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Mikrokosmus.

Ideen zur Naturgeſchichte und Geſchichte der Menſchheit.

-Berfuh einer Anthropologie von

Hermann Kotze.

Erster Band. 1. Der Leib. 2. Die Seele. 3. Das Leben.

Berlag von S. Hirzel 1884,

3/7636

Das Recht ber Ueberfegung ift vorbehalten.

Den treuen Freunden

Wilhelm Baum

und Heinrich Ritter.

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Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er- gebnifjen menjchliher Wiſſenſchaft ift ein alter nie gejchlich- teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben, die den Zufammenhang der Welt anders und fchöner geital- tet wiſſen möchten, als der unbefangene Blick der Beobach⸗ tung ibn zu ſehen vermag: dieſe Entjagung ift zu allen Zei⸗ ten al8 der Anfang jeglicher Einficht gefordert worden. Und gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge dem gemeinen Erkennen gegenüberjtellt, am bäufigften doch nur eine fehnfüchtige Ahnung, wohl fundig der Schranken, denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er- reichen möchte. Denn aus dem beften Theile unſeres Wefens entiprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beftimmtere Färbung von ſehr verfehiedenartigen Einflüffen. Genährt an mancherlei Zweifeln und Nachgevanfen über die Schickſale des Lebens und über den Inbalt eines doch immer befchräntten Erfabrungskreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie- ferter Bildung und augenblidlicher Zeitrichtungen, noch find fie feldft unabhängig von dem natürlichen Wechfel der Stim- mungen, bie andere find in der Jugend, andere nach der Auf- fammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Dan Tann nicht ernjtlich hoffen, dag eine fo unklare und unrubige Bewe⸗

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VI

gung des Gemüthes den Zuſammenhang der Dinge rich- tiger zeichnen werbe, als die bejonnene Unterfuchung, mit der in der Wifjenichaft Das Allen gemeinfame Denken befchäf- tigt ift. Dürfen wir dem menjchlichen Herzen nicht gebieten, jeine fehnfüchtigen ragen zu unterbrüden, fo wirb es gleich- wohl ihre Beantwortung als eine nebenher reifende Frucht jener Erfenntniß erwarten müſſen, bie nicht von denſelben Tragen, jondern von leivenfchaftsloferen und darum klareren Anfängen ausging.

Aber das wachſende Selbftgefühl der Wiſſenſchaft, die nach Jahrhunderten des Schwankens einzelne Gebiete der Er- ſcheinungen zweifellofen Gefegen unterworfen jieht, droht die⸗ ſes richtigere Verhältniß zwiichen Gemüth und Erfennen in

‚eine neue unwahre Stellung zu verfchieben. Man begnügt

fih damit nicht, am Anfange der Unterfuchung fich der zu- dringlichen Fragen zu erwehren, mit denen unfere Wünfche Träume und Hoffnungen das beginnende Werk zu verwirren bereit find: man leugnet zugleich die Verpflichtung, im Laufe der Forſchung fich jemals zu ihnen zurüdzumenden. in rei- ner Dienjt der Wahrheit um der Wahrheit willen, babe die Wiſſenſchaft nicht zu forgen, ob fie die felbftfüchtigen Wünſche des Gemüthes befriebigen oder verlegen werde. Und von der Berzagtheit werdet fich auch hier das menschliche Herz zum Trotze. Nachdem es einmal den Stolz der unbefangenen und rüd- fiht8lofen Unterfuchung gefoftet Hat, wirft e8 fich in jenen falfchen und fo gebrechlichen Heroismus, der dem entfagt zu haben fih rühmt, dem nie entfagt werben darf, und fchäkt, in maßlofem Vertrauen auf keineswegs unbeftreitbare Voraus⸗ jegungen, die Wahrheit feiner neuen Weltanfiht nach dem Grade der Feindfeligkeit, mit welchem fie Alles beleidigt, was das lebendige Gemüth außerhalb der Wilfenichaft für unan- taſtbar achtet. |

Diefe Vergötterung der Wahrheit fcheint mir weder als unabhängige Schätung ihres Werthes gerecht, noch vortheil-

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baft für den Zweck zu bewirkenver Veberzeugung, den bie Wiſſenſchaft Doch ſtets verfolgen muß.

Könnte e8 der menſchlichen Forſchung nur darauf anlom- men, den Beitand der vorhandenen Welt erkennend abzubil- den, welchen Werth hätte dann doch ihre ganze Mühe, die mit der öden Wiederholung fchlöffe, daß, was außerhalb der Seele vorhanden war, nun nachgebilvet in ihr noch einmal vorkäͤme? Welche Bedeutung hätte das leere Spiel diefer Ver- boppelung, welche Pflicht der denkende Geift, ein Spiegel zu fein für das was nicht denkt, wäre nicht die Auffindung ber Wahrheit überall zugleich die Erzeugung eines Gutes, deſſen Werth die Mühe feiner Gewinnung rechtfertigt? Der Ein- zelne, in die Theilung der geiftigen Arbeit verſtrickt, welche der wachjende Umfang der Wiffenfchaft unvermeidlich berbeiführt, mag für Augenblide den Zuſammenhang feiner engbegrenzten Be- ſchäftigung mit den großen Zwecken des menjchlichen Lebens ver- geſſen; es mag ihm fcheinen, als fet die Förderung des Wiſſens um des Wiſſens willen an fich ein verſtändliches und würdiges Ziel menfchlicher Beitrebungen. Aber alle feine Bemühungen haben zulett Doch nur die Bedeutung, zufammtengefaßt mit denen unzähliger Andern, ein Bild der Welt zu entwerfen, das ung ausdeutet, was wir als den wahren Sinn des Daſeins zu ehren, was wir zu thun, was zu hoffen haben. Jene ſtrenge Unbefangenheit der Forſchung aber, die ohne alle Rückſicht auf dieſe Fragen zu dem Aufbau des Wiſſens mitwirkt, iſt nur eine weiſe Enthaltſamkeit, die eine ſpäte aber volle Be— antwortung derſelben von dem vereinigten Ergebniffe der Un- terfuchungen erwartet und diefe der verfrühten und einfeitigen Aufklärung vorzieht, mit welcher untergeoronete und zufällige Standpunkte unjer Verlangen unzureichend befchwichtigen. Den unrubigen Fragen baber, wie fie unzufammenbängend die Be- brängniß bes Lebens erzeugt, mag die Wifjenfchaft eine augen- blicliche Antwort vorenthalten; fie mag auf den Fortſchritt der Forſchung verweilen, der manche Schwierigkeit in Nichte

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VIII

auflöſen wird, ohne die neuen Verwirrungen zu verſchulden, in welche die vereinzelten Beantwortungen zudringlicher Zwei⸗ fel uns ſtets zu verwickeln pflegen. Aber das Ganze der Wahrheit dürfen wir nicht als eine abgeſchloſſene Glorie für ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen doch ſtets der erſte Antrieb zu ihrer Entdeckung hervorging. So oft vielmehr eine Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗ weiſen verdrängt hat, wird die neue Geſtaltung der Anſichten ſich durch die bleibende oder wachſende Befriedigung rechtfer⸗ tigen müſſen, die ſie den unabweisbaren Anforderungen unſe⸗ res Gemüthes zu gewähren vermag.

Ihre eigenen Zwecke müſſen jedoch die Wiſſenſchaft nicht minder beſtimmen, eine ſolche Verſtändigung zu ſuchen. Denn ſie ſelbſt, welchen andern Ort des Daſeins hätte ſie, als die Ueberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen ſind? Aber ſie wird nie dieſe Ueberzeugung bewirken, wenn ſie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete der geiſtigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord⸗ neten Unterſuchung längſt von unſern Hoffnungen Ahnun⸗ gen und Wünſchen überzogen und in Beſitz genommen ſind. Ueberall zu ſpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un⸗ befangene Empfänglichleit; fie findet überall vielmehr bereits befeftigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan- zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigiten Sehnsucht des Geiftes verdankt, ſich hemmend an den Gang ihrer Beweife hängen wird. Und wo eine wideriwillige Ueber⸗ zeugung im Einzelnen dennoch erzivungen wird, da wird fie ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt, dag ja die Macht jener erften Grundſätze, Durch deren Folgen die Wiffenfchaft uns bezwingen will, zulegt auch nur auf einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruht. Mit demfelben Slauben meint man viel vichtiger fogleich jenes Weltbild felbft feithalten zu müſſen, deſſen Zuſammenklang mit

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der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen fcheint. Und fo läßt man das Ganze der Wiſſenſchaft als ein Irrſal dahingeftellt fein, in welches die Erkenntniß, abgelöft von ihrem Zuſammenhange mit dem ganzen lebenpigen Geifte, auf nicht weiter angebbare Weife fich verwickelt babe.

Man Tann im Glauben an die Welt des Gemüthes nicht ſchwärmen, ohne bei jevem Schritte des wirklichen Lebens die Vortheile der Wiſſenſchaft zu benugen und ihre Wahrheit ſtill⸗ fchweigend Dadurch anzuerkennen; man kann ebenfo wenig der Wiſſenſchaft leben, ohne Luft und Laſt des Dafeins zu em- pfinden und ſich von einer Weitorbnung anderer Art überall umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum kärgliche Erläu- terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, ſich an beide Welten zu vertbeilen, beiden angehören zu wollen, obne fie doch zu vereinigen? in ber Wiſſenſchaft den Grundſätzen des Erkennens bis in ihre äußerſten Exrgebniffe zu folgen und im Leben fich von ven bergebrachten Gewöhnungen bes Glau- bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu laffen ? i

Daß dieſe Zwiefpältigfeit der Ueberzeugung häufig die einzige Löſung tft, die man findet, ift nicht befremdlich; trau- tiger, wenn fie als die wahre Faſſung unferer Stellung zur Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menschlichen Willens kann uns wohl am Ende unferer Bemühungen zu bem Geſtändniſſe nöthigen, daß die Ergebniffe des Erkennens und bes Glaubens fich zu keinem Tüdenlojen Weltbaue vers einigen; aber nie können wir tbeilnahmlos aufehen, wie das Erkennen dur feinen Widerſpruch die Grundlagen des Glau⸗ bens unterhöhlt, oder dieſer kühl im Ganzen das ablehnt, was bie Wifjenfchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗ mer von neuem müffen wir vielmehr den ausprüdlichen Ver- fuch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen, wie wenig unauflöglih der Widerſpruch ift, in welchen fie unentwirrbar verwidelt erfcheinen.

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Der Uebermuth der philoſophiſchen Forſchung und die raftlofen Fortſchritte der Naturwifjenfchaft haben von verichie- denen Seiten ber jenes Weltbild zu zerjtören gefucht, in wel- hen das menfchliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn- ſucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe der Philofophie erzeugten, hat unfere Zeit durch das wird famfte Mittel überwunden, durch die völlige Theilnahmlofig- feit, mit der fie fich von den kaum mehr beachteten Anjtren- gungen der Speculation abwendet. Sie hat ficb nicht eben- jo Teicht der weit zudringlicheren Beredſamkeit der Natur- wiffenschaften entziehen können, deren Behauptungen jeden Augenblick die Erfahrungen des alitäglichiten Lebens beitä- tigten. Diefer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft großartige Entwicdlung der Naturkenntniß auf alle Beftre- bungen unferes Jahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen ebenfo anwachſenden Widerftand gegen die Beeinträchtigungen hervor, die man von ihm für das Höchfte der menfchlichen Bildung erwartet. Und fo ftehen wieder die alten Gegenfäte zum Kampfe auf: bier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit ihrem täglich ſich mehrenden Reichthum des beftimmteften Willens und der Ueberredungskraft anfchaulicher Thatfachen, dort die Ahnungen des Weberfinnlichen, Taum ihres eignen ° Inhaltes vecht ficher, jeder Beweisführung fehwer zugänglich, aber durch ein ftet8 wiederkehrendes Bewußtfein ihrer dennoch nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wiber- legung. Daß der Streit zwifchen diefen beiden eine unnöthige Dual ift, die wir durch zu frühes Abbrechen der Unterfuchung uns felbft zufügen, dies ift die Weberzeugung, die wir bes feitigen möchten.

Gewiß mit Unrecht werdet fich die Naturwiſſenſchaft ganz von den äſthetiſchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, vie man ihr als eine höhere Auffaffung der Dinge überzuordnen liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre fcharfbegrenzten Begriffe und bie fefte Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von

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Elementen zerrüttet zu ſehen, bie alfer Berechnung unfähig, ihre eigne Unbeftimmtheit und Nebelhaftigfeit Allem mitthei- len zu müfjen feinen, was mit ihnen in Berührung fommt; fie vergißt endlich, daß ihre eignen Grundlagen, unjere Vor⸗ jtellungen von Kräften und Naturgefegen, noch nicht die Schluß- gewebe der Fäden find, die fich in der Wirklichkeit verfchlin- gen. Auch fie laufen vielmehr für einen ſchärferen Blid in daffelbe Gebiet des Meberfinnlichen zurück, deſſen Grenzen man umgeben möchte,

Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der Anerkennung der mechanischen Naturauffaffung jo bemmend entgegenfteht: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verjchwinden zu ſehen. Wie oft ift dieſe Burcht ſchon geäußert worden, und wie oft bat der unaufbaltfame Fortfehritt der Entdeckun⸗ gen neue Duellen der Poefie eröffnet für die alten, die er verfchütten mußtel Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem ein abgefchlofjenes Volt, unfundig des unermeßlichen menfch- lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich jelbft als die ganze Meenfchheit, und jeden Hügel, jeve Duelle feines Landes in der pflegenden Obhut einer befonderen Gottheit fühlen durfte: biefe Einigfeit des Göttlihen und Menfchlichen ift überall zu Grunde gegangen in dem Fortfchritte der geograpbifchen Kennt⸗ niß, den der wachſende Völkerverkehr herbeiführte. Aber Diefe erweiterte Ausficht verdarb nicht, ſondern veränderte nur und erhöhte den poetiſchen Keiz der Welt. Die Entdedungen der Aſtronomie zerftörten den Begriff des Hintmels, wie den ber Erde; fie Löften jenen, den anjchaulichen Wohnfig der Götter, in die Unermeßlichfeit eines Luftkreiſes auf, in welchem bie Phantafie Feine Heimat des Weberfinnlichen mehr zu finden wußte; fie wandelten die Erbe, die einzige Stätte des Lebens und ber Gefchichte, in einen der Heinften Theile des grenzen- Iojen Weltalis um. Und Schritt für Schritt nahm Diefe Jer- ftörung altgewohnter Anſchauungen ihren weiteren Verlauf.

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Aus einem ruhenden Mittelpunkte warb die Erde ein verloren wandelnder Planet, um eine Sonne kreifend, die vorher nur zu ihrem Schmud und Dienſt vorhanden ſchien; felbit bie Harmonie der Sphären fchiwieg, und Alle haben wir ung darein gefunden, daß ein ſtummer, allgemeinen Geſetzen ge» horchender Umſ chwung unzähliger Himmelskörper die um⸗ faſſende Welt iſt, in der wir mit allen unſeren Hoffnungen, Wünſchen und Beſtrebungen wohnen.

Daß dieſe Umbildung der kosmographiſchen Anſchauun⸗ gen auf das Bedeutſamſte im Laufe der Geſchichte die Phan⸗ taſie der Völker umgeſtimmt bat, wer möchte dies leugnen? Anders lebt es fich gewiß auf der Scheibe der Erbe, wenn bie fihfbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie Zugänge der Unterwelt alle höchften und tiefiten Geheimnifje des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anfchaulichen Heimat einfchließen ; anders auf der rollenvden Kugel, die we⸗ der im Innern noch um fich in ber öden Unermeßlichkeit des Luftkreiſes Platz für jenes Verborgene zu haben jcheint, durch deffen Ahnung allein das menſchliche Leben zur Entfaltung feiner böchften Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr der Völker, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftille Heimlichkeit des Paradiefes zurücleiten, in deſſen Schatten die Mannigfaltigfeit der menjchlichen Gefchlechter das verbin- dende Bewußtfein eines gemeinſamen Urſprunges wiederfand; die Entdeckung neuer Erdtheile erichlitterte auch dieſen Glau⸗ ben; andere Völker traten in den Geſichtskreis ein, unkundig der alten Sagen, und die gemeinfame Heimat der Menjchheit wurde weit über die äußerſten Grenzen geſchichtlicher Erinne- rung hinausgerückt. Enblich that die ftarre Rinde des Pla⸗ neten jelbft, ven das menschliche Gefchlecht feit dem Tage fei- ner Entſtehung zu befiten wähnte, ihren verjchloffenen Mund auf und erzählte von unmeßbaren Zeiträumen des Dafeins, in denen dies menſchliche Leben mit feinem Trotz und feiner

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Berzagtheit noch nicht war und die fchöpferifche Natur, auch fo fih genügend, zahlreiche Gattungen des Lebendigen wech felnd entftehen und vergeben ließ.

Sp find alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen, durch die unfer Dafein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt lag; unermeßlich, frei und kühl ift die Ausfiht um uns ber geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere religiöfen Weberzeugungen anders als förberlich berührt; fie haben ung gendtbigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren war, mit größerer geijtiger Anftrengung in einer überfinnlichen Welt wieberzufinden. Die Befriedigung, die unfer Gemüth in Lieblingsanfichten fand, tft ftetS, wenn diefe dem Forts jgritte der Wiffenfchaft geopfert werben mußten, in ande ren neuen Formen wieder möglich geworben. Wie dem Ein- zelnen im Verlaufe jeiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch unvermeiblid in der Gejchichte des menfchlichen Gefchlechtes die beftimmten Umriſſe des Bildes, in dem e8 den Inhalt feiner höchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nub- 108 ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiſſen⸗ ſchaft zu widerjtreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von dent uns doch das heimliche Bewußtſein verfolgt, Daß es ein gebrechlicher Traum fer; gleich übel berathen aber ift bie Ver⸗ zweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For⸗ men doch der unerjchütterliche Zielpunkt menjchlicher Bildung fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf- fafjung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich Des rechten Wer ges wohl bewußt iſt, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen- fchaft nur eine der täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche die wechfelnden Standpunkte unferer veränderlichen Erfahrung auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnfucht werfen.

Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche die Tosmographiichen Entvedungen der Vorzeit unwiderruflich polls

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zogen haben, ven Umfturz der Mythologie, dürfen wir als verichmerzt anfeben, und ber letten Klage, die in Schillers Göttern Griechenlands ſich ergoß, wird nie ein Verſuch fol- gen, im Wiberftreit mit den Kehren der Wiſſenſchaft den Glau- ben an diejes Vergangene wieberberzuftellen. Große Umwäl⸗ zungen der religiöfen Anfichten haben über dieſen Verluſt binausgeführt und längjt den überreichen Erſatz dargeboten. Aber wie die wachjende Ternficht der Aftronomie den großen Schauplat des menschlichen Lebens aus feiner unmittelbaren Verſchmelzung mit dem Göttlichen löſte, jo beginnt das wei⸗ tere Vorbringen der mechanifchen Wiſſenſchaft auch die Kleinere Welt, ven Milrofosmus des menſchlichen Weſens, mit gleicher Zerfegung zu bedrohen. Ich denke nur flüchtig hierbei an die überhandnehmende Verbreitung materialiftiicher Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken eines körperlichen Mechanismus zurüdführen möchten. So breit und zuverfichtlich ver Strom diefer Anfichten fließt, hat er feine Quelle doch feineswegs in unabweisbaren Annahmen, die mit dem Geifte der mechanifchen Naturforſchung unzer- trennlich zuſammenhingen. Aber auch innerhalb der Grenzen, in denen fie fich mit befjerem echte bewegt, ift die zerſetzende und zerftörende Thätigfeit diefer Forſchung fichtbar genug und beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber Seele zu beitreiten, auf der jede Schönheit und Lebendigkeit der Geftalten, jeve Bebeutjamfeit und jeder Werth ihres Wech- felverfehrs mit der äußeren Welt zu beruhen fchien. Gegen die Wahrheit der finnlichen Erfenntniß, gegen die freie Will fürlichfeit der Bewegungen, gegen die fchöpferiiche, aus fich ſelbſt quellende Entwicklung des körperlichen Dafeins überhaupt find die Angriffe der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge- weſen und haben fo alle jene Züge in Frage geftellt, in de⸗ nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poefie des leben⸗ digen Dafeins zu befiten glaubt. Befremdlih kann daher die Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗

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müthes al8 höhere Auffafjung der Dinge den überzeugenden Darftellungen der mechanischen Naturbetrachtung bier zu wi- berjtreben ſucht; um fo nöthiger Dagegen der Verſuch, bie Harmloſigkeit diefer Anficht nachzuweifen, Die, wo fie ung zwingt, Anfichten zu opfern, mit benen wir einen Theil uns ſeres Selbit hinzugeben glauben, doch durch das, was fie uns zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht.

Und je mehr ich felbft bemüht gewefen bin, den Grund- fügen der mechanifchen Naturbetrachtung Eingang in das Ge- biet des organischen Lebens zu bereiten, das fie zagbafter zu betreten ſchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo mehr. fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite her- vorzufehren, die während aller jener Beftrebungen mir gleich fehr am Herzen lag. Ich darf kaum hoffen, ein ſehr günfti- ges Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen; denn was jene früheren Darftellungen an Zuftinnmung etwa gefunden haben mögen, das dürften fie am meiften der LXeich- tigfeit verdanfen, mit der jede vermittelnde Anficht fich dahin umdeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einfeitigen äußer⸗ ſten Meinungen günftig erſcheint, welche fie vermeiden wollte. Gleichwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Le- benspunkt der Wiſſenſchaft; nicht darin freilich, daß wir bald der einen bald der andern Anficht zerftücelte Zugeſtändniſſe machen, fondern darin, daß wir nachweifen, wie ausnahms- los univerfell die Ausdehnung, und zugleich wie völlig untergeordnet die Bedeutung der Sendung ist, weldhe der Mehanismus indem Baue der Welt zu erfüllen bat.

Es ift nicht der umfafjende Kosmos des Weltganzen, deſſen Beichreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volle gegeben ift, auch nur in dem befchränkteren Sinne diefer aus⸗ gejprochenen Aufgabe zu wieverholen wagen möchten. Ie mehr die Züge jenes großen Weltbildes in das allgemeine Bewußt- fein dringen, deſto lebhafter werben fie uns auf uns felbft zu-

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rũckleuken und die Fragen von neuem anregen, welche Be⸗ deutung nun der Menſch und das menfchliche Leben mit fei- nen beftändigen Erſcheinungen und dem veränberlichen Laufe feiner Geſchichte in den großen Ganzen der Natur hat, deren beftänbigem Einfiuffe wir uns nach den Ergebniffen der neue ren Wifienfchaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir bierliber die Reflerionen zu fammeln fuchen, vie nicht alfein innerhalb ber Grenzen ver Schule, fondern überall im Leben fi dem nachvenflicden Gemũthe aufprängen, wiederholen wir unter den veränderten Anſchauungen, welde vie Gegenwart gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Feen zur der Menſchheit feinen glänzenden Beginn gefun- t.

Den treuen Freunden

Bildbelm Baum

und

Seinrid Ritter.

Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüthes und den Er⸗ gebniſſen menſchlicher Wiſſenſchaft iſt ein alter nie gefchlich- teter Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben, die den Zuſammenhang der Welt anders und ſchöner geſtal⸗ tet willen möchten, als der unbefangene Blid der Beobach⸗ tung ihn zu ſehen vermag: dieſe Entjagung ift zu. allen Zei⸗ ten als der Anfang jeglicher Einficht gefordert worden. Und gewiß ift das, was man fo gern als höhere Anficht der Dinge dem gemeinen Erkennen gegenüberftellt, am bäufigften doch nur eine fehnfüchtige Ahnung, wohl kundig der Schranken, denen fie entfliehen, aber nur wenig des Zieles, das fie er- reichen möchte. Denn aus dem beiten Theile unferes Weſens entfprungen, empfangen doch jene Anfichten ihre beitimmtere Färbung von ſehr verſchiedenartigen Einflüffen. Genährt an mancherlei Zweifeln und Nachgedanken über die Schickſale bes Lebens und über den Inhalt eines doch immer befchräntten Erfabrungskreifes, verleugnen fie weder die Eindrücke überlie⸗ ferter Bildung und augenblidlicher Zeitrichtungen, noch find fie jeldjt unabhängig von dem natürlichen Wechjel der Stim- mungen, bie andere find in der Jugend, andere nach der Auf- fammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Man kann nicht ernftlich hoffen, daß eine fo unflare und unruhige Bewe-

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gung des Gemüthes den Zuſammenhang der Dinge rich⸗ tiger zeichnen werde, als die beſonnene Unterſuchung, mit der in der Wiſſenſchaft das Allen gemeinſame Denken beſchäf⸗ tigt iſt. Dürfen wir dem menſchlichen Herzen nicht gebieten, feine ſehnſüchtigen Fragen zu unterdrücken, jo wird es gleich- wohl ihre Beantwortung als eine nebenher reifende Frucht jener Erfenntnig erwarten müffen, bie nicht von denfelben ragen, fondern von leivenfchaftsloferen und darum Tlareren Anfängen ausging.

Aber das wachiende Selbftgefühl der Wiſſenſchaft, bie nach Sahrhunderten des Schwankens einzelne Gebiete der Er- fcheinungen zweifellofen Gefegen unterworfen ſieht, droht die⸗ ſes richtigere Verhältniß zwifchen Gemüth und Erkennen in eine nee unwahre Stellung zu verfchieben. Man begnügt fih damit nicht, am Anfange der Unterſuchung ſich der zu- dringlichen Fragen zu erwehren, mit denen unfere Wünfche Träume und Hoffnungen das beginnende Werk zu verwirren bereit find: man leugnet zugleich die Verpflichtung, im Laufe der Forſchung fich jemals zu ihnen zurüdzumenden. Ein rei» ner Dienft der Wahrbeit um der Wahrheit willen, babe die Wiſſenſchaft micht zu forgen, ob fie die felbftfüchtigen Wünſche des Gemüthes befriedigen oder verlegen werde. Und von der Verzagtheit wendet fich auch hier das menfchliche Herz zum Trotze. Nachdem es einmal ven Stolz der unbefangenen und rüd- ſichtsloſen Unterſuchung geloftet bat, wirft e8 ſich in jenen falichen und fo gebrechlichen Heroismus, der dem entjagt zu haben fich rühmt, dem nie entfagt werben darf, und fehägt, in maßlofem Vertrauen auf keineswegs unbejtreitbare Voraus⸗ jeßungen, die Wahrheit feiner neuen Weltanficht nach dem Grade der Feinpfeligfeit, mit welchem fie Alles beleidigt, was das Iebendige Gemüth außerhalb der Wilfenjchaft für unan- taftbar achtet.

Diefe Vergötterung der Wahrheit Scheint mir weder als unabhängige Schätung ihres Werthes gerecht, noch vortheil-

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baft für den Zweck zu bewirkenver Ueberzeugung, ven bie Wiſſenſchaft doch ſtets verfolgen muß.

Könnte es der menfjchlichen Forſchung nur darauf anlom- men, den Beſtand der vorhandenen Welt erfennend abzubil- den, welchen Werth Hätte dann doch ihre ganze Mühe, die mit der öden Wiederholung ſchlöſſe, daß, was außerhalb ver Seele vorhanden war, nun nachgebilvet in ihr noch einmal vorkäme? Welche Bebeutung hätte das leere Spiel diefer Ver- boppelung, welche Pflicht der denkende Geift, ein Spiegel zu fein für das was nicht denkt, wäre nicht die Auffindung der Wahrheit überall zugleich die Erzeugung eines Gutes, deſſen Werth die Mühe feiner Gewinnung rechtfertigt? Der Ein- zelne, in die Theilung der geiftigen Arbeit verftrickt, welche der wachjende Umfang der Wiſſenſchaft unvermeiblich herbeiführt, mag für Augenblide den Zuſammenhang feiner engbegrenzten Be- Tchäftigung mit ven großen Zwecken des menfchlichen Lebens ver- geſſen; es mag ihm fcheinen, als jet die Förderung des Willens um des Wiſſens willen an fich ein verftändliches und würbiges Ziel menſchlicher Beftrebungen. Aber alle feine Bemühungen haben zulegt doch nur die Bedeutung, zufammengefaßt mit denen unzäbliger Andern, ein Bild der Welt zu entwerfen, das ung ausdentet, was wir als den wahren Sinn bes Daſeins zu ehren, was wir zu thun, was zu hoffen haben. Jene jtrenge Unbefangenbeit der Forſchung aber, die ohne alle Nüdkficht auf diefe Fragen zu dem Aufbau des Wiſſens mitwirkt, ift nur eine weife Enthaltfamfeit, die eine fpäte aber volle Be⸗ antwortung derjelben von dem vereinigten Ergebniffe der Un- terfuchungen erwartet und diefe Der verfrühten und einfeitigen Aufklärung vorzieht, mit welcher untergeorbniete und zufällige Standpunkte unfer Verlangen unzureichend befchwichtigen. Den unrubigen Fragen daher, wie fie unzufammenhängend die Be- drängniß des Lebens erzeugt, mag die Wiffenfchaft eine augen- blickliche Antwort vorenthalten; fie mag auf den Fortſchritt der Forſchung verweilen, der manche Schwierigkeit in Nichts

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auflöfen wird, ohne bie neuen Verwirrungen zu verſchulden, in welche die vereinzelten Beantwortungen zubringlicher Zwei- fel uns ftetS zu verwideln pflegen. Aber das Ganze ber Wahrheit pürfen wir nicht als eine abgefchloffene Glorie für ſich betrachten, von der keine nothwendige Beziehung mehr zu den Bewegungen des Gemüthes hinüberliefe, aus denen boch jtet8 ber erjte Antrieb zu ihrer Entdedung hervorging. So oft vielmehr eine Umwälzung der Wiſſenſchaft alte Auffaſſungs⸗ weifen verbrängt hat, wird die neue Geftaltung ber Anfichten fich durch die bleibende oder wachjende Befriedigung rechtfer- tigen müſſen, die fie den unabweisbaren Anforderungen unfe- res Gemüthes zu gewähren vermag.

Ihre eigenen Zwecke müffen jeboch die Wiffenfchaft nicht minder bejtimmen, eine folche Verftändigung zu fuchen. Denn fie felbjt, welchen andern Ort des Daſeins hätte fie, als die Meberzeugung derer, die von ihrer Wahrheit durchdrungen find? Aber fie wird nie dieſe Veberzeugung bewirken, wenn fie vergißt, daß alle Bereiche ihrer Forſchung, alle Gebiete ber geiftigen und natürlichen Welt, vor jedem Anfange einer geord⸗ neten Unterfuhung längft von unfern Hoffnungen Ahnun⸗ gen und Wünfchen überzogen und in Befig genommen find. Ueberall zu jpät kommend, findet fie nirgends eine völlig un- befangene Empfänglichleit; fie findet überall vielmehr bereits befejtigt jene Weltanficht des Gemüthes vor, die mit dem gan- zen Gewicht, welches fie ihrem Urfprunge aus der lebendigſten Sehnfucht des Geiftes verdankt, fich hemmend an den Gang ihrer Beweife hängen wird. Und io eine widerwillige Ueber⸗ zeugung im Einzelnen dennoch erzwungen wird, da wird fie ebenfo leicht wieder im Ganzen durch die Erinnerung vereitelt, daß ja die Macht jener erften Grundfäge, durch deren Folgen die Wifjenfchaft uns bezwingen will, zulekt auch nur auf einem unmittelbaren Glauben an ihre Wahrheit beruft. Mit demfelben Glauben meint man viel richtiger fogleich jenes Weltbild felbit feitbalten zu müffen, deſſen Zufammenklang mit

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der Stimme unferer Wünfche feine Wahrheit zu befräftigen ſcheint. Und fo läßt man das Ganze der Wilfenfchaft als ein Irrſal dahingeſtellt fein, in welches die Erkenntniß, abgelöſt von ihrem Zufammenbange mit vem ganzen lebendigen Geifte, auf nicht weiter angebbare Weife fich verwickelt babe.

Man kann im Glauben an bie Welt des Gemüthes nicht ſchwärmen, ohne bei jedem Schritte des wirklichen Lebens die Bortheile der Wiſſenſchaft zu benugen und ihre Wahrheit jtill- fchweigend dadurch anzuerkennen; man kann ebenſo wenig der Wiffenichaft leben, ohne Luft und Laft bes Daſeins zu em- pfinden und fich von einer Weltordnung anderer Art überall umfpannt zu fühlen, über welche jene kaum Tärgliche Erläu- terungen gibt. Was liegt näher als die Ausflucht, fih an beide Welten zu vertbeilen, beiden angehören zu wollen, obne fie doch zu vereinigen? in der Wiſſenſchaft ven Grundſätzen des Erfennens bi8 in ihre äußerſten Ergebniffe zu folgen und im Leben fich von den bergebrachten Gewöhnungen des Glau- bens und Handelns nach ganz anderen Richtungen treiben zu laſſen?

Daß dieſe Zwieſpältigkeit der Ueberzeugung häufig die einzige Löſung iſt, die man findet, iſt nicht befremdlich; trau⸗ riger, wenn ſie als die wahre Faſſung unſerer Stellung zur Welt empfohlen würde. Die Unvollkommenheit menſchlichen Wiſſens kann und wohl am Ende unſerer Bemühungen zu dem Gejtändniffe nöthigen, daß bie Ergebniffe des Erkennens und des Glaubens fich zu Teinem lückenloſen Weltbaue ver- einigen; aber nie können wir theilnahmlos zufehen, wie das Erfennen durch feinen Widerfpruch die Grundlagen des Slau- bens unterhöhlt, oder dieſer kühl im Ganzen das ablehnt, was die Wiſſenſchaft eifrig im Einzelnen geftaltet hat. Im⸗ mer von neuem müfjen wir vielmehr ven ausprüdlichen Ver- fuch wiederholen, beiden ihre Rechte zu wahren und zu zeigen, wie wenig unauflöslich der Widerfpruch ift, tn welchen ſie unentwirrbar verwickelt erſcheinen.

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Der Vebermuth der philoſophiſchen Forſchung und die raftlofen Tortfchritte der Naturwiffenichaft Haben von verfchie- denen Seiten her jenes Weltbild zu zerjtören gefucht, in wel⸗ chem das menschliche Gemüth die Befriedigung feiner Sehn- jucht fand. Die Beunrubigungen jedoch, welche die Angriffe der Philofopbie erzeugten, bat unfere Zeit dur das wirk- jamfte Mittel überwunden, durch die völlige Theilnahmlofig- feit, mit der fie fih von den kaum mehr beachteten Anftren- gungen der Speculation abwendet. Sie hat fich nicht eben- jo leicht der weit zupdringlicheren Beredſamkeit der Natur- wiffenfchaften entziehen Tönnen, deren Behauptungen jeden Augenblid die Erfahrungen des alltäglichften Lebens bejtä- tigten. Dieſer übermächtige Einfluß, den die wahrhaft großartige Entwidlung der Naturkenntnig auf alle Beſtre⸗ bungen unferes Jahrhunderts äußert, ruft unfehlbar einen ebenſo anwachfenden Widerftand gegen die Beeinträchtigungen hervor, Die man von ihm für das Höchite der menfchlichen Bildung erwartet. Und fo fteben wieder die alten Gegenfäte zum Kampfe auf: bier die Erfenntniß der Sinnenwelt mit ihrem täglich ſich mehrenden Reichthum des beſtimmteſten Wiſſens und der Ueberredungskraft anſchaulicher Thatſachen, dort die Ahnungen des Ueberſinnlichen, kaum ihres eignen Inhaltes recht ſicher, jeder Beweisführung ſchwer zugänglich, aber Durch ein ſtets wiederkehrendes Bewußtſein ihrer Dennoch nothwendigen Wahrheit noch unzugänglicher für jede Wider⸗ legung. Daß der Streit zwifchen dieſen beiden eine unnöthige Dual ift, die wir durch zu frühes Abbrechen der Unterſuchung uns ſelbſt zufügen, dies ift die Meberzeugung, Die wir be- feftigen möchten.

Gewiß mit Unrecht wendet fich die Naturwiſſenſchaft ganz von den äfthetifchen und religiöfen Gedankenkreiſen ab, bie man ihr als eine höhere Auffaffung der Dinge überzuorbnnen liebt; fie fürchtet ohne Grund, ihre ſcharfbegrenzten Begriffe und bie fefte Fügung ihrer Methoden durch die Aufnahme von

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Elementen zerrüttet zu ſehen, die aller Berechnung unfähig, ihre eigne Unbeſtimmtheit und Nebelhaftigkeit Allem mitthei⸗ len zu müſſen ſcheinen, was mit ihnen in Berührung kommt; ſie vergißt endlich, daß ihre eignen Grundlagen, unſere Vor⸗ ſtellungen von Kräften und Naturgeſetzen, noch nicht die Schluß⸗ gewebe der Fäden find, die ſich in der Wirklichkeit verſchlin⸗ gen. Auch fie laufen vielmehr für einen jchärferen Bid in daſſelbe Gebiet des Ueberſinnlichen zurüd, deffen Grenzen man umgeben möchte.

Nicht minder unbegründet aber ift, was anderſeits der Anerkennung der mecbaniihen Naturauffaffung jo hemmend entgegenfteht: die ängftliche Furcht, vor ihren Folgerungen alle Lebendigkeit, Freiheit und Poefie aus der Welt verichwinden zu ſehen. Wie oft ift diefe Furcht ſchon geäußert worden, und wie oft hat der unaufhaltſame Fortjchritt der Entdeckun⸗ gen neue Duellen der Poeſie eröffnet für die alten, die er verjchütten mußtel Jenes Gefühl der Heimatlichkeit, mit dem ein abgefchlofjenes Volk, unfundig des unermeßlichen menjch- lichen Lebens auch außerhalb feiner Grenzen, fich ſelbſt als Die ganze Menfchheit, und jeden Hügel, jede Quelle feines Landes in der pflegenden Obhut einer befonderen Gottheit fühlen durfte: dieje Einigkeit des Göttlichen und Menfchlichen ift überall zu Grunde gegangen in dem Fortichritte der geographiichen Kennt» niß, den der wachſende Völkerverkehr berbeiführte. Aber dieſe erweiterte Ausficht verdarb nicht, fondern veränderte nur und erhöhte den poetifchen Neiz der Welt. Die Entdedungen ver Altronomie zeritörten den Begriff des Himmels, wie den ber Erde; fie Löften jenen, den anfchaulichen Wohnfik der Götter, in die Unermeßlichfeit eines Quftkreifes auf, in welchen bie Phantafie keine Heimat des Weberfinnlichen mehr zu finden wußte; fie wandelten die Erbe, die einzige Stätte des Lebens und der Geſchichte, in einen ber Heinften Theile des grenzen» Iojen Weltall um. Und Schritt für Schritt nahm diefe Zer- ftörung altgewohnter Anfchauungen ihren weiteren Verlauf.

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Aus einem ruhenden Mittelpunfte warb bie Erbe ein verloren wanbelnver Blanet, um eine Sonne freifend, die vorher nur zu ihrem Schmud und Dienft vorhanden fehien; felbft bie Harmonie der Sphären fehwieg, und Alle haben wir ung barein gefunden, daß ein ftummer, allgemeinen Gefegen ge- horchender Umſchwung unzähliger Dimmelstörper die um⸗ faffende Welt ift, in der wir mit allen unferen Hoffnungen, Wünſchen und Beitrebungen wohnen.

Daß diefe Umbildung der Tosmograpbifchen Anſchauun⸗ gen auf Das Bedeutſamſte im Laufe der Gefchichte die Phan⸗ tafie der Völker umgeftimmt bat, wer möchte bies leugnen? Anders lebt es fich gewiß auf der Scheibe der Erbe, wenn die fihtbaren Gipfel des Olymp und in erreichbarer Ferne bie Zugänge der Unterwelt alle höchſten und tiefiten Geheimniſſe des Weltbaues in die vertrauten Grenzen der anjchanlichen Heimat einjchliegen ; anders auf der vollenden Kugel, die we⸗ der im Innern noch um fich in der öden Unermeßlichkeit bes Zuftfreifes Platz für jenes Verborgene zu haben feheint, durch defien Ahnung allein das menfchliche Leben zur Entfaltung feiner höchſten Blüthen befruchtet wird. An dem Faden einer heiligen Weberlieferung mochte die Vorzeit das Gewirr ber Völker, das den bunten Markt des Lebens füllt, in die ftilfe Heimlichfeit des Paradiefed zurücleiten, in deſſen Schatten die Mannigfaltigleit der menfchlichen Gefchlechter das verbin- dende Bewußtjein eines gemeinfamen Urfprunges wieberfand; die Entdedung neuer Erdtheile erfchütterte auch dieſen Glau⸗ ben; andere Völker traten in ben Gefichtsfreid ein, unkundig ber alten Sagen, und bie gemeinfame Heimat der Menjchheit wurde weit über die äußerſten Grenzen gefchichtlicher Erinne- rung hinausgerüdt. Endlich that die ftarre Rinde des Pla- neten ſelbſt, den das menschliche Gefchlecht fett dem Tage fei- ner Entjtehung zu befigen wähnte, ihren verjchloffenen Mund auf und erzählte von unmehbaren Zeiträumen des Dafeing, in denen dies menjchlihe Leben mit feinem Trotz und feiner

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Berzagtheit noch nicht war und bie fchöpferifche Natur, auch fo fich genügend, zahlreiche Gattungen des Lebenbigen wech ſelnd entftehen und vergeben Tief.

Sp find alle die freundlichen Begrenzungen zerfallen, durch Die unfer Dajein in eine fchöne Sicherheit eingefriedigt lag; unermeßlich, frei und fühl tft die Ausficht um ung her geworden. Aber alle diefe Erweiterungen unferer Kenntniffe haben weder die Poefie aus der Welt vertrieben, noch unfere religiöfen Weberzeugungen anders als förderlich berührt; fie baben ung genöthigt, was in anfchaulicher Nähe uns verloren war, mit größerer geiftiger Anſtrengung in einer überfinnlichen Welt wiederzufinden. Die Befriedigung, die unfer Gemüth in Lieblingsanfichten fand, ift ftetS, wenn dieſe dem Fort- fchritte der Wiffenfchaft geopfert werden mußten, in ande ren neuen Formen wieder möglich geworden. Wie dem Ein- zelnen im Verlaufe feiner Lebensalter, jo verwandeln fich auch unvermeiblih in ber Gefchichte des menjchlichen Gefchlechtes die beſtimmten Umriffe des Bildes, in dem es ben Inhalt feiner böchften und unverlierbaren Ahnungen ausprägt. Nutz⸗ los ift jede Anftrengung, der Haren Erfenntniß der Wiffen- fchaft zu widerftreben und ein Bild fefthalten zu wollen, von dem uns doch das heimliche Bewußtſein verfolgt, Daß e8 ein gebrechlicher Traum fer; gleich übel beratben aber ift die Ver- zweiflung, bie das aufgibt, was bei allem Wechjel feiner For⸗ men doch der unerfchütterliche Zielpunkt menfchlicher Bildung fein muß. Geſtehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auf- faffung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange fich des rechten We- ges wohl bewußt ift, und daß jede beachtete Einrede der Wiffen- Schaft nur eine ber täufchenden Beleuchtungen zerftreut, welche die mechfelnden Standpunkte unjerer veränderlichen Erfahrung auf das beftändig gleiche Ziel unferer Sehnjucht werfen.

Jene Entgötterung des gefammten Weltbaues, welche Die tosmographifchen Entdeckungen der Vorzeit unwiderruflich voll-

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zogen haben, den Umſturz ver Mythologie, dürfen wir als verichmerzt anfehen, und der legten Klage, die in Schillers Göttern Griechenlands ſich ergoß, wird nie ein Verſuch fol gen, im Widerftreit mit den Lehren ver Wiſſenſchaft den Glau⸗ ben an biefes Vergangene wiederberzuftellen. Große Umwäl⸗ zungen ber veligiöfen Anfichten haben über dieſen PVerluft binausgeführt und längft den überreichen Erſatz dargeboten. Aber wie die wachjende Fernſicht ver Aftronomie den großen Schauplat des menſchlichen Lebens aus feiner unmittelbaren Verſchmelzung mit dem Göttlichen löſte, jo beginnt das wei⸗ tere Bordringen der mechanischen Wiſſenſchaft auch bie Kleinere Welt, den Milrolosmus des menſchlichen Weſens, mit gleicher Zerjegung zu bedrohen. Ich denke nur flüchtig hierbei an die überhandnehmende Verbreitung materialiftifcher Auffaffungen, die alles geiftige Leben auf das blinde Wirken eines Törperliden Mechanismus zurüdführen möchten. So breit und zuverfichtlich der Strom diefer Anfichten fließt, bat er feine Quelle doch keineswegs in unabweisbaren Annahmen, die mit dem Geifte der mechanischen Naturforfchung unzer- trennlich zufammenhingen. Aber auch innerhalb der Grenzen, in denen fie fich mit befferem echte bewegt, ift die zerſetzende und zerftörende Thätigkeit Diefer Forſchung fichtbar genug und beginnt alle jene durchdringende Einheit des Körpers und ber Seele zu beftreiten, auf der jeve Schönheit und Lebendigkeit der Geftalten, jeve Bedeutſamkeit und jeder Werth ihres Wech⸗ ſelverkehrs mit der äußeren Welt zu beruhen ſchien. Gegen die Wahrheit der finnlichen Erfenntniß, gegen die freie Will- fürlichfeit der Bewegungen, gegen bie ſchöpferiſche, aus fich ſelbſt quellende Entwicklung des körperlichen Dafeins überhaupt find die Angriffe der phyſiologiſchen Wiſſenſchaft gerichtet ge- weſen und haben fo alle jene Züge in Trage geftellt, in de— nen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des leben⸗ digen Dafeind zu befigen glaubt. Befremblich kann daher die Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die Weltanficht des Ge⸗

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müthes als höhere Auffafjung der Dinge den überzeugenben Daritellungen der mechanischen Naturbetrachtung bier zu wis berftreben fucht; um fo nöthiger dagegen der Verfuch, bie Harmlofigkeit diefer Anficht nachzuweifen, die, wo fie ung zwingt, Anfichten zu opfern, mit denen wir einen Theil un⸗ jere8 Selbit hinzugeben glauben, doch durch das, was fie uns zurüdgibt, die verlorene Befriedigung wieder möglich macht.

Und je mehr ich felbft bemüht gewefen bin, ven Grund» fügen ber mechanischen Naturbetracftung Eingang in das Ges biet des organifchen Lebens zu bereiten, das fie zaghafter zu betreten ſchien, als das Wefen der Sache e8 gebot: um fo mehr fühle ich den Antrieb, nun auch jene andere Seite ber- vorzukehren, die während aller jener Beftrebungen mir gleich jehr am Herzen lag. Ich darf kaum hoffen, ein ſehr günftt- ge8 Vorurtheil für den Erfolg diefer Bemühung anzutreffen; denn was jene früheren Darjtellungen an Zuftimmung etwa gefunden haben mögen, das dürften fie am meiften der Leich- tigfeit verdanken, mit ber jede vermittelnde Anficht ſich dahin umdeuten läßt, daß fie Doch wieder einer der einjeitigen äufßer- ften Meinungen günftig erjcheint, welche fie vermeiden wollte, Gleichwohl Liegt in diefer Vermittlung allein der wahre Le- benspunft der Wiffenfchaft; nicht darin freilich, daR wir bald der einen bald der andern Anficht zerftüdelte Zugeſtändniſſe machen, fondern darin, bag wir nachweifen, wie aus nahm s⸗ los univerfell die Ausdehnung, und zugleich wie völlig untergeorpnet die Bedeutung der Sendung it, welde der Mechanismus indem Baue der Welt zu erfüllen bat.

Es ift nicht der umfaflende Kosmos des Weltgangzen, deſſen Beichreibung wir nach dem Mufter, das unferem Volke gegeben ift, auch nur in dem beſchränkteren Sinne diefer aus- gejprochenen Aufgabe zu wiederholen wagen möchten. Je mehr die Züge jenes großen Weltbildes in das allgemeine Bewußt⸗ jein dringen, deſto lebhafter werden fie uns auf uns felbft zu-

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rücklenken und die Fragen von neuem anregen, welche Be— deutung nun der Menſch und das menſchliche Leben mit fei- nen beftändigen Erjcheinungen und dem veränderlichen Laufe feiner Gejchichte in dem großen Ganzen der Natur bat, beren beftändigem Einfluffe wir und nach den Ergebniffen der neue⸗ ren Wiſſenſchaft mehr als je unterworfen fühlen. Indem wir hierüber die Reflexionen zu ſammeln fuchen, die nicht allein innerhalb der Grenzen der Schule, fondern überall im Leben fih dem nachdenklichen Gemüthe aufbrängen, wiederholen wir unter ben veränderten Anfcbauungen, welche Die Gegenwart gewonnen, das Unternehmen, das in Herders Ipeen zur Geſchichte der Menſchheit feinen glänzenden Beginn gefun- den bat.

Inhalt.

FSıfles Bud. Der Leib.

Erftes Kapitel. Der Streit der Naturanfichten.

Die Motbologte und bie gemeine Wirklichkeit. Perfünlihde Naturgeiſter und bag Reich der Sachen. Die MWeltfeele und bie befeelenden Triebe. Die Kräfte und ihre allgemeinen Geſetze a ne A

weite Kapitel. Die mechaniſche Natur.

Allgemeinheit ber Geſetze. Beitimmung bed Wirkfamen. Die Atome und der Sinn ihrer Annahme. Die phufifchen Kräfte Geſetze ber Wirkun⸗ gen und ihrer ren ee er je bie a ber Naturerfcheinungen a u

Drittes Kapitel. Der Grund bes Lebens.

Die chemiſche Vergänglichleit bed Körper. Wechſel feiner Beſtandtheile. Fortpflanzung und Erhaltung feiner Kraft. Die Harmonie feiner Wirkun⸗ gen. Die wirkfame Idee. Zwedmäßige Re ne Die Maſchinen der menſchlichen Kunft . F i ee

Bierted Kapitel, Der Mechanismus des Lebens.

Beftändige und periodiſche Verrichtungen. Fortſchreitende Entwicklung. Geſetzloſe Störungen. Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre Folgen für das Leben. Geſtaltbildung aus formloſem Keime. Stoff⸗ wechſel; feine Bedeutung, feine Form und feine Organe u

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Bünftes Kapitel. Der Bau des thierifchen Körpers.

Das Knochengerüſt. Die Muskeln unb bie motorifhen Nerven, Das Gefaͤßſyſtem und ber Kreislauf des Blutes. une und N Ausſcheidungen rn ———

Sechſtes Kapitel. Die Erhaltung des Lebens.

Phyfiſche, organiſche, pſychiſche Ausgleichung der Störungen. Beiſpiele ber Her⸗ ſtellung des Gleichgewichtes. Das ſympathiſche Nervenſyſtem. ——— Unruhe alles Organiſchen. Allgemeines Bild des Lebens

Bweifes Bud). Die Seele,

Erftes Kapitel. Das Dafein der Seele.

Die Gründe für die Annahme ber Seele. Freiheit des Willens. Unvergleich⸗ barkeit der phyfiſchen und ber pfochifhen Vorgänge. Nothwendigkeit zweier verfchiedenen Erflärungsgründe Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben Weſen. Die Einheit des Bewußtfeind. Was fie nicht iſt, und worin fie wirklich befteht. Unmöglichkeit, fie aus der Zufammenfegung vieler Wirkungen zu erflären. Das beziehenbe Wiffen im Gegenfab zu ——— bildung. Be Ratur ber Seele .

Sweited Kapitel. Natur und Vermögen ber Seele.

Die Mehrheit der Seelenvermögen. Mängel ihrer Annahme. Ihre Verein⸗ barkeit mit der Einheit der Seele. Unmittelbare und erworbene Vermögen, Unmöglichkeit eine einzigen Urvermögend. Borftellen, Zühlen und Wollen. Beftändige Thätigkeit des ganzen Weſens der Seele. Niebere unb höhere Rüdwirktungen. Beränberlichleit der Seele und ihre Grenzen. Das bekannte und da3 unbefannte Weſen ber Seele . a a

Drittes Kapitel, Bon dem Verlaufe der Borftellungen.

Das Beharren der Borftelungen unb ihr Vergefienwerden. Ihr gegenfeitiger _

Drud und bie Enge bed Bewußtfeind. Die verſchiedene Stärke ber Empfin⸗ dungen. Klarheitögrabe ber Erinnerungsbilder. Der Gegenfay ber Vor⸗ ftellungen. Ber Innere Sin. Leitung bed —— die Geſetze der Aſſociation und Reproduction

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Biertes Kapitel. Die Formen des beziehenden Wiflens.

Die Berhältniffe zwifchen ben einzelnen Borftellungen als Gegenflände neuer Bors ſtellungen. Wechſel des Wiſſens und Wiffen vom Wechſel. Angeborene Ideen. Die räumlich zeitliche Weltauffaſſung ber Sinnlichkeit. Die den⸗ kende Weltauffaſſung des Verſtandes. Der Begriff, das N ber ve Das zufammenfaflende Beftreben ber Bernunft

Zünftes Kapitel. Bon den Gefühlen, dem Selbſtbewußtſein und dem Willen.

Entfichung und Formen der Gefühle Ihr Zuſammenhang mit ber Erfenntniß. Die Werthbeftimmungen ber Vernunft. Selbftbewußtfein; empirifches und reine IH. Triebe unb er De Wille und feine en Schlußbemerkung. an ca

Drittes Bud. Das Leben.

Erſtes Kapitel. Der Zuſammenhang zwiſchen Leib und Seele.

Verſchledene Stufen der Weltauffaſſung; die wahren und die abgeleiteten Stand⸗ punkie. Das allgemeine Band zwiſchen Geiſt und Körper. Die Möglich⸗ keit und bie Unerflärlichkeit ber Wechſelwirkungen zwiſchen Gleichartigem und Ungleichartigen. Die Entſtehung ber Empfindungen. Die der Bewegungen. Der geſtaltbildende Einfluß der Seele

Zweites Kapitel. Von dem Sitze der Seele.

Bebentung ber Frage. Beſchrankter Wirkungskreis ber Seele. Gehirnbau. Art der Eniftehung von Bewegungen. Bebingungen der raͤumlichen An⸗ ſchauung. Bedeutung ber unverzweigten Nervenfafern. Allgegenwart ber Seele im Körper le a a ee ee ie Fe

Drittes Kapitel. Formen der Wechfelwirkung zwifchen Leib und Seele.

Organ ber Seele. Organ ber Raumanſchauung. Korperliche Begrünbung ber Sefüple. Hoͤhere Intelligenz, fittlicheß und äſthetiſches Urtheil. Organ des Gedaͤchtniſſes. Schlaf und Bewußtlofigkeit. Einfluß körperlicher Zuftänbe auf den Borfiellungslauf. Eentralorgan der Bewegung. Reflerbewegungen. Angelidte Rücwirkungsformen. Theilbarleit der Seel. Phrenologie Hemmung des Geiſtes durch die Verbindung mit bem Körper

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Seite Viertes Kapitel. Das Leben der Materie.

Die beſtãndige Tauſchung der Sinnlichkeit. Unmöglichkeit des Abbildes ber Dinge in unferer Wahrnehmung. Eigner und höherer Werth der Sinnlichkeit. Die innere Regſamkeit der Dinge. Die Materie Erſcheinung eines Webers finnlihen. Ueber bie Möglichkeit außgebehnter Weſen. Die allgemeine Be feelung ber Welt. Der Gegenjag zwiſchen Körper und Seele nicht nommen. Berechtigung ber Vielheit gegen bie Einheit . . 386

Fünftes Kapitel. Bon den erften und ben leuten Dingen bes Seelenlebens. Beſchränktheit der Erkenntniß. Fragen über bie Urgeſchichte. Unſelbſtändigkeit alles Mechanismus. Die Naturnothwendigkeit und bie unendliche Subftanz. Möglichkeit des Wirkens überhaupt. Urfprung beftimmter Geſetze des Wirkens. Unfterblichleit. Entftehung der Seelen . . . 416

2270 BP BL

Erfes ud.

Der Reid,

Lotze I. 4. Aufl.

x EA or THE

Erſtes Rapitel. Der Streit der Naturanfidten.

Die Mythologie und bie gemeine Wirklichkeit. Perfönliche Naturgeifter und das Reid der Sachen. Die Weltfeele und bie befeelenden Triebe. Die Kräfte und ihre allgemeinen Geſetze.

Nach der früheſten Vorzeit unſeres Geſchlechtes wenden wir zuweilen, ein verlornes Gut beflagend, unfere Gedanken zurüd, Damals, in der ſchönen Jugend der Menfchheit, babe gegenfeitiges Berfiehen die Natur dem Geifte genähert und freiwillig habe fie bor ihm das verwandte Leben ihres Innern entfaltet, das fie jegt dem Angriffe unferer Unterfuchung verberge. Um die Außen- feite der Erſcheinungen irrend treffe der ermattete Blick ber Gegenwart nur auf den Umtrieb felbftlofer Stoffe, auf Das blinde Ringen bewußtlofer Kräfte, auf die freudlofe Nothwendigkeit unvermeidlicher Vorherbeftimmung; unmittelbar in die Tiefen dringend babe das hellere Auge des jugenblihen Menſchen⸗ geſchlechts Nichts von dieſen Schreden geſehen: mitwifjend habe damals ber Geift die ewigen Ideen erkannt, die ihrer jelbft be wußt das lebendige Weſen der Dinge find, mitgefüihlt bie ver— ftändlichen Negungen der Sehnfucht, welche die Beweggründe ihres Wirkens bilden; nicht als thatfächliche Gejeglichfeit von unbegreif- licher Herkunft fer der Zuſammenhang der Wirklichkeit ihm gegen⸗ übergeftanden, denn in fi jelbft habe er die ſchöpferiſche Abficht

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nacherlebt, aus deren feliger Einheit heraus die Natur, unbeengt durch ihr vorangehende Schranken, die Fülle ihrer Erſcheinungen hewortreibt.

