Neigung frei war, annehmen, die aus- gesprochene Empfindung sei rein aus der Luft gegrifEen. So aber können wir wahrnehmen, wie der Dichter doch an das Leben an- knüpfte, indem er auch eine schwächere Anregung, die ihm das- selbe bot, festzuhalten und seinen poetischen Faden daraus zu spinnen wußte. Und bei wievielen anderen Gedichten, über deren Entstehung wir zufällig nicht unterrichtet sind, mag das Ver- fahren ein ähnliches gewesen sein! Endlich sei in diesem Zu- sammenhang noch eine Tagbuchnotiz von 1813 vorgreifend erwähnt, die sich zwar jeder Deutung entzieht, aber schon an sich für die Kenntnis von Uhlands Innenleben merkwürdig genug ist. Sie lautet: „Fahrt nach Stuttgart mit Professor Schott, Professor Baur und Wilmelo Schott. Gang den Lustnauer Berg

*) Tagbuoh, 19. Oktober 1811. *) Ebenda, 7. AprU 1812.

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hinauf, Erbleichen [?] auf der Echterdinger Höhe. ... Zu Hause süße Thränen " ^ ). Und drei Tage darauf : „Licht meiner Phantasie, Gluth meines Herzens".

Die letzteren Aufzeichnungen zeigen, daß hinter den herben, vielen starr und unbeweglich erscheinenden Zügen Uhlands^) sich ein weiches, der Rührung wohl zugängliches Gemüt ver- steckte. Wir wissen, daß der Mann, der sich in allen Lebenslagen so hart war, im geheimen, wenigstens in der Jugend- und Dichter- periode, nicht selten von Tränen überwältigt wurde. So knüpfte er an die Lektüre von Kerners „Goldener" die Betrachtung im Tagbuch ^): „Wenn mich etwas recht entzückt, ob es gleich an sich nicht von der rührenden Art ist, so pflegt es mich Thränen zu kosten." Aber selbst etwas Geringfügiges, Äußerliches konnte diese Wirkung hervorbringen. Auf der Reise nach Paris schrieb er in Koblenz nach allerhand Reiseverdrießlichkeiten ins Tagbuch: „Abends Erinnerung mit Thränen an Carlsruhe"*).

Am Tag, an dem er die ungern übernommene Stelle im Mini- sterium antrat, heißt es: „Gang nach Feuerbach mit Thränen in den Augen. Wie das gequälte Herz sich nur vor Gott auf- schließt"''). So verbindet sich mit der Rührung religiöse Er- griffenheit — wie Uhland denn überhaupt in bedrängten Zeiten Zuflucht zum Gebet genommen hat: als er seinen Austritt aus dem Ministerium durchzufechten hatte (am 9. Mai 1814) ver- zeichnete er früh das Wort „Gebet", und Abends, nach erledigter Angelegenheit das Wort „Dankgebet". Das Gefühl inniger Zu- sammengehörigkeit mit einem höheren Wesen, das sich in diesen Worten kundgibt, und ein rein auf Gefühlsgründe gestützter unerschütterlicher Unsterblichkeitsglaube bezeichnen Uhlands Stellung zur Religion, die deshalb auch keiner Veränderung unter- worfen war'^'). In der Lyrik erscheint die religiöse Vorstellungs- und Gefühlswelt nur selten im Vordergrund, wie in dem 1812 ver-

^) Tagbuch, 18. AprU 1813.

^) Vgl. Kreutzers Begegnung mit Uhland, Notier S. 266.

^) Tagbuch, 5. September 1811.

*) Wo er kurz vorher einen angenehmen Aufenthalt gehabt. Tag- buch S. 12.

^) 19. Dezember 1812.

'') Vgl. auch die Briefe an die Mutter vom 22. Juni 1816 und vom 9. August 1816. Leben S. 103 f., 120 f.

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faßten Sonett „An den Unsiclitbaren"^); meist klingt sie nur an, sei es in der Hoffnung auf ein künftiges Leben, sei es in dem Gefühl der Andacht, das sich bei Uhland schon früh an die durch Natureindrücke hervorgerufene Ergriffenheit anschloß. Es gibt für das Wesen der Uhlandschen Lyrik wohl nichts, was bezeich- nender wäre, als die Art und Weise, wie Naturbild, Rührung und Ewigkeitsgedanken in den wenigen „Ruhethal" betitelten Zeilen zum Gedicht verschmolzen sind:

Wann im letzten Abendstrahl Goldne Wolkenberge steigen Und wie Alpen sich erzeigen. Frag' ich oft mit Thränen: Liegt wohl zwischen jenen Mein ersehntes Ruhethal?

Die Verse sind im Februar 1812 bei „einem Spaziergang auf das Schloß" entstanden, und wie dieses, so verdankte gar manches Lied^) aus jener Zeit seine Entstehung den einsamen Gängen, die Uhland damals in der anmutigen Umgebung Tübingens zu machen liebte. Gern ging er immer wieder dieselben ihm liebge- wordenen Wege; besonders bevorzugte er das Käsebachtal ^) nördlich der Stadt, den Schloßberg, den Spitzberg, die schon 1805 besungene Wurmlinger Kapelle und den österberg*), der

^) Das Gedicht hat inhaltlich mit Fr. Schlegels Aufsatz über die Philosophie im Athenäum (II, 1 39), durch den es laut Tagbuch (13. März 1812) veranlaßt sein soll, nichts gemein.

*) Z. B. „Die theure Stelle"; die meisten Gedichte aus dem Zyklus der Frühlingulieder; das „Thal", „Verborgenes Leid"; „Winterreise"; „An Kerner"; „Sonett" (an K. Mayer); „An einem heitern Morgen".

^) Man hört vielfach als das Lieblingstal des Dichters das Wank- heimer Tal nennen, wo Uhland viele seiner Lieder gedichtet haben soll. Diese irrtümliche Tradition erklärt sich vielleicht daraus, daß Uhland später, nachdem er für immer nach Tübingen zurückgekehrt, diesen Spaziergang bevorzugte. Damals aber war seine Lyrik schon fast ganz versiegt. Im l'agbuch wird das Wankheimer l'al nie, das Käsebachtal aber unzäbligemal genannt. Nottors (S. 169 f.) und Sintenis* (a. a. 0. 8. 20 = Neue Jahrbücher für Phil. u. Päd. 106, 1872, S. 384) Irrtum, die das Gedicht „Das Thal" auf das Wankheimer Tal beziehen, wird durch da* Tagbuch (19. Juni 1811) korrigiert.

*) Mit dieser örtliohkeit verknüpften sich ihm alte poetische Er- innerangen. Schon 1803 hatte er dort den Plan zu einem Gesang „Alboin und Kunimund" entworfen und teilweise ausgeführt. S. Nägele, a. a. 0. S. 9.

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damals noch von Heideland bedeckt war. Mit dem im Tagbuch vielgenannten „Tannenwald" ist der vom Schloßberg zur Wurm- linger Kapelle sich hinziehende bewaldete Bergrücken gemeint und insbesondere der Teil, von dem man gegen Nordwesten einen Ausblick gegen den Schwarzwald hat. Uhland liebte es, diese Gänge zu jeder Tages- und Jahreszeit zu machen, und die zahlreichen, meist in knappster Form gehaltenen Naturskizzen, die er im Tagbuch festhielt und die oft die Vorstufe zu einem Ge- dicht darstellen, beweisen, wie er in die individuelle Stimmung der geliebten Gegend eindrang und sie zu der seinen machte'). Diese intime Fühlung mit einer ihm befreundeten Natur trug nicht wenig dazu bei, daß sich in jener Zeit der lyrische Drang in einer Weise betätigte wie kaum zu einer anderen Zeit. Und diesen Umgang mehr als den mit befreundeten Menschen mußte Uhland nach seiner Übersiedlung nach Stuttgart aufs schmerz- lichste vermissen. Er versäumte daher später nie, bei gelegent- lichen Besuchen, auch wenn sie noch so kurz waren, die alten Wege aufzusuchen, und auch seiner Braut wies er, als er sie in Tübingen einführte, die altvertrauten Plätze. „Wehmüthiges Heimathsgefühl beim Überblick der Stadt und der Thäler" schrieb er einmal, als er Tübingen wieder den Rücken kehren mußte, ins Tagbuch ^). Grenzt aber diese Anhänglichkeit an die Scholle auch bisweilen nah ans Kleinliche, wenn er z. B. bei einer Wanderung in das benachbarte Baden von Wehmut ergriffen wurde, als er den württembergischen Schwarzwald im Rücken hatte"), oder wenn er in späteren Jahren auf einer größeren Reise, am Tag nachdem er an seinem Ziel, in Wien, angekommen, sich schon wieder nach der Heimat sehnte''), so ist doch dieser Zug auch mit den starken Seiten seiner dichterischen PersönUchkeit so eng verbunden, daß man sich das Bild derselben ohne ihn nicht denken kann. Uhlands Naturgefühl war innig verwachsen mit der heimatlichen Land- schaft, an der sein Herz hing. Ihre sanften Linien zeichnete seine Naturlyrik nach und ihre stillen Reize zu ergründen ward

^) Vgl. u. a. Tagbuch, 8.Aprül811; 14 f. Mai 1811; 2. Oktober 1811; 4. August 1812.

^) Am 17. Juli 1818.

^) Tagbuch, 9. Dezember 1818.

^) Leben S, 260. Brief an seine Frau vom 10. Juli 1838.

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er nicht müde. Die unruhige Wanderlust der norddeutschen Romantiker war ihm fern^). Zwar reiste er nicht ungern; doch waren die Eindrücke, die ihm die Reisen brachten, fast ohne Bedeutung für ssine Kunst ^). Diese nahm sie nicht an. Nur die heimatliche Gegend weckte seinen lyrischen Drang, weil nur sie seinem Wesen verwandt war. Was sie kennzeichnet, ist das Maß und die Begrenzung der Formen; hier sind keine gigantischen Dimensionen, die den Sinn ängstigen oder verwirren, und keine imermeßlichen Weiten, die ihn in die Ferne locken. Diese traulich umfriedete Enge empfand Uhland, wie die meisten seiner Lands- leute, nicht als drückend, sondern fühlte sich im Gegenteil nur in ihr ganz geborgen. So sind auch die in seiner Naturlyrik ent- worfenen Bilder knapp gezeichnet und fest umrissen, während doch dabei das Gefühl inniger Zusammengehörigkeit und Wesens- verwandtschaft von Dichterseele und Landschaft sie warm durch- strömt imd den Leser keinen Augenblick irre werden läßt an der Aufrichtigkeit der Empfindung und der Klarheit der An- schauung.

Nicht ohne inneren Kampf mag Uhland sich im Lauf des Jahres 1812 allmählich mit dem Gedanken vertraut gemacht haben, sich von der Heimatstadt loszureißen und die Erwägung der schwerwiegenden praktischen Gründe, die ihn dazu be- stimmten, trübte die letzte Zeit seines Tübinger Aufenthalts. Im Tagbuch mehren sich die Notizen „Juridisches", und im Brief- wechsel die Klagen über die „widerlichen Geschäfte"^) und über sein „einsames lebloses Leben"'); es wolle ihm, schreibt er an Kemer^), dieses Jahr wenig Freude blühen. Meist sei es nur ein bitterer Schmerz, was ihn zur Poesie erwecke''). Die allgemeine gemütliche Depression, die sich in diesen und ähnlichen Klagen kundgibt, ward seinem Dichten verhängnisvoll. Gedichtet habe

^) Vgl. Siegmar Schultze, Die Entwicklung des Naturgefühls in der deutflohen Litteratur des 10. Jahrhunderts, 1007, I, S. 113.

'') £ino vereinzelte Ausnahme bilden „Die Phantasien aus der Sohweitz" (1806). Gedichte II, S. 50 f.; I, S. 90.

") An Kerncr, 8. Juli 1812, I, S. 312.

*) An K. Mayer, 12, Juli 1812, I, S. 244.

^) 22. September 1812, I, S. 322.

*) An Kerner, 11. Oktober 1812, I, S. 328.

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er schon lange nichts mehr, heißt es schon im September^); und in der Tat sind von Ende Mai bis zum Schluß des Jahres nur fünf Gedichte entstanden, worunter kein einziges lyrisches.

5. 1813 bis 1817

Im Oktober 1812 bot sich Uhland die Aussicht auf die Stelle eines zweiten Sekretärs beim Justizministerium. Er bewarb sich mit Erfolg und siedelte noch im Dezember nach Stuttgart über. Wie wenig die Beschäftigung im neuen Amt nach seinem Sinn war, und wie schwer es ihm wurde, in Stuttgart Fuß zu fassen, ist bekannt'^). Die Geistes- und Gemütsverfassung, die dieser Wechsel des Wohnorts und der Berufstätigkeit bedingte, war nicht dazu angetan, den dichterischen Drang von neuem in ihm zu beleben. Darüber gab er sich von vornherein so wenig einer Täuschung hin wie seine Freunde. Unmittelbar nach seiner An- kunft in der Stadt, die ihm schon nach einem kurzen Besuch Anfangs August „völlig entleidet" gewesen war, berichtete er Kerner bitter: „0 Poesie! Professor Gaab sagte beim Abschied, jetzt heiße es bei mir: Musa, vale"^)! Zwar meint er anfangs noch, die Poesie werde ihm „in dieser äußern Abgeschiedenheit von ihr gewissermaßen innerlich klarer und lebendiger"*), allein der Nachsatz: „wie es oft bei entfernten Freunden der Fall ist", zeigt doch, daß sie ihm tatsächlich ferne gerückt war, und die zerstreuten, spärlichen poetischen Entwürfe und Ideen, von denen das Tagbuch Kunde gibt"), bestätigen dies. Auch ist die frohe Mitteilsamkeit im freundschaftlichen Briefwechsel vorüber. Uhlands Briefe wurden, was Kerner bald auffier*), von 1813 an

^) An K. Mayer, 10. September 1812, I, S. 256.

^) Vgl. Leben S. 86 f.

^) Briefwechsel I, S. 347.

*) An K. Mayer, 20. Januar 1813, I, S. 274.

*) 14. März, 21. Juli, 18. und 21. August, 15. September, 6. Oktober.

**) Kerner an Uhland, 11. Juli 1812 (sichtlich falsch datiert, wahr- scheinlich Juli statt Juni), I, S. 364. „Seit Du Justizminister bist, geht unsere Korrespondenz gar elend, woran Du die Schuld hast, auch erhalte ich kein Gedicht mehr von Dir."

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weit seltener und wirken in ihrer Kürze späterhin fast frostig. Das Erscheinen des Deutschen Dichterwalds nahm er viel gleich- gültiger hin als dasjenige des Almanachs des Vorjahres, versäumte er es doch mehrere Wochen lang, dem ungeduldigen Kerner ein Exemplar zukommen zu lassen.

Deutet dies alles auf ein Nachlassen des Anteils am Poetischen, so ist es nicht verwunderlich, wenn die Stimmung für die lyrische Produktion ihm 1813 fast ganz versagt blieb. Zwar weist der Januar ein Sonett auf, in dem sich Sehnsucht nach der Geliebten ausspricht, allein es verdankt wie jenes vereinzelte Sonett des Pariser Aufenthalts nicht dem Leben, sondern einem Traum die Entstehung. Auch an der erweckenden Kraft des Frühlings ver- zweifelt jetzt der Dichter, wie das Gedicht „Im Frühling" andeutet. Und je mehr das Jahr vorschreitet, umso schlechter gestalten sich die Aussichten auf dichterische Stimmung und Produktion. „Nun lebe wohl, " schließt er einen Brief an Kerner, «... und dichte für mich, da ich selbst nicht mehr dazu komme "^)! Die Verse auf den Tod eines Landgeistlichen vom Mai, die nun aller- dings ein Schmuckstück seiner Lyrik sind, bilden das letzte der fünf Gedichte, welche das Jahr 1813 hervorgebracht hat.

Mit den persönlichen Verhältnissen, die in diesem Jahr hem- mend auf sein Schaffen wirkten, trat fast zu gleicher Zeit ein Element in sein Leben ein, das alsbald einen entscheidenden Einfluß auf seine Dichtung gewinnen sollte: die politischen Er- eignisse, zuerst die äußeren und dann die inneren. Es ist dies, nächst der Wandlung, die sich um 1806 in seinem Dichten vollzog, der wichtigste Punkt in der Entwicklung des Lyrikers. Zwar sind auch in der Folgezeit noch lyrische Gedichte von höchster Vollendung entstanden, aber spezifisch lyrische Stimmungen füllten ihn nie mehr so ganz aus, wie es periodenweise vor 1813, namentlich 1811 auf 1812, der Fall gewesen war''). Das politische Gedicht und die Ballade drängte, solange die dichterische Pro- duktion überhaupt anhielt, die subjektive Gefühlslyrik mehr in den Hintergrund.

Vor 1813 hatten die Zeitereignisse nie nachhaltig Uhlands

') An Korner, 15. August 1813, Briofweohsel I, S. 869. ') Auch S. Hchultze, a. a. 0. 8. 116, läßt die ^eint Gefühlalyrik" bi« 1812 Torhc-rrKohcn.

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innerlichen Anteil erweckt'), im Briefwechsel hatten sie nur ganz vereinzelt Erwähnung gefunden^) und in den Gedichten vollends keine Spur hinterlassen. In Stuttgart konnte sich Uhland nicht länger ihrer Einwirkung entziehen; er mußte sich, auch als Dichter, mit ihnen auseinandersetzen^). Die Stellung, die er als solcher zu ihnen nahm, stand nun nicht von Anfang an fest, sondern war einer Entwicklung unterworfen, die sich in den je im Beginn der Jahre 1813 und 1814 entstandenen zwei Teilen von „Gesang und Krieg" beobachten läßt. Der Ton des ersteren ist von der Klage beherrscht, daß die Dichtung als Trägerin der Humanität und höchster Gesittung von dem rohen Krieg verdrängt zu werden drohe. „Gesang und Krieg" stehen sich fremd und unvereinbar gegenüber :

Nein! über ew'gen Kämpfen schwebt im Liede, Gleichwie in Goldgewölk, der ew'ge Friede.

Allein schon am 24. April 1813 schränkt er den Sinn dieses Gedichts mit den Worten ein : „Diese Verse passen aber nicht mehr für den jetzigen Krieg "^). Und mit dem Eintritt des Jahres 1814 vollzieht sich ein völliger Umschwung. Wo die Wogen der Be- geisterung rings um ihn so hoch gingen und die dichtenden Freunde sich von der Bewegung der Freiheitskriege ergriffen zeigten"^), konnte ein so national empfindender Mann wie Uhland nicht zurückbleiben. Immerhin ist es auffallend, daß er so spät erst Feuer fing, und man fragt sich, was ihn so lange zögern ließ? So schwer wie die politische Situation bis zum Übertritt Württem- bergs zu den Allüerten wird wohl ein anderer Grund wiegen, nämlich das starke Beharrungsvermögen seines Geistes, das jede innere Bewegung, also auch die ausschließlich lyrisch-literarische

^) Notter S. 118 ff. hat daran geradezu Anstoß genommen.

*) Vgl. oben S. 44, Anm. 4.

•') Im Tagbuch werden die Zeitereignisse erwähnt: im Jahr 1813 am 8 f. April, 7. Juni, 23. August, 1. September und vom Dezember an häufig.

^) Mayer II, S. 2.

^) Vgl. Hitzig an Kerner, 15. Dezember 1813, Briefwechsel I, S. 372 f., und Kerner an Uhland, 7. Februar 1814; ebenda S. 377: „Ich gestehe Dir, daß mich Poesieen, die ihren Stoff aus der jetzt so poetischen Zeit hernehmen, über alles interessieren, indem ich ganz in diesen Kämpfen lebe."

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Betätigung von 1811 auf 1812, erst auslaufen lassen mußte, ehe eine neue angenommen werden konnte. So wurde es Ende Januar 1814, bis das erste Freiheitslied entstand. Dann aber warf er sich mit Heftigkeit in die Bewegung, und, wie bei Uhland die Produktion überhaupt gerne stoßweise erfolgte, so entstanden dann gleich kurz nacheinander fünf Lieder, welche die Zeitereignisse zum Gegenstand haben ^). Kerner gegenüber glaubt er sich über seine seitherige, scheinbare Gleichgültigkeit entschuldigen zu müssen: „Wenn ich Dir in Deinem [?] letzten Briefe^) nichts Vaterländisches geschrieben habe und bloß ein unbedeutendes, zeitloses Lied'^) beigelegt habe, so mußt Du darum nicht glauben, daß die große Zeitgeschichte nicht auch mir eine stolze Freude sei und in anderer Hinsicht mein Schmerz"^). Und diesem Brief legte er die erwähnten Lieder bei, in welchen von dem klagenden Ton des ersten Teils von Gesang und Krieg nichts mehr zu merken ist. Ja, er stellte diesen vier Stanzen vier andere ursprünglich „Widerruf" überschriebene gegenüber, die in der Tat dem Inhalt der früheren in allen Punkten widersprechen und in denen sich der Sänger freudig in die Reihen der Kämpfer stellt. Jetzt er- schien ihm der Frieden als Geschenk des Krieges und dieser selbst als etwas Notwendiges und HeiUges, in dessen Dienst zu wirken des Dichters höchster Stolz und Ehrgeiz sein müsse. Ja er geht so weit, im „Lied eines deutschen Sängers" seinen früheren Sang von „Minne, Wein und Mai" geringzuschätzen und in dem Recht, des deutschen Volkes Sieg singen zu dürfen, sein höchstes Ziel zu sehen ^).

Die Stilgattung, welcher diese fünf Lieder, und weiterhin die auf die württerabergischen Verfassungskämpfe bezüghchen Gedichte, angehören, ist in Uhlands Entwicklung neu. Höchstens das Ge- dicht „Freie Kunst" von 1812 konnte, bei aller Verschiedenheit des Inhalts, stilistisch als Vorbote dieses neuen Tones angesehen

*) „An da« Vaterland"; „Lied eines deutschen Sängers"; „Gesang und Krieg"; „Vorwärts"; „Die Siegesbotschaft" (29. Januar bis 3. März).

') Vom 23. Januar.

') Vermutlich die Ballade „Graf Eberstein" vom 8. Januar.

*) An Körner, 10. Februar 1804, I. S. 370.

^) Ungefähr dieser Zeit mag auch das Gedicht beginnend: „Den Jugendangedenken ..." (Gedichte I, S. 476), anjjohören.

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werden. Wollte man diese Gattung mit der Bezeichnung Rhetorik charakterisieren, so wäre das irreführend. Wie in seinem übrigen Dichten Uhland die Poesie „des höchsten, trunkenen Schwunges" fremd war^), so auch auf diesem Gebiete. Was ihm bei seinem rednerischen Auftreten in der Kammer und im Frankfurter Parla- ment fehlte, der bestechende, als unter dem unmittelbaren Zwang der Inspiration hinreißend entfaltete Prunk der Rede, das findet sich auch in diesen Liedern nicht. Aber was jenem Auftreten doch eine tiefe und nachhaltige Wirkung verschaffte, die kompakte, gleichsam schwerbeladene Kürze des Ausdrucks, die jeden Umweg und jede Fechterparade verschmäht, um unmittelbar in den Mittelpunkt der Sache vorzudringen, das macht auch seine politische und vaterländische Lyrik so eindrucksvoll. Dabei ist diesen Gedichten auch das Element der subjektiven Erregung in hohem Grade eigen, und mit der oben angedeuteten Beschrän- kung kann man den besten derselben mit Vischer wohl „höchstes Pathos" zuschreiben. Und eben dieses war das neue Element, das nun in Uhlands Dichten eintrat. Es ward geweckt durch die Gefährdung der höchsten Werte, die Uhland kannte: Vaterland und Recht. Die ganze Wärme, mit der Uhland in seiner bisherigen Entwicklung nationale Sitten, nationale Vergangenheit und ur- sprüngliche nationale Kunst zu ergreifen und in seinem eigenen Schaffen wiederzugeben bestrebt gewesen war^), ergießt sich jetzt in diese neue Bahn. Unwillkürlich verbinden sich ihm religiöse Vorstellungen und Empfindungen mit jenen hohen Gütern. Sie sind ihm etwas Geheiligtes, unter der Gottheit besonderem Schutze stehend. Die Siegesbotschaft schließt mit der Strophe:

Es rauscht und singt im goldnen Licht: Der Herr verläßt die Seinen nicht, Er macht so Heil'ges nicht zum Spott. Viktoria! mit uns ist Gott!

^) Fr. Th. Vischer, Kritische Gänge, Neue Folge, 1873, 4. H., S. 154. Vgl. auch Leben S. 20, wo Uhland sich gegen den rhetorischen Schmuck der neuen Poesie wendet.

*) Vgl. Leben S. 45 ff. : „Diesem [dem deutschen Volke] galt mein Studium von meiner frühen Jugend an. Meine eigenen Gedichte sind in der Liebe zu ihm gewurzelt und nur als einen Teil der deutschen Literatur möchte ich sie angesehen wissen."

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Im „Gebet eines Würtembergers " wird auch im Kampf um die rechtmäßige Verfassung das Eingreifen der Gottheit erfleht, und selbst die deutsche Sprache gilt Uhland als etwas, in dem sich Göttliches offenbare. Das Gedicht „Die Deutsche Sprachgesell- schaft" gipfelt in dem Wunsche, es möge so weit kommen, „daß, wo sich Deutsche grüßen, der Athem Gottes weht". Erinnert diese Zuversicht des Dichters, daß Gott mit seiner Sache und seinem Volke sei, nicht an die hingebende Gläubigkeit jener mittelalterhchen Menschen, die für Gott im Namen Gottes stritten? Denn bei Uhland waren solche Worte nicht bloß Schmuck der Rede, sondern heilige Überzeugung.

Obgleich zwischen dem letzten politischen und dem ersten vaterländischen') Liede ein Zeitraum von mehr als anderthalb Jahren lag, so zeigt doch die in demselben entstandene übrige Lyrik ein so wenig ausgesprochenes eigenes Gepräge^), daß die Auffassung der politischen und vaterländischen Lyrik als einer eng zusammengehörigen, einheitUchen Dichtungsperiode nicht gezwungen erscheinen dürfte. Zu der nahen Verwandtschaft des Inhalts, die Uhland die beiden Gruppen in der Ausgabe der Gedichte zusammenstellen ließ, kommt die aus Tagbuch und Brief- wechsel sich ergebende Tatsache, daß die Teilnahme Uhlands an den Zeitereignissen und den öffentlichen Dingen keine Unter- brechung erfahren hat, und endlich der Umstand, daß auch in der Zeit, wo Uhlands Lyrik sich weitaus vorwiegend mit den politischen Ereignissen der engeren Heimat befaßte, sich Hin- weise finden auf den Zusammenhang derselben mit dem großen Ganzen und auf dessen Schicksale.

Nachdem schon die im Sommer 1815 entstandenen Eberhards- balladen die Hinwendung zu den württembergischen Verhält- nissen, die sich nun vollziehen sollte, angekündigt hatten, ent-

^) So müssen hier mit Uhland die Gedichte bezeichnet werden, die sich auf die innerpolitischen Kämpfe Württembergs beziehen, obgleich der Ausdruck „vaterländisch" in dieser Beschränkung heute an sich mifi verständlich ist.

') Die Stelle eines in der Mitte dieser Zwischenzeit geschriebenen Briefes an K. Mayer vom 18. Januar 181ß erklärt dies: „Es schwindet mir in meinen gegenwärtigen Verhältnissen die Zeit wahrhaft wie ein 'J räum, grdßtentheils wie ein banger, Sammlung zu heiterem Leben, zu ruhiger Poeeie scheint mir nicht beschieden zu sein" (Mayer II, S. 29).

I

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stand Mitte Oktober das Gedicht „Am 18. Oktober 1815". Dieses schlägt mit seiner Eingangsstrophe die Brücke zwischen politischer und vaterländischer Lyrik, Der Schluß derselben:

So ist manch heilig Recht zu retten, Das unter wüsten Trümmern lebt.

deutet das Thema an, das in der Folgezeit Uhlands Lyrik be- herrschen sollte und das gleich in dem nächsten Gedicht dieser Gruppe „Das alte, gute Recht" (vom 24. Februar) mit aller Deutlichkeit angeschlagen wird: nachdem für das große Vater- land die Freiheit nach außen errungen ist, handelt es sich für das engere um die Erkämpfung der inneren Freiheit, die Uhland geknüpft glaubt an die von König Friedrich 1806 aufgehobene Verfassung. Die Frage, welche Stellung Uhland in diesem Kampf einnahm, fällt nicht in den Rahmen dieser Untersuchung^). Hier kommt es darauf an, darzutun, wie sich diese Hinwendung zu den Zeitgegenständen in Uhlands Innerem vollzogen, und welchen Einfluß sie auf sein ganzes lyrisches Dichten gehabt hat.

Nicht ohne schmerzlich rückblickendes Bedauern verließ Uhland den Boden des subjektiv individuellen Empfindens, der ihm in den letzten Tübinger Jahren so lieb geworden, und reichte der derberen Muse der politischen Lyrik die Hand. Bisweilen wandelt ihn die Sehnsucht an nach der alten Poesie, mit der sich ihm die Erinnerung an die glückliche, warm empfindende Jugend und die teure Heimatstadt verknüpft haben mag beides Dinge, die ihm jetzt ferne standen. In dem Gedicht „Aussicht* (Mai 1816) heißt es:

Wird das Lied nun immer tönen Mit dem ernsten, scharfen Laut? Und das Feld des heitern Schönen, Bleibt es forthin ungebaut?

Die Ritter und Feen des „Neuen Märchens": Freiheit und Recht, sind doch allzu abstrakt allegorisch, als daß sie ihm die alten zu ersetzen vermöchten:

Einmal athmen möcht' ich wieder In dem goldnen Märchenreioh, Doch ein strenger Geist der Lieder Fällt mir in die Saiten gleich.

^) Sie wird ausführlich erörtert von Vischer, a. a. 0. S. 116.

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Feme gerückt scheinen ihm die Tage frohen jugendlichen Lebensgenusses und spielender Lust, und der „Ernst der Zeit" legt sich oft schwer auf den Dichter.

Allein solche schmerzliche RückbHcke finden sich doch nur episodisch, und im allgemeinen füllten nun die politischen Dinge vorwiegend Uhlands Denken und Dichten aus. Schon Frau Uhland hat dies, wenigstens für das Jahr 1816, ausgesprochen: „Die meisten Lieder dieses Jahres, auch außer den vaterländischen, haben ein politisches Gepräge, so sehr war seine Seele von den Kämpfen der Zeit hingenommen ..." und sie fügt hinzu : „Auch in die Correspondenz mit Freunden, wo sonst von Kunst und Lite- ratur gehandelt wurde, tritt nun die Politik ein"^). Und Uhland selbst nennt, was allein in dieser Zeit ihn zur Dichtung erwecken kann, und legt den Finger auf den scharfen Einschnitt, den die politische Ära in seinem Dichten bezeichnet, wenn er ausruft:

Andre Zeiten, andre Musen!

Und in dieser ernsten Zeit

Schlittert nichts m i r s o den Busen,

Weckt mich so zum L i e d e r s t r e i t:

Als wenn du, mit Schwert und Wage,

Themis, thronst in deiner Kraft,

Und die Völker rufst zur Klage,

Könige zur Rechenschaft!

(Die neue Muse, Vers 9 ff.)

Daß Uhland hier mit „der neuen Muse" sowohl die vater- ländischen als die poUtischen Gedichte meint, also die ganze Periode von 1814 bis 1817 trifft, scheinen die letzten Zeilen| anzudeuten, wo doch wohl kaum auf Napoleon angespielt ist, sondern imter den Königen, die zur Rechenschaft gezogen werden, vor allem der Herrscher seines eigenen, engeren Vater- lands gemeint ist. Dies bestätigt der Umstand, daß das Doppel- motiv des äußeren und inneren Kampfes auch an anderem Orte berührt wird*).

Was Frau Uhland an der eben erwähnten Stelle hervorhob, daß sich auch in den „nicht vaterländischen" Gedichten die Zeit- umstände erkennen lassen, unter denen Bie entstanden sind.

^) Leben 8. 122 f.

■) Vgl. Ernit der Zeit, Vers 7 f.

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trifft in der Tat im allgemeinen für den ganzen in Frage stehenden Zeitraum zu, besonders für die Gedichte der Jahre 1816 und 1817, in geringerem Maße für diejenigen von 1814 und 1815. Aus diesen letzteren Jahren gehören hierher: „Auf K. Gangloffs Tod"; „Schattenlied" (Vers 29); „Vorwort" (Vers 41 ff.), „Des Sängers Fluch" ^) und etwa noch die Eberhardballaden wegen ihrer Lokalfarbe. Aus dem Jahr 1816, in dem, wie vollends 1817, die Zeitgedichte über die anderen auch ein numerisches Übergewicht haben, ist besonders auf die ganz deutlich aus den Zeitereignissen hervorgegangenen und daher von Uhland nach den politischen von Anfang 1814 auf S. 61 64 der „Lieder" vereinigten Gedichte hinzuweisen. Bezeichnend ist, daß auch der in den Jugendjahren der nächsten Familie gewidmete „Neujahrswunsch" jetzt ein politischer ist und seiner weiteren Familie, dem württembergischen Volke, gilt. Ja selbst in ein rein persönliches Gelegenheitsgedicht im engsten Sinne des Worts, in das auf A. F. Weißer und Wil- helmine Uhland gedichtete „Verspätete Hochzeitlied" sucht sich, wenigstens in der ersten Fassung^) eine Anspielung auf die Zeit- ereignisse einzuschleichen, die aber dann in der definitiven Fas- sung wieder ausgemerzt wird. Die Zahl der Gedichte, die von zeitlichen Elementen ganz frei sind, ist gering. Selbst die Gattung der Balladen, die sich in der Zeit des für die eigentliche Lyrik völlig unfruchtbaren Pariser Aufenthalts als lebenskräftig er- wiesen hatte, ist nicht sehr zahlreich vertreten; sie weist in fünf Jahren unter 85 Gedichten insgesamt 21 Vertreter auf^), wor- unter lokalgeschichtlichen Inhalts die Eberhardsballaden mit der politischen Anspielung:

Drum soll man nie zertreten sein altes, gutes Recht.

(Das Jahr 1816 hat noch zwei, das Jahr 1817 keine Balladen mehr.)

Besonders bemerkbar macht sich das völlige Zurücktreten

der subjektiven Lyrik und ihrer Inhalte : Natur und Liebe. Neben

dem nach einer früheren Idee zugerüsteten kleinen Gedicht

^) Wenn Notters Angabe, S. 162 f., daß dieses Gedicht auf Napoleon zu deuten sei, richtig sein sollte, was allerdings stark anzuzweifeln ist. Vgl. auch Scholl an Holland, Gedichte II, S. 123 f.

2) Siehe Gedichte II, S. 38.

^) Die zwei Umarbeitungen „Der blinde König" und „Die sterben- den Helden" miteingerechnet.

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„Frühliiigsfeier" und den zwei aus dem Nachlaß überkommenen „Ach! daß die Liebe Herzen bricht" und „Wie kann aus diesem Röselein ..." stehen vier sämtlich am 4. Mai 1816 verfaßte Ge- dichte: „Mailied", „Bild", „Klage" und „Rechtfertigung"^) ver- einzelt da und lassen sich, wenn auch eines davon („Mailied") in einem zwei Tage zuvor gemachten eindrucksreichen Ausflug in der Frühlingslandschaft seine Wurzel hat, auf ein tiefer gehendes Erlebnis oder auf eine dauernde Stimmung nicht zurückführen. Wiewohl sie auffallend subjektiv-pessimistisch gehalten sind, so mißt ihnen Frau Uhland doch zu viel Bedeutung bei, wenn sie bemerkt: „Bei aller ruhigen Festigkeit, die Uhlands Briefe aus- sprechen, zeigten aber doch die wehmüthigen Lieder: ,Maüied', ,Klage' und ,Rechtfertigung', wie sehr sein Gemüth unter seinen inneren Kämpfen litt"^). Man darf es mit solchen düster und schwermütig gehaltenen Liedern, die sich bei Uhland, wenn auch in der Jugend ungleich häufiger, so doch auch auf allen anderen Altersstufen finden, nicht allzu ernst nehmen: Uhland hatte immer einen gewissen kleinen Vorrat von Schwermut, dessen er sich gelegentlich entäußern mußte. So ist es auch mit diesen vier Gedichten, in denen die erwähnte Stimmung, als ob sie sich an- gesammelt hätte, an eingm Tag ausbricht. Und wenn der Hinweis auf die kurz vorher entstandenen, ausgelasssnen Lieder : „Trink- lied" („Was ist das für ein durstig Jahr") und „Du jagtest, Freund ..." (An G. Schwab), noch nicht genügen sollte, so ist noch die Bemerkung da, die Uhland selbst der Mitteilung jener Gredichte an Kerner, diesem zur Beruhigung, beizufügen nötig findet: „Doch es ist dieses nur Scherz"'), Und zur Bekräftigung dieser Versicherung führt er selbst das eben erwähnte „Trink- Hed" an*).

Solcher Lieder, die sich vom Heiteren bis zum Ausgelassenen bewegen imd sich als „Gesellige Lieder" zusammenfassen lassen, hat Uhland in den Jahren 1814 bis 1816 fünf verfaßt"^). Sie sind

^) Am 4. Mai angefangen, am 7. September vollendet.

•) Leben H. 122,

') Briefwechsel I, S. 425,

*) Die nähere Begründung der Jm Durchschnitt . . . heiteren" Stim- mung in dietten Jahren siehe bei Notter S. 147.

^) Nämlich: „Metzelsuppenlied", „Der Sohattenwirt", „Schatten- lied", „Von den sieben Zechbrüdern" (ebenfalls für die Sohattengesell-

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sämtlich veranlaßt durch die im Gasthaus zum Schatten sich ver- sammelnde heitere und anregende Gesellschaft, die Uhland damals sehr gern und häufig besuchte. Indem diese Gattung des sub- jektiv-individuellen Empfindungselements fast ganz entbehrt und auf lyrische Stimmungswirkung keinen Anspruch macht, vielmehr den Zwecken einer wenn auch kleinen Gesellschaft diente, fügt sie sich dieser Periode, in der ja der Dichter als Einzel- wesen überhaupt zurücktrat, natürlich ein, und es ist wohl kein Zufall, daß sie gerade in ihr zur Ausbildung gelangt ist^).

Wie diese Lieder einem bestimmten geselUgen Kreis, so gelten eine Reihe von anderen Gedichten dieses Zeitraums einzelnen Personen; und ihre Anzahl ist nicht gering*). Wenn auch fast alle diese Gedichte sich über die gewöhnlichen Gelegenheits- gedichte weit erheben, zum Teil des Persönlichen entkleidet und in die Sphäre des Allgemeingültigen versetzt wurden, so kenn- zeichnet sie doch, wie diese ganze Periode, das Fehlen der spon- tanen, spezifisch lyrischen Erregung des dichterischen Sub- jekts.

Man könnte erwarten, daß dieses Zurücktreten des subjek- tiven Elements, eine solche Anteilnahme an den äußeren Ereig- nissen der Zeit, eine so angelegentliche Beschäftigung mit politi- schen Dingen in den Jahren nach 1812 eine beträchtliche Modi- fikation der Stellung Uhlands zu den Romantikern hervorgebracht hätte. Denn die Mehrzahl der Romantiker') „interessierte die äußere Gestaltung des Lebens, sei es in der Familie, in der Gre- sellschaft oder im Staat, wenig . . . Sie waren keine handelnden

Schaft verfaßt, vgl. Notter, S. 151. Schwäbischer Merkur, Sonntags- beilage 10. April 1887) und „Trinklied" (Was ist . . .).

) Vor 1814 ist das Gesellige Lied nur mit zwei Gedichten, dem „Theelied" von 1811 und dem „Trinklied" (Wir sind nicht mehr . . .) von 1812, nach 1816 gar nicht mehr vertreten.

) Abgesehen von polemischen und politischen Gedichten, wie „Die Bekehrung zum Sonett" (gegen Weißer), „Hausrecht", „Der Wunder- mann" (gegen Wangenheim) sind hierher zu zählen: „Auf den Tod eines Landgeistlichen", „Auf das Kind eines Dichters", „Auf den Tod eines schlechten Malers", „Auf ein Kind", „Ein Haus, darin . . .", „Du jagtest, Freund", „Auf einen verhungerten Dichter", „Verspätetes Hoch- zeitslied".

^) Auszunehmen sind mit Vischer (a. a. 0. S. 139): Schenkendorf und Müller; auch Fouqu6.

Haag, ühland 5

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Menschen"^); wozu noch kommt, daß Uhland, wie sich jetzt in der politischen Ära seines Dichtens und Lebens erst recht zeigen konnte, weit entfernt war, sich durch seine Vorliebe für das Mittel- alter zu Verherrhchung reaktionärer Tendenzen verführen zu lassen. Trotzdem blieb er der Sache, zu der er sich schon im Sonntags- blatt bekannt hatte, treu; durch die Wendung, die seine Über- siedlung nach Stuttgart für sein Dichten brachte, wurden seine Beziehungen zur Romantik nicht wesentlich verändert. Diese waren ja etwa seit 1809 klarer und greifbarer geworden, indem sie mehr an die von Tieck und Brentano vertretene Rich- tung anknüpften"), was sich besonders an den epischen Dichtungen der Fortunat bedeutet wohl die stärkste Annäherung Uhlands an das Empfinden der Romantik und an den dramatischen Versuchen nachweisen läßt. Was speziell die Lyrik betrifft, so ist sie von der Romantik weniger infiziert worden. Die Annäherung zeigt sich hier besonders in zwei Punkten: in der seit der Zeit des Sonntagsblatts fortgesetzten Polemik gegen die Antiroman- tiker, die sich teils gegen einzelne literarische Gegner (Voß, Weißer) richtete, wie in den Glossen „Der Recensent" (1813) und „Der Romantiker und der Recensent", „Die Bekehrung zum Sonett" (1814), teils allgemein gegen die ganze gegnerische Richtung der „Stubenpoesie", wie im „Märchen" (1811) und im „Frühlings- lied des Recensenten" (1812'); und weiterhin zeigte sich jene Annäherung in der Verwendung der bei den Romantikern be- liebten metrischen Formen: des Sonetts und der Oktave hat sich Uhland schon in seiner ersten romantischen Periode von 1807 an bedient, doch findet sich insbesondere das erstere mit Vorliebe und mit Meisterschaft behandelt erst nach 1809, am häufigsten, wie wir sahen, im Jahr 1811, nach 1816 nie mehr. Dazu kommen dann noch vom Jahr 1813 an die kunstvollen Formen der Glosse und des Tenzons; zu letzterem ward Uhland von dem von Ende 1816 an in Stuttgart weilenden Rücker t

^) Rio. Hnob, Ausbreitung und Verfall der Romantik (1902), 8. 306.