Ich laſſe dahingeſtellt, ob jene Anklage der Gegenwart ge⸗ recht iſt; aber ich will zeigen, daß die Vorſtellung von einer ſo reſtloſen Beſeelung der Natur, wie dieſe leidenſchaftlichen Aus— drücke fie preiſen, zu feiner Zeit Die menſchliche Weltanſicht aus- ſchließlich hat beherrſchen können. Alle jene Regſamkeit freilich, die unſer eigenes Gemüth füllt, den vielgeftaltigen Lauf der Ge- banken, das heimliche Spiel der Gefühle, die lebendige Kraft des Strebens, in deren gefeglofer Freiheit und das jhönfte Gut unfers Dafeind gegeben ſcheint: Das alles glaubt die Kindheit des Ein- zelnen und glaubte die Jugend der, Erfenntnig auch unter den fremdartigften Formen der Außenwelt wiederzuerfennen. Doch nur dem Finde mag der geringe Umfang feiner Erfahrungen und der geringe Ernft ihrer Verknüpfung den Genuß diefer Täuſchung friften. Die Jugend des menfchlihen Gefchlechtes Dagegen umfaßt das Altern vieler Einzelnen; ſchon früh mußte fie deshalb Die volle Mannigfaltigfeit der Erfahrungen, die ein ganzes menfch- liches Xeben füllen, und mit ihr ein binlängliches Maß verftändiger Einficht befiten, um jenen Gedanken einer ſchrankenlos befeelten Natur nur wie einen Feſttagstraum zu hegen, der am Werktag unverftändlich wird.

Denn nur ein tbatlos beſchauliches Träumen könnte fich ungeftört an der Borftellung einer Lebendigleit erfreuen, die mit freier willfürliher Regung alle Gebiete der Natur durchdränge. Das thätige Leben Dagegen muß für Die Befriedigung feiner Be- dürfniſſe und für alle Zwecke feines Handelns auf Beftänbigfeit und Berechenbarfeit. der Ereignifie und auf voraus erkennbare Nothwendigkeit ihres Zufammenhangs bauen dürfen. Die aU- täglichften Eriheinungen veihen bin, und von dem Borhanden- fein dieſer willenlofen Zuverläffigkeit in den Dingen zu über- zeugen, und fie mußten früh fchon das Gemüth gewöhnen, die Welt, in der die menſchliche Thätigfeit ſich bewegt, als ein Reich

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benugbarer Sachen zu behandeln, in welchem alle Wechſelwirkungen an die lebloſe Negelmäßigfeit allgemeiner Geſetze gebunden find,

Die gemöhnlichiten Vorkommniſſe des Lebens lehrten unver: meiblih Die Wirkungen der Schwere Tennen; der roheſte Verſuch zum Bau eines Obdachs erregte Borftellungen vom Gleichgewicht der Maſſen, von der Bertheilung des Drudes, von den Vor⸗ theilen des Hebel; Erfahrungen, die wir in der That ſchon bie mindeft gebilveten Völker zu dem mannigfachften Gebrauche an= wenden fehen. Pfeil und Bogen benugend mußte die frühefte Jagdkunſt auf die Schnellfraft der geipannten Saite rechnen; ja fie mußte ftillfchweigend auf die Regelmäßigfeit vertrauen, mit ber diefe Eigenihaft unter mechjelnden Bedingungen wähft und ab- nimmt, Selbft die noch einfachere Sertigfeit, Durch den geſchleu— derten Stein das Wild zur erlegen, wäre nie geübt worden, hätte nit wie eine unmittelbare Gewißheit gleichſam in Fleiſch und Blut des Armes die Vorausſicht gelebt, Richtung und Geſchwindig⸗ feit de8 geworfenen Körperd werde durch die fühlbaren Unter- ihiede in der Art und Größe unferer Anftrengung vollftändig beftimmt fein.

Keine Mythologie bat dieſe Ericheinungen und das in ihnen fihtbare Band einer allgemeingefeglihen Verknüpfung abfichtlich in das Ganze ihres Weltbildes aufgenommen. Und doch lagen alle diefe Dinge, Schwere Gleichgewicht der Maflen Stoß und Mittbeilung der Bewegung, täglih vor .Aller Augen, doch find fie e8, duch deren abfichtliche Benugung der Menſch um ſich her jenen künſtlichen Verlauf der Dinge, jene technijche und wöhnliche Natur begründet, auf die mit. dem Anwachſen der Bildung fein Leben bald ungleich mehr als auf die urfprüngliche wilde Kraft und Schönheit der Schöpfung bezogen iſt. Aber wie viel zu nahe dieſe Thatjachen auch Tiegen mochten, um unbemerft zu bleiben, dennoch befremdet uns nicht, daß die mythologiſche Phan- tafie fich der Gedanken gänzlich entjchlug, welche fte erregen mußten. Denn nicht nur den Neger ſehen wir abwechſelnd feinen Fetiſch prügeln und anbeten; auch unfere Bildung wiederholt zuweilen,

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obwohl mit mehr Geihmad, dieſe Wunderlichkeit. Nur allzu- leicht wohnen in derſelben menfchlichen Seele die verſchiedenſten Gedanken friedlich neben einander, ohne daß ihr Widerſpruch bis zur Nothmendigfeit einer Ausgleihung empfunden wird. Mit weitfihtigem Blick konnte daher Die Dichtende Phantafie über das hinmwegfehen, was ihr vor den Füßen lag, und das blendenbe Bild einer lebendig befeelten Natur entwerfen, währen das han⸗ delnde Leben unbefangen fortfuhr, für feine Abfichten die Leblofig- feit der gemeinen Natur vorauszufegen und auszubeuten. Mit ber Blindheit deſſen, der nicht fehen will, zog fidh Die mythologiſche Naturauffaffung frühzeitig von allen den Erſcheinungen zurid, bie wir entmweber ſelbſt Fünftlich erzeugen, oder deren Berhalten zu augenfcheinlich von Maßbeftimmungen äußerer Anläffe geregelt wird. Site beſchränkte ihre poetifche Deutung auf Vorgänge, die entweder in wandellofer Regelmäßigfeit, wie Die Bewegung ber Geſtirne, die Jahreszeiten und ber Kreislauf des Pflanzenlebeng, oder in unberechenbarer Unordnung, wie die launenhaften Ver— änderungen des Luftkreifes, allen umgeftaltenden Einflüffen unferer Willkür entzogen find. In biefen Auszug einer auserwählten Natur vertiefte fi Die Phantafie jener Gefchlechter und in feiner Berherrlihung wurde fie durch feine Erinnerung an bie gemeine Wirflichfeit geftört, Die Doch täglih vor ihren Augen als ein maſſenhaftes Zeugniß für Die blinde Nothwendigkeit im Zufanmten- hange der Dinge balag.

Es ift anziehend, im Einzelnen hier vorübergehend zu be- merfen, was wir im Allgemeinen erwarten Tonnten: auch biefe Scheidung einer vornehmen und einer gemeinen Natur war völlig undurchführbar; aud auf dem engeren Gebiete, welches fie fich gemählt hatte, gelang e8 der Mythologie keineswegs, die äußere finnlihe Wirklichkeit gänzlich zu vergeiftigen; auch bier vermochte fie den dunflen und fpröden Kern der Sachlichkeit und des blinb- gefeglihen Zufammenhanges, ven fie floh, nur zurüdzudrängen und zu verhüllen, ohne ihn auflöfen oder auch nur entbehren zu Ünnen.

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Denn zuerſt: in anderer Geſtalt als in der des menſch⸗ lichen und des verwandten thieriſchen Lebens hat geiſtige Reg⸗ ſamkeit nicht jene überredende Anſchaulichkeit für uns, Die ben vollen unbefangenen Glauben erzeugt. Mochten die Germanen die keimende Saatfpige, indem fie den Boden burchbohrt, als ein lebendiges Wefen feiern, jo hatte Doch der mythiſche Ausdruck dieſer zierliden Naturbeobachtung kaum einen andern Sinn als den eine® Bildes, das im Stillen doc wieder von dem Bezeich⸗ neten unterſchieden wird. Auch dem Griechen konnte Demeter nicht das fprofjende Grün, nicht die Seele der Feldfrucht ſelbſt fein; fie blieb die menſchlich geftaltete Göttin, die beſchützend und fördernd fi) um das Gebeihen eines Keimes bemüht, deſſen Ent- wicklungskraft zulegt doc nur in dem Dunkel feines eignen Innern log. Jeder Fortichritt des Feldbaus mußte die Kenntniß der Bedingungen erweitern, die diefe Entwidlung begünftigen, und ber gläubigen Verehrung blieb Nichts der Göttin zu danken übrig, als die erfte unbegreiflihe Schöpfung bes Keimes, während ben einmal entitandenen die Wechſelfälle des Naturlaufs entfalteten. Mag die dichteriſche Sprache den Flußgott jelbft dahinfließen Taffen, immer zieht ſich doch fühlber die Phantafie auf die Borftellung zurüd, ihm in menfchlicher Geftalt als die beherrichende Perfön- lichkeit zu faſſen, der das flitffige Element zwar als nächſtes Eigenthum, aber doc ftet$ als ein Fremdes und Anderes gegen- iiber bleibt. Nur ein Werkzeug in der Hand Juppiters find bie Blige; die Winde werden eingefangen und entlaffen von ihren göttlihen Gebietern: überall tritt die elementare Welt in den alten Gegenjat zu dem Reiche der Geifter zurück, ein geftaltbarer Stoff für ihre Herrſchaft, aber nie felbft zu eignem geiftigen Leben erwachend. &8 mag eine poetiihe Naturauffaffung gewefen fen, filr die nah den Worten bes Dichter8 aus dem Scilfe die Klage ber Syring tönte, oder die Tochter des Tantalus in dem Steine fchwieg; aber dieſe und wie viele ähnliche Sagen überzeugen un doch nur, daß der Mythologie die einvringende und eigenthüm⸗ liche Beſeelung der Natur mißlang. Denn nur dadurch wußte

fie ja Etein und Schilf zu beieelen, daß fie beide als verwandel⸗ tes menſchlich es Leben fakte, und es nun der Anftrengung ber Phontafie überließ, die Erinnerung an dies veritänblidhe vor⸗ malige Dafein am die ſprẽde limverflänblichleit der verwanbelten Form zu Inüpfen.

Die trũgeriſche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt zur Blüthe zu veredeln ſcheint, vergleicht eim reizendes Gedicht Rüderts mit der gediegenen Lebenötraft des Frühlings, die unter allem Blühen niemals den vollen bunflen grünen Trieb ver- Veuguet. Dies herbſtliche Beginnen war das zweite, worin bie Wythologie fheiterte;, wie fie den Stoff micht zu vergeifligen vermocht Batte, jo mißlang ihr aud, bie Greigniffe in lauter blühende Zreiheit zu verflären: unũberwindlich trat ber dunkle Zrieb einer urfprünglidgen, unausvenfbaren Rothwendigfeit wieder zu Zoge. Es half ihr nicht, daß fie feinen Aublid floh und allein dem Slanze der Götterwelt und ihrer Herrſchaft iiber das Reich der Stoffe fih zumandte. Denn aud bier mußte fie, um nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreis ewiger und allgemeiner Geſetze befennen, unter deren Zuftimmung allein jeg= liher Wille Macht gewinnt über die Zuſtände der Dinge Im der Berehrung eined unergründlidien Schidfals, das auch die Götter binde, ſprach fie dieſen Gebanten in feiner Beziehung zu dem Gange der fittliden Welt aus; minder ausdrücklich aber Doch erfennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech⸗ felverfehr8 zwiſchen den göttlichen Weſen und den Elementen der Natur. Wo jet der jeelenlofe Feuerball fi) dreht, mochte da⸗ mals in ftiller Majeftät Helios den goldnen Wagen Ienten; aber das Rad diefes göttlihen Wagens vollendete feinen Umſchwung nicht nach anderen Gefegen, und nicht nach anderen übte und litt die Are Drud, als nad) welchen allegeit auf Erben ſich die Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are drehen werben. Nur der mühfeligen Anftrengung des eignen Handanlegens konnte die Poefie die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Bor- ftellung einer allgemeinen Ordnung der Dinge entbehren können,

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nach deren Gefeten allein der lebendige Wille die Welt der Stoffe bewegt. Während Kronion den Blig noch Durch die Anftrengung feiner Hände fchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen- brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifenbe zweite Bild der göttlihen Macht wiederholt doch nur verhüllter denſelben Hergang einer mittelbaren Wirkfamleit, den jenes erfte in anſchaulicher Ausführlichleit ausſpricht. Celbft die mofaifche Scöpfungsgeichichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar baftehen läßt, was der göttliche Wille befahl, ohne durch Schilde⸗ rung phyſiſcher Vermittlungen den Eindrud der Allmacht zu ſchwächen, auch fie hält Doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht für den genügenden Anfang der Echöpfung. Sie läßt Gott wenig- ftens das Wort ausiprechen, Die zartefte allerdings, aber Doc immer eine deutliche Vorbedingung, die hergeftellt fein zu müſſen ſchien, damit durch fie angeregt Die ewige Nothwendigkeit der Dinge das gebotene Werden vollbrächte.

So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie meit hinter dem zurüd, mas fie zu veriprechen ſchien; den Zwieſpalt ber Weltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum vervedt. Nicht die Welt der Sahen mußte fie zu befeelen: nur eine zweite Welt konnte fie zu ihr binzubichten, jene göttlichen Seelen, bie um den dunklen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be- wußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht, das fie genießen. Sie konnte ebenfowenig das unvordenkliche Recht der Sahen, die gejegliche Nothwendigfeit in dem Zu⸗ ſammenhange der Dinge, verflüchtigen; nur binzugebichtet Hat fie bie felige Willfür eines himmliſchen Lebens, deſſen Freiheit fi farbig von dieſem dunflen Grunde abhebt; aber doch nur in biefem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feften Boden für feinen Auftritt.

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Gue: aubere Riheraı der Getexier kirb Tee Ernemerung be6 miilungenen Berizhs zberizien Summe es veraui an, deu

Gessin dar bis zm tie remdartigen Armen bei Daeint bein verfolgt zu haben: ven ibzen zca Rh Wüter erü Dee Fboniafte anf einen bei vernãandlib Kieb, als lim tee Erinmeresy au ıbre wripring- Inbe Bedeutung verleren war. Aber alö er nällıg abgetbaner Traum tritt dech tür un6 die ummtbelngiihe Seltarica in größere Terme zursf; jene andere Acttafluna Dagegen. Deren wir bier au zweiter Etelle gebeuten wellen, we ite vielleicht Die frũheſte Blüthe des icribenten Geiiteö wear, it zu alien Zeiten lebendig geblieben, unt gilt ver Gegemvart faum geringer als ber Boreit.

Es ichien fein Berluft, daß die wachlende Griabrung ben Glauben an anichauliche Sẽttergeſtalten zeritert batte. indem fie ne eine Auſchauung derſelben gewäbrte. Denn eben dies ver⸗ langte der neme Gebanfe nicht mehr, tie belebenden Raturgeifter als geionderte Weſen neben den todten Ztciten zu erbliden; ver- einigen wollte er vielmehr, was die Mutbologie unter ihren Händen fietS wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah; unmittelbar im ſich felbit lebendig follte der Särper ber natür- lichen Gebilde die icelenvolle Kraft ſeiner Entwicklung im eignen Innern tragen. Aber als man in dieſer Abſicht lebendige Reg- ſamleit iiber das Neich der organiſchen Geſchẽpfe hinaus bis in Die formlofeften Beſtandtheile der Außenwelt zu verfolgen firebte, ba mußte, wie der Umriß der menſchlichen Geftalt, fo noch weiter and das Bild des menſchlichen Seelenlebens unzureichend zur Bezeichnung der gefuchten Lebenbigfeit werden. Denn nur wenige Erzeugniffe der Natur ftellen ſich fo als abgefchloffene Ganze bar, daß es leicht ift, fie als Wohnftätten perfönlicher Geifter zu deuten. Man mag audy andern noch die Fähigkeit zuſchreiben, Eindrücke

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in fi aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber vie Abweſen⸗ beit jener Gliederung, an welche nach unferer Erfahrung die Möglichleit, finnliher Anſchauungen, ihre Berknüpfung zu einer georbnieten Weltanfhauung und die Rückwirkung des Willens ge- bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens zu vermutben, bie ihnen geftattet, fich auf gleichem Wege mit und zum Selbftbewußtfein zu entwideln. Se mehr wir endlich von zuſammengeſetzten Gebilden zu den einfachen Elementen zurüd- geben, um fo mehr verichwindbet der Schein einer unberechenbaren Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fih jede Natur auf eine einförmige und unter ähnlichen Bedingungen ſtets ähnlich wiederkehrende Weiſe des Wirkens beichräntt, ohne Anzeichen einer inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung ımd Verarbeitung der Eindrüde, durch melde jede einzelne Seele im Laufe ihres Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthümlichkeit vertieft wird. Dur ſolche Beobachtungen geleitet ſpricht die neue Auffaffung, Die wir der mythologiſchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben, welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge- dankens, deren kurze Bezeichnung ich vorläufig durch Diefen Gegen- fat verſuchte, ſcheinen wir doch mehr einzubüßen, als wir zunächſt wiederzuerſetzen im Stande find.

Denn vor allem: völlig verftändlich ift uns doch nur Das volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns jelbit erfahren. Müffen wir auf feine Allgegenwart in der Natur verzichten, fo mag für verſtändlich auch der entgegengeſetzte Gedanke einer völlig blinden Nothmwendigfeit des Wirkens gelten, für verftännlich wenig⸗ ftend infofern, als wir den Anſpruch nicht mehr maden, und in dies volllommene Gegentheil unſers eignen Weſens hineinzuempfin⸗ den. Aber eben darum kann freilich dieſe Vorſtellung uns nur genügen, ſo lange wir uns beſcheiden, die Ereigniſſe der Natur nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bedürfniſſe beherr⸗ hen zu können; ver fortbeftehenden Sehnfuht, uns in Das Innere der Dinge bineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb,

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um diefer drohenden Selbftlofigfeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen wir ben Begriff des Triebes; denn nicht Died allein meinen wir in diefem Namen auszudrüden, daß fein fremder Zwang mit grundlofer Nothwendigleit die Dinge zu ihren Wirkungen dränge; auch in ihrer eignen Natur ſoll diefer Drang nit nur vorhanden fein, er foll von ihnen auch als ber ihrige gewußt, genoffen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich ſelbſt wiedererzeugt werden, oder auf welche Weife man jonft das Ver⸗ langen ausbrüden will, ihn als die eigne, lebendige Natur ber Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaflen. Anftatt der klaren Sonne des perfönlichen Bewußtſeins, die in den Geftalten der mythiſchen Welt glänzte, hat man daher ſtets wenigftend das Mondlicht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieber aufgehen Lafien, Damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen auszugehen heine, jondern in irgend einer Weife auch für fie felbft vorhanden ſei und won ihnen als ihr eignes Thun und Dafein erlebt werde.

Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, die ich beburfte, und die man wohl immer bebürfen wird, um empfindbar zu maden, was wir bier fuchen, macht von felbft Schon bemerklich,

wie zwifchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfönliche Naturgeiſter und den Gedanken einer blinden Nothmwendigfeit des Wirlens, diefe Borftelung von einer unbewußten Vernunft höchſt unklar in die Mitte tritt. Aber eine entfchiebene Vorliebe pflegt doch das menſchliche Gemüth in den mannigfachften Wen- dungen immer wieder zu dieſer Vorftellung zurüdzuführen, Die alfo doch wohl einem tieferen Bediirfniffe des Geiftes entſprechen muß. Und in der That, ſuchen wir und hieriiber Rechenſchaft zu geben, fo begegnen wir ſchon in unferem gewöhnlichen Em— pfinden mander Spur einer Neigung, dem vollen Licht bes geiftigen Lebens ein gedämpfteres Zwielicht vorzuziehen und bie Grenzen zwiſchen bemußtem Handeln und unbewußten Wirken zu verwiſchen.

Wohl wiſſen wir als bie beiden weſentlichen Zuüge, durch

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die der Geift fi von den Dingen ſcheidet, das befonnene Denten zu ſchätzen, das unjere innern Zuftände verknüpft und die Will- für, bie ihre Entichlüffe fich ſelbſt zurechnet; aber das Schönfte des geiftigen Lebens ſcheint und nicht immer in diejen beiden zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung fol als Ergebniß eined nachrechenbaren Gedanfenganges erfheinen; wir freuen uns vielmehr der Unmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen der Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und Doch ver- ftändlich hervorbricht. Wir bewundern die durchſichtige Confequenz, mit der eine Tüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspunft einer Unterfuchung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt ung doch oft jene andere Folgerichtigfeit, welche in Werken ber Kunft Gedanken aus Gedanken keimen läßt, ohne daß Die ver- mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirk⸗ ſamkeit wir empfinden. Ind ebenfo mögen wir uns als Gejchöpfe unſers eignen Willend nur da betradgten, wo wir in fittlicher Selbftbeurtheilung Werth oder Unwerth einer einzelnen Handlung anf uns zu nehmen haben; aber es gilt uns zugleich als Auf- gabe der Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen, zu denen die Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, ſondern daß auch unfere ganze fittlihe Haltung als unmillfürliche Aeußerung einer ſchönen Natur ericheine, ohne den fchwerfälligen Ernft der Abfichtlichfeit und darum auch ohne alle Erinnerung an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie verftand dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur aus geiftigen Beweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgang geht ein erneuerter Entſchluß des Gottes voraus; der urfprüng- Ihe Wille wirkt, wie in bämmernde Entfernung zurüdgetreten, mit der unbemußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort. Dadurch eben gibt die Natur fih als Natur, daß fie unter dem Einfluß von Beweggründen ſich zu regen fcheint, deren Bewußt⸗ fein in ihr ſelbſt verflungen ift, und deren Macht nur noch traum: baft als ein zurückgebliebener unmwillfürliher Zug empfunden wird, Und in diefe Dämmerung lieben wir auch unfer eignes

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Sein zu verfenfen, wie hoch wir auch Die Helligfeit des Denkens und die Freiheit unſeres Wollens ſchätzen mögen: Die Gegenwart einer unbewußt und unwillkürlich wirlenden Natur auch in uns jeldft leugnen wir nicht, fondern Heben mit Vorliebe ihre be- ftändige ftille Thätigkeit berbor. Kaum find wir uns über Die Gründe Mar, die uns in dieſer Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie bier zu erſchöpfen. Aber e8 jcheint mir zuerft, als überwältigte uns zumeilen die Empfindung, wie fehr alle Unterfuhung und Beweisführung, alle Erwägung und Entſchließung zu dem mühjeligen Verfahren Desjenigen Lebens gehört, das noch auf dem arbeitvollen Wege nad einem entfern= ten höchſten Gute begriffen iſt. Dann fühlen wir Die Verlodung nach, Die in fo vielen ſchwärmeriſchen Seelen die Sehnſucht nad der Austilgung ihres perjönlichen Lebens in der umfafjenden Flut eines allgemeinen Geiſtes erzeugte: jene in ſich verfunfene Be- ſchaulichkeit, für welche alle ftraffen Bänder eines geordneten Ge- danfenzufammenbanges fi löſen und bie Grenzen zwifchen dem Ih und feinem Gegenftand in träumerifcher Identität verſchwim⸗ men, jenes pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jedes Streben nad) Entferntem aufgegeben bat: diefe jcheinen ung in dem ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit dem fie und ausfüllen, in wirflicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zu befiten, deſſen fernes Abbild der ruhelofen Arbeit unferer Gedanken und unfer® Willens vorſchwebt. Den Frieden dieſer endlichen Er- füllung ziehen wir der unendlichen Kaftlofigfeit der Sehnſucht vor. Aber vielleicht eben fo fehr reizt uns die Ausfiht in ein Unendlihes, die uns gleichzeitig durch jene Beobachtung einer bemußtlos in uns wirkenden Natur aufgeht. Ein gemtijchtes Glück des Selbſtgefühls und der Demuth ſcheint in der That für und von der Wahrnehmung auszugehen, daß unſer eigneß Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur unvollfonmen ergründen, und deren Wirken, mo es in einzelnen Zügen in unfere Beobachtung fällt, und mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers eignen Weſens überrafcht. Wer fich jelbft ganz durchſichtig wäre,

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fhiene ung mit fich fertig zu fein; nur wer fi felbft allmählich findet, bat Grund für fein eignes Daſein Theilnahme zu empfinden. Darum möchten wir jenen bumnflen Kern unferd Innern nicht miffen; wir zählen ihn ebenfo fehr zu unferer eignen Perfönlich- feit, bie fi fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert, m der uns felbft noch Entdedungen zu machen find, und eben- ſowohl erfennen wir ihn als Etwas, das in uns felbft doch nicht wir jelbft if. Damm treten wir befangen vor dieſem geheimniß- vollen Rückhalt unſeres Weſens zurück, und glauben in ihm nun jene Unenbliche zu jehen, das aller endlichen Erfcheinungen ewige Grundlage bilbet.

Ich füge nur flüchtig noch das Tette Hinzu. Wie wir in unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten zu verwiſchen Lieben, fo pflegen wir auch Dies Innere felbft nicht in ſcharfen Gegenfag zu feiner leiblichen Außengeftalt zu feten. Saft nur, wo die Vorftellung des Todes Gebanfen an eine fernere Zufunft rege macht, denken wir daran, den Körper nur als die wieder abzubrechende Hülle zu betrachten, in bie der Geift fich nur einmwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne Leben Tennt diefe Auffaffung jehr wenig, und felbft wo unfer Nachdenken fie feitbält, gelingt e8 uns Doch nie, fie aus einer mittelbaren Ueberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer die brudempfindende Oberfläche unſers Körpers und als ein Theil unfers eignen Selbft ericheinen, und keineswegs als ein benadh- bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrichaft ber Seele fih nur unbedingter al8 über entlegenere Theile derfelben erftredte. Weberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein- beit zwifchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus der Berfettung unferer Organifation uns allen als eine freundliche Täufhung entipringt. Dann exit fcheint der Geift feine Be: fimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Mafle von außen bewegt, ſondern in fie hinein thätig fich fortfegt; dann erft ſcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Dafeind zu

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haben, wenn er nicht allein als verwendbare Sache dem Geifte gegenüberfteht, fondern von ber Wärme defjelben innerlich durch⸗ Drungen wird. Es ift der künſtleriſche Trieb, das äfthetiiche Be- bürfniß, das bier in ung mächtig wird. Wie wir in aller Schön- beit eine geheimnißvolle Berfchmelzung des idealen Innern mit feiner realen Erſcheinung fuchen, fo verlangen wir vor allem auch von der Wiffenfchaft die befeelte Geftalt in dem Zauber ihrer Ganzheit anerkannt zu fehen, mit dem ſie uns im Leben als bie fihtlihe Erfüllung unferer Sehnfuht nach jener Einheit vor- ſchwebt, und Tieber als unverftandene Wirklichkeit wollen wir fie bewundern, als zugeben, daß das Verſtändniß fie auflöfe.

Aus folhen und ähnlichen Gründen entipringt wohl bie Anziehungstraft, welche ftet8 auf uns jene Borftellung einer unbewußten Die ganze Natur burchdringenden Vernunft ausübt; und nur diefe Gründe habe ich erwähnen wollen, die ber ge= ſchilderten Auffafjung ihren verlodenden Reiz für jedes menic- liche Gemüth geben; ich übergehe die Crörterungen, mit denen pbilofophifche Speculationen nur innerhalb der Grenzen ber Schule, aber nicht liberzeugend für das Iebendige Empfinden, ihre An⸗ nahme zu empfehlen fuchen. Und ich vermuthe zugleich, daß auch ſolche Empfehlungen den Vorwurſ der Unflarbeit nicht befeitigen würden, ben wir dem Grundbegriffe diefer Auffaffung machen. Denn indem wir und auf die Iebendige Erfahrung eines unbewuß- ten geiftigen Wirkens in und berufen, berufen wir und nicht nur auf das, was in unferem eignen Innern ber Aufflärung am meiften bedarf, fondern Die Unterjuchung würde nad wenigen Schritten zeigen, daß alle jene Zuftände, wenigftens fofern fte mit dem Genuß verknüpft fein ſollen, auf welden wir Werth legten, Grenzfälle find, denen nur ein perfönliches und inbivt: buelles Geiftesleben fih mit den Mitteln feiner Natur nähern kann; fie werden undenkbar anftatt erflärbarer zu werden, wenn wir Diefe Bedingung fallen Laffen.

Doch nicht blos durch die Unflarheit ihres Princips fteht diefe Anficht im Nachtheil gegen den Glauben an perfönliche

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Naturgeifter; auch den zweiten Tadel können wir ihr nicht er- fparen, daß fie jelbft durd die Anwendung dieſes Princips einen Gewinn nicht leicht wieder erzeugen wird, den bie mythologiſche Weltanficht allerdings gewährte. Denn die lebhafte Befriedigung, mit welcher wir diefer flet8 von neuem in ihre Deutungen ber Natur folgen, beruht großentheils darauf, daß fle die Erfcheinungen auf Beweggründe zurüdführt, deren Werth dem Gefühle unmit- telbar verftändlich if. Wenn Helios Tag für Tag den Sonnen- wagen über den Himmel führt, fo ift es nicht die dumpfe Natur- nothwendigkeit eines unbegreiflihen Inftinctes, bie ihn antreibt, fondern „damit er den Unfterblichen Leuchte‘ wiederholt er das einförmige Tagewerk als feinen Beitrag zu der feligen Ordnung der Göttermelt. Und wie häufig fonft erfcheinen in den Sagen ber verfchiedenften Völker die Bewegungen der Geftirne, ihr gegen- feitige8 Suchen und Tliehen, als Folgen von Thaten und Schid- falen, aus denen für die Fortdauer dieſes monotonen Spieles überall anmutbige Beweggründe der Liebe der Pflicht der Sehn- ſucht oder Erinnerung entfpringen! So geftaltet fih in Wahrheit die Natur zu dem Widerſchein einer geiftigen Welt; die äußer— lichen Wirkſamkeiten der Dinge haben nicht größeren Werth, als die Geberden des Lehendigen überall haben: nicht um ihrer felbft willen find fie vorhanden, fondern um auf ein Inneres zurüd- zubeuten, Das in ihnen ſich äußert, ohne ſich in ihnen zu er- ichöpfen. Geben wir den Glauben an perfönliche Naturgeifter auf, fo wird diefer Rückhalt, den eine geiftige Welt der Natur bietet, zunächft nur gemindert. Mag immerhin auch jet nod) das äußere Gebahren der Dinge aus einem traumhaften Triebe ihres Innern entipringen, fo leitet doch Feine Analogie uns an, uns eine Borftellung von dem weiteren Hintergrunde ihres Seelen- lebens zu bilden, aus dem diefer Traum und Die einzelne Wirk- ſamkeit, die er anregt, eben als einzelne Aeußerung neben anderen hervorgehen fünnte in einziger Trieb, unmittelbar auf eine einzige Art des Wirkens gerichtet, iſt das ganze Innere der Dinge,

ihr Ein und Alles geworden und fie ericheinen gegivungen zur Loge I. 4. Aufl.

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fie ja Stein und Schilf zu befeelen, daß fie beide als verwandel⸗ tes menſchliches Leben faßte, und es num der Anftrengung der Phantaſie überließ, die Erinnerung an Dies verftändliche vor⸗ malige Dafein an bie ſpröde Unverftänblichkeit der verwanbelten Form zu knüpfen.

Die trügeriſche Farbenpracht des Herbſtes, der jedes Blatt zur Blüthe zu deredeln ſcheint, vergleicht ein reizendes Gedicht Rückerts mit der gebiegenen Lebenskraft des Frühlings, Die unter allem Blühen niemal® den vollen dunklen grünen Trieb ver- leugnet. Dies herbftliche Beginnen war das zweite, worin Die Mythologie fcheiterte, wie fie den Stoff nicht zu vergeiftigen vermocht hatte, jo mißlang ihr auch, die Ereigniffe in lauter blühende Freiheit zu verflären: unüberwindlich trat der dunkle Trieb einer urſprünglichen, unausdenkbaren Nothwendigfeit wieder zu Tage. Es half ihr nicht, daß fie feinen Anblick floh und allein dem Glanze der Götterwelt und ihrer Herrichaft über das Keih der Stoffe ſich zuwandte. Denn auch bier mußte fie, um nur diefe Herrihaft möglich zu finden, einen Kreis ewiger und allgemeiner Geſetze befennen, unter deren Zuſtimmung allein jeg- liher Wille Macht gewinnt über die Zuftände der Dinge In der Berehrung eines unergründligen Schidfals, das auch die Götter Binde, ſprach fie dieſen Gedanken in feiner Beziehung zu dem Gange der fittlihen Welt aus; minder ausbrüdlich aber doch erkennbar genug wiederholt ihn jede Schilderung des Wech⸗ felverfehrs zwiſchen den göttlichen Wefen und den Elementen der Natur. Wo jet der feelenlofe Feuerball fi dreht, mochte da— mals in ftiller Majeftät Helios den goldnen Wagen Ienfen; aber das Rad dieſes göttlichen Wagens vollendete feinen Umſchwung nicht nach anderen Gefegen, und nicht nad anderen übte und litt die Are Druck, als nad welchen allezeit auf Erden ſich die Räder jegliches Wagens um ihre belaftete Are drehen werben. Nur der mühjeligen Anftrengung des eignen Handanlegens konnte bie Poefle die Götter überheben, aber nie hat fie ganz die Vor- ftellung einer allgemeinen Ordnung ber Dinge entbehren können,

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nach deren Gefegen allein ber lebendige Wille die Welt der Stoffe bewegt. Während Kronion den Blig noch durch Die Anftrengung feiner Hände ſchleudert, bewegt allerdings das Zuden feiner Augen- brauen mühelos die Tiefen des Olymp; aber dies ergreifende zweite Bild der göttlichen Macht wiederholt doch nur verhüllter denfelben Hergang einer mittelbaren Wirkfamfeit, den jenes erſte in anſchaulicher Ausführlichleit ausſpricht. Selbft die mofaifche Schöpfungsgefchichte, erhabener als andere, weil fie unmittelbar daſtehen läßt, was ber göttliche Wille befahl, ohne durch Schilves rung phyſiſcher Bermittlungen den Eindrud der Allmacht zu ſchwächen, auch fie hält doch den ſchweigenden Gedanken noch nicht für den genügenden Anfang der Schöpfung. Sie läßt Gott wenig- ſtens das Wort ausſprechen, die zartefte allerdings, aber doch immer eine deutliche Vorbedingung, die hergeftellt fein zu müſſen bien, damit durch fie angeregt die ewige Nothmwendigfeit der Dinge das gebotene Werden vollbrädte.

So bleibt denn in Wahrheit die Mythologie weit hinter dem zurüd, was fie zu verfprechen fehlen; den Zwieſpalt der Weltanfänge, den fie ſchlichten wollte, hat fie kaum verdeckt. Nicht die Welt der Sachen wußte fie zu befeelen: nur eine zweite Welt konnte fie zu ihr binzudichten, jene göttlichen Eeelen, die um den bunflen Kern der Dinge oder über ihm ſchwebend jeden Zufall des blinden Naturlaufs in ihrem eignen Innern zu Be- mwußtfein und Genuß verflären; aber fie find das Reale nicht, das fie genießen. Sie konnte ebenfowenig das unvordenkliche Recht der Sachen, die geſetzliche Nothwendigfeit in dem Zu⸗ fammenbange der Dinge, verflüdtigen; nur hinzugedichtet hat fie die felige Willkür eines himmliſchen Lebens, deſſen Freiheit ſich farbig von diefem dunklen Grunde abhebt; aber doch nur in dieſem Grunde findet jeder Schritt dieſes Lebens den feiten Boden für feinen Auftritt.

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Einer andern Richtung der Gebanten blieb die Erneuerung des mißlungenen Verſuchs überlaffen. Käme es darauf an, dem Hergang diefer Wandelungen der Anfichten geſchichtlich zu ſchildern, fo bürften wir allerdings fo nicht ſprechen. Denn mit grübeln- der Reflexion fcheint vielmehr weit früher die Menſchheit dem Gedanken eines allgemeinen Naturlebens nachgehangen und ihn bis in die frembartigften Formen des Dafeins hinein verfolgt zu haben; von ihnen zog fich fpäter erft die Phantafte auf eimen engern Kreis anfchaulicher Geftalten zurüd, deren ideale Schön- beit verftändlich blieb, als längft die Erinnerung an ihre urfprüng- liche Bedeutung verloren war. Aber als ein völlig abgethaner Traum tritt Doch für uns die mythologiſche Weltanficht. in größere Ferne zurüd; jene andere Auffaflung dagegen, deren wir bier an zweiter Stelle gedenfen wollen, wie fte vielleicht Die frühefte Blüthe des forjchenden Geiftes war, ift zu allen Zeiten lebendig geblieben, und gilt der Gegenwart kaum geringer als der Vorzeit.

Es ſchien fein Berluft, daß die wachfende Erfahrung den Glauben an anfchauliche Göttergeftalten zerftört hatte, indem fie nie eine Anfchauung derjelben gewährte. Denn eben dies ver⸗ langte der neue Gedanke nicht mehr, die belebenden Naturgeifter als gefonderte Weſen neben den todten Stoffen zu erbliden; ver⸗ einigen wollte ex vielmehr, was bie Müthologie unter ihren Händen ftet8 wieder in zwei getrennte Welten zerfallen ſah; unmittelbar in fich felbft lebendig follte der Körper der natür- lichen Gebilde die jeelenuolle Kraft feiner Entwidlung im eignen Innern tragen. Aber als man in biefer Abficht Tebendige Reg⸗ ſamkeit über das Reich der organiſchen Geſchöpfe hinaus bis in die formlofeften Beftandtheile der Außenwelt zu verfolgen ftrebte, da mußte, wie der Umriß der menichlichen Geftalt, fo noch weiter auch das Bild des menſchlichen Seelenlebend unzureichend zur Dezeihnung der gejuchten Xebendigkeit werden. Denn nur wenige Erzeugnifje der Natur ftellen fi fo als abgeichloffene Ganze dar, daß es leicht ift, fie als Wohnftätten perfönlicher Geifter zu deuten. Man mag au andern noch die Fähigkeit zufchreiben, Eindrücke

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in fih aufzunehmen und von ihnen zu leiden; aber die Abweſen⸗ heit jener Gliederung, an welche nad unferer Erfahrung Die Möglichkeit, finnliher Anſchauungen, ihre Verknüpfung zu einer georbneten Weltanichauung und die Rüdwirkung des Willens ge- bunden ift, verhindert uns, in ihnen eine Form des Seelenlebens zu vermutben, die ihnen geftattet, ſich auf gleichem Wege mit und zum Selbfibewußtfein zu entwideln. Ye mehr wir endlich von zufammengefegten Gebilden zu den einfachen Elementen zurüd- geben, um jo mehr verſchwindet der Schein einer unberechenbaren Freiheit des Handelns; um fo deutlicher zeigt fich jede Natur auf eine einförmige und unter ähnlichen Bebingungen ftet8 ähnlich wiederfehrende Weife Des Wirkens beſchränkt, ohne Anzeichen einer inneren Fortbildung und ohne jene Auffammlung und Verarbeitung der Eindrüde, durch welde jede einzelne Seele im Laufe ihres Lebens zu einer unvergleichlichen Eigenthümlichkeit vertieft wird. Dur ſolche Beobachtungen geleitet ſpricht die neue Auffaffung, die wir der mythologifchen Weltanficht gegenüberftellen, nicht mehr von Seelen, welde die Dinge treiben, fondern von Trieben, welche fie befeelen. Aber mit der neuen Wendung des Ge- danfens, deren kurze Bezeichnung ich vorläufig durch dieſen Gegen: fat verfuchte, fcheinen wir Doc mehr einzubüßen, als wir zunächſt wiederzuerſetzen im Stande find.

Denn vor allem: völlig verſtändlich ıft und doch nur das volle bewußte geiftige Leben, das wir in uns felbft erfahren. Müflen wir auf feine Allgegenwart in ber Natur verzichten, fo mag für verftänblich auch der entgegengefeßte Gedanke einer völlig blinden Nothwendigkeit des Wirkens gelten, für veritändlich wenig- ſtens injofern, al8 wir den Anfpruch nicht mehr machen, und in dies vollkommene Gegentbeil unfers eignen Weſens hineinzuempfin- den. Aber eben darum Tann freilich dieſe Borftellung uns nur genügen, jo lange wir uns bejcheiden, die Ereigniffe der Natur nur berechnen und zur Befriedigung unferer Bedürfniſſe beherr⸗ Then zu Tönnen; der fortbeftehenden Sehnfuht, uns in das Innere der Dinge hineinzuverfegen, gewährt fie Nichts. Deshalb,

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um biefer drohenden Selbftlofigkeit aller Dinge zu entgehen, ſchaffen wir den Begriff des Triebes; benn nicht dies allein meinen wir in diefem Namen auszudrücken, daß kein fremder Zwang mit grunblofer Notbwendigkeit die Dinge zu ihren Wirkungen dränge; auch in ihrer eignen Natur foll diefer Drang nicht nur vorhanden fein, er foll von ihnen auch als der ihrige gewußt, genoſſen, von ihnen gewollt und von ihnen beftändig in fich felbft wiebererzeugt werden, oder auf welche Weife man ſonſt Das Ver⸗ langen ausbrüden will, ihn als die eigne, lebendige Natur der Dinge, als ihre Selbftheit zu erfaffen. Anftatt der Haren Sonne des perfünlihen Bewußtſeins, die in den Geftalten ber mythiſchen Welt glänzte, bat man daher ſtets wenigftens das Mondlicht einer unbewußten Vernunft in den Dingen wieder aufgehen laſſen, damit das, was fie leiften, nicht nur von ihnen auszugeben jcheine, jondern in irgend einer Weife aud für fie jelbft vorhanden fei und von ihnen als ihr eignes Thun und Daſein erlebt werde.

Die Menge der Umfchreibungen und Bilder, bie ich beburfte, und die man wohl immer bedürfen wird, um empfinbbar zu maden, was wir Hier fuchen, macht von felbft Schon bemerflich,

wie zwifchen jene beiden Extreme, den Glauben an perfönliche Naturgeiſter und den Gedanken einer blinden Nothwendigkeit des Wirkens, dieſe Borftellung von einer unbewußten Vernunft höchſt unklar in Die Mitte tritt. Aber eine entſchiedene Vorliebe pflegt doch das menſchliche Gemüth in den mannigfachften Wen- dungen immer wieder zu dieſer Borftellung zurüdzuführen, die alfo doch wohl einem tieferen Beblirfniffe des Geiftes entiprechen muß. Und in der That, ſuchen wir uns hierüber Nechenfchaft zu geben, fo begegnen wir ſchon in unferem gewöhnlichen Em- pfinden mander Epur einer Neigung, dem vollen Licht des geiftigen Lebens ein gebämpfteres Zwielicht vorzuziehen und bie Grenzen zwiſchen bewußtem Handeln und unbewußtem Wirken zu verwiſchen.

Wohl wiſſen wir als die beiden weſentlichen Züge, durch

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die der Geift fich von den Dingen fcheivet, das befonnene Denken zu ſchätzen, das unſere innern Zuftände verfnüpft und bie Will- für, die ihre Entfchlüffe ſich jelbft zurechnet; aber das Schönſte des geiftigen Lebens jcheint uns nicht immer in dieſen beiben zu liegen. Nicht jedes Wort der Aeußerung foll als Ergebniß eines nachrechenbaren Gedankenganges ericheinen; wir freuen uns vielmehr der LUnmittelbarfeit, mit der aus unbewußten Tiefen ber Seele der Ausdruck ihres Lebens unaufflärbar und doch ver- ſtändlich hervorbricht. Wir bewundern die durchſichtige Confequenz, mit der eine Tüdenlofe Kette von Folgerungen vom Anfangspuntt einer Unterſuchung zu ihrem Ergebniß führt, aber viel höher gilt uns doch oft jene andere Tolgerichtigfeit, welde in Werfen bey Kunſt Gedanken aus Gedanken keimen läßt, ohne daß bie ver- mittelnden Glieder nachweisbar würden, deren verfnüpfende Wirf- famfeit wir empfinden. Und ebenfo mögen wir uns als Gefchöpfe unſers eignen Willens nur da betrachten, wo wir in fittlicher Gelbftbeurtheilung Werth ober Unmerth einer einzelnen Handlung auf uns zu nehmen haben; aber es gilt uns zugleich als Auf- gabe der Erziehung, daß nicht nur die geringfügigen Bewegungen, zu denen bie Vorkommniſſe des täglichen Lebens anregen, jondern daß auch umfere ganze fittlihe Haltung als unmillfürliche Aeußerung einer ſchönen Natur erſcheine, ohne den jchmerfälligen Ernft der Abfichtlichleit und darum auch ohne alle Erinnerung an die Möglichkeit ihres Andersſeins. Auch die Mythologie verftand Dies nicht anders, wenn fie die Erſcheinungen der Natur aus geiftigen Beweggründen deutete. Nicht jedem Sonnenaufgang geht ein ernenerter Entſchluß des Gottes voraus; dev urfprüng- Tihe Wille wirkt, wie in bämmernde Entfernung zurüdgetreten, mit der unbewußten Macht einer anmuthigen Gewohnheit fort. Dadurch eben gibt die Natur ſich als Natur, daß fle unter dem Einfluß von Beweggründen ſich zu regen ſcheint, deren Bewußt⸗ fein in ihr jelbft verflungen ift, und deren Macht nur noch traum: baft als ein zurüdgebliebener unmillfürliher Zug empfunden wird. Und in diefe Dämmerung Tieben wir auch unfer eignes

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Sein zu verfenfen; wie hoch wir auch die Helligfeit des Denfens und die Freiheit unſeres Wollens jchägen mögen: Die Gegenwart einer unbewußt und unwilllürlic wirlenden Natur auch in uns ſelbſt leugnen wir nicht, fondern heben mit Vorliebe ihre be— ftändige ftille Thätigfeit hervor.

Kaum find wir uns über Die Gründe klar, die ung in dieſer Neigung beftärken, und ich hoffe nicht, fie hier zu erfchäpfen. Aber e8 ſcheint mir zuerft, als überwältigte un zuweilen die Empfindung, wie fehr alle Unterfuhung und Beweisführung, alle Erwägung und Entſchließung zu dem mühfeligen Verfahren desjenigen Lebens gehört, das noch auf dem arbeitwollen Wege nad einem entfern- ten höchſten Gute begriffen iſt. Dann fühlen wir die VBerlodung nad, die in fo vielen ſchwärmeriſchen Seelen die Sehnſucht nach der Austilgung ihres perjünlichen Lebens in der umfafenden Flut eine allgemeinen Geiſtes erzeugte: jene in ſich verfunfene Be- ſchaulichkeit, für welche alle ftraffen Bänder eines georbneten Ge- banfenzufammenhanges ſich löſen und die Grenzen zwiſchen dem Ih und feinem Gegenjtand in träumerifcher Identität verſchwim⸗ men, jenes pflanzenartige Leben, das jeden Willen und jedes Streben nad) Entferntem aufgegeben bat: dieſe fcheinen ung in dem ungegliederten allgemeinen Gefühl, mit. dem fie uns ausfüllen, in wirklicher Gegenwart jenes höchſte wahrhafte Gut zu befigen, deſſen fernes Abbild der ruhelofen Arbeit unjerer Gedanken und unſers Willens vorſchwebt. Den Frieden diefer endlichen Er- füllung ziehen wir der unendlichen Raſtloſigkeit der Sehnſucht vor. Aber vielleicht eben fo ſehr reizt uns die Ausfiht in ein Unendliches, die uns gleichzeitig durch jene Beobachtung einer bemußtlo8 in uns wirkenden Natur aufgeht. Ein gemifchtes Glück des Selbftgefühls und der Demuth jcheint in der That für uns von der Wahrnehmung auszugehen, daß unfer eignes Innere eine Welt verbirgt, deren Geftalt wir nur unvollkommen ergründen, und deren Wirken, wo es in einzelnen Zügen in unfere Beobachtung fällt, ung mit Ahnungen unbelannter Tiefen unfers eignen Weſens überraſcht. Wer fich ſelbſt ganz durchſichtig wäre,

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ſchiene und mit fich fertig zu fein; nur wer ſich jelbft allmählich findet, bat Grund für fein eignes Dafein Theilnahme zu empfinden. Darum möchten wir jenen dunklen Kern unfers Innern nicht miflen; wir zählen ihn ebenfo jehr zu unferer eignen Perfünlich- keit, die fih fo für uns bis zu der Größe einer Welt erweitert, im der uns felbjt noch Entdedungen zu machen find, und eben- ſowohl erfennen wir ihn als Etwas, das in uns felbit doch nicht wir felbft if. Dann treten wir befangen vor dieſem geheimniß- vollen Rückhalt unjeres Wejens zurüd, und glauben in ihm nun jenes Unendliche zu ſehen, das aller endlichen Exrfcheinungen ewige Grundlage bildet.

Ih füge nur flüchtig noch das letzte hinzu. Wie wir in unferem Innern die Grenzen des Bewußten und des Unbewußten zu verwiſchen lieben, fo pflegen wir auch dies Innere felbft nicht in ſcharfen Gegenſatz zu feiner leiblichen Außengeftalt zu feten. Faft nur, wo die Vorftellung des Todes Gedanken an eine fernere Zukunft vege macht, denken wir daran, den Körper nur als die wieder abzubrechende Hille zu betrachten, in die der Geift fich nur einwohnt, ohne mit ihr zu verſchmelzen. Aber das unbefangne Leben kennt diefe Auffaffung ſehr wenig, und felbft wo unfer Nachdenken fie feithält, gelingt es und Dod nie, fie aus einer mittelbaren Weberzeugung bis zur Klarheit eines unmittelbaren Lebensgefühls zu fteigern. Immer wird Hand und Fuß, immer die brudempfindende Oberfläche unſers Körpers uns als ein Theil unſers eignen Selbft ericheinen, und Teinesmegs als ein benad- bartes Gebiet der Außenwelt, über welches die Herrihaft ber Seele fih nur unbedingter als über entlegenere Theile derſelben erftredte. Meberall fträubt fi unfer Gemüth, jene innige Ein- heit zwiſchen Leib und Seele aufzugeben, deren Gefühl aus ber Berfettung unferer Organifation uns allen als eine freundliche Täuſchung entipringt. Dann erſt fcheint der Geift feine Be— flimmung zu erfüllen, wenn er nicht eine fremde Maſſe von außen bemegt, jondern in fie bineim thätig fich fortfegt; dann erſt ſcheint auch der Stoff volle Berechtigung feines Daſeins zu

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haben, wenn er nicht allein als verwendbare Sache dem Geifte gegenüberfteht, fondern von ber Wärme deſſelben innerlich durch⸗ Drungen wird. Es iſt ber fünftlerifche Trieb, das äfthetiiche Be- dürfniß, das bier in uns mädtig wird. Wie wir in aller Schön- beit eine geheimmißvolle Verſchmelzung des idealen Innern mit feiner realen Erſcheinung juchen, fo verlangen wir vor allem auch von der Wiflenfchaft Die bejeelte Geftalt in dem Zauber ihrer Ganzheit anerkannt zu jehen, mit dem fie uns im Leben als Die fihtlihe Erfüllung unferer Sehnfuht nah jener Einheit vor=- fhmwebt, und Lieber als unverftandene Wirklichkeit wollen wir fte bewundern, als zugeben, daß das Verſtändniß fie auflöfe.

Aus folden und ähnlichen Gründen entfpringt wohl Die Anziehungskraft, welche ſtets auf uns jene Vorſtellung einer unbewußten die ganze Natur durchdringenden Vernunft ausübt; und nur biefe Gründe babe ich erwähnen wollen, die der ge- fchilderten Auffafiung ihren verlodenden Reiz fir jedes menjch- liche Gemüth geben; ich übergehe die Erörterungen, mit denen philofophifche Speculationen nur innerhalb der Grenzen der Schule, aber nicht überzeugend für das Iebendige Empfinden, ihre An- nahme zu empfehlen fuchen. Und ich vermuthe zugleich, daß auch ſolche Empfehlungen den Vorwurf der Unflarheit nicht befeitigen wiürben, den wir dem Grundbegriffe diefer Auffaffung machen. Denn indem wir uns auf die lebendige Erfahrung eines unbewuß- ten geiftigen Wirlens in uns berufen, berufen wir und nicht nur auf Das, was in unferem eignen Innern der Aufflärung am meiften bedarf, jondern die Unterfuhung würde nad wenigen Schritten zeigen, daß alle jene Zuſtände, wenigftens fofern fie mit dem Genuß verknüpft fein jollen, auf welchen wir Werth legten, Grenzfälle find, denen nur ein perjönliches und indivt- duelles Geiftesleben fi mit den Mitteln feiner Natur nähern fann; fie werden undenfbar anftatt erflärbarer zu werben, wenn wir diefe Bedingung fallen Laffen.

Doch nicht blos durch die Unklarheit ihres Princips fteht dieſe Anfiht im Nachtheil gegen den Glauben an perjünliche

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Naturgeifter; auch den zweiten Zabel können wir ihr nicht er- ſparen, daß fie felbft dur die Anwendung dieſes Princips einen Gewinn nicht leicht wieder erzeugen wird, den die muythologifche Weltanſicht allerdings gewährte. Denn die lebhafte Befriedigung, mit welcher wir Diefer ftet8 von neuem in thre Deutungen der Natur folgen, beruht großentheild darauf, daß fie Die Erfcheinungen auf Beweggründe zurücführt, deren Werth dem Gefühle unmit- telbar verftändlih if. Wenn Helios Tag für Tag den Sonnen- wagen über den Himmel führt, jo ift e8 nicht die Dumpfe Natur- nothmwendigfeit eines unbegreiflihen Inſtinctes, die ihn antreibt, jondern „damit er den Unfterblichen leuchte‘ wiederholt er das einförmige Tagewerk als feinen Beitrag zu der feligen Ordnung der Götterwelt. Und wie häufig fonft ericheinen in den Sagen der verichiedenften Völker die Bewegungen der Geftirne, ihr gegen: feitige8 Suchen und Fliehen, als Folgen von Thaten und Schid- jalen, aus denen für die Fortdauer dieſes monotonen Spieles überall anmutbige Beweggründe der Liebe der Bfliht der Sehn- ſucht oder Erinnerung entipringen! So geftaltet ſich in Wahrheit die Natur zu dem Widerſchein einer geiftigen Welt; die äufer- lichen Wirkſamkeiten der Dinge haben nicht größeren Werth, als die Geberden des Lebendigen überall haben: nicht um ihrer felbit willen find fie vorhanden, fondern um auf ein Inneres zurüd- zubeuten, das in ihnen ſich äußert, ohne ſich in ihnen zu er- Ihöpfen. Geben wir den Glauben an perſönliche Naturgeifter auf, To wird diefer Rückhalt, den eine geiftige Welt der Natur bietet, zunächſt nur gemindert. Mag immerhin auch jet noch da8 äußere Gebahren der Dinge aus einem traumhaften Triebe ihres Innern entfpringen, fo leitet doch Feine Analogie uns an, ung eine Borftellung von dem weiteren Hintergrunde ihres Seelen- lebens zu bilden, aus dem diefer Traum und die einzelne Wirf- jamfeit, Die er anregt, eben als einzelne Aeußerung neben anderen hervorgehen könnte. Ein einziger Trieb, unmittelbar auf eine einzige Art des Wirkens gerichtet, ift das ganze Innere der Dinge,

ihr Ein und Alles geworden und fie erfcheinen gerwungen zur Loge J. 4. Aufl.

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Ausübung einer Geberde, ohne das Größere in ſich zu erleben, als deſſen Ausdruck allein dieſe gerechtfertigt wäre. Die gegen- feitige Anziehung der Stoffe würde die Mythologie ebenfo wie fie die Wendung der Blume nad) der Sonne erklärt, auf eine ver⸗ ftändlihe Sehnfucht zurüdgeführt und diefe Sehnſucht ſelbſt aus der Geſchichte vergangener Schidfale begründet haben. Die räum- lihe Bewegung würde ihr fo als der augenblidlihe Ausdruck eined mannigfadhen und in feiner Mannigfaltigfeit uns noch empfindbaren geiftigen Lebens gegolten haben, das mit dem Reich- thum ſeines Inhalts weit über dieſe einzelne Weußerung hinaus- veiht und eben deshalb dieſe einzelne wahrhaft aus fich zu moti- viren vermag. Ein Trieb der Anziehung dagegen, den wir in der Natur der Stoffe zu finden meinen, wiederholt und eigent- lih nur die unverfiandene Thatſache der Bewegung und fügt anftatt des erflärenden Beweggrundes nur den Gebanten einer gleich unverftändlichen Nothwendigfeit Hinzu, welche die Dinge nöthige, fie auszuführen. In der That, fo erfcheinen uns die . Naturereigniffe nur noch wie die ſtummen Gefticulationen von ©eftalten, deren Bilder fih gegen den Horizont abgrenzen, während ihre Worte die Entfernung verihlingt.

Das war e8 nun doch nicht, mas dieſe ganze Weltanficht wollte; zu allen Zeiten finden wir fie daher bemüht, durch eine weitere Ausbildung ihrer Gedanken diefer Verkümmerung der Naturauffaffung wieder zu begegnen. Auf einen zufammenfaffen- den Weltgrund, auf Eine unendliche Vernunft führte fie vor allem die zeriplitterte BVielheit der Erfcheinungen zurüd; in das Innere dieſer träumenden und fhaffenden Weltfeele verlegte fie finnvolle Urtriebe, die in unerſchöpflicher Mannigfaltigkeit der Formen ſich ausgeftaltend diefe Wirklichkeit begründen. In ein- zelnen Geſchöpfen zu vollem Selbftbemußtfein hindurchdringend, wird dieſe ewige Kraft doch auch in jenen Gebilben, in denen fte nur träumend und unbewußt fi regt, von denfelben Bemeg- gründen ihres Handelns geleitet, und jedes einzelne Erzeugniß ber Natur brüdt in anſchaulicher Verlörperung einen jener Ge—

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danken aus, in welche ber lebendige Inhalt des Höchſten ſich aus— einanderlegt. Diefe Gedanken, aus demſelben Urgrunde entfprungen und in ihm zu dem Ganzen einer unerſchöpflichen Idee zufam- menftimmend, ftiften zwifchen den Dingen, deren befeelende Triebe fie find, eine durchdringende Verknüpfung des Sinnes und der Weſensgemeinſchaft. Und an diefer Gemeinſchaft ihre Grundes und ihres Zieles, von welcher vielleicht eine dunkle Erinnerung ihnen geblieben ift, gewinnen die Dinge jenen tieferen Rückhalt ihres Weſens wieder, den mir vermißten. Die Aeußerungen, denen das Einzelne nad der Nothwendigkeit feines Triebes fich überläßt, geichehen nicht mehr um ihrer felbit willen; fie find Das, was jebem an feinem Orte als feinen Beitrag zu der Ver⸗ wirflihung des allgemeinen Sinnes der Welt zu leiften obliegt. Und wenn die Gefchöpfe in veränderlicher Entwidlung eine Reihe bon Zuſtänden durchlaufen, oder in wecfelnden Formen auf äußere Anläffe zurückwirken, fo find fie auch dazu nicht durch eine zufammenbanglofe Mehrheit vereinzelter Anftöße gezwungen. Aus der Einheit der Idee vielmehr, die ihr befeelender Trieb ift, ent- fpringen wie mit ber poetifchen Nothwendigfeit eines Gedichtes alle Die mannigfaltigen Formen des Daſeins und Benehmeng, die wir an ihnen beobachten. So ift jedes Einzelne eine Teben- dige gejchloffene Einheit, und bat Doch jedes zugleih an dem großen Ganzen den erflärenden ———— des befonderen Trau⸗ mes, von dem es bewegt wird.

Um der Wahrheit willen, welde fie unftreitig einſchließt, wird dieſe Auffaffung ihren Eindrud auf das menſchliche Gemüth nie verfehlen; aber vielfache Schwierigfeiten treten ihr Doc ent- gegen, wenn fie ernftlih an die Deutung der Erfheinungen geht. Für jenen unendlich hohen Inhalt der Weltjeele, deſſen einzelne Ausftrahlungen die Gejhöpfe der Natur find, hat nod Niemand einen Ausdruck gefunden, der den angeregten Erwartungen ge: nügen, oder uns für die verftändliche Lebendigkeit entſchädigen Könnte, mit der die Mythologie Die Natur erfüllt hatte, ‘Denn alle jene Strebungen nah Entwidlung und Entfaltung, nad

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Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielheit, nad Gegen- fäglichteit und Berföhtung der Gegenfäge, fie alle, darch bie man das Innere der Weltſeele zu bezeichnen fuchte, lönnen Doch dem unbefangenen Gemũth nur als nictige, Hinmerliche Aufgaben erſcheinen, kaum der fpielenden Thatigleit des lindlichen Geiftes würdig, am wenigfien geeignet, bie ernſten Schöpfungstriebe bes Weltgrundes auszudrũcken Ginge in folden Beitrebungen bie Fülle feines Inhaltes auf, fo Könnten wir nicht Ieugnen, daß jeder zufällig berausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menſch⸗ lichen Herzens unendlich ſeelenwoller fei als die Tiefe der Weltſeele.

Indefjen würde die Unvolllommenbeit unferer Berfudhe, dieſe Tiefe zu ermefien, nicht gegen bie Wahrheit der Anſicht jelbft beweijen; auch wenn jenes Höchfte uns beftändig nur in nnaus⸗ ſprechbarer Ahnung vorjchweben follte, Könnte es doc ein Gewinn fein, wenigſtens durch Zefthaltung diefer Ahnung Die Zebenbigfeit unferer Naturanſchauung zu fichern. Uber derſelbe Vorwurf, den wir der Mythologie zu machen hatten, erhebt ſich auch gegen die Leiſtungen dieſer Anſicht. Denn auch fie, jo ausdrücklich fie das Ganze der Natur zu umfaſſen verſpricht, bat doch im allen den Ausführungen, die fie fi) bisher gegeben, in Wahrheit nur jene auserwählten großen Umriſſe des Raturlaufs vor Augen ge- habt, auf weiche ſchon Die mythologiſche Phantafie ſich beſchränkie; fie vernadläffigt, wie dieſe, die Fülle der Heinen gemeinen Wirk- lichkeit, die, weniger poetiſch aber deſto unabweisbarer, ſich rings um uns her audbreitet. In der Regſamkeit des Thierlörpers, in dem Wachsthum der Pflanze, und no in der Kryſtallform des Feſten und in dem Umlauf der Geſtirne, kurz überall pa, wo die Einzelwirkungen der Elemente ſich zu einer befländigen ſich ſelbſt erhaltenden Geftalt des Dafeind umd der Bewegung be- reits zuſammengefunden haben, überall da mögen wir leicht den Widerſchein von Ideen finden, die wir im dem Innern der Welt- feele als Mufter ihres Schaffens voransfegen. Aber die Thaten des Hebeld und ber Schraube, die Geſetze des Gleichgewichts und des Stoßes, die Wirkungen des Drudes und der Spannung, dieſe

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alle haben immer weitab von dem Entwidlungsgange ber Welt: feele zu Tiegen geſchienen und find meift völlig außer dem Ge— fihtöfreife der fo Philoſophirenden geblieben. Die freie land⸗ ſchaftliche Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer bornehmen Naturbetrachtung nähren; die häusliche Geſchäftigkeit unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fonbern bie Möglichfeit feines Zuſtandekommens beachten lehrt, muß noth= wendig zu andern Gedanken führen; unvermeiblich wird durch fie die Lehre von den ſchöpferiſchen befeelenden Naturtrieben gezwungen, einer dritten Anficht zu meichen, der letzten von denen, Die im Großen in der Geichichte der menſchlichen Gedanken einen Ab- ſchnitt bilven.

In weit größerer Mannigfaltigfeit, als frühere Zeiten, um- gibt jest uns täglich eine Menge künſtlicher Vorrichtungen, deren lebloſe Beftandtheile mit zujammengreifenden Bewegungen die Regſamkeit des Lebendigen glüdlich nahahmen. Auf diefer merk⸗ würdigen Zwiſchenwelt felbftarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe ber Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menſchlichen Will- für verbanfen, Tann unfer Blick nicht wiederholt und dauernd ruben, ohne daß unfere ganze Weife der Naturauffaffung den Einfluß folder Beobachtungen erführe. Zur Bildung Ddiefer Machine, die ſich vor uns regt, Tag in den Stoffen, aus denen fie gebaut ift, Teinerlei innere Vorherbeftimmung; fein lebendiger Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zufammenge- führt, kein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be— wegungen eingehaudt. Wir wiffen e8 ja, daß nicht von innen heraus durch ein eignes Entwidlungsftreben, fondern durch frem- den Zwang von außen her dies bewunderungswerthe Spiel ein- ander ablöfender Zuftände an die verbundenen Maffen gelommten if. Biel einfachere Eigenfchaften und Wirkungsmeifen waren an fi den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad) all-

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gemeinen Gefegen mit der Veränderung beftimmter Bedingungen veränberlih. Diefe unfcheinbaren Kräfte bat unjere Technik durch bie Tiftige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter Umftänden zu wirken genöthigt, unter denen ihre Folgſamkeit gegen jene allgemeinen Gefege ohne eigne Abſicht Die Zwecke unferer Abfihten verwirklichen mußte. Iſt dies num jo, laſſen fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß- bare Sachen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu denen feine entwidlungSbegierige Neigung ihres eignen Innern fie trieb; warum follte e8 in der Natur felbft anders fein? Much in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten der Gefchöpfe doch nur von außen her durch den Zwang bes MWeltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt, und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Syſtem von Be— wegungen und Leiftungen entftehen läßt, welches nach allgemeinen Geſetzen der jevesmaligen Weife ihrer Verknüpfung entipricht. So würden alle Gefchöpfe das fein, wozu fie durch den Zufammen- fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werben, und fie befäßen ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie bie Erzeugniffe unferer Hände, von beren Selbftlofigfeit wir über- zeugt find.

Je vielfeitiger und Träftiger ſich die praftifche Herrſchaft Der menschlichen Technik über die Natur ansbreitet, um fo zuberficht- licher fehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und auch ba, mo wir nicht mehr von Grund aus Neues aus benugbaren Elemen- ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten fuchen, was die Natur freiwillig erzeugt, fcheinen die Erfolge dieſe Zuverſicht zu ftärken. Aus den Miſchungen der Stoffe, welche die Erde uns Darbietet, hat Die Hand des Chemiker zahlloſe andere hervorgebracht, Die niemal$ in der Natur beftanden, ehe die Kunft fie bargeftellt hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigfeit ihres Daſeins, durch den Glanz ihrer finnlichen Eigenſchaften, durch die Vielfeitigleit ihrer Wirkſamkeiten den merkwürdigſten derer ebenbirtig, welde die Natur uns als ihre eignen- Erzeugniſſe

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ſchenkt. Künftlichen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege unterworfen, haben die Pflanzen Blüthe und Frucht zu erhöhter Schönheit entwideln müffen und unfere Gärten füllt eine Flora, die fo, wie fie und entzüct, nirgends eine natürliche Heimat hat. Selbſt die Geftalt der Thiere erfährt den umbildenden und ver- edelnden Einfluß der menfhlihen Zucht; wohin wir und aud wenden, wir begegnen kaum irgendwo den urfprünglichen Zügen ber Natur; in allen ihren Gebieten bat der berechnende Eingriff des Menſchen folgenreiche Veränderungen zu ftiften gemußt. Der Eindrud diefer Beobachtungen verftärft nothwendig die Ver— muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen befeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzufegen hätten, fondern durch Zuſammenſetzung berjelben Einzelträfte, durch deren Anwendung e8 uns gelingt, ihre Geſchöpfe umzu- geitalten.

Eine andere Veberlegung aber fchien diefe Bermuthung zur Gewißheit zu mahen. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur völlig auf fich ſelbſt beruhte und aus fich ſelbſt fich entmidelte, ohne einer Äußeren Welt zu bedürfen oder für ihre Eingriffe zu— gänglich zu fein, Dann wäre es möglich, jedes dieſer einzelnen auf einer einzigen, ihm eigenthlimlichen, befeelenden Idee beruhend zu denfen, die jede Bejonderheit feiner Fünftigen Entfaltung mit porbedenfender finniger Confequenz aus ſich entließe. Und fo eben Hatte jene Anficht, welde an die befeelenven Triebe der Dinge glaubte, die Natur aufzufaffen geliebt; fie hatte die Wirf- lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein- zelne Geftalt dieſes Gemäldes auf feinen ihm eigenthlimlichen Sinn zu deuten geſucht. Worüber diefe Beſchaulichkeit hinmweg- gefehen hatte, das fiel um fo mehr der neuen Denfart ind Auge, die fi im praftiichen Verkehr mit den Dingen gewöhnt hatte, nah den Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu Stande kommen kann. Ihr war es Har, daß die Wirklich— feit ein jehr bewegtes Bild ift, defien einzelne Theile in beftän- Diger Wechſelwirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern

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und zerftören. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für fid wählt und lebt, fondern in dem Zufammenbang einer Wirk- lichfeit, von der es leiden kann, Alles alfo, was Bedürfniſſe hat und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun und Laſſen fi den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes unterwerfen müſſen, ber, für alle Wirkliche gleihmäßig gültig, dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bedürfniſſe allein gewähren ann. Jeder Berlehr verlangt biefe gegenfeitige Ergreifbarkeit ber Verkehrenden für einander und fest nothmwendig irgend en allgemeinverbindliches Recht voraus, welches die Größe und Form der wechfelfeitigen Leiftungen beftimmt, welche fie austauſchen. Nun ift e8 der bebeutfamften einzelnen Erſcheinung nicht mehr möglich, fi) als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich jelbft verftändliche Einheit zu geberden; wie fie fich entfaltet, was fie leiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen- bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar⸗ über von Ewigkeit her entichieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Geſetze des Welt- verfehrs und durch Die befondern Umftände zugemefjen, unter denen fie von ihm erfaßt wird.

Die unorganifhe Natur diefer Betrachtungsweife zu ent- ziehen hat man felten ernftlich verſucht; man hat Länger ſich ge— ſträubt ihr auch die lebendigen Gefchöpfe zu unterwerfen. Aber biefelben Gründe nöthigen uns auch bier fie zuzulaffen. Thiere und Pflanzen erzeugen weder aus fich ſelbſt noch aus Nichts Die Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wächſt; fie entlehnen fie aus dem allgemeinen Borrath der Natur. In beftändigem Kreislauf überliefert Die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan= zenreiche und dieſes der Thierwelt jene unzerftörbaren Elemente, die bald dieſer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweis in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurüdtreten, zu Allem benugbar, aber aus eignem Antriebe weder fir die eine noch für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Diefe Noth- wendigfeit, aus dem allgemeinen Vorrath zu fchöpfen und die ge-

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fuchten Elemente erft aus ſchon beftehenden Verbindungen zu löfen, um fie zu dem eignen Dienfte zu zwingen, fett dem freien Schwunge ber Lebenstraft in jedem Gefchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht würde diefe Kraft, den ganzen Lauf der künftigen Entwidlung vor- bedenfend, mit einem Griffe und aus der Einheit einer Abſicht heraus die Entfaltung des Lebens Ienfen, ihrerfeit8 geneigt, jene Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber die unentbehrlichen Stoffe, deren fie bebarf, werden nicht die gleiche Neigung theilen; fie werben unerbittlid verlangen, nad) denfelben Gefegen auch hier gerichtet zu werden, denen ihre Natur in allen anderen Fällen unterworfen ift. Niemals wird Die Pflanze die Kohlenfäure des Luftkreiſes zerſetzen, ohne der chemiſchen Ver⸗ wanbtichaft, die deren Theile zufammenbält, eine andere in be- ftimmten Maße überwiegende Berwandtihaft entgegengefeßt zu haben, und nie wird die Kohlenfäure die trennende Kraft einer andern Anziehung anerkennen, als einer foldyen, Die an ein be- ftimmtes Maß einer körperlichen Maſſe gebunden if. Und wo das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in die Formen zu bringen ift, welde der Plan der Organifation verlangt, da wird e8 ebenfo wenig freiwillig fi dieſer Geftaltung fügen. Wie jede zu bewegende Laſt wird es vielmehr erwarten, durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Maffen ausgeübt, feine Theilchen in die verlangte Lage gefchoben zu fehen, nad) denfelben Geſetzen einer allgemeinen Mechanik, nad) denen auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen der Stoffe erfolgen.

Welcher lebendige Trieb daher auch das Innere der Ge— ſchöpfe befeelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beſtehen gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer bez abfichtigten Leiftungen; fie verbanfen beides in jedem Augenblide den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theilden, die in Berührung mit der Außenwelt tretend Neize aufzunehmen und auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnreiche Aufeinanderfolge die Lebenserfheinungen eines Gejchöpfes zu dem Ganzen einer zufaommenhängenden Entwidlung verknüpfen mag:

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auch fie wird ihm nur gewährt Durch die urfprünglich vorhandene Anorbnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg der einzelnen Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, fo wie durch die fortichrei- tende Veränderung, die diefe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer Thätigkeit bereiten.

Sp lange die Naturforfhung von der Einheit jenes leben- Digen Triebes ausging und in ihm die hinreichende Erflärungs- quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Gefchöpfes fuchte, ift fie wenig glüdlih in der Aufhellung der Erjcheinungen ge= weſen. Site nahm den lebhafteften Aufſchwung, feitdem fie Die Thätigleit der kleinſten Theile ins Auge faßte, und, von Punkt zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, die Entftehung des Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jenes Innere, die eine Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebradhter Verehrung in der Meinung der Menſchen beftehen, und fie gab theoretifch zu, daß Die Idee des Ganzen ber Wirkſamkeit der Theile vorhergehe, während fie praftifh fi längſt darauf eingerichtet Hatte, alle wirflih fruchtbringende Erklärung nur in dem Zuſammenwirken der Theile zu ſuchen. Diefe lebte Scheu hat die Gegenwart überwunden, und müde, ein Inneres zu verehren, das doch nie werfthätig fich äußerte, hat fie die Mare und beftimmte Auf- faflungsweife der mehanifhen Naturwiſſenſchaft ebenfo zum Bortbeil der Forihung wie unleugbar zur Beunruhigung des Gemüths über alle Gegenftände unferer Naturfenntnig ausgevehnt.

An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch das Ganze zufannnengefegter Bildungen befeelte, fegte fie die ein- fachen und unzerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig anbaften. Mit veränderlicher Thätigkeit hatte der Trieb bald diefe bald jene Wirfungsweife entfaltet, hier zurüdbaltend mit feinem Vermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be- ſchleunigend; ausgleihend und ergänzend, wo es Noth that, war er nicht durch ein immer gleiches Gefeg feines Handelns ein- geengt, fondern nur dur die Rückſicht auf das Endziel beftimmt,

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zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen follten. Mit unveränderlicher ſtets gleicher Wirkungsweife haftet dagegen bie Kraft an den Elementen der Maffe, in jevem Augenblide Alles mit Nothwendigkeit Teiftend, was nach allgemeinen Gefeten die vorhandenen Umflände gebieten, und weder im Stande, von ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzuhalten, noch zu ergänzen, was bie Ungunft der Umftände ihr verfagt. Bon feinem Ziele geleitet, das vor ihr ſchwebte, fondern nur durch die Gewalt bes Naturlaufes, der hinter ihr fteht, vorwärts getrieben, ftrebt fie nicht von felbft der Verwirklichung eines Planes zu, fondern jede zufammenbängende Ordnung mannigfacher Wirkungen beruht auf den eigenthlimlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente durch die einmal vorhandene Form ihrer Verknüpfung zufammen- zuwirken gezwungen find.

Indem fo die Naturwiffenihaft die Einheit der belebenden Macht in die BZeriplitterung unbeftimmt vieler Elementarfräfte auflöft und von der Verbindungsweiſe diefer die endliche Geftalt der Gefchöpfe begründet denkt, läßt fie Die Frage nad dem Ur- fprunge diefer Anoronungen übrig, die fo glüdlich gewählt fich finden, daß das Schönfte und Bebeutfamfte der Natur ſich als ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet, die Erhaltung der einmal beftehenden Welt zu erflären, darf fie in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter- fuhungen ausfchliegen. Iſt fie zuweilen geneigt, den Urfprung Diefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, für ben befondere Gründe aufzufuhen unnöthig fer, fo ift e8 ihr doch eben fo mög- lid, die erfte Stiftung derfelben von der Weisheit eines gött- lichen Geiftes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, aud Dies vielleicht mit Weberfchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von der fchöpferiichen Freiheit dieſes Geiſtes fein Hauch in das Ge— fchaffene übergegangen fei, und daß die Natur, einmal vorhanden, fih wie jedes Kunſterzeugniß nach jenen unbeugfamen Gefegen forterhalte, deren Unveränderlichleit die Weisheit des Urhebers ebenfo jehr wie die völlige Selbftlofigfeit des Geſchöpfes bezeugt.

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Bielheit in der Einheit und Einheit in der Bielbeit, nad Gegen- fäglichleit und Verſöhnung der Gegenfäge, fie alle, durch die man das Innere der Weltfeele zu bezeichnen fuchte, Können doch dem unbefangenen Gemüth nur als nichtige, kümmerliche Aufgaben ericheinen, kaum der fpielenden Thätigfeit des kindlichen Geiftes würdig, am wenigften geeignet, die ernſten Schöpfungstriebe des Weltgrundes auszudrüden. Ginge in folden Beftrebungen bie Fülle feines Inhaltes auf, jo Könnten wir nicht leugnen, daß jeder zufällig herausgegriffene Augenblid aus dem Leben eines menſch⸗ lichen Herzens unendlich feelenvoller fei als Die Tiefe der Weltſeele.

Indefjen würde die Unvollkommenheit unferer Berfuche, dieſe Tiefe zu ermeflen, nicht gegen die Wahrheit der Anſicht jelbft beweifen; aud wenn jenes Höchſte uns beftändig nur in unaus- ſprechbarer Ahnung vorſchweben follte, Fönnte e8 Doch ein Gewinn fein, wenigſtens durch Fefthaltung diefer Ahnung die Lebendigkeit unferer Naturanſchauung zu fihern. Aber derſelbe Vorwurf, den wir der Mythologie zu macden hatten, erhebt fi) auch gegen die Leiftungen dieſer Anfiht. Denn auch fie, To ausdrücklich fie das Ganze der Natur zu umfaffen veripricht, bat doch in allen den Ausführungen, die fie ſich bisher gegeben, in Wahrheit nur jene auserwählten großen Umriffe des Naturlaufs vor Augen ge- habt, auf weldhe ſchon die mythologiſche Phantafte ſich befchränfte ; fie vernachläſſigt, wie dieſe, Die Fülle der Kleinen gemeinen Wirk- Tichfeit, Die, weniger poetifch aber deſto unabweisbarer, fi rings um uns her ausbreitet. In der Regſamkeit des Thierkörpers, in dem Wachsthum der Pflanze, und nod in der Kryſtallform des Selten und in dem Umlauf der Geftirne, kurz überall da, wo die Einzelwirkungen der Elemente fi zu einer beftändigen fich ſelbſt erhaltenden Geftalt des Dafeins und der Bewegung be- reits zufammengefunden haben, überall da mögen wir leicht ben Widerſchein von Ideen finden, die wir in dem Innern der Welt- jeele als Mufter ihres Schaffens vorausſetzen. Aber die Thaten des Hebels und der Schraube, Die Geſetze des Gleichgewichts und des Stoßes, die Wirkungen des Drudes und der Spannung, dieſe

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alle haben immer weitab von dem Entwidlungsgange der Welt- feele zu Tiegen geſchienen und find meift völlig außer dem Ge⸗ fihtöfreife der fo Philofophirenden geblieben. Die freie land⸗ Ihaftlihe Schönheit der Schöpfung mag die Neigung zu diefer vornehmen Naturbetrachtung nähren; die häusliche Gefchäftigfeit unferer Technik, die nicht das Fertige bewundern, fondern bie Möglichleit feines Zuſtandekommens beachten lehrt, muß noth⸗ wendig zu andern Gedanken führen ; unvermeidlich wird durch fie die Lehre von den ſchöpferiſchen befeelenden Naturtrieben gezwungen, einer dritten Anficht zu weichen, der letzten von denen, die im Großen in der Gefchihte der menfchliden Gedanken einen Ab⸗ Ihnitt bilden.

In weit größerer Mannigfaltigfeit, als frühere Zeiten, um— gibt jet uns täglich eine Menge künftliher Vorrichtungen, deren Veblofe Beftandtheile mit zufanımengreifenden Berwegungen Die Regſamkeit des Lebendigen glücklich nachahmen. Auf diefer mer!- würdigen Zwiſchenwelt jelbftarbeitender Werkzeuge, die ihre Stoffe der Natur, die Form ihrer Leiftung aber der menſchlichen Will- fir verdanken, kann unfer Blid nicht wiederholt und dauernd ruben, obne daß unfere ganze Weife der Naturauffaffung den Einfluß folder Beobachtungen erführe Zur Bildung Diefer Maſchine, die ſich vor uns regt, lag in den Stoffen, aus denen fie gebaut ift, Teinerlei innere Vorherbeſtimmung; fein Tebendiger Naturzwed hat fie in diefe Form der Vereinigung zuſammenge⸗ führt, kein befeelender Trieb ihnen den Rhythmus ihrer Be- wegungen eingehaucdt. Wir wiffen e8 ja, daß nicht von innen heraus durch ein eignes Entwidlungsftreben, fondern durch frem⸗ den Zwang von außen her dies bemunderungsmwerthe Spiel ein= ander ablöfenver Zuftände an die verbundenen Maſſen gelommen if. Viel einfachere Eigenfhaften und Wirkungsweiſen waren an fh den einzelnen Stoffen eigen, die wir verfnüpften, nad all

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gemeinen Gefegen mit der Veränderung beftunmter Bedingungen veränderlih. Diefe unfcheinbaren Kräfte hat unfere Technik durch die liſtige Verbindung, in welche fie ihre Träger verftridte, unter Umftänden zu wirfen genöthigt, unter denen ihre Folgfamteit gegen jene allgemeinen Geſetze ohne eigne Abficht die Zwecke unferer Abfihten verwirklichen mußte. Iſt dies nun fo, laſſen fih unter unfern Händen die Elemente der Natur wie benuß- bare Sachen zu den merkwürdigſten Leiftungen verbinden, zu denen feine entwidlungsbegierige Neigung ihres eignen Innern fie trieb; warum follte e8 in ber Natur felbft anders fein? Auch in ihr vielleicht entftehen die bedeutungsvollen Geftalten der Gefchöpfe doch nur von außen her dur den Zwang bes Weltlaufs, der die Elemente bald fo bald anders zufammenführt, und unvermeidlich in jeder diefer Gruppen das Suiten von Be- wegungen und Leiftungen entftehen läßt, welches nad allgemeinen Geſetzen der jevesmaligen Weife ihrer Verknüpfung entfpricht. So würden alle Geſchöpfe das fein, wozu fie Dur) den Zuſammen⸗ fluß vieler äußeren Bedingungen gemacht werben, und fie befäßen ebenfo wenig einen lebendigen Trieb in ihrem Innern, wie Die Erzeugniffe unferer Hände, von deren Selbftlofigfeit wir über- zeugt find.

Je vielfeitiger und Träftiger fi die praktiſche Herrſchaft der menſchlichen Technik über die Natur ausbreitet, um fo zuverficht- licher ſehen wir auch diefe Folgerung gezogen. Und aud da, wo wir nit mehr von Grund aus Neued aus benugbaren Elemen- ten aufbauen, fondern nur umzugeftalten fuchen, was bie Natur freiwillig erzeugt, ſcheinen die Erfolge dieſe Zuverficht zu ftärken. Aus den Mifhungen der Stoffe, welche die Erde uns darbietet, hat die Hand des Chemifers zahlloſe andere hervorgebracht, Die niemals in der Natur beftanden, ehe die Kunft fie bargeftellt hatte, und viele von ihnen find durch Dauer und Feftigkeit ihres Daſeins, durch den Glanz ihrer ſinnlichen Eigenfhaften, durch die Bielfeitigfeit ihrer Wirkſamkeiten den merkwürdigſten derer ebenbürtig, welde die Natur und als ihre eignen" Erzeugniffe

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ſchenkt. Künftlihen Befruchtungen und langer forgfamer Pflege unterworfen, haben die Pflanzen Blüthe und Frucht zu erhöhter Schönheit entwideln müſſen und unfere Gärten füllt eine Flora, bie jo, wie fie und entzüct, nirgends eine natürliche Heimat hat. Selbſt die Geftalt der Thiere erfährt ben umbildenden und ver: edelnden Einfluß der menjhlichen Zucht; wohn wir uns aud wenden, wir begegnen faum irgendwo ben urfprünglidden Zügen ber Natur; in allen ihren Gebieten bat der berechnende Eingriff des Menſchen folgenreiche Beränderungen zu ftiften gemußt. Der Eindrud dieſer Beobachtungen verſtärkt nothwendig bie Ber- muthung, die Natur erzeuge ihre Gebilde nicht durch von innen beſeelende Triebe, denen wir nichts Gleichartiges entgegenzuſetzen hätten, ſondern durch Zuſammenſetzung derſelben Einzelkräfte, durch deren Anwendung es und gelingt, ihre Geſchöpfe umzu⸗ geftalten.

Eine andere Meberlegung aber ſchien dieſe Bermuthung zur Gewißheit zu maden. Wenn jedes einzelne Gebilde der Natur völlig auf fich felbft beruhte und aus ſich felbft fi entwidelte, ohne einer Äußeren Welt zu bedürfen oder flir ihre Eingriffe zu- gänglih zu fein, dann wäre e8 möglich, jedes diefer einzelnen auf einer einzigen, ihm eigenthiimlichen, befeelenden Idee beruhend zu denfen, die jede Beſonderheit feiner künftigen Entfaltung mit vorbedenkender finniger Confequenz aus fi entliege. Und fo eben hatte jene Anfiht, welde an die befeelenden Triebe der Dinge glaubte, die Natur aufzufaffen geliebt; fie hatte die Wirf- lichkeit als ein großes ruhendes Bild vorgeftellt, und jede ein- zelne Geftalt dieſes Gemäldes auf feinen ihm eigenthümlichen Sinn zu deuten geſucht. Worüber dieſe Beichaulichkeit hinweg: gefehen hatte, das fiel um fo mehr der neuen Denfart ind Auge, bie fi im praftifchen Verkehr mit den Dingen gewöhnt hatte, nad den Wegen zu fragen, auf denen jegliches Erzeugniß zu Stande fommen kann. Ihr war e8 Har, daß die Wirflich- feit ein fehr bewegtes Bild ift, deſſen einzelne Theile in beftän- biger Wechſelwirkung einander erzeugen, unterhalten, verändern

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und zerftören. Alles aber, was nicht einfam in einer Welt für fih wächſt und lebt, fondern in dem Zuſammenhang einer Wirk- Tichleit, von der es leiden kann, Alles aljo, was Bebürfniffe bat und Bedingungen feiner Entwidlung, das wird in feinem Thun und Laſſen fi) den allgemeinen Gefegen eines Welthaushaltes unterwerfen müſſen, der, für alles Wirfliche gleichmäßig gültig, dem Einzelnen die Befriedigung feiner Bebürfnifje allein gewähren ann. Jeder Verkehr verlangt dieſe gegenfeitige Ergreifbarfeit ber Berlehrenden fiir einander und fegt nothwendig irgend em allgemeinverbindliches Recht voraus, welches die Größe und Form der wechjelfeitigen Leiftungen beftinnnt, welche fie austaufchen. Nun ift e8 der bedeutſamſten einzelnen Erfcheinung nicht mehr möglich, fih als eine abgefchloffene und untheilbare, nur aus fich ſelbſt verftändliche Einheit zu geberden; wie fie fich entfaltet, was fie Teiftet und was fie leidet, das ift nicht mehr die unberechen- bare Erfindung ihres eignen Genius, fondern außer ihr ift dar⸗ über von Ewigfeit her entichieden, und jede ihrer Wirkungen, jeder ihrer Zuftände wird ihr durch die allgemeinen Geſetze des Welt- verfehr8 und durch die befondern Umftände zugemeffen, unter denen fie von ihm erfaßt wird.

Die unorgantiche Natur diefer Betrachtungsweiſe zu ent= ziehen hat man felten ernftlich verſucht; man hat Länger fih ges firäubt ihr aud die lebendigen Gefhöpfe zu unterwerfen. Aber diefelben Gründe nöthigen und auch hier fie zuzulaſſen. Thiere und Pflanzen erzeugen weder aus fidh ſelbſt nod aus Nichts Die Stoffe, durch deren Anlagerung ihre Geftalt wächſt; fie entlehnen fie aus dem allgemeinen Vorrath der Natur. Im beftändigem Kreislauf überliefert die Erdrinde und das Luftmeer dem Pflan- zenveiche und diefe der Thierwelt jene unzerftörbaren Elemente, die bald diefer bald jener Form des Lebens dienen und zeitweiß in das formlofe Dafein unorganifher Körper zurüdtreten, zu Allen benutbar, aber aus eignem Antriebe weder für Die eine noch für die andere Form ihrer Verwendung begeiftert. Diefe Noth- wendigfeit, aus dem allgemeinen Borrath zu Ichöpfen und Die ge=

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fuchten Elemente erft aus ſchon beftehenden Verbindungen zu löſen, um fie zu dem eignen Dienfte zu zwingen, fegt dem freien Schwunge ber Lebenskraft in jedem Geſchöpfe enge Grenzen. Gern vielleicht würde dieſe Kraft, den ganzen Lauf der künftigen Entwidlung vor: bedenkend, mit einem Griffe und aus ber Einheit einer Abficht heraus die Entfaltung des Lebens Ienfen, ihrerſeits geneigt, jene Geſetze zu überfpringen, welche der übrigen Welt gelten. Aber die unentbehrlihen Stoffe, deren fie bebarf, werben nicht die gleiche Neigung theilen; fie werden unerbittlich verlangen, nad benfelben Gefegen auch bier gerichtet zu werden, denen ihre Natur in allen anderen Fällen unterworfen ift. Niemals wird die Pflanze die Kohlenfäure des Luftkreiſes zerfegen, ohne ber hemilchen Ver⸗ wandtſchaft, Die deren Theile zuſammenhält, eine andere in be- ſtimmtem Maße überwiegende Verwandtſchaft entgegengefegt zu haben, und nie wird die Kohlenfäure Die trennende Kraft einer andern Anziehung anerfennen, als einer folden, die an ein be- ſtimmtes Maß einer körperlichen Maſſe gebunden if. Und wo das gewonnene Material im Innern des lebendigen Körpers in die Formen zu bringen ift, welde der Plan der Organifation verlangt, da wird es ebenſo wenig freimillig fi diefer Geftaltung fügen. Wie jede zu bewegende Laft wird es vielmehr erwarten, durch beftimmte Größen bewegender Kräfte, von beftimmten Mafjen ausgeübt, feine Theilden in die verlangte Lage gefchoben zu fehen, nad) denfelben Geſetzen einer allgemeinen Mechanik, nad denen auch außerhalb des Lebendigen alle Bewegungen der Stoffe erfolgen.

Welcher Tebendige Trieb daher auch das Innere der Ge- ſchöpfe befeelen mag: nicht ihm verdanken fie doch ihr Beftehen gegen die Angriffe des Aeußern und die Verwirklichung ihrer be= abfichtigten Leiftungen; fie verdanken beides in jedem Augenblide den urfprünglichen Kräften ihrer elementaren Theildhen, die in Berührung mit der Außenwelt tretend Reize aufzunehmen und auf fie wirkſam zu antworten verftehen. Und welche finnveiche Aufeinanderfolge die Lebenserſcheinungen eines Gefchöpfes zu dem Ganzen einer zufammenbängenden Entwidlung verknüpfen mag:

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auch fie wird ihm nur gewährt durch die urfprünglich vorhandene Anordnung feiner Theile, die dem Gefammterfolg der einzelnen Wirkungen beftimmte Geftalten gibt, jo mie durch die fortichrei= tende Veränderung, die diefe Theile ſelbſt fih im Laufe ihrer Thätigfeit bereiten.

So lange die Naturforihung von der Einheit jenes Teben- digen Triebes ausging und in ibm die hinreichende Erflärungs- quelle für die veränderlihe Entwidlung eines Geſchöpfes fuchte, ift fie wenig glüdlih in der Aufbellung der Erſcheinungen ge= wejen. Ste nahm den lebhafteften Aufſchwung, feitden fie Die Thätigfeit der Tleinften Theile ind Auge faßte, und, von Punkt zu Punkt die einzelnen Wirkungen zufammenfegend, Die Entftehung des Ganzen aus der vereinigten Anftrengung unzähliger Elemente verfolgte. Noch Tieß fie eine Zeit lang jene Innere, die eine Lebenskraft jedes Gefchöpfes, mit hergebrachter Verehrung in ber Meinung der Menfchen beftehen, und fie gab theoretifch zu, Daß die Idee des Ganzen der Wirkſamkeit der Theile vorhergehe, während fie praftifch ſich längſt darauf eingerichtet hatte, alle wirklich fruchtbringende Erflärung nur in dem Zuſammenwirken der Theile zu ſuchen. Diefe legte Scheu hat die Gegenwart überwunden, und müde, ein Inneres zu verehren, das Doc nie werfthätig ſich äufßerte, hat fie die Mare und beftimmte Auf- fafjungsweife der mechan iſchen Natur wiſſenſchaft ebenfo zum Vortheil der Forſchung wie unleugbar zur Beunruhigung des Gemüths über alle Gegenſtände unferer Naturkenntniß ausgedehnt.

An die Stelle des lebendigen Triebes, der als Ein Hauch das Ganze zuſammengeſetzter Bildungen beſeelte, ſetzte fie Die ein- fachen und ungerftörbaren Kräfte, welche den Elementen beftändig anbaften. Mit veränderlicer Thätigfeit hatte der Trieb bald dieſe bald jene Wirkungsweife entfaltet, bier zurüdbaltend mit feinem Vermögen, dort mit Anftrengung feine Aeußerung be- ſchleunigend; ausgleichend umd ergänzend, wo es Noth that, war er nicht durch ein immer gleiches Geſetz feines Handelns ein- geengt, fondern nur durch die Rückſicht auf das Endziel beftummt,

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zu dem alle Einzelheiten der Entwidlung zufammenlaufen ſollten. Mit unveränderlicher ſtets gleicher Wirkungsweife haftet Dagegen die Kraft an den Elementen der Waffe, in jedem Augenblide Alles mit Nothwendigfeit leiftend, was nad allgemeinen Gefegen die vorhandenen Umflände gebieten, und weder im Stande, von ihrer möglichen Wirkung etwas zurüdzubalten, noch zu ergänzen, was die Ungunft der Umftände ihr verfagt. Von feinem Ziele geleitet, das vor ihr ſchwebte, fondern nur durd die Gewalt bes Naturlaufes, der hinter ihr fteht, vorwärts getrieben, ftrebt fie nicht von ſelbſt der Verwirklichung eines Planes zu, fondern jede zufammenhängende Ordnung mannigfacher Wirkungen beruht auf den eigenthümlichen Bedingungen, unter welchen zahlreiche Elemente dur Die einmal vorhandene Form ihrer Verknüpfung zufammen- zuwirfen gezwungen find.

Indem jo die Naturwiſſenſchaft die Einheit der belebenven Macht in die Zerfplitterung unbeftimmt vieler Elementarfräfte auflöft und von der Verbindungsmeife diefer die endliche Geftalt der Geſchöpfe begründet denkt, läßt fie die Frage nach dem Ur— fprunge diefer Anoronungen übrig, die fo glüdlih gewählt fich finden, daß das Schönfte und Bedeutfamfte der Natur fi als ihre nothwendige Folge entwideln muß. Nur darauf gerichtet, die Erhaltung der einmal beftehenden Welt zu erflären, darf fie in der That diefe Frage aus dem engeren Gebiete ihrer Unter: fuhungen ausſchließen. Iſt fie zumeilen geneigt, den Urfprung biefer Ordnung einem Zufall zuzurechnen, fir ben bejondere Gründe aufzuſuchen unnöthig fei, fo ift e8 ihr doch eben fo mög- lich, die erfte Stiftung derfelben von der Weisheit eines gött- lichen Geiftes abzuleiten. Aber allerdings pflegt fie, auch dies pielleicht mit Ueberſchreitung ihrer Befugniß, zu behaupten, daß von der ſchöpferiſchen Freiheit dieſes Geiftes kein Hauch in Das Ge- Tchaffene übergegangen fei, und Daß die Natur, einmal vorhanden, fih wie jedes Kunfterzeugniß nad jenen unbeugfamen Gefegen forterhalte, deren Unveränderlichleit die Weisheit bes Urhebers ebenfo ſehr wie die völlige Selbftlofigleit des Geſchöpfes bezeugt.

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Und in diefem wunderbaren Automat der Natur, deſſen . zaftlofer Gang uns überall umgibt, welche Stellung nehmen wir ſelbſt ein? Wir, die wir einft verwandte Göttergeftalten hinter der Hülle der Erſcheinungen zu erkennen glaubten; wir, in denen die allgemeine Vernunft der Weltfeele mwenigftens traumhaft ſich großer Zwecke und eines ewigen Triebes bewußt wurde, ber uns mit der Natur zu einem gemeinfamen großen Weltbau zufammen- ſchließt? Mit den Ahnungen unferes Gemüthes, mit den or: derungen unferes fittlihen Weſens, mit der ganzen Wärme unjeres inneren Lebens fühlen wir und fremd in diefem Neiche der Sachen, das kein Inneres kennt. Doch vielleicht iſt auch dieſes Gefühl des Zwieſpalts nur der Reſt eines Irrthums, den wir abthun müffen.

Denn nit allein die Anfihten der Natur haben im Laufe der Beit die geſchilderten Wandelungen erfahren; mit ihnen hat zugleih unfere Eelbfterfenntnig neue Geftalten angenommen. Arglos konnte das Bewußtſein der jugendlichen Menfchheit fich jeiner Lebendigkeit erfreuen, die, gleich der Pflanze Alles aus eignem Keime hervortreibend und von feinem Gefühle fremden Zwanges bebrüdt, auch das Bedürfniß einer Anerfermung ihrer Vreiheit nicht empfand. Die fortfchreitende Erfahrung und die allmählich fich erweiternden Ueberſichten des menschlichen Daſeins zeigten auch die Entwidlung des geiftigen Lebens an allgemeine fir Alle giltige Gefege gebunden und dem eignen Verdienſte bes Einzelnen mehr und mehr entzogen. Mit Beruhigung unterwarf fih da8 Gemüth diefer Nothwendigfeit, fo Tange es in ihr die ftill zwingende Gewalt der einen ewigen Idee ſah, in der wir leben und find; es fühlte den Drud, als an die Stelle diefer auch hier Die zerftreute Vielheit der bedingenden und geftaltenden Kräfte trat. Wie Vieles von dem, was wir zu der unantaſt⸗ barſten Eigenheit unſers perſönlichen Weſens zählten, zeigte ſich als das Erzeugniß von Einflüſſen, die ſich an uns kreuzen, unter⸗ ſtützen und bekämpfen! Immer mehr ſchmolz die Fülle deſſen zu- ſammen, was wir an uns ſelbſt unſer wahres Eigenthum nennen

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durften; einen Theil nahmen die körperlichen Werkzeuge als Ge- ſchenk ihrer Organifation in Anſpruch, ein anderer fiel den all- gemeinen Kräften des Seelenlebens zu, die verbienftlos in allen Einzelnen nad gleichen Gefegen thätig find; ein Kleines Gebiet allein, das, welches die Freiheit unſers fittlihen Handelns be- herrſcht und geftaltet, ſchien den Zufluchtsort deſſen zu bilben, was wir felbft find. Auch dieſem Yegten Punkte wahrhafter Innerlichkeit Tieß die Wiffenfhaft, als einem möglichen Gegen- ftande des Glaubens, ein zweifelhaftes Beſtehen; aud ihm ſcheint fie im Begriff völlig aufzugeben. Seitdem man und wieber- holt, daß der allgemeine Haushalt der Welt eine gewifle jähr- lihe Summe der Berbrechen ebenjo erfordere, wie eine gewiſſe Größe der Temperatur: feitdem Tiegt e8 nahe, auch in dem geiftigen Leben den ununterbrodenen Zuſammenhang eines blinden Mecha- nismus zu fehen. Gleich dem beftändigen Wechjel des Aeußern wird aud unfere innere Regſamkeit nur noch ein Wirbel von Bewegungen fein, den die ungezählten Atome unſeres Nerven- gebäubes durch unabläffige Wechfelmirfung unterhalten. Weit über die unbefangene Kindlichleit mythologiſcher Weltauffaffung find wir hinausgelommen; wir haben nicht allein bie perfönlichen Naturgeifter aufgegeben, fondern die Möglichkeit eines perfönlichen Dafeins überhaupt zu dem dunkelſten Räthſel gemacht. Cinge- Ichloffen in das große Automat der Natur fteht das Heinere des menjchlichen Geiftes; künſtlicher als jedes andere, ba es feine eignen Regungen fühlt und bie des andern Spielzeug8 bewun- dert; aber zulegt zerführen feine Beftandbtheile doch auch, und der Ernſt und der Scherz, die Liebe und ber Haß, die dieſes feltfame Weſen bewegten, wären dabın.

Auch dieſe legten Confequenzen find gezogen worden, bier mit Jubel, dort mit verzweifelndem Gemüth. Aber auch fie find nicht allgemein gezogen worden; an den verſchiedenſten Punkten des Weges zu ihnen haben Unzählige angehalten und nad, ver- ſchiedenen Richtungen hin dem unerwünjchten Ziele zu entgehen verſucht. Und durch alle Ummandelungen der Anfichten hindurch

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bat doch auch ein einfadher Glaube fi ungeftört erhalten, ber Glaube an einen ewigen Urheber, der dem Reiche der Geifter lebendige Freiheit zum Streben nad einem heiligen Ziele verlieh und fie dem Reiche der Sachen verfagte, Damit es in blinder Nothwendigkeit Schauplag und Mittel fir die Thätigkeit bes Strebenden fei. Mit diefer Maren Theilung gewann das Gemüth die Möglichkeit, in dem Kreife der Dinge fih einzurichten, bauend auf ihre unmandelbare Gejetlichfeit und feine eigne Freiheit. Aber zu erringen würde ihm noch die andere Möglichkeit bleiben, die zahlreichen Fragen über die gegenfeitige Begrenzung der beiden Gebiete des Freien und des Nothwendigen zu beantworten, zu benen die aufmerkſame Beobachtung der Einzelheiten des Natur⸗ laufs anregt.

Bon folden Näthfeln fühlen wir und umftridt; nicht als ob fie nicht zu jeder Zeit vorhanden gewelen und empfunden worden wären; aber mehr als je hat fie jet die wachſende Ver⸗ breitung der Naturfenntniß in den Vordergrund unferer Betrach⸗ tungen gerüdt. Zu lange hat ohne Zweifel der menſchliche Geift in der Ausbildung feiner Weltanficht jenes dunkle, ftarre Element der Nothwendigkeit, das Reich der Sachen, überſehen; mit fteigen- der Macht ift e8 im Fortichritte der Erfahrung bervorgetreten, und vergeblich würden wir uns zu verbergen ftreben, daß feine Herrihaft über die finnliche Welt feſt ſteht. Wollen wir dennoch ‚von neuem verjuchen, ihm das zu entziehen, was wir ihm nicht ohne Aufgeben unferes eignen Weſens überlaffen zu Können glauben, fo birfen wir nicht damit beginnen, das zu beftreiten, was der vereinigte Eindrud der gefammten Erfahrung immer wiederholt uns beftätigt. Auch für unfer eignes körperliches Dafein müfjen wir vielmehr die volllommene Giltigfeit jener Grundſätze zugeftehen, nach denen die mechanifche Naturforfhung die Sinnenwelt erflärt. Indeſſen unterfcheidet ſich wielleicht das, was in der Leidenjhaft des Streites von manchen Seiten ber als unverbrücdlihe Grundlage der Naturwiſſenſchaft gelten ge— macht wird, merflid von dem, was die Wiſſenſchaft felbft, hierin

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buldfamer als einzelne ihrer Jünger, gewiß zu wiffen und überall unerbittlich verlangen zu dürfen glaubt. . Vielleicht auch zeigt es fi) endlich, daß die Geſammtheit alles Mechanismus, weit ent- fernt, den wahren Aufgaben des geiftigen Lebens entgegenzuftehen, vielmehr felbft als ein nothmenbiges dienendes Glied in den Zu- ſammenhang jenes großen Ganzen aufgenommen ift, von dem die veränderliche Richtung des Zeitgeiſtes bald die eine, bald die . andere Seite dem menſchlichen Geifte allein entgegenkehrt.

. Zweites Kapitel. Die mehanifde Natur.

Allgemeinheit der Geſetze. Beitimmung bed Wirkfamen. Die Atome und ber

Sinn ihrer Annahme. Die phyſiſchen Kräfte Geſetze ber Wirkungen und

ihrer Zufammenfegung. Allgemeine Folgen Pk die Erflärung der Naturers ſcheinungen.

Nothwendige Verknüpfung hat in irgend einem Sinne ice Zeit und jede Anſicht in den Dingen gefucht; nicht dies ift es, was die mechanifche Wiflenjchaft der Gegenwart auszeichnet, fon= ' bern der andere Gedanke, den fie iiber Bedeutung und Urfprung ' diefer Notwendigkeit hinzufügt. Auch der finfterfte Aberglaube, . indem er durch nichtigen Zauber das Schickſal des räumlich Ent- fernten zu beftimmen dachte, berief ſich auf eine "unbegreifliche Berknüpfung, nad. der auf feine Beſchwörungen die verlangte Wirkung folgen werde. In doppeltem Sinne meint die Wiffen- haft e8 anders. Nicht durch diefe unbegreifliche Nothmendigfeit - follen den Dingen ihre einzelnen Yuftände nur nad einander zu- getheilt werden, fondern aus einander jollen fie begreifbar "her- vorgehen und jeder frühere in fich ſelbſt den Grund enthalten, aus dem er nad) einem allgemeinen nnd verſtändlichen echte den fpäteren als feine Folge verlangen darf. Und eben fo wenig

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fol jede einzelne Wirklichkeit nach einem ibr allein verliehenen Rechte Zuftand aus Zuftand entwideln; die Nothwendigkeit viel- mehr, die in dem einen Gefchöpfe waltet, verdankt ihre nöthigende Kraft denfelben allgemeinen Geſetzen, die auch in allen andern wirkſam Gleiches dem Gleichen und dem Verſchiedenen Ber- ſchiedenes zumefjen. Nicht vereinzelt auf befondern und unver- gleihbaren VBorherbeftimmungen beruben alfo die verſchiedenartigen Erſcheinungskreiſe, deren Contraft die Welt füllt; fie alle find nur mannigfaltige Beifpiele deſſen, was alles die Kraft der all- gemeinen Geſetze je nad den verjchiedenen Umftänden begrimbet, die veränderlich nad Zeit und Ort fich ihrer Entfcheidung unter- ordnen. Auf diefen Gedanken eines gemeinfamen, alle Natur beberrichenden Rechtes, aus dem allein alle Berbindlichkeiten und Tähigleiten des Wirfens für Die Dinge fließen, hat die mechanifche Naturauffaffung das ausgedehnte Gebäude ihrer Lehren gegründet.

Aber zu der Kenntniß dieſes allgemeinen Rechtes können wir bon den Erfcheinungen aus, die uns allein umgeben, nur durch Schlüffe gelangen, die da8 Gebiet des Wahrnehmbaren überfteigen. Nicht jeder der Schritte, die hier gethan worden find, iſt gleich zweifellos. Nicht überall reichen die an ſich ge— wiffen Grundfäge unſers Erkennens zur Gewinnung nütlicher Ergebniffe hin; in Mandem bat ein glüdlicher Blick die frucht> baren Gefihtspunkte errathen müſſen. Und allerdings nicht über- al Hat ſchon die bisherige Gefchichte der Wiſſenſchaft die Richtig- feit folder Blicke beftätigt, die, als fie gethan wurden, durch die Eröffnung großer Ausfichten überraſchten; auch nicht überall ift es gelungen, Bermutbungen, deren tbatfächliche Richtigkeit die Erfahrung glänzend bewährte, auf ihre eigne innerlihe Noth- wenbigfeit zurückzuführen. Mancherlei Anftände mögen fich daher bem Zweifelnden ergeben, und die Hoffnung, fich einzelnen Folge⸗ rungen der mechanischen Naturanficht zu entziehen, wird im Stillen an dieſe nicht in allen Stüden vollendete Grundlegung derjelben anknüpfen. Aber man würde wenig gewinnen, wenn man mit ben zufammengerafften Einwänden, welche der augenblidTiche

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Eindrud mancher Süße erweden mag, den gro Anfiht zu erfhüttern dächte. Auf einer unermeßlichen Fülle zu⸗ ſammenſtimmender Thatjachen ruhend, verdient er e8, ſelbſt gleich einer Naturerfheinuhg mit dem Zutrauen betrachtet zu werben, daß eine jpätere Einfiht in den Zuſammenhang aller Theile die früheren Zweifel an den einzelnen zerftrenen werde. Und in der That, gleich einem Naturgebilde ift auch dieſe Anficht der Natur noch einer reihen umgeftaltenden Entwidlung fähig. Nur eine ehr unvollftändige Kenntniß ihres Geiftes Könnte Die Grund- fäte, denen fie bisher Anwendung gegeben hat, als ben ab» gefchlofjenen und nicht vermehrbaren Zeftand möglicher Geſichts⸗ punkte anjehen. Im Vergleih mit der unendlihen Mannigfaltig- feit der Ereigniffe, mit denen und Die Natur täglich umgibt, weiß vielmehr die Phyſik fehr wohl, daß fie ihren Unterfuchungen bisher nur wenige Gebiete vollftändig hat unterwerfen Fünnen. Sie weiß, daß die allgemeinen Grundfäge, deren fie ſich bedient, zum Theil aus den befonderen Geftalten abgeleitet find, in denen fi) die wirkende Natur auf diefen wenigen beftbefannten Ge- bieten darftellt, und fie fühlt, daß mit jedem neuen Exfahrungs- freife, der im Laufe der Zeit vollftändiger befannt in die Reihe der Unterfuchungsgegenftände eintritt, auch eine Aufforderung ent- ftebt, den früheren Grundlagen ihrer Betrachtungen allgemeinere und umfaffendere Ausdrüde zu geben. Sie wird in diefer Selbft- entwidlung jelten in den Fall kommen, zurüdzunehmen, was fte früher feftgefegt hatte; aber fie wird häufiger finden, daß Gelege, deren Öiltigfeit fie in diefem Fortſchritte unangetaftet läßt, doch nur befondere Fälle allgemeinerer Beftimmungen find, welche fte nun aufgefunden bat. Und fo wird die wahre Naturwiſſenſchaft nicht jene kümmerliche Haft zeigen, mit der man fo oft alle Er⸗ fheinungen ausichlieglich nach dem Modelle derjenigen zu erflären jucht, welche der Zufall oder der augenblidliche Ausbildungsgrad der Beobachtung am meiften für uns ind Licht gerüdt hat. Im diefer Bildſamkeit der Wiſſenſchaft haben wir die wenigen Punkte hervorzuheben, die fie in der That für nothwendig ar allgemein Loge I. 4. Aufl.

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giltig ausgibt, von den übrigen aber den Grad der Wahrfchein- lichkeit kennen zu lernen, welchen allein fte für dDiefelben in An⸗ ſpruch nimmt.

Ein Zug ift es nun, welder neben jener Weberzeugung von einem allgemeinen gefetlichen Verbande den Geift der mechanischen Naturanſicht auf das Wejentlichfte bezeichnet: die unabläffige Sorgfalt, mit der fie für jeve Wirkung, deren fie gedenkt, genau die Elemente zu beftimmen fucht, von denen diefe Wirkung aus- geübt oder erlitten wird. Nicht immer bat die frühere Zeit dieſe Borfiht beobachtet. Man fpra von Wirkungen, die da liber- haupt gefhähen, ohne zu jagen, wer fie hervorbrächte; man ſprach von Thätigleiten, ohne namhaft zu machen, von wen fie aus— gingen und wen fie träfen; an zufammengefegte Gebilde, die eine Menge von Theilen unterfcheiden Tiefen, Inüpfte man im Ganzen und Großen Kräfte, Entwidlungen und Leiftungen, die fo nur auf unbeftimmte Weife in dem Innern biefer Gebilde ſich zu er- eignen fchienen, wie eleftrifche Entladungen in Wolfen, deren Schimmer man fieht, ohne Umriffe deſſen, von dem er ausgeht. Der Strenge, mit der fie diefen Fehler vermieb, verbanft die neuere Wifjenfchaft Alles, was fie geleiftet. Indem fie jorgfältig jedes Element, von dem eine Wirkung entiprang, nach feiner Loge zu andern und nah allen den Umftänden zu beftimmen ſuchte, in denen es ſich im Augenblide feiner Thätigfeit befand, gelangte fie dahin, die Wirkungen der Dinge nicht nur nad) ihren allgemeinen Formumriſſen und nad der Art, wie fie fih aus— nehmen, Tennen zu lemen, fondern ihre Größe Richtung und Dauer, jo wie ben Einfluß, den fie nad irgend einer Seite hin ausüben, an beftimmte Gefete des Maßes zu Fnüpfen.

Sie hat hierdurch einen Standpunkt überwunden, auf dem wir die Beurtheilung geiftiger Entwicklungen zu großem Theile noch verweilen jehen. Nach den platten Berfuchen, ven Lauf der

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Geſchichte und Alles, was in ihren Ereigniffen von Werth ift, aus nüchterner Willfür der Einzelnen zu erklären, finden wir nun wieber mit Vorliebe von einem allgemeinen Geifte und feinem unbewußt organifchen Wirken gefellige Zuftände der Men ſchen religiöfe Stimmungen und die veränderlichen Richtungen ber Kunſt abgeleitet. Die fchönen Erfolge, die wir diefen Be⸗ mühungen verdanken, werben durch das Geſtändniß nicht ges ſchmälert, daß doch die Gejchichte fich nicht ohne Die perſönlichen Geifter mache, und daß eine genauere Beobadtung in jenem all⸗ gemeinen Geifte doch nur die gleihförmige Endrichtung erkennen werde, welde die Einzelnen unter dem Eindrucke allgemeingiltiger Bedingungen und durch die Wechſelwirkungen ihres Verkehrs an⸗ nehmen. Nicht als wären darum alle ſchönen und bedeutiamen Formen des Dafeind in Natur und Gefhichte nur nachgeborene Folgen non Umftänden, die thatfächlich nun einmal vorangingen; wohl mag vielmehr das, was wir als idenlen Gehalt in ber verwirklichten Welt finden, auch der erfte treibende Grund zu einer beftimmten Orbnung der Dinge gewefen fein, als deren noth- wendiges Ergebniß wir e8 beſtändig wiedergeboren werden fehen. Aber überall da, wo wir nicht nach dem Werthe des Geruorbenen, fondern nach der Möglichkeit feines Werdens und dem Hergange feiner Berwirflihung fragen, da wird unfer Blick fih doch noth- wendig auf die einzelnen realen Elemente richten, in deren ge= jeglicher Wechſelwirkung die Vermittlung alles Werdens allein Tiegt. Und fo wird Geſchichte und Naturwiſſenſchaft jede Ent- ſtehung eines neuen, jede Erhaltung eines früheren Zuſtandes aus dem gegenfeitigen Verkehr vieler einzelner individueller Punkte herleiten, in denen allein die Idee fih zu thatkräftigen Wirklich- fetten verdichtet hat.