') Eine umfassende Darstellung dieser zweiten romantischen Periode ■lebe bei Herrn. Fiscber, a. a. 0. S. 62 fif.

^) Von episcb-Iyrisohen Gedichten sind noch hierher zu zählen „Die Romanze vom Recensenten" sowie die Einleitung zu den Eberhards- balladen.

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angeregt, mit dem er zeitweise „fast täglich" i) zusammen war. Allein weiter ging der Einfluß der Romantik auf seine Lyrik nicht, dem Inhalt und der Stimmung nach blieb sie unverändert, und von der „mondbeglänzten Zaubernacht" und „der wunder- vollen Märchenwelt" Tiecks, die Uhland, wie so viele andere, glossierte, ist auch in den Gedichten dieser Zeit nichts zu merken. Nach dem Jahr 1816 hörte die Berührung Uhlands mit der Romantik auf.

Überblicken wir die Gesamtheit der zwischen 1813 und 1817 entstandenen lyrischen Gedichte, verweilen wir insbesondere bei denjenigen, die der ganzen Periode das besondere Gepräge geben, den Zeitgedichten und den inhaltlich mit diesen verwandten Liedern, und wägen wir diese Lyrik nach ihrem rein dichterischen Gehalt, so wird sich ergeben, daß bei aller Kunst in der Hand- habung der metrischen Form und in der Gestaltung des sprach- lichen Materials, das sich dem oft spröden Inhalt nicht immer leicht anschmiegte, der poetische Feingehalt, das Quantum edler lyrischer Substanz geringer ist als in den Gedichten der ver- gangenen Jahre. Besonders in gewissen politischen Gedichten wie „Gespräch" oder „Das alte, gute Recht" und „Würtemberg" mit ihren rhetorisch gedachten, aber nicht ebenso wirken- den Aufzählungen , überwiegt das Räsonnement bedenklich die Empfindung^). Im allgemeinen muß man, um solche Gedichte zu würdigen, ihren Zweck und ihre Berechtigung außerhalb des Poetischen suchen. Aber auch in den nicht politischen Gedichten herrscht Reflexion, Witz (im weitesten Sinn) und Polemik vor, und gesellige und Gelegenheitsgedichte nehmen einen breiteren Raum ein als früher. Selten dagegen sind spontane Äußerungen einer in den Tiefen des Gemütes schlummernden lyrischen Stim- mung.

Kein Zweifel, daß die Periode von 1813—1817 für Uhland ein Nachlassen der Initiative der lyrischen Kraft^) bedeutete, das in Zusammenhang zu bringen ist mit dem Wechsel des Wohn-

^) Siehe Tagbuch, 5 ff. März 1816.

") Einen beträchtlichen Mangel an poetischem Gehalt zeigen auch 7 die Eberhardsballaden.

^) Nicht der dichterischen Potenz überhaupt: Ist doch 1816 der Herzog Ernst, zwei Jahre darauf Ludwig der Baier geschaffen worden.

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Sitzes und mit der Hinwendung zu den politischen Ereignissen. Die Frage ist nun, ob der Rückgang ein definitiver sein sollte, oder ob jene Kraft latent vorhanden blieb, um sich unter gün- stigeren Bedingungen aufs neue zu entfalten.

6. Nach 1817

Den Übergang von der im Zeichen der politischen Lyrik stehen- den Periode zu der Zeit, die hier als letzte von Uhlands Dichten ausgeschieden ist, bildet ein Erlebnis, dessen Wirkung sich über Jahre erstreckte, und das auf Uhlands inneres wie späterhin auf sein äußeres Leben von tief einschneidender Bedeutung war.

Am 15. Dezember 1814 wird Emilie Vischer, Uhlands spätere Frau, zum erstenmal im Tagbuch genannt, und ihr Name kehrt fortan auf den Seiten desselben immer häufiger wieder. Diese inhaltlich äußerst kargen Tagbuchnotizen, die aber für die Kennt- nis von Uhlands Innenleben höchst merkwürdig sind, sowie einige wenig bestimmt gehaltene Seiten in Frau Uhlands Bio- graphie^) bilden das ganze Material, das uns zu Gebote steht bei dem Versuch, das Werden und Wachsen dieser tiefgreifenden Herzensneigung denn von einer Leidenschaft kann auch in diesem Fall bei Uhland nicht die Rede sein zu rekonstruieren. Ende des Jahres 1814 lernte Uhland EmiUe Vischer bei ihrem Schwager, seinem Freimde Roser, kennen. Außer der häufigen Nennung ihres Namens, in der von Uhland gebrauchten Form .Emma", findet sich 1815 bis 1817 im Tagbuch kein Hinweis auf die Entstehung einer ernsten Neigung') und inwieweit Kerners Vermutung"), Uhland habe sich mit ihr verlobt, auf Tatsachen gegründet war, muß dahingestellt bleiben.

Erst im Jahr 1818 tritt das Tagbuch um ein weniges aus seiner Zurückhaltung heraus. Es sind nur Kleinigkeiten, die wir erfahren, die aber eben dadurch, daß sie verzeichnet wurden, Bedeutung gewinnen: ein Veilchenstrauß, ein festliches Kleid,

*) 8. 166«.

') Wenn nicht die Worte vom 4. Oktober 1817: „die ich meine", einen lolohen enthalten.

*) Briefwechsel I, S. 409.

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ja ein Hut von der Geliebten getragen, ist vermerkt; ein anderes Mal wird nach gemeinsamem Spaziergang ein bedeutsamer Händedruck gewechselt; bei der Nachricht von einer nur acht Tage währenden Reise der Geliebten gibt es „schwere Herzen", und die Heimkehrende wird schon vor dem Tore begrüßt. Die Freude über die Wiedervereinigung nach der schwer empfundenen Trennung, der Anblick des in voller Pracht prangenden Frühlings, sowie die ermutigende Fest- und Sonntagsstimmung es war der 26. April, Uhlands Geburtstag vermögen nun Uhland endlich dazu, nach mehrjährigem „Schweigen und Zuwarten"^) seine Neigung zu erklären. Der ungewöhnlich lange Tagbuch- eintrag über dieses Ereignis, der wohl in den Memoiren lyrischer Dichter einzig dasteht, verdient, als lyrische Äußerung primi- tivster Art hier angeführt zu werden; er lautet, nur wenig ver- kürzt, in dem diesen Berichten eigenen stammelnden Stil: „Sonn- tag. Geburtstag. Warm. Volle Blüthe Mittagessen bei Rosers,

Emma, Abends Spaziergang ... es ist doch schön auf der Welt ; Erklärung, die Weinende . . . Abendessen bei Rosers mit Emma, der schöne Himmel ... die schönen Bäume. Nachhausbegleitung, wie es geh', Ihre Achtung bleibt mir."

Die letzten Worte scheinen darauf hinzudeuten, daß Emma Vischer zwar keine abweisende oder ausweichende, aber doch auch keine bindende Antwort erteilt hat. Das bestätigen auch die Aufzeichnungen vom 30. Juni^) und vom 7. bis 12. Oktober: Von Schwabs kommt ihm das Gerücht einer gefährlichen Mit- bewerbung zu Ohren, das ihm Tag und Nacht bange Sorgen macht und erst durch den gemeinsamen Freund Roser endlich zerstreut wird. Es heißt im Auszug am 7.: „Besuch von Schwab, . . . Eröffnung von E . . . Unterhaltung mit seiner Frau. Beunruhigung . . . Schlaflose Nacht. " 8. : „Nachdenken über das Gestrige. Abholen Rosers. E . . . Besuch bei Schwabs, Be- ruhigung. " 9. : „Heitere Stimmung . . . Abends Besuch von Schwab, erschütternde [!] Nachrichten." 11.: „Rosern den ganzen Hergang der Sache erzählt . . . Spaziergang mit Roser . . .

^) Leben S. 166. Nicht umsonst legt Frau Uhland das Geständ- nis ab, es sei „an dem ernsten, stillen Herrn Uhland doch auch gar nichts von einem Liebhaber zu entdecken" gewesen.

''') „Sage, daß E, den ausgeschlagen."

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Furcht und Hoffnung . . ., Störung durch andere. Abends zu Hause, ohne Nachricht." Mittlerweile ging wohl Roser auf Kundschaft aus, denn am 12. lesen wir: „Ebenso. Angst. Be- ruhigung durch Roser, daß die Mitbewerbung beseitigt." Die weitere Ausdeutung und Ergänzung der Tagbuchnotizen, ihre fernere Verfolgung bis zu Verlobung und Hochzeit, ist Sache des Biographen. Uns kam es bei der Mitteilung dieser Einzelheiten und der Herstellung ihres Zusammenhangs darauf an, soweit möglich mit Uhlands eigenen Worten nachzuweisen, daß der Dichter in jener Zeit von einer tiefen Herzensneigung erfaßt war, die schon 1818 so stark in ihm Wurzel gefaßt hatte, daß sein ganzes Sinnen darauf ging, sich mit der Geliebten fürs Leben zu vereinigen. Es ist kein Zweifel, daß die Beantwortung der Frage : W i e hat ein so tiefgehendes, inneres Erlebnis auf Uhlands lyrische Produktion gewirkt? für unsere Untersuchung von großer Bedeutung ist. Die Vermutung liegt nahe, daß es nicht vorübergegangen sei, ohne nachhaltige Spuren in derselben zu hinterlassen. Überblickt man nun aber die Reihe lyrischer Gedichte, die auf die Jahre 1815 bis 1820 entfallen, so bieten sich nur vier, welche mit jenem Erlebnis in Zusammen- hang gebracht werden können, nämlich: „Ach! daß die Liebe Herzen bricht", „Bild", „Emma" und „Der Ungenannten". Von diesen entstand das erstere schon am 16. Januar 1815, also höch- stens zwei Monate, nachdem Uhland E. Vischer kennen gelernt hatte. Da liegt die Frage nahe, ob die wirkliche Empfindung schon den Grad der Intensität gehabt habe, der in diesem Gedicht V^rs 11 ff. zum Ausdruck kommt?

Dann kam der heisse, primme Schmerz, Da schlug wie Sturm das arme Herz.

Nun welkt es hin und bricht es schon, Die Liebe lacht und fliegt davon.

Diese Worte scheinen Kerners oben erwähnte Vermutung zu be- stätigen, Frau Uhlands Äußerung aber, nach der „aus dem an- fänglichen Wohlgefallen mit der Zeit eine tiefere Neigung" erwachsen sei, zu widersprechen. Was aber wichtiger ist: sie widersprechen der ganzen Empfindungsweise Uhlands, dessen Herz sich auch in der Zeit, da seine Neigung in Jahren der Prüfung erstarkt war, wohl nie in Gefahr befand, vor Liebesschmerz zu

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brechen^). Das Gedicht trägt, mit Uhlands übriger Liebeslyrik verglichen, den Stempel des Gezwungenen. Die „Bild" be- titelte Strophe vom Mai 1816, deren Bedeutung durch ihre Um- gebung etwas entkräftet wird^), mag sich eher auf Erlebtes be- ziehen, und die genau ein Jahr später entstandenen, Emma gelten- den, anspruchslosen Zeilen: „Wie kann aus diesem Röselein", weisen ganz den sanften, doch warmen Ton auf, der Uhlands wahrer Empfindungsart entsprach. Das 1819 wiederum im Mai, auf Emmas Geburtstag, verfaßte Gedicht „Der Ungenannten" spricht nach Frau Uhlands eigenen Worten'') „das lebendige Gefühl des Zusammengehörens in beiden Herzen" aus, das in- zwischen erstarkt war. Innigeres vermochte Uhland einer Frau wohl überhaupt nicht zu sagen. Neben diesem durch und durch wahr empfundenen verliert jenes erste Gedicht von 1815 vollends ganz seine Bedeutung. Doch zählt man immerhin auch dieses hierher, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß eine tiefe, entscheidende Neigung, die erst nach fünf Jahren ihre Erfüllung fand , nicht mehr als vier Liebes- gedichte weckt e"*), und daß nur eines davon in die Zeit der Reife jener Neigung, kein einziges aber in das Jahr fiel, das derselben, wie wir oben sahen, die größten Leiden und Freuden brachte. Dazu kommt, daß von da an bis zum Ende seines Lebens, mit Ausnahme der einzigen Strophe „Sommer- faden", kein einziges Liebesgedicht mehr entstand.

Ehe jedoch aus dem frühen Verstummen der Liebeslyrik Schlüsse gezogen werden, muß untersucht werden, wie es sich mit der übrigen lyrischen Produktion hinsichtlich des Inhalts und des Umfangs verhält.

Es ist bezeichnend, daß gleich im Anfang der hier als letzte Periode ausgeschiedenen Zeit, vom Juni 1817 bis Mai 1818, eine völlige Unterbrechung in der Produktion eintritt. Und auch die drei Gedichte, die das Jahr 1819 dann noch bringt, sind unbe- deutende, an Verwandte gerichtete und auf bestimmte Anlässe

) Bezeichnend sind auch die vielen eingreifenden Korrekturen im Konzept.

ä) Siehe oben S. 64.

^) Leben S. 167.

^) Worunter drei von ühland nicht verpflentlichte.

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abgefaßte Gedichte. In älmliclier Weise verläuft die lyrische Produktion bis 1834, einem Jahr, das einen Einschnitt inner- halb der Gedichte der Spätzeit bedeutet. In sechzehn Jahren, von 1818 bis 1833, entstehen im Durchschnitt jährlich zwei lyrische Gedichte. Wohl treten nach Pausen von einem Jahr, ja von zwei Jahren, die Gedichte bisweilen in gedrängterer Eeihe auf, doch läßt sich eine so eigentümliche Konzentration, wie sie die acht einzigen, sämtlich 1829 entstandenen Balladen dieses Zeit- raums aufweisen, bei den lyrischen Gedichten nicht wahr- nehmen. Im Gegenteil, die Mehrzahl von ihnen ist nicht aus innerer Notwendigkeit, aus einer zur Produktion drängenden Grundstimmung des dichterischen Subjekts hervorgegangen, sondern entstanden, wie sie gerade der Zufall bestimmter per- sönlicher, zeitlicher und örtlicher Bedingungen im einzelnen hervorrief. Daher ihre weder regelmäßige, noch in Perioden sich gruppierende Verteilung über den ganzen Zeitraum. Die Zahl der diesen Jahren angehörenden Gelegenheitsge- dichte, die im Vergleich mit der Gesamtproduktion sehr groß ist, genau zu bestimmen, ist sehr schwer. Hat doch Uhland selbst im Stilistikum^) an der Möglichkeit einer strengen Um- grenzung dieser Gattung verzweifelt, wenn er sagt : „In gewissem Betracht sind die meisten lyrischen Gedichte Gelegenheitsgedichte. Sie nehmen ihren Anlaß von bestimmten Erscheinungen und Ereignissen, welche die poetische Stimmung anregen." Uhland mag dabei an die unter dem Titel „Nachruf " vereinigten Gedichte gedacht haben, die er im Vorjahr unter dem unmittelbaren Ein- druck des Todes seiner Eltern verfaßt hatte, und die sich, obwohl sie an eine bestimmte Begebenheit anknüpfen, allerdings weit über die Bedeutung von Gelegenheitsgedichten im gewöhnlichen Sinne des Wortes erheben. Auf diese letzteren kommt Uhland zu sprechen, wenn er fortfährt: „nur daß im eigentlichen Ge- legenheitsgedichte der besondere Gegenstand nicht immer mächtig genug ist, eine solche Stimmung wirklich zu wecken, und daher die gewandte Behandlung eines an sich auch weniger dichterischen Stoffes das Beste thun muß." Dafür sind aus den Jahren 1818 bis 1833 Beispiele Gedichte wie »Katharina", ein Gelegcnheits-

*) Holknd, a. ». 0. B. 86.

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gedieht größten Stils, „An Albertine Schott", „Auf W. Hauffs frühes Hinscheiden" und andere. Wenn man auf der Stufen- leiter der Gelegenheitsdichtung noch tiefer hinabsteigt, so stößt man auf Gedichte, die auf allgemeineres Interesse keinen An- spruch mehr machen können. Denn erhebt ein Gelegenheits- gedicht diesen Anspruch, „so kann," meint Uhland, „billig ver- langt werden, daß es in sich vollständig, d. h. ohne vorausgängige Erläuterung durch sich selbst verständlich sei. Bedenklich ist daher immer, wenn wir erst durch die längere Überschrift eines kurzen Gedichts auf den Inhalt desselben vorbereitet werden." Dieser letzteren Art gehören ziemlich viele Gedichte dieses Zeit- raums an. Freilich muß gleich hinzugefügt werden, daß Uhland sie mit Bedacht der Öffentlichkeit vorenthalten hat, da sie, meistens nur für den engsten Freundes- und Familienkreis be- stimmt, auch nur für diesen ganz verständlich waren.

Wenn sich auch die Zahl solcher Gedichte bei der Unmöglich- keit einer bestimmten Umgrenzung dieser Gattung nicht an- geben läßt, so genügt doch der Hinweis darauf, daß die Ge- legenheitsdichtung auffallend vorherrscht, und daß sie in mannig- fachen Abstufungen vorhanden ist : von dem Geburtstagsgedicht oder einer Becherinschrift über gedankentiefe Freundesworte bis zum Ausdruck ergreifendsten Schmerzes über den Verlust des Teuersten, was der Mensch besitzt. Schon für den ersten Teil der letzten Periode, 1818 bis 1833, ist die Tatsache bezeichnend, daß Uhland zu seiner lyrischen Produktion, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle, bestimmter, realer „Erscheinungen und Ereignisse", an die er anknüpfte, notwendig bedurfte. Je mehr jetzt, und wiederum nach 1834, Lyrik und Leben in oberflächlich- äußerem Zusammenhang standen, umsomehr macht sich das Fehlen eines tieferen, inneren Zusammenhangs fühlbar.

In der Tat wird man nicht mehr als etwa sechs Gedichte finden, die ohne eine solche Anknüpfung an äußere Anlässe entstanden sind^). Nimmt man dazu die Geringfügigkeit der Produktion im

^) Auch „Künftiger Frühling" und „Frühlingstrost" sind Stamm- buchblätter. „Der Mohn" ist aus Kerners Garten gebrochen (vgl. Brief- wechsel II, 5 und Netter S. 75). In dem Gedicht „Auf der Überfahrt" verschwindet die Andeutung der Landschaft neben der persönlichen Anspielung auf seinen Oheim Hoser und seinen Freund Harpprecht.

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allgemeinen und vieler Gedichte im besonderen, so wird man ein entschiedenes Nachlassen der lyrischen Potenz feststellen müssen und die oben offengelassene Möglichkeit eines latenten Fortbestehens der nur durch äußere Verhältnisse gebundenen Ijrischen Kraft verliert, vollends in Erwägung der Unwirksamkeit tiefer Liebeserlebnisse, immer mehr an Wahrscheinlichkeit. An Zeugnissen, daß Uhland selbst sich über den wahren Sachverhalt keinen Illusionen hingab, fehlt es nicht : Im Oktober 1824 schreibt er an Wyß^): „Gern hätt' ich in die »Alpenrosen' ein kleines Denkmal meiner Schweizerreise gestiftet. Aber meine Leier, die seit mehreren Jahren gänzlich verstummt ist, hat auch an den Alpen nicht geklungen"^). Bezeichnend ist, daß Uhland keine Anstrengungen machte, der verstummten Leier neue Lieder abzuzwingen. Er scheint sich mit Resignation in das Schicksal zu fügen. Daß diese Resignation aber doch nicht ganz ohne Kampf gewonnen war, läßt sich aus den bitter-schmerzlichen Worten des Gedichts „Späte Kritik" von 1827 erraten:

Als mich hätt' ein Lob beglückt, Selbst ein Tadel mich begeistert, Ward mir nie ein Kranz gepflückt, Noch ein Irrthum mir gemeistert.

Lob und Tadel wird mir jetzt,

Doch mich labt, mich schmerzet keines;

Meine Harf' ist hingesetzt,

Was ich sang*), ist nicht mehr meines.

Und doch hatte er 1825, mitten in der verdrußreichen Zeit seiner Tätigkeit als Landtagsabgeordneter, „In ein Stammbuch" (Vers 12 ff.) die Worte geschrieben :

Las Achte doch ist eben diese Glut, Das Bild ist höher, als sein Gegenstand, Der Schein mehr Wesen, als die Wirklichkeit,

Und als ihm im Jahr 1829 ein wenn auch rasch vorübergehender neuer Liedersegen geschenkt wird, da kehrt derselbe Gedanke in auffallend ähnlicher Form wieder:

M Mitgeteilt in Gedichte II, S. 101.