In diefe Bahn der Unterfuchung nothwendig geleitet, mußte die Wiffenjchaft verfuchen, jene eriten Ausgangspunfte aller Wir⸗ kungen aufzufinden, welche völlig einfach und unveränderlih durch ſtets gleiche und darum berehenbare Beiträge den vielgejtaltigen Raturlauf zuſammenſetzen. Was fich zuerft der unmittelbaren Be=

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obachtung als abgefchlofiene Einheit parftellt, Die bewegliche Geftalt des Thieres oder die ſcharf gezeichnete Form der Pflanze, das zeigte doch durch den Verlauf feines Lebens, mie fein Dafein und feine Leiftungsfähigfeit auf einer beftinmten Verbindung von Theilen beruht und mit ihrer Auflöfung wieder verfchwindet. Noch mehr erichtenen die unlebendigen Körper durch ihre Trennbarkeit in gleich- artige ober das fichtbare Hervortreten ungleichartiger Beſtandtheile als Zufammenfegungen, deren Eigenfchaften von der Natur der Menge und den Kräften der zu ihnen verbundenen Elemente ab⸗ hängen. Aber der Verſuch, dieje felbft aufzufinden, überzeugte bald, daß die einfachen und unveränderlichen Beftandtheile der Dinge fih der ſinnlichen Wahrnehmung überhaupt entziehen. Denn was im Hleinften Raume fi den Sinnen als gleichartiges und beftän- diges Element darſtellt, das zeigt fi) im Fortfchritt der Erfahrung doch noch als weränderlich oder Löft fich wor dem bemaffneten Auge aufs Neue in eine Welt des Mannigfaltigen auf, und wieder flieht man unbeftimmte Anzablen von Theilchen beihäftigt, durch ihre Wechſelwirkungen diefe Heinen Geftalten aufzubauen, die uns mit dem Scheine einer gleichförmigen und innerlich unbewegten Eriftenz täufchen. So mußte man, was die Wahrnehmung nicht darbot, in einem ihr entgehenden Gebiete vorausfegen und fuchte die Teßten Beftandtheile der Törperlihen Welt in unzählbaren Atomen von unfihtbarer Kleinheit unwandelbarer Dauer und unveränderlicher Beitändigfeit ihrer Eigenfchaften. In den vielfachften Weifen bald zufammentretend, bald unverändert aus diefen wechſelnden Gefel- lungen ſich trennend, bringen fie durch die Mannigfaltigfeit ihrer Stellungen und Bewegungen die verfchiedenen Formen der Natur- erzeugniffe und deren wandelbare Entwidlung hervor.

Die mikroſkopiſche Forſchung, die uns jo oft das ſcheinbar Sleichartige in eine wohlgefügte Gliederung mannigfaltiger Theile auflöft, ſcheint am natürlichſten Die Neigung zu begünftigen, bie wirk⸗ famen Elemente des Körperlien an einzelne Punfte des Raumes vertheilt und die Eigenfchaften der größeren wahrnehmbaren Ge- bilde von der Berbindungäweife diefer Theile abhängig zu denken.

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Aber Iange vorher hat fhon das Alterthum biefen Gedanken ausgebildet, geleitet durch Heberlegungen, deren Werth zum Theil noch in unverminderter Geltung befteht. Der Mangel zufammen- hängenber ausbrüdlich zu dieſem Zwecke angeftellter Beobachtungen hinderte jedoch die Alten, dieſer Borfiellungsweife eine matheme- tifche Ausbildung zu geben, und fie blieb bei ihnen mehr ein all- gemeiner Gedanke über bie Art einer möglichen Naturerflärung, als daß irgend eine beftimmte Gruppe von Erfcheinungen durch fte eine erhebliche Erläuterung gefunden hätte. Während jedoch die Alten die Ergiebigkeit ihres Princips wenig zu nutzen wußten, gingen fie in anderm Sinne weit über das hinaus, was die Atomiftif der heutigen Phyſik zu fein beabfichtigt. In den Atomen glaubten fie die legten und unvordenklichen Elemente aller Wirklichkeit gefunden zu haben, und was und jest nur als das Beftändige in dem Laufe der geichaffenen Welt gilt, das galt ihnen als das Unbedingte und wahrhaft Seiende, dem Nichts vorangehe, während es felbft Allem borangebend die an fi nothwendige und unabhängige Grundlage jeder möglichen Schöpfung fei. Daß nun eine ungählbare Vielheit felbftändiger und zufammenhanglojer Punkte den Uranfang der Welt bilde, und dag nur ihren planlofen Begegnungen das in- einandergreifende Ganze der Erfcheinungen entipringe: dieſer Ge- danke wird ftet8 Die lebhafte Sehnfucht des Geiftes gegen fich haben, der die Natur als Einheit aus Einem Duell und Plane zu ent- mwideln ftrebt. Aber dieſes Bedenken, das wir mit Recht gegen die Meinung des Alterthums gelten machen, würde man mit Un- recht gegen die atomiftiichen Grundlagen unferer Phyfif wenden, mit deren Geift und Bebärfniffen die Erneuerung jener Meinung nit nothwendig verbunden ift. Wenn wir bon unzerftörbaren Atomen fprechen, die an Geftalt und Größe verſchieden find, fo glauben wir damit nur die Reihe der Thatjachen, die wir wirklich beobachten, durch eine glüdliche Bermuthung um eine neue, vorzugs⸗ weis fruchtbare, aber der unmittelbaren Wahrnehmung entzogene Thatfache vermehrt zu haben. Daß alle Veränderungen im Natur- laufe nur bis an die Grenze diefer Heinften Theilchen reichen und bei

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aller Umgeftaltung ihrer äußern Verhältnifie doch fie felbft als un⸗ veränderte Ausgangspuntte unabläffigen Fortwirkeus übrig lafſen: diefe Thatfache glauben wir, von unzähligen Andentungen der Er- fahrung geleitet, als einen darakteriftiihen Zug der Natur, wie fie uns num einmal vorliegt, glücklich errathen zu haben. Auch fie mag, wie andere Thatſachen, nod weiter zurüdgehende Fragen nah ihrem Sinn und Urfprung mit Recht veranlafien. Aber Die Naturwiſſenſchaft jelbft, nur auf Erklärung deſſen bedacht, was in⸗ nerhalb der einmal vorhandenen Schöpfung geſchieht, wird ihrer⸗ ſeits Recht haben, bei irgend einer letzten Thatſache anzuhalten, welche einen allgemeinen und unwiderruflichen Charakterzug dieſer Schöpfung auf eine für die Erklärung der Erſcheinungen fruchtbare Weiſe bezeichnet. Unverändert und ungetheilt alfo nicht um einer unbedingten Unzerſtörbarkeit ihres Wefens willen, fonbern weil der wirkliche Naturlauf die Beranlafjungen nicht erzeugt, denen ihre Auflöfung gelingen Könnte, bilden die Atome für den Aufbau ber Erſcheinungen die unwandelbar feften Punkte. An melden höheren Bedingungen auch ihre eigne Eriftenz hängen mag: für Die Exfl&- zung der einmal vorhandenen Natur dürfen wir diefe Bebingungen babingeftellt fein Iaffen, weil fie beftändig in ihr erfüllt find, nie verloren gehen und deshalb nie wieder von neuem bergeftellt zu werden brauchen.

Welche weiteren VBorftellungen wir uns über die Natur ber Atome zu machen haben, kann nur nach den Andeutungen der Er- fahrungen, die ung überhaupt zu ihrer Annahme nöthigen, ent= ſchieden werben, und vieles hiervon bleibt der Zukunft vorbehal- ten. Der unbefangenen Weberlegung liegt e8 am nädhften, Die verſchiedenen Eigenfhaften des Sichtbaren auch von verſchiedenen Beſchaffenheiten der Heinften Elemente abzuleiten; die Wiſſenſchaft dagegen hat ein natürliches Interefje daran, die auseinandergehende Mannigfaltigfeit der Erfcheinungen auf die möglich Fleinfte Zahl uriprünglich verſchiedener PBrincipien zurüdzuführen. Und in ber That lehrt Die Unterfuhung ſehr bald erfennen, daß viele zunächſt weſentlich ſcheinende Unterjchiede der Dinge doch nur von Verſchie⸗

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benheiten ber Größe und Berbindungsweife an fich gleichartiger Beltandtheile abhängen. Dennod) dürfte die Feftigfeit, mit welcher manche Ratuverzeugniffe unter höchſt wechfelnden Bedingungen ihre harakteriftifchen Unterjchiede von andern aufrechterhalten, den Ver⸗ fu erſchweren, aus durchaus gleichen und gleichartigen Atomen nur durch die Mannigfaltigkeit ihrer Verfnüpfungsarten alle abweichen⸗ ben Formen der Körper und Verſchiedenheiten ihres Verhaltens zu erflären. Kein höherer Gefichtspunkt verlangt übrigens dieſe Gleiche beit der Atome; denn nicht Darin befteht Die Einheit des Weltgan- zen, daß alle feine urfprünglichen Beſtandtheile identiſch feien, fondern nur darin, daß die verichiedenen in den Sinn eine zu- fommenfaffenden Planes ftch fügen.

Die Atomiftif der Alten war von dieſem Gedanken der Weſens⸗ gleihheit der Heinften Elemente beherrſcht; und da der Zwed der Raturerflärung dennoch Unterfchiebe derſelben verlangte, fo fuchten fie diefe ausſchließlich in der Mannigfaltigleit der Formen und Größen, melde den Atomen zufämen. Aber ein völlig gleicher Stoff ſchien vielmehr überall auch gleiche Form und Größe zu ver⸗ langen; fo fam man darauf, die Atome felbft aus noch Fleineren, gleihartigen und gleich großen Theilden zufammengefegt und ihre Formen von den Pagerungsverhältniffen dieſer abhängig zu benfen. Die Atome waren daher nicht eigentlich einfache Elemente, fondern ungzertrennlihe Syſteme mehrerer Theilchen. Dennod waren fie, und nicht dieſe Theilchen, Die Eleınente des Naturlaufes. Denn die Verknüpfungen jener Kleinften Urbeftandtheile zu den größeren und mannigfach geformten Geftalten der Atome jah man als ewige und umwiderrufliche Thatfachen an, deren Begründung vor aller Schöpfung der beftehenden Welt und damit außerhalb bes Kreifes naturwiſſenſchaftlicher Forſchung liegt. Jetzt, nachdem die geſchaffene Welt einmal beſteht, vermögen alle Wechſelwirkun⸗ gen des in ihr noch fortdauernden Naturlaufes nur noch ſo viel, die zuſammengeſetzten ſichtbaren Körper in ihre Atome, nicht aber auch dieſe noch in ihre gleichartigen Urbeſtandtheile zu zerfällen.

Zu dieſer Annahme einer unerklärlichen erſten Zuſammen⸗

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fügung wird indefien diefe merkwürdige Borftellungsweife nur Durch ihre Borausfegung von der völligen Gleihartigfeit der Heinften Theilchen gedrängt. ‘Denn allerbings Tieß fi nun fein Grund mehr finden, warum es durchaus Feiner der im Naturlauf entſtehen⸗ den Kräfte gelingen follte, die Berbindungsweife jener Theilchen in enem Atome zu ftören und fie in die andere Form der Der- knüpfung überzuführen, in ber fie in einem zweiten von jenem verichiedenen Atom fich befinden, und die eben deshalb, weil fie fih bier verwirflict findet, der Natur jener Theilchen nicht an fih zuwider fein fannı. Anders würde es fein, wenn wir jene Borftellung der Alten fo erneuerten, daß wir nicht gleichartige, fondern vielmehr weſentlich verſchiedene Urbeftandtheile zu den Heinen Gebilden der Atome vereinigt dächten. Jedes von dieſen wirde dann unzertrennlich fein Fönnen, weil zwiſchen den Be⸗ ftandtheilen eines jeden eine Wahlverwandtſchaft Herrfchte, bie durch Feine andere üiberboten werden fünnte, und jedes würde zu- gleich eine beftimmte Größe und Geftalt befigen, weil nur bei begrenzter Anzahl der Theile und beftimmter Lagerung berfelben ihr gegenfeitiger Zufammenhang Feſtigkeit genug befäße, um jever Entreifung eines einzelnen zu wiberftehen. Auch dieje Gebilde, die durch ihre Ungerftörbarfeit den Namen der Atome verdienten, würden mithin nicht die legten und einfachften Elemente der Körperwelt, wohl aber die legten fein, bis auf melde die Ver⸗ änderungen in der Natur zurüdgeben, und welche in allen Zuſam⸗ menfegungen und Trennungen als bie unwandelbaren Baubeſtand⸗ theile erhalten werden.

Aber man fteht leicht, daß diefe Vorftellungsweife und zu- gleich geftattet, von einer räumlichen Ausdehnung jener Urbeftand- theile gänzlich abzufehen und fie als überfinnliche Weſen zu be— trachten, die von beftimmten Punkten des Raumes aus durch ihre Kräfte ein beftimmtes Maß der Ausdehnung beherrſchen, ohne es doch im eigentlihen Sinne zu erfüllen. Dur ihre Wechfel- wirfungen würden diefe unausgedehnten Punkte fih ihre Ent- fernungen von einander und ihre gegenfeitige Lage vorzeichnen,

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und fie würden hierdurch die Umriffe einer Raumfigur ebenfo beftimmt und fiher umſchreiben, als wenn fie das Innere der⸗ jelben durch ftetige Ausdehnung einnähmen. Und denfen wir an diefe einzelnen realen Punkte Kräfte der Anziehung und Ab- ftoßung nah außen genüpft, fo wirden größere Yufammen- bäufungen derjelben Durch ihren Widerftand gegen eindringenve Gewalt die Erſcheinung einer greifbaren Körperlichleit oder durch BZurüdwerfung der Lichtwellen den Anblid einer farbigen Ober: fläche ebenfo gut gewähren, al8 wenn die wirkſamen Wefen mit eigner ftetiger Ausdehnung den Raum erfüllten. Der Phyſik, welcher die kleinſten Theile nur als Mittelpuntte ausgehender Kräfte wichtig find, widerftrebt e8 nicht, diefen Schein einer aus- gebehnten Materie aus einfachen überfinnlicden Weſen abzuleiten; die philofophiiche Naturbetrachtung wird ſich zu dieſem Verſuche genöthigt jehen, denn er allein verbindet die VBorftellung von der Einfachheit der wirflih legten Elemente mit der gleich unent= bebrliden Yormenmannigfaltigleit der Atome, bie wir als die nächſten Baubeftandtheile des Körperlichen vorausiegen müſſen.

Welche Vorſtellung wir uns indeſſen von der Natur der Atome bilden mögen: das weſentlichſte Bedürfniß der Natur- erklärung wird dieſes fein, allgemeine Geſichtspunkte zu finden, nad) denen die Erfolge ihres Wirkens fi an beftimmte Geſetze knüpfen laſſen. Das deutliche Bemwußtfein über diefe Grundlagen ihrer Beurtheilung unterfcheidet die neuere Wiſſenſchaft völlig von der Atomiftil der Alten, die in ihren Verſuchen, die Erſcheinungen aus wechſelnden Verbindungen der Elemente zu erklären, zwar überall Die Gefege des Wirkens, an die uns der alltägliche An- bli® der Naturereigniffe gewöhnt bat, ſtillſchweigend vorausſetzte, ohne doch diefe Grundjäte abfichtlih hervorzuheben und bie Grenzen ihrer Giltigkeit zu unterfuchen. Uns aber wird es nüg- lich fein, zuzugeftehen, daß auch unfere Wiſſenſchaft bierin noch

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nicht vollendet ift, und daß fle manche ihrer Grundfäte nur den Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen vielleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung von vorm herein verjchließen darf.

Unbekannt bleibt uns zunächft das Innere der Atome. Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir auch immer in ihnen vorausfegen möchten, nie wird fi doch um ihretwillen das Einzelne von felbft in Bewegung fegen, ohne durd feine Beziehungen zu andern dazu gendthigt zu fein. Denn der Raum an fih umgibt jedes Atom gleichförmig von allen Seiten, und fein Punkt diefer gleichgiltigen Ausdehnung befigt einen Vorzug bor den andern, um beöwillen das ruhende Atom fi nad ihm aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab⸗ lenken müßte; feiner entfpricht der Natur des Atoms beffer als ein anderer, fo daß es ihn fchneller auffuchte ober zügernder ver⸗ ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflirffe binzutreten, in Ruhe, und jede® bemegte in der Richtung und Geſchwindigkeit feiner Bewegung verbarren, bis nen dazwiſchen wirkende Urfachen dieſe hemmen oder «ablenken.

Diefes Geſetz der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung der Bewegungen zu Grunde liegt, bezeichnet gleihwohl einen Sal, der nie in diefer Reinheit vorkommt. Denn eben jene äußeren Urfachen, welche Richtung und Geſchwindigkeit des Fort» gangs ändern, fehlen in Wirklichkeit dem Bewegten niemals. Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Teer, fondern am unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verjchtebene Atome bejegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derfelben Welt, dürfen wir einen Zuſammenhang gegenfeitigen Fürein⸗ anderſeins vorausfegen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗ wirkung ihrer innern Zuſtände entfpringt. Aber diefe innern Erlebniſſe der Atome entgehen unjerer Beobachtung völlig; nicht fie macht daber die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenftand, fon= dern nur bie räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Aborud und ihre Folge find. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen

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im leeren Raume Tann diefer Ausdruck ihrer innern Wechfel- wirkung nur in Berfürzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen Abſtandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be- ſtimmten Falle eintreten, ob alfo die Erſcheinung einer Anziehung oder Abftoßung entftehen wird, dies hängt von den unbekannten inneren Beziehungen der wechſelwirkenden Atome ab und kann deshalb nur durch Erfahrung von uns gefunden werden. Nur auf den vereinigten Eindruck der Erfahrungen innen wir ferner, bi8 jetzt wenigftens, die Negel gründen, daß die Lebhaftigkeit jeder Wechſelwirkung mit der wachfenden Entfernung der wirken⸗ den Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fteigenden gegen- feitigen Nöherung wächſt. Nach welchem befonderen Maßſtabe fie aber nad) der mwechfelnden Größe des Abſtandes ſich richtet, auch dies ift für jeden einzelnen Gall nur nad den Ausfagen ber Erfahrung zu entſcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns über den Grad der Stärke, mit welchem überhaupt zwifchen zwei Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung fid entwideln wird.

Die Fähigkeit oder die Nöthigung, eine beftimmte Wirkung bervorzubringen, Tiegt nach allem Erwähnten niemal® in ber Natur eines einzelnen Atoms oder eines einzelnen Körpers fertig enthalten. Wie vielmehr die Nothwenbigleit eines Wirkens über: haupt nur aus der gegemfeitigen Beziehung zweier Elemente her⸗ vorgeht, jo Tiegt auch die Entfcheivung darüber, ob das eine ſich anziehend oder abftoßend. verhalten werde, zugleich mit in Der Natur des andern, gegen welches es biefe Thätigfeit richtet; Die Größe des Einfluffes ferner, den jedes ausübt, wird ihm theils durch daſſelbe Verhältniß zu der eigenthümlichen Natur feines Gegners, theils durch feine Entfernung von ihm, alfo durch augenblidlih obwaltende Umftände zugemeffen. Allein obgleich auf diefe Weife die beftimmte Kraft des Wirlend jedem Atom eigentlich erft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt Doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anhaftend dem Atom zu bezeichnen. Sie verſchuldet dadurch allerdings Miß-

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nicht vollendet ift, und daß fie mande ihrer Grundfäte nur ben Ausfagen der Erfahrung verdankt, mithin, Durch neue Erfahrungen vielleicht in Zukunft anders belehrt, ſich nicht jeder Umgeftaltung von vorn berein verichließen darf.

Unbelannt bleibt und zunächſt das Innere der Atome. Allein welche inneren Zuftände und Beftrebungen wir auch immer in ihnen vorausfegen möchten, nie wird ſich doch um ihretwillen das Einzelne von jelbft in Bewegung ſetzen, ohne durch feine Beziehungen zu andern dazu genötbigt zu fein. Denn der Raum an fih umgibt jedes Atom gleihförmig von allen Seiten, und fein Punkt diefer gleihgiltigen Ausdehnung befigt einen Borzug bor den andern, um beöwillen das ruhende Atom ſich nad ihm aufmachen, oder das bewegte aus feiner Richtung nach ihm ab- lenken müßte; feiner entipriht der Natur des Atoms beffer als ein anderer, fo daß es ihn ſchneller auffuchte ober zögernder ver⸗ ließe. Jedes ruhende wird daher, fo lange nicht äußere Einflüffe binzutreten, in Rube, und jedes bemegte in der Richtung und Geſchwindigkeit feiner Bewegung verharren, bis nen dazwiſchen wirkende Urfachen diefe hemmen oder ablenken.

Dieſes Gefe der Beharrung, das aller unferer Beurtheilung der Bewegungen zu Grunde Tiegt, bezeichnet gleichwohl einen Fall, der nie in diefer Reinheit vorfommt. Denn eben jene äußeren Urfachen, welche Richtung und Gejhwindigfeit des Fort- gangs ändern, fehlen in Wirklichkeit dem Bewegten niemals. Das einzelne Atom umgibt der Raum nicht Teer, fondern am unzähligen Punkten durch andere, gleichartige oder verſchiedene Atome befegt. Zwiſchen ihnen allen, als Beftandtheilen derfelben Welt, dürfen wir einen Zufammenbang gegenfeitigen Yürein- anderſeins vorausſetzen, aus welchem eine unmittelbare Wechſel⸗ wirkung ihrer innern Zuſtände entſpringt. Aber dieſe innern Erlebniſſe der Atome entgehen unſerer Beobachtung völlig; nicht fie macht daher die Naturwiſſenſchaft zu ihrem Gegenſtand, ſon⸗ dern nur die räumlichen Bewegungen, die ihr äußerer Abdruck und ihre Folge ſind. Zwiſchen zwei unveränderlichen Atomen

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im leeren Raume kann dieſer Ausdruck ihrer innern Wechfel- wirkung nur in Berfürzung oder Verlängerung ihres gegenfeitigen Abſtandes beftehen. Welcher von beiden Erfolgen in einem be- ſtimmten Falle eintreten, ob alfo Die Erſcheinung einer Anziehung oder Abſtoßung entftiehen wird, dies hängt von den unbelannten inneren Beziehungen der mechfelmirtenden Atome ab und Tann deshalb nur durch Erfahrung von uns gefunden werden. Nur auf den vereinigten Eindruck der Erfahrungen können wir ferner, bi8 jeßt wenigftens, die Regel gründen, daß die Lebhaftigkeit jeder Wechſelwirkung mit ber wachſenden Entfernung ber wirken⸗ ben Elemente von einander abnimmt, mit ihrer fteigenden gegen- feitigen Näherung wächſt. Nach welchem befonderen Maßftabe fle aber nach der mechfelnden Größe des Abſtandes ſich richtet, auch dies ift für jeden einzelnen Fall nur nach den Ausfagen der Erfahrung zu entjcheiden; dieſe allein endlich belehrt uns tiber den Grad der Stärke, mit welchem überhaupt zwifchen zei Atomen von beftimmter Natur Anziehung oder Abſtoßung fi entwideln wird.

Die Fähigleit oder die Nöthigung, eine beftimmte Wirkung bervorzubringen, Tiegt nah allem Ermwähnten niemals in ber Ratur eines einzelnen Atoms oder eines einzelnen Körpers fertig enthalten. Wie vielmehr die Nothwendigkeit eines Wirkens liber- haupt nur aus der gegenfeitigen Beziehung zweier Elemente her- vorgeht, fo liegt auch die Enticheivung darüber, ob das eine ſich anziehend oder abftoßend. verhalten werde, zugleich mit in ber Natur des andern, gegen welches e8 diefe Thätigfeit richtet; Die Größe des Einflufjes ferner, den jedes ausübt, wird ihm theils durch daffelbe Verhältniß zu der eigenthümlihen Natur feines Gegners, theils durch feine Entfernung von ihm, alfo durch augenblidlih obwaltende Umftände zugemeſſen. Allein obgleid auf diefe Weile bie beſtimmte Kraft des Wirkens jedem Atom eigentlich erft im Augenblide feines Wirkens zuwächſt, fo pflegt doch die Naturwiſſenſchaft die Kraft als beftändig anbaftend dem Atom zu bezeichnen. Ste verjhuldet dadurch allerdings Miß-

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verftändniffe bei denen, welche den Sinn diefer Ausdrucksweiſe nicht in ihren Anwendungen verfolgen. Denn die Verſuchung liegt nahe, die Kraft, die dem Stoffe beftändig anhaften foll, als einen neuen und doch ftofflofen Stoff, als eine Eigenichaft, die body verborgen bleibt, als eine Thätigfeit in Ruhe, oder als ein Streben aufzufafien, dem das Bewußtfein des Zieles ebenfo wie die Willkür ded Handelns und die Wirflichleit der Auge übung fehle. Niemand würde dieſelben Schwierigfeiten empfinden, Iprächen wir etwa von der Kraft unſeres Gemüthes, zu haffen oder zu Tieben. Wir wiflen, daß Liebe und Haß nicht von An= fang am fertig als foldhe in unferer Seele liegen, wartend auf die Gegenftände, gegen die fie fi) wenden könnten; beide ent= wideln fi in beftimmten Maße erft im Augenblide der Be— rührung unferes Weſens mit einem fremden. Dennoch dulden wir den Ausdruck, daß die Kraft des Haſſes und ber Liebe unferem Gemüthe eigen inwohne; wir wiflen, nichts damit jagen zu wollen, als daß die beftändige Natur unferer Seele, fo wie fie nun einmal ift, nothwendig unter dem Einfluffe beftimmter Bedingungen die eine oder die andere jener Aeußerungen ent⸗ wideln werde. Mit demfelben Rechte des Ausdruckes verlegt auch die Naturbetrachtung die Fähigkeit zu einer Leiftung, die ein Törperliches Clement nad Hinzutritt gewiffer Bedingungen er⸗ wirbt, als eine vorher fertige Kraft der Anziehung oder Ab- ſtoßung in deſſen eignes Innere. Sie darf nicht beforgen, durch diefe Abkürzung des Ausdrucks zu Irrthümern in der Anwendung geführt zu werden; denn feine Anwendung des Begriffes der Kraft ift möglich, ohne daß in jedem Falle die wahre Sachlage, auf die fein Gebraud fich gründet, in anderer Form doch wieder berüdfichtigt würde. Wir ſprechen von den Atomen nicht, fofern fie nicht wirken, fondern fofern fle wirken; aber wir können von feiner Wirkung des einen fprechen, ohne das zweite zu erwähnen, bon dem fie erlitten wird, und wir können zwifchen dieſen beiden feine Anziehung oder Abftoßung geichehen laſſen, ohne zugleich eine beſtimmte gegenfeitige Entfernung beider im Anfangsaugen-

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bfid des Wirkens worzuftellen und von diefer die Größe ber ent- widelten Kraft nach einem erfahrungsmäßig belannten Gelege ab- zuleiten. So ift es daher für alle Anwendung gleichbedeutend, ob wir behaupten, daß aus den inneren Beziehungen der Elemente gegen einander jedem einzelnen die Nöthigung zu einer beftimmten Form und Größe der Wirkung erft im Augenblide unter dem Einfluß der vorhandenen Umftände entftehe, oder ob wir fagen, daß von manderlei Kräften, die fertig, aber unthätig in dem Atome ſchlummern, in jedem Augenblid diejenige zur Ausübung gelange, die in den eben vorhandenen Umftänden die Bedingungen ihrer Wedung und Neußerung finde. Doch hatte die Phyſik aller- dings Grund, die letztere Yorm des Ausdrucks als bequemer für die Anwendung vorzuziehen.

Ließen die inneren Zuftände, die vielleicht jedes Atom tm Augenblide feines Wirkens erfährt, feine Natur jo verändert zurüd, daß es auf eine völlig gleiche fpätere Anregung anders zurückwirkte, als auf die frühere, fo würden wir von beftändig ihm anhaftenven Kräften nicht Tprecden Finnen. Die Erfahrung hat im Allgemeinen eine ſolche Veränderlichkeit nicht kennen gelehrt. Ein chemiſches Element, nachdem es bald mit diefem bald mit jenem andern zu einer innigen Verbindung zufammengetreten und aus berfelben wieder ausgeſchieden ift, fommt am Ende diefer Schickſale mit Tei- nen andern Eigenjchaften wieder hervor, als die waren, mit denen es in die erfte diefer Verbindungen eintrat. Und mo es fih etwa anders zu verhalten fcheint, Tiegt der Grund der augenblidlich ver- änderten Eigenjhaften in der noch anhaltenden Fortwirkung der Borgänge, die feine legte Ausſcheidung begleiteten. Wie viele und wie verſchiedene Zuftände alfo das Atom erfahren haben mag, immer gebt es aus biefen wechſelnden Lagen als völlig daſſelbe wieber hervor und erwirbt feine neuen Gemohnheiten, wie ſich deren in zufammengefeten Gebilden entmwideln, noch zeigt fih in ihm eine Spur von Gedächtniß, durch welches die vorübergegangenen Zuftände mit maßgebend für das Verhalten der Zukunft würden. Seine Wirkungsweife läßt fih Daher voraus beftimmen, wenn wir

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feine urfprüngliche Natur und die Summe aller augenblidTich noch fortwirkenden Bedingungen Tennen, ohne daß es nöthig ift, den Berlauf der Geſchichte zu berüdfichtigen, welche es zwiſchen zwei Zeitpunkten erlebt bat. Dieſe beftändige Rückkehr zu gleichem Ver: halten unter gleihen Bedingungen ift e8 eigentlich, worein wir die Unveränderlichkeit der materiellen Atome fegen. Denn nicht dies bürfen wir behaupten, daß ihre Natur iiberhaupt niemals Beränderungen ihrer inneren Zuftände erfahre; aber dieſe Berän- derungen erlöfchen, wenigftend was ihren Einfluß auf das Ber- halten nach außen betrifft, mit dem Aufhören ihrer äußeren Be— dingungen, und liberal! wo bie legten genau zu einer frliheren Con⸗ ftellation zurückgekehrt find, Tehrt auch das Atom zu demjenigen feiner Zuftände, der dieſer entiprach, mit volltommener Elafticität zurüd und tritt nun wieder als diefelbe Kraft oder diefelbe Laft, wie damals, in das Spiel der weiteren Wechfelwirkungen ein. Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht fo umfaffend, daß wir wagen dürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all- gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufprechen. Es ift wohl möglich, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der Unterfuhung fteben, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren Entwidlung der Atome fich ergeben. Allein wie bie bisherige Erfahrung eine Nothwendigkeit dieſer Annahme nicht fühlbar ge= macht bat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überfehen, daß wenigftens in beſchränkter Ausdehnung die Unveränberlichfeit der Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müflen. ‘Denn ein Bau der Natur, in welchem die Gattungen der Gefchöpfe ftet$ biefelben Geftalten und biefelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen Berhältniffe, ver Lauf der Ereigniffe im Großen ftet8 diefelben Umriſſe forterbalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente felbft, aus denen diefe Mannigfaltigfeit fi ftet8 von neuem erzeugen ſoll, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen. Bielleicht durchläuft num in der That die ganze Natur eine fort- ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nad dem Zeugniß der Erfahrung ihre Beſtändigkeit doch immer, daß wir alle Zeiträume

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ihres Dafeins, die wir gejchichtlich tiberbliden Können, nur unter ver Borausfegung unveränderlicher Elemente verftehen, die nad jevem abgeſchloſſenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls auf den anfänglichen Zuftand ihres Weſens zurückkommen und fo der Erneuerung befielben Spiele die alten Anknüpfungspunfte wieder verichaffen.

Bietet nun diefe Annahme die allgemeinjte Grundlage für bie Borherbeftimmung eintretenber Wirkungen, jo hat die Exfab- rung ebenfo die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Borausfegung beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtbeilen, die aus dem Zu⸗ ſammenwirken mehrerer Bedingungen an bemfelben einfachen Ele- ment entftehen. Die Bewegung, in der ein Atom fich bereits be= findet, hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht widerſtre⸗ bend oder nur zum Theil, fondern fo vollfommen genügt das be- wegte Atomı auch dem andern Antriebe, als wäre die frühere Be- wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Geſchwindigkeit, die e8 im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der ein= zelnen Gejhwindigfeiten, die ihm durch dieſe verſchiedenen Kräfte nach gleicher Richtung mitgetheilt werben. Denken wir nun dieſe mehreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fie in beliebigen Mengen zu der Borftellung von Geſammtkräften, deren Größe wir dann nad der Anzahl der einfachen und glei- hen Anftöhe fchäten, die jede von ihnen in ſich vereinigt, fo läßt ih dem Vorigen leicht der Sat entnehmen, daß die Geſchwindig⸗ fetten, die durch verſchiedene Kräfte demfelben Element mitgetheilt werden, fich wie die Größen diefer erzeugenden Kräfte ſelbſt ver- halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirkend, in jedem Augenblicke denfelben Anftoß, den fie im vorigen gab, fo wird Die erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch die beftänbige Summirung der fpäteren Eindrüde mit den nach dem Geſetze ber Trägheit fortdauernden früheren wachen und die Bewegung wird

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feine urfprüngliche Natur und die Summe aller augenblicklich noch fortwirtenden Bedingungen kennen, ohne daß es nöthig ift, den Berlauf ver Geſchichte zu berücfichtigen, welche es zwiſchen zwei Zeitpunkten erlebt Hat. Diefe beftändige Rückkehr zu gleichen Ber: halten unter gleichen Bedingungen tft e8 eigentlih, worein wir die Unveränderlichleit der materiellen Atome ſetzen. Denn nicht dies dürfen wir behaupten, daß ihre Natur überhaupt niemals Beränderungen ihrer inneren Zuſtände erfahre; aber dieſe Berän- derungen erlöfchen, menigftens was ihren Einfluß auf das Ber- halten nach außen betrifft, mit dem Aufbören ihrer äußeren Be- dingungen, und liberal wo die legten genau zur einer frliheren Con⸗ ftellation zurücdgelehrt find, kehrt auch Das Atom zu demjenigen feiner Zuftände, der diefer entſprach, mit vollkommener Elafticität zurüd und tritt nun wieder als diefelbe Kraft oder diejelbe Laft, wie damals, in das Spiel der weiteren Wechfelwirfungen ein. Unfere Kenntniß der Erfcheinungen ift nicht jo umfaſſend, daß wir wagen bürften, dieſe Unveränderlichkeit als eine durchaus all- gemeine Eigenſchaft aller Naturelemente auszufprechen. Es iſt wohl möglich, daß in Gebieten, in denen wir noch am Anfange der Unterfuhung fliehen, Andeutungen einer fortfchreitenden inneren Entwicklung der Atome fich ergeben. Allein wie bie bisherige Erfahrung eine Nothwendigkeit diefer Annahme nicht fühlbar ge- madt bat, fo läßt fih auch im Allgemeinen leicht überſehen, daß wenigftens in befchränfter Ausdehnung die Unveränderlichleit der Elemente immer ihre Geltung wird behaupten müffen. ‘Denn ein Bau der Natur, in welchem die Gattungen der Geichöpfe ftet$ biefelben Geftalten und biefelbe Gliederung ihrer gegenfeitigen Verhältniſſe, der Lauf der Ereigniffe im Großen ſtets biefelben Umriſſe forterhalten fol, ift nicht denkbar, wenn die Elemente jelbft, aus denen diefe Mannigfaltigfeit fich ftet8 von neuem erzeugen ſoll, auch ihrerſeits einer beftändigen Veränderung unterliegen. Bielleicht durchläuft nun in der That die ganze Natur eine fort= ſchreitende Entwidlung; aber fo groß ift nach dem BZeugniß der Erfahrung ihre Beſtändigkeit Doch immter, daß wir alle Zeiträume

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ihres Dafeins, die wir gefchichtlich überbliden innen, nur unter der Borausfegung unveränderlicher Elemente verfiehen, die nad jedem abgeſchloſſenen Umlauf der äußeren Bedingungen ebenfalls anf den anfänglichen Zuftend ihres Wejens zurückkommen und fo der Erneuerung defielben Spiele8 die alten Anknüpfungspunkte wieder verichaffen.

Bietet nun diefe Annahme die allgemeinfte Grundlage für bie Borherbeftimmung eintretender Wirkungen, jo hat die Erfah⸗ rung ebenfo die ausgedehnte Gültigkeit einer andern Borausfeßung beftätigt, nach der wir die Erfolge beurtbeilen, die aus dem Zu⸗ ſammenwirken mehrerer Bedingungen an demfelben einfachen Ele- ment entitehben. ‘Die Bewegung, in ber ein Atom fich bereits be= findet, hindert nicht die Annahme einer zweiten; nicht wiberftre= bend oder nur zum Theil, fondern fo volffommen genügt das be— wegte Atom auch dem andern Antriebe, al8 wäre die frühere Be- wegung in ihm nicht vorhanden gewefen, und die Gefchwindigfeit, die es im Ganzen erlangt, ift die vollftändige Summe der ein= zelnen Gefchwindigfeiten, die ihm durch dieſe verjchiedenen Kräfte nach gleicher Richtung mitgetheilt werben. Denken wir nun diefe mehreren Kräfte als völlig gleich unter einander und verbinden fie in beliebigen Mengen zu ber Borftellung von Gefammtkräften, deren Größe wir dann nad der Anzahl der einfachen und glei- hen Anſtöße ſchätzen, die jede von ihnen in ſich vereinigt, fo läßt fih dem Vorigen leicht der Sat entnehmen, daß die Geſchwindig⸗ feiten, Die Durch verſchiedene Kräfte demſelben Element mitgetheilt werben, fich wie die Größen dieſer erzeugenden Kräfte jelbft ver- halten. Erneuert ferner eine Kraft, ftetig wirfend, in jedem Augenblide denſelben Anftoß, den fie im vorigen gab, fo wird Die erzeugte Geſchwindigkeit im Verlauf der Zeit durch die beftändige Summirung der päteren Eindrüde mit den nad dem Geſetze der Trägbeit fortdauernden früheren wachen und Die Bewegung wird

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in jene befchleunigte übergeben, die wir unter Anderem in dem Falle der Körper durch die ftetige Anziehung der Erde entftehen fehen. Berfuchen endlich verſchiedene Kräfte mit verſchiedenen Ge- ſchwindigkeiten und Richtungen daſſelbe Element gleichzeitig zu be= wegen, jo wird e8 auch hier keineswegs, der einen allein gehorchend, fih den andern entziehen, fondern den Antrieben aller zugleich ge= nügen. An dem Ende eines beſtimmten Zeitraumes befindet fich daher das Element dur das Zuſammenwirken zweier Kräfte an demfelben Orte, den e8 erreicht haben wiirde, wenn e8 beiden nad einander gehorchend fi zuerſt in der Richtung der einen, und während eines zweiten gleichen Zeitrammes von dem nun erreiche ten Orte aus in der Richtung der andern Kraft bewegt hätte. Sucht man nad derfelben Borausfegung die Orte auf, an denen ſich das Bewegte am Ende bes erften, des zweiten und jedes fol- genden unendlich Heinen Abfchnittes jenes Zeitraumes befindet, fo bezeichnet die Linie, welche dieſe Punkte unter einander verbindet, die gerade oder Frummlinige Bahn, die das Element unter dem Zuſammenwirken beider Kräfte wirklich durchläuft. Sie zieht fich in einen Punkt zufammen und das Element ruht, wenn die Sum- men der Kräfte gleich find, Die e8 nach entgegengefegten Richtungen treiben.

Findet endlich zwiſchen zwei Elementen die Nothwendigteit einer Wechſelwirkung einmal ftatt, jo findet fie ganz ebenfo ftatt, wenn dem einen nicht mehr eines, jondern eine Mehrheit gleich- artiger, einzeln oder zu einer Maſſe vereinigt, gegenüberfteht. Die Empfänglichfeit für Wechfelwirkung iſt auch hier nicht fo erichöpf- bar, daß das eine Element feinen Einfluß nur auf eine beftimmte Anzahl anderer erfireden oder die Größe deſſelben zwiſchen dieſe vertheilen müßte. Welches vielmehr auch die Anzahl diejer feiner Gegner fein mag, zwifchen ihm und jedem einzelnen berfelben ent- Ipinnt ſich Die Wechſelwirkung ganz ebenfo, wie fie ausfallen würde, wenn alle übrigen nicht vorhanden wären. Jedem berfelben ertheilt Daher das eine Element, und von jebem derfelben empfängt es ein- mal die Geſchwindigkeit, die iiberhaupt der Wechſelwirkung zwiſchen

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Atomen folder Gattung entipriht. Es ſammelt alfo ebenfo viel- mal in fich ſelbſt dieſe Geſchwindigkeit, als Die Maſſe feines Geg- ners ihm felbft gleiche Elemente vereinigt, beren jedem es einmal dieſelbe Gejhwindigfeit mittheilt. Nennen wir daher Größe ber Bewegung das Product aus der Gefchwindigleit in die Anzahl der gleichartigen bewegten Theile oder in ihre Mafle, jo erhält jedes der beiden Glieber eines wechſelwirkenden Paares dieſelbe Bewegungsgröße, jedes mithin eine Geſchwindigkeit, welche wächſt, je größer fein Gegner und je Heiner feine eigne Maſſe ift. Dies ſes Geſetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung geftattet in Berbindung mit dem Borigen eine Beftimmung der Bahnen, welche ungleich große Maſſen, fie mögen urfprünglih in Ruhe oder in Bewegung gewefen fein, durch ihre gegenfeitigen Kräfte einander borichreiben.

In allen diefen Regeln der Beurtheilung zufammengefegter Ereigniſſe Liegt die allgemeine Borausfegung, daß die Wechſelwir⸗ fung, in welder ſich ein Element mit einem zweiten befindet, Tei- nen Einfluß auf das Geſetz ausübe, nach welchem es gleichzeitig in Wechſelwirkung mit einem dritten treten fol. Nicht die Wir- kungsweiſe der einzelnen Kraft jondern nur ihr Erfolg wird durch das Zufammentreffen mit andern gleichzeitig einwirfenden verändert; denn in dem Erfolge allerdings müfjen die entgegengefegten An- triebe verfchiedener Kräfte, denen daſſelbe Element nicht gleichzeitig folgen kann, ſich aufheben, die übrigen aber zu einer mittleren GSefammtleiftung fih zufammenfegen. Diefe VBorausfegung nun ift Die einfachfte und günſtigſte für die Beſtimmung der Effecte, Die das Zuſammenwirken mehrerer Bedingungen berborbringt; denn ſie geitattet, die Leiftung jeder einzelnen Kraft zunäcft für fid und ohne Rückficht auf die übrigen zu berechnen, und dann bie gefundenen einzelnen Erfolge zu einem Enbergebniß zu verbinden. Und demfelben Grundgedanken würde man ferner zu folgen geneigt fein, wenn man angenommen hätte, daß nicht allein der Größe fondern auch der Art nach verfchiedene Kräfte ſich gleichzeitig an demfelben Atome begegneten. Auch bier wiirde m vorausſetzen,

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daß ihre Kreuzung nicht die einzelnen Gefeße ändere, nach denen das Element gegen jede berjelben einzeln zurückwirkt oder von ihr leidet; nur im Erfolge würden auch hier ſich die entgegengefegten Leiftungen aufheben, die von den verfchtevenen Kräften ihrem ge= meinſchaftlichen Objecte zugleich zugemuthet werben. Aber wir würden doch in der That nicht angeben fünnen, wie weit Die Giltigfeit dieſer Borftellungsweife reihe. Denn jene Gleichgiltig- feit, mit welcher verſchiedene Kräfte in demjelben Element neben einander wirken, ohne fich gegenfeitig zur Veränderung ihres Stre= bens zu veranlaffen, ift Feine an fich nothwendige Annahme; fie kann im Gegentheil unter mehreren möglichen als Die unmahr- Icheinlichere gelten.

Berbindet zwei Perſonen gegenfeitige Yuneigung, und fteht jede für fih in gleich freundlichem Berhältnig zu einer dritten, jo läßt doch nicht immer der Hinzutritt der legten Die Gefinnungen zwifchen den beiden erften unverändert; er wandelt eben jo oft ihre frühere Freundſchaft in Zwiefpalt um, oder die früher ent- ‚zweiten vereinigen ſich zu gemeinfamer Abftoßung des Dritten. Diefes Beifpiel, aus einem ganz frembartigen Gebiete entlehnt, hat vielleicht Teine tiefer liegende Aehnlichkeit mit dem einfachen Valle, der uns beichäftigt, aber es erläutert anſchaulich, was wir nun ohne Gleichniß allgemein ausdrüden können. Denken wir Die Wechſelwirkungen der Dinge nicht äußerlich an fie gefnüpft, ſon— dern, wie wir müflen, von Veränderungen ihrer inneren Zuſtände entweder abhängig oder Doch begleitet, fo ift jedes Element im Augen=- blide feines Wirkens im Grunde ein anderes, als e8 vorher war, oder nachher fein wird. Wohl kann es nun fein, Daß das Gefeg, nad dem e8 aus feinem unthätigen Zuftande heraus mit einem zweiten in Wechfelwirfung getreten fein würde, auch jet noch für das ſchon thätige Element giltig bleibt; denn die Veränderung des inneren Zuftandes, die mit feinem Wirken verbunden ift, braucht nicht nothwendig jene Züge feiner Natur anzutaften, auf denen feine Unterordnung unter dieſes Gefeg beruhte. Und dann wird der ermähnten Annahme gemäß jede neue Wechſelwirkung

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ebenjo beginnen, als wäre die frühere nicht vorhanden. Aber gewiß tft e8 im Allgemeinen ebenfo denkbar, Daß eine ſchon vor fich gehende Thätigkeit Den innern Zuſtand des wirkenden Elementes zu weſentlich abändert, als daß es nun gegen ein anderes fich nad dem früheren Gejeße feiner Wirkſamkeit noch ferner äußern fönnte. Denn die Kräfte, wie wir gefeben haben, find nicht une zerftörbare Eigenthümlichkeiten, die ohne Rüdficht auf alle Verhält- niffe an der Natur eines Elementes beftändig haften; fle und ihre Gefege find nur Ausdrücke jener Nöthigungen zur MWechfel- wirkung, die fir die Dinge allemal erft aus ihren gegenfeitigen Beziehungen entfpringen. Aendern ſich die inneren Zuftände ber Dinge, fo Finnen mit ihnen dieſe Beziehungen ſich ändern, und fo fih Antriebe zu neuen anders geftalteten Wirkungen, alfo neue Kräfte oder neue Geſetze derfelben entwideln. Ohne Zweifel dürfen wir e8 daher als einen möglichen Gedanken bezeichnen, daß auf eine freilich felbft geſetzliche Weiſe fih auch das Wirkungsgefet einer einfachen Kraft mit den wechjelnden inneren Zuftänden ihres Trägers ändere.

Die Erfahrung bat allerdings in ben Gebieten, die einer ge- nauen Theorie bisher zugänglich geweſen find, kaum noch Spuren gezeigt, welche auf eine praftiiche Wichtigfeit dieſer allgemeinen Betrachtung hindeuten; dennoch müſſen wir Die Unveränderlichkeit der Wirkungsgeſetze, jo weit fie vorfommt, als eine jener Erfah: rungsthatfachen betrachten, welche uns über Die Grundzlige des wirklichen Weltbaues aufllären, aber wir dürfen ſie nicht für eine on ſich nothwendige Einrichtung anfeben, die in jeder Natur, oder auch nur in diefer Natur uneingefchräntt vorkommen müßte, Und nocd weniger würden wir uns erlauben Dürfen, fte ſtillſchwei⸗ gend auch auf das Gebiet des geiftigen Lebens üiberzutragen, als babe fie ein Recht, ohne befondere Betätigung der Erfahrung für die allgemeine Regel in allen Ereigniffen überhaupt zu gelten. Kaum ift e8 endlich nöthig hinzuzufügen, daß überhaupt von ihr nur in Bezug auf jene einfachen Kräfte die Rede fein Tann, Die wir der Natur eines einzelnen Elementes in feinem Verhälfniß

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zu einem zweiten beftändig zuſchreiben. Die Gejammtleiftungen größerer Verbindungen von Elementen find Dagegen natürlich von der Verbindungsweiſe biefer Beftanbtheile abhängig, und feine allgemeine Regel würde fi) über die Veränderungen aufftellen laſſen, die ſolche Kräfte durch die mannigfachen möglichen Ber- ſchiebungen der verbundenen Elemente erleiden innen. Manches kann in einem fo zufammengefetten Syſtem durch äußere Eindrücke unheilbar zerrüttet werben, und die Rückkehr derfelben äußeren Be- dingungen würde ihm nicht die Fähigkeit zu derſelben Rückwir⸗ fung wiedergeben, die e8 unter gleichen Bedingungen früher ent- faltete. Bon den einfachen Elementen dagegen wilrden wir eine ſolche Abnugung ausſchließen, und felbft wenn die erwähnte Beränderlichleit ihrer Wirkungsweiſe ſtattfände, würden wir boch immer vorausfegen, daß jeder Wiederholung einer völlig gleichen Conftellation der äußern Bedingungen auch eine Wiederkehr Der nämlichen Wirkungsgeſetze entipreche.

Bon folhen Grundlagen ausgehend bat die Wiſſenſchaft Er- klärungsgründe für die Naturereigniffe entwidelt, indem fie dieſen allgemeinen Sägen beftimmte, den erfahrungsmäßig vorkommenden Verhältniſſen möglichft angenäherte Combinationen von Umftänden unterordnete und die Erfolge berechnete, welche die vorhandenen Kräfte unter diefen Umftänden hervorbringen müſſen. Sie ift hierdurch theil® zur vollftändigen Aufhellung einzelner Kreiſe von Erſcheinungen, theil® wo die zu große Anzahl mitwirkender Be- dingungen ihre unmittelbare Berechnung erfchwert, wenigftens zu allgemeinen Gefihtspunften gekommen, durch welche die zu erwar⸗ -tenden Erfolge in gewifle Grenzen eingefchloffen werden. So würde fi) aus der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung leicht Die Folge entwideln laſſen, daß die inneren Wechſelwirkungen eined verbundenen Maſſenſyſtems zwar feine Form, aber nicht feinen Ort im Raume ändern Tönnen, oder daß bei allen inneren Beränderungen eined Syſtems doch fein Schwerpunft in Ruhe ‚bleibt, wenn er in Ruhe war, ober ohne Veränderung feiner Richtung und Geſchwindiglkeit eine ihm früher eigne Bewegung

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fortfeßt. Jeder Ortswechſel, der durch die eignen Kräfte eines Körpers eingeleitet wird, ſetzt daher Die Wechſelwirkung mit irgend einem Aeußeren voraus, das als Stützpunkt ober richtungbe- ſtimmender Wiberftand dient. Die Betrachtung des Lebens, der wir zueilen wollen, nötbigt uns nicht, in dieſe Einzelheiten der phyſikaliſchen Dynamit einzugehen; fie veranlaßt uns dagegen, nod einige andere Bemerkungen über die Auffaffungsmweilen der⸗ felben Hinzuzufügen.

In unferem geiftigen Leben finden wir die Größe vieler Thätigleiten von der Zeit abhängig; das Intereſſe des Gefühle an den Gegenftänden, die Klarheit der BVorftellungen, die Kraft bes Willens: fie alle jcheinen ohne neue Anregungen im Laufe ber Zeit abzunehmen. Der gemöhnliden Meinung muß es daher am wahriceinlichften vorkommen, daß jede Wirkung überhaupt, mithin aud Die Aeußerung jeder Naturkraft einer folden allmäh- fihen Ermüdung und Erihöpfung unterliege. Daß eine mitge- tbeilte Bewegung am Ende von ſelbſt aufhöre, ift deshalb lange die gewöhnliche Borausjegung geweſen und das Geſetz der Behar- rung erſchien ihr gegenüber als eine fonderbare Entdedlung der Wiſſenſchaft. Auch in dem Geifte ift es natürlich nicht Die Zeit jelbft, welche die Kraft der Thätigfeit verzehrt, ſondern die vielfachen Ereigniſſe, die fi in ihm beftändig Freuzen, hemmen durch ihre wechfelfeitigen Einflüffe die ungefchmälerte Fortdauer jedes einzel- nen. In den einfachen Elementen ber Natur findet entweder diefe Vielheit innerer Zuftände nicht ftatt, oder fie äußert fernen Einfluß ähnlicher Art; denn jo weit wir die Geſchichte der Er⸗ fcheinungen überbliden können, find die Kräfte gleicher Maſſen zu allen Zeiten diefelben gemejen. Keine von ihnen nimmt nur um deöwillen ab oder zu, weil fie bereit8 eine Seit hindurch ge= wirft bat, und wie fie feine Erſchöpfung erfährt, jo erwirbt auch feine durch Wiederholung ihrer Ausübung eine Gewohnheit des vollfomnmeren Wirkend. Für jede Fähigkeit zu einer Lerftung, die wir irgendiwo neu entftehen ſehen, werden wir baber den Grund in einer neuen Geftaltung ber veränderlihen Umftände ſuchen

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müffen, durch melche den ſtets gleichen Kräften Hinderniffe ihres Erfolges hinweggeräumt oder früher fehlende Bebingungen ihrer Aenferung gewährt worden find; für jedes fcheinbare Erlöſchen einer Kraft werden wir ebenfo den Grund in Veränderungen der gegenfeitigen Beziehungen der wirkenden Maſſen fuchen, die ent- weder die fernere Aeußerung dur Widerftand aufheben, oder fte durch Bertheilung auf einen wachjenden Kreis von Objecten für unfere Beobachtung unmerklich machen. Für jede Erflärung eines Ipäteren Zuftandes muß daher dag Fortwirken des früheren mit dem Werthe, den er augenblidlih noch bat, als die eine, und die Summe aller neu eingetretenen Umftände als Die andere Mitbedingung des neuen Erfolges in Anſchlag gebracht werben.

Man fieht, wie wir durch Diefe Betrachtungen mit Nothwen- digkeit dahin geführt werben, jede Veränderlichleit der Wirkungs⸗ weife, jeve Mannigfaltigfeit der Entwicklung und alle Bielfeitigfeit der Aeußerungen, die wir in irgend einem Naturgebilde antreffen, theils auf innere Bewegungen, durch welche die Beziehungen feiner eignen Theile raſtlos umgeftaltet werden, theil® auf wechſelnde Berhältniffe zurücdzuführen, die e8 mit der Außenwelt verknüpfen. Faſt Alles aber, was in der Natur unfere lebhaftefte Theil- nahme fefjelt, gehört zu dieſem Gebiete der veränderlihen Er- ſcheinungen, und unter allen zieht am meiften das organifche Leben und Die in einander greifende Ordnung der Ereigniffe im Großen unfere Aufmerffamfeit an. Unvermeidlid muß die Wiſſenſchaft auch über dieſe Erfcheinungen jene Grundjäge ihrer Unterfuhung ausdehnen, und ebenfo unvermeidlich wird fie vorübergehend we⸗ nigftend den böfen Schein auf ſich nehmen müſſen, als gewährte fie der fuchenden Bhantafle nirgends ein Inneres, nirgends wahre Lebendigkeit. Denn wenn unfer unbefangnes Gemüth eben da— rum das Bild des Lebens verehrt, weil es in aller feiner Man- nigfaltigfeit Doch nur die zufammenhängende Fülle Eines Wefens, in aller bemeglichen Bielfeitigfeit feiner Entwidlung nur die all- mähliche Entfaltung eines und deſſelben unverlierbaren Charakters fieht: fo Können wir nicht leugnen, daß die Wiffenfchaft allerdings

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den Werth dieſes ſchönen Bildes vernichtet, indem fie feine ein- zelnen Züge aus vielerlei zerftreuten Bedingungen, die nicht von einander wiſſen, zufammenfegt. Die Dinge leben nicht mehr aus fi) heraus, fondern durd die wechfelnden Umftände wird an ihnen ein veränderliches Geſchehen hervorgebracht, das wir zwar ihr Leben noch nennen, ohne doch das angeben zu können, was als Einheit diefen Wirbel neben einander ablaufender Ereigniffe zu einem Ganzen innerlih verſchmölze. Diefer Vorwurf einer änßerlihen, muſiviſchen Zuſammenſetzung deffen, was nur aus einem Guſſe hervorgehend für uns Werth zu haben foheint, ift den Erflärungsverfuchen der Naturwiffenfhaft nie erfpart worden und wir find weit Davon entfernt zu verlangen, daß er nicht ge= macht werde. Denn diefe Stimmen find ed immer gewefen, deren Zuruf die Unterfuhung, wenn fie mühevoll durch die Verwicklungen der einzelnen Erſcheinungen fih hindurch kämpfte, an Die großen Ziele erinnerte, um deren willen allein ihre ganze Bemühung menschliches Intereſſe bat; fie haben überall die Ausficht auf einen unermeßlichen Geſichtskreis von neuem eröffnet, wo die Be- friedigung, die wir aus der theilweis gelungenen Hinmwegräumung der nächſten Schwierigkeiten jchöpfen, uns zu vorzeitigem Abſchluß unferer Anfihten verleiten wollte. Aber indem wir auf das Aus- drüdlichfte die volle Berechtigung diefer Einwürfe anerkennen, müſſen wir doch hinzufügen, daß es feiner der Auffaffungsmweifen, von denen fie am lebhafteften gemacht zu werden pflegen, bisher gelungen ift, mit Umgebung der Grundſätze der mechanifchen Na- turwiſſenſchaft glei” unbeftreitbare und eben fo fruchtbare Erfolge zu erringen, wie fie mit diefen Grundfägen auf allen Gebieten der Naturerflärung bereit8 gewonnen worden find. Nicht durch eine Ablenkung von dem Wege, den wir bisher genommen, fondern durch feine Verfolgung bi8 zum Ende dürfen wir deshalb hoffen, auch diefer Sehnſucht des Geiftes gerecht zu werden, welche zu= rückzuweiſen Teineswegs in dem Sinne der mechaniſchen Natur- auffaflung Tiegt.