') Dm Wort „gänzlich " zeigt, wie gering er selbst seine lyrische Dich- tnng ancohlug.

*) Es kann kaum zweifelhaft sein, daß in diesem Präteritum die Zeit vom Jahr 1817 ab gemeint ist.

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Seitdem ist mir beständig Als war' es so nur recht, Mein Bild der Welt lebendig, Mein Traum nur wahr und acht.

(„Der Mohn", Vers 25 ff.)

Und das Glück dichterischen Schaffens, das ihm lange Jahre fremd gewesen, kommt ihm wieder voll zum Bewußtsein und gipfelt in dem Wunsche:

0 Mohn der Dichtung! wehe Um's Haupt mir immerdar!

Noch einmal sollte ihm dieser Wunsch, freilich wiederum nur für kurze Zeit, erfüllt werden. Im Frühjahr 1834, nachdem er noch kurz vorher in einem Brief geäußert hatte ^), „er finde sich jetzt nicht (mehr) in der gehörigen Stimmung," über Poesie zu sprechen, fühlt er plötzlich den dichterischen Trieb aufs neue in sich erwachen, der sich ihm gleich in einem der ersten Lieder in das Symbol der Lerche kleidet:

Eine, voll von Liedeslust, Flattert hier, in meiner Brust.

(Die Lerchen, Vers 7 f.)

Und wie 1829 in dem Gedicht „Der Mohn" klingt es jetzt im „Maientliau" wie ein Aufatmen von dem Druck, der seither auf seinem Dichten gelegen, wenn er ausruft (Vers 29 f.) :

Gieb mir Jugend, Sangeswonne, Himmlischer Gebilde Schau . . . !

Nur etwa fünf Monate währte dieser Nachsommer der Uhlandschen Lyrik: er zeitigte in den Monaten März bis Juli achtzehn Gedichte, zehn lyrische und acht Balladen. In der zweiten Hälfte des Jahres folgen nur noch einige Nachzügler: im August ein paar Zeilen auf einen Verwandten, im Oktober das satirische, ganz aus Zeitanspielungen zusammengesetzte Ge- dicht „Wanderung", das Uhland wenig passend an den Schluß seiner „Vaterländischen Gedichte" stellte, und endlich im Dezember noch ein Stimmungsgedicht „Wintermorgen". Damit hat ühlands lyrische Dichtung ihr Ende erreicht; denn was noch folgt, sind die einzigen der Tochter von Freund Mayer „Auf

^) An Professor Welcker, 23. November 1833; Gedichte II, S. 193 f.

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die Reise" mitgegebenen, tiefempfundenen Zeilen ausgenommen Gelegenheitsgedichte im engsten Sinne des Wortes, deren Umfang kaum über vier Zeilen binausgebt, und von denen übland aucb kein einziges der VeröfEentlicbung für wert ge- balten bat').

Bei aller Bewunderung für die reicbe Produktion des Jahres 1834 und bei aller Anerkennung des boben poetischen Wertes, der diese Gedicbte auszeicbnet, wird man sieb docb der Ansiebt Notters nicbt anscbließen können, der in ibnen eine neue und böbere Entwicklungsstufe erblickt^) und meint, es beginne mit ibnen „eine geistige Wiedergeburt . . ., wie mansie wobl selten bei einem Scbriftsteller finden wird, welcher bereits eine so sicbere und, könnte man beifügen, eine ibn zum Sicbgebenlassen oft so verlockende Grundlage der allgemeinen Anerkennung erlangt hatte". Und wenn er gar behauptet, „ein Fortschritt von dem während der beiden früheren Drittel seiner Wirkungszeit noch hie und da bemerkten Dilettantismus zum vollendeten Künstler- thum"gebe sich „auf triumphierende Art kund", sothuter durch übermäßige Erhöhung der Produkte „dieses letzten Drittels von Uhlands kurzer Dichterperiode" den in ganz anders geschlossenen Reihen auftretenden Gedichten der Jugendzeit entschieden un- recht. Hat docb Uhland selbst auf die Superiorität dieser letzteren im allgemeinen hingewiesen, wenn er im Hinblick auf sein eigenes SchaSen in späteren Jahren äußerte, die Lyrik sei „vorwaltend Sache des jugendlich erregten Gefühls"^). Man wird sich viel- mehr der Ansicht Hermann Fischers anscbließen müssen, der meint: »Ohne die spätem [nach den Vaterländischen ent- standenen Gedichte] würden zwar nicbt ganz wenige Proben Uhland'scber Poesie fehlen, aber das Gesammtbild des Dichters

^) Das erwähnte Gedicht „Auf die Reise" und die zwei aus der Lektüre hervorgegangenen Balladen „Lorchenkrieg" und „Der letzte Pfalzgraf" (vgl. Leben S. 336) sind das einzige, was Uhland nach 1834 noch den Gedichten einverleibte.

') Notter 8. 383 f. Aus dem Uhland gewidmeten Aufsatz in „Schwa- ben, wie eB war und ist", 1842, S. 63, geht hervor, daß Notter als Anfang der Periode etwa das Jahr 1830 (Erscheinungsjahr der 1820 entstandenen BaUaden) betrachtet. Offenbar hat er in der Biographie vorzugsweise die Gedichte des Jahres 1834 im Auge.

') Üben 8. 328.

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wäre dasselbe . . . * ^) und : „Neue Formen und Gattungen der lyrischen und epischen Poesie sind nach jener Zeit nicht mehr in Uhlands Dichtung eingedrungen""). Dabei soll nicht übersehen werden, daß das fortschreitende Alter manches in eine tiefere, wärmere Beleuchtung rückt ■^), gewisse Schattierungen aber mildert. So begegnen wir auch in dieser Spätzeit wieder häufiger dem Todesgedanken, dessen Bevorzugung eine Zeitlang seiner Jugendljnrik eine düstere Färbung gegeben hatte. Allein er ist jetzt von allen sentimentalen Elementen geläutert und es zeigt sich die tiefwurzelnde transzendentale Tendenz der durch und durch ernsten Natur des Dichters. Mit gefaßter Ruhe, ohne jede Anwandlung von Schwermut lenkt er jetzt öfters den Blick auf das Jenseits, nach dem er sich nicht sehnt*) denn er steht fest und rüstig in einem tätigen Leben , das aber seinem gläubigen Gemüt als willkommene Heimat winkt. Wenige Gedichte dieses Zeit- raums zeigen sogar eine glühende, fast mystisch-symbolische Er- fassung des Unsterblichkeitsgedankens, die jenen Zug tapferer Lebensbejahung in bedeutsamer Weise ergänzt. Neben der Ballade „Der Waller" und dem Gedicht „Gruß der Seelen" ist in dieser Beziehung besonders das vierte Gedicht des „Nachruf" betitelten Zyklus mit seiner eigenartigen Symbolik hervorzuheben :

Du warst mit Erde kaum bedeckt,

Da kam ein Freund heraus,

Mit Rosen hat er ausgesteckt

Dein stilles Schlummerhaus.

Zu Haupt zwei sanfterglühende,

Zwei dunkle niederwärts;

Die weiße, ewig blühende

Die pflanzt' er auf dein Herz*).

Überhaupt greift Uhland in den späteren Jahren gern zum Symbol. Der Mohn ist ihm Sinnbild der Dichtung, der Maientau

^) Allgemeine deutsche Biographie XXXIX, S. 150.

') Ludwig Uhland, 1887, S. 69. ) Ebenda S. 52 f. macht Hermann Fischer auf die stärkere Durch- setzung der Ballade der Spätzeit mit lyrischen Elementen, besonders auf das Vorwiegen der Naturempfindung, aufmerksam.

■*) Vgl. das Gedicht „Der Kirchhof im Frühling".

*) Die zwei sanft erglühenden sind wohl Symbol für die Liebe der Gattin und Mutter, die dunkeln für das überwundene Erdenleid, und die weiße für die Unsterblichkeit.

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der verjüngenden Kraft, die Malve des schwindenden Lebens, und der Docht, der auf weitem Meer dem Schiffer die Nadel erhellt, ist das Symbol des gottvertrauenden Glaubens.

Solche Züge, wie die eben angeführten, berechtigen uns je- doch nicht, von einer merklich höheren Stufe zu sprechen, die ühlands Lyrik in dieser Spätzeit noch erklommen habe. Die auffallendste Wahrnehmung, welche sich einer unbefangenen Betrachtung der lyrischen Produktion der letzten Periode auf- drängt, wird immer die eines allmählichenVersiegens derdichterischenKraft bei ühland sein eine Wahr- nehmung, welche durch den hohen Wert einzelner Gedichte und durch gelegentliches Wiedererwachen des poetischen Triebes modifiziert, doch nicht erschüttert wird.

Daß Uhland in gewissen AugenbHcken die Abnahme seiner dichterischen Kraft beklagt und das Wiedererwachen derselben mit doppelter Freude begrüßt hat, ist für die Zeit bis 1834 nach- gewiesen worden. Nach dieser Zeit scheint er mit gleichmäßiger Fassung die Tatsache als solche hinzunehmen. Wenigstens findet man in den Gedichten kein Wort der Klage mehr und gelegentliche briefliche Äußerungen aus späteren Jahren zeigen, daß er auf seine dichterische Tätigkeit als etwas Abgeschlossenes, Dahintenüegendes zurückblickt, dessen Wiederkehr er nicht für wahrscheinlich hält. An Frau Welcker in Freiburg schreibt er 184() (?): „Seit langer Zeit habe ich mich mit der Poesie nicht in eigener Übung, sondern nur in geschichtlichen For- schungen beschäftigt, und wenn ich überhaupt zu dichterischen Arbeiten zurückkehren soll, so wird mir das kaum bei einzelnen Anlässen, sondern nur durch eine veränderte Grund- stimmung möglich sein, zu der mir die gegenwärtig walten- den Gestirne wenig Hoffnung machen"^). Und von dem „Still- stand, der überhaupt in seinen lyrischen Stimmungen eingetreten" Bei, spricht er 1844 in einem Brief an Dr. Wolf in Gent'). Und 1859 in einem Brief an Teichmann nennt er, was die Poesie bei ihm ersetzt hat: »Die literarische Arbeit meiner vorgerückten Jahre bewegt sich seit geraumer Zeit nicht mehr in selbstgeübter Poesie, sondern in der Erforschung des germanischen Altcrthums

*) Leben 8. 289. ') Ebenda 8. 323.

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aus den Gebieten der Mythologie, Sage und Volksdichtung"'). Auch seinen Bekannten fiel die geringere Teilnahme auf, die Ühland für lyrische Dichtung an den Tag legte ^).

Fragt man nach den Gründen für die Abwendung Uhlanda von der lyrischen Produktion, so ist jedenfalls von vornherein die Vermutung abzulehnen, seine äußeren Lebensverhältnisse hätten in entscheidender Weise hemmend oder fördernd auf dieselbe eingewirkt. Auch Frau Uhland, die doch besser als irgend jemand über die Einwirkung solcher Verhältnisse auf Uhlands Dichten hätte urteilen können, greift fehl, wenn sie zur Erklärung der 1829 und 1834 hervorbrechenden Produktionslust als vermutliche Gründe „die Befreiung von ständischen Arbeiten oder sein Schaffen in dem Felde seiner Neigung", oder „die Stille des Hauses" angibt*'*); denn dieselben günstigen Bedingungen erwiesen sich ja in dieser Periode zu anderer Zeit als unwirksam. Deshalb konnten auch die äußeren Lebensverhältnisse der Jahre 1818 bis 1863 hier fast ganz außer Betracht gelassen werden. Gewiß ist für Uhland mit den Jahren, die er pflichtmäßig den lang- wierigen Ständeversammlungen gewidmet hat, „ein gutes Stück Lebenszeit verrauscht"^), allein es ist sehr zweifelhaft, ob dieses Stück Lebenszeit der Dichtung zu gute gekommen wäre. Die gelehrte Forschung für das Verstummen seiner Lieder ver- antwortlich zu machen, scheint mehr Berechtigung zu haben. Ein Brief, den Uhland 1844 an Kerner richtete, ist geeignet, diese Vermutung zu begründen. Nachdem Uhland daran er- innert hat, wie die beiden Freunde in jungen Jahren einmal bei der Wurmlinger Kapelle Hirtenknaben nach Volksliedern, die diese gesungen, vergeblich ausgeforscht hatten, fährt er fort: „Noch in späterem Alter bin ich diesen Liedern emsig nach- gegangen und habe deren viele eingehascht, aber der romantische Duft, in dem sie uns damals erglänzten, ist ihnen hier und dort

1) Holtey, 300 Briefe, Bd. IV, S. 100.

*) Vgl. Briefwechsel II, 36 f., 406.

') Leben S. 230, 251. Irrig ist auch die Vermutung von Frau ühland, das Stilistikum habe die Lust, zu dichten, in Uhland erregt (Leben S. 449). In der Zeit des Stilistikums (6. Mai 1830 bis 20. August 1832) fallen nur die durch den Tod der Eltern veranlaßten Gedichte.

^) An Professor Welcker, 28. Dezember 1840; Leben S. 288.

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von den Flügeln gestreift, sie sind leibhafter, geschichtlicher, selbst gelehrter anzusehen. Doch sind sie eben damit wahrer und echter geworden, wie sie aus dem Leben ihrer Zeit hervor- sprangen"^). Was Uhland hier von dem Volkslied sagt, gilt in derselben Weise von der altdeutschen Sage, dem Heldenepos und dem Minnesang, welche auf seine Dichtung, und namentlich auf seine Balladendichtung, frühe schon einen bedeutenderen Einfluß gewonnen hatten als irgend ein einzelner Dichter. Jetzt, nach der Erklärung, die ühland über seine Stellung zum Volks- lied und, implicite, zu vaterländischer Sage und Dichtung über- haupt, hier gegeben hat, wird es klar, in welchem Sinne es allerdings seine Richtigkeit hat, daß die gelehrte Forschung bei ühland die Dichtung verdrängt habe: Nicht als ob Uhland sich mit der ersteren so angelegentlich beschäftigt hätte, daß es ihm für die letztere an Zeit und Interesse gefehlt hätte! Der Grund lag tiefer : Es hat eine Verrückung der Gesichts- punkte bei Uhland stattgefunden; was früher, in der Jugend, mehr unmittelbar und naiv durch das Gemüt von ihm ergriffen und subjektiv dichterisch verarbeitet worden war, ward in der späteren Zeit Gegenstand objektiver wissenschaft- licher Forschung. Den Forscher aber fesselt nicht so sehr die Erscheinung an sich als der Zusammenhang der Erscheinungen und die Begründung dieses Zusammenhangs; höchste Norm ist ihm die Freihaltung seines Gegenstandes von jeder subjektiven Zutat.

Uhlands zähe Natur nun, die nicht leicht abließ von dem, was sie einmal erfaßt hatte, war wenigstens in späteren Jahren nicht geschmeidig genug, den völligen Wechsel der Position, welcher bei dem Übergang von der wissenschaftlichen Produktion zur poetischen und umgekehrt nötig ist, jederzeit mit Leichtigkeit zu vollziehen was für ihn noch die besondere Schwierigkeit hatte, daß der Gegenstand beider großenteils für ihn zusammen- fiel. Waren auch in früherer Zeit die Dichtung und die Beschäf- tigung mit der Wissenschaft, die sich beide frühe regten, lange Zeit, ohne sich wesentlich zu beeinträchtigen, nebeneinander hergegangen, ja hatten sie teilweise sich gegenseitig durchdrungen,

0 BrMweohMl II, S. 249.

BI- SO konnte doch für den aufmerksamen Beobachter schon damals kein Zweifel vorhanden sein, welche von beiden Mächten im Fall des Ausbruchs eines ernsten Konflikts auf die Dauer die Ober- hand gewinnen würde. Gewisse Tatsachen, wie jener Brief an Seckendorf, in dem der Zwanzigjährige „die lyrischen Ergüsse eines jugendlichen Gemütes" so verächtlich abtut und so ent- schlossen auf „vollkommene Objektivität" dringt, oder wie die Einseitigkeit, mit welcher der endlich flügge Gewordene seinen Aufenthalt in dem an Anregungen jeder Art so reichen Paris anwandte, wo das vielgestaltige Leben dem Dichter Bilder in EüUe bietet, wiegen so schwer, daß sie schon früh Zweifel erregen mußten, ob die dichterische Produktion für Uhland immer in demselben Maße sich als eine innere Notwendigkeit erweisen würde, wie die wissenschaftliche. Zeigte die Flamme der für die lyrische Produktion so unentbehrlichen Subjektivität bei Uhland schon in jungen Jahren zuweilen ein bedenkliches Flackern, so mußte, als die natürliche Erregung des jugendlichen Blutes sich legte und außerdem sein Leben in geordnete Bahnen einlenkte, alles die Oberhand gewinnen, was den Forscher begünstigte, und alles, was dem Dichter Lebenselement ist, im selben Grade abnehmen. Daher auch keine Klage mehr über dichterische Unproduktivität in der Zeit, wo die Wissenschaft ihm volle Genüge gab : die wissenschaftliche Betätigung ersetzte ihm die dichterische Produktion. Die festgefügte, unerschütterlich stehende Mauer von Uhlands Charakter umschloß eine Natur, die von Haus aus nicht so wider- spruchslos und einheitlich war als es den Anschein haben mochte. Zweierlei hatte das Schicksal in ihn gelegt: den Keim zum be- deutenden Dichter und den zum großen Forscher. Die nähere Betrachtung der Entwicklung seines inneren Lebens hat gezeigt, wie im Beginn der erstere sich in ganz erstaunlicher Frühreife entfaltete, wie dann aber zeitig auch der andere sich regte und wie weiterhin beide Triebe Seite an Seite emporstrebten: zwei Bäumen vergleichbar, die, nebeneinander wurzelnd, ihre Äste kreuzen. Allein auf die Dauer erwies sich das gemeinsame Erdreich, in dem sie beide standen, dem einen ergiebiger als dem anderen, er entzog diesem die Kraft und breitete schattend seine Zweige über ihn aus.

Haag, Uhland 6

n Die Genesis des Gedichtes

In jungen Jakren, mitten in der Periode anhaltender lyrischer Produktion, ermahnt IJhland seinen Freund K. Mayer einmal, bei seinem Dichten hauptsächlich darauf zu sehen, ob das Gedicht ^ einem glühenden Augenblick entstanden " sei, „ob es gedichtet wurde oder sich selbst dichtete, von selbst hervorsprang"^). Und wenn er das auch in späterer Zeit dadurch einschränkte^ daß er darauf hinwies, es genüge nicht „am Drang, an der an geregten Stimmung", der Gedanke müsse klar vor dem Geiste stehen, der Gegenstand innerlich gestaltet sein, ehe zum Verse gegriffen werde'*), so bleibt doch bestehen, daß von jener ange- regten Stinunung der erste Antrieb zu dem Gedichte ausgehen müsse. Von welchen Umständen bei Uhland das Zustandekommen dieser Stimmung abhängig war, soll im folgenden zunächst untersucht werden. Verschiedenes begünstigt diese Untersuchung gerade bei Uhland : einmal seine unfehlbare Aufrichtigkeit und Nüchtern' heit, die ihn von subjektiven Reflexionen über sein Dichten oder gar von schillernder Selbstbespieglung zurückhielt und uns er- möglicht, eine reine Scheidung von Wahrheit und Dichtung zu vollziehen; sodann das reiche Tatsachenmaterial, welches das völlig sachlich abgefaßte Tagbuch wenigstens für die Jahre 1810 bis 1820 bietet; femer die Uhlands peinlicher Gewissenhaftigkeit verdankte genaue Datienmg sämtlicher Gedichte ; und endlich die Kenntnis der Lesarten für einen sehr großen Teil der Gedichte.

Überblickt man die chronologisch geordnete Reihe der Uhlandschen Gedichte, so erscheint am auffallendsten die un-

>) An K. Mayer, 22. April 1808, I, S. 81. *) Leben S. 420.

e

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regelmäßige, stoßweise Art, in der sich die Produktion vollzog. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden^), daß schon in früheren Jahren auf Zeiten intensiven Schaffens und erstaunlicher Frucht- barkeit bei Uhland plötzlich große Pausen folgten, scheinbar ohne daß sich in dem äußeren Lebensgange Gründe für das Ver- stummen oder für die Wiederaufnahme der Produktion finden ließen, und ohne daß einschneidende Ereignisse, wie z. B. die Verheiratung oder die so erwünschte Erlangung der Professur, eine sichtlich günstige Wirkung ausgeübt hätten. Dasselbe gilt, wie wir oben sahen, für tiefgreifende, innere Erlebnisse; die an inneren Anfechtungen und Freuden so reichen Jahre 1817 bis 1820 haben nur eine verschwindende Anzahl von Liedern ge- zeitigt, und auch unter den wenigen fanden sich kaum solche, die dem Lebensinhalt dieser Jahre angemessen waren.

Man kann durch diese Wahrnehmung zu der Vermutung geführt werden, daß die starken, äußeren und inneren Erleb- nisse, freudiger oder schmerzlicher Art, dem dichterischen Schaffen bei Uhland ungünstig waren und geradezu hemmend auf dasselbe wirkten. Dies ist schon der Fall bei der ersten größeren Unterbrechung der Produktion 1810 bis 1811, die genau mit der Reise nach Paris zusammenfällt; erst als Uhland sich doch etwas an die Verhältnisse gewöhnt und sein Leben einen regelmäßigen Lauf angenommen hat, beginnt das Schaffen langsam wieder sich zu regen, und es entstehen im Juli zwei, erst im September wieder mehr Gedichte, und zwar bezeichnenderweise fast lauter Balladen. Nach der Rückkehr in die Heimat wird dann, trotzdem sich Klagen über diese finden, die Produktion, auch die subjek- tiv-lyrische, wieder aufgenommen und erreicht während des ruhigen, zurückgezogenen Lebens, das er in dieser Zeit führte, ihre höchste Blüte ^), um dann, mit der völligen Änderung seiner Lebensverhältnisse, dem Wechsel des Wohnsitzes, der, wie wir sahen, viel für ihn bedeutete, und der Tätigkeit, Ende des Jahres 1812 plötzlich wieder bedeutend zu sinken. Es folgt dann die Reihe der vaterländischen und poUtischen Gedichte, deren Ab-

^) Leben S. 251 f. Herrn. Fischer, a. a. O. S. 38 f. ) Es ist wohl kein Zufall, daß mitten in die zwei einzigen Pausen des sich durch fortlaufende Produktion kennzeichnenden Jahres 1811 zwei längere Wanderreisen fallen (5. bis 22. Mai; 4. bis 21. Oktober).

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fassung auf bestimmte konkrete Veranlassungen zurückgeht und die deshalb hier nicht in Betracht gezogen werden können. In den Jahren, da sich sein Verhältnis zu EmiHe Vischer tiefer ge- staltete, beobachten wir ein neues Versiegen der Produktion, und ebenso nach dem erträgnisreichen Jahr 1829, in dessen Ende die Ernennung zum Professor fällt.

Man wird sich also wohl mit dem Paradoxon abfinden müssen, daß eingreifende Erlebnisse für Uhlands Schaffen eher hemmende als fördernde Faktoren waren; so daß gerade die Abwesenheit dieser letzteren, wenigstens in den Jahren, wo Uhland überhaupt produktiv war, günstig gewirkt zu haben scheint. „Muße und Ein- samkeit" habe ihm, schreibt er 1805 an Kerner, „ungewöhnlich Vieles eingegeben"^). Er bedurfte weniger starker Anregung, als der Ruhe und Sammlung, ja einer gewissen Gemächlichkeit zum Dichten. Fühlte er sich doch nicht im stände, auf ihn ein- dringende Reiseeindrücke, auch nur brieflich, unmittelbar wieder- zugeben: „Mein Reisebericht", schreibt er 1838 aus Wien an seine Frau, „ist freilich ein sehr trockener, aber ich habe nicht die Gabe, solche Anschauungen sogleich wiederzugeben; sie sollen darum nicht verloren sein"^). Uhland ist nicht der Dichter, dem, wie Goethe, auf einer Wanderung durch Regen und Sturm, die mächtigen Natureindrücke unmittelbar in kühne, fessellose Rhythmen sich ergießen. Man sieht es schon seinen Liedern, die in Stimmung und Inhalt etwas Abgedämpftes, in der Form etwas Abgerundetes und Gesetztes haben, an, daß sie nicht unmittelbarer Ausdruck des aufregenden Erlebnisses sind, sondern Produkt eines ,jruhigen Anwachsens imdNachlassens" künstlerischer Stimmung^).

Bei der Frage, welche Faktoren Uhlands Dichten beein- flußten, wird daher nicht sowohl auf die in sein persönliches Leben tiefer eingreifenden Erlebnisse Nachdruck zu legen sein, als auf stimmungsfördernde Faktoren allge- meinerArt. Es liegt nahe, das Schaffen des Lyrikers in engen Zusammenhang mit den Naturvorgängen, insbesondere mit den Jahreszeiten zu bringen. Bei der fast lückenlos genauen Kenntnis der Entstehungsdaten der Uhlandschen Gedichte mag man sich

^) Briefweohiel I, S. 6.

') Leben S. 268.

*) Herrn. Fischer, AUgomeine deuttohe Biographie S. 151.

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versucht fühlen, einmal zahlenmäßig festzustellen, in welcher Weise sich die dichterische Produktion quantitativ über das ganze Jahr verteilt. Es liegt auf der Hand, daß zu einem solchen Versuch nicht das ganze Material an Gedichten verwendet werden darf, sondern diejenigen einer möglichst großen Zahl von Jahren, in denen der dichterische Drang sich möglichst fortlaufend und von zufälligen äußeren Bedingungen unbeeinflußt betätigt hat. Dar- aus ergeben sich von selbst die Grenzen der Statistik : nämlich das Jahr 1804, in welchem die genaue Datierung der Gedichte beginnt, als erstes, das Jahr 1812 als letztes Jahr der Reihe, da teils das Eingreifen von Zeitereignissen, teils chronische ün- produktivität die nach 1812 entstandenen Gedichte als unge- eignet für den vorliegenden Zweck erscheinen lassen. Die nach- stehende chronologische Tabelle der dichterischen Produkte der neun Jahre von 1804 bis 1812 geht weniger darauf aus, in Bezug auf die Frage nach dem Zusammenhang von Dichten und Jahreszeit zwingende Resultate zu liefern, als auf engstem Raum einen Überblick zu gewähren über das auffallende Auf und Nieder der dichterischen Produktion bei Uhland. Sie schließt sich im allgemeinen eng dem von E . Schmidt im II . Bande seiner Ausgabe der Gedichte S. 362 ff. gegebenen „Chronologischen Verzeichnis "an. Nur ganz vereinzelte Übersetzungen sind ausgeschieden. Ist ein Gedicht an einem Tag konzipiert, an einem anderen ausgeführt, so ist der Tag der Konzeption als der entscheidende betrachtet.

Jahr

3

a

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u

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s

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3 3

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Ol

Q

Gesamt- zahl

1804

1

1

1

3

2

1

8

2

2

1

17

1805

7

3

1

4

2

3

1

7

2

9

3

42

1806

2

4

4

2

4

2

1

19

1807

3

1

6

3

4

1

8

2

11

4

38

1808

3

3

9

3

1

1

1

21

1809

4

1

3

2

5

4

5

7

31

1810

7

5

3

1

3

6

6

4

85

1811

2

3

7

2

1

2

5

7

9

1

9

3

51

1812

7

2

10

3

3

1

1

2

2

31

Summe :

36

17

31

20

15

16

19

20

34

14

42

21

285

so- was die Tageszeit betrifft, so sind von 129 Gedichten, für die eine Angabe derselben überliefert ist, etwa 72 früh (Vormittags), etwa 17 Nachmittags und 40 „Nachts" (d. h. nach dem Abendessen) verfaßt. Man mag der Anwendung der Statistik mit ihrem doch immer rohen und summarischen Verfahren, gerade auf ein Gebiet, wo es sich um so wenig meßbare Größen, wie dichterische Erzeugnisse, handelt, großes und berechtigtes Mißtrauen entgegenbringen: des einen Eindrucks wird man sich nicht erwehren können, daß die Monate November bis März, also gerade die Zeit, wo die Natur tot liegt, in der sie hinstirbt oder erwachend kaum sich regt*), sich für Uhland weit produktiver erwiesen als die Monate, in denen sie sich entfaltet oder in üppigster Pracht steht. Um- fassen doch die erwähnten fünf Wintermonate allein 147 Ge- dichte, wogegen die fünf nächsten nur 90, die sieben nächsten nur 138 bieten. Auch wenn man andere Gruppen bildet, gelangt man zu demselben Resultat ; man erhält durch Zusammenfassung nach Jahreszeiten folgende gleichmäßig abnehmende Proportion: Herbst (September bis November) 90; Winter (Dezember bis Februar) 74; Frühling (März bis Mai) 66, Sommer (Juni bis August) 55 Gedichte. Diese Verteilung auf die Jahreszeiten ist wohl nicht ganz zufällig. Die Eindrücke, die Uhlands tiefgründige Natur erhielt, wurden nicht gleich verarbeitet, sondern wirkten nachhaltig fort, um in Zeiten in sich gekehrter Ruhe und Samm- lung, wie sie hauptsächlich die Wintermonate") bieten, zu poeti- schen Gebilden verdichtet ans Licht zu treten. So konnte es geschehen, daß der Dichter des Frühlings verhältnismäßig wenige 83iner Gedichte im Frühling gedichtet hat^).

Ein Irrtum wäre es, wenn man nun daraus den Schluß ziehen wollte, Uhland sei ein Stubendichtir gewesen. Nichts weniger als das. Gerade in den Zeiten, wo der Drang zur lyrischen Pro- duktion in ihm am stärksten war, lebte er in inniger Berührung mit der Natur. In Wochen vergeht, z. B. ums Jahr 1811/12,

*) Vgl. den Anfang des Gedichts „Die sanften Tage".

') Auf die Bevorzugung der „Herbst- und Wintermonate" weist auch Uhland selbst hin, wenn er im Stilistikum (S. 35) bemerkt, die Poesie fiihlo den Frühling oft am innigsten mitten im Winter, sie schaffe im Dezember den Mai.

*) Herrn. Fischer S. 38.

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wie aus dem Tagbuch zu ersehen ist, oft kein Tag, an dem er nicht auf einsamen Gängen in der Umgebung der Heimat Sammlung und poetische Anregung gefunden^), und manches Gredicht ist dabei, im Keim oder auch in ganzer Ausführung, unterwegs ent- standen^). Gerade der Umstand, daß er bei seinen Spaziergängen immer dieselben Wege aufsuchte, scheint günstig auf seine Pro- duktion gewirkt zu haben: Nach Wetter, Jahres- und Tageszeit verschieden, reproduzieren ihm die altbekannten Landschafts- bilder, durch Ideen- oder vielmehr Stimmungsassoziation, die auf Ähnlichkeit oder Kontrast beruhen kann, die frühere, angeregte Seelenverfassung'') und geben so einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung neuer Keime ab. Bald erweckt der Natureindruck nur im allgemeinen den dichterischen Drangt); meist aber gibt er die Grundstimmung, das Kolorit ab zum Gedicht. Interessant ist in dieser Beziehung die Entstehimg der Gedichte „Frühlings- ruhe ", „Frühüngstrost und Bitte ", welche in der Idee ( „in diesem Jahr") schon früher vorhanden waren, dann aber erst durch einen bestimmten Natureindruck zum Leben erweckt werden^).

Zu dem visuellen Eindruck gesellt sich zuweilen außerdem noch ein akustischer, welcher die von der Landschaft hervorgerufene Stimmung erhöht oder sich mit ihr in eigenartiger Weise verbindet. An einem „herrlichen Maiabend", während die untergehende Sonne einen Kegenbogen bildet und die Nach- tigallen in den Zweigen schlagen, entsteht ihm die Idee zu einem Gedicht *"). Ein anderes Mal hört er auf einem späten Spazier- gang auf dem Schloßberg bei trübem Mondlicht ein pochendes Hammerwerk aus dem nächtlichen Tale, welches die Landschaft belebt, wie der Schlag des Herzens die Brust ^). Auch sonst verzeichnet er charakteristische Geräusche oder Klänge*). Ganz

1) Vgl. oben S. 52 f.

^) Z. B. die Gedichte „Begräbnis", „Das Thal", „Winterreise", „An Kerner", „Ruhethal " u. a., siehe auch oben S. 13, Anm. 1.

^) Vgl. das Gedicht „Das Thal", „Reisen", Str. II.

*) Siehe Tagbuch, 9. Mai 1818: „Auf dem Schloßberg, Abendroth, Anregung dadurch. Verse zu Ludwig d. B."

^) Tagbuch, 20. März 1812: „Regen, laue Luft, Frühlingsahnungen."

^) Ebenda, 2. Mai 1811.

') Ebenda, 8. April 1811.

*) Vgl. ebenda, 17. Juni 1811.

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besonders empfänglich war er für den Glockenklang und dessen Stimmimgsreiz. „Wie die Feuerbacher Glocke [bei trübem, regnerischem Wetter] aus der Dämmerung acht schlug," wird im Tagbuch vermerkt^), und in den sehr kurzen Notizen über Straßburg, das er auf der Rückreise von Paris sah, fehlt auch die Erwähnung des Klanges der Münsterglocken nicht ^). Noch in späteren Jahren, beim Schillerfest 1859, vermochte ihn, ob- gleich er nicht leicht unvorbereitet öffentUch sprach, der Klang der großen Glocke von Stuttgart dazu, auf eine Rede, die er entworfen, zu verzichten und eine andere, vielleicht ergreifen- dere, anknüpfend an Schillers Lied von der Glocke, zu im- provisieren.

Bei dieser Empfänglichkeit für stimmungserregende akustische Eindrücke konnte es ihm an Sinn und Gefühl für die Musik nicht fehlen''). Zwar scheint diese keine große Rolle in seinem Leben gespielt zu haben, doch versäumte er nicht gern eine Gelegenheit, gute Musik zu hören. Er wurde durch sie vermut- lich in ähnlicher Weise ganz allgemein angeregt wie Goethe, der sich wohl gelegentUch Musiker kommen ließ, um seine trübe Stimmung zu lösen^). Jos, Rank gegenüber hat Uhland einmal geäußert, daß ihn „Musik in seinen Arbeiten eher fördere als störe "^). Und am 17. Juni 1811 heißt es im Tagbuch: „Musik und dadurch angeregtes Gefühl." Bekannt sind Balladen wie „Des Sängers Fluch", „Bertrand de Born ", „Singenthai" u.a., in denen er die verführerische Macht des Gesanges verherrlicht hat. Ein Traum, der ihm dieses Dämonische der Musik in aufgeregten Bildern verkörperte, erschien ihm merkwürdig genug, um ihn ausführlich im Tagbuch aufzuzeichnen").

^) Ebenda, 15. Mai 1811.

*'') Ebenda, 30. Januar 1811, vgl. wegen des Glockenklangs auch da« Gedicht „Dante", Vers 35 und 39 f.; ferner „Die Glockenhöhle", „Die verlorene Kirche". (Zu letzterem Gedicht vgl. die Anm. Gedichte II, 8. 124 f.)

') Vgl, Leben S. 22.

*) Goethef Briefe an Frau von Stein, herausgegeben von Ad. Scholl, 3. Aufl. 1899, I, S. 60, Nr. 9«.

^) Jos. Rank, Erinnerungen aus meinem Leben (= Bibliothek deut- scher Schriftsteller aus Böhmen. V), 1896, S. 406.

) Tagbuch S. 108 f.

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Auf diese Weise hat Uhland überhaupt manchen Traum festgehalten^), und in vielen seiner Gedichte verrät sich die Nachwirkung von Träumen^), so daß man annehmen kann, das Traumleben sei nicht ohne Einfluß auf seine Produktion ge- blieben; wie man denn ähnliches auch von Gottfried Keller weiß. Das Tagbuch bestätigt dies, indem es ausdrücklich den Zusammen- hang einiger Gedichte mit Träumen verrät. Die beiden Sonette „Todesgefühl" und „Geisterleben" sind „veranlaßt durch Gefühle der Nacht", bezw. durch Träume, und unter deren unmittelbarem Eindruck, letzteres sogar gleich früh im Bett, niedergeschrieben"). Auch die Stimmung des Gedichts „Klage" ist nicht diejenige des Lebens, sondern die des Traums^). Eine eigenartige Ver-- Wendung fand ein Traum vom Jahr 1807 : er ward gewissenhaft, mit Beifügung des Datums, sofort aufgezeichnet und erst drei Jahre später zu dem Gedicht „Die Harfe" verarbeitet'^).

Eine reiche Quelle von Anregungen bot Uhland die Lektüre. Aus ihr schöpfte er besonders ein^ bedeutenden Teil der Stoffe für seine Balladen, und eine Darstellung der Entwicklung der episch-lyrischen Gedichte wird sich eingehend mit der Frage zu beschäftigen haben, welche Behandlung die so aufgenommenen Stoffe durch den Dichter erfuhren. In diesem Zusammenhang aber sei nur darauf hingewiesen, daß Uhland auch in ganz all- gemeiner Weise durch Lektüre zu dichterischer Stimmung an- geregt wurde. Nachdem er das ihm besonders zusagende Buch Karl Thorbeckes, „Beatus und dreizehn Gedichte "gelesen, begleitet er die Erwähnung dieser Lektüre im Tagbuch mit dem Vermerk: „Anregung durch die Gedichte"''). Ein anderes Mal gebraucht er geradezu den Ausdruck „Erweckung": „Abends die Fabliaux et Contes par Meon von Schubart erhalten; dadurch Erweckung zur Poesie aus der bisherigen Niedergeschlagenheit"'). Der

^) Ebenda, 28. April 1810; 14. Dezember 1810 j 26. Februar 1811; 15. Juni 1811.

^) Z. B. in „Letztes Lied", „Untreue", „Zweifel", „Der Wald", „Erträumter Schmerz", „Der Liebesbrief", „Schwere Träume".

^) Tagbuch, 23. November 1810 und 30. Januar 1813.

'^) Ebenda, 4. März 1812.

^) Siehe Gedichte II, S. 141 f. und Tagbuch, 28. April 1810.

*^) Tagbuch, 13. November 1811.

') Ebenda, 1. Juni 1811.

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leider unausgeführte Plan zu dem groß angelegten Gedicht «Heimkehr zur Quelle" ist durch ein Lied der Rosa Maria von Vamhagen ein erstes Mal, seine Wiederaufnahme veranlaßt durch Lektüre von Schillers Gedichten^). Aber nicht nur fremde Dichtimgen, auch eigene konnten die produktive Stimmung in ihm erregen; am 3. Januar 1811 bemerkt er im Tagbuch: „Nachts Besuch von Schickardt; Vorlesung mehrerer meiner Gedichte, Erweckung dadurch und Entwurf der Romanze vom Ringe "^). Aus dieser Notiz ist auch zu ersehen, daß ihm die Anregung und Billigung eines Freundes bei seinem dichterischen Schaffen wertvoll war^). Besonders Karl Mayer und Kerner ließ er an denselben innigen Anteil nehmen. Auch als der mündliche Austausch nach der Auflösung des Kreises, der sich um das Sonntagsblatt ^^geschlossen hatte, durch den schriftlichen ersetzt werden mußte, gingen, wie wir sahen, die neu entstandenen Ge- dichte alsbald den Freunden zu, und Uhland ermahnt diese wiederholt') zu offener Kritik, die ja nur fördern könne. Ja, es kommt vor, daß er den Freund zwischen zwei Fassungen eines Gedichts zu wählen auffordert, wie bei Übersendung der Ballade „Goldschmieds Töchterlein" an Karl Mayer ^).

Allein wenn sich die Freunde in ihren Briefen auch gegen- seitig aufmunterten zu fleißigem Dichten, so hat doch eine direkte Aufforderung im einzelnen Fall Uhland die dichterische Stimmung nie oder doch nur ganz selten abzwingen können''), trotzdem er aus eigener Initiative gern Gelegenheits- gedichte verfaßte, und muntere Geselligkeit ihn auch zu Pro- duktionen leichterer Art oder gar gelegentlich zu Impro- visationen anregen konnte'). Die Poesie zu kommandieren

^) Tagbuch, 8. Februar 1810; 5. Juli 1816.

') Ein ähnlicher Fall betrifft die Entstehung des Gedichts „Das Thal", siehe unten S. Ol f.

^) Vgl. Leben S. 141,

*) Mayer I, 81, 129, 147.

^) Ebenda I, 8. 109.

**) Nor die Gedichte „DerKöpfer" (siehe unten), „Ein Haus darin ..." (1816 für den Fürsten von Hohenlohe) und das mit Rückcrt zusammoo ▼erfaßte „Tenzon" verdanken einer Aufforderung bezw. oinom Vor- schlag ihre Entstehung.

^) Vgl. das „Theeliod", die für die Schattetigeseilschaft verfaßten

- 91

oder sie sich von anderen kommandieren zu lassen, lag ihm fern^).

Die hier genannten Faktoren, die auf Uhlands Schaffen einen fördernden und bestimmenden Einfluß hatten, traten nicht nur in jedem Falle einzeln auf, sondern bildeten auch mehr oder minder zahlreich zusammengesetzte Gruppen, deren verschiedene Glieder entweder in ihrer Gesamtheit die Intensität des dichte- rischen Dranges verstärkten, oder, in der Mehrzahl der Fälle, auf die verschiedenen Phasen des keimenden Gedichts nacheinander vpirksam waren. Einige Beispiele mögen das deutlich machen.

Am 12. Oktober 1811 machte Uhland bei einem Aufenthalt in Heilbronn „einen Spaziergang mit Karl Mayer in das dunkle Waldthal Köpf er auf Veranlassung Fabers", eines Verwandten Uhlands, der von ihm ein Gedicht darüber verlangt hatte. Diese Aufforderung bildete also den ersten Antrieb. Doch war dieser an sich noch nicht stark genug, das Gedicht hervorzurufen. Erst die am folgenden Tag dazu tretende, mit der Szenerie jenes Waldtals übereinstimmende Witterung, Regen und Wind, führt, wie im Tagbuch ausdrücklich hervorgehoben wird, zur Abfassung des Gedichts.