Denn mit Unrecht fügt man zu jenem Vorwurf, daß fie Die

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‚Einheit des Lebendigen ftöre, den andern Hinzu, daß fie auch Die einfachen Elemente, aus deren Verbindung fie Alles herleite, notb- wendig als lebloſe und innerlich weſenloſe Punkte betrachte, an die nur äußerlich Kräfte mannigfacher Art geknüpft feien. Sie enthält fih vielmehr nur der Behauptungen, die für Die Erreihung ihrer nächften Zwecke unnötbig find; und für ihre Zwecke allerdings reicht fie mit jener Annahme aus, welche die Atome Lediglich als Anfnüpfungs- und Mittelpunfte aus⸗ und eingehender Wirkungen betrachtet. Denn nachdem uns die Erfahrung gelehrt bat, daß die inneren Zuftände dev Atome, wenn fie deren erfahren, doch fernen umgeftaltenden Einfluß auf die Gejeglichleit ihres Wirkens äußern, dürfen wir biefelben aus der Berechnung der Erſcheinungen weglafien, ohne fie deshalb aus dem Ganzen unferer Weltanſicht überhaupt verbannen zu müfjen. Im Gegentheil würde eine weiterfortgebende Weberlegung uns bald zu dem Gedanken zurüd- führen, den wir ber bisherigen Darftellung überall fogleich zu Grunde gelegt haben, zu dem nämlich, daß Kräfte ſich nicht an⸗ knüpfen laſſen an ein lebloſes Innere der Dinge, fondern daR fie aus ihnen entipringen müffen, und daß Nichts fich zwiſchen ben einzelnen Wejen ereignen kann, bevor fih Etwas in ihnen ereignet bat. Alle jene äußerlichen Begebenheiten der Verknüpfung und Trennung werden daher auf einem innerlichen Leben ber Dinge beruhen oder in einem ſolchen ihren Widerhall finden, und wenn die Naturmwifienichaft die Einheit zufammengejetter Ge⸗ bilde auflöft, jo wird Doch jedes einzelne Element des Moſaiks, das fie an ihre Stelle ſetzt, ein lebendiger und innerlich erregter Bunft fein. Ich bezweifle nicht, daß diefer Erſatz, der einzige, den wir zunächſt bieten zu Können fcheinen, nicht blos für einen kärglichen, fondern Vielen jelbft für einen unmöglichen gelten wird. Weberlafien wir e8 den fpäteren Betrachtungen, ſowohl feine Möglichkeit nachzumeiien, als zu zeigen, daß feine Bedeutung doch weit größer ift, als fie fcheint. Vielleicht finden wir aud, daß noch in einem andern Sinne aud für ung jene zufammenfafjende Einheit der auseinanderfallenden Ereigniffe möglich ift, ohne daß

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wir genöthigt werben, die Geltung der mechanifchen Naturwiſſen⸗ [haft zu leugnen, zu deren Anerkennung wir willig oder wider: willig doch immer wieder durch den Gefammteindrud unferer . Beobachtungen zurüdgezwungen werben.

Drittes Kapitel, Der Grund des Lebens.

Die chemiſche Vergängligleit des Körpers. Wechſel feiner Beſtandtheile. Fort: pflanzung und Erhaltung feiner Kraft. Die Harmonie feiner Wirkungen.

Die wirkſame Idee. Zwedmäßige Selbſterhaltung. Retzbarkeit. Die Mas

fhinen der menſchlichen Kunf.

Kur langſam haben aud) in unferer Zeit die Grundſätze, welche wir fchilderten, Eingang in die Betrachtung des Lebendigen gewonnen. Die planvoll auffteigende Geftalt der Pflanze und die unberechenbare Regſamkeit des Thieres fchieb eine zu große Kluft von der Starrheit und Regellofigfeit ihres unorganiichen Wohnplatzes, als daß die unmittelbare Anſchauung nod ein Gefithl wefentlicher Gemeinfchaft zwifchen beiden Gebieten der Wirklichkeit erweckt hätte. Mit der Mannigfaltigleit ihrer innern Gliederung, die eine Fülle der verfchtedenartigften Zuſtände in fefter Ordnung aus fich entwidelte, übermwältigte die Erjcheinung des Lebens bie Einbildungskraft; fein Zweifel ſchien übrig, daß ein Kreis von Borgängen, defien Sinn und Bedeutung jo unvergleichlich Alles überragt, was Natur und Kunft außer ihm geihaffen, unvergleich- lich auch in feiner Entitehung fein müſſe. So bildete fich jene Borftellung von einer eigenthlimlichen Lebenskraft, deren mejent- lichen Sinn wir früher ſchon gejchildert, und deren einzelne Be- hauptungen wir jeßt fo ermähnen wollen, wie fie den vordringenden Anſprüchen der mechaniſchen Naturauffaffung, fruchtlos wie uns ſcheint, entgegengeftellt werden. Wie groß auch der Unterfchied

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des Lebens von dem Unlebendigen in Bezug auf die Gedanken fein wird, zu deren Darftellung in der Welt der Erfcheinungen beide berufen fein mögen, fo wenig darf dod die Wiffenfchaft ben urſächlichen Zuſammenhang der Berwirflihung und Erhaltung des Lebens auf andere Geſetze und Kräfte zurückführen, als in der iibrigen Natur gelten, aus der auch das Lebendige ſich entwidelt und in bie e8 vergehend zurüdfehrtt. So lange jener Zufammenhang obwaltet, den wir fchon früher als den entfcheidenden Punkt für unfere Anſichten hervorhoben, folange da8 Leben alle feine Mittel aus dem allgemeinen Borrath der Natur fchöpfen muß und nur an den Stoffen, die dieſe darbietet, fich entwideln Tann, fo lange wird es alle Eigentbümlichfeiten feiner Entfaltung nur der voll- ftändigen Fügſamkeit verdanken, mit der e8 ſich den Geſetzen des allgemeinen Naturlaufs unterwirft. Nicht durch eine höhere, eigenthihmliche Kraft, Die fi fremd dem übrigen Gefchehen über— ordnete, nicht durch unvergleichlich andere Geſetze des Wirkens wird das Lebendige fi) von dem Unlebendigen unterfcheiden, fon- dern nur burch Die befondere Form ber Zufammenordnung, in die e8 mannigfaltige Beſtandtheile jo verflicht, Daß ihre natürlichen Kräfte unter dem Einfluffe der äußern Bedingungen eine zufam- menhängende Reihe von Erfcheinungen nach denfelben allgemeinen Geſetzen entwideln müffen, nac denen auch fonft überall Zuftand aus Zuftand zu folgen pflegt. So wenig wir nun bereit$ im Stande find, die ganze verwidelte Fülle der Lebensvorgänge in dem Geifte diefer Auffaffung vollftändig zu erflären, fo leicht wird ſich doch zeigen laffen, daß die großen Umriſſe derfelben und bie eigenthiimlichen Gewohnheiten des Wirkens, durch welche das Lebendige ſich zuerſt unbedingt von dem übrigen Daſein zu un- terſcheiden ſchien, ihr nicht unbegreiflich ſind, und daß die An— fichten, die noch immer ſich ihr entgegenſtellen, manche der Vor⸗ theile entbehren, die wir in der That bereits in der ſchärferen Beurtheilung des Einzelnen aus jenen Grundſätzen einer mechani— ſtiſchen Betrachtungsweiſe ziehen können. »

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Kaum irgend eine andere Erfcheinung ſcheidet fiir den Augen- fhein jo bedeutſam das Leben von dem Unlebendigen, wie ber Anblid der Verweſung, die den todten Körper verzehrt. Auf das Eindringlichfte fcheint fie und zu lehren, daß nur das über- mächtige Gebot einer höheren Kraft während des Lebens die Beitandtheile in ihrer Mifhung erhalte und den gegenfeitigen Bermandtichaften wehre, durch welche fie nach dem Tode in weit andere und einfachere Formen der Zufammenfegung übergeben. Und dod zeigt eine leichte Weberlegung die Grundloſigkeit biefer Tolgerung. Denn warum follten wir berjelben Erſcheinung nicht vielmehr den andern Schluß entnehmen, daß das Spiel des Lebens eben nur jo lange dauern könne, als die hemifche Zuſammen⸗ fegung des Körpers ihm feine nöthigen Bedingungen barbietet, und daß die Verweſung des Todten nichts Anderes fer als bie nun offenkundig hervortretende Störung dieſer Mifhung, die vielleiht ſchon lange weniger bemerkbar die Bedingungen bes Lebens erſchüttert bat? Ueberredend wird dieſe Folgerung in den Fällen fein, in Denen eine deutliche Krankheit, im Innern bes Körpers entftanden, fein Leben vernichtet hat; aber die Verweſung ergreift, obgleich etwas langſamer, auch den Leib, ben ein ge- waltſamer Tod in der Fülle gefunden Lebens traf; und fo fcheint e8 Doch wieder, als wenn die Mifchung der Beftandtheile, während des Lebens durd eine befondere Kraft aufrecht erhalten, mit dem Erlöſchen diefer Kraft nun erft den allgemeinen Gefegen ber che⸗ milden Thätigfeiten anheimfiele.

Aber die nähere Beobachtung enldedt doch in dem lebendigen Körper einen kaum geringeren Wechſel feiner Beſtandtheile. Beſtän⸗ dig ſehen wir durch mannigfaltige Formen der Abſonderung Maſſentheile aus ihm ausgeſchieden werben, Deren chemiſche Zuſammenſetzung zwar nicht den Erzeugniffen der Verweſung gleich ift, aber ihnen weit näher fteht, als die Form, in welcher der lebenskräftige Körper feine Elemente verbindet. Zahlreiche Beobachtungen lehren aber, daß ein großer Theil der Gewebe, aus denen ber Yebendige*Xeib befteht, einer ununterbrochenen

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Wiederzerfegung und Neubildung unterliegt, und daß die Stoffe, Die wir in den verfchiebenften Formen aus dem Körper austreten jeben, zum Theil die Trümmer find, in welde dieſe Zerfegung das vormals Lebensfähige umgewandelt bat. Kein Grund nöthigt zu der Annahme, daß der Vorgang diefer Zerfegung während des Lebens anderen Gejegen folge, als denen, die aud nach dem Tode das Zerfallen des Körpers beherrfchen. Denn zu fehr ver- fchieden find die bebingenden Nebenumftände, welde beide Vor⸗ gänge begleiten, al8 daß wir nicht leicht auf diefe die große Ber- ſchiedenheit in den Erfcheinungen ihrer Erfolge zurüdführen Könnten. Die beftändige Bewegung der Säfte gibt im lebenden Körper den zerjetsten Beftanbtbeilen Gelegenbeit, in feinen und unmerk⸗ lichen Mengen den Abfonderungsorganen zuzuftrömen, durch welche fie der umgebenden Welt zurückgegeben und die nachtheilige Wir- fung verhütet wird, Die ihr längeres Verweilen im Körper für die Miſchung der übrigen Beftandtheile haben könnte. Zahlreiche geregelte Functionen führen ferner im lebendigen Körper zu ein- ander, was durch feine Wechfelwirkung den Beftand feines Baues fihern und feinen Wiedererfat befchleunigen kann; aber fie ent- fernen von einander das, deſſen Zuſammentreffen chemiſche Proceſſe weitergreifender Zerſtörung anregen könnte. So entfteht aus Zer⸗ fegung und Neubildung jener langſame Wedhfel der Beftandtheile, der, auf lange Zeiten unmerflidh vertheilt, uns ben lebendigen Leib als ein beharrliches Bild erfcheinen läßt. Alle diefe günftigen Umftände fehlen dem erftorbenen Körper. Mit dem Aufhören aller Functionen find die Wege gefchloffen, auf denen das Zerſtörte entfernt, neuer Erſatz gewonnen merden Könnte; bewegungslos ih anfammelnd wirken die ſchon in Zerfegung begriffenen Stoffe länger aufeinander und zernagen die Scheivemände, die früher ihre wechſelſeitigen Berührungen binderten; um fich greifend und . durch Feine Ordnung mehr geregelt, laufen die chemifchen Vor .

gänge in das wüſte Bild der Fäulniß zufammen. Wie groß das Gewicht ift, das dieſe fo abmeichende Geftaltung der bedingenden Nebenumftände für den Verlauf des, lebendigen Chemismus hat,

facher Krankheiten, in denen der Aufhebung oder Schmälefüng ein- zelner von jenen bemegenden und vegelnden Berrichtungen fo häufig Erſcheinungen einer theilweis beginnenden Verweſung des Körpers folgen. So nöthigt und dieſer Thatbeftand keineswegs, in dem lebendigen Körper eine eigne befondere Kraft zu fuchen, Die gegen das allgemein giltige chemifche Recht feine Beſtandtheile in einer Miſchung erbielte, welche ihren natürlichen Neigungen wiberftrebte.e Er erlangt dieſes Ergebniß vielmehr, indem er, jenem Recht fi völlig unterwerfend, die Zerfegung beffen gemäh- ren läßt, was unter den vorhandenen Bedingungen feine Zuſam⸗ menfegung nicht aufrecht erhalten Tann. Aber durch eine mohl- geordnete Reihe ineinandergreifender Bewegungen verhindert er den Nachtheil von Vorgängen, Die er zu verbieten feine Macht bat, und erfeßt wieder, was durch diefe zerſtört ſich feinem Dienfte entzogen hat. Dieſelben Gefete der chemifchen Ber- wandtſchaft beherrichen daher ohne Zweifel den Zerfall des tod- ten wie die Fortdauer des lebenden Körpers, aber der trüben Fäulniß des erften gegenüber ift das Leben eine organifirte Zer- fegung, abhängig von der Ordnung, in welder unabläffig fort- gehende Verrihtungen die Wechſelwirkungen der Stoffe allein veritatten.

Und endlich: wielleicht hätten wir gleich mit dem Hinweis auf. die Mebertreibung beginnen müſſen, mit welcher die Hinfällig- feit organiſcher Körper gefhildert wird. Das Holz der Bäume, aus dem wir unfere Gebäude unfere Geräthe unjere Schiffe zunmern, bie Federn des Vogelflügel8, mit denen wir dieſe wun- derlichen Behauptungen fehreiben, die tbieriichen Häute, Die unfere Körper gegen die Unbill des Wetters vertbeidigen: find fie wirf- lich unter unfern Händen in eiliger Zerfegung begriffen? Sie ge- hören im Gegentheil zu den bauerhafteften Gebilben, die nur lang- fam den Angriffen der äußeren Bedingungen unterliegen, während zahlreiche Erzeugniffe des unorganiſchen Chemismus nicht Davor beſchützt werden innen, durch geringfügige Veränderungen der Tem-

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peratur, durch Zutritt von Luft und Waſſer plöglich in ihre Be— jtandtheile zeriprengt zu werden. Jene große Zerſetzlichkeit gehört daher nur denjenigen organifchen Stoffen, auf deren Leichte Ver— änderlichleit der Plan des Lebens rechnen mußte; und felbft von ihnen bleibt e8 zweifelhaft, wie weit unter gewöhnlichen Umftänden ihre Zerfallbarkeit reicht und ob nit erft die Ein- wirfung anderer lebendiger Organismen, die auf ihre Koften ſich zu entwideln ftreben, die Kraft bildet, weldhe ihren Zuſam⸗ menhang zernagt.

Das eigenthlimliche Spiel des Stoffwechfel8, das wir vorhin nur als eine Thatfache zur Erflärung einer auffallenden Erfchei- nung benußgten, werben wir fpäter in feinem Werthe für Die Be- gründung des Lebens kennen lernen; zunächſt finden wir e8 von der gegnerifhen Anfiht als einen neuen Beweis für die eigen- thümliche Natur der Lebensfraft benutt. Denn während in dem Gebiete des Unorganifchen jede Kraft an einer beftimmten Maffe hafte und mit dem Wachen und Abnehmen derfelben gleiche Ver⸗ änderungen erfahre, überbaure bie Lebenskraft den Wechſel Der Körperbeftandtheile und erſcheine über ihrer Vergänglichfeit als eine höhere und nicht an den Stoff gebundene beftändige Macht. Kaum wiirde jedoch dieſe Meinung eine eigne Widerlegung erfordern, wenn eine folche nicht Gelegenheit gäbe, zugleich Die wirkliche Eigenthümlichkeit bes Lebens deutlicher zu machen! Denn fie behauptet offenbar zu viel, wenn fle die Lebenskraft bie Vergänglichkeit der Beftandtheile überhaupt überdauern läßt. Nur wenige Theile des Körpers können vielmehr in jevem Augen- blid der Zerjegung hingegeben werden, ohne daß der Ablauf des Lebens geftört würde, für deſſen Fortdauer die unverhält- nißmäßig größere Menge jener Beftandtheile, die während Diefer Zeit in Mifhung und Verbindung unerſchüttert fortbefteben, eine hinreichend feſte Grundlage darbietet. Die gemöhnlichften Erfahrungen zeigen, daß dieſes Verhalten zu einfach ift, um als wefentliches Kennzeichen das Leben von dem unorganifchen Geſchehen zu unterfcheiden. Der Zufammenbalt der Theile in

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jedem Bauwerk pflegt groß genug zu fein, um bie einftmeilige Hinwegnahme eines fhabhaften Steines zu geftatten, ohne daß bi8 zu feinem Erfak durch einen andern die Form des Baues in ihrem Fortbeftande bedroht wäre. Aber diefelben Beobachtungen lehren zugleich, daß die Theile des Gebäudes während der Dauer diefer Erneuerung nicht diefelbe Laſt zu tragen im Stande find, die fie in ihrer früheren Vollftändigfeit aushielten. Wo daher die Hinwegnahme eines Beftandtheild zwar die äußere Yorm eines zufanmmengehörigen Shftems von Maffen nicht ändert und vielleicht felbft den Ablauf feiner inneren Bewegungen nicht ſichtbar umge- ftaltet, da kann fie doch die Widerftandstraft des Syſtems gegen äußere Störung und die Größe der Leiftungen, die e8 ausführen kann, auf das Wefentlichite beeinträchtigen. Wir haben feinen Grund zu glauben, daß in diefer Beziehung das Xeben ſich anders verhalte. Denn was wir unmittelbar beobachten, beſteht doch nur darin daß die gewöhnliche Geſchwindigkeit, mit welcher ber Stoffmechjel des gefunden Körpers vor ſich geht, die Form feiner Lebensverrihtungen und bie natürliche Reihenfolge derfelben nicht auffallend ändert; aber wir haben in den Erfcheinungen feinen Grund zu der Behauptung, daß auch Die Größe der Widerftands- fraft gegen äußere Einflüffe und die Fähigkeit zu lebendigen Leiftungen von den Schwankungen in dem Maffenbeftande des Körpers nicht berührt werde. So lange allerdings Zerfegung und Wiebererfag in gleichförmigem Strome fortlaufend einander entſprechen, wird aud die Kraft des Körpers auf gleihmäßiger Höhe bleiben; wo dagegen der Stoffmechjel in beftimmten Zeit- räumen anwächſt oder abnimmt, da feben wir aud Perioden geringerer oder größerer Widerftandsfähigfeit gegen Störungen eintreten. Und zulett lehrt die allgemeine Sterblichkeit der leben- digen Wefen, daß der beitändige Wechfel der Beſtandtheile Doc nicht immer von ber Lebenskraft überdauert wird, fondern daß er unvermeidlich auch ohne die Einwirkung äußerer Schäblichfeiten zu neuen Beziehungen zwiſchen den Beftandtheilen führt, mit denen die Fortdauer des früheren Spiele8 der Bewegungen unvereinbar

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wird. Nicht als ein Geift, der über den Waſſern ſchwebte, wird daher bie Lebenskraft fi in dem Wechfel der Maſſen erhalten, fondern die beftimmte Verbindungsweile der Theile, die nicht mit gleicher Geſchwindigkeit vergehen, fondern von denen ein langjamer fi verändernder Stamm ftet8 den gefeßgebenben Kern für die An- lagerung des kommenden Erfages gewährt, wird bie Fortfegung der Lebenserfheinungen eine Zeit lang möglich maden, obne doch ihr Ende zulett verhüten zu Können.

Aber das neue Leben, das aus dem vergehenden fi) uner⸗ ſchöpflich wieder entwidelt, erregt neue Zweifel; ohne eine Schwächung ihrer Stärke zu erleiden, vertheilt fih in der Fortpflanzung Die Lebenskraft über die neu erzeugten Organismen, während unorga- nifche Kräfte, über eine wachſende Menge von Stoffen verbreitet, jedem einzelnen nur mit dem Bruchtheil ihrer Stärke zu Theil werden, der ihrer Anzahl entſpricht. In der That nicht nur Feine Schwächung, ſondern eine offenbare Vermehrung der Lebenskraft erbliden wir in den Kindern, neben denen das Leben ver Eltern fortblübt. Aber nur der erfte Eindruck, nicht die nähere Betrach- tung läßt uns bier Räthfelhafteres fehen, als in der unbelebten Natur vorgeht. Auch der Magnet theilt feine Kraft, ohne daß fie in ihm ſelbſt ſchwächer wirb, vielen Eifenftäben mit; auch ber flammende Körper fegt eine unbefchränfte Anzahl anderer in ben gleihen Brand ohne durch dieſe Mittheilung zu erkalten. Nicht Kräfte überhaupt werben irgendwo, wie eintheilbare Flüffigfeiten, die ihren Ort wechjeln Könnten, von einem Stoffe auf den andern übertragen; in jedem Falle der Wechſelwirkung verfegt vielmehr ber eine ben andern in veränderte innere und äußere Zuſtände, unter denen feiner Natur neue Fähigfeiten des Wirkens zumachen, oder früher vorhandene von den Hinderungen ihrer Aeußerung befreit werden. Ein Stoß, auf eine flarre Mafle ausgeübt, deren inneren Zuſammenhang er nicht ändern Kann, wird biefer nur eine Ortsbewegung mittheilen, deren Gefhwinbigteit um fo Heiner

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ausfallen wird, je größer wir uns die Maſſe denfen, auf welche der Einfluß des Stoßes ſich vertheilen muß. Die Wirkung wird fi anders geftalten, wenn derfelbe Stoß auf eine geringe Menge von Knallſilber ausgeübt wird, deſſen gewaltſame Erploſion eine ungleich größere Zerſtörung in der Umgebung hervorbringen wird, als jener Stoß ſelber es vermocht hätte, wenn er unmittelbar auf dieſelbe Umgebung getroffen hätte. Unleugbar iſt hier durch die Dazwiſchenkunft der explodirenden Subſtanz eine große Vermeb- rung der Kraft eingetreten. Sie entjtand, indem ber urfprüngliche Stoß auch hier den Theilen jener Subftanz unmittelbar nur Die geringfügige Gefchwinbigfeit mittheilte, die er auch jedem andern Körper von gleicher Mafje gegeben haben würde; aber diefe un- ſcheinbare Erſtwirkung traf hier auf Theilchen, denen nur eine ſchnelle gegenfeitige Annäherung nöthig war, damit die chemiſchen Berwandbtihaften, die zwilchen ihnen Yängft beſtanden, die Tebte nöthige Bedingung ihres Ausbrechens in eine geräufchvolle Wirk⸗ famteit erhielten. So reicht bier ein Feiner Anftoß bin um eine große Wirkung plöglich zu erzeugen; er wird auch hinreichen, um eine lange dauernde Reihe fi) aus einander entwidelnder und zu großen Erfolgen anwachſender Vorgänge berborzubringen, ſobald die Kräfte, die er aus ihrem Gleichgewicht löſte, durch die natür⸗ lihen Beziehungen der Theilden, an denen fie haften, nur zu einer allmählichen Abwidlung ihrer Erfolge befähigt find.

So ſehr daher die Fortpflanzung des Lebendigen durch die forgfältige Anordnung zufammenftimmender Thätigfeiten, welche fie vorausſetzt, ftet8 unjere Bewunderung erweden wird, fo ift fie doch nicht aus jenem Grunde räthfelhaft, den wir vorhin für die An- nahme einer eigenthümlichen Lebensfraft gelten gemacht fanden. Denn ihr wirklicher Hergang befteht doch nur darin, daß ein fehr unbebeutender Maſſentheil des mütterlichen Organismus fi von diefem, mit defien Lebensverrichtungen er in feinem wichtigen Zu⸗ fammenhange ftand, als Keim eines neuen Geſchöpfes abIäft. Wollten wir felbft annehmen, daß auf ihn ſich ein Theil ber Les benskraft feiner Erzeuger übertrüge, fo würde ae Diefer

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Antbeil verſchwindend Hein fein; denn die Lebenskraft des Keimes finden wir urfprünglich eben fo Klein und fie erwächſt zur Größe einer erheblichen Leiftungsfähigkeit immer erft durch eine lange Entwicklung, in der fie ſich durch Herbeiziehung der Stoffe aus der Außenwelt verftärlt. Nur wenige winde alſo auch in diefem Falle der erzeugende Organismus verlieren und gewiß find unfere Beobachtungen völlig unzureichend zu der Behauptung, daß diefer Heine Verluft nicht mit einer entiprechend Meinen Schwächung der elterlichen Lebenskraft verbunden fei. Aber e8 hat wenig Werth, einen Gedanken zu verfolgen, deffen allgemeine Unmöglid- feit wir fchon kennen gelernt haben; nicht Kräfte werden von einem zum andern mitgetbeilt, ſondern nur Bewegungen können übertragen oder Stoffe von einer größeren Verbindung zu felbftändiger Sort- eriftenz abgelöft werden. Darauf wird daher alle Fortpflanzung beruben, daß dem Erzeugenden die Herftellung eines Keimes möglich wird, der unbebeutend an Maffe fi) nur durd die forgfältig an= geordnete Berbindungsweife und Miſchung feiner Beftanbtbeile auszeichnet und nur durch fie befähigt wird, unter dem Einfluffe äußerer begünftigenden Bedingungen ſich mit zunehmender Kraft in ein lebendiges Gebilde zu entwideln. So ift die erfte Erzeugung eines neuen Weſens feine Aufgabe, von der eine Verminderung ber Lebenskraft für die Erzeuger zu erwarten wäre; mohl aber mögen die zahlreichen Anftrengungen, die in vielen Gefchöpfen ber mlütterliche Organismus zur früheften Kräftigung und Entwidlung des Keimes zu machen bat, feine Lebensfähigfeit ernftlicher be= drohen.

Aber erneuert ſich nicht daſſelbe Räthfel, das wir aus dem Geheimniß ber Fortpflanzung zu entfernen fuchten, fogleich wieder in dem Geheimniß des Wahsthums, in welchem der neu erzeugte Organismus feine Kraft und Maſſe beftändig vermehrt? Mit der Zunahme der Laſt, die ſie zu beherrichen hat, ſehen wir Die Lebenskraft wachſen, während ſonſt jede Fähigkeit an ihren zu— nehmenden Aufgaben zu erlahmen pflegt. Doch auch dieſe Schwie— rigfeit Täßt bie nähere Betrachtung des wirklichen Hergangs ver-

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ſchwinden, und fle verdient Erwähnung nur um eines allgemeinen Borurtheild willen, das fih an fie knüpft. Wenn ber wachſende Körper die Stoffe der Außenwelt in ſich hineinzieht und zu feinem Dienfte zwingt, jo ftellen wir ung zu oft dieſes errungene Material zu gleichgiltig und fo entblößt von gegenfeitigen Wechſelwirkungen vor, daß es überall einer befondern zufammenhaltenden Kraft zu bebürfen fchiene, die das einmal Zufanmengeführte in den Formen feiner Verbindung feffelte. Unſere Anfchauungen über bie BVer- fnüpfung der organischen Theile find zu ſehr nad) dem Bilde eines Bündels von Gegenjtänden entworfen, die gleichgiltig gegen einan- der und ohne alle eigne Kraft wechjelfeitigen Anhaftens eines ihnen allen äußerlihen Bandes bedürfen, das fie zufammen- fhnürt. Denn das iſt ja die gewöhnliche Sehnfucht, das Band fennen zu lernen, das Leib und Eeele oder Das bie Beftandtheile des Leibes zufammenhält, oder am Ende das geiftige Band, welches, wabricheinlich von edlerer Natur als die finnlihen Bindemittel, doch nicht den mejentlihen Begriff eines Stranges überfteigt; denn es foll, da e8 als Eines gedacht wird, doch wohl in ähnlichen äußer- lihen Windungen, wie dieſer, eine Vielheit beziehungslofer Theile unter ſich verketten. Es ift anders in Wirklichleit. Die Herbeifhaffung der Stoffe, durch welche der organifche Körper wachſen fol, mag eigne Anftrengungen erfordern, deren wir an- derswo gedenken werden; ihre Erhaltung aber in den Formen der gegenfeitigen Lagerung, die ſie einmal angenommen haben, ift fein Act der Gewalt, gegen ben ſie widerfpänftig wären, fo daß eine befondere Lebenskraft, ftärfer als die Kräfte aller Theile, zu feiner Durchführung nöthig wäre; nicht einmal gleichgiltig find die Ele= mente gegen diefe Aufgabe, ſondern fie führen fie jelbit aus. Denn indem fie in den Bereich des Tebendigen Körpers eingetreten find, haben fie die Kräfte nicht abgeftreift, die ihrer Natur vorher eigen waren; fondern mit diefen Kräften eben haften fie aneinander und folgen nun in diefer Gemeinfhaft und den Bebitrfniffen des Or- ganismus entiprechend denjelben Geſetzen des Wirfens weiter, denen fie früher außerhalb befielben vereinzelt gehorchten. Anſtatt eines 5%

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Bandes, das mit oberflächlichen Windungen Die ganze Unzählbar- feit der Theile umfchlöffe, finden wir daher unzählige Bänder, bie je zwei einzelne Elemente des Körpers verfnüpfen, und biefe Bänder find Nichts als die eignen Kräfte der Elemente jelbft, die e8 weder bedürfen von irgend einem höheren Gebote zu ber Wirkung erwedt zu werden, die ihrer Natur eigenthümlich ıft, noch ed ertragen würden zu einer andern erregt zu werben, Die ihr wiberfpricht. Jedes einzelne Atom, das die Maffe des Körpers vermehrt, tritt in feinen Zufammenhang durch Die anziehende Kraft ein, die e8 von irgend einem Theile deſſelben erfährt; feft- gehalten durch biefelbe Kraft, deren Ausübung feine Anftrengung für den Körper ift, ftellt e8 biefem nun auch feine eigne Waffe mit allen ben Kräften mechaniſcher und chemiſcher Art zu Gebot, die an ihr haften, und durch Die nun dem Körper eine Möglichleit größerer Einwirkung auf die Außenwelt mithin ein Zuwachs feiner Kraft entſteht. Nur darin befteht die Leiſtung des Lebens, daß der fchon beftehende Stamm ber leiblichen Beftanbtheile ſtets fo geordnet ift und ftet8 in folder Form mit dem Material der äußeren Welt in Berührung tritt, daß die fich entipinnenden Wechſelwirkungen und als ihre Folge der neue Anfat von Theilchen den Bebiürfniffen des Lebens angemefjen geſchieht.

Man Tann auch diefe Aufgabe benugen, um die alten Schwierigkeiten zu erneuem. Wie vorhin ein Band für die all- zurubigen, fo ſucht man jeßt vielleicht für die lebendig gewordene Anzabl der Theile einen Zügel, der ihre Wirkungen hier geftatte, fie Dort verbiete, fle jeßt befchleunige, dann verzögere. Eine kaum share Aufgabe gewiß, wenn fie in die Hand Einer Kraft gelegt werden müßte, Die den Plan der Organifation in jedem Augen- blide durch befondere Nachhülfen aufrecht zu erhalten hätte. Aber auch dieſe Leiftung vollzieht ſich von felbft, fo Lange nicht fremd- artige Störungen die VBerhältnifie unberehenbar verfhieben. Eine Zufammenftellung von Theilchen, die den Keim eines organiſchen Weſens bildet, kann leicht fo georbnet fein, daß fle im Laufe ihrer Entwidlung nur beftimmte Stellen für fpätere Wechſelwirkung

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offen läßt; andere verfeftigt fie fo, Daß an ihnen die Stoffe ber Außenwelt wirkungslos vorübergehen, um auf den Wegen, bie ausichliegli für den Yortgang der Bildung organifirt find, fi in dem Körper zu verbreiten und einen feften Gang des Wachs⸗ thums einem ftet8 eingehaltenen Muſter gemäß möglich zu machen. Nicht überall fett fih ſchon an den Kruftall der neue Niederſchlag des gleichen Stoffes an, fondern die Kräfte des fchon Gebilveten zeichnen ben fpäteren Theilen Ort und Form ihrer Anlagerung vor und erhalten im Wachsthum die urjprüngliche Geftalt oder doch das urjprüngliche Gefeß ihrer Bildung. Was hier die un- organiſche Natur ausführt, das Teiftet in unvergleichlich größerer Teinheit und Verwicklung, aber Doch nicht nach anderen Principien des Wirkens, auch der Tebendige Körper, und die nähere Betrachtung feines Baues und feiner Berrichtungen wird uns zeigen, wie leicht fih hier vieles ſcheinbar Schwierige von jelbft vollzieht, weil ftu- feuweis in dem langen Laufe der Entwidlung jeder frühere Zu- ftand die Zahl der unbeftimmten Möglichkeiten des Weiterwirkens beſchränkt und die fpäteren Creigniffe in genauer bworgefchriebene Bahnen einengt.

So würde alfo au die Innehaltung der Orbnung in ber veränderlihen Mannigfaltigfeit der Lebensproceffe nicht von dem beftändig ernenerten Eingriffe einer bejondern vegelnden Macht, ſondern von der einmal gegebenen Anordnung eines Syſtems bon Theilden abhängen und durch bie gewohnten Wirkungen dieſer Elemente im Einzelnen verwirklicht werden. Wir haben oben ſchon hinzugefügt, daß dieſes Ergebniß die Abhaltung äußerer Störungen borausfege. Aber gerade hierin findet man eine neue Eigenthüm—⸗ lichfeit des Lebens, daß es mit zwedmäßig zurückwirkender Heil- fraft au diefe Störungen überbaure und befeitige. Alle feine andern Erfcheinungen mögen fich anfehen laffen, wie die allmäh— lich und geſetzlich abrollenden Bewegungen einer Mafchine, deren einmal vorhandener und in Anftoß verfegter Bau eine Man

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nigfaltigkeit von Wirkungen nad einander entfaltet; «aber die aus⸗ gleichende Thätigfeit, die den Umftänden fi anbequemt und mit Auswahl der beften Mittel den urfprüngliden Plan immer inne⸗ zubalten fucht, fcheint nur einer Lebenskraft möglich, die nicht wie Die übrigen phyſiſchen Kräfte durch ein monotones Geſetz ihrer Wirkungsweife, fondern durch die bewegliche Rückſicht auf den Zweck des Wirkens geleitet wird. Wber wie Vieles, Beobachtung und Ueberlegung, vereinigt fi, um dieſen blendenden Schluß zu beftreiten! Denn blendend ift er zunächſt, indem er die That- fachen in einem viel zu günftigen Lichte erfcheinen läßt und die tiefen Schatten verſchweigt. Der Tod, der fo vieles Leben vor dem natürlihen Abſchluß feiner Entwidlung dabinrafft, aus Störungen hervorgehend, die in ihrer Kleinheit unferer Beobachtung fih entziehen, überzeugt uns zuerft, daß jene zwedmäßige Heil- kraft des Körpers nicht unbedingt, und die Menge der Krankheiten, die, nur unvollkommen überwunden, fpätere Tage verkümmern, lehrt uns weiter, daß fie in hohem Grade beſchränkt if. Auch das gefunde Leben, da es nicht ein aus fich ſelbſt allein quellendes Spiel von Bewegungen ift, fondern in fteter Wechſelwirkung mit dem Aeußeren verläuft, jchließt eine große Menge von Verände- rungen des Körpers ein, die zunächſt al8 Störungen feines Be— ftande8 zu betrachten find, und zu deren Wiederbefeitigung ſchon in der erften Anlage des Leibes eine Mannigfaltigfeit beftändig fortgehender Berrichtungen begründet ift. Ein Syftem von Theilen nun, deffen Berbältniffe einmal jo zweckmäßig georbnet find, daß feine Wirkungen innerhalb einer gewiffen Grenze die vegellojen Einflüffe des Aeußeren überwinden Können, verliert nicht augen- blicklich dieſe Fähigkeit, fobald unter ungewohnten Umftänden biefe Grenze überjchritten wird. Mit der Mannigfaltigfeit der glüd- lichen Einrichtungen, die e8 einmal beſaß, gelingt es ihm häufig, aud Größen und Formen der Störung, auf die e8 nicht berechnet war, entweder völlig oder doch jo weit zu befiegen, daß die Bejchä- Digung, die es erleidet, nicht auffallend die Geftalt feiner Bewe- gungen ändert. Aber allerdings wird e8 unheilbar zerrüttet werben,

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fobald in feinem Baue und feinen Berrichtungen fich fein glücklicher Umftand findet, der die Störung nöthigte, fich felbft durch die Rückwirkungen aufzureiben, die ihr Reiz in den Thätigfeiten des Syſtems hervorbringt. Zahlreiche Beifpiele zeigen und, wie weit jelbft die menſchliche Technik mit den immer unvollfommenen Mitteln, die ihr zu Gebote ftehen, dieſe Aufgabe zu löſen ver: mag. Auch fie weiß Maſchinen jo zu bauen, daß die ungleiche Ausdehnung, welche verfchiedene Metalle durch gleiche Wärme- grade erfahren, die ſchädliche Folge wieder aufhebt, welche bie Beränderlichfeit der Temperatur für Die Genauigfeit ihrer Reiftungen haben könnte; auch fie kann die bewegte Locomotive nöthigen, eine Vorrichtung jelbft in Gang zu ſetzen, Durch Die den Rädern das reibungvermindernde Del gerade in dem Maße zugeführt wird, in weldem es die jedesmal erlangte Geſchwindigkeit des Zuges erfordert. Wenn wir auf dieſe Leitungen mit einem ge- wiffen Stolze bliden, fo bezeichnet e8 eben die Geringfügigkeit menjchlichen Vermögens, daß ſchon ſolche Erfolge e8 find, auf die wir ſtolz fein können; gewiß find fie überaus unbedeutend im Bergleihe zu der unendlichen Feinheit und Vielfeitigfeit, mit welcher der lebende Körper unzähligen Fleinen Störungen gleich: zeitig widerſteht; aber dieſer Unterjchied des Werthes berechtigt doch nicht zu dem Schluffe auf ebenfo großen Unterfchien in den Principien der Wirkungsart.

Auch in dem Organismus ift die heilende Rüdwirkung an die einmal beftehende Zweckmäßigkeit feiner inneren Einrichtung geknüpft, und fie reicht nur fo weit, als die äußeren Eingriffe dieſe Anordnung in ihrer wejentlihen Form unangetaftet Laffen. Sie wird aber vergeblich erwartet, fo oft die Gewalt der Störung diefe glüdlichen Umftände verfchoben bat, obgleih aud dann die Nachwirkung der urfprünglichen Trefflichfeit fo groß ift, daß nicht jofort Die völlige Auflöfung, fondern ein erträglicher einiger Dauer fähiger und die Umriſſe des Lebensplanes wenigſtens im Ganzen noch fefthaltender Zuftand an Die Stelle der unmöglich gewordenen Gefundheit tritt. Niemals fehen wir dagegen heilende Rück—

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wirkungen eintreten von neuer und ganz ungemwohnter Art, foldhe, von denen nicht das gefunde Leben bereits einen befländigen Ge⸗ brauch machte. Nur in verftärkter Heftigfeit und in anderer Ber- knüpfung erregen zuweilen die äußeren Störungen diefe ftet8 ſchon vorhandenen Thätigfeiten, und eben dieſer Aufruhr, wie er zu: weilen ungewöhnlidie Erfolge bedingt, führt in eben fo zahlreichen Fällen die völlige Vernichtung herbei. Belebte eine eigenthümliche Heilkraft den Körper, mit irgend welder Freiheit der Wahl und irgendwie unabhängig mit den phyſiſchen und chemifchen Kräften der Maſſen fchaltend, fo würde. es ſchwer fein zu erflären, warum fie, die einmal der natürlichen Nothwendigkeit überhoben wäre, in der Ausführung ihrer Abfichten jemals fcheitern Könnte; wir be= greifen die Nothwendigfeit ihrer Beichränttheit, wenn wir fie als die Summe deſſen faſſen, was der lebendige Körper mit denjenigen zwedimäßigen XThätigfeiten, die auf die gewöhnlichen Umftände des Lebens berechnet find, unter ungewöhnlichen noch zu leiften vermag.

So groß ift jedoch Die Bewunderung, welche ber ineinander- greifende Bau des Lebens auch der mecaniftifhen Auffaſſung deffelben abnöthigt, daß wir den Gegnern nicht verargen, wenn fie ihre Borftellung einer eigenthümlichen Lebenstraft unter immer neuen Formen und wieder and Herz legen. Nicht eine neue Kraft, werden fie fagen, nicht eine plöglich eingreifende Heil- thätigfeit verlangen wir, bie, in den beftändigen Einrichtungen des Lebens nicht begründet, erft im Falle feiner Störung hervor- träte; fondern den ganzen Ablauf der Lebenserfcheinung ver- mögen wir nur zu begreifen, wenn bie Iebendige Idee des Ganzen beftändig die Theile als das waltende Princip zufam- menfaßt; ihre Thätigfeit iſt es, die weniger auffallend in dem gejunden Zuſtande, an deſſen fortwährendes Wunder wir ge- wöhnt find, defto mehr in ihren gefleigerten Rückwirkungen gegen die

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Gewalt der Störungen offenbar wird. Nur in den unorganifchen Gebilden entftehe das Ganze aus der Zufammenfegung der Theile, im Lebendigen gehe e8 den Theilen voran. Es ift Elar, daß diefe letzte Behauptung nur den Sinn haben kann, daß die Form des Ganzen bereitS als belebende und gefeßgebende Gewalt dem fich bildenden Körper inwohne, nod ehe die vollgählige Summe ber Theile, Durch Die jeine Umriſſe einft ausgefüllt werben, vorhanden oder in die ihnen zufommenden Lagen gebracht if. In der That zeigen mehrere Borgänge in der erften Ausbildung des Keimes, daß an die Orte der Geftalt, an denen beftimmte Organe fih bilden follen, zunächſt formlos erſcheinende Mafjen abgelagert werden, die erſt fpäter in fi die Gliederung in Theile entwideln, welche das fertige Organ beibehält. Ereigniffe diejer Art mögen augenblidlich jene Vorftellungsweife begünftigen; aber Diefe gefeß- lihen Entwidlungen, die, zu einem gemeinfamen Plane des Ganzen übereinftiimmend, an verjchievenen Stellen des Keimes gleichzeitig vor fich gehen, verlieren dieſe Hebereinftimmung, wenn durch Erfchütterung oder Trennung der mechaniſche Zuſammen⸗ bang der Keimtheile geftört wird. Dieſe Thatjache zeigt ung, daß die zerftreuten Bildungsprocefje doch nicht allein Durch eine über ihnen ſchwebende Idee, fondern durch die beftimmte Anord⸗ nung der Wechſelwirkungen unterhalten werben, die zwiſchen allen einzelnen Theilen vermöge ihrer beftimmten Lagerung gegen einander obwalten. Durch fie wird am vorgezeichneten Orten das bildungsfähige Material abgelagert und durch ihre meiteren Leitungen, die durch diefen erften Erfolg felbit neue Bedingungen fpäterer gewonnen haben, entfpinnt ſich die allmähliche Gliederung ber kleinſten Beſtandtheile. Würde es weniger wunderbar fein, wenn die Bildung, von einem einzigen Mittelpunkt ausgehend, ftet8 Die zunächſt gelegenen Umgebungen ſogleich in ihrer endlichen Geſtalt erzeugte, und würden wir nicht dies nod mehr räthfelhaft finden? Gewiß hängt alſo die Bildung jedes organischen Theiles davon ab, daß er ſich in beftändiger Gemeinſchaft mit allen andern entwidelt, die mit ihm zum Ganzen gehören; aber diefe Gemein-

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ſchaft befteht nicht in der Umfaffung aller durch eine thätige Idee, fondern darin, daß alle in ein Syſtem phufiicher Wechfelmwirkungen verflochten find, aus denen für jeden einzelnen Richtung Form und Gefchwindigfeit feiner Entwidlungsbewegung fließt.

Die Thatfachen wenigſtens geftatten dieſe Anficht; eine all- gemeinere Weberlegung zeigt fie als nothwendig. Denn nur in zweifacher Weife lönnen wir von einer Idee des Ganzen ſprechen. Sie kann uns zuerft al8 das Mufter und der Plan gelten, den unfere Erfenntniß in dem ausgeführten organiichen Gebilde dar- geftellt, oder in feiner allmählichen Entwidlung beftändig befolgt findet. Aber fein Mufter, kein Blan, den wir vielleicht als den Zweck eines Naturprocefies faffen, vermwirflicht fi von jelbft; nur dann wird er ſich vollziehen, wenn die Stoffe, in deren Geftal- tung er erſcheinen foll, durch eine urfprüngliche Anordnung ihrer Berhältniffe von felbft genöthigt find, durch ihre Kräfte nad den allgemeinen Gefeten des Naturlaufes das hervorzubringen, was er gebietet. So übt er ftet8 nur eine ſcheinbare Macht aus, und jo wenig wir Die Idee der Unordnung als ein thätiges und treibendes Princip in einer vegellofen Reihe von Veränderungen anjehen, jo wenig Dürfen wir Die Idee irgend einer Ordnung als die bewirkende und erhaltende Urfache eines regelmäßigen Kreifes bon Ereignifien betrachten. In beiden Fällen gefchieht, was nach ber einmal gegebenen Lage der Sachen gefchehen mußte und ber Borzug des legteren befteht nicht in einer ftetig handelnden Zweck⸗ thätigfeit, ſondern in der beftändig nachwirkenden Zweckmäßigkeit der erften Anordnung. Aber dieſe erfte Anordnung ſelbſt, wird man uns einwerfen, woher rührt fie? Wir wiflen es nicht, und wir haben feinen Grund, bier jhon die Vermuthungen auszuſprechen, die wir über file hegen können. Nicht das ift un- fere Abfigt, in dem Xebendigen die Spuren einer Weisheit zu leugnen, bie uns über bie mechaniſche Verkettung bloßer Ereig- niffe auf eine unverftanvene [chöpferifche Kraft hinausweiſen; aber unfere Aufgabe ift e8 noch nicht, den erften Uriprung des Lebens zu ſuchen; wir fragen nur nach den Gefegen, nach denen das

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wunderbar erichaffene fich innerhalb der Grenzen unferer Beobach⸗ tung erhält. Und wir finden, daß das Leben innerhalb diefer Grenzen nicht mehr neu entfteht, daß feine Erhaltung vielmehr an die ununterbrodhene Tradition beftimmter Stoffe mit beftimm- ter Lagerung ihrer Kleinften Theile gebunden ift, fo wie fie in ber Fortpflanzung beftändig von einem zum andern überliefert werden. Wir ſehen darin den Beweis, daß die Ideen nicht im Stande find, fi in Stoffen zu verwirklichen, deren innere Glie- derung nicht ſchon in forgfamfter Weiſe fo georbnet ift, daß aus ihr allein ohne den weiteren Beiftand der Ideen, ja felbft wenn diefe es nicht wollten, dennoch von felbft die von ihnen vorge⸗ zeichnete Geftalt entipringen müßte. Wohl mögen die Ideen am Anfange der Welt die beftimmenben Gründe für die erften Ver⸗ knüpfungen der Dinge geweſen fein; in ihrer Erhaltung dagegen find e8 die Wirffamfeiten der Theile, die den Inhalt der Ideen renlifiren.

Doch wir wiffen, daß die Anficht, die wir befämpfen, die Idee des Ganzen nicht fo verfteht, als wäre fie ein unmirkliches Mufter, das machtlos der Wirklichkeit der Stoffe gegenüber ſchwebt. Aber indem ſie die Idee als eine felbft Iebendige und thatfräftige Macht auffaßt, wird fie gendthigt fein, zu der andern beftimmten Bedeutung überzugehen, die wir dem vielmißbrauchten Worte geben Finnen. Sol die Wirkſamkeit der einzelnen Theile nicht zur übereinftimmenden Ausbildung des Ganzen hinreichen, jo wird doch das höhere Band, das ergänzend Hinzutritt, überall bon ber Lage der Dinge, in die e8 eingreifen foll, einen Ein- drud erfahren müſſen, um im rechten Augenblide das der vor- bandenen Lage Angemefjene zu bewirken. Solche Eindrücke laſſen fh als Zuftandsänderungen des Bandes faffen, welche mit gefet- licher Nothwendigkeit eine beftimmte Rückwirkung deſſelben hervor- rufen. Es iſt offenbar, daß unter dieſer Vorausſetzung jenes Band keine höhere Rolle ſpielt, als jeder der Stoffe, die, von einander Eindrücke empfangend, durch das Ineinandergreifen ihrer Rückwirkungen auch nad unſerer Anſicht die Bildung des Or-

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ganifchen hervorbringen. Nur darin würde eine Eigenthümlich⸗ feit diefer Vorftellung Liegen, daß fie nicht von allen Theilen einen gleich werthvollen Beitrag zur Begründung des Lebens er- wartet, fondern einen einzigen vorzugsweis als den Brennpunkt in die Mitte der übrigen ftellt, in weldyem die zufammenlaufen- den Wirkungen aller eine Bielbeit zufammenftimmender Thätig⸗ feiten hervorrufen. Ohne Zweifel nun ift es richtig, daß Die verichiedenen Theile ſehr verfchiedene Wichtigkeit für Die Begrün⸗ bung und Erhaltung einer beftimmten Lebensform befigen; Doch vergeblich jehen wir uns in der Erfahrung nad) einer Thatſache um, welche uns bereditigte, einen einzigen in fo ausſchließlicher Weile als den Vertreter der Idee des Ganzen zu betrachten. Aber gewiß wollte jene Anſicht in dem höheren Bande, das fie fucht, eben nicht jene Teblofe Nothwendigfeit des Wirkens wieber- finden, die fie ja aus dem Organismus überhaupt zu verbannen wünſchte. Sie wird verlangen, daR jenes Band auf die Ein- drüde, die ihm zulommen, Nachwirkungen folgen laſſe, die nad) phyſiſchen Gejegen allein nicht nothiwendig an diefe gefnüpft fein würden. Aber weil der Plan der Organifation fie verlangt, er- zeugt fie das Band und ergänzt auf dieſe Weife den nicht voll⸗ kommen gejhlofjenen Zufammenhang der Natururfacen.

Wollen wir nun nicht völlig ins Unbeftimmte abfchmeifen und zum Erflärungsgrunde Etwas wählen, von deſſen Art und Weſen wir und nicht Die entferntefte Borftellung zu maden im Stande find, fo werben wir und wohl zugeftehen müfjen, Daß dieſe Art zwedmäßigen Wirkens nur einer Seele, nicht einer FD ee zulommen Tann, und in diefen deutlicheren Begriff müflen mir die ihrer jelbft ungewiffe VBorftellung der Idee verwandeln. Aus⸗ geftattet mit der Yähigfeit, Die Erinnerung vergangener Eindrüde wieder zu erzeugen, vermag allein die Seele, jene Lücke der na- türlichen Gaufalität zu ergänzen. Indem fie angeregt wird durch eine Mannigfaltigfeit von Reizen, die doch an fi noch nicht die vollftändigen Bedingungen eines wünſchenswerthen Erfolges einſchließt, erzeugt fie die Borftellung deſſen, was augenblid-

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lich in der Wirklichkeit fehlt, hinzu, und von dieſem Gebanten, als Stellvertreter des wirklichen Eindruds, gelangt fie zu dem zwedmäßigen Entſchluſſe, der nun wieder thätig in die Äußere Wirklichkeit eingreift. So wird der Zuſammenhang, der auf phy⸗ ſiſchem Gebiete abgebrochen war, durch eine Reihe von Wirkungen hergeſtellt, die auf geiftigem Gebiete verlaufend, zwei Ereigniffe an einander Inlipfen, deren erfted allein den vollftändigen Grund des zweiten nicht enthielt.

Auch diefe Hypotheſe nun bat der Gefchichte der Wiſſenſchaft nicht gefehlt, daß die Seele es ſei, deren Thätigfeit Die Ordnung und Zwedmäßigfeit der organifhen Entwidlung beberriche. Aber wenn diefe Anficht einen Theil von Wahrheit einfchließt, den wir fpäter hervorzuheben Gelegenheit finden, jo begünftigt doch unfere Erfahrung den Verſuch nicht, fie als eine genügendere Erklärung der mechaniſchen Auffaffung entgegenzuftellen. Mag es vielleicht in manchen Thierſeelen, in deren Inneres wir und nicht verlegen fönnen, ſich anders verhalten: in unferer Seele wenigftens finden wir fein Bewußtfein biefer bildenden Thätigfeit. Und doch hing ur von dem Bewußtſein und den eigenthümlichen Gefegen des Borftellungslaufes diefe Fähigleit der Seele ab, mehr zu leiften als der Naturlauf fir fih. Nur wo in Folge früherer Uebung fi eine Gewohnheit zwedmäßigen Wirkens als zweite Natur in der Seele befeftigt hat, mag der Borftellungslauf, der ihr zu Grunde Liegt, nicht in jedem einzelnen Falle mehr zum Bewußt⸗ fein fommen. Die Annahme dagegen, daß die Seele von Anfang an mit unbewußter Thätigleit den Körper organifire, würde nur dabin zurüdführen, fie ebenſo wie alle materiellen Theile des- felben als ein umfreies Element zu betrachten, das angeregt durch die Umftände, nad allgemeinen Gefegen nothmendige Wirkungen entfaltet. Vielleicht bat in diefer Deutung die erwähnte Anficht ihren Werth; unter den vielen Beftanbtheilen, die zum Bau des Lebens beitragen, ift vielleicht auch ein foldher, den feine übrige Natur durch einen größeren Unterfchieb von allen übrigen trennt; aber feine Gegenwart wiirde Doch die Thatſache nicht ändern, daß

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alle zwedtmäßigen Wirkungen in dem Lebenbigen von der Berbin- dungsweiſe der Theile, unter denen nun auch er fidh befände, mit Nothwendigkeit abhängen. Zu verlangen dagegen, daß die Seele leifte, was auf dieſe Weife noch nicht vollftändig begründet ifl, und daß fie diefe Leiftung unbewußt vollziehe, das würde nur heißen, von ihr die Erfüllung einer Arbeit fordern und gleich— zeitig ihr bie einzige Bedingung verfagen, bie deren Gelingen mög- lich macht.

Wir haben die Lehre von einer eigenthimlichen Lebenskraft in bie verfchievenen Borftellungsmeifen verfolgt, in denen fie nach und nad fich gelten gemacht bat; alle entiprangen kürzer oder auf längeren Ummegen aus der Beobachtung, daß die Rüdwir- kungen des Lebendigen auf die Eindrüde, denen es ausgeſetzt ift, niht in diefen Anregungen allein, oder daß die Formen, in denen es ſich ohne fihtbaren äußern Anſtoß entwidelt, in den vorbergegangenen Umftänden nicht vollftändig begründet fchienen. Diefe Neizbarkeit, die dem äußern Einfluß unerwartete, weder an Stärke noh an Dauer noch felbit in ihrer Form ihm ent— ſprechende Rückwirkungen folgen läßt, ſchien das Lebendige vom . Unlebendigen zu trennen; denn die Wirkungen des Leßteren meinte man vollftändig aus der Summe aller gegebenen Bebingungen als jelbfiverftändlich nothmendige Folgen entwideln zu können. Man täuſcht ſich etwas in Bezug auf beide Glieder dieſes Ge- genfated. Wo irgend ein äußerer Anftoß auf em zufammen- gehöriges Ganze vieler Theile trifft, da hängt Größe, Dauer und Form der Endwirkung, die er erzeugen wird, nie ‘von ihm allein, fondern zugleich und meift in viel höherem Grade von bem inneren Zuſammenhang jener von ihm getroffenen Theile ab. Die gegenfeitigen Berhältniffe diefer können auf die mannig- fachſte Weiſe die Größe des empfangenen Eindrudes mindern, erhöhen, auf eine beftimmte Anzahl von Punkten vertheilen, feiner

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Vortpflanzung Wege anmeifen, auf denen er gebundene Thätig- feiten löſen, wirfende in Ruhe verjegen kann; am Ende biefer vielfältigen Bermittlungen wird ein Erfolg auftreten, ber bem urſprünglich erzeugenden Anftoß in keiner Weife ähnlich iſt. Diefe Reizbarkeit befigt jede Machine Während der Arbeiter ein äu- ßeres Rab mit beftändig gleicher Geſchwindigkeit nach berfelben Richtung bewegt, bewirkt das innere Getriebe, dem diefer Anftoß zu Theil wird, das abwechſelnde Auf» und Abfteigen eines Kol: bens, der jelbft, je nad der Art feiner Verbindung mit äußern Segenjtänden, auf die mannigfaltigfte Art die Kraft feiner Be— wegung weiter libertragen kann. Zwiſchen ben Einbrüden, bie wir von außen auf den lebendigen Körper treffen fehen, und der endlichen Rüdwirkung, die von ihm ausgeht, fteht auf völlig gleiche Weife Die unendliche Mannigfaltigleit feiner Theile mit ihren beftändigen inneren Bewegungen in der Mitte. Haben wir im Allgemeinen ein Recht, auf dieſes Zwiſchenglied die Er- fcheinungen der lebendigen Reizbarkeit zurüdzuführen, ohne gleich- wohl bei der großen Verwicklung der Lebensproceſſe Die Kette aller vermittelnden Glieder vollftändig verfolgen zu fünnen, fo können wir in ihr nicht eine eigenthüimliche wirkende Kraft des Lebens, jondern nur eine Form des Wirkens jehen, die dem Tebendigen Körper mit jedem zufammengefegten Gebilde gemein ift.