Interessanter, und doch immerhin noch einfach, gestaltet sich die Vorgeschichte des Gedichts „Das Thal". Am 18. Juni 1811 hatte Uhland einmal wieder eins seiner früheren Produkte, das lange von ihm unbeachtete Gedicht „Des Dichters Abendgang" gelesen und war dadurch „angeregt " worden. Als er am folgenden Tag bei einem Abendspaziergang auf den österberg durch das Lustnauer Wäldchen sich in einer ähnlichen Situation und unter dem Einfluß verwandter Natureindrücke befand, wie diejenigen, welche dieses Gedicht voraussetzt, ergreift ihn „eine erregte Stimmung"^), und es entsteht, größtenteils noch auf dem Spazier- gang, das in Empfindung, Diktion und besonders auch in der

Lieder, die in heiterem Freundeskreise nach einer Anekdote improvi- sierte Ballade „Die fromme Jägerin" (siehe Notter S. 224 f. und Ge- dichte II, 196), sowie einige Stamm- und Fremdenbuchimprovisationen.

1) Herrn. Fischer S. 40.

") Man beachte die Steigerung, die sich in den zwei am 18. und 19. im Tagbuch gebrauchten Ausdrücken „angeregt" und „erregt" kundgibt.

- 92

Form so nahe verwandte Gedicht „Das Thal". Die Genesis dieses Gedichts wird noch besonders merkwürdig durch einen Neben- umstand: jene Anregung nämlich, die Uhland durch das eigene Gedicht erfuhr, vollzog sich in der Weise, daß nicht nur die Stim- mung jenes einzelnen Gedichts, sondern die ganze Stimmungs- welt jener Frühzeit, in der „Des Dichters Abendgang", „An den Tod", „Harfnerlied" verfaßt worden waren, wieder in ihm wach- gerufen wurde. Nur durch diese Stimmungsassoziation läßt sich der weiche, sentimentale Ton, die Klage über das arme, welkende Herz des „kranken Sängers", und die Sterbensseligkeit, in der sie verklingt, mitten unter ganz anders getönten Gedichten ver- stehen. Man könnte deshalb den Charakter dieses Liedes einen unbewußt individuell-archaisierenden nennen.

Eine andere Zusammensetzung liegt vor bei der Entstehung des Sonetts „An Kemer", deren Geschichte in folgenden Worten Uhlands vorliegt: „Mein gewöhnlicher Spaziergang", schreibt er an Kemer ^), „ist in dem Tannenwald hinter dem Schlosse. Hier gehe ich so weit, bis sich mitten im Walde eine Aussicht nach dem Schwarzwald öffnet, im Vordergrimd den klösterlichen Ammer* hof. An dieser Stelle las ich auch Deine Gedichte" [am 27. No- vember], „wobei", fährt das Tagbuch fort, „wie durch ein Wunder plötzlich die Vögel frühlingsmäßig in den Wipfeln sangen. " Man sieht, es wirken bei der Entstehung dieses Gedichts eine ganze Reihe der oben einzeln betrachteten Faktoren gemeinsam mit und hinterlassen ihre Spur in ihm : Jahreszeit, visuelle und akustische Natureindrücke, verbunden mit Erinnerung an frühere produk- tive Stimmung, Lektüre und freundschaftUche Mitteilung. Im Unterschied zu den oben angeführten Beispielen der Gedichte „Der Köpfer" und „Das Thal", wirken hier die verschiedenen Faktoren fast gleichzeitig. Sie müssen daher erst in der Seele des Dichters sich durchdringen und verarbeitet werden, ehe sie, am Abend des folgenden Tages, zu einem einheitlichen dichterischen Ganzen gestaltet werden.

Genau unterrichtet sind wir weiter über die Entstehungs- geschichte des Gedichts, das Uhland auf den Tod der Königin Katharina verfaßte. Man weiß, wie wenig Uhland geneigt war,

') Am 7. Dezember 1811. Briefwechsel I, S. 206,

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als Festdichter aufzutreten; es ist daher begreiflich, daß er das Ansinnen, ein Gedicht zu der Trauerfeierlichkeit im Museum zu verfassen (18. Januar 1819), ablehnte. Umsomehr ist man über- rascht, am folgenden Tag zu erfahren, daß er sich mit einem solchen trägt. Es muß angenommen werden, daß die Aufforderung dabei nicht bestimmend wirkte, sondern ihn nur ganz allgemein auf die Möglichkeit einer poetischen Behandlung des Ereignisses hinwies und daß ihn bei näherer Überlegung der Gegenstand an sich fesselte, was ja auch die später dem König gegenüber ge- äußerten Worte ^), das Gedicht habe seine tiefste Empfindung aus- gesprochen, bestätigten. Doch muß, um die Ausführung zu ver- anlassen, erst die impressionierende Wirkung der Trauerfeierlich- keit selbst mit Ansprachen und Musik '^) hinzukommen, wozu sich die Erinnerung an die feierliche Aufbahrung gesellt, die er schon am 18. gesehen^). Erst, wie der Dichter diesen stimmungs- erregenden Anhalt hat, wird dann, am 27., als die Trauerfeierlich- keit längst vorüber war, zur Ausführung geschritten und das Gedicht noch am selben Tage, wiederum teilweise auf dem Spazier- gang, zu Ende geführt.

Die Artund Weise, in der Uhland die Anregungen und Eindrücke, die ihm von außen kamen, gestaltete und der Poesie im einzelnen Fall nutzbar machte, ist in den angeführten Beispielen, die nur die Wirksamkeit solcher Faktoren im allge- meinen erweisen sollten, notwendig bisweilen gestreift worden. Es erübrigt nun noch, dies im einzelnen Fall näher zu verfolgen. Uhland bemerkte einmal, zu einer Zeit, wo er sich feste BegriJBEe über die Poesie schon gebildet hatte und auf sein eigenes Dichten als auf etwas im allgemeinen Abgeschlossenes schon zurückblicken konnte: die meisten Gedichte nehmen „ihren Anlaß von beson- deren Erscheinungen und Ereignissen, welche die poetische Stim- mung anregen"^). Will man sich eine Vorstellung von Ühlands dichterischem Verfahren machen, so wird ein wichtiger Punkt der Untersuchung in der Aufgabe bestehen, jenen Erscheinungen und

^) Tagbuch, 24. Juli 1819.

^) Die Aufführung von Mozarts Requiem wird im Tagbuch erwähnt. ^) Im Gedicht hinterläßt dieser Anblick von der Aufbahrung seine Spuren Vers 17 ff.

*) Siehe oben S. 72.

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Ereignissen, soweit wir über sie Kenntnis besitzen, in der Seele des Dichters bis zu dem Augenblick nachzugehen, wo sie in dem Gedicht in die Erscheinung treten; d. h. zu beobachten, in welcher Gestalt sie in das Gedicht übergehen, ob und inwieweit sie Wandlungen unterworfen sind oder bewußt unterzogen werden. Die denkbar primitivste Weise, wie das geschehen kann, liegt vor in dem an K. Mayers lyrische Miniaturstückchen gemahnenden Gedicht „Lob des Frühlings". Uhland hatte am Vorabend des Tags der Abfassung (9. April 1811) einen Spazier- gang gemacht, über den wir im Tagbuch folgendes erfahren: „Spaziergang in das Käsebachthal; Sonnenregen, sommerliches Wetter . . . Saatengrün, Stück eines Regenbogens über dem Berg nach Waldhausen. " Das Gedicht entsteht nun, indem diese Ein- drücke , teils wörtlich , teils leicht verändert herübergenommen und durch andere naheliegende, oder im Tagbuch nur zufällig nicht aufgezeichnete, ergänzt werden. Man vergleiche;

Saatengrün, Veilchenduft, Lerchenwirbel, Amselschlag, Sonnenregen, linde Luft!

Die anderen, nur abrundenden Zeilen bringen nichts Neues hinzu. In einem anderen Fall ward das in der Wirklichkeit geschaute Bild kunstvoller, in der Form des Sonettes nachgezeichnet: „Die zwo Jungfrauen", die Uhland, am 31. März 1811, auf dem Spitzberg und kurz nachher noch einmal gesehen, sind ihm genau in der im Gedicht geschilderten malerischen Stellung buchstäblich Modell gesessen. Das Gedicht ist ganz malerisch konzipiert und bestätigt den Eindruck, den man namentlich durch die plastische Gegenständlichkeit vieler seiner Balladen gewinnt: daß Uhland die Anschauung des bildenden Künstlers besaß. Bekanntlich hat er sich in seiner frühen Jugend auch mit Talent im Zeichnen und Malen betätigt^). Überall, auch auf dem Gebiete der Sage'') suchte seine Vorstellungstätigkeit Stützpunkte in der realen An- schauung, so daß sich die Gedichte seiner reifen Zeit nie ins Nebelhafte verlieren, sondern sich schlicht vortragen, „als habe

') Ebenda. 8. 22.

') Loben S. 222 und Gedichte II, 124 f. (Anmerkung zu dem Gedieht „Die Glookenhöhlo**.)

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das Ereignis selber sein eigenes Gewand um sie gewoben"^). Die Gedichte, in denen die heimatliche Natur sich spiegelt, sind so zahlreich, daß ein Nachweis der Grundlagen jedes einzelnen zu weit führen würde. Doch verdient der Umstand Erwähnung, daß Uhland manchmal Gedichte sozusagen nacherlebte eine eigenartige Umkehrung des dichterischen Prozesses. Die Re- produktion der Szene, die das Gedicht „Das SchifQein" voraus- setzt, auf der Reise nach Paris ist aus dem Tagbuch bekannt^). Wichtiger als dieser Zufall ist für diesen Zusammenhang, daß Uhland gewisse Gedichte in Situationen, in die ihn das Leben versetzte, wieder aufleben ließ, um sie gewissermaßen von neuem von der Wirklichkeit durchleuchten zu lassen. Im Jahr 1822 be- richtete er seiner Frau von einer herrlichen Aussicht, die er von hohem Berge auf weite Wälder und Täler gehabt habe, und schließt: „Dort, Liebe, hättest Du bei mir stehen sollen"^) mit deutlichem Anklang an den einst an sie gerichteten Wunsch:

Auf eines Berges Gipfel, Da möcht' ich mit dir stehn. Auf Thäler, Waldeswipfel, Mit dir herniedersehn . . .

Und mit offenem Hinweis auf ein 1812 entstandenes Gedicht erzählt er 1829 seiner Frau von einer Wanderung durch .Tannen- wälder, in denen noch lange das harmonische Glockengeläute von Weingarten (es war der Tag, wo Maria über das Gebirge ging)^) wie aus der verlorenen Kirche wiederhallte"''). Häufig beschränkt sich der Dichter nicht auf mehr oder minder künstlerisch gestaltende, einfache Wiedergabe des Ein- drucks, sondern ändert den Umriß der Erscheinung oder den Verlauf des Erlebnisses in einer seinen Zwecken entsprechenden Weise ab. In den eigentlich lyrischen Gedichten, die er aus eigenen, inneren Zuständen schöpft, wird oft die zu Grunde liegende Gemütsverfassung, um dem Gedicht mehr Bedeutung

^) Herrn. Grimm, a. a. 0. S. 65, wo Uhlands Manier mit derjenigen Dürers verglichen \yird. ^) Tagbuch S. 11. ^) Leben S. 185. ) Zu beachten ist auch diese Beimischung religiöser Stimmung. ^) Leben S. 226.

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zu geben, gesteigert. Entmutigung z. B. wird so zur Ver- zweiflung. Zur Zeit der Abfassung des Gedichts „Auf ein Kind" (1814:) hatte Uhland, wenn er auch eine Zeit großer Niederge- schlagenheit und herber Enttäuschungen durchgemacht, keinen Grund, sich darzustellen als „von des Lebens Angst umkettet ", wie es in der ersten Fassung heißt, oder, wie es in der zweiten noch schärfer lautet, von sich zu sagen:

Aus der Bedrängnis, die mich wild umkettet, Hab' ich zu dir mich, süßes Kind, gerettet.

Oder wie soll man in dem Gedicht „Das Thal" die Verse verstehen:

Ja, selbst die alten Liedertriebs Beleben diese kalte Brust.

Sind sie doch mitten in einer Zeit geschrieben, die im allgemeinen so produktiv für den Dichter war, wie kaum eine andere in seinem Leben. Auch die oben^) auseinandergesetzten näheren Um- stände der Entstehung erklären gerade diese Klage nicht. Sieht man aber näher zu, so zeigt sich in der Tat vor dem Tag, an dem dieses Gedicht entstand, eine Lücke in der Produktion von mehr als zwei Monaten^), welche von dem Dichter in einer Zeit, wo sonst ein Gedicht das andere drängte, allerdings schmerz- lich empfunden werden konnte.

Dieses Übertreiben geringfügiger Tatsachen zu bedeutenden Proportionen, das etwas Verwandtes hat mit gewissen Vorgängen des Traumlebens, findet aber nicht nur auf die Gefühle des Dich- ters selbst, sondern auch auf Vorgänge in der Natur Anwendung, wenn z. B. der erste, den Frühling ankündigende warme Hauch sich in der Phantasie des Dichters zu der Vision des voll ent- falteten Lenzes steigert: Von den am 21. März 1812 unter anderem entstandenen Liedern „Frühlingsahnung" und „Frühlingsglaube" entspricht nur das erste der wirklichen Jahreszeit und der Auf- zeichnung vom Vorabend: „Laue Luft, Frühlingsahnungen". Der Dichter aber jubelt im zweiten schon:

Es blüht das fernste, tiefste Thal . . .

») 8. 91 f. ^ ^

^) Die unbedeutende Übersetzung „Königs Franz I. Liebesseufzer' zählt wohl kaum mit.

97

Ein der Steigerung verwandtes Verfahren bei der dichterischen Gestaltung der aus der Wirklichkeit genommenen Erscheinungen und Erlebnisse ist das der Umdeutung. Es handelt sich dabei um solche Gedichte, denen wohl eine bestimmte, wirkliche Situa- tion zu Grunde liegt, in denen aber wesentliche Bestandteile dieser Situation verändert sind. Man kann den Prozeß genau verfolgen bei dem Gedicht „Nähe ". Uhland wollte seinen Freund Conz in dessen Garten besuchen, konnte aber nicht zu ihm ge- langen, da er die Tür verschlossen fand. Die Stimmung, die über dem einsamen Garten schwebt, seine Ungeduld, sein Unver- mögen, einzutreten, regen ihn an: „Ich sah nun so in den stillen Garten mit den Schmetterlingen hinein, diese Einsamkeit und Nichteinsamkeit"^). Diese Situation geht teilweise, bis in Einzel- heiten hinein, in das Gedicht, das aus dem Erlebnis erwächst, Über. Doch wird eine wichtige Änderung vorgenommen: nicht den Freund sucht er, sondern eine (nur in der Illusion vorhan- dene) GeUebte. Erst diese Umdeutung gibt dem kleinen Stim- mungsgedicht eine bedeutendere Folie. Die Brücke, die von der wirkHchen Situation zu der des Gedichts führt, ist die gemein- same Grundstimmung (der Garten und das ungeduldige Ver- langen).

Eine eigenartige Umdeutung der Landschaft voll- zog sich bei der Entstehung des Gedichts „Traum" (G«d. 1, 183). Die Idee kam Uhland „auf dem Schloßberg"), im Tannenwald bei der Aussicht gegen den Schwarzwald "^). Man hat von dem Punkt, den Uhland hier im Auge hat, in der Tat einen sehr weiten Blick über ziemlich flaches, wenig hügeUges Land, als dessen Be- grenzung die feine Linie des Schwarzwaldes nur bei günstigem Wetter sichtbar ist. Unwillkürlich scheint nun in Uhland beim Anblick dieser Weite die Vorstellung des Meeres, das er noch nie gesehen hatte, und aus dieser Szenerie das erwähnte Gedicht ent- standen zu sein. Eine andere Ballade, „Die drei Lieder ", geht nicht sowohl auf ein Naturbüd als auf eine Naturstimmung zurück, was sich freüich ohne Uhlands ausdrückUchen Hinweis kaum

^) Mayer I, S. 129.

') So nennt Uhland den ganzen Höhenzug vom Tübinger Schloß bis zur Wurmlinger Kapelle.

^) Tagbuch, 27. November 1811. Haag, Uhland 7

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vermuten ließe. Wir lesen nämlich in einem Brief an Mayer ^): „Die Ballade entstand auf einem Abendspaziergang, als der Mond, von Zeit zu Zeit in dunkle Wolken gehüllt, über unsrem Schlosse stand." In dem Gedicht selbst finden wir von diesem Bild keine weitere Spur, als etwa in den Versen 9 10, wo es heißt:

Das andre Lied, das hab' ich erdacht

In einer finstem, stürmischen Nacht.

Im übrigen ist die Ballade rein epischen Inhalts. Der schöpferische Prozeß muß sich also so vollzogen haben : Das Naturbild erweckte in dem Dichter eine düstere Seelenstimmung, und diese ließ ihn dann Vorgänge erfinden, welche mit dem Eindruck, unter dem er stand, gar nichts weiter gemeinsam haben als das düstere Ge- präge — eine äußerst merkwürdige, gerade für Uhlands dich- terische Art sehr bezeichnende Verpflanzung des subjektiven Elements der Stimmung in das Gebiet des Objektiven, Epischen.

Da sich ein Eindruck natürlich in verschiedener Weise ab- wandeln läßt, so eröffnet sich dem Dichter die Möglichkeit, mittels dieses Verfahrens aus demselben Erlebnis mehrere Gedichte abzuleiten. Es ist dies bei Uhland nicht häufig, doch finden sich auch hierfür Beispiele. Die drei am 21, März 1812 entstandenen verschieden gefärbten FrühlingsHeder gehen nach Uhlands eigener Erklänmg^) auf ein und dasselbe Erlebnis des Vorabends zurück. Die Gedichte „Hohe Liebe" und „Klage" (Ge- dichte II, 313) sind beide aus dem Gefühl der Vereinsamung er- wachsen, das ihn im Jahr 1808 nach Weggang der Freunde ergriff. Aber während er sich in dem ersteren als einen Märtjrrer dar- stellt, der im Hinblick auf die Freuden des ewigen Lebens auf die irdischen verzichtet, gibt er hier seiner „Klage" unumwunden Ausdruck.

Ein ganz ähnlicher Prozeß liegt vor bei den am 8. Sep- tember 1816 entstandenen Gedichten'), wo das erste Gedicht eine Reihe von inhaltlich verwandten unmittelbar nach sich zieht. Endlich wird auch ein der Lektüre entnommener Stoff, der-

*) Vom Iß. November 1807. Mayer I, S. 14 f. ') EUehe TaKbaob.

') „EriMt der Zeit", „Dm neue Märchen", „AusBicht", „An die Mütter", „An die Mädchen".

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jenige des Kastellans von Coucy, den er sicli aus Bouterweks Geschichte abgeschrieben, in verschiedener Weise behandelt, erstmals kurz in dem Sonett „Vermächtnis" (1811) und 1812 in der bekannten Ballade,

Nur selten ist eine Anregung, die Uhland von außen zukam, mangelhaft poetisiert worden. Bei dem Gedicht „Nächtliche Stimme" scheint dies der Fall gewesen zu sein. Von dem unbefangenen Leser muß die antwortende Stimme als Geisterstimme aufgefaßt werden, und der unbestimmte Inhalt der pathetischen Frage und Antwort: „Wer ist trauriger als ich?" „Ich bin trauriger als du!" kann dann nur trivial wirken. Das Gedicht bekommt aber auf einmal einen anderen, schlichteren Sinn, wenn man erfährt^), daß es nach einer Anekdote gemacht ist, also einen wirklichen Vorfall wiedergibt. Es ist eben bei Uhland auch einmal ein poetischer Mißgriff mituntergelaufen.

Die Zahl der Gedichte, bei denen sich die Umstände nach- weisen lassen, welche einzeln oder in Gruppen zu ihrer Entstehung mitgewirkt haben, ist groß. Bei anderen läßt sich nach Analogie dieser Fälle das Vorhandensein ähnlicher Bedingungen annehmen. Doch auch ohne solche kann in einzelnen Fällen der zur Produk- tion drängende Gesamtzustand eintreten, etwa auf Grund der Wirkung des Kontrastes; und so kommt es vor, daß in einer dem Dichter selbst unerklärlichen Weise mitten unter ganz fremd- artigen Beschäftigungen sich ein „gewaltsames und instinkt- artiges Vordringen der Poesie" einstellt'''). Ohne einen solchen zwingenden Trieb pflegte Uhland im allgemeinen nicht zu dichten; nur für epigrammatische und gewisse Gelegenheitsgedichte gilt wohl, was Uhland an Mayer einmal schrieb: daß oft auch „ein guter Gedanke in einem kalten Momente ausgeführt" wird, „was dann dem Leser nicht so auffällt, weil doch die Kraft des Gedankens auch durch die kalte Hülle durchschlägt"^).

Ist ein Gedicht einmal empfangen und der dichterische Pro- zeß eingeleitet, d. h. haben jene inneren Zustände, die Uhland mit „Anregung", „Erregung", „Erweckung" bezeichnet, die erste

^) Siehe Tagbuch, 25. Dezember 1811.