Wir wirrden fie jedoch mit Unrecht auf zufammengefekte Syſteme beſchränken, obgleich auf diefe hauptjählih ihr Name bezogen zu werben pflegt. Sie ift dem einfachſten Subftrat nicht minder eigenthümlid. Oder müßten wir etwa nachzumeifen, wie . in der Erhöhung der Temperatur und der gegenfeitigen Annähe- rung zweier Elemente die Nothwendigkeit ihrer chemiſchen Ber- bindung ſchon völlig begründet Tiegt? Wir müffen im Gegentheil annehmen, daß eine qualitative Eigenthümlichkeit ihrer Natur durch diefe äußern Umftände nur gereizt wird zu einer Wirkung, welche diefelben Umftände nicht hervorbringen würden, wenn fte auf andere Stoffe wirkten. Weberall hängt der entftehende Er- folg außer den äußern Bedingungen, an die er gefnäpft ift, zu=

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gleih von der Natur defien ab, auf welches diefe wirkten. Nur darın geftaltet fidh die Rückwirkung des Unorganifchen einfacher, daß fie auf gleiche Reize in gleicher Form und Größe zu erfol- gen pflegt, weil fie von einer beftändigen und in ihrem Beftande unveränderlichen Erregbarkeit ausgeht. Das Lebendige dagegen, innerlich in fortwährender Bewegung begriffen, bietet den gleichen Heizen in verſchiedenen Augenbliden verfchiedene Erregbarfeit, und feine Rückwirkungen nehmen dadurch in größerem Maße den Schein der Unberechenbarkeit an, als die mehr gleichfärmigen des Unbelebten, mit denen fie doch in Bezug auf die legten Ge- fee ihrer Entftehung völlig übereinftimmen.

Sp kehren wir auch nach diefer Betrachtung zu jener mecha⸗ niftifchen Auffaffungsweife zurlid, die in dem Leben, wie überall, die Möglichfeit Form und Verknüpfung zuſammengeſetzter Erfolge bon ber zufammenftimmenven Wirkſamkeit der Theile abhängig macht und die Vorftellung einer einzigen Kraft aufgibt, welde mit veränderlider Thätigleit nur durch die Rückſicht auf die Er⸗ veihung eines Zieles geleitet wilrde. Aber den ungünftigen Schein, der im Gegenfag zu den befämpften Anfichten auf Die unfrige fällt, wollen wir noch durch einige Bemerkungen zu mildern ſuchen. Dies zwar können wir nicht verfprechen, jenen Vortheil ebenfall8 zu gewähren, der eben nur mit dem Grundgebanten der von uns abgelehnten Anſchauung vereinbar ift: wir Können jene jhöne Einheit und Innerlichkeit des Lebens, an der unfere Bewunderung zu bängen pflegt, nicht aus der Wechfelwirkung von Theilen entftehen laſſen, die in ihren innigften Beziehungen zu ‚einander doch immer verſchiedene bleiben, und verſchiedene bleiben müffen, wenn fie diefe Bielheit wirkender und leidender Punkte bilden follen, auf deren mannigfacher Berfnüpfung eben die Vor⸗ theile unferer eignen Anficht beruhen. Dennoch wäre es faum gerecht, uns den Vorwurf zu maden, daß wir den lebendigen Körper völlig als Maſchine betrachten. Denn wie bereitwillig wir auch zugeben, daß wir in ber That in beiden dieſelben all- gemeinen Gefege des Wirkens annehmen, fo Liegt bod in ber

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Art, in welcher die Erzeugniffe unferer Technik diefe Gefeße ver- wenden, eine gewifle Kümmerlichkeit, die wir ungern auf die frei- willigen Gebilde der Natur übergetragen fehen möchten.

Unfere Mafchinen arbeiten mit Kräften zweiter Hand; fie beruhen auf der eftigfeit, der Cohäſion, der Elafticität gewiſſer Stoffe; aber fle erzeugen Feine diefer Eigenihaften neu, fondern fegen voraus, daß fie in dem Material, welches die äußere Natur liefert, durch die Kräfte der Elemente bereit gebildet find, Ein beftimmter unveränderliher Grad diefer Eigenſchaften ift es, was für den Gang der Mafchine erfordert wird; jeve Verände- rung dieſes Grades wirkt al8 Störung oder als Abnutzung der richtigen BVerhältniffe. Auf eine fcharffinnige Verflechtung ein- zelner Theile ift ferner der Rhythmus gegründet, nad welchem die mitgetheilte antreibende Bewegung ſich fortpflanzt; aber Diefe Berbindungsmweife wird nicht durch die thätige lebendige Anzieh- ung der Beftandtbeile felbft hervorgebracht; durch Nägel Bolzen Reifen und Schrauben ſehen wir hier die fete Verknüpfung, durch Drehung um fefte Aren die Beweglichleit auf einander ſich be= ziehender Theile erzwungen; nicht die unmittelbaren Anziehungen und Abftoßungen der Elemente, dieſe Kräfte erfter Hand, fon- dern ihre zur Ruhe gefommenen Producte, Starcheit und Un- durchdringlichkeit, find benugt, um durch äußerliche Zuſammenſtel⸗ lung die Zwecke der Maſchine zu erfüllen. Und ebenſo iſt das Thätige in ihr kaum irgendwo eine neu ſich erzeugende Kraft oder Bewegung, ſondern alle ihre Verrichtungen beruhen auf der Mittheilung oder Fortpflanzung eines empfangenen Anſtoßes. Nur dieſen Anſtoß ſelbſt erzeugt unſere Zeit am häufigſten durch Die Benutzung elementarer Kräfte, indem fie die lebendige Span⸗ nung der Dämpfe durch erhöhte Temperatur entwidelt. Aber auch dieſe lebendige Kraft dient und nur als der Erreger über: baupt einer an fi formlojen Bewegung; feine beftimmte Ge- ftaltung und dadurd feinen Nuten für die Zmede der Mafchine erhält auch dieſer Antrieb doch nur durch die Stellung ber ftarren Räder oder Getriebe, auf die er fällt.

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Es ift anders in ben freiwilligen Gebilden der Natur. Kein materielle Band knüpft den Planeten an die Eonne, aber die unmittelbare Wirkfamfeit einer Elementarfraft, der allgemeinen Anziehung, hält beide unfihtbar mit einer Elafticität ihres Wir- kens zufammen, die feine künftliche Vorrichtung wird nachahmen fönnen. Seine feſtſtehende Are, fein Schraubengang, fein fi um⸗ und abmwidelndes Seil nöthigt den Planeten, aus feiner grab- Iinigen Bewegung in gefrümmte Bahnen überzugeben, aber der beftändig vorhandene und beftändig neu ſich geftaltende Streit zwiſchen feiner urfprünglichen Geſchwindigkeit und der Anziehung, bie ihn zur Sonne treibt, führt ihn mit unfichtbarer und ficherer Hand in gejchloffenen Bahnen bin und her, und feine Abnugung der Bewegungsmittel ftört die Fortdauer dieſes ſchönen Spieles. Und doch Tiegt diefem Tein anderes allgemeines Wirkungsgeſetz zu Grunde, als jene, die auch unjern Mafchinen gelten. Mit unend- lich größerer Mannigfaltigfeit wiederholt dieſelbe Weiſe der Thätig- feit auch der lebendige Körper. Auch er wirkt nicht mit äußerlichen Berbindungen von Mitteln, die gegen einander gleichgiltig wären; überall taucht auch in ihm das Gefchehen in den Strom ber unmittelbaren Wirkungen unter; jedes feiner Elemente entfaltet, fi bildend fi zurückbildend ſich verändernd, gegen feine Nach— barn die ganze Fülle jener urfprünglichen Kräfte, die ihm eigen find, und dieſe Wirkungen find bier niht Störungen für den Verlauf des Ganzen, fondern fie find die Bedingungen, Die deffen Wirklichfeit fo wie jede zarte Teinheit feiner Form immer aufs Neue begründen. Und felbft da, wo der Tebendige Körper wirklich zur Erfüllung einzelner feiner Aufgaben die Wirkungs- weile der Mafchine benußt, wie in der Bewegung dev Glieder, deren fefte Knochen er nach den Geſetzen des Hebels durch die Ceile ber Muskeln zieht, felbft da bildet und erhält er Hebel und Eeile durch eine nie ablafjende Thätigkeit, Die in einer vielverflochtenen Kette unmittelbarer Wirkungen von Atom zu Atom befteht.

Diefelbe Beſchränkung auf ftarre fertige Mittel und auf eine äußerliche Verbindung zwifchen ihnen gibt den Majchinen-

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wirkungen jenes unheimliche Anjehen, um deswillen wir am meiften bie Vergleichung des Lebens mit ihnen zu fliehen pflegen. Lange Zeit binburch fehen wir häufig zmei Theile eines Getriebes be- ziehungslos neben einander, regungslos vielleicht das eine, das andere in einer Bewegung begriffen, die Alles umber gleichgiltig läßt; plöglich bei einer beſonderen Stellung, die endlich erreicht ift, erfolgt ein Stoß, und die einzelnen Theile ſehen fi haftig in eine Wechſelwirkung geriffen, zu der Teine allmählich reifende Borbereitung in ihnen zu entdeden war, und aus der fie im nächſten Augenblide in ihre gleichgiltige Ruhe zurlidfallen. ‘Durch den ununterbrochenen Fluß der Wirkungen, der von Atom zu Atom beftändig durch ihre unmittelbaren Kräfte überquillt und einen durchdringenden Zufammenhang des Ganzen in jedem Augen blicke vermittelt, vermeidet das Leben biefe Unftetigfeit der Ent- wicklung. In jedem Fleinften Theile fcheint ein Verſtändniß deffen vorhanden, was in einem andern ſich vorbereitet, und die unab- läffige nicht auf einzelne Momente ſtoßweis vertheilte Wechfel- wirkung aller bringt jenen fchönen Schein der Weichheit und an⸗ muthiger Milde der Entwidlung hervor, mit dem alles Lebendige dem gefpenftiichen Unzufammenhang in den Bewegungen künſt⸗ licher Automaten gegenüber fteht.

So ift alfo doch wohl aud nach unferer Anfiht noch in dem Lebendigen ein wirkliches Leben, das der ſcheinbaren Regſamkeit der Mafchine ſcharf genug gegenüber fteht, um feine göttliche Abkunft von der Aermlichfeit menſchlicher Kunft zu unterjcheiden. Dennoch wollen wir noch einmal auf den Grund der Hartnädigfeit zurück— fommen, mit welcher wir dieſe Anficht in ſcheinbarem Streit gegen manches Bedürfniß des Gemüthes fefthalten, deſſen Recht wir Doch völlig anerkennen. Es ift nicht die Neigung, Das Leben als das Ergebniß einer zufälligen Berfammlung von Theilen zu faffen; im Gegentheil laſſen wir feinen erften Urfprung als ein Geheimniß vorläufig babingeftellt; nur feine Erhaltung glauben wir dem Zu— fammenhange des Naturlaufes ohne das Eingreifen neuer Kräfte übertragen. Und eben fo, wie die Geſetze, nad denen der Umlauf

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unferes Planetenſyſtems erfolgt, in einer bisher unmiderlegten Wiſſenſchaft erkannt wurden, noch ehe eine glaubbafte Bermuthung über die Entftehung feiner gegenwärtigen Anorbnung aufgetreten war, eben fo wird eine Lehre von der Erhaltung des Lebens felbftändig einer andern von feiner erften Entftehung vorangeben dürfen; ja fie felbft wird es fein, deren völlige Ausbildung uns zeigen wirb, in welcher Richtung wir Aufklärung über biefen Ur— fprung hoffen Können. Was uns bewegt, ift die eine Ueberzeu⸗ gung, daß die Natur nicht blos ihrem Sinne nad, fondern aud in den Gefegen ihres Haushaltes nothwendig ein Ganzes bildet, defjen verfchiedene Erzeugniffe nicht nach verſchiedenem Recht fon- dern nur nad der verfchievenen Benutzungsweiſe defjelben Gefeg- kreiſes von einander abweichen. Auf diefer Vorausſetzung beruhen alle Hoffnungen, die wir fir den Fortſchritt der Wiſſenſchaft hegen, und alle Gewohnheiten unferes praftifchen Lebens. Wer vor der ungeheuren Aufgabe zurüdichredt, die unendliche Mannig- faltigfeit des Lebens auf diefe Grundlagen wirklich zurüdzubringen, empfindet ein Gefühl, das wir völlig theilen. Aber die Größe ber geforderten Leiftung darf uns nicht bewegen, zu ihrer be- quemeren, aber nur fheinbaren Erfüllung Principien zu wählen, deren Möglichkeit wir eben fo wenig einfehen. Die Borftellung einer einzigen wirkenden Lebenskraft gehört zu diefen Principien. An wen fle haften folle, ift unklar, wenn nicht eben an der Totalität der Tebendigen Theile und ihren planmäßigen Berbin- dungen; wie fie Dazu fommen folle, ihre Wirkungsweife zu ändern und das Nöthige in jedem Augenblid zu thun, ift unklar, fo lange wir nicht annehmen, daß fie mit geſetzlicher Nothwendigkeit unter veränderten Umftänden eine andere wird und anders wirkt, gleih jeder Kraft, melde das Ergebnif einer Mannigfaltigkeit veränderlicher Theile if. Daß fle an diefen Theilen haftet, von ihrer Berbindungsweife abhängig ift, daß fie nur in beftändiger Wechſelwirkung mit dem Unorganifchen etwas Teiftet, ruft uns bie Erfahrung überall zu; e8 ift nicht gerechtfertigt, diefe Zurufe zu vernadhläffigen und das, mas fih nur als ein Geſchöpf beftimmter

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Bedingungen zeigt, als eine Macht zu faflen, die mit einer nie genau abzugrenzenden Unabhängigfeit und Freiheit über biefen Bedingungen ſchwebe. Wie wenig die Züge, die man als bie unterfcheidenden Eigenfchaften der Lebenskraft hervorgehoben Hat, Die Annahme berfelben notbwendig machen, haben wir umfaflen- der nachgewieſen; melde anderen Gründe uns zu ihr zurüdführen follten, müßten wir ebenfo wenig anzugeben als den Nuten, den diejelbe bisher der Wiffenfchaft gebracht hätte.

Biertes Kapitel. Der Mehanismus bes Lebens.

Befländige und periobifhe Verrichtungen. Fortſchreitende Entwicklung. Ge⸗ ſetzloſe Störungen. Die Anwendung der chemiſchen Kräfte und ihre Folgen für das Leben. Geſtaltbildung aus formloſem Keime. Stoffwechſel; feine Bedeutung, feine Form und feine Organe.

ALS wir die Wandelungen überblidten, welde die Natur: auffaffung im Ganzen während des Laufes der menfchlichen Ge- ſchichte erfahren hat, haben wir bemerkt, wie vergeblich wir bie ſchöne Vorſtellung der befeelenden Triebe da zu benugen fuchen würden, wo es fi) handelt, die Verwirflihung und Erhaltung der einzelnen Erſcheinungen in dem zufammenhängenden Haushalt der Natur zu erflären. Wir haben ferner gejehen, wie durch ihre Aufgaben die phyſikaliſche Forſchung mit Nothwendigfeit dahin getrieben wird, jedes zufammengefegte und in veränderlicher Ent- widlung ſich entfaltende Geſchöpf als das Erzeugniß vieler Kräfte anzufeben, deren Geſammtwirkung ihre beftimmte Form von der Verknüpfungsweiſe ihrer Träger erhält. Die Weberlegung der Erſcheinungen endlich, die als die großen Hauptzlige des Lebens Jedem bekannt find, hat uns zur Befeftigung der Ueberzeugung gedient, daß aud das Lebendige, wie unermeßlich fein Werth

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und feine Bedeutung alles übrige Dafein überragen mag, dennoch zur Erklärung feines Zuſammenhanges und feiner Leiftungen die Rüdfebr zu der Annahme einer befonderd gearteten Lebens- Fraft nicht erfordert. Um fo mehr wird man von und die Angabe jener eigenthüimlichen Anorbnungen verlangen, Durch welche Die . Beftandtheile des Tebendigen Körpers in den Stand gefegt werben follen, ohne die erneuerte Nachhilfe einer höheren Kraft Dies reich- haltige Spiel der Entwidlung durchzuführen. Je genauer wir je- doch die Mannigfaltigfeit der vorliegenden Lebenserfcheinungen mit unferer bisherigen Kenntniß ihrer Bedingungen vergleichen, deſto weniger werben wir Die vermefjene Hoffnung hegen, Diefe Aufgabe je vollftändig gelöft zu fehen. Die zuverfihtlihen Berfuche, mit den äußerſt unzureichenden Mitteln, die wir jegt befißen, jede Frage endgiltig entjcheiden zu wollen, Einnen nur die entgegen- geſetzte Anficht ermuthigen, aus den Schwierigfeiten, welche fie befjer zu würdigen weiß, auf die Unmöglichkeit des Zieles zu ſchließen, das ungeachtet feiner Unerreihbarfeit unferen Unter- fuchungen doch ihre Richtung geben muß. Dennoch ift unfere Un- fenntniß nicht fo groß, daß wir nicht in der Bejchreibung der ein- zelnen Lebensverrichtungen auf lange Streden bin den mechanifchen Zuſammenhang der Wirkungen verfolgen, und nicht jo beſchränkt unfere Meberficht iiber das Ganze, daß wir nicht einige der Grund- züge hervorheben könnten, durch welche fi) Die Verwendung ber allgemeinen Mittel der Natur für die Zwecke des Lebens von den übrigen vorkommenden Benutungsweifen derſelben abtrennt.

Berichievene Ablaufsformen der Ereigniffe fehen wir in dem Lebendigen einander durchkreuzen. Mit gleichförmiger Stärke dauern einige Verrichtungen lange Zeiten hindurch unverändert fort; andere vollenden in verfchievenen Perioden abgefchloffene Kreisläufe und kehren nahezu wieder zu den Zuftänden zurüd, bon denen fie für eine Weile fih entfernt batten. Aber diefe ftetigen oder in fich felbft zurüdlaufenden Bewegungen werden überall von einer andern fortfchreitenden Entwidlung begleitet, durch die der Tebendige Leib nach einem inwohnenden Geſetze allmäh-

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licher Entfaltung feine äußere Geftalt und den inneren Zufammen- bang feiner Verrihtungen ummandelt, um mit ber Auflöfung zu endigen, die nit nur den unvermeidlichen fondern den natür- lich worausbeftimmten Abſchluß feiner Erſcheinung bildet. Aber auch diefen Entwillungsgang und die gejeßliche Aufeinanderfolge feiner Stufen unterbrigt in jedem Wugenblide des Lebens die Mannigfaltigfeit der äußeren Eindrüde und die nicht geringere der Rückwirkungen, in denen das Lebendige bald mit borübergehen- der Erregung bald mit bauernder Anftrengung fich felbft und - die Gegenftände der Außenwelt bewegt. Weder jene Einbrüde noch diefe Bewegungen find an ein feſtes Gefet ihrer zeitlichen Wiederkehr oder ihrer Reihenfolge gebunden; in unberechenbarer Zufälligfeit einwirfend und angeregt, können fie zunächſt nur als Störungen ded Körper und derjenigen feiner Einrichtungen gelten, auf weldye der ftetig zufammenhängende Gang feiner be- ftimmt geftalteten Entwidlung begründet iſt. Aber dennoch Liegt nicht in der ftillen und unverrüdten Entfaltung, fondern eben in dieſer Leiftungsfähigkeit, die in jedem Augenblide einen Weber: Ichuß lebendiger Kraft gegen regelloſe Eindrüde zu verwenden ver⸗ mag, der weſentliche Charakter alles thieriſchen Lebens. Deshalb muß zu diefen Rüdwirkungen, die im Einzelnen nicht vorgeſehen und vorberechnet fein fonnten, wenigftens Die allgemeine Möglichkeit in einem weſentlichen Zuge bes thierifhen Haushalts gefichert fein.

Bon der beftändigen Fortdauer eines und vefjelben Ereig- niffes, fo wie von dem abgefchloffenen Kreislauf in ſich zurüd- gehender Entwidlung bietet und die unorganifhe Welt Beifpiele von fehr einfacher Begründung. In der That würde ber Sort: beftand jeder einfachen Bewegung eines Körpers feine andere Hilfe als die Abhaltung ftörender Urfachen erfordern; und wiederum, der Hinzutritt einer einzigen Störung, jener Anziehung etwa, die den bewegten Körper an einen andern feflelt, reichte bin, feinen Weg zu krümmen, und nur wenige nähere Bedingungen würden nöthig fein, um dieſen in Die gejchloflene Bahn zu ver⸗ wandeln, in welder der Planet um feinen Hauptlörper kreiſt.

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Und endlos würde dies regelmäßige Spiel von Bewegungen zwi—⸗ ſchen beiden Körpern fi fortfegen und wiederholen, fo lange fte jeder inneren Veränderung ihrer Maffen und Kräfte, jo wie jedem Eindrucke der übrigen Welt um fie her entzogen blieben. Aber e8 wilrde eine Täufchung fein, wenn wir dieſe Beifpiele beftändig gleichförmiger oder in fi) zurlidgehender Entwicklungen al8 Belege für die Leichtigkeit anführen wollten, mit welcher aud dem Leben die Verwirklichung feiner ähnlich geformten Berrihtungen gelingen müßte. Denn obgleih auch feine Wirkfamfeit zulegt auf der Benutzung jener einfachen Gefege der Bebarrung und der Zus fammenfetung der Kräfte beruhen wird, fo finden wir bei nähe- rem Einfehen doch die Verrichtungen, die innerhalb des leben⸗ digen Körpers in einem gleihförmigen Etrome fortgehen, wie die beftändige Aneignung und Erhaltung in den Fleinften Theilen, durch weit zufammengefettere Vorgänge vermittelt, als die ein- fache Geſtalt des herauskommenden Erfolges vermuthen ließ. Sie gleichen dem ruhigen Lichte der Kerze, deſſen gleichför- miger Schimmer nicht8 von der Reihenfolge ineinandergreifender Wirkungen erzählt, durch die er fi nährt. ALS der erfte ent⸗ zündete Theil des Dochtes fich mit dem Sauerftoff der atmoſphä⸗ rifhen Luft verband, erzeugte er verbrennend mehr als die nöthige Wärme, um aud ben benachbarten Theil jo weit zu erhitzen, daß ex derſelben Verwandtſchaft zum Sauerftoff folgen konnte. So ſchlug vom zweiten zum Dritten und über das Ganze die Slamme auf, indem jeder Punkt durch einen Theil feiner ent- bundenen Wärme die gebundenen Kräfte des andern zum Aus- bruch in gleiche Entzündung Vöfte. Aber die Flamme würde zu ſchnell das zarte Gewebe der Fäden verzehrt haben, wenn nicht ein anderer Theil der befreiten Wärme das Wachs in Fluß gefegt hätte, das beftimmt ift, den Brand zu nähren. Durch die auffaugende Anziehung des Dochtes fteigt die flüffige Maſſe auf und indem fie fein Gewebe vor zu fchneller Ber- ſtörung tränfend ſchützt, gelangt fie bis zu einem Punkte, durch befien gefteigerte Temperatur fie felbft entflammt wird, während

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dem auffteigenden Strome ber erbigten Luft, die fi von ber Flamme erhebt, an diefem Punkte von unten ein friiher Nach⸗ zug, die eingeleitete Verbrennung unterhaltend, nachfolgt. So entlaftet die gefhmolzene Flüffigkeit, nun felbft durch den Brand verfllichtigt, die gefüllten Faͤden des Dochtes wieder und gewährt dem neuen Material, zu deſſen Schmelzung. fte felbft beitrug, freien Raum, um nad) oben nachrückend diefelbe Folge von Bor- gängen fortzufegen.

Auf ähnlichen Beranftaltungen beruhen die fcheinbar ein- fachen und gleichförmig fortgehenden Berrichtungen des Lebendigen. Nur daß die Flamme erlifht, wenn das einmal vorhandene Ma⸗ terial verzehrt ift; den lebendigen Thätigfeiten führt der Zuſam⸗ menhang ded Ganzen die Möglichfeit ihrer Fortſetzung wieder von Neuem herbei. So eriheinen fie nicht ſowohl als die ele- mentaren Borgänge, deren gleichfürmige Beftändigfeit ten halten- den Boden für die Beränderlichfeit der übrigen darbietet, ſondern mebr als Leiftungen, die der Zuſammenhang eines größeren und verwidelteren Planes zwar mit einfadher Form ihres Berlaufes aber mit feiner und vielfeitig verichlungener Begründung ver- mittelt. Nicht weniger unzureihend würden die Analogien des Plametenlaufes zur Erflärung der periodiſchen Kreisläufe fein, welche wir andere Verrihtungen des lebendigen Körpers vollenden ſehen. Die Pulfationen des Herzens, die rhythmiſchen Zuſammen⸗ ziehungen der Eingeweide, der Wechſel des Athmens, das alles find Borgänge, die feine Aehnlichkeit mit den einfachen Be— wegungen freifcäwebender Körper haben. Große Anzahlen unter einander feitverbundener Theile jehen wir bier zu gemeinfamen Bewegungen zufammenwirken, deren Ausführung nit ohne eine Aenderung in der Berfnüpfungsmeife der Theile, nicht ohne Auf: opferung einiger der Bedingungen möglich ift, an denen eben ihre Wirkſamkeit hängt. Auch dieſe Leiftungen find deshalb einem allgemeineren und umfaffenderen Plane untergeordnet, der ihnen den Wiebererfag ber verbrauchten Berhältnifie und die regelmäßige Wiederkehr der Anregungen fidhert, deren fie bedürfen.

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Vergeblich würden wir die dritte ber Ablaufsformen zuſam— mengefeßter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortichreitende Entwillung dur eine Stufenreihe voransbeftimmter Zuftände, in der unorganifchen Welt aufſuchen. Sie gehört dem Leben allein und tritt in der vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift e8 nicht ganz ohne Werth, den unvolllommmneren Borandeutungen zu folgen, Die wir von ihr in dem unlebendigen Geſchehen finden Tönnen. Nur zwifchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführten, könnte das Spiel einer kreiſenden planetariihen Bewegung in enblojer Regelmäßigfeit fortdauern; der Hinzutritt jedes dritten würde die Wechſelwirkung der beiden erften verändern und fie nöthigen, in Bahnen fich zu bewegen, welche den Einfluß einer äußern Störung verrietben. Nur in längeren Perioden, wenn überhaupt, würde e8 diefem Syſtem von Körpern gelingen, völlig wieder in feine urſprüngliche Anordnung zurüdzufehren und von ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weife zu wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie⸗ der wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in fi zurüdfehren- den Verlaufs der Veränderungen machen, und e8 wird bejonders günftige Bebingungen bedürfen, wenn die gegenfeitigen Störungen auf ein Maß der Kleinheit bejchräntt bleiben follen, bei welchem fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bewegungen nicht weſentlich beeinträchtigen. Solche Bedingungen finden fich für das Planetenfyftem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen gehört ver Allem diefe, daß ed mit aller innern Mannigfaltig- feit feiner Bewegungen doch ein abgefchloffenes und ifolirte8 Ganze bildet, bis zu welchem fi Die Einwirkungen der noch außer ihm gelegenen Welt, der entfernteren Firfterne, nicht mehr in merf- Iihen Spuren erftreden. Anders würde es ſich verhalten, wenn dieſes Syſtem, ebenfo wie der Körper der Pflanze, den Einflüffen von außen geöffnet wäre und, wie fie, es erleiden müßte, Daß alle die Bewegungen, in die e& nad der Anlage feiner eignen Natur geriethe, durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder-

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fehr äußerer Eindrlide getroffen und verwandelt würden. Neb- men wir an, daß ein Syſtem von Himmelsförpern durch einen Raum fi fortbewegte, in welchem es Maffen, auf welche feine Anziehungskraft wirken Tönnte, nach irgend welchem Geſetze ver- theilt worfände, jo würde e8 nicht nur wachen, indem es dieſe in Die Kreife feiner eignen Bewegungen bineinzöge und für Die Zukunft an fih feflelte, ſondern durch den Zutritt diefer neuen Beftandtheile würden aud die gegenfeitigen Beziehungen der früheren verändert werben umb die Bewegung des Ganzen fid beftändig in neuen Formen entwideln, deren jeve aus der eben vorangegangenen und aus der Einwirkung der netten Bedingungen des Augenblides fih mit_Nothmendigfeit ergäbe. So entftände eine geordnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander ablöjenden Entwidlungsphafen des Lebendigen vergleichbar. ‘Denn eben der Tebendige Körper ift ein ſolches offenes Shitem von Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgeichloffen, fondern ihrer zu feiner Entwidlung bebürfti.. Yu dem, wozu er fich entfaltet, liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbit; nicht allein des Zuſtromes der Maffen ift er benöthigt, aus denen feine wachjende Geftalt erbaut werben joll, fondern auch erregen- der Eindrüde, die feinen eignen Kräften Richtung und Aufeinan- verfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; fcheinbar abgefchloffen in ſich jelbft, ift er do nur die eine Hälfte von dem Grunde des Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlos in dem all gemeinen Strome des Naturlaufs liegt, der an ihn heranbringt.

Die Entwidlung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein hierauf; eine andere Eigenthümlichkeit müſſen wir hinzufügen, durch die ed fi völlig von jenem Bilde eines ſich entwidelnden Sternenſyſtems unterfcheiden würde. Es ift die ausgedehnte Be- nußung der chemiſchen Verwandtihaften und der Anziehungen auf unmerfliche Entfernungen, welche bier an bie Stelle der ben

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Vergeblich würden wir die britte ber Ablaufsformen zufant- mengeſetzter Ereigniffe, die wir oben erwähnten, die fortſchreitende Entwillung durch eine Stufenreihe vorausbeftimmter Zuftände, in der unorganifchen Welt aufſuchen. Sie gehört dem Leben allein und tritt in ber vollen Schönheit und Reinheit ihrer Bedeutung in der Entfaltung der Pflanzen hervor. Dennoch ift es nicht ganz ohne Werth, den unvolltommneren Borandeutungen zu folgen, Die wir bon ihr in dem unlebendigen Geſchehen finden Tünnen. Nur zwiſchen jenen beiden Körpern, die wir früher anführten, könnte das Spiel einer Freifenden planetarifchen Bewegung in endloſer Regelmäßigfeit fortvauern; der Hinzutritt jedes dritten würde die Wechſelwirkung der beiden erften verändern und fie nötbigen, in Bahnen ſich zu bewegen, welche den Einfluß einer äußern Störung verrieihen. Nur in längeren Perioden, wenn überhaupt, würde e8 diefem Syſtem von Körpern gelingen, völlig wieder in feine urjprüngliche Anordnung zurüdzufehren und von ihr aus die vollendete Bewegung genau in gleicher Weile zu wiederholen. Mit der Anzahl der gegen einander wirkenden Glie- ber wird die Schwierigkeit eines rhythmiſch in ſich zurüdfehren- den Verlaufd der Veränderungen wachſen, und e8 wird bejonders günſtige Bedingungen bedürfen, wenn die gegenfeitigen Störungen auf ein Maß der Kleinheit beichräntt bleiben follen, bei welchem fie im Ganzen die Geftalt des Syſtems und feiner Bewegungen nicht wefentlich beeinträchtigen. Solche Bedingungen finden fich für das Planetenfnftem unferer Sonne verwirklicht, und zu ihnen gehört ver Allem diefe, daß es mit aller innern Mannigfaltig- feit feiner Bewegungen doch ein abgeſchloſſenes und iſolirtes Ganze bildet, bis zu welchem fi) die Einwirkungen der no außer ihm gelegenen Welt, der entfernteren Firſterne, nicht mehr in merf- lichen Spuren erftreden. Anders würde es fich verhalten, wenn dieſes Syſtem, ebenjo wie der Körper der Pflanze, den Einflüffen von außen geöffnet wäre und, wie fle, es erleiden müßte, daß alle die Bewegungen, in die e& nad der Anlage feiner eignen Natur geriethe, Durch eine regelmäßige oder unregelmäßige Wieder-

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fehr äußerer Eindrüde getroffen und verwandelt würden. Neb- men wir an, daß ein Syſtem von Himmelskörpern durch einen Raum fich fortbewegte, in welchem e8 Maflen, auf welche ferne Anziehungskraft wirken fönnte, nach irgend welchem Geſetze ver- theilt vorfände, fo würde e8 nicht nur machlen, indem es Diefe in die reife feiner eignen Bewegungen bineinzöge und für die Zukunft an fich feffelte, fondern durch den Zutritt diefer neuen Beftandtbeile würden aud die gegenfeitigen Beziehungen ber früheren verändert werben und die Bewegung des Ganzen ſich beftändig in neuen Formen entwideln, deren jede aus der eben vorangegangenen und aus der Einwirkung der neuen Bedingungen des Augenblides ſich mit Nothwendigkeit ergäbe. So entjtände eine geordnete Stufenfolge von Zuftänden, den einzelnen einander ablöfenden Entwidlungsphafen des Lebendigen vergleihbar. Denn eben der Tebendige Körper ift ein ſolches offenes Syſtem von Theilen, gegen die Einwirkungen des Aeußern nicht abgeſchloſſen, fondern ihrer zu feiner Entwidlung bebürftig. Yu dem, wozu er fih entfaltet, Liegt nicht der vollftändige Grund in ihm felbft; nicht allein des Zuſtromes der Maſſen ift er benöthigt, aus denen feine wachfende Geftalt erbaut werden foll, fondern auch erregen- der Eindrüde, die feinen eignen Kräften Richtung und Aufeinan- verfolge ihrer Aeußerungen beftimmen; ſcheinbar abgejchlofjen in fich felbft, ift er doch nur die eine Hälfte von dem Grunde des Lebens, während die andere ergänzende noch geftaltlo8 in dem all- gemeinen Strome des Naturlaufs Tiegt, der an ibn herandringt.

Die Entwicklung des Lebendigen beruht jedoch nicht allein hierauf; eine andere Eigenthümlichleit müſſen wir hinzufügen, durch die es ſich völlig von jenem Bilde eines fi} entwickelnden Sternenſyſtems unterf&heiden würde. Es ift die ausgedehnte Be- nutung der chemiſchen Verwandtſchaften und der Anziehungen auf unmerfliche Entfernungen, welche hier an die Stelle der den

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Weltraum burchdringenden und das Entferntefte verknüpfenden Gravitation getreten find. Die gewöhnliche Anfhauung, wenn fie nur den Körper ber Pflanze und des Thieres als ein lebendig zufammengehöriges Ganze, das Planetenfyften als eine Gefel- lung jelbftändiger Wefen anfieht, macht dieſen Unterſchied nicht ohne Grund; er hängt mit diefer Verſchiedenartigkeit der Kräfte zufammen, denen in beiven Fällen der weſentlichſte Antheil an der Verwirklichung der veränderligen Entwidlung zufällt. Auch der Körper der Planeten wird durch jene Anziehungen gebildet und zufammengehalten, die nur in größter Nähe wirkſam, im merklichen Entfernungen verjchwinden, und unaufhörliche chemiſche Beränderungen geftalten wenigftens feine Oberfläche unabläffig um; aber dieſe inneren Schwankungen haben Teine Bedeutung für die Anziehung, duch die er als Ganzes in dem Kreiſe der Himmelskörper ferne Stelle bat. Auch in dem lebendigen Körper umgefehrt wirft die Schwere überall, fo viel ihr nach allgemeinen Gefegen möglich ift; aber wie wichtig und bedeutſam biefe Wir- tungen für einzelne Fälle fein mögen, ein burchgreifender Einfluß zur Geftaltung der Lebenserſcheinungen ift ihnen nicht eingeräumt. Mit feiner Anziehung in die Ferne, welde ungemeffene Welt- räume noch wirkfam durchdringt, vermag das Planetenſyſtem jene für den Anblid fo Iofe und doch in der That fo feite Verbindung von Theilen zu bewirken, deren Größe gegen die Ausdehnung der Entfernung zwifchen ihnen verſchwindet; der lebendige Körper dagegen gewinnt Durch jene Kräfte, die fchon in geringer Entfer- nung von ihrem Ausgangspunkt nichts mehr leiſten, aber in un— mittelbarer Berührung der wechſelwirkenden Theile große Wider⸗ ftände bezwingen, jenes feſte zuſammenhängende Geflige, durch das er überall als eine gefchloffene Einheit fih von feiner Um— gebung abhebt. Und diefer Unterſchied befteht nicht allein für den Anblid. Sich felbft überlaffen, mag der Zuſammenhang eines Sternenſyſtems feft fein; aber wie er nur bergeftellt wird durch Kräfte, deren Wirkfamkeit in die Berne dringt, fo ift er auch ftörbar durch folde, Die aus der Ferne kommen, und er

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wird durch entiprehende Schwankungen den Einfluß der leiſeſten Beränderungen in der Anoronung der ibm äußeren Welt ver- rathen, gegen die er auf feine wirkſame Weife ſich abichließen kann. Dem lebendigen Körper Dagegen, der zu beftändiger Wedhfel- wirkung mit der äußern Welt beftimmt ift, dient dieſe eigen- thümliche Natur feiner Kräfte zur Schugwehr; die geringe Ent- fernung, in melder die chemiſche Verwandtſchaft und die Cohäſion ihre Wirkfamtleit verlieren, umgibt ihn mit einer Bone von Gleichgiltigkeit, während dieſelben Kräfte feine eignen fi be- rüßtenden Theile mächtig genug zuſammenhalten, um felbft ber wirklich andringenden Gewalt Widerſtand zu leiſten. Während baher das lockere Gefüge eines Sternenſyſtems mit einer be- wundernswürdigen Empfindlichkeit die Veränderungen des übrigen Weltalls in feinen eignen Veränderungen abfpiegeln würde, kehrt der Tebendige Körper, hierin won berberer Natur, aud nad großen Schwanfungen in die frühere Lage feiner Theile zurüd, und bietet und dadurch den Anblid einer fi gleichbleibenden und Doch nicht ftarren fondern beweglichen Geftalt. |

Noch einen andern Vortheil möchten wir bier erwähnen, den das Lebendige aus demfelben Umſtande zieht, und der im erften Augenblide vielleicht als ein Nachtheil ericheinen mag. Man bat fi) fo fehr daran gewöhnt, einen der wefentlichften und wun⸗ derbarſten Vorzüge des Lebens in der überaus feinen wechſelſeitigen Berknüpfung der Theile zu ſehen, daß es auffallen kann, wenn wir gerade den Mangel einer folden in gewiſſem Sinne als feine wirkliche Eigenſchaft hervorheben. Dennoch findet ſich dieſer Mangel und man kann fidh leicht Überzeugen, daß in ihm, der nur für beftimmte Zwecke durch eigenthlimliche Veranftaltungen wieder auögeglichen ift, eine größere Sicherheit für ben Fortbeſtand des Lebens, als in jenem nicht vorhandenen Uebermaß durchdrin⸗ gender Verknüpfung Tiegt. Wären alle Theile des Tebendigen Körpers unmittelbar jo durch Wechlelmirkungen verbunden, daß jede Feine Veränderung des einen ihren Widerhall über die Ge- fammtheit der übrigen verbreiten müßte, fo würde hierin eine

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veihe Quelle unendliger Störungen für das Ganze liegen, Die eben fo umfängliche Beranftaltungen zu ihrer Ausgleichung er= forderten. Denn nicht überall würde es wohl möglich fein, die Störung fih an ihren eigenen Erfolgen brechen zu laffen, und ge= ſchähe felbft dies, jo würde Doch die Unruhe überhaupt, die dadurch in das Ganze käme, ein Uebel fein, fobald fie nicht nebenher zur Erreihung anderer Zwecke nugbar gemacht würde. In dem Syſtem der Himmelskörper fehen wir den Erfolg diefer durchdrin⸗ genden Wechfelwirfung, indem fein einzelner Planet feine Bahn fo beſchreiben kann, wie er fie ohne die Störungen durch die An- ziehung ber übrigen befchreiben würde. Der lebendige Körper ftellt durch den befonderen Bau feines Nervenſyſtems den engeren Zu⸗ fammenhang da und in dem Sinne in größter Feinheit her, mo und wie er zwedmäßig für die Aufgaben des Lebens ift; an fich aber hängt bei dem geringen Wirkungskreiſe der Kräfte, die hier in vorderfter Reihe thätig find, jeder einzelne Theil nur mit wenigen feiner nädften Nachbarn jo unmittelbar zuſammen, daß jeder Zuſtand des einen mit bemerflicer Wirkung fi auf den andern verbreiten müßte. Daraus entfteht für einzelne Gruppen von Theilen die Freiheit, ihre Geftalt ihr Gewebe und ihre Miſchung mit einer gewiflen beharrlichen Selbftändigfeit auszubilden und ungeftört durch worlibergehende Schwankungen des Uebrigen Ber: richtungen zu vollziehen, auf deren gleichmäßigen Verlauf der Zuſammenhang des Ganzen rechnet.

Kaum ift ed nun nöthig, die eigenthiimlichen Erfolge be- ſonders hervorzuheben, welde für das Leben aus der Benngung der chemiſchen Borgänge entpringen. Die himmliſchen Bewegungen geihehen an gleichbleibenden Maſſen; die maſchinenbauende Technik verwendet zwar chemifche Kräfte zur Herftellung des bewegenden Antriebes, aber die Form ber Leiftung gründet fie ebenfall8 auf einen ftarren Bau unveränderlicher Theile; das Lebendige allein zeigt ung eine Entwidlung, deren Träger niht nur an Maſſe wachfen, fonbern während ihrer Thätigfeit eine voraus beftimmte Yenderung ihrer Natur erfahren. In viel weſentlicherem Sinne als

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dort ift daher hier jeder zukünftige Erfolg Durch den unmittelbar vorhergehenden Zuftand bedingt. Auch in der Maſchine gelingt die Yeiftung des fpäteren Augenblids nur dur das Verdienſt des früheren, ber bie ‘Theile des Getriebes in die erforderliche Stellung gerüdt hat; aber e8 bleiben doch in dem einen wie in dem andern diefelben wirkſamen Maſſen und dieſelben Kräfte; bie Leiftung des Ganzen ift deshalb auf eine vielleicht mannig- faltig zufammengejegte, aber Doch immer wiederkehrende und fich nicht fteigernde Reihe von Erfolgen beſchränkt. In dem Ieben- digen Körper fett jede gefchehene chemiſche Aenderung Kräfte in Wirkſamkeit, die früher nicht vorhanden waren, und bringt an= dere zur Ruhe; fo wird in jedem Augenblide für die fpätere Entwidlung eine neue Grundlage geichaffen, die bald eine Fort- Dauer ber früheren Zuftände, bald eine Entfaltung in neue, bald beides mit einander verbindend, überhaupt die Ausbrei- tung in ein viel veichhaltigered Epiel der Geftaltung und der Peiftung geftattet.

Man muß diefe ſtufenweis erfolgende Wiedergeburt der Grundlagen felbft im Auge behalten, wenn man die Entftehung des Organismus aus feinem Keime verftehen will, obne den be= ftändigen Eingriff einer oronenden Macht nöthig zu finden. Die Erfahrung macht es uns freilich bis zu faft völliger Gemwißheit wahrſcheinlich, daß in dem gegenwärtigen Naturlauf fein Orga⸗ nismus fi mehr unmittelbar aus einer Verbindung elementarer Stoffe erzeugt; nur in der Fortpflanzung durch Gleichartiges läuft noch die Tradition des Lebens fort und erhält beitändig in dem Samen und dem Ei die beftinnnt angeordnete Summe von Theilen beifammen, aus deren Anregung durch äußere Reize die Reihe der Lebenserfheinungen ſich wieder entwideln Tann. Selbft dieſe Ueberlieferung jedoch erſcheint und Häufig zu gering, diefer Anfangöpunft zu einfah, als daß wir in ihn allein Die Bedingungen der Tünftigen Wiederentwidlung niedergelegt denken Könnten. Wir vergeffen dann, daß es in der That ein langer Bildungsgang ift, der durch unzählige Vermittlungen von ber

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Unfcheinbarfeit des Keimes bis zu der Vollendung der Blüthe und Frucht führt, und daß auf jeder Stufe dieſes Weges Mög- lichfeiten entftehen, die auf der vorhergehenden noch fehlten. Wir find meit entfernt davon, eine Gefchichte dieſer Umwandlungen und der Geſetze fchreiben zu können, nad denen fie wirklich in beftimmter Reihe in der Entwidlung des Lebendigen auf ein- ander folgen; aber wir find nicht ganz außer Stand, im All- gemeinen bie Hilfsmittel zu fchäßen, welche die Natur bier auf- geboten haben Tann, und deren Bermittlung die große Kluft zwilchen dem Anfangs- und dem Endpunfte der Bildung durch Theilung in viele Zwiſchenſtufen verringert.

Selbft wenn und nichts am Anfange vorläge, als eine Flüffigkeit von genau beftimmter Mifhung ihrer Beftandtheile, ohne daß noch irgend ein fefter Kern als Grundlage des werdenden Organismus fi auszeichnete, fo würden doch Die erften chemifchen Einwirfungen der Umgebung binreihen Können, dieſen Kern zu erzeugen. Durch Gerinnung würde ein Beftandtbeil fih aus- ſcheiden, und ba der Natur jedes Stoffes nicht nur eine beftimmte Form entfpricht, die er fich ſelbſt überlaſſen annimmt, da vielmehr unter Umftänden auch die Größe der Geftalt beftimmt fein Tann, die er durch feine Kräfte zufammenhaltend abichließen kann, fo würde Diefe feſtwerdende Subftanz in eine beftimmte Anzahl von Theilen zerfallen, die nun die gegenfeitige Stellung einnehmen, in welcher fie mit allen vorhandenen Bedingungen im Gleichgewicht find. Mag indeffen hierdurch oder durch den ſchon beftehenden Bau des Samens der erfte fefte Kern der weiteren Bildung gegeben fein, wir bedürfen nichts als eine geringe Ungleichartigfeit feiner Anordnung nad) verfchiedenen Richtungen, um zu begreifen, wie die Entwidlung des nähften Augenblids, indem fie gleiche äußere Reize auf dieſe abweichend gebauten Theile einwirken läßt, ihre Ungleichartigkeit fteigert und jo das Hervortreten verjhtedener und weit auseinander gehender Formen aus dem ſcheinbar gleihartigen Urſprunge vorbereitet. Jede gefchehene che⸗ miſche Umwandlung wird zunächſt die räumliche Anordnung nach

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fi ziehen, die dem veränderten Stoffe entſpricht; aber jede fo berbeigeführte neue Geftaltung wird die fpätere Einwirkung der Reize mitbedingen, indem fie diefelben von jet unzugänglich ge= mordenen Theilen abhält und auf andere zugänglich gebliebene zufemmendrängt und jo wiederum der fpäteren Entwidlung näher beftinunte Wege vorzeichnet.

Wie jedoch jede chemiſche Miſchung eine beftimmte Geftalt, jo führt auch die gewonnene Geftalt neue Gewohnheiten des hemifchen Wirken herbei. In den Werkftätten unferer Kunft vermeiden wir es, das Gefäß an den chemiichen Wechſelwirkungen feines Inhalts tbeilnehmen zu laſſen; in dem lebendigen Körper bilden die Gewebe nicht nur den theilnahmlojen Schauplag, der andere Stoffe zu gegenjeitiger Einwirkung zufammendrängt, jondern üben durch ihre Dichtigfeit, ihre Form, und durd die anziehenden oder abftoßenden Kräfte, welde fie auf ihren Inhalt äußern, auf den Gang der Stoffumwandlung einen mitbeftimmenden Einfluß aus. Durch diefe flufenmweis fortichreitende Ausbildung des Ge- fäßes, in dem fie enthalten find, werden die ernährenden Flüffig- feiten zur Erzeugung feinerer Miſchungen ausgearbeitet und den äußeren Lebensreizen ein immer beftimmter angeorbneter Zutritt verftattet. Keins diefer zuſammenwirkenden Elemente bürfen wir gering ſchätzen, und wie vollkommen wir aud) überzeugt find, daß feiner von allen Diefen Vorgängen der lebendigen Entmwidlung fi den allgemeinen Gejegen des phyſiſchen und chemiſchen Wirkens ent- ziehen könne, fo wenig können wir hoffen, mit dem bisher befannten Theile dieſer Gelege die unüberſehbare Verwicklung zu erflären, mit welcher die beftänbigen Veränderungen der Form, ber Miſchung und des Zutritts der äußeren Reize bier in einander greifen. Am wenigiten bürfen wir hoffen, daß es der menjd- lichen Kunſt je gelingen werde, einen irgend wie weſentlichen Be- ftandtheil eines lebendigen Körpers nachahmend zu erzeugen. ‘Denn fo gewiß jedes Tebendige Erzeugniß durch feine andern Kräfte entftehen fonnte, als durch Die des allgemeinen Naturlaufes, fo

gehörte doch zu feiner Entftehung ebenfo ns Die ganz be⸗ j Lege I. 4. Aufl.

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ftimmte Anordnung dieſer Kräfte und ihrer Träger, die allein erft dem Tünftigen Erfolg feine Yorm vorzeihnen konnte. Und dieſe Anoronung fehen wir nie fich von felbft wiebererzeugen; ihre Bewahrung hat die Natur der beftändigen Ueberlieferung durch Fortpflanzung vorbehalten. Jede Hoffnung, künftlih das Leben von Neuem zu fhaffen, mwirbe Die anmaßende Zuverſicht ent- halten, daß wir mit wenigeren und unzureihenden Mitteln und auf Fürzerem Wege das hervorzubringen vermöchten, was die Natur jelbft nur durch einen langen Entwidlungslauf und nur durch das Einſetzen bereit8 organiſch georbneter Kräfte zu verwirklichen vermag.

Zu verfchiedenen Zeiten nun hört die Bildungsfähigfeit der verſchiedenen Theile eines fo ſich entwickelnden Syſtems auf; einige haben die Reihe der Umwandlungen durchlaufen, zu denen fie unter den vorhandenen Umftänden fähig waren, während andere nod in der Mitte ihres Bildungslaufes find. So zieht der verholzende Stengel der Pflanze fih allmählih von der Theilnahme an ber weiteren Entwidlung zurüd, aber er fährt fort mit jeinen phufiichen Eigenſchaften der Feftigfeit und Starrheit dem Ganzen zu dienen, indem er ben beweglich gebliebenen Theilen den Schauplag ihrer Thätigfeit vorzeichnet. Auf die mannigfaltigfte Weile ſchafft fi jo Die Entwidlung in ihrem Fortſchritt neue Unterlagen, von denen aus fie weiter wirkt, aber fie erzeugt ſich dadurch auch zugleich Schranken, welde die Möglichkeit des Wirkens auf beftimmte Formen zurüdbringen, und jo entweder die Feſthaltung eines durchgehenden Bildungstypus oder zugleich den endlichen Abſchluß des Lebens und die völlige Erſchöpfung aller Gelegenheiten des Weiterwirkens herbeiführen. Alle dieſe Züge, melde fiir ung das Bild einer in ſich abgefchloffenen Entwidlung zufammenfegen, wird man an die Benugung der chemiſchen Berwandtichaften und an die Anwendung jener molecularen nur in der Berührung wirkenden Kräfte geknüpft finden.

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J

Die Pflanze, das deutlichſte Beiſpiel dieſer Entwicklung, hat feine andere Aufgabe ihres Lebens, als die Ausbilbung ihrer eig- nen Geftalt. Böte ihr die Außenwelt Die Stoffe fertig dar, welche fie zu dieſem Bau benugen könnte, fo würde fie nur aufnehmen ſich verhalten, aber e8 läge feine Nothwendigfeit vor, um deren willen fte vor ihrer gänzlichen Zeritörung der Außenwelt Stoffe zurüdgeben müßte; die einmal aufgenommenen würden ihre bleiben- ben Beftanbtheile fein. Aber fie findet dies fertige Material nicht, ſondern ift genöthigt, e8 aus den Elementen zu erzeugen. Bei diefer Arbeit kann ein Theil des verwendeten Stoffes als un- benutzbares Nebenproduct abfallen und der Außenwelt zurüdge- geben werben; andere Stoffe, wie Die großen Mengen bes auf- genommenen Waflers, durchkreiſen den Pflanzenlörper, nit um ibm als Beftandtheile anzugehören, fondern um als Wſungsmittel bie Beweglichkeit der wirkſameren Theile zu fihern; auch fie gehen nach Leiftung ihres Dienftes in die Außenwelt zurüd; mandes endlih, was für gewiſſe Perioden des Wadstbums von Werth wer, löſt fih nah Erfüllung feiner Aufgabe vertrodnend oder verwelfend vom Ganzen ab. ber keinen Grund haben wir an⸗ zunehmen, daß diejenigen Stoffe, welde einmal in den feften Bau der Pflanze eingegangen find, einer wieberholten Erneuerung unterliegen. Der thieriſche Körper verhält ſich bekanntlich in diefer Beziehung anders, und obgleich nicht alle Zweifel über die Ausdehnung feines Stoffwechjel$ befeitigt find, fo ift doch gewiß, daß ein großer Theil feiner Maſſe in beftändiger Zerſetzung und Wiedererneuerung durch friſchen Anſatz begriffen iſt. Dieſe Thatſache, deren Umfang wir ſpäter in's Auge faſſen werden, wollen wir zunächſt in ihrer Bedeutung für denjenigen Zug des thieriſchen Lebens überlegen, mit dem ſie unſtreitig in nächſtem Zuſammenhang ſteht, nämlich mit den Leiſtungen, die der thie— riſche Körper, ohne ein beſtimmtes Geſetz ihrer Wiederkehr und Reihenfolge, noch außer der Ausbildung und Erhaltung ſeiner eignen Geſtalt ausführt.

Keiner der unzähligen Eindrücke, mit denen die Außenwelt 7 x

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Durch dieſes Verhalten vermeidet die Natur die Nothmwendigfeit, jeder einzelnen Störung eine ihrer Art und ihrer Größe ange- mefiene heilende Rückwirkung entgegenzufegen, und fie entgeht dadurch zahlreichen Nachtheilen, Die von einem anderen Verfahren faum abtrennbar feinen. Sie Könnte ohnehin Rüchvirkungen folder Art nur entfalten, wenn die Störung felber mit mechani⸗ ſcher Nothwendigkeit diefelben auslöfte und fo an einem Theile ihrer eignen Folgen, der ſich gegen fie wendete, fi bräce. Aber eine ſolche Thätigfeit, die erft im Augenblide des Bedarfs hervor⸗ bräde, würde in fo vegellofer Wiederfehr eintreten, wie die Stö- rung, von ber fie erregt wird; fie felbft würde daher eine neue Erjhütterung fein, die nicht ohne beſonders günſtige Verhältnifie unfhädlih an dem Zufammenhange des Ganzen vorlberginge. Es würde der gleiche Fall fein, wenn die Beftandtheile des Kör⸗ pers an ſich unveränderlih wären und nur duch die Eindrüde der äußern Reize und deren Nachwirkungen erſchüttert ſich zer- fegten, dann plöglic einen Wiedererfag verlangend, während bie Zwiſchenzeit ohne einen folden verlief. Iſt Dagegen das Ganze der wirffamen Theile ein beftändig in Ab- und Zufluß bemegtes, fo nimmt diefer Strom ftetig die Nefte der Zerftörung mit fid hinweg und beftändig die Grundlagen des Weiterwirkens erneu- ernd bewahrt er das Ganze des Lebens vor den plöglichen und ſtoßweis erfolgenden Erjhütterungen, die jede nur im Augenblid des Bedürfniſſes erwachende Abwehr mit fich führen würde. Und auch die Nothwendigkeit fällt hinweg, für jede Störung das ihrer Art und Größe entfprechende Heilmittel zu erzeugen; anftatt des offenen Kampfes gegen die vielfach verjchiedenen Folgen der Ein- drüde befolgt das Neben die Lift des beftändigen Ausmeichens, indem es, von Anfang an mit wechlelnden Mitteln wirkend, ver: loren gibt, was durch äußere Angriffe erfchüttert nur fchnelfer ber Zerftörung entgegengeht, für Die e8 ohnehin beftimmt war. Allerdings finden wir nun in dem lebendigen Körper doch auch ausdrückliche VBeranftaltungen, um auf gewiſſe Eindrücke Rückwir⸗ fungen in einzelnen Augenbliden folgen zu Iafien, die ſich auf

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Dauer Form und Größe jener Anreize berechnet zeigen; aber jelhft die Wirkſamkeit diefer Mittel, deren wir noch fpäter zu ge: benfen haben werben, findet ſich doch zulegt nur durch diefe be- fändig fortgehende allgemeine Strömung des Stoffwechſels mög- lid gemacht.

Jedoch diefe Strömung ganz allgemein zu nennen, haben wir bei genauerer Meberlegung fein ermweisliches Recht, und man übertreibt die Vergänglichkeit des thierifchen Körpers, wenn man Perioden angeben zu Können glaubt, binnen deren er feinen gan- zen Mafienbeftand durch Stoffwechſel umgetaufcht habe. Nicht alle durch den organiſchen Chemismus erzeugten Stoffe find von fo leicht zu ſtörender Aufammenjeßung, wie wir, durch den auf: fallenden Anblid der Fäulniß einiger irregeleitet, häufig und vor- ftellen; wir fennen die Dauerhaftigfeit des Holzes, der Knochen, der Sehnen und Häute und machen von ihr den mannigfachſten Gebrauch; wir kennen im Gegenfat dazu die oft raſch fortichrei- tende PVerwitterung der Steine, beren Dauerbarkeit viel größer ſchien. Ob diefe Beſtandtheile von fefter Zufammenjegung wäh— rend des Lebens eine erhebliche Neubilbung erfahren und bedür⸗ fen, iſt nicht völlig entſchieden, und zweifelhaft felbft, ob manche andere, die wir nad dem Tode ſchnell fich zerjegen ſehen, nicht während des Lebens dennoch durch günſtigere Umftände, unter benen fie fih bier befinden, Tänger erhalten werden. Unbekannt ift endlich für viele die Form ihrer Erneuerung, und wir wiffen nicht, ob einzelne vollftändige Formelemente, wie die Faſern ber Nerven und Musleln, ald Ganzes erhalten und nur in ihren Heinften Theilen ftet8 neu nachgebilvet werden, oder ob unter Umftänden auch fie zerfallen und neue vollftändige Stellvertreter für fie entfiehen. Am wenigften endlich vermögen wir fir bie einzelnen Gebilde die Größe und Geſchwindigkeit der Abnutzung und der Erneuerung zu beftimmen, die fie unter den gewöhnlichen Umftänden des gefunden Lebens erfahren. Ungeachtet diefer Man- gelhaftigfeit unferer Kenntniffe Einnen wir jedoch das Bild des Stoffwechſels durch die gewiß richtige Annahme ergänzen, daß

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der Zerfall und Umtauſch der Beftandtheile, falls er allgemein ftattfindet,, jedenfall mit ehr verfchieener Geſchwindigkeit vor fi geht, und dag in jedem Wugenblide ein bebeutender Stamm von Beitandtheilen fih mit fefter oder nur langſam wechfelnder Mafle in dauerhaften und feiten Berbindungsformen erhält und beftändig einen gejeßgebenden Kern für die Neubildung der übri- gen darbietet, die ihn mit größerer Zerfeglichkeit und in ſchnelle⸗ vem Wechſel beweglicher umkreiſen.

Der Zukunft bleibt es, zu enticheiden, ob in diefem Strome ein völlig rubender Grund, und von welder Ausdehnung, fich finden mag. Unſere gemöhnliche Borftellung betrachtet allerdings bie Theile des Körpers wie die Steine eined Baues, die burd ihre beftändigen Kräfte und ihre einmal gegebene Fügnng ihre Leiftung ruhend vollziehen und der Bewegung nur bedürfen, um die Störungen, die dem Ganzen droben, mit elaftifher Rückkehr in ihre früheren Berhältniffe zu überwinden. Aber es ift wohl möglich, daß der Stoffwechſel nicht nur als eine beftändige Her- ftellung des alten Beſtandes dem Leben dient, fo daß er felbft binmwegfallen Könnte, wenn es ein Mittel gäbe, ohne ihn die or ganiiche Form zu erhalten, fo vielmehr, wie bie verbrennende Kohle nicht dur das, was fie war, noch durch das, was fle wird, jondern durch die Bewegung dieſes Werdens felbft, durch bie Verbrennung, die Wärme erzeugt, welche den erften treiben- den Grund für die Wirkungen der Mafchine gibt, jo Können die Borgänge des beftändigen Bildens und Rückbildens felbft jene bewegenden Anftöße erzeugen, deren das Leben zur Durchführung jeiner Entwidlung bedarf. Aber wir find weit davon entfernt, dieſem Gedanken eine meitere Folge geben zu Finnen. So ehr find wir daran gemöhnt, bei den Borgängen ber Ernährung und Abjonderung nur an Die Gewinnung oder Abftoßung einer nützlichen oder ſchädlichen Stoffmenge zu denfen, daß die Frage wenig no aufgeworfen worden ift, ob nicht hier ber Borgang ſelbſt und die Aufregung der Kräfte, die durch ihn erzeugt wird, zuweilen von größerem Werthe ift, als jener Umſatz der Stoffe

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felbft, Die hie und da vielleicht nur das gleichgiltigere Material bilden, in deſſen Berarbeitungen jene Erregungen entflehen und erhalten werden können. Nur in einem Falle bat auch unfere bisherige Wiffenfchaft dieſe Vorftellungsweife aufgenommen; ſie bat die vorübergehende Aneignung einer großen Menge von Stoffen durch den Organismus als Mittel zur Erzeugung ber Wärme gedeutet, die in ihrer chemifchen Veränderung entfteht, und buch deren Mittheilung an die Gewebe bes Körpers bie weientliche Aufgabe jener aufgenommenen Mafjen erfüllt ift.

Nachdem wir jo den Sinn zu deuten unternommen haben, ben diefe beſtändige Veränderlichkeit des Leibes für die allgemei- nen Zwede des Lebens hat, möchten wir gern dies Bild durch eine Schilderung der beftimmten chemiſchen Vorgänge ergänzen, aus deren planmäßigem meinandergreifen der georbnete Stoff- wechſel hervorgeht. Mit der fcharffinnigften Arbeitiamfeit bat ber Unterfuhungsgeift der neueften Zeit fi) diefen Fragen zuge- wenbet; aber die Verwicklung der Erfcheinungen und die Schmwierig- feit ihrer Unterfuchung ift fo groß, daß aus ber Fülle werthvoller einzelner Entdedungen, von denen unfere allgemeine Weberficht ſchweigen muß, faum noch einige wenige umfaffendere Ergebniffe bervorgetreten find, die nicht die Befürchtung ihrer wiederholten Umgeftaltung durch den weiteren Fortſchritt der Unterfuhung erwedten. |

So meit wir organifches Leben kennen, finden wir die ge= ftaltbildenden Maſſen itberall aus mannigfachen chemiſchen Ver- bindungen von Kohlenftoff, Waſſerſtoff, Sauerftoff und Stidftoff zulammengefeßt. Keine diefer eigenthümlichen Verbindungen er- zengt auf nachweisbare Weife fih von felbft, ohne daß ein orga- nifcher Keim oder irgend ein Reſt in Zerjegung begriffener orga= nifher Subftanz ben erften Kern darftellte, Durch deſſen aneignende Kraft jene überall in der Atmofphäre vorhandenen Stoffe zu einem

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nen anwachſenden Gebilde verdichtet wilrden. ‘Die Pflanze ver- mag es, mit den Mitteln, welche ihre Organifation ihr barbietet, Sauerftoff und Wafferftoff in dem Verhältniß ihrer Mengen, in weldem fie Wafler bilden, mit verfchiedenen Mengen des Koblen- ftoffe8 zu verbinden und dadurch eine Reihe von Stoffen, die Kohlenhydrate, zu erzeugen, aus deren einem, der Cellulofe, fie bie zarten Wandungen ihrer Zellen und das ganze Gerippe ihres Baues zufammenfegt, während andere, wie Zucker und Stärke⸗ mehl, aufgelöft oder abgelagert in ihr als Mittel der Weiter- bildung enthalten find. Die Unwandlungen diefer Stoffe und das Wachsthum, dem fie dienen, ſcheint jedoch nur unter Der Mitwirkung einer anderen Gruppe von chemiſchen Berbindungen möglich zu fein, die zu den Beſtandtheilen jener noch Stidftoff hinzufügen und wegen der Aehnlichleit ihres Verhaltens mit dem thierifchen Eiweiß unter dem Namen der eimweißartigen Körper oder des Proteins zufanmengefaßt werben. Sie, fo wie die fetten Stoffe der Dele, kommen weit verbreitet im Pflanzenreich vor, und durch die vegetabilifche Nahrung, auf welche mittelbar oder unmittelbar alle thierifche Organifation beſchränkt ift, gehen fie in den Thierlörper über, deſſen Iebendige Thätigfeiten umfähig find, die einfahen Elemente, welche die äußere Natur darbietet, zu organiſch benugbaren Verbindungen zu verdichten. So lber- Viefert das Pflanzenreih, auch hierin eine vorarbeitende Vorſtufe der Thierwelt, ber letzteren ſchon im Weſentlichen gebildet die Beftanbtheile, deren feinere Ausarbeitung nad den Bedürfniffen jever Gattung den eigenthümlichen Thätigfeiten der legtern über: laſſen bleibt.

Aus dem Eiweiß und den eiweißartigen und öligen Be— ftandtheilen des Dotters muß der ausfchlüpfende Vogel alle Ge- webe erzeugt haben, die fein Körper bis dahin enthält; aus ber Mil, die neben eimeißartigen und fettigen Stoffen noch durch eine größere Menge von Zuder fi auszeichnet, muß das junge Säugethier, lange Zeit einzig auf diefe Nahrungsquelle befchränft, die mannigfachen Gebilde hervorbringen können, welche der Plan

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feiner Gattung verlangt; aus dem Blute enblih, in weldem diefelben Stoffe wiederfehren, muß der beftändige Wiedererſatz aller buch den Verbrauch zerftörten Gemebtheile beftritten werben innen. Unzweifelhaft müfjen deshalb die eiweißartigen Stoffe als die Grundlage aller jener ftidftoffhaltigen Maſſen angefehen werden, Die wir, in den quantitativen Berhältnifien ihrer Yu- fammenfegung ziemlih einander ähnlih, in dem Fleiſche dem Zellgewebe dem Knorpel den Haaren Federn umb Hörnern wiederfinden, auf das Mannigfadhfte nach Anjehen Härte Dich: tigfeit und Dehnbarfeit von einander verſchieden. Aber vergeblich würde e8 fein, bei dem gegenwärtigen Stande der Unterſuchung die chemiſchen Vorgänge verfolgen zu wollen, durch weldye jenes gemeinfame Bildungsmaterial in jede dieſer eigenthümlichen Umbilvungen übergeht. Am meiften unverändert erhalten den urfprüngliden Charakter des Eiweißes die Theile, Die Den Zwecken des Organismus am Vebhafteften durch eigne Thätigfeit dienen, das Mark der Nerven und die Subftanz des Gehirns; . den Faferftoff der Muskeln finden wir der Zuſammenſetzung nad ähnlich, aber feine Beitimmung zu Tebendiger Berfürzungs- fähigfeit fcheint eine andere Anordnung der kleinſten Theilchen oder eine für und noch unangebbare Veränderung der Miſchung bedingt zu haben; eine weitere Ummanblung bieten die Gewebe, bie durch anhaltendes Kochen in Leim übergehend, zur Herftellung der Tnorpeligen und häutigen Grundlagen Zwiſchenwandungen und Bindemittel verwandt find, welche die lebendig wirffamen Theile ftügen umſchließen und verbinden; als die legten und entfernteften Glieder dieſer Stoffreibe erfcheinen die fefteren trod- neren horn-und federartigen Gebilde, die namentlich in den äußeren Bededungen in den mannigfaltigiten Formverſchiedenheiten ſich entwideln. feines der Kohlenhydrate, welche die vegetabiliſche Nahrung dem Thierlörper zuführt, wird in den höheren Gattungen bes Thierreih® mit zur Bildung der Gewebe verwandt; ihre Aufgabe mag neben der Wärmeerzeugung, die ſie durch ihre lang⸗ fame Verbrennung mit Hilfe des eingeathmeten Sauerftoffes be-

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dingen, in manchen beibelfenden Verrichtungen beitehen, mit denen fie in die chemiſchen Umwandlungen ber übrigen Stoffe eingreifen. Größer fcheint die Bedeutung der Fette, die nicht nur durch ihre phyſiſchen Eigenſchaften, Wärme zufammenhaltend und Reibung vermindernd, nütlih, fondern als weſentliche lieder zu ber hemifhen Berbindung einiger Gebilde und zur Wechſelwirkung anderer nöthig find. Manche andere unorganiſche Stoffe, Me— tolle und Salze der Alkalien und Erben verwendet der Organis- mus in Gemeinfhaft mit ben eiweißartigen Körpern zur Her- ftellung befonberer phyſiſcher Eigenfchaften feiner Gewebe; andere ſcheinen ihn nur zu durchlreifen, um auf den Verlauf des Stoff- wechſels begünftigende Einflüffe verſchiedener Art auszuüben.

Sp wenig wir die fortichreitende Bildung der Körperbeftand- theile Iennen, fo unflar ift die rückwärtsgehende Berwandlung, durch welche fie allmählich zur Ausſcheidung vorbereitet merben. Ein fehr großer Theil erlangt frühzeitig ein ſehr feſtes Gleich— gewicht der innern Zujammenfegung, und diefe Gebilde werden vertrodmend in größeren Maflen und ohne Zerfegung ihrer Form von dem Körper abgeftoßen, die Haare die Nägel die beftändig abichilfernde Bedeckung der Oberhaut. Andere erleiden durch die Thätigleit eigenthümlicher Organe eine noch wenig bekannte Umwandlung, nad welder fie als Körper von noch verwickelter Zufammenfegung, wie Schleim und Galle und die organifchen Beitandtbeile des Harnes, theils für ſich theils aufgelöft in wäflerigen Mitteln den Körper verlaffen; ein anderer jehr be- trächtlicher Reft diefer im Einzelnen unbekannten Zerfegung ift die Koblenfäure, die gasförmig mit Wafferdampf verbunden, durch die Ausathmung entfernt wird. Unter allen einzelnen Stoffen, die den Körper durchkreiſen, fällt vielleicht dem Sauerftoff am meiften die Aufgabe zu, den Verband der Elemente in den orga- niſchen Beftandtheilen durch feine überwiegende Verwandtſchaft allmählich zu lockern und die urfprümglich mannigfache Zuſammen⸗ jegung derfelben nah und nad auf einfachere dem Unorganifchen äbnlichere Formen zurüdzubringen, in melden die zerfallenden

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Stoffe, [licher geworden, die Grenzen des Körpers zulekt ver⸗ laſſen. Erſchien früheren Seiten der Sauerftoff als der eigent- liche Erreger und Bringer des Lebens, jo werden wir jet, ohne zu leugnen, daß fein mächtiges Eingreifen auch als eine erzeugende Kraft Bedingungen ber Lebensthätigkeiten bertellen kann, wenig⸗ ſtens einen andern und ebenfo bebeutfamen Theil feiner Leiftungen in der langſam zerftörenden Macht finden, mit welcher er bie Hindernifje des Lebens hinwegräumt, indem er die unbenugbar gewordenen Maffen durch völligere Zerfegung aus der Mitte der noch tbätigen entfernt.

Eine eigenthümliche Wichtigfeit beſitzt endlich für die Ge- ſammtheit der Xebensverrichtungen das Wafler, das wir in außer- ordentlichen Mengen durch die Pflanzen und den thierifchen Körper binburchkreifen fehen. Als Loſungsmittel bedingt e8 die größte Anzahl der chemiſchen Wechfelmirkungen; auf feiner Flüſſigkeit berubt alle Möglichleit des Kreislaufes und der ununterbrodenen Bertheilung des Ernährungsmaterials, auf feiner Fähigkeit, Wärme aufzunehmen zu leiten und verbampfend zu binden, das Gleid- gewicht der Temperatur, befjen der lebendige Körper zu dem Fortgang feiner Verrichtungen bedarf. Und nicht minder weſent⸗ ih gebt es in die Miſchung der organiſchen Beftandtheile ein; feine Gegenwart und die eigenthümliche Verwandtſchaft, die es zu ihnen hegt, gibt den tbierifchen Geweben jenen Zuftand ber Feuchtigkeit, durch ben fie fi biegſam elaftifch und dehnbar von den unorganifchen Körpern und von der Brüchigkeit und Starr: heit unterſcheiden, der ſie felber nach ihrer Austrodnung ver- fallen. In Teinem unorganifchen Stoffe ift das Berhalten bes Waſſers zu der feſten Subftanz ganz von diefer eigenthümlichen Art, der wir bier begegnen, und die und wohl von Säften des lebendigen Körpers aber nie von ſolchen des unlebendigen ſprechen pt. Des Iryftallifirende Salz, nachdem es den größeren Theil feines Löfungsmitteld der Berdunftung überlaffen und einen Tlei- neren Mengentheil des Waſſers in feine hemifche Zufammenfegung aufgenommen Hat, erſcheint num troden und feine Theilchen haben

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eine fefte gegenfeitige Lagerung angenommen. Wohl Tann es bugroffopiich einen Theil der umgebenden Luftfeuchtigfeit in fich verdichten, aber fein Gefüge wirb durch dieſe Wafleraufnahme nur zerftört, ohne daß bie zerfallenden Theile vorher jenen Zu- ftand der zähen Weichheit und elaftiihen Dehnbarkeit durchliefen, ben alle zu dem eigentlichen Bau des thieriſchen Körpers ver- wenbeten Stoffe durch ihre eigenthümliche Verwandtſchaft gegen das Waſſer erlangen. Hierauf beruhen ohne Zweifel die befon- dern Geftaltungstriebe des Organiſchen, die jo von ber Starr⸗ beit der Kruftallifation unterfchieden find, Daß nur wenige orga- niſche Stoffe überhaupt diefer Art der Formbildung fähig find, und Diejenigen, welde fie in der That anzunehmen vermögen, doch gerade durch ihre Annahme für die Bilbungsbebürfnifje des lebendigen Körpers unbenußbar werben.

Wir Tennen feinen organiſchen bildungsfähigen Saft, Der eine durchaus gleichartige Flüſſigkeit darftellte, und in welchem nicht als erfte Anfänge der Geftaltung ſich mikroſtopiſch Heine punkt⸗ förmige Körnchen zeigten, deren Bildung und Zuſammenſetzung fih nicht mehr weiter verfolgen läßt. Sie Können nur durd) Gerinnung des flüffigen Stoffes entftanden fein und vergrößern fih durch fortgefeßte Anlagerung entweder von gleichartigen nach⸗ gerinnenden Maffen, oder dadurch, Daß durch chemiſche Wahlver⸗ wandtſchaft das früher ausgeſchiedene Körnchen nun andere von ibm verichiedene Stoffe aus der Zlüffigkeit um fich nieberichlägt. Das Wachsthum dieſer entweder gleichartigen oder aus differenten hemifhen Verbindungen beftehenden Kerne geht nie über ſehr Heine mikroſtopiſche Dimenfionen hinaus, fondern noch innerhalb

iefer Grenzen tritt eine zweite Bildung auf, die der zarten durchſichtigen ſtrueturloſen Haut, welche fi um ben Kern ber- um erzengt und mit ihm nun die gejchloffene Geftalt einer Zelle beroorbringt, deren Inneres um den Kern herum mit Flüſſigkeit

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gefüllt if. Auf melde Weiſe jene zarte Membran durch bie Kräfte des Kernes felbft gebildet wird, ift unflar; die Zelle ſelbſt aber, in den Pflanzen häufig der Schauplatz Iebhafter Bewe- gungen, in welden ihr Eörnigflüffiger Inhalt umbergeführt wird, bietet zwar in den Thieren nicht fo auffallende Erfcheinungen, bleibt aber ein lebendiger Mittelpunkt chemiſcher Wechfelwirkungen mit der umgebenden Flüſſigkeit, deren aufgelöfte Beftandtheile ihre Umgrenzungshaut durchdringen. Durch diefen Verkehr ändert fih allmählich die Miſchung, die innere Anordnung und mit ihr die Geftalt der Zelle, und fie geht aus ihrer anfänglicden Rundung in mancherlei länger geftredte zipfelige verzweigte Formen über, deren Entftehungsmeife noch eben jo dunkel als der Werth ift, den fie für die Lebensverrichtungen befigen. Der Pflanzenkörper bewahrt die urfprüngliche Zellenform in größerer Ausdehnung als der thierifhe Organismus; in den Drganen, die meift von drüfigem Bane der Ernährung und dem Stoffmechjel dienen, finden wir die Zellenform der Heinften Gemebtheilden noch deutlich, und eine beftändig fortgehende Zerfallung und Neuerzeugung derjelben theils ficher, theils wahrſcheinlich; aber die eigenthümlichen Be— dürfniſſe des Thierlebens führten eine neue Form mit ihren zahl- reihen Anwendungen herbei, die der Safer, die nicht überall erft fecundär aus einer Zellenreihe entfteht. Wir finden die Faſern theil8 unverzweigt neben einander georbnet, wie in dem Stamme der Nerven und in den Muskeln, und dann ihre Bündel durch Zwifchengewebe und Hüllen verbunden, theils verwebt unter ein- ander zu feften und haltbaren Geflechten, unter denen die Form des Hohlgefäßes von Freisförmigem Durchſchnitt als befonders wichtig hervortritt.

Aus Berfnüpfungen diefer verhältnigmäßig einfachen Gemweb- formen geben endlich jene zufammengefegten Bildungen hervor, die wir unter dem Namen der Organe zu begreifen pflegen und welche die phyſikaliſchen und organifchen Leiftungen der einzelnen Gewebe zu dem Ganzen einer beftimmten Yunction verknüpfen. In den meiften Organen finden wir neben manderlei bäutigen

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Umgrenzungen und Bindemitteln, welche den Zuſammenhang bes Ganzen und bie relative Lage der einzelnen Beſtandtheile fidhern, Gefäße und Nerven in freilich fehr verſchiedenen Mengenverbält- niffen eine aus Zellen gebildete Grundmaſſe durchſetzend. Der Name der Parenchyms, des Zwiſchengegoſſenen, den dieſe führt, muß uns nit darüber täufchen, daß fie eigentlich das wirkſame Element der ganzen Zuſammenſetzung ift, während alle Gefäßcanäle und Nerven ihr nur das zu bearbeitende Material und die An- triebe zur Arbeit zuführen oder das materielle Product ihrer Leiftungen und die aus ihrer Thätigfeit bervorgehenden nugbaren Erregungen nad dem übrigen Organismus hinmwegleiten.

Fünftes Kapitel. & Der Bau des thierifhen Körpers.

Das Kuodjengeräft. Die Mußleln und bie motoriſchen Nerven. Das Gefäß fofrem und ber Kreißlauf des Blutes. Athmung Ib Emährung. Aus ſcheldungen.

Während wir die allgemeinen Geſichtspunkte auseinander⸗ feßten, welche wir für die Unterfuchung der Lebenserfcheinungen feftgehalten wünſchen, durften wir vorausjegen, daß die natürliche Bertrautheit mit diefen und mit dem Baue des Tebendigen Kör⸗ pers einftweilen den Mangel anfchaulicher Befchreibungen erjegen werde. Auch gegenwärtig, indem wir verſuchen eine Schilderung ber einzelnen Vorgänge und Leiftungen zu geben, mit denen bie verihiedenen Werkzeuge des Lebens in einander greifen, iſt es noch nicht unfere Abfiht, alle die Gebanfenreihen zu verfolgen, ...gu benen bie Betrachtung des menſchlichen Körpers, des eigent- lichen Gegenſtandes unſerer Darſtellung, Veranlaſſung gibt. Weder in der Schönheit ſeiner Geſtalt werden wir ihn beobachten, noch in der eigenthümlichen Bedeutſamkeit ſeiner Formen, die einen

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durch die Hälfte der Thierreihe feftgehaltenen Typus der Bildung zu abichließender Vollkommenheit fteigern. Späteren Gelegen- heiten dies Alles überlaffend, begnügen wir und in dem Zu— ſammenhange unferer jegigen Weberlegungen mit der einfeitigen Hervorhebung defien, wodurch der menſchliche Körper, hierin den höheren Thiergattungen vollkommen ähnlich, den Kreislauf feiner Lebensverrichtungen zu Stande bringt.

Ueberall unter bebedenden Schichten von größerer oder ges tingerer Mächtigfeit verborgen, bildet das Knochengerüſt die feſte Vorzeihnung der körperlichen Geftalt. Aus einer Grundlage von durchſcheinendem elaftiihen Knorpel und der phosphorjauren Kalferde, die in deſſen Gewebe auf eigenthümliche Weife einge: lagert ift, hat die Natur diefe haltenden Stützen gebilvet, die in dem feuchten Zuftande, in welchem fte fi während bes Lebens befinden, die. Vortheile der Starrheit ohne zu große Spröpigfeit darbieten. Auf der äußern Oberfläche geglättet und hart, im Innern bald dichter, bald von zarterem und ſchwammigerem Ge: füge, je nad dem Zwecke, der zu erreichen war, bildet dieſes Knochengewebe in den verfchiedenften Formen bier ausgebehntere Hohlröhren, dort flache Platten, oder mannigfach gemölbte und verbogene Blätter, alle ſo paarweis vorhanden, daß eine Ebene, weldhe ben Körper durch die vordere und die hintere Mittellinie feiner Geftalt von oben nach unten durchſchneidet, auch das Knochen⸗ gerüft in zwei völlig ſymmetriſche Hälften zerlegt. Mit ihren zadigen Rändern in einander greifend, verbinden fich muſchel⸗ förmig gebogene Knochen zu dem feften Schäbelgemwölbe, der ficheren Umbüllung des Gehirns, unter einander unbemweglich vereinigt, oder do nur unmerkliche Ausweichungen geftattend, die höchſtens bie Gewalt heftiger Stöße einigermaßen zu mildern im Stande find. An fie ſchließen fih nach vorn und unten in fefter Verwachſung die Knochen des mittleren Geſichts, befien unterer Theil durch die bewegliche Kinnlade vervollſtändigt wird. Theils offen gelaflene Lüclen zwiſchen den Verbindungsrändern mehrerer Knochen theils Kanäle von größerer oder geringerer Weite, das es ber ein-

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zelnen durchbohrend, führen aus dem Innern des Schäbelgewölbes auf feine äußere Oberfläche, Gefäßen und Nerven freien Durd- gang verftattend. Durch eine größere Oeffnung an ihrer untern Fläche, das große Hinterhauptsloch, hängt Die Höhlung des Schädels mit dem langgeftredten breitern Kanale des Rückgrates zuſammen, den ber dide Markſtrang des Rückenmarkes als unmittelbare Fortfegung des Gehirns bis faft zu feinem untern Ende loſe ausfüllt. Eine größere Anzahl einzelner Knochen, im Allgemeinen von der Form eines kurzen Cylinders, find bier zu einer langen Säule übereinandergeftellt und durch flache elaſtiſche Bandſcheiben, die zwiſchen die Berührungsflächen je zweier eingefchaltet find, ſehr feft und haltbar verbunden. Nur eine ſehr geringe Bewegung iſt deshalb zwifchen zwei nächſtbenachbarten Gliedern diefer Kette möglich, aber die beträchtliche Anzahl derfelben geftattet doch dem Ganzen der Säule durch Summation diefer Heinen Beugungen anjehnliche Kriimmungen in weiten und großen Bogen. So findet ſich durch dieſen Aufbau des Ganzen aus einer Vielheit Fleinerer Theile Sicherheit des Zuſammenhangs mit ausreichender Beweg⸗ lichkeit verbunden und zugleich der Nachtheil vermieden, den ſcharfe Einfnidungen dieſes Knochengerüſtes für die zarten Gebilde haben würden, zu beren ſchützender Aufnahme es beftimmt if. Ans jedem dieſer gefchilderten Knochencylinder nämlich, oder aus jedem einzelnen Wirbellörper der Rückgrates, gehen ſeitwärts zmei Indcherne Bogen aus, die nach hinten ſich ringartig vereinigen, einen offenen Kaum von runblic herzförmiger Geftalt zwiſchen ſich Yaffend. Mit diefen Deffnungen eben fo tiber einander geftellt, wie bie Wirbellörper, von denen fie entipringen, umgrenzen biefe einzelnen Ringe mithin einen langgevehnten hohlen Kanal, ohne ihn jedoch völlig einzufchließen. Denn von geringerer Höhe, als die Wirbel- förper, berühren fi zwei nächſt auf einander folgende Ringe nicht überall, fondern laſſen Zwiſchenräume frei und ftehen nur an drei Punkten dur vorfpringende Gelenfflächen mit einander in beweglicher aber buch fefte Gelenfbänder nur auf geringe Bewegungen beichräntter Berbindung. Sp gewährt alfo die Wir-

UNIYER- ÄdLIFO

belfäule das Bild eines langen Hohlraumes, deſſen bidere Wand ungetheilt ift, während die blinneren Geiten= und Rückwände durch zahlreiche Deffnungen unterbrochen find. In dem Innern dieſes Raumes, den glatte Häute ausfleiden, iſt das Rückenmark auf eine Weife fchwebend befeftigt, welche am meiften die Nachtheile der häufigen Beugungen und Verſchiebungen feiner Knochenwandungen verhütet.

Nach vorn fnüpft fih an die oberften Wirbel, die des Halſes, eine weitere knöcherne Bildung an; die zwölf folgenden, Die ber Bruft, tragen, den nach hinten gerichteten Wirbelbogen entiprechend, nad) vorn die ungleich weiter gefpannten Knochenbogen der Rip- pen, die mit ihrem bintern Ende beweglich in einigem Grade an die Wirbelkörper befeftigt, fih nad vorn in dem platten Bruft- bein vereinigen. Sie begrenzen jo feitlich den Bruftforb, defjen obere Deffnung ungeſchloſſen nur durch die geringere Weite der erften Rippenbogen verengt und deſſen untere weitere Ausmün- dung. gleihfall8 nur durch das musculdfe Zwerchfell und nicht durch Knochenbildung von der Höhle des Unterleibes getrennt wird. Die fünf nächften Wirbel, die Lendenwirbel, tragen wie die des Halfes Feine Rippen und beftunmen, von ftärferem und mafjenhafterem Bau als alle übrigen, nur von Hinten die Höhe der Unterleibshöhle, deren Seitenwandungen alle nur von Weich- theilen gebildet werben. Ihre untere Wand dagegen, beftimmt die Laft der Eingeweide zu ftüßen, ift aus dem großen Knochen⸗ ringe des Beckens gebaut, der, von den legten zu dem breiten Kreuzbein verwachlenen Wirbeln des Rückens ausgehend, zu beiden Seiten breite Flügel ausfhidt, die von oben und aufen nad unten und innen abgeſchrägt, und vorn durch niedrigere Knochen verbunden, einen ziemlich bedeutenden nur durch Weichtheile ver- ſchloſſenen Raum zwiſchen fich Laffen.

An dieſes Körpergerüft, deffen Yorm bei der geringen Ver: Ihiebbarfeit feiner Theile geringen Veränderungen unterworfen ift, ſchließen ſich endlich die Knochenröhren der Gliedmaßen, Denen die Art ihrer Einlenfung Lagen und Geftaltveränderungen im

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weitelten Spielraum verftattet. Das Schulterblatt, nur durch Weichtheile am Rüden feitgehalten, nach vorm durch das Schlüffel- bein mit dem Bruſtknochen in beweglicher Verbindung, trägt an feiner obern äußeren Spige an einer flachen Gelenfgrube den Kopf des Oberarmes, die äußere Oberfläche des Beckens nad) unten in tiefer runder Gelenfhöhle den Kopf des Oberſchenkels. Beiden Knochen erlaubt die Natur ihres Gelente8 Bewegungen nach jeder Richtung, deren Weite nur durch Anftoß an die Um— gebungen begrenzt wird; beide ftehen dagegen mit den Knochen des Unterarmes und Unterfchenfeld in einer Verbindung, Die den legteren in Bezug auf fie nur die Bewegung in einer einzigen Ebene möglich macht. Aber dieſe VBerhältniffe ſowohl wie ben ferneren Bau der Hände und Füße, dur deren feine Organi— fation die menfchliche Geftalt fi von der ganzen Thierwelt unter- ſcheidet, verſparen wir einer fpätern Betrachtung. Fügen wir hinzu, daß zahlreiche jehnige Bänder alle bemeglih an einander eingelentten Knochen feft verbinden, daß beſondere häutige Kapſeln ihre einander zugewendeten Gelenflöpfe zu umgeben und die Ge- Ventflächen durch eine fehleimige Abſonderung fchlüpfrig zu erhal- ten pflegen, fo haben wir das Bild des ftarren Gerüſtes voll- endet, deſſen einzelne Theile nun durch die Xebensthätigfeit der Musteln bewegt werben.

Die zahlreihen Lüden und Zwiſchenräume, melde Die ein- zelnen Knochen zwiſchen fich Tießen, werben durch das Fleiſch der Muskeln größtentheils ausgefüllt oder verbedt, und das Skelet, mit feinen Muskelſchichten befleivet, füllt daher faft vollſtändig Die äußeren erſcheinenden Umriſſe der Körperforn aus. Aeußerſt dünne und zarte Faſern, nur dem bemaffneten Auge fichtbar, verbinden fi in gleihlaufender Richtung neben einander gereiht zu den feinften Fäden, Die wieder in gleicher Weife zu bideren Bündeln zufammengebrängt uns als die Beſtandtheile des Fleifches

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befannt find. Zufammengehörige Maſſen dieſer Fleiſchfaſern, zu einer und derjelben Berrichtung zufammenwirkend, von zahlreichen baarfeinen Blutgefüßen durchzogen und von gleichartigen ober ungleihartigen Umgebungen durch deutlichere Hüllen aus zelligem Gewebe abgegrenzt, bilden die einzelnen Muskeln, die ohne näheren Zuſammenhang umter einander nur durch ihre auf ge= meinjame Zwecke berechnete Tage ſich zu größeren Gruppen und Syſtemen ordnen.

Unter dem Einfluffe verſchiedener Reize find die Musfeln fäbig, fih in der Längsrichtung ihrer Faſern zufammenzuziehen. Indem jede der letztern durch eine noch wenig gefannte An- näberung ihrer Hleinften Theilchen ſich um einen oft jehr beträcht- lichen Theil ihrer Länge verkürzt, wird in entfprechendem Maße der Querſchnitt des Muskels unter gleichzeitiger geringer Zunahme feiner Dichtigleit verbreitert. Denfen wir uns ein Faſerbündel mit feinen beiden Endpunften an zwei bewegliche Theile befeftigt, fo wird es durch feine lebendige Yufammenziehung beide in ge= rader Linie einander zu nähern fuchen, und es wird bie Kraft, mit welcher e8 dieje Leiſtung ausführt, von der Zahl der wirl- ſamen Fafern, alfo von der Dide des Bündels oder des Mus- fel8, die Weite der Annäherung aber oder der Umfang ber er- zeugten Bewegung von der Länge deſſelben abhängen. Wo daher die Glieder, ohne jehr große Bogen zu beſchreiben, Traft- volle Bewegungen ausführen oder Stellungen fefthalten follen, in denen fie einer beträdhtlihen Laſt Wiverftand zu leiften haben, finden wir am bäufigften Turze, aber aus vielen Fafern beftehende dide Muskeln angewandt; wo dagegen ohne Entwidlung be- dentender Kraft eine Bewegung duch größere Räume beabfichtigt ift, find um fo längere und dann Häufig dünnere Musfeln zwifchen den- beweglichen Punkten ausgeipannt. ‘Doc, leidet dieſe einfache Berwendungsregel Ausnahmen. Denn nur wenige Mus- keln breiten fi zwifchen Punkten aus, denen eine gegemfeitige Annäherung in gerader Linie möglich ift; die meiften haften mit ihren beiden Enden an Knochen, die unter einander durch ein

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Selen? verbunden find und nur durch Drehung um diefes fich auf einander zu bewegen Finnen. Der Musfel, über dies Ge- len? hinlaufend und, fo mie e8 die Gefete des Hebels für die größte zu erzielende Wirkung verlangen, möglichſt entfernt von dem Drebpunft angefegt, würde daher bei feiner Verkürzung zwar den Winkel, den beide Knochen am Gelenk zufammen bilden, be= trächtlich verkleinern, aber zugleich die Deffnung veffelben durch feine verdickte Maſſe ausfüllen. Die Geftalt der Glieder würde fo eine Veränderung erleiden, die jchon an dem Arme, der davon das einfachfte Beiſpiel böte, aber weit mehr nod in anderen Fällen dem Zwede der eingetretenen Bewegung wenig förberlich wäre. Theils diefe Rüdfiht auf die Vermeidung zweckwidriger Seftaltveränderungen theil8 andere Umftände bringen in die Be . nugung dev Musfelthätigleit eine große Mannigfaltigkeit; aber die Verfolgung diefer Berhältniffe würde, ſelbſt wenn fie hier ındg= ih wäre, für unfere Betrachtung keinen Gewinn bringen, den wir nicht aus dem ſchon Erwähnten ziehen Fönnten.

Wir finden in dem eben befchriebenen Bau des beweglichen Körpergerüftes und in der Beranftaltung feiner Bewegungen nit nur bier und da Analogien mit den Verfahrungsweiien, deren fih die Technif des Mafchinenbaues bedient; jondern das Ganze diefer Leiftungen ift durchaus und in der größten WMannigfaltig- feit und Feinheit ber Ausführung auf dieſelben Mittel und Ges jege begründet, Die wir in unfern täglichen Berfuhen, Werkzeuge zur Bewegung von Maſſen zu erfinden, nur in unvolllommenerer Weife ausbeuten. Diefelben unbiegſamen Stangen, diejelbe Ber- bindung und Befeftigung durch mannigfadhe Bänder, dieſelben Einlentungen der beweglichen Theile vermittelt abgepaßter und genau die möglichen Drehungsrichtungen beftimmender Gelenf- flächen, diefelben Zugfeile nebft ven Rollen und Haftbändern, welche die Richtung ihrer Wirkung nad) Bequemlichkeit und Bedürfniß ändern: alle dieſe Hilfsmittel finden wir gleichmäßig in den Ma— fhinen und in dem lebendigen Körper wieder: wir finden fie nirgends in der übrigen Natur. Raumdurchdringende Kräfte

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führen an unfihtbaren Fäden die Geſtirne in ihren Bahnen; ge- genfeitiger Drud der Theilden, Spannung fich verflüchtigender oder durch Auffaugung anichwellender Maſſen, chemiſche Anziehun- gen endlich und die unmittelbaren Gegenwirkungen der Stoffe in räumlicher Berührung find die Kräfte, die in den meteorifchen Erfheinungen und in denen des Pflanzenlebend thätig find; dies geglieberte und zufammenftimmende Syſtem mechaniſcher Vorrich⸗ tungen nach den Geſetzen des Hebels tritt erſt im thierifchen Le⸗ ben und gerade ba auf, wo es fih um die Erfüllung feiner un⸗ terſcheidenden Aufgabe, der Veränderung der Geftalt und des Or⸗ te8 handelt. So wenig ſcheut ſich aljo das Lebendige vor jenen Mitteln, die wir mit einer gewifien Geringſchätzung als künſtliche mechanifche Beranftaltungen zu bezeichnen pflegen, daß feine Glie- derung zur Bewegung vielmehr als das vollfommenfte won der Ratur felbft gegebene und nur hier, in dieſem ihren vollkommenſten Erzeugniß gegebene Borbilb der Mafchine gelten darf. Nur darin freilich geht da8 Leben über alles hinaus, was wir nachahmend zu Stande bringen, daß die Triebfraft diefer ganzen Zufammen- ſtellung von Mitteln in der eignen innern Verkürzungsfähigkeit ber Muskeln liegt, während unfere Technik die Verkürzung der Zugfeile nur durch Aufrollung derfelben um Walzen und Räder erreicht, und zur Bewegung dieſer wieder neue Hilfsmittel be- nugen muß.

Den Anftoß zur Verkürzung empfangen die Muskeln von ben Nerven, die zwijchen ihnen und dem Gehirn und Rüdenmarf ausgefpannt find. Die mikroſkropiſch feinen lang ausgefponnenen aus zarter durchſichtiger Scheide und zähflüſſigem Mark beſtehenden Nervenfafern finden fih auf diefem Wege von den Eentralorganen zu den beweglichen Glievern in gemeinfamer Umbüllung zu größe- ten Biindeln zufammengefaßt, ohne während dieſes Verlaufs ſich zu tbeilen oder zufammenzufließen. Aus diefen dideren Stämmen treten fo, wie ed die Bequemlichleit der Vertbeilung verlangt, in ber Näbe der Musfeln Kleinere Bündel heraus, deren einzelne Fäden zulegt zwiſchen die Fajern Des Musfels fi einjenten und

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nun erft in feine Zweige auflöfen. In frifch getödteten Thieren erregen Drud und Zerrung, chemiſche Einwirkung und der Einfluß eleftrifher Ströme, auf irgend einen Punkt im Berlauf des Nerven ausgeübt, Zudung in dem Muskel, zu dem er fi) verbreitet; ein Beweis dafür, daß das Gleichgewicht der Hleinften Elemente ber Nervenfubftanz verlegbar genug ift, um durch manderlei Eingriffe geftört zu werden und feine Störungen von Punkt zu Punkt mit Leichtigfeit fortzupflanzen. Feine Unterfuchungen ber neueren Zeit haben glaublich gemacht, daß eine ſchnell obwohl nicht augenblicklich den Nerven burchlaufende Veränderung feiner elektriſchen Zuftände der Borgang ift, durch deflen Einwirkung auf die Muskeln bie Verkürzung der contractilen Safer angeregt wird. Wichtig für bie befonderen Unterfuchungen der Bhuftologie, wiirde body die Entſchei⸗ dung diefer Frage dem allgemeinen Bilde, weldhe8 wir hier ver- fuchen, nichts Wefentliches hinzufügen; genug, daß irgend eine in dem Nerven von Punkt zu Punkt fortfchreitende Aenderung jeiner phufiichen Zuftände entweder vorübergehende Zudung oder dauernde Spannung der von ihm abhängigen Muskeln veranlaft.

Die Reizbarleit der Nerven und der Muskeln erhält ſich dauernd nur, fo lange beide in ihren natürlichen Lagenverhältnifſen die Einwirkung des umſpülenden Blutes erfahren. Um dieſen belebenven Reiz überallhin zu verbreiten, durchdringt alle Glieder des Körpers das Gefäßſyſtem wie ein reich verzweigted Wurzel- geflecht. Seine ſtarken Hauptiprofien, in den größeren Hohlräumen des Leibes verlaufend, zerglievern ſich Durch vielfach wiederholte Beräftelung in ein dichtverſchlungenes Netzwerk feinfter Röhrchen, das die Heinften Elemente der Gewebe hier mehr dort weniger gedrängt umfpinnt und an allen in beftändigem Strome die er- nährende Blutflüſſigkeit vorüberführt. Auch dieſe Bewegung haben ſchwärmeriſche Meinungen, in völligem Widerſpruch mit leicht zu beobachtenden Thatſachen, einer eignen geheimnißvollen

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Triebkraft des Flüffigen zugefchrieben, das im Dienfte des Le⸗ bens feine Wege auswählend ſuche; aud fie werben wir viel- mehr, ganz ebenjo wie die Bewegung der Glieder, auf die feinfte Benugung von Mitteln gegründet finden, die jenen Anfichten nur als die gröbften und kümmerlichſten Behelfe menſchlicher Künſtelei zu ericheinen pflegen.

Wäre an einem vingförmig gefäiloffenen mit Fluſſigleit er⸗ füllten Kanal von elaſtiſch ausdehnſamen Wänden eine einzelne Stelle mit zufammenziehungsfähigen Faſern umgeben, jo würde jede Contraction diefer Stelle, die wir fogleih mit dem Namen des Herzens bezeichnen wollen, die lüfjigleit nach beiden Seiten bindrängen, und zwei Wellen würden fi nad rechts und links durch die augenblidlich ausgedehnten und ſich elaftilch wieder zu: fammenziehenden Arme des Ringgefäßes verbreiten. Eine Klappe in dem Innern des Gefäße auf der einen Seite des Herzens angebradt, jo daß ein Strom von ber einen Seite fie fchließen, bon der andern Seite fie öffnen müßte, wiirde anftatt der dop⸗ pelten Welle nur einen einfeitigen Fluß des Blutes durch die ganze Krümmung des Gefäßes geftatten, und zu dem Herzen von ber andern Seite zurüdtehrenn wiirde e8 die Klappe öffnen, um auf’s Neue durch eine zweite Zufammenziehung in berfelben Richtung wie vorher fortgebrängt zu werden. Nehmen wir an, daß das ringförmige einfache Gefäß fich in einiger Entfernung vom Herzen in mehrere Aeſte fpaltet, Die durch neue Verzweigung fi in eine unabſehbare Vielheit feinfter Röhrchen theilen, daß ferner Diele feinften Kanäle fi nun wieder zu größeren Stämmchen fammeln, um zulegt in zwei Hauptitröme vereinigt wieder in das Herz ein- zumünden, fo haben wir an jener einfachen Borftellung die Ber- änderungen angebracht, die nöthig find, um aus ihr ein Bild des ernährenden Gefäßſyſtems zu machen. In der That bildet das Herz einen ſtarkwandigen musculdfen Schlaud, deſſen kräftige Zuſam⸗ menziehungen das in ihm enthaltene Blut in die große Körper: ſchlagader, die Aorta, den einen noch ungetheilten Arın des großen Gefäßringes, prefien. Eine häutige Klappe im Herzen, während

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feiner Zuſammenziehung durch den Druck des auch gegen fie ge- drängten Blutes geſchloſſen, verhindert den Austritt deſſelben nach der entgegengejegten Seite der Bahn und zwingt es, einfeitig feinen Weg durch jenen ftarlen Stamm in bie weiteren Berzweigumgen des Arterienſyſtems zu nehmen. Immer findet dabei das Blut die Adern, in die es getrieben wird, bereitö gefüllt; indem es eben vom Herzen kommend, fih in den Anfang der Aorta einpreßt, drängt e8 die Wand derfelben nach Breite und Länge auseinander und findet in diefer größeren Weite des ausgedehnten Gefäßes für einen Augenblid Raum. Aber die elaftiihe aus ftarfen und zähen Nings- und Längsfafern gebildete Wand des Gefäßes ftrebt mit großer Kraft fi auf ihr voriges Maß zurüdguziehen und preßt dadurch den Ueberſchuß des fie ausdehnenden Blutes auf demſelben Wege weiter fort, indem die nächſte Stelle des Gefäßes jest eine ähnliche Erweiterung erfährt, um fogleich gegen dieſelbe ebenfalls elaftifch zurüdzumirfen. So entjteht, über die ganze Länge des Gefäßes hin ſchnell fortfchreitend, eine Welle der Ermeiterung, Die man leicht fih anſchaulich machen kann, wenn man den Darm eines Thieres bis zu genügender Spannung jener Wände mit Wafler füllt, an beiden Enden verſchließt und auf das eine derfelben einen plöglihen Drud ausübt. Wir kennen diefe Wellenbewegung der Schlagadern, die von ihr eben den Namen erhielten, unter dem Namen des Pulſes; fie wird weniger deutlih an den Kleineren Heften und verjchwindet völlig in dem weit ausgedehnten Nete der Haargefäße. Im ruhig gleihmäßigem Strome fließt durch diefe das Blut, um in den wiederzufammentretenden größeren Stämmen, den Benen, pul8los zu dem Herzen zurüdzufehren. Da in der Aorta nach dem Herzitoß Flüſſiges auf Flüffiges trifft, fo werden manderlei Vermiſchungen eintreten, und ein Theil des neu eintretenden Blutes kann auf größere oder geringere Länge dur das Thon vorhandene hindurchgepreßt werden, während ein anderer Theil des neuen einen Theil des alten vor fi berbrängt. Die Bahn, welche ein einzelnes Bluttheilchen befchreibt, kann da— ber ſehr verfchieden ausfallen; nur -in dem mittleren Theile des

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Gefäßverlaufs wird fie ſtets eine gleichförmig fortfchreitende fern; am Anfang der Aorta können die angeführten Umftände fie ſehr unregelmäßig machen, in den Haargefäßen viele Kleine zufällige Drude der Umgebung und andere Umftände fie auf eine Zeit lang in ein ſchwankendes Bor- und Zurückgehen durch die vielfach, commumnicirenden Wege dieſes Neges verwandeln. Die Angaben, welche das Blut etwa in einer Minute, während das Herz 60—80 Schläge macht, feinen Weg durch das ganze Gefäßſyſtem vollenden laſſen, können deshalb nur den durchſchnittlichen Erfolg der gan- zen Circulation, aber nicht die Bewegung jedes eingelnen Theilchens bezeichnen.

Die größeren Gefäße, Arterien und Venen, durch dicke und undurchdringliche Häute von der Subftanz der Theile Igetrennt, durch welche fie verlaufen, find nur die Strombetten, in denen ber Zufluß und Abfluß des Blutes ftattfindet; die Haargefäße allein, mit ihren zarten und dünnen Wandungen und in überaus feiner und reicher Berzweigung die Kleinen Elemente der Gewebe durch⸗ jegend und umfpinnend, bilden den Schauplat des Stoffumfakes. Aus ihnen treten beftändig durchſchwitzend die flüffigen Beftanb- tbeile des Blutes in die Zwiſchenräume der Gewebtheile, und gegen dieſe ausgetauscht dringen die aufgelöiten Zerjegungsrefte der verbrauchten Körperfubftanz in fie ein, um mit dem Blntfirome an die verjchiebenen Abfonderungsftellen fortgeführt zu werben. Wir kennen faft gar nicht die Art der chemiſchen Umwandlung, welche die Gewebe im Laufe der Zeit und dur ihre Leiftungen erfahren und eben fo wenig die Reihenfolge der Formen, in welche fie ſich durch fortichreitende Zerſetzung verwandeln, bis fie voll- kommen löslich und in ihrer chemiſchen Zufammenfegung den ein- facheren unorganifchen Stoffen ähnlicher geworden zur Ausſcheidung aus dem Körper bereit find. Nur einen Erfolg dieſer beftändig in allen heilen des Leibes fortgehenden Thätigfeit beobachten wir beftimmter, die Bildung von Koblenfäure, duch deren Ein- tritt in die Haargefäße das Blut auf feinem Rückwege durch die Denen jene dunkelrothe Färbung annimmt, die e8 nım von dem

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jeder eine Hälfte der Bruſthöhle durch eine baumförmige Berzwei- gung immer feinerer Kanäle ausfüllt. Auch biefe Haargefäße Sammeln fi wieber zu größeren Stämmen, ben Lungenvenen, in denen das Blut, unterdeffen durch die Athmung hellgeröthet, in das Yinfe Herz, zum Wiederanfange des großen Kreislaufes zurück⸗ fließt. Durch die Zwiſchenräume, welche das feine Netz jener Haargefäße übrig läßt, wächſt überall eine zweite Verbreitung von Kanälen, aber luftführenden, hindurch. Als ein weites offenes, durch knorpelige Ringe gegen Zuſammendrückung geſchütztes Gefaãß beginnt in dem Hintergrunde der Mundhsöhle, durch den Kehl- deckel nach oben verſchließbar, die anfangs einfache Luftröhre; un— ter der Haut des Halſes und dünner Muskelbededung herabitei- gend, theilt fie fi) unter dem Anfang des Bruftbeing in zwei Hauptſtämme, die nad) rechts und links ſich in immer kleinere dünn⸗ hautige Zweige auflöſend, jene zwei großen Bäume bilden, deren Aeſtchen ſich zwiſchen die feinen Netze der gleichfalls zu zwei vielfach verzweigten Geflechten entwickelten Blutgefäße einſenken. Eine all⸗ gemeine häutige Umhüllung, nur in wenige der größeren Abthei= Yungen diefes durcheinander verwachſenen Doppelgeflechtes eingehend, überzieht jede der beiden Verzweigumgen, bie beiden Lungen, beven größere rechte ihre Hälfte der Brufthöhle ansfüllt, während bie Heinere Iinfe das in der Mitte und nad links gelegene Herz, dem fie Raum läßt, von hinten, von oben und zum Theil mit berabgreifendem Rande von vorn ber umgibt. Der mittlere Theil der Bruſthöhle, die Spalte, welche beide Lungen trennt, ift der Raum, in welchem bogenfdrmig nad oben und dann nach hinten abfteigend fich Die Aorta ausbehnt, und von welchen aus die Blut- gefäße feitlich, die beiden Aeſte der Luftröhre von oben ber in Das Gewebe der Lungen eintreten.

Die feinften einander innig umfchlingenden Veräftelimgen ber Luft und Blutgefäße find auch hier der eigentliche Ort der Wirk- ſamkeit. Die letzten Enden der zarten Luftröhren erweitern ſich zu Heinen Bläschen, an deren Wandungen die Haargefäße verlaufen, nur durch eine äuferft dünne Bedeckung von ber Luft gefchieden,

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welche das Innere dieſer Heinen Lungenzellen füllt. Durch fo feine feuchte Membranen findet auch außerhalb des lebendigen Körpers eine Austaufhung von Gasarten ftatt, nach Geſetzen, die noch nicht völlig in ihren Einzelheiten aufgeflärt find. Die Kohlenfäure bes venöfen Blutes, das an diefen dünnen Scheidewänden der Luft vorübergeführt wird, tritt ausgehaucht aus den Gefäßen in die Höhlung der Lungenzellen; der Sauerftoff der dort befindlichen atmoſphäriſchen Luft dringt umgefehrt durch die Wände ber Haar⸗ gefäße ein und wird nun mit dem arteriell gewordenen Blute, das ihn aufgefaugt hat, dem Linken Herzen und durch diefed dem großen Kreislaufe zugeführt. Die beftändige Fortdauer dieſes Vor⸗ gangs wird endlich Durch die Bewegungen der Bruft, die Abwechs⸗ lung der Ein- und Ausathmung gefihert. Zum Einathmen heben die Muskeln die beweglichen Rippen in die Höhe und ftreben auf diefe Weile die Brufthöhle zu erweitern; aber überall geichloffen wie fie ift, kann fie diefem Beftreben nicht folgen, ohne daß die äußere Luft den leeren Raum, der dabei entftehen müßte, durch Kehlkopf und Luftröhre eindringend bis in die Lungenzellen erfüllte. Dieſe thätigen Bewegungen der Bruftmusfeln laſſen mit vollen- deter Einathmung nad, und die eigne Clafticität des Lungenge- webes, da8 durch die eingebrungene Luft ausgedehnt war, reicht bin, um duch ihr Zufommenziehungsbeftreben die Wiederaus- athmung derfelben, und damit die num von felbft folgende Sen- fung ber gehobenen Rippen zu vollbringen. Nur die Einathmung ift daher durch Lebendige Thätigfeit der Muskeln nothwendig be— dingt; die Ausathmung erfolgt im gewöhnlichen Laufe der Refpi- ration ohne die Mitwirkung derjelben, obwohl ſie zu möglichſt voll⸗ kommener Entleerung der Lungen von einer ſolchen werden kann.

Durch Herz Lungen und die großen Gefäßſtämme wird der Raum der Bruſthöhle ausgefüllt. Sie iſt nach unten durch das Zwerchfell von der Bauchhöhle, dem Sitze des Verdauungskanals

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und feiner Anhänge geſchieden. Flache Muskelplatten, deren Fa— fern ſich nach verſchiedener Richtung Freuzen, entipringen vom Rück⸗ grat, von der unterften Rippe und dem untern Ende des Bruft- beins, und bilden, fi) unter einander vereinigend, diefe Scheide⸗ wand, die am Nüden tiefer binabreihend al8 vorn, nad oben gewölbt in die Brufthöhle emporragt. Auf ihr ruhen Herz und Lungen, und durch eine Spalte, die ihre Faſerbündel am Rück— grat zwiſchen ſich laſſen, tritt die Aorta dicht an der Wirbelfäule in die Bauchhöhle, um bald fi in die beiden großen Gefäß- flämme der Beine zu theilen. Die Zufammenziehung der Zmerd- fellsmuskeln plattet die nach oben gerichtete Wölbung befjelben ab und unterftiittt dadurch die Erweiterung der Brufthöhle zum Ein- athmen; die Zufammenziehung der musculdfen Wände der Unter- leibshöhle dagegen, indem fie die in diefer enthaltenen Eingemeide nah oben preßt, vermehrt jene Wölbung und befördert durch Berengerung der Bruft die tiefe Ausathmung.

Aus dem Hintergrunde der Mundhöhle beginnt der MuS- kelſchlauch der Speiferöhre, zuerft zwifchen Wirbelfäule und Luft- röhre, dann in der Bruft an die vordere und linke Seite Der Aorta tretend, in die Bauchhöhle hinabzufteigen, in welche fie durch eine Deffnung des Zwerchfells einbringt. Zwiſchen Die Wände dieſes Kanals wird die durch Kauen zerfleinerte Nahrung jo wie das flüffige Getränk durch Muskeln der Mund- und Radenböhle hineingevrängt; indem binter ihm fich Die musculöfe Wand zu- fammenfchnürt, öffnet der Biffen Schritt fin Schritt fi) den Weg durch dieſe Röhre, deren Wandungen, nicht wie die der Luftwege durch elaftifche Knorpel auseinander gehalten, fih im gewöhnlichen Zuftand ohne Zwiſchenraum aufeinander legen. So nad) der Höhle des Unterleibes befördert, gelangt die Nahrung in die Abtheilung des Verdauungskanals, in welcher die chemiſche Thätigkeit der An- ähnlihung beginnt. Im vielfachen nur für einzelne Abſchnitte in ihrer Lage beftimmten Windungen zieht fi) der Darmkanal durch die Unterleibshöhle, iiberall aus einer äußern musculöfen Schicht und eimer innern jammtartig glänzenden Schleimhaut zuſammen⸗

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gefett, beide von zahlreichen Blutgefäßen durchſetzt, und beide bei allgemeiner Gleichheit ihres Baues doch in verfchievenen Abthei- lungen des Ganzen nad) den abweichenden Zwecken verſchieden ing Feine organifirt. Unmittelbar nach ihrem Eintritte in die Baud- höhle erweitert fi) die Speiferühre zu einem geräumigen beutel- fürmigen Organ, deſſen weiterer abgerundeter Sad ſich blind nad) links von ihrer Einmündung ausbehnt, während der andere längere Theil fich in den ferneren Verlauf des Darmkanals fortjegt. Die Muskelhaut dieſes Organs, des Magens, aus verſchiedenen flachen Bindeln von Faſern verwebt, vermag durch ihre wellenförmig hin und bergehenden wenig Traftvollen Zuſammenziehungen den ange- langten Speifebrei hin und berzuführen und ihn dadurch in man nigfaltige Berührung mit der inneren Schleimhaut zu bringen. Reich an Blutgefäßen, zu denen während der Verdauung vermehrter Zufluß ftattfindet, fondert diefe Haut aus eigenthlimlichen mi- kroſtopiſchen Drüschen, welche in fie eingebettet fi in der größeren noch unten gerichteten Krimmung des Magens binziehen, ein mit dem Namen des Pepfind belegtes in feiner Zuſammenſetzung wenig befanntes Product aus, das in Verbindung mit dem falz- und milchſäurehaltigen wäfjerigen Magenfaft den eriten Fräftig auflöfenden und chemiſch umgeftaltenden Einfluß auf die Nahrung ausübt. Schon hier verwandeln ſich Die ftärfemehlhaltigen Beftand- tbeile der legtern in Zuder, Eiweiß und Baferftoff der Fleiſch⸗ nahrung verlieren zerfallend einen Theil ihrer Eigenfchaften; die Fette jheinen unverändert hindurchzugehen. Bon den Getränken und von ben verflüifigten Theilen der Nahrung wird vieles fchon bier Durch Die Blutgefäße des Magens aufgefaugt; die nicht voll- fommen löslich gewordenen Stoffe treten nach und nach zu weiterer Verarbeitung durch Die Gegendffnung des Magens in den nächſten Abſchnitt des Verdauungsfanals, den Zwölffingerdarm.

Sie unterliegen hier dem Einfluffe zweier Organe, der Xeber und bes Panereas, die wir beide als ausgeftülpte Anhänge des Darmlanald am lürzeſten für unſern Zweck beſchreiben können.

Wir denken ung eine nad) außen gebildete hohle nn des Darm- Zope I. 4. Aufl.