-) Bei der Abfassung des Gedichts „Das Märchen". Tagbuch, 12. Juli 1811.

^) Mayer, I, S. 81 (22. April 1808).

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Idee und den allgemeinen Plan zum Gedicht aufkeimen lassen, 90 wird das Gedicht noch unter der Wirkung derselben sofort vollendet^), oder es wird in unmittelbarem Anschluß an die Konzeption ausgeführt, so daß Konzeption und Ausführung immerhin noch als ein Akt zu betrachten sind: wie z. B. das Gedicht „Auf den Tod eines Landgeistlichen" während der dem Begräbnis vorangehenden gottesdienstlichen Handlung konzipiert, auf dem Nachhauseweg sodann gleich ausgeführt wurde. Wird aber die Ausführung aus irgend einem Grunde verzögert, so daß sie sich von der Konzeption zeitlich getrennt vollzieht, so treten für den Fortgang des dichterischen Prozesses andere Bedingungen ein: auch Gedichte, welche nicht zu der letzterwähnten Gattung gehören, sondern bei welchen des Dichters innerste Empfindung beteiligt ist, bedürfen zu ihrer Ausführung nicht mehr notwendig der Einwirkung produktionsfördernder Faktoren, wenn auch solche häufig vorhanden sind. Der Hauptreiz des Schaffens, der für Uhland im Erfinden und Anlegen bestand^), ist mit der Konzeption vorüber, und es beginnt die Arbeit der Gestaltung des Bildes oder Gedankens und der Formgebung. Uhland bedurfte zu derselben nicht einmal immer der Ruhe und Sammlung. Die fünfte Strophe zu der Ballade „Der Rosenkranz" z, B. ist im Palais Royal „unter der Menschenmenge " gemacht, und das für die Hochzeit seiner Schwester verfaßte Gedicht wurde, nachdem der Plan schon einige Tage zuvor in allgemeinen Umrissen aus- gedacht war, „mitten unter den Zubereitungen zum Hochzeits- mahl" eilig ausgeführt^). Ja von der Ballade „Der Schenk von Limburg" wissen wir sogar, daß sie, Vormittags begonnen, Abends nur ausgeführt wurde, weil der Dichter „wegen Geldnot zu Hause " bleiben mußte ^).

Selten blieb ein Gedicht unvollendet, weil Uhland die Lust zur Ausarbeitung verlor, und mochten Tage, Monate und Jahre sich

^) 60 ist Nummer 1 des Nsohrufs „wenige Minuten nach dem Ver- ■obeideQ, am Bette der Matter" entstanden. Siehe Leben S. 234.

') Ebenda S. 456. Vgl. femer ebenda S. 34: „Ich komme schwer dazu, Gestalten, die ich in begeisterten Momenten gesehen und ent- worfen, in ruhigen auszumalen."

*) Ebenda S. 141.

*) Vgl Tagbuoh, 28. September 1816.

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zwischen Konzeption und Ausführung legen, so ließ er doch eine Idee, die er einmal aufgegriffen hatte, nur selten los, oder wenn es doch geschah, so müssen wir annehmen, daß im Stoffe selbst unüberwindliche Hindernisse lagen. Es kam ihm dabei seine auch sonst bewährte^) peinliche Ordnungsliebe und die Gewissen- haftigkeit des Gelehrten zu statten, mit der er auch seinen poetischen Haushalt führte. Diesen Eigenschaften verdanken wir manches Gedicht, das bei einem weniger sorgfältigen Dichter verloren gegangen wäre. Uhland pflegte sich Ideen und Vorfälle, die sich ihm für die poetische Behandlung zu eignen schienen, soweit er sie nicht, wie so oft, gleich tags darauf ausführte, oft unter Hinzufügung des genauen Datums, aufzuschreiben, indem er ihre Gestaltung einer günstigen Stunde überließ. Ein Beispiel für die Ökonomie, mit welcher Uhland gelegentliche Einfälle verwendete, bilden die vier Zeilen, die Uhland Kemers „Goldener" widmete. Zunächst schreibt er nach der Lektüre dieses Märchens, am 5. September 1811, impulsiv ein begeistertes Lob im Tagbuch nieder. Zwei Tage später verwendet er die Stelle fast wörtlich in einem Brief an Kerner. Dann bleibt die Notiz mehrere Monate liegen und wird erst am 22. Dezember 1811 offenbar unter der kontrastierenden Wirkung des trüben regnerischen Wetters*) wieder erinnert imd „in Verse gebracht", d. h. der poetische Ge- danke wird zu gedrängter Kürze verdichtet. Ein ähnlich geringfügiger Einfall, der schon 1805 skizziert wurde, blieb sieben Jahre liegen, bis er in den „Bitte" überschriebenen Zeilen"'') seine endgültige Form erhielt. Und bei den für Alb. Schotts Stammbuch bestimmten Versen datiert die Idee vom April 1817, die Ausführung vom Jahr 1819, und überreicht wurden sie erst dreißig Jahre später gewiß überzeugende Belege dafür, daß bei Uhland nicht leicht etwas verloren ging^).

Bei lange verzögerter Ausführung konnte es geschehen, daß

0 Vgl. Leben S. 204, 306.

*) Siehe Tagbuch.

') Gedichte I, S. 431.

*) Siehe auch oben S. 89, das Gedicht „Die Harfe" betreffend. Eine längere Zeit lag femer zwischen Konzeption und Ausführung bei den Gedichten „Unstern", „Auf das Kind eines Dichters", „Die Be- kehrung zum Sonett", „Von den sieben Zechbrüdern" u. a.

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einer Idee oder einem Entwurf das Gesicht nach einer anderen Richtung gewendet, oder daß zu einer anderen Form gegriffen wurde, als ursprünglich beabsichtigt war. Die Distichen „Teils Platte" von 1810 sind ursprünglich 1807 in rhythmischer Prosa abgefaßt worden; Die „Greisenworte" gehören eigentlich in ein erst flüchtig entworfenes Drama, und der Stoff zu der Ballade „Des Sängers Fluch" sollte nach dem Jahre zurückliegenden anfänglichen Entwurf dramatische Form erhalten.

So lange aber auch ein Gedicht in unvollendeter Gestalt liegen bleiben konnte, um seiner Wiederaufnahme zu harren, so kam es doch meist rasch zu Papier^), und an Schöpfungen, die er als seinen Anforderungen entsprechend erkannt hatte, pflegte Uhland, wenn sie einmal seine Werkstatt verlassen hatten, wenig zu ändern und zu bessern^).

Große Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zeigte Uhland auch bei der Werkstattarbeit im engsten Sinne des Wortes^), d. h. in jenem letzten Stadium der Gestaltung des Gedichts, in dem es gut, mit der Materie der Sprache zu ringen, um ohne Überschreitung ihrer Gesetze alle ihre Mittel in den Dienst des poetischen Inhalts zu stellen und bei höchster Prägnanz des Ausdrucks die Forderungen des Wohllauts und der Metrik zu erfüllen. Von dieser Arbeit kann man natür- lich nur einen unvollständigen Eindruck gewinnen, da sie sich nur insoweit verfolgen läßt, als sie in den uns überkom- menen Korrekturen der Gedichte in die Erscheinung getreten ist. Immerhin mögen die Beispiele, die im folgenden aus einer großen Zahl ähnlicher herausgegriffen sind, zeigen, nach welchen Gesichtspunkten Uhland verfahren ist, um seinen Gedichten die äußere Form zu geben, die ihn befriedigt hat. Von dem Zeitpunkt an, wo das Gedicht vollends in Reinschrift oder gar im Druck vorlag, hat Uhland nur noch Änderungen ganz untergeordneter Art vorgenommen, die sich fast ausschließlich auf die Ortho-

^) Ad. ßchSIl, Erinnerungen an L. Uhland, Orion I (1863), S. 128.

*) Vgl. Holland, Über Uhland« Ballade „Moriin der Wilde". 1876, S. 15.

') Vgl. zu diesem Absohnitt: Erich Schmidt, I^er Text dorUhland- sohen Gedichte nach Hollands Revision. Anz. f. deutsches Altertum IV (1878), S. 224 ff.

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graphie erstreckten oder auch auf gewisse Doppelformen, wie „kömmt" und „kommt", von denen die zeitgemäßere vor der älteren Form bevorzugt wird. Solche Änderungen, die nur für eine eingehende Untersuchung der Sprache Uhlands Bedeutung haben, sind daher hier auch füglich übergangen.

Die Gesichtspunkte, nach denen Uhland das Gedicht in dem Stadium zwischen erster Niederschrift bezw. Skizzierung und Reinschrift behandelte, waren teils inhaltliche, teils formelle. Was zunächst die ersteren betrifft , so ist auf das Streben nach Natürlichkeit und SchUchtheit im Ausdruck ein großer Bruchteil der Verbesserungen zurückzuführen. Wieviel einfacher z. B. als „Blumenauen" wirkt „Wiesengründe* (200 a, 11)^) oder die Verse:

(Wie reich dein Freund nun weiter reiset.) Dem deiner Liebe Kleinod ward ... statt :

Mit deiner Liebe Demantring. (II, 312 b, 8.)

Selbst das das Relativpronomen ersetzende, etwas gewählte „so" verbessert Uhland:

Das Röschen, das (statt: so) du mir geschickt. (92c, L)

Daher wird auch eine allzu drastische Ausdrucksweise ge- mildert :

König Sivrid wälzt sich in seinem Blute

hieß es zuerst, dann gemäßigter:

König Sifrid liegt in seim rothen Blute. (166 a, 19.)

Selbst in der Wahl der Überschrift läßt sich dieser Zug er- kennen: „Die Rache" wird eine Ballade überschrieben, statt „Der Mordknecht" (256).

Namentlich in den Gedichten der Frühzeit muß oft die Über- schwänglichkeit in der ersten Wahl des Ausdrucks abgedämpft werden, wie die folgenden Beispiele zeigen:

O selige [statt wonnige] Rast. (7 a, 17.) Voll zarten Sehnens nach der Heimath

^) In den zahlreichen nun folgenden Zitaten einzelner Verse bedeutet die erste Zahl die Seite, die zweite den Vers. Der Seitenzahl ist a, b, c . . . beigefügt, wenn sich mehrere Gedichte auf einer Seite befinden. Die Bandzahl ist nur bei Band II beigesetzt.

104 statt:

Mit heissem, thränenvollen Sehnen. (II, 2S0 b, 3.)

Dein leises, liebevolles Kosen statt:

Dein wonnereiches (minnigliches) Kosen. (22 a, 11.) Besonders hütet sich Uhland jederzeit vor dem unmäßigen Gebrauch des gerne sich einschleichenden Epithetons „süß", das oft durch „frisch" ersetzt wird:

O frischer [statt: süsser] Duft ... (29 b, 4.)

... im frischen [statt : blüh'nden, süssen] Liederkranze. (115 c, 2.)

Das einfache Wort „die Schönste" wird den anfänglich ge- setzten Ausdrücken „die Süße", „dieHolde" vorgezogen (HO a, 13).

Dem Streben nach Mäßigung im Ausdruck der Gefühle ist auch die Umwandlung des Bildes in „Verborgenes Leid" (425 b, 9 ff.) zuzuschreiben. Die anfängliche Fassung:

Sieht er in Dunkelheit an kühler Waldesstelle Entspringen eine Quelle, Das ist mein Thränenleid,

konnte den Eindruck des Tränenseligen erwecken, einer Gemüts- stimmung, die Uhland damals (1811) längst überwunden; er ver- besserte deshalb:

Sieht er im Walde weit

Recht einsam und verschwiegen,

Die tiefsten Schatten liegen,

Das ist mein finstres Leid.

Und wie das Unnatürliche und Geschraubte von Uhland vermieden wird, so nicht minder das Nichtssagende, Ab- gebrauchte. Aus: „deine kühlen Schatten" wird das bestimm- tere: „deine duft'gen Schatten" (52, 14). „Ihre Laute" wird zuerst angeredet:

Da liegst im Arm der Trauten

In sanfter, süsser Ruh, dann:

Dich hält im Arm die Traute

Wie neidenswcrt bist du! (II, 300 b, 3 f.)

Umgekehrt macht sich aber auch das Streben nach weniger gewöhnlichem, gewählterem Ausdruck oft bemerkbar. Der Unterschied ist bald geringer, wie in diesem Fall:

statt :

bald fühlbarer:

statt :

105

Wandelt sich sein Lied in Gift

Wird ihm der Gesang zu Gift; (-107, 13. )

(Kann man's nicht in Bücher binden,) Was die Stunden dir verleihn,

Taugt es wenig zum Verkauf. (32 b, 17 f.)

Aus demselben Grunde wird ein Bild, das einer für den Zu- sammenhang des Gedichts zu niederen Sphäre angehört, durch ein anderes ersetzt, das einer höheren entnommen ist:

Wie den Gesang, den zu des Liebchens Preise Der Schäfer angestimmt aus voller Seele, Gedankenlose Halle weiter treiben, statt :

Wie wer vom Schiffe kommt, noch meint zu schwanken; Und wie das Schäferhündchen läuft im Kreise, Auch wenn es nicht mehr Schaafe hat zu treiben^).

(112 b, 9—11.)

Ganz vereinzelt stehen die Fälle, wo eine an sich angemessene und natürliche Ausdrucksweise durch eine seltenere ersetzt wird. Ein Beispiel hierfür ist die transitive Verwendung eines sonst intransitiv gebrauchten Verbums. Statt: „Du glänzest Ahnung mir zum Herzen, " hieß es früher einfach : „Du weckest Ahnung mir im Herzen" (38 b, 7).

Oft dringt der Dichter sichtlich mit Mühe zum angemessen- sten Ausdruck vor und wählt und verwirft immer aufs neue, bis er findet, was ihn befriedigt. Besonders das Epitheton mit seinen mannigfaltigen Schattierungen wird mit großer Sorgfalt gewählt. In den Versen:

Uns floß der rasche Strom der Stunden

In freien Melodien fort, (14 b, 23 f.)

haben sich vier Epitheta zu Strom abgelöst: kl[are], helle, volle, rasche. Noch mehr Mühe aber verursachte der Vers:

Der ernsten Sprache Klang (62 a, 27.)

^) Hier hat Uhland wohl außerdem an der Zweizahl der Bilder Anstoß genommen.

106

in welchem folgende Lesarten auftreten: Der heim'schen, deut- schen, Mu[tter-], Heimat-, biedern, ernsten Sprache Klang.

Aber auch das Prädikat erweist sich manchmal wider- spenstig. Niemand wird es z. B, der Zeile in „Schäfers Sonntags- lied" (16, 10): „Er ist so klar und feierlich," ansehen, daß der Dichter sechs Wendungen verworfen hat, bis er endlich und zwar nicht bei der ersten Veröffentlichung, sondern erst in der Ausgabe der Gedichte von 1815 die endgültige siebente fand. Es finden sich nacheinander die Lesarten: „Der Himmel blau und feierlich; Er schweigt so klar und feierlich; Umfängt mich klar und feierlich; Um wölbt mich . . .; Er ruft so . . .; Umgibt mich . . . " ; schließlich wird die denkbar schlichteste Möglichkeit gewählt: „Er ist so klar und feierlich."

Seltener läßt sich ein derartig mühsames Gestalten bei ganzen Versen oder Verspaaren beobachten, besonders, wenn der Reim- zwang die Aufgabe erschwert. So kann man eine Läuterung des Ausdrucks unter Beibehaltung der Reimsilbe von Stufe zu Stufe verfolgen in nachstehendem Beispiel:

(Wann der große Tag erglommen,)

1. Wo das Volk im Leichentuch Aufersteht zu Heil und Fluch.

2. Wo der Mensch vom Richterspruch Heil erwartet oder Fluch.

3. Wo des ew'gen Richters Spruch Heil verkündet oder Fluch.

4. Wo von Gottes Richterspruch

Heil ergeht und ew'ger Fluch. (408, 26 f.)

Mit einem Fortschreiten vom unbildlichen zum bildlichen Ausdruck und mit einer Umwandlung des Bildes ist dieser Läute- rungsprozeß verbunden in einem Verse des „Ritter Paris "(199, 48):

(Dort in Stücken liegt die Hülle, Die ein atarrer Ritter war, Hier, in Paris' Arm, die Fülle,)

1. Hold als [aus: Holde] Jungfrau, wunderbar.

2. Weich und [jeden] allos Trotzes baar,

3. Schmetterling, der Hülse baar,

4. Sttßer Kern, der Schale bar^).

*) Au« BeiBpielen, wie den zuletzt gegebenen, ist zu ersehen, wie die Reimwörter bei dem UmformungsprozeO meist intakt bleiben und die festen Punkte abgeben, um die sich derselbe bewegt.

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Eine direkte Inkongruenz zwischen dem sprachlichen Aus- druck und dem Sinn, den der Dichter anstrebte, fand ich nur in den folgenden zwei Fällen:

Verwobst du sie [die Locken] zu ordnendem [!] Gewinde.

Verbessert :

Begannest du sie ordnend aufzuwinden (422 a, 6)

und:

Muthig, Ritter, daß vergehe Deiner [?] Drachen wild Geschlecht.

Verbessert :

Auf denn, Ritter, und bestehe

Kühn der Drachen wild Geschlecht. (63a, 7 f.)

War für die bisher angeführten Änderungen die Rücksicht auf Sinn und Inhalt maßgebend gewesen, so läßt ein anderer Variantenkomplex erkennen, in welcher Weise Uhland bei der Ausfeilung seiner Gedichte in sprachlicher, stilisti- scher und metrischer Hinsicht der Form Rechnung trug.

Altertümliche, volkstümliche oder dialektische Wörter und Formen hat Uhland bekanntlich bevorzugt, wo es der Stil des Gedichtes zu erlauben oder zu fordern schien. Doch hat er in einzelnen Fällen geschwankt. In dem Sonett „Vermächtnis" erklärt sich die Form „du sollt" (101, 8), statt, wie Uhland ur- sprünglich geschrieben, „sollst", in der Rede eines „Sängers in den frommen Rittertagen". Dagegen ist es offenbar reine Vorliebe für die altertümliche Form, wenn Uhland auch in der Überschrift des Gedichts „Die zwo Jungfrauen" der Text (109, 1) hatte immer „zwo" die alte Form aus der neuen herstellte^).

Dem allgemeinen Sprachgebrauch widersprechende dialek- tische Formen, die mitunterliefen, werden getilgt: „die Töchter" (acc) aus: „die Töchtern" (II, 287, 14); „trockne Luft" (nom.) aus „trockner Luft" (54 b, 7). Das schwäbische „nimmer" wird, wo es sich auf die Vergangenheit bezieht, oft durch das korrekte „nicht mehr" ersetzt (13 c, 2; 93 b, 1; 232 a, 8).

Überhaupt sucht Uhland, wo es geht, mit den regelmäßigen neuhochdeutschen Formen auszukommen:

1) Vgl. auch Zween (masc.) aus Zwei (322, 169)

108

Dem Lichter ist der Femen Bild geblieben, statt:

Eem Dichter ist ein Büd der Fernen blieben. (111 b, 1.)

Ein empfindliches Ohr hatte Uhland für die kleinen, mate- riellen Reibungen, die sich aus der Wiederholung von Worten und dem Zusammenstoß gewisser Laute ergeben. Die Korrekturen dringen, wo nicht Gründe der Rhetorik Wieder- holung verlangten 1), auf Abwechslung und Wohllaut:

Einsamer Amselschlag im toden Haine,

Ein armes [urspr. : einsam] Veilchen, noch so süß von Düften.

(108 a, 13 f.)

Auch wenn mehrere Verse dazwischen lagen, nahm Uhland an der Wiederholung des Epithetons Anstoß : in dem Vers „Selbst bei des Fingers leisem Drübergleiten " (102b, 7) wird „leisem" durch „leichtem" ersetzt, weil es drei Verse zuvor geheißen: „mit leisem Schüttem". Und über drei Verse hinweg verbietet (419, 2) das Wort „Erdenblüte" die Verwendung von „Erden- glanz", wofür „Frühlingsglanz " eintritt.

In dem Sonett „Die Locken" (422) wird das Wort „Locken" an zwei Stellen (Vers 10 und 14) getilgt und ersetzt, weil es in der Überschrift und zweimal im Text vorkommt und weil außerdem vier Verse auf ocken reimen.

Aber nicht nur die Wiederholung einzelner Worte wird ver- mieden, sondern auch diejenige derselben syntaktischen Ordnung, wenn sie monoton wirken würde. So zieht die Änderung des Verses:

Man läßt mich nicht zu Hause weilen in:

Ich soll nicht mehr zu Hause weilen (447, 1)

auch die Änderung des zweitnächsten Verses mit sich:

Ich wandre jetzt schon volle sieben Meilen in:

Schon wandr' ich volle sieben Meilen.

Bedeutend verbessert hat Uhland das Gedicht „SeligerTod" (21) durch die Tilgung der normalen Wortstellung des Aussagesatzes

*) Vgl. die verstÄrkcndo R«tnschierung des Refrains in .Früh- linf^Rglaube": .Nun muß sich alles, alles wenden," aus: ,£s wird sich alles wenden.' (29 b, 12.)