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rohrs allmählih zu einem Lang und dünn anögezogenen Kanal anwachſen, deſſen jehr enge Höhlung in offener Verbindung mit ber viel geräumigeren des Darmes bleibt. Diefer Kanal, den wir den Gallengang nennen, theilt fi dann in zwei Zweige, von denen der eine ſehr bald mit einer blafenförmigen Anſchwellung, ber Gallenblafe, fchließt, während der andere, der Luftröhre ähn- lich, fib in eine Baumkrone feiner Verzweigungen veräftelt. Zwiſchen dieſes Geflecht dringt ein doppeltes anderes in ähnlicher Weife wie in den Lungen ein. Nicht nur der große Kreislauf ſendet aus ber Aorta Arterien, die fih hier in ein Haargefäßnetz ausbreiten, jondern auch das vendfe Blut, das aus den Einge- weiden des Unterleibes zurüdfehrt, fammelt fih in einen großen Stamm, die Pfortader, und diefe, fih von neuem in ein venöfes Haargefäßnetz auflöfend, begleitet ebenfalls mit ihrer feinen Ver— zweigung die Veräftelung der Gallenkanäle. So bildet dieſes drei- fache Geflecht in Verbindung mit der zelligen Maffe die Subftanz ber Leber; von einer Umhüllungshaut zu einem derben maſſen⸗ haften Organ abgejchlofjen und von der rechten Seite des Unter- leibe8 bis über feine Mittellinie hinausreichend, hängt fie unter dem Zwerchfell in einer Falte eines häutigen überall gefchloffenen Sades, des Bauchfelles, befeftigt, deſſen vordere Flaͤche die innere Seite der musculöfen Unterleibswand überzieht, und deſſen hintere . in mehrfachen in das Innere des Sackes hineingefalteten Einftül- pungen die wichtigften Abtheilungen des Verdauungskanals auf: nimmt und fefthält. Aus den Zellen des Leberparenchyms, an welchen die Kleinften Berzweigungen der Gallenfanäle endigen, wird in diefe bie gelbe, bittere Galle ausgeſondert. Daß Diele Flüffigleit einen wefentlihen Einfluß auf die Berbauung ausübt, ſcheint die Beftänbigfeit zu beweifen, mit der in ben höheren Thierflaffen die Lage der Leber überall fo angeorbnet ift, Daß aus ihr und aus der Gallenblafe, in der das ſtets bereitete Product fih anhäuft, die Galle duch die erwähnten Ausführungsgänge in dem Maße dem Darmlanal zugeführt wird, in weldem bie Nahrung aus dem Magen in ihn eintritt. Aber ich vermeide

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es billig, auf die fpecielleren Anftchten einzugehen, welche itber Die Art dieſes Nutens die Phyſiologie aufzuftellen verſucht. Ueberaus mühſame und verdienftlihe Unterſuchungen baben doch bisher unſere Kenntniß von dem Ineinandergreifen der vegetativen Ver⸗ richtungen nur fehr wenig feitzuftellen vermodt, und unfere Auf- faffungen der chemiſchen Vorgänge in der Verdauung und Anbil- dımg find noch in beftändiger Aenderung begriffen. Anſtatt biefer Einzelheiten führe ich einen Gedanken an, in welden chemiſche Forſcher ihre Anfiht von dem allgemeinen Sinn der bier bor- kommenden Wechſelwirkungen zuſammendrängten. “Der thierifche Körper nährt ſich allerdings durch von außen zugeführte Stoffe, die im Ganzen bereits die Zuſammenſetzung feiner eignen Be- ſtandtheile haben; die wöllige Anähnlichung des aufgenommenen Materials fcheint indeffen doch nur duch die Einwirkung von Stoffen möglih, die dem Organismus bereit8 angehörten und die von ihm num als corrigirende Fermente hinzugebracht werden, um die hemifchen Bewegungen des eingeführten fremden Materials in eine für Die Zivede der Anähnlichung günftige Richtung zu lenken. Eine große Menge folder Stoffe, Bepfin Galle und die Säfte des Pancreas und der zahlreichen verfchtevenen Drüfen des Darm⸗ kanals, wirft auf dieſe Weife beftändig der Organismus zwiſchen bie chemiſchen Wechfelmirkungen hinein, denen die Elemente des Nahrungsmaterials durd ihre eigne Natur unterworfen fein wür⸗ den; wir fennen die befondern Leiftungen nicht, die dieſen ein- zelnen Beiträgen obliegen, und jelbft die Krankheitserſcheinungen, die aus der Störung des einen ober des andern hervorgehen, erlauben nicht durch Rückſchlüſſe die Yunctionen der verſchiedenen zu fondern; fo müfjen wir uns mit dem Allgemeinen jenes Ge- banfens begnügen und der Zukunft feine Bewährung im Ein: zelnen itberlaffen.

Sn die Aufgabe, den zubereiteten Speifefaft dem Blute und aus ihm den Beftandtheilen des Körpers zuzuführen, theilen 9*

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fih zwei Syſteme von Gefäßen. Die Blutgefäße, welde die ganze Ausdehnung des Darmrohrs mit feinen Negen durchziehen, Iheinen nur die aufgelöften unorganiſchen Beitandtheile, wie Die Salze, und von den organifchen diejenigen aufzufaugen, die völlig verflüffigt nicht zur Bildung der Gewebe fondern zu anderen Dienften in den Körper übergeben jollen. Diefe Auffaugung ift fo rafh, daß flüſſige Gifte ſchon wenige Minuten nad ihrer Aufnahme fid im Blut und in den Abfonderungen durch ihre Keactionen, in dem übrigen Körper durch ihre Wirkungen be- merflih machen. Die Aufnahme der gewebbildenden Nahrungs⸗ ftoffe, der eimweißartigen Körper und neben ihnen der Fette, fällt dem anderen Shiteme, dem ber Chylusgefäße zu. Das ſammt⸗ artige Anfehen, welches die innere. Oberfläche der Schleimhaut vom Magen an abwärts immer mehr annimmt, zeigt fich bei mikroſtopiſcher Betrachtung als Die Wirkung feiner in die Höble des Darmes hineinragender Zottenbildungen. Im obern Theile des Darmlanals Tegelförmige Erhöhungen mit breiter Bafis, gehen fie im untern in zungenförmige Organe über, zu 40 bis 90 auf eine Duabdratlinie der Schleimhaut zufammengebrängt. Die blafje unbeftimmt faferige Grundmafje ihres Gewebes um- gibt außen ein Ueberzug cylindrifcher Zellen, unter dem an zwei Seiten feine Blutgefäße durch Zwiſchennetze verbunden auffteigen; ihre Mitte nimmt mit blindem Tolbigem oder ftumpfen Ende der Urfprung eines Chylusgefäßes ein. Mit diefen untereinan- der nah und nad zu größeren Stämmden zufammenfließenden Chylusgefäßen vereinigt ſich Tpäter die Verzweigung der Lymph⸗ gefäße, die aus den übrigen Theilen des Körpers die überſchüſſig ergoffene Blutflüffigfeit auffaugen, und beide in Bau und Ber- richtung ſehr ähnlichen Kanalſyſteme führen zulegt durch einen - gemeinfomen Ausmündungsgang ihren flüffigen Inhalt in einen der Hauptftämme des vendfen Gefäßgebietes, Die vom Kopf herab- fteigende Hoblvene über.

An den Chnlusgefäßen fo wenig wie an den Blutgefäßen find offene Mündungen zur Aufnahme der von ihnen zu Teiten-

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den Stoffe zu bemerken; auch in ihnen gefchieht daher die Auf: faugung durch die gejchloffenen Wandungen und muß auf Flüſſig⸗ keiten oder auf feſte Theile von folder Kleinheit beichränft fein, daß fie die umvahrnehmbaren Zwiſchenräume, die wir zwifchen den Heinften Theilen auch diefer Wandungen annehmen dürfen, zu durchdringen im Stande find. Auch jo bietet jedoch der Me- chanismus diefer Auffaugung eigenthümliche Schwierigkeiten, die fih kaum ohne die Annahme einer chemiſchen Anziehung des inneren Theiles der blinden Gefäßenden befeitigen Iaffen, welche den Eintritt der Flüſſigkeit bedingt und ihren Rücktritt durch Die Wandung verhindert. Unter diefer Borausfegung würde die be- trächtliche Elafticität der Gefäßwände hinreichen, um bie Fort⸗ preffung ihres fie ausbehnenden Inhalt in der offenen Richtung nach dem Blutkreislauf zu erklären und zahlreiche Klappen, die der Strom in diefer Richtung öffnet, beim Rüdfluß aber fchließen würde, unterjtügen die Wirkung diefer Triebkraft.

Auf dem Wege, den fie bis zu ihrem Eintritt in das Blut zurüdlegen, unterliegen Chylus und Lymphe in vielen Drüſen, zu denen ihre Gefäße fich verichlingen, dem umgeftaltenden Einfluß des Blutes felbft, deſſen Zujammenfegung fi) die ihrige immer mehr nähert. Eigenthümliche Einige Körperchen treten in beiden auf, von mikroſkopiſcher Kleinheit, aus eimweißartigen Stoffen ge- bilvet. Sie jcheinen die erften Anfänge einer Bildung zu fein, durch welche das Blut fi von den übrigen Säften unterjcheibet, der rothen Blutlörperhen. Als jcheibenfürnige glatte Bellen Idwimmen dieſe in größter Anzahl im Blut, gebildet aus einer zähen Haren Flüſſigkeit ohne feften Kern, und von einer fehr elaftiichen durchſichtigen Umhüllungshaut umkleidet, welche aus einem eiweißartigen Körper, dem Globulin, und einem rothen eiſen⸗ führenden Farbftoff, dem ebenfalls eiweißartigen Hämatin gemifcht ift. Weber ihre Entftehungsmeife, noch Die Art, wie fie alternd wie- der zu Grunde gehen, noch die Dienfte, welche fie dem Leben leiften, und welche für ſehr wichtig zu halten wir vielfache Beranlaffung haben, find bis jegt zweifellos befannt. Ihre Beſtimmung wird

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theil8 in einer Verwendung zur Ernährung und Gewebbilbung theils darin geſucht, daß fie durch abwechſelnde Abforption von Sauerſtoff und Kohlenſäure, unter deren Einfluß fie die Farben⸗ verichiedenheiten des arteriellen und vendfen Blutes bedingen, fiir die Austaufhung der Stoffe als Bewegungsmittel thätig find. Die Schwankungen ihrer Menge im Blut zeigen fih in Krank: heiten mit beveutendem Einfluß auf die Lebhaftigfeit der Nerven⸗ berrichtungen verbunden.

Chylus und Lymphe find Die einzigen Quellen des Wieder- erfates für das Blut; weit mannigfaltiger find die Formen, in denen es feine Beftandtheile ausgibt. Wahrſcheinlich wird nur ein verhältnißmäßig geringer Antheil diefer Ausgabe auf die be— ftändige Wiederernährung der durch ihre Leiftungen abgenugten Gewebe verwandt; ein beträchtlicherer geht vielleicht zur Erzeugung vielfacher Gebilde auf, die, wie Haare Nägel Oberhaut, in be- ftändigem Wachsthum begriffen find und in fefter Geſtalt durch Abſtoßung und Abfchilferung fi von dem Körper trennen; noch bedeutender ſcheint die Maſſe der aus dem Blute geſchehenden Ab- fonderungen, welche, wie die zahlreichen Säfte des Verdauungs⸗ kanals und feiner ihm zugeordneten brüfigen Organe, vor ihrer Entfernung aus dem Körper noch einmal zu den Zwecken ber Alfimilation als beihelfende Mittel benugt werben. Die größte Gewichtsmenge aller Abicheivungen erfolgt jevoch durch die Aus- bünftung aus Haut und Lungen und durch die Abfonderung des Harnes; beide Vorgänge nur zur Entfernung unbrauchbarer Maffen beftimmt, obgleich der erfte vielleicht durd; die Nebenwirkungen, welche die Thätigfeit der Ausſcheidung begleiten oder ihr folgen, zur Ausgleihung mander Störungen des Körpers geſchickt. Die ſtickſtoffhaltigen Beftandtbeile des Harns, in einer großen vers anderlichen Wafjermenge bald aufgelöft, bald aus ihr fi in fefter Geftalt niederſchlagend, laſſen feinen Zweifel Daran, daß auf diefem Wege am meiften bie Reſte der in ihrer chemifchen Zu⸗ ſammenſetzung zertrümmerten eiweißartigen Stoffe entfernt werben. Man hat-einen von ihnen, den Harnftoff, bereits gebildet im

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Blute vorgefunden, und in Bezug auf ihn wenigftend werben die Nieren ſich nicht als ein erzeugendes Organ, fondern nur als ein eigenthümlich gebildetes Filtrum verhalten, deſſen Ge⸗ webe feine wäflerige Auflöfung in den Höhlenraum ber Aus: führungsgänge hindurchtreten läßt, während es die übrigen auf: gelöften und noch benutzbaren Beſtandtheile des Blutes in dieſem zurüdzubleiben nötbigt.

Die Kohlenſäureaushauchung der Lungen ift begleitet von einer reichlichen Entwidlung von Waflerdampf, der in kühlerer Temperatur den Athen ſichtbar macht und in weldem abjorbirt bie Kohlenfäure in die Außenwelt übergeht. Auch aus der feuchten diden Schleimfchicht, welche unter der Oberhaut mit Gefäßen reichlich durchzogen Liegt, dringt Wafler beftändig nach außen und entweidht dampfförmig durch die hornartige dünne Oberhautplatte, welche überall den Körper als Ießte Grenze überzieht. Der größere Theil der gefammten Hautausdünftung fcheint auf diefem Wege zu erfolgen, nur ein kleinerer das Erzeugniß eigentblimlicher Fleiner Drüschen zu fein, Die in das Schleimnek der Unterhaut eingebettet einen fpiralförmig gemundenen feinen Ausführungsgang nad) außen fenden, aus deſſen offener Mündung die ausgefonderte Flüſſigkeit verdampft, und nur bei zur veichlicher Erzeugung ober wo die äußere Luft fie nicht hinlänglich abforbirt, in der Form des Schweißes tropfbar hervortritt. Außer den gewöhnlichen Salzen des Blutes und fehr geringen Beimengungen organiſcher Beftand- tbeile enthält der Schweiß nur Wafler, Milchſäure, Ammoniak; feine Zuſammenſetzung ſchiene daher die Wichtigfeit nicht zu recht⸗ fertigen, welche man der Hautthätigfeit zufchreibt, noch Die zahl- veihen Nachtheile ihrer Unterbrüdung. Aber es ift wohl möglich, daß nicht Die Entfernung dieſer wenig erheblichen Stoffe, fondern die Arbeit der Entfernung das Wichtigere ift, oder daß der beftän- Dige Fortgang dieſes Verdampfungsprocefies für die an der Ober- fläche des Körpers in der Haut felbft gelegenen Nervenendigungen günſtige Zuftände herbeiführt, die zur genügenden Fortſetzung ihrer Berrihtungen unentbehrlih find. So wenig wir biefe Seite des

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Nugens, den die. Hautabjonderung gewährt, weiter verfolgen kön- nen, jo klar ift Dagegen eine andere; fie dient als ein wirkfames Abkühlungsmittel fir die durch vielfache Urſachen vermehrbare Wärme des Körpers und des Blutes insbeſondere. In der reich- lihen Berdampfung, welde unfere Oberfläche beftändig fichtbar oder unfihtbar unterhält, wird eine große Wärmemenge gebun- den und dem Körper entzogen und Gleiches findet ununterbrochen dur die Aushauchung der Lungen ftatt.

Nicht alle Beitandtheile des Körpers haben in diefem Um— riffe feines Baues und feiner Verrichtungen Erwähnung gefum- den. Wir haben manche von größter Wichtigkeit einer Tpätern Erörterung überlafien, da wir zunähft nur die große Ausdeh— nung veranfchaulichen wollten, in welcher das Leben zur Erfüllung feiner Aufgaben diefelben Mittel benugt, mit denen die menfchliche Technik ihre Werke zu Stande bringt.

Sechſtes Kapitel.

Die Erhaltung des Lebens.

Phofifche, organiſche, pſychiſche Ausgleihung der Störungen. Beifpide ber Her: ftellung bes Gleichgewichtes. Bas ſympathiſche Nervenſyſtem. Beftänbige Unruhe alles Organifhen. Allgemeine Bild des Leben.

Auf den unmittelbaven Wechſelwirkungen der Hleinften Theil- hen beruht die Erhaltung der Körpergeftalt und die Fähigkeit zu lebendigen Leiftungen. Bon ihnen allen verräth der Anblid des lebenden Leibes fo wie unfere innere Beobachtung Nichts; unbemerkt und im Stillen geichehen alle die chemiſchen Umwand⸗ lungen der Stoffe, alle Schritte ihrer Geftaltbilbung, der vegel- mäßige Anja einiger, die allmählidre Ablöfung der andern. Was unferer Beobachtung fi als Zeichen des Lebens aufdrängt,

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ber beftänbige Wechfel des Athmens, die Unruhe des Herzichlages, bie Wärme, die alle Theile des Körpers durchdringt, das alles ift nur Die Erſcheinung vermittelnder Thätigkeiten, durch welche der Organismus in jedem Augenblid die nöthigen Beringungen für die Yortfegung jenes unfihtbaren Spieles herzuftellen ſucht. Aber auch jo find dieſe vorbereitenden Verrichtungen von großer Wichtigkeit; befteht doch eben darin die Eigenthümlichkeit des Lebens, daß es durch die beftimmten Berfnüpfungsformen, in denen e8 die elementaren Stoffe zu gegenfeitiger Wechſelwirkung zufammenführt, Die eingebornen Kräfte derfelben zu ungewohnten Erfolgen anleitet und nöthigt. Wohl ift es daher ber Mühe werth, der Schilderung des Ineinandergreifens diefer Thätigfeiten no die Frage nad den Kräften und den Geſetzen nachfolgen zu laſſen, durch welche den wechjelnden Bebürfniffen gemäß Größe und Lebbaftigleit jeder einzelnen eben fo, wie die Art ihres nüg- lihen Zufammenwirkens mit den übrigen in jedem Augenblide be- ftimmt wird. Ein weites noch offenes Feld für Unterfuhungen der Zukunft, geftattet diefe Trage nah Plan und Ordnung bes thieriihen Haushaltes im Ganzen uns für unfere Zwede nur die Andeutung weniger Punkte, um die allgemeine Anficht, die und bisher geleitet hat, noch einmal zum Abichluffe unfers Bil- des vom Leben zu benuten.

Wie die Befettigung jeder Störung nad unfern früheren Be— merfungen nur dadurch gelingen kann, Daß dieſe ſelbſt in irgend einer Weife die heilenden Thätigfeiten des Körpers zu ihrer eignen Aufhebung in Bewegung feßt, fo wird aud) die Befriedigung jedes Bedürfnifies Davon abhängen müffen, daß der änderungsbebürftige Zuftand felbft die zu feiner Umgeftaltung nöthigen Rücdwirkungen anregt. Diefer allgemeinen Bedingung Tann auf mehrfache Weife genügt werden. Der einmal angeorbnete Bau der einzelnen Theile felbft Tann, wie dies in jedem Beifpiel der Elafticität zu geſchehen pflegt, ein Beſtreben zur Rückkehr in die früheren Zu- ftände entwideln, das innerhalb gewifler Grenzen menigftens in demfelben Maße wählt, wie die gewaltſame Ablenkung von

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ihnen. Hier wird die Störung auf das unmittelbarfte durch Die eignen Kräfte der Theilchen, deren Verhältniffe fie verſchoben hatte, befeitigt, fei e8, daß mit der wachfenden Störung ftetig auch die heilende Rückwirkung zunahm, ſei es, daß die erjte nur nad) der Erreichung einer beftimmten Höhe die inneren Verhältniſſe ber betroffenen Theile zu einer nun plöglih herbortretenden Reaction nöthigte. Beftände der Yebendige Körper aus Theilen, deren jeder nur für feine eigne Erhaltung zu forgen hätte, fo würden wir dieſe einfachfte Form ber Ausgleihung häufiger an= gewandt, ober vielmehr die Theile jo gebaut finden, daß ihre An⸗ wendung überall möglich wäre. Wber e8 liegt in den Zwecken des Lebens, Störungen und Bedürfniſſe des einen Theild als An= regungen zu Leiftungen anderer zu verwerthen und die Erſchüt— terungen bes einen nicht auf dem Fürzeften, fondern auf dem Wege fih ausgleichen zu laſſen, auf welchem ihnen die nöthigen und nüglihen Nebenwirkungen für den Vortheil des Ganzen abge- wonnen werden Finnen. Im großer Ausdehnung fehen wir baher eine zweite Form der Ausgleihung in Anwendung gezogen; Die Störung eined Theile verbreitet ihre Folgen über einen größeren Abichnitt des Organismus, und nicht zufrieden, die eignen Wider- ſtandskräfte der unmittelbar getroffenen Stelle zu weden, vegt fie vielmehr weit entlegene Theile duch ihren fortgepflanzten Anftoß zu einer größeren und mannigfaltigeren Rücdwirkung an. Ausgehend von Beftandtheilen, die dieſen Anftoß in regelmäßiger gegenfeitiger Verbindung und durch mancherlei Beziehungen ver- knüpft empfingen, wird auch dieſe Rückwirkung weit reicher und bielgeftaltiger ſein können, als die einfache Widerſtandskraft der urſprünglich geftörten Theile fie geleiftet hätte: fie wird nicht nur bieje einzelne Erjhütterung befeitigen, fondern zugleich nach ver— ſchiedenen Richtungen hin aus ihr nügliche Antriebe fir den wei— teren Berlauf der Tebendigen Leiftungen entwideln. So wie das tunftreihe Getriebe einer Mafchine den einfachen, faſt formlofen Anftoß, den es erhielt, in mannigfache fein aufeinander bezogene Bewegungen verwandelt ber Außenwelt wiedergibt, fo treten Die

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nicht minder kunſtreich geordneten Zufammenbänge Tebendiger Theile zwiſchen Die einzelne Erfchlitterung und das Ganze des Organis- mus und befriedigen die beſchränkten Bedürfniſſe mit zweckmäßiger Rüdficht auf das Wohl des letztern. In dem Nervenfyften werden wir dieſe Beranftaltung erfennen, durch welche die Zuftände räum- lich getrennter Theilchen zu einer Wechſelwirkung verbunden wer⸗ den, die ihre Lage und ihr Bau ihnen an ſich nicht möglich machen würde, und durch welche zugleich die zerftreute und fragmentarifche Befriedigung der einzelnen Bebürfniffe in die zufammenhängende Führung eines allgemeinen Haushaltes verwandelt wird. Nennen wir biefe neue Form der Ausgleihung eine organiiche im Gegen= faß zu jener einfacheren phufifchen, jo meinen wir damit nicht eine Berjchiebenheit der wirkenden Kräfte, ſondern jenen Unter: ſchied ihrer Verwendung zu bezeichnen, Durch den unfere Auffaffung überall das planmäßig geordnete Leben von den wereinzelten oder zufällig zufammengerathenen Stoffen der unorganifchen Welt unter: ſchied. Aber auch diefe Form der Ausgleihung und Erhaltung ift nicht Die letzte und höchfte; über die Grenzen unferer gegen- wärtigen Betrachtung hinaus, aber doch einer Erwähnung hier be- dürftig, erhebt fich die Mitwirkung der Seele. Nicht immer ver- mag der geftörte Theil aus fich felbft die Heilung zu finden; er findet fie oft nicht einmal in den Hilfsmitteln des Nervenſyſtems, an das er ſich fuchend wendet; aber feine Erichlitterung wandelt ih nun in Gefühl und Empfindung der Seele um, und das un— zuveichende Körperliche Gebiet verlaffend bewegt fi) die Erregung auf geiftigem Boden fort, um alle Hilfsquellen der Einfiht auf- zubieten, zulegt mit dem gewonnenen helfenden Entichluffe wieder auf Die Organe des Leibes zurüdzumwirken und ihnen Wege ber Be- friebigung zu zeigen, die fie felbft nicht wirrden aufgefunden haben.

Späteren Gelegenheiten überlafjen wir diefe Ergänzungen des körperlichen Lebens durch die Hilfe des geiftigen; von jener ein= fachen phyſiſchen und der organifch vorbereiteten Ausgleihung ver⸗ ſuchen wir in wenigen Beifpielen ein hinlängliches Bild zu geben.

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So weit e8 möglich ıft, bat die Natur unmittelbare Com⸗ penfation der Störungen und die Befriedigung der Beblirfniffe durch die eignen Kräfte der Theile dem Aufgebot eigner organi⸗ her Mittel vorgezogen; fie wendet auf dieſe Weife häufig Eigen- ſchaften an, bie den Geweben entweder für immer oder doch un= geftört für Tängere Zeit zulommen, und fpart an jenen andern Thätigfeiten, deren Ausübung nicht ohne Verbrauch ihrer Träger möglich fcheint. Schon die Musfelbewegung ſehen wir in vielen Fällen durch phyſiſche Elafticität der Gewebe erſetzt. Das Herz vollzieht feine Berengerung allerdings durch Lebendige Verkürzung feiner Mustelfafern, aber es erweitert ſich nicht durch eine entgegengejette Lebensthätigleit, ſondern theils Durch die ge= ringe Elafticität feines Gewebes, theild durch Nachgiebigkeit vor dem andringenden vendfen Blutſtrom. Jeder Muskel überhaupt erreicht nad dem Momente der Zufammenziehung feine borige Länge von jelbft, ohne einer befonderen Ausdehnungskraft zu bebürfen. Die Erweiterung der Lungen wird durch Tebendige Thätigkeit der Athemmusteln bewirkt, die Ausatbmung durch die freiwillige elaftifhe Zufammenziehung des ausgedehnten Gewebes. Biele Arbeit ift durch günftige VBerhältniffe des Baues den Glie- bern bei ihren gemöhnlichften Berrichtungen abgenommen. Eine Pendelſchwingung, ohne lebendige Kraftäußerung durch die Schwere eingeleitet, führt das um Schritt zurückſtehende Bein an dem vor= gejeten vorüber bis zu dem Punkte des neuen Auftretend; ber Körper felbft erlangt durch den Gang eine Geſchwindigkeit nach vorwärts, die nur noch feine Stüßung und die fefte Stredung bes weiterfortichreitenden Beines der Tebendigen Muskelanſtrengung überläßt. Nicht durch beſondere Thätigleiten, fondern durch den Drud der Luft wird dabei der Kopf des Oberſchenkels beweglich in feiner tiefen Gelenkgrube feftgehalten, und ähnliche Beifpiele ber Vermeidung lebendigen Kraftaufwandes würde eine genauere Betrachtung der Bewegungen in Menge darbieten. Auch der Kreislauf des Blutes erhält in weiten Grenzen feine Regelmäßig- feit felbft und beftimmt zugleich die Größe der Abſcheidungen,

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die aus ihm erfolgen follen. Bände das arterielle Gefäßſyſtem augenblicklich fi mit Blut überfüllt, fo würde die dadurch an⸗ wachſende Spannung feiner Wände mit größerer Kraft und Ge- ſchwindigkeit dieſes Uebermaß zu befeitigen fuchen, und der geringere Zufluß, den bis dahin das verhältnißmäßig weniger gefüllte Benen- gebiet dem Herzen zuführte, wiirde von felbit dieſem verbieten, jene Weberfüllung der Arterien zu unterhalten.

Die verhältnigmäßig große Beftändigfeit, mit welcher unter den verſchiedenſten Einflüffen der Nahrung und der Lebensweife das Blut feine Zuſammenſetzung erhält ober wiederherftellt, macht die Bermuthung wahrfcheinlich, daß feine einzelnen Beftandtheile in den Mengenverbältnifien, in welchen fie feine normale Miſchung bilden, ähnlich den Elementen einer feiten chemiſchen Verbindung, inniger an einander haften, als in andern gegenfeitigen Propor- tionen, die ein vorübergehender Zufall herbeigeführt hätte. Dies würde nicht hindern, daß nicht dennoch das Blut noch immer neue Stoffe durch Anziehung aus den ‚Geweben auffaugte, fie in fich auflöfte und an feinem Kreislauf Theil nehmen ließe; dennoch wilrben dieſe überſchüſſigen Beimengungen außerhalb feines gejet- mäßigen Verbandes fteben und den Kräften, melche Umwandlung und Ausſcheidung der Stoffe leiten, raſch genug verfallen, um nach Ableiftung ihrer Dienfte das Blut bald wieder auf feine normale Zufammenfegung zurüdfehren zu laſſen. Das würde derjelbe Vorgang fein, der etwa eintritt, wenn aus einer mäffe- tigen Löſung ein waſſerhaltiger Kryſtall fich abſcheidet; das Waſſer, das zu feiner hemifchen Zuſammenſetzung gehört, wider⸗ fteht der Verdunſtung, die das übrige entfernt, dennoch bleibt der Kryſtall in Waffer löslich; obgleich alſo feine chemiſche Formel nur eime beftimmte Menge defjelben einfchließt, ift darum eine weitere Anziehung größerer Mengen ihm nicht unmöglich geworben, nur Daß er dieſe nicht eben fo kräftig wie jene gegen ungünſtige Umftände feitzubalten vermag. Unter einer ſolchen Vorausfegung würde es begreiflih fein, wie das Blut durch fernen eben vor- handenen Zuftend die Größe der Auffdugung und der Abjon-

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derung felbft zu leiten vermag. Kommt es in einem Grabe ber Concentration, in weldem es nur die nothwendigen Beſtand⸗ theile feiner normalen Zufammenfegung enthält, mit dem dünn⸗ flüffigen verdauten Speifefaft oder der überall ergoffenen plaftifchen Lymphe in Berührung, jo wird e8 reihlihe Mengen von beiden in fih aufnehmen Können; aber diefe Auffaugung wird ſich min⸗ bern, je mehr das Blut bereits über jenen nothmendigen Bedarf an Stoffen in ſich angezogen bat. Die Ueberfüllung defjelben wird alfo durch eine erreichte Sättigung verhindert, melde die auffaugenden over anziehenden Kräfte erihöpft und von jelbft Den Wiedererfag in ein gewiſſes Berhältnif zu dem vorhandenen Be- dürfniß bringt. |

Den Abfonderungsorganen wird nun das Blut nad den Beränderungen, die es während feines Laufes erlitten haben Tann, ftet8 unter einem gewifien Drude feiner Wandungen zugeführt. Kaum wird diefer Drud allein zur Hervorbringung irgend einer, gewiß nicht zu der einer jeden Abjonderung hinreichen; die Dr- gane, denen diefe Berrichtung übertragen ift, Finnen wir nicht als einfache Filtra anfeben, durch deren Poren der Drud des Blutes Flüſſigkeiten nur hindurchpreßt; ihre Dienfte find, wie wir früher faben, oft mannigfaltiger und verwidelter. Indeſſen werden doch wenigftens das Wafler und die in ihm gelöften Salze bei ber Abfonderung Feine weitere Verarbeitung erfahren; auf ihre Ab: fheidung können wir unjere allgemeinen Betrachtungen anwenden. Findet Das Blut fich jo verbüinnt, daß fein Waflergehalt denjenigen überfteigt, den feine normale Formel einjchloß, fo werden bie ab- fondernden Kräfte des Organs, worin fie nun auch beftehen mögen, dem Durchtritt dieſes Weberichuffes unter dem Drude des Blu- te8 günftiger fein, als der ferneren Ausſcheidung auch jenes Waflerantheild, den die Zuſammenſetzung des Blutes fordert. Denn der letztere wird nicht frei, jondern gebunden an das Ei- weiß, das in ihm gelöft ift, gebunden auch an die übrigen Beftand- theile des Blutes den abfondernden Kräften dargeboten und Tann auf dieſe zurückhaltenden Beziehungen geftütt ihnen widerſtehen,

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nicht minder die Salze, die in beſtimmten Mengen der Zufam- menjegung des Blutes gehören,

Aber auch auf jene organiihen Beſtandtheile, bie in der ernährenden fo wie in der ausführenden Abfonderung aus bem Blute auötreten, zuweilen nicht ohne einen chemiſch umgeftaltenden Einfluß der abſcheidenden Organe erfahren zu haben, können wir im Allgemeinen diefelben Gedanken anwenden. Ein völlig nor- mal gebilveter und eben deshalb eines Erjates ganz unbebikf- tiger Gewebtheil wird feine befondere Anziehung gegen das an ihm vorüberkreifende Ernährungsmaterial ausüben; ein in feiner Zufammenfetung veränderter, eben dadurch dieſem Material um- ähnlicher geworden, wird e8 lebhafter anziehen können und fo für den Austritt deſſelben aus den Gefäßen eine neue begünftigenbe Bedingung hinzufügen. Aud hier würde Daher Das Bebürfnif unmittelbar die zweckmäßige Größe des Erfates herbeiführen, Bietet ein ftoffreichere Blut den Abfonderungsorganen größere Mengen deſſen, was fie durch ihre irgendwie befchaffene Thätig- feit zu verarbeiten pflegen, fo kann ſchon die Gegenwart Diejes veichlicheren Materials binreichen, eine Steigerung biefer Thätig- feit zu veranlaffen, wenigftens da, wo diefe legte nicht auf in⸗ neren Veränderungen des Organs beruht, welche felbit einen nicht überfchreitbaren Höhepunkt der Intenfität und Geſchwindigkeit be= figen. Deutlicher ift, daß allemal die abfondernde Thätigkeit einen wachjenden Wiberftand finden wird, wenn ihr Material ihr nur noch im der Menge zugeführt wird, die zu der feften Zuſammen⸗ jegung des Blutes gehört und von diefem zurüdgehalten wird, Iſt ferner durch irgend eine Hemmung die abfondernde Thätig- feit Des einen Organs gehindert, fo werben die hier zurüdgehalte- nen Maflen an allen andern Orten den Ausgang fuchen, der unter dieſen veränderten Zuftänden für fle noch möglich oder unter den möglichen dev Teichteft benugbare if. Die Unterbrüdung der Hautausdünſtung wirft die Waffermaffe, die von der Oberfläche verbunften follte, in das Innere zurüd, und da fein Organ für fie undurchgänglich ift, jo jehen wir der Unthätigleit der Haut

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vermehrte wäfjerige Abſcheidnngen von allen andern Abſonderungs⸗ flächen folgen, von der zunächft und am meiften, die unter ber Summe aller vorhandenen Umftände die geringften Austritts⸗ widerftände barbietet. Es ift eben fo bekannt, daß übermäßige Hautverbumftung die übrigen Secretionen an Menge berabjegt und ihre Concentration fleigert, ein Erfolg, der ohne befondern Aufwand ausgleihender Thätigfeit aus dem Mangel beglinftigen- der Löſungsmittel erflärbar iſt. Nicht fir alle Ausſcheidungsſtoffe findet jedoch eine foldhe Mehrheit der Austrittäwege ftatt; Die Unterbrüdung einer beftummten Abfonderung Tann entweder die Bildung des zu entfernenden Stoffes ganz verhindern, indem biefe vielleicht nur durch die eigenthümliche Thätigleit des jet ruhenden Organs möglich war, oder fie ann, wo jener im Blute bereit8 fertig erzeugt vorkommt, feinen Austritt in der Geftalt verhindern, bie er hier hat, und in welcher er nur durch daſſelbe jetzt geichlofjene Organ einen freien Durchtrittsweg gefunden hätte. In Diefem Falle werden ftellvertretende Vorgänge ſich entwideln ; entweder Das Miaterial, aus weldyem der auszuſcheidende Stoff gebildet werben follte, oder der fchon gebildete wird andere ober nod weitere Ummandlungen und Zerfällungen erleiden müſſen, um zulegt Formen anzunehmen, in denen feine Ausfonderung dur Die übrigen noch offenen Organe möglih wird. Da die Stoffe, die in ihrer Rückbildung begriffen find, im Blute ber immer fortgefegten Einwirkung des Sauerftoffs unterliegen, bie ihren Zerfall in einfachere und löslichere Verbindungen zu beglin- figen fcheint, fo ift e8 denkbar, daß auch dieſe Veränderung in der Richtung der abfondernden Thätigleit ſich von ſelbſt ohne den Eingriff einer befonderen vegulirenden Kraft geftalte. Die üblen Folgen jedoch, welche die Zurückhaltung wichtigerer Abſonderungen für Die Gefundheit des Ganzen zu haben pflegt, zeigt uns wohl, baß Diefe Erfegung einer Thätigkeit durch die andere mit Schwie- rigfeiten verbunden ift und kaum in größerer Ausdehnung fich als ein Ausgleichungsmittel ber Störungen bewähren möchte.

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An den angeführten Beifpielen fuchten wir die Möglichkeit einer völlig phyſiſchen Compenſation der Störungen‘ anſchaulich zu machen; aber wir Können keineswegs verbürgen, daß nicht ion in ihnen ein Anfang organifcher Compenfation dur das Eingreifen eines ausdrüdlich zu diefem Zweck beftimmen Syſtemes von Organen oder Thätigleiten enthalten if. So Vieles ift uns in dem tieferen „Zufammenhange der Lebensericheinungen noch un= Har, daR uns oft eine Leiftung einfacher jcheint als fie in Wahr- heit ift, und daß wir häufig zu der Erflärung befien, was wir bon ihr willen, mit wenigen Mitteln ausreichen können, während wir aus dem fihtbaren Aufwand größerer, welchen wir von der Natur wirklich gemacht finden, auf uns unbelannte Schwierig- feiten der Sache zurüdichließen müſſen. Ich babe oben den all- gemeinen Grund ausgedrüdt, welcher die Unzulänglichleit der blos phyfiſchen Eompenfationen enthält. Sie alle würden zulegt immer Herftellung des vorigen Gleichgewichts bezwecken; aber es liegt der Natur nicht immer an diefem Gleichgewicht; fie will e8 felbft zumeilen für die Zwecke der Entwidlung verändert haben. In diefer Abfiht muß fie auch ſolche Theile zu Tebendiger Wech⸗ ſelwirkung verbinden, welche unmittelbar ihre Zuftände nicht auf einander würden übertragen können.

Das Nervenfyftem ift zur Erfüllung diefer Aufgabe beftimmt. Wir haben früher ſchon der motorifhen Nervenfäden gedacht, die von Gehirn und Rückenmark entipringen, die dort aus dem gei= fligen Leben entftandenen Bewegungsantriebe den Musfeln des Körpers zuführen und deren bald augenblidliche bald andauernde Zufammenziehungen veranlaffen. In ihrem äußern Anjeben diejen Faſern völlig ähnlih und nur durch die Erfolge ihres Wirkens abweichend, verbinden eben fo die jenfiblen Faſern alle empfin- dungsfähigen Punkte des Körpers, von denen fie entipringen, mit jenen Gentralorganen, bis zu denen alle Eindrücke fort- geleitet jein müfjen, um für das Bewußtfein vorhanden zu fein. Auf diefen beiden Fafergattungen und auf den Maſſen des Ge-

bins und Rüdenmarks, in welden fie endigen en entjpringen, Zobe I. 4. Aufl.

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beruhen alle die Dienfte, welche das Körperliche Leben den Zwecken des geiftigen zu leiften bat. Ihre genauere Darftellung dürfen wir einer fpäteren Gelegenheit auffparen. Neben diefen Organen aber, die wir unter dem Namen bes Gerebrofpinalfuftens be- greifen, ift die Erhaltung der inneren Orbnung ber Teiblichen Berrihtungen zum größten Theile dem anderen Syfteme ber ſym⸗ pathiſchen Nerven übertragen, das von ben vielen Inäuelfürmigen oder geflechtartigen Zufammenhäufungen, den Ganglien, in welche feine viel feineren Fafern fi) verfchlingen, den Namen des Gang- lienſyſtems erhalten bat.

Ye weniger ein Theil des Körpers zu willkürlicher Bewe⸗ gung beftimmt ift, je geringer feine Fähigkeit, dem Bewußtſein Eindrüde feiner Zuftände zuzuführen, je lebhafter fein Stoffwechſel oder die bildende Thätigfeit in ihm: um jo häufiger finden ſich in den Nervenblindeln, die er erhält, die feinen Faſern des ſym⸗ pathiſchen Syſtems neben den dickeren des cerebrofpinalen. Beob- ahtungen und Berfuche vereinigen fih dahin, die Folgerung, die ſich aus dieſem Berhalten von felbft ergibt, zu unterftügen, daß dieſes zweite Nervenſyſtem die Geſammtheit der vegetativen Berrichtungen, die chemifchen Umwandlungen der Stoffe, ihre Ernährung und Wiebererzeugung, die Geftaltbildung der fleiniten Theile, endlich Die zwedmäßige Uebereinftimmung zwiſchen den Größen und Formen der einzelnen Wirkungen zu überwachen hat. Diefe gegenfeitige Anbequemung ber Leiftungen verfchievener Theile jeßt voraus, daß die Eindrüde, welche die einzelnen Fafern von den Zuftänden des Ortes aufnehmen, in dem fie verlaufen, in gegen- feitige Beziehung und Vergleihung gebracht werben, und daß es Mittelpunfte gibt, in welchen ihre verſchiedenen Erregungen zufam- menftoßen, um durch ihre Wechſelwirkung den Antrieb zu einer beftimmten der vorhandenen Lage angemeflenen Rückwirkung zu erzeugen. Es iſt nicht zweifelhaft, daß die Ganglien, die in großer Anzahl in den verfchiebenen vegetativen Organen gefunden werben, die Vermittlungspunkte dieſes gegenfeitigen Einflufles find; aber noch nicht Hinlänglich aufgeklärt find wir über Die Be-

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dingungen, unter denen bier eine fonft nicht vorkommende Weber- tragung der Zuftände einer Yafer auf eine andere erfolgt. Denn ein unmittelbares Zuſammenfließen mehrerer Faſern zur einem gemeinfamen Stamme ift auch bier nicht beobachtet; «aber zmifchen den Fafern finden ſich eigenthümliche Elemente, vundliche Tern- baltige Bläschen, die fogenannten Ganglienzellen, eingeftreut, von denen man nicht nur einzelne Yafern entfpringen flieht, fondern deren mehrere zumeilen durch fajerförmige Fortſätze, die fie nach verſchiedenen Seiten ausſchicken, unter einander in ununterbrochener Berbindung ftehen. Der Zukunft bleibt e8 vorbehalten, über Die - Bedeutung dieſer Theile, denen ähnliche auch in Gehirn und Rückenmark zahlreich vorkommen, völlig zu entfcheiden, und den Nuten zu beftinmen, den fie für Die gegenfeitige Wechſelwirkung der einzelnen Faſern haben. Denken wir uns eine foldhe auf irgend eine Weile hergeftellt, fo wird jedes Ganglion zuerft ein Bermittlungsglied fein, durch welches dem von einem Körpertheil berfommenden Eindrude überhaupt ein Einfluß auf Zuftände eines andern möglich gemacht wird, mit bem jener nicht in un- mittelbarer Berührung fteht; aber e8 wird fi zugleich auch als ein Gentralorgan verhalten, indem es diefem Eindrude nicht ſofort die Größe und Form feines Weiterwirkens geftattet, bie feiner Art und Stärke an ſich entiprechen würden, ſondern feinen Er— folg nach den gleichzeitigen Bedürfniſſen der übrigen ‘Theile feft- ftellt, mit denen es ebenfall$ verbunden ift. Nichts hindert ans zunehmen, daß die Heinen Ganglien, welche zunächſt Die inneren Berhältniffe eines beſchränkten, zufammengehörigen Gebietes von Theilen beberrfhen, unter einander wiederum durch Berbin- dungsfäden verknüpft, oder mit größeren Ganglten, als Central- organen höherer Ordnung, in Beziehung gejett, Die Thätigfeiten umfaffender Organe und Organfnfteme in gegenfeitige Weberein- flimmung bringen, bis endlih ihr zufammenhängendes Geflecht alle vegetativen VBerrichtungen des Körpers zu der Einheit plan- mäßigen Ganges, allfeitiger Unterftügung und ausgleichenver Wechſelwirkung verkettet. Im der That finden biefe Verbindungen

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dev verſchiedenen Gentralorgeme ftatt, und vom Halfe durch Bruft- und Bauchhöhle Läuft zu beiden Seiten des Rückgrates die Kette der Hauptganglien herab, die unter einander durch Ner- venfäden verbunden, andere Fäden zur Bildung ber zahlreichen Geflehte ausfenden, welde den einzelnen Abtheilungen der Ein- gemweide zugeorbnet find.

Man hat in älterer Zeit die Mitleivenihaft, in welche Die Störungen des einen Organes fo häufig andere auch räumlich ent⸗ fernte hineinziehen, von der Wirkſamleit dieſes Syftemes abhängig gemacht, und nicht mit Unrecht trägt es von Diefen Sympatbien feinen Namen des ſympathiſchen Syftems, obgleich viele von ihnen nach den Ergebnifjen der neueren Unterfuhungen ohne feine Theil- nahme aus der Wechſelwirkung ber cerebroipinalen Nerven ent- ipringen. In welcher Form der Thätigleit e8 num feine Leiftungen ausführt, darüber find wir zum Theil duch Beobachtungen und Verſuche unterrichtet, ohne jedod den Umfang feiner Wirkungen erichöpfend bejtimmen zu können. Sicher geftellt ift zunächſt fein Einfluß auf die Bewegungen der Eingeweide, deren musculöfe Häute fih nad) Reizung der ihnen vorftehenden Ganglien zufam- menziehen. Nicht, wie die Muskeln der willfürlichen Bewegung, plöglich, fondern einige Zeit nach der Anwendung des Reizes, ver- engert fi) der Darmlanal durch die Verkürzung feiner ihn kreis⸗ förmig umgebenden bünnen Mustelihicht, und diefe Zuſammen⸗ ſchnürung, länger Dauernd, als der angewandte Reiz, jchreitet all⸗ mählich wellenförmig fort, indem, ohne neuen äußern Anlaß nad der Wiedererweiterung der einen Stelle die ihr zunächſt benachbarte fi) verengt. Man beobachtet ähnliche Erſcheinungen einer lang- fam erfolgenden Zuſammenziehung an den größeren Gefähftäm- men, in deren nicht blos aus elaftiichen jondern auch aus lebendig contractilen musfelartigen Faſern beftehbenden Wandungen fyın= patbifche Fäden verlaufen. Die periodiihen Schläge des Herzens hängen von einem Syſtem mikroſkopiſch Kleiner Ganglien ab, das in der eignen Muskelſubſtanz deffelben gelagert ifl. Die Bulfa- tionen des Herzens dauern bei Faltblütigen Thieren auch nach feiner

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Ausfchneidung aus dem Körper Tängere Zeit regelmäßig fort; felbft Die einzelnen Theile des zerftlidten Organs ziehen fich noch zuſammen, Doch nur die, welche noch jene Ganglien in ſich enthalten. Diefe Thatfachen beweifen, daß fowohl die Anregung zur Bewegung überhaupt, al8 der Grumd für die rhythmiſche Abwechſelung von Anfpannung und Erihlaffung in diefen nervöſen Gentralorganen liegt, aber wir wiffen weder, woraus fie felbft ihre anregende Kraft ziehen, noch in welcher beftimmten Weife die Pertodicität ihrer Tchätigkeit bewirkt wird.

Zur Erregung von Empfindungen feinen die ſympathiſchen Nerven nicht befähigt. Bon den Zuſtänden der Theile, Die von ihnen hauptſächlich beherricht werben, von dem Stande der Ver⸗ danung, der Alfimilation, der Abfonderung, von der Spannung ber Gefäße, haben wir im gewöhnlichen Lauf der Dinge einen Eindruck; wir erfahren von ihnen erft Dann, wenn ihr Einfluß fih meiter auf andere Theile erftredt, deren fenfible Nerven uns diefe mittelbaren Erregungen zuführen, oder dann, wenn fehr bedeutende Veränderungen und regelwidrige Zuftände eintreten. Es iſt ungewiß, ob im letzteren Falle Die ſympathiſche Faſer felbit die Leitung der Eindrüde zum Bewußtfein übernimmt, zu welcher fie fonft unfähig ift, oder ob die cerebrofpinalen Fäden, die ob⸗ gleich in geringer Anzahl Doch nie ganz zu ihrer Begleitung feblen, bier wie fonft dieſe Leiftung vollziehen. Vielleicht auch mangelt überhaupt der ſympathiſchen Faſer die Fähigkeit zur Erzeugung bon Empfindungen nicht ganz, fondern nur den erzeugten Die nöthige Feinheit und Schärfe, um aus dem Gemeingefühl unferes Befindens ſich einzeln deutlich auszufondern. Gemiß dagegen vollziehen dieſe Faſern den Ganglien gegenüber zum Theil dieſelbe Aufgabe, welche die fenfiblen Fäden des Cerebrofpinaliyftens dem Gehirn gegenüber erfüllen; fie dienen als zuleitende Boten, welche bie Zuftände der Theile, von denen fie kommen, dem Ganglion als ihrem Gentralorgan zur Beſchlußfaſſung über die nöthige Rückwirkung kundgeben.

Der bedeutende Einfluß, den das ſympathiſche Syſtem un⸗

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fteeitig auf die Mifchungsperänderungen der Körperfäfte ausübt, ift in der Art feines Zuſtandekommens am wenigften bekannt, Doch laſſen fich Teicht verichiedene Möglichleiten denken, zwiſchen denen bie Zukunft vielleicht entfcheiden wird. Die Zuſammen⸗ ziehungen, welche die Thätigleit der ſympathiſchen Faſern in ben Muskeln anregt, laſſen vermuthen, daß auch andere Gewebe unter berjelben Einwirkung Veränderungen in der Lage ihrer kleinſten Theilden erfahren Können. Da die chemiſche Zuſammenſetzung ber Säfte ohne Zweifel in hohem Grade von der Natur ber Wendungen abhängt, durch welche hindurch fie aufeinander wir: fen, auötreten oder aufgejogen werden, jo würde eine Wende: rung in dem phuflihen Zuftande der Membranen leicht die viel- fahen Abweichungen der Abfonderungen erklären, die man unter dem Einfluß heftiger Nervenreizungen eintreten fieht, und Die weniger auffallend und mit minder fchroffen Abwechſelungen ge- wiß regelmäßig während des ganzen Lebens fortgehen. Eine Membran, durch melde hindurch zwei Flüffigfeiten auf einander einzumwirten ftreben, wird in verjchiedenen Graben ihrer Span- nung und bei verfchtedener Lagerung ihrer Fleinften Theile auch die wirkungsbegierigen Stoffe nicht immer in gleicher Weife zu einander gelangen lafjen; fie wird jett Dem einen den Durch⸗ gang verweigern und ihn für den andern erleichtern Fönnen. In⸗ dem fie jo Das Zuſtandekommen eines einzigen ſonſt gewohnten hemifchen Proceffe8 hindert, Tann fie leicht dem Geſammtergeb⸗ niß ihrer Thätigfeit ganz neue und weit abmeichende Formen geben. Doch aud die andere Möglichkeit bleibt übrig, daß bie Nervenfafer im Augenblide ihrer Thätigfeit unmittelbar eine chemiſche Wechſelwirkung veranlaßt, indem fie gleich dem eleftri= Ihen Strome, der die ſchon vorhandenen aber noch zögernden Beftandtheile einer Fünftigen Verbindung diefe plöglich vollziehen heißt, oder andere Berknüpfungen eben fo plöglich trennt, irgend eine Bedingung in das Spiel ber Stoffe einführt, Die der die miſchen Verwandtſchaft zwifchen ihnen neue Richtungen gibt. Am wenigften würde uns eine unmittelbare geſtaltbildende Wirkung

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der Nerven Mar fein, und wir dürfen annehmen, daß ihre Lei- ftung fih in ber Heritellung der chemiſchen Natur der Stoffe er: ſchöpfe, die Dann durch ihre eignen Kräfte und durch den vereinigten Eindrud der ſchon organifirten Umgebung geleitet, die ihnen zus gehörigen Formen annehmen.

Durch Berengerung der Gefäße würde die Kraft der Nerven den Drud des Blutes auf feine Wände vermehren und dadurch allen Thätigkeiten der Auffaugung und Abfonderung veränderte Bedingungen gewähren, durch Zuſammenziehung einzelner Ge- webtheile würde fie Zufluß und Abflug des Blutes für dieſe Theile eigenthümlich beftimmen und Anbäufungen wirkſamer Maſſen mit geringerer Geſchwindigkeit ihres Vorüberfließens da bewirken können, wo lebhaftere Bildung und raſcherer Umſatz ſie nöthig machen; durch Beſchleunigung der Muskelbewegungen, welche im Großen die Ortsveränderung der Stoffe, Die Ausfüh- rung der abgefonderten, die Aufnahme der neu gewonnenen ein= leiten und durchführen, endlich durch die veränderte Spannung ber Membranen würde fie die Größe des Stoffwechſels im Gan- zen und die Schwankungen feiner Lebhaftigkeit in einzelnen Thei⸗ Ien beftimmen können. Und zu allen biefen Weußerungen feiner Thätigfeit würde das Nervenſyſtem theils durch den Eindrud der Störungen beftimmt, melde auszugleichen find, theils würden die normalen Borgänge im Körper beftändig ibm Erregungen zuführen, die fih anſammelnd, in einzelnen Augenbliden, in denen fie eine beftimmte Stärke erreicht haben, eine zweckmäßige Wirkung auslöfen. So würden bier ungleihförmige Schwan= kungen, dort regelmäßig und rhythmiſch wiederkehrende Perioden ber Thätigfeit und Ruhe eintreten, Es ift unnöthig, noch weiter dieſe Ereigniffe zu jchildern, deren äußere Formen Jeder, deren beftimmte Bedingungen Niemand kennt; fügen wir ihrer Erwäh- nung vielmehr die Bemerkung binzu, daß mit dieſem Neidj- thume von Berrihtungen dennoch das Syſtem der ſympathiſchen Nerven nicht ganz abgejchloffen auf feinen eignen Hilfsquellen ruht, fondern daß es mit dem Gerebrofpinaliyftem dur zahl-

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reihe Täden zufammenhängt. Lange Zeit haben dieſe als die eigentlichen Wurzeln der Gangliennerven gegolten, deren Ge: fammtheit man nit als ein unabhängiges Syſtem, ſondern als die unjelbftändige Ausbreitung und Verflechtung vieler Ge- hirn⸗ und Rüdenmarknerven betrachtete. Vielfache Gründe haben gegenwärtig der Borftelung eines felbftändigen Gangliennerven- ſyſtems das Webergewicht gegeben; doch dürften jene zahlreichen Verbindungen deſſelben mit Gehirn und Rückenmark nicht allein den Zweck haben, auch in Diefen Organen den Wiedererfaß zu leiten, deſſen fie durch ihre Berrichtungen abgenugt bebürfen fönnten; fie ſcheinen wenigftend eben fo jehr umgekehrt dieſen Mittelpuntten des eigentlichen thierifchen Lebens einen mitbeftim- menden Einfluß auf den Berlauf der bildenden und erhaltenden Berrihtungen möglich zu machen. Nur die Pflanze erhält ihr Leben, fo lange fie es erhält, völlig durch die zufammenftim- mende Wirkung ihrer materiellen Beftandtbeile; der thierifche Organismus, obwohl in feiner Gliederung unendlich reihhaltiger, bildet dennoch in ſich felbft feinen abgefchlofjenen Kreislauf der Berrihtungen. Irgendwo und im irgend welder wenn auch noch fo untergeordneten Form fehen wir immer Clemente des geiftigen Lebens zwiſchen die Leiftungen der körperlichen Organe treten und Lüden ausfüllen, welde der Zuſammenhang der Lebensoorgänge zwiſchen feinen einzelnen Gliedern läßt. “Die Pflanze, in ihre Lebenselemente, Luft und Waſſer, eingetaucht, findet fi ungefuht in beftändiger Wechſelwirkung mit dem &r- fate, defien fie bedarf; das Thier bat feine Nahrung aufzu- ſuchen, und es vollzieht diefen Theil feines Lebenskreislaufes nicht ohne das Aufgebot mannigfaltiger Mittel der geiftigen Thätigfeit. Tilgten wir alle diefe Inſtinete aus, durch welche das Thier für feine empfundenen Zuftände Heilmittel ſucht, bie der Naturlauf ihm nicht alle von felbft entgegenbringt, fo würde fein Organismus nur zu geringer und kurzdauernder Selbfterhaltung fähig fein, und weit entfernt, jene fich felbft in Bewegung ſetzende Mafchine zu fein, für melde eine ungenaue

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Analyfe der Thatfachen ihn jo häufig angefehen hat, ift er nichts als die eine Hälfte eines Ganzen, unfähig zu leben ohne die andere, die Außenwelt und bie Geele.

Wie fehr hat iiberhaupt ber Verlauf unferer Betrachtung jene Borurtbeile umgeftaltet, die uns ber unmittelbare Anblid des Lebens erregt, jene Träume von Einheit Abgefchloffenheit und Beftändigfeit der lebendigen Geftalt! Raum wiſſen wir noch anzugeben, wo aud nur räumlich die Grenzen find, welche den Organismus abfcheiden von feiner Umgebung. Die Luft in un⸗ ferer Lunge, wann fängt fie an zu und zu gehören und wann hört fie auf, Beſtandtheil des Körpers zu fein? Iſt fie vom Blut abjorbirt num unfer geworden, und war es nit, als fie nod in den Lungenzellen fich befand ? Iſt diefer Speifefaft, nach⸗ dem er im die Chylusgefäße eingebrungen, fchon Theil unfers Körpers, oder ift nicht er und das Blut nur ein Stud in den Umfang des Leibes hineingezogener Außenwelt, oberflächlich durch die lebendigen Kräfte verändert, aber der Theilnahme am Leben doch nur noch entgegengehend? Und freifen nicht viele Stoffe, wie die Löslichen Salze der Erdrinde, durch unfern Körper, durch Blut und Organe hindurch, und bleiben ihm doch ftetS fremd ? In feinem Augenblide enthält er nur das, was zu feinem eigent- Iıhen Beftand gehört; ftetd treffen wir in ihm Stoffe an, die erft fein werben jollen, ſtets andere, Die fein gewefen find; Die Vorbereitung feiner Zukunft und die Trümmer der Vergangen- beit gejellen fich in ihm mit dem lebendigen Stamme der Ge- genwart und mit zufällig in ihn veriprengten Bruchftüden ber Außenwelt.

Und