109

und Vorausstellung des Partizips, woraus sich Inversion und Abwechslung ergab. Man vergleiche die zwei Fassungen:

1. Ich war gestorben 2. Gestorben war ich

Vor Liebeswonne: Vor Liebeswonne:

Ich lag begraben Begraben lag ich

In ihren Armen; In ihren Armen;

Ich ward erwecket Erwecket ward ich

Von ihren Küssen; Von ihren Küssen;

Ich sah den Himmel Den Himmel sah ich

In ihren Augen. In ihren Augen.

Wo die Wiederholung gegen die einfachsten Gesetze des Wohllauts verstieß, wurde der Schaden natürlich sofort repariert, so in dem Vers:

Wann(urspr.: Als) wir als Kinder sprangen um die Linden. (422a, 2.) Die übelklingende Wiederholung desselben anlautenden Dentals in einem Vers wird verbessert:

Doch dacht' ich dein, o [statt du] Treuer. (II, 314 c. 13.)

Bisweilen kann durch eine nur an einem Buchstaben vor- genommene Änderung der Wohllaut gefördert werden:

Von einer aber thuts mir weh in:

Von Einer aber thut mir's weh. (49 b, 12.)

Solche kleine Glättungen holte Uhland gelegentlich auch erst in den Drucken nach. So änderte er in der siebenten Auflage der Gedichte „nirgends still" in „nirgend still" (291, 48). Dieses Zusammenstoßen nah verwandter oder identischer Konsonan- ten in zwei aufeinander folgenden Wörtern erschwerte die Aus- sprache. Daher änderte Uhland auch die Worte „zur reinen Sonne" in: „zu reiner Sonne" (63 b, 7). Aber, wenn sich auch nicht immer in ähnlicher Weise abhelfen ließ, so wurde doch die Anhäufung vieler Konsonanten als dem Wohllaut schädlich erkannt. „So wächst du auf am Heimathstrande " hieß es zuerst im „Theelied" (52, 17). Uhland suchte zunächst abzuhelfen durch ein anderes Verbum: „lebst du", das ihn aber nicht befriedigte; worauf er ein Mittel fand, „wachsen" doch beizubehalten, durch die Änderung: „So wächsest du am Heimathstrande."

Uhlands intime Kenntnis der romanischen Sprachen hatte vielleicht dazu beigetragen, sein Ohr für den Kampf mit dem Kon-

110

sonantismus zu schärfen, der ja dem deutschen Dichter viel mehr Mühe bereitet als dem romanischen. Daher stellt er besonders der Häufung des geräuschvollen ch nach und ändert z. B. „nicht erdacht" in: „nie erdacht" (62b, 6) oder „Stille streif [aus: streich'] ich durch die Gassen" (123). Auch wird der Wohlklang verbessert durch das Wörtchen „nun" in dem Vers; „Freiheit heißt nun [aus: jetzt] meine Feee" (63 a, 5).

Wie sicher Uhland die Metrik und die Eeimtechnik beherrscht hat, sieht man aus der geringen Anzahl von Korrek- turen, welche die Konzepte der Gedichte in dieser Hinsicht auf- weisen. Kaum daß hie und da die schwebende Betonung dem strengeren Rhythmus wich.

Solang auf ihr der Kindheit Unschuld blühet

statt:

Solang auf ihr unschuldge Kindheit blühet. (420 a, 13.)

„Verhaltne Männerstimmen" statt „halblaute Männerstimmen" (283, 19). Einmal, in dem Gedicht „Vorabend" (24, 1. 3. 5. 7), wurden Reime eingesetzt, wo ursprünglich keine vorhanden waren. Ein anderes Mal, in „Frühlingsfeier" (30, 1. 3. 5. 7), wurden Reime, welche auf den Sinn einen Zwang ausgeübt hatten, ent- fernt. Beide Gedichte gewannen dabei nach Inhalt und Form. Ganz vereinzelt steht femer ein Fall, in dem höchst wahrschein- lich des Reimes wegen mehrere Verse umgestaltet wurden. In der ersten Fassung des Sonettes „Geisterleben" (107) nämlich lauteten die zwei ersten Reime aben" und ecken", so daß sich achtmal das tonlose en" am Versende wiederholte. Deshalb wurden die Verse 2. 3. 6. 7 mit einem anderen Reim versehen und demgemäß verändert.

Häufiger als solche gründliche EingrifEe läßt sich das Be- streben erkennen, durch Herstellung oder Versetzung der Cäsur die rhythmische Gliederung des Verses zu ver- vollkommnen, wie folgende Beispiele zeigen:

In serger Kindheit Duft und Morgensoheine

statt:

and:

•tatt:

In serger Kindheit Morgenduft und Sohoine, (115 b, 16) Nun, armes Herz, vorgiß der Qual!

111

Getrost du armes Herz voll Qual! (29 b, 11) ferner :

An jenen dich zu haschen, dich zu binden statt :

Daß ich an ihnen dich erhasch' und binde. (422 a, 3.)

Umgekehrt wird ein breiterer rhythmischer Fluß erzielt, wenn z. B. in der langen Oktave zwei Verse enger zusammengeschlossen werden :

(An Ihrem Grabe kniet' ich, festgebunden,)

Und senkte tief den Geist ins Todtenreich statt :

Versunken war mein Geist ins Todtenreich, (115 b, 2.)

Von der Rücksicht auf das Strophenganze eingegeben ist auch die Korrektur in Vers 3 in „Lob des Frühlings" (30). An- fänglich bestand die Strophe aus sechs drei- bis viersilbigen zu- sammengesetzten Hauptwörtern, nach denen jedesmal der Cäsur- einschnitt oder das Versende eintrat, was nicht nur hart und monoton wirkte, sondern das kleine Ganze in sechs Teile zer- splitterte. Durch Teilung des letzten Gliedes in Substantiv und Adjektiv: „linde Luft" statt „Märzenluft", wird ein gewisser Abschluß markiert, zumal da der Hauptton dieser Dipodie auf die zweite und nicht, wie bei den fünf vorangehenden, auf die erste Hebung fällt. So ist durch diesen Kunstgriff viel gewonnen.

Im übrigen zeichnet sich die Strophe bei Uhland durch eine solche Geschlossenheit aus, daß in einzelnen Gedichten S t r phen umgestellt, eingefügt oder gestrichen werden konnten, ohne daß ihre Umgebung wesentlich verändert wurde. So stand im „Lied eines Armen" ursprünglich Strophe 4 vor Strophe 3; in dem Gedicht „An die Volksvertreter" bildete die Schlußstrophe 5 ursprünglich die zweite Strophe, in der „Jagd von Winchester" wurde Strophe 5 nachträglich hinzugefügt; und in „St. Georgs Ritter" Nr. 1 vollends wurde nicht nur eine Strophe (jetzt Vers 21 bis 24, früher vor Vers 37) umgestellt, sondern auch eine Eingangsstrophe, sowie zwei ähn- lich lautende Strophen in dem Inneren des Gedichtes gestrichen (nach Vers 36 und Vers 48).

Der letztere Fall, die Tilgung einer Strophe im Inneren eines Gedichts, findet sich noch mehrmals, doch fast ausschließlich

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in den Gedichten der Frühzeit, denen noch der Fehler zu großer Breite anhaftete: in „Die Erinnerung" (nach Vers 6), „Mai- klage" (nach Vers 33), „Lied eines Armen" (nach Vers 4), „Der Schmied" (nach Vers 6). Im Anfang des Gedichts hat Uhland auch in späterer Zeit^) gelegentlich eine Strophe entfernt, so in dem Gedicht „Auf ein Kind" (1814) und „Der Ungenannten" (1819). Das letztere hat Uhland seiner Braut, für deren Geburts- tag es gedichtet war, in der längeren Form überreicht, für die Aufnahme in die Gedichte aber, um ihm den Charakter des Ge- legenheitsgedichts zu nehmen^), der Einleitungsstrophe ent- kleidet. Im selben Sinne hat Uhland im „Verspäteten Hochzeit- lied" zwei halbe Strophen getilgt.

Daß die Sinngedichte sich manche Kürzung gefallen lassen mußten, ist begreiflich. So bestanden „Achill" und „Helena" ursprünglich aus zwei Distichen, Der Zyklus „Narziß und Echo" wurde von dreizehn auf vier Distichen reduziert. Die zwei „Greisen Worte" betitelten Strophen kennzeichnet ein nach- träglich hinzugefügter Trennungsstrich als zwei kleinere, selb- ständige Sinngedichte.

Oft geht Kürzung mit Umarbeitung Hand in Hand. So ist der bekannte Sinnspruch:

Was zagst du, Herz, in solchen Tagen,

Wo selbst die Dorne Rosen tragen? (30 o.)

nicht auf den ersten Wurf in seiner prägnanten, schlichten Kürze geglückt, sondern aus drei Zeilen zusammengeschmolzen worden. Die erste Fassung lautete:

Soll ich trostlos noch verzagen, Seit in diesen Blüthen tagen Selbst die Dome Rosen tragen?

Auch „Des Knaben Tod" (155) ist „umgearbeitet oder vielmehr abgekürzt worden**). An der Stelle von Vers 9 bis 14 standen ursprünglich vierzehn Verse. Von je vier Zeilen Wechselrede

*) Für die Kürzungen des Jahres 1806, denen noch die der „Mäd- oben am Rache" von 1807 anzureihen ist, vgl. oben S. 16.

•) Vgl, die Verwischung des Lokals, das dem Dichter vorschwebt, in dem „SchifTloin": „Ein SchifHoin ziehet leise Den Strom hin (aus: Im Neckar) sein GeleiBe" (181),

') An K. Mayer, 26. Dezember 1807. I, S. 32,

113

zwischen dem Knaben und der Jungfrau blieben deren zwei, welche Worte der letzteren enthielten. Das übrige wurde, als aus der Situation hervorgehend, von Uhland getilgt.

Eine völlige Umgestaltung eines ganzen Gedichts nahm Uhland selten vor. Bei größeren Gedichten geschah dies nur, wenn eine längere Zeit dazwischen lag; kleinere aber er- hielten, auch wenn sie gründlich verändert wurden, bald ihre definitive Form. Zwei Beispiele der letzteren Art sind ,J'rühling8- ahnung" (29) und „Bild" (451). Die zwei Fassungen des ersteren lauten :

1. 0 süsses, lindes Wehn!

Kein Veilchen ist noch zu sehn, Mir blühen schon wieder Die Frühlingslieder.

2. 0 sanfter, süßer Hauch Schon weckest du wieder Mir FrühlingsUeder,

Bald blühen die Veilchen auch.

Die erste Fassung ließ die gerade für ein so kleines Ganze be- sonders wichtige Einheitlichkeit und Abrundung vermissen. Die Umarbeitung stellte diese Mängel nach Form und Inhalt ab, indem der jetzt klangvoller gewählte männliche Reim die zwei weiblichen, und indem die zwei Glieder des Naturbildes den Vor- gang in des Dichters Brust umschließen.

Vergleicht man die zwei Fassungen des Gedichtes .Bild":

1. Seht ihr wo ein schönes Kind, Das in Sturm und Regen geht, Dem der wilde Wirbelwind Locken imd Gewand zerweht: Wie kein Wort sie schüdern kann Seht ihr meine Liebe dann.

2. Seht ihr wo ein schönes Kind, Das in Sturm und Regen geht. Dem Gewand und Locke weht. Das vom wilden Wirbelwind Kaum sich noch erwehren kann: Denket dann,

Daß ihr meine Liebe seht!

SO macht sich hier ein ähnliches Streben nach Gliederung unter Wahrung der Geschlossenheit des Ganzen geltend: die epigram-

Haag, Uhland 8

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matische Schlußwendung wird durch die einzelne Dipodie in Vers 6, die wie eine Fermate wirkt, von dem Rumpf des Gedichts gesondert und bleibt durch die veränderte Reimstellung (a b b a c c b statt der weniger verknoteten a b a b c c) doch zugleich mit ihm im Zusammenhang.

Im Jahr 1816, elf Jahre nach der ersten Abfassung, nahm Uhland das „Der Wehmuthsänger " betitelte Jugendgedicht wieder auf, um es aus der ihm sonst fremden alkäischen Strophe in eine Reimstrophe umzusetzen. Es läge nahe, zu vermuten, Uhland hab3 an diesem Produkt einer Periode, der er seit lange innerlich fremd geworden, wenn er es nun schon der Wiederaufnahme für wert hielt , zugleich auch inhaltliche Veränderungen vorgenommen. Allein Uhland verfuhr bei der Umarbeitung mit einer Objektivität und pietätvollen Schonung, als ob es sich um die Übersetzung eines fremden Originales gehandelt hätte; Um- fang, Inhalt und Sinn wurden getreu bewahrt ein neues Zeichen für die Ökonomie, mit der Uhland sein dichterisches Gut ver- waltete ; trotzdem ihm das Gedicht fremd geworden, wollte er es doch nicht kurzweg verwerfen oder in Vergessenheit geraten lassen, sondern es wenigstens in einer angemessenen Form hinter- lassen.

Ähnlich verfuhr Uhland mit dem Gedicht „Teils Platte", das er nach einem drei bis vier Jahre zurückliegenden in rhyth- mischer Prosa abgefaßten Entwurf umarbeitete. Auch hier wurde das Original in seiner Grundform beibehalten; nur daß eine kleine, ossianische Kraftstelle ^) weislich getilgt ward.

Eine eingreifendere Umgestaltung erfuhren die ersten Fas- sungen zweier erzählenden Gedichte größeren Stils: des „Blinden Königs" und des Zyklus „Der Königssohn", die beide erst in der umgearbeiteten Fassung von Uhland veröffentlicht wurden. Bei dem Balladenzyklus „Der Königssohn", der an poetischem Wert hinter dem „Blinden König" doch wohl zurücksteht, ist be- sonders zweierlei hervorzuheben : einmal, daß er teilweise doppelt umgearbeitet wurde. Von der ersten Nummer liegen Fassungen vor vom 19. August 1806, 23. Juli 1811 und 30 f. Januar 1812. Die erste zeigt noch zweiundsiebzig sehr weitschweifige Verse,

') „Sein Gewand, soino Uaaro flattern. Himmelan wirft er den groeeen Blick der Freiheit."

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die zum großen Teil allgemeine Betrachtungen und rülirsame Reden enthielten ; diese wurden in der zweiten Fassung bedeutend eingeschränkt, so daß nur noch neunundzwanzig Verse blieben, und auch diese rückten 1812 in drei kurze, vierzeilige Strophen zusammen, die, ganz Uhlands reifer Balladentechnik entsprechend, vieles der Ergänzung durch den Leser überließen. Sodann ist bemerkenswert, daß nach Nr. 7 fünf Stücke ausfielen, weil die Motive, die sie enthielten, schon 1807 in eine andere Ballade, „Der junge König und die Schäferin", verwoben worden waren. Was die zweite dieser Bearbeitungen in großem Maßstab be- trifft, so ist der Umstand auffallend, daß Uhland die Ballade, welche allerdings seiner frühesten Jugendzeit angehörte, aber doch im Unterschied zu dem oben erwähnten Gedicht „Der Wehmuthsänger " schon ganz seiner späteren Art gemäß war, erst so spät wieder aufgegriffen hat. Man muß annehmen, daß sie in dem Jahrzehnt (1804 bis 1814) während dessen sie ruhte, ganz in Vergessenheit geraten war, und der Dichter erst, als er seine alten Entwürfe im Hinblick auf die beabsichtigte Ausgabe der Gedichte musterte^), wieder auf sie aufmerksam wurde. Die Umarbeitung gedieh dann sehr rasch, in einem Tag. Dies beweist, wie schnell Uhland mit dem doch ziemlich umfangreichen Gedicht wieder vertraut war; auch erstreckte sich die Bearbeitung hauptsächlich auf den Ausdruck und die Form ^) ; das Verhältnis des Inhalts zur Quelle ^) wurde im ganzen nicht geändert, wenn auch einzelne Motive edler oder wirksamer gestaltet wurden, wie ein Vergleich folgender Stellen zeigt:

1. Ha, Schande dir! aus stillem Bade Hast du sie mir geraubt.

2. Vom Tanz auf grünem Strande

Hast du sie weggeraubt. (Vers 13 f.)

) Daß dies geschah, scheinen die kurz aufeinander folgenden Tagbuchnotizen anzudeuten. 3. Dezember 1814: „Angefangene Aus- arbeitung der schon früher entworfenen Ballade ,Des Sängers Fluch*." 5. Dezember: „Die Ballade ,Der blinde König' umgearbeitet. " 6. Dezem- ber: „Früh die »Schwäbische Kunde' wieder aufgefaßt und . . . ausge- arbeitet." 7. Dezember: „Das Gedicht ,Frühlmgsfeier' wieder vorge- funden und zugerüstet."

^) Vgl. Eichholtz a. a. O. S. 20.

^) Das Nähere über dieses Verhältnis siehe ebenda S. 12 ff.

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oder die Verschärfung des Holmes in der Herausforderung des Räubers :

1. Zwar bin ich nicht von Königsblut, Doch hab' ich Kraft und hohen Muth. Wohlauf, ihr Wächter an dem Throne! Die holde Braut dem Sieger lohne!

2. Du hast ja viele Wächter, Warum denn litten's die?

Dir dient so mancher Fechter,

Und keiner kämpft um Sie? (Vers 21 ff.)

Dieser Änderung entsprechend wirkt nun weniger der Trotz des Räubers auf den König, als der feinere Stachel des Holmes, den er begründet finden muß:

1. Und den blinden König fasset Graun Ob solcher stolzen Rede.

2. Der blinde König kehrt sich um:

.Bin ich denn ganz allein?" (Vers 27 f.)

Was die Metrik anbetrifft, so wurde zwar die Strophenform beibehalten: Strophe 2 der ersten Fassung gibt die Norm ab für die definitive Fassung; aber im einzelnen wurde sehr viel ver- bessert. Zahl und Stellung der männlich und weiblich auslauten- den Reime wurde normiert, die zweisilbigen Senkungen entfernt, und überhaupt der Fluß und die Gliederung des Rhythmus sowie die musikalische Wirkung der Verse befördert; man ver- gleiche folgende Stellen:

1. Er jammert von der Klippenhöh', Auf seinen Stab gelehnt.

2. Er ruft, in bitt'rem Harme,

Auf seinen Stab gelehnt. (Vers 5 f.)

1. Und seine edlen Fechter sohaun Hinüber still und blöde.

2. Noch stchn die Fechter alle stumm Tritt keiner aus den Reihn. (Vers 25 f.)

1. Doch bald ertönt vom FeUenhanfl;

Der Schilde Stoß, der Schwerter Klan?, Der Feohter Dräun hernieder, Und die Buchten hallen wieder.

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2. Bis drüben sich erhoben

Der Schild' und Schwerter Schall, Und Kampfgeschrei und Toben, Und dumpfer Widerhall. (Vers 45 ff.)

In der letzten Variante ist auch die Verwendung der Allite- ration und des Polysyndetons bemerkenswert. Der Reim wurde nur teilweise gereinigt. Zwar verschwanden: Rede blöde, Ungestüm ihm, aber Höh See, Verließ süß, bHeben be- stehen. Dagegen ist die Einführung des Namens „Gunild[e] ", da er der einzige ist, wohl durch den Reim veranlaßt worden: sein Wohllaut ersetzte am Versende vorteilhaft die abgeblaßten Epitheta zart und mild; außerdem trug er auch, im Vers- anfang, zum volleren Ausklingen des Gedichtes bei:

1. Du, Holde, singst im Sterneschein Die Klage sanft und hehr!

2. Gunilde, du Befreite, Singst mir den Grabgesang,

Die Aufgabe, die sich diese Untersuchung gestellt hatte, war nicht ohne Entsagung zu lösen: ungern geht man an dem Eigenartigsten und W^ertvoUsten, was Uhland in der Poesie ge- schaffen hat, an den episch-lyrischen Gedichten, vorüber ; während doch die reine Lyrik zweifellos dasjenige Gebiet ist, das die seiner Natur gesteckten Grenzen am bestimmtesten erkennen läßt. Aber gerade indem man den Wurzeln von Uhlands Lyrik in seinem Leben nachgeht und dabei jener Grenzen deutlich gewahr wird, sieht man sich zu der größten Bewunderung gezwungen für die künstlerische Einsicht und Besonnenheit, mit der Uhland das ihm verliehene Vermögen nützte, ohne es je zu mißbrauchen. Es hat sich gezeigt, wie Uhland einerseits die starken Schwan- kungen der Schaffensdisposition, denen er unterworfen war, und deren Bedingungen wir, freilich in unvollkommener Weise, auf die Spur zu kommen suchten, mit Fassung ertrug, und wie er

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selbst das endgültige Versiegen der poetischen Kraft mit ruhiger Resignation hinnahm; wie er aber anderseits auch geringfügige Anregungen, die ihm das Leben bot, wahrzunehmen und seinem Dichten dienstbar zu machen wußte. Nur diese strenge künst- lerische Selbstzucht und der stete innige Zusammenhang mit dem Leben, im Verein mit einer seltenen Beherrschung der Form und der Sprache, konnte, bei dem doch nicht sehr beträchtlichen Grad der Spontaneität des lyrischen Dranges und der Selbst- tätigkeit der Phantasie, Uhland den hohen Platz sichern, den man ihm in der deutschen Lyrik nach Goethe einräumt.

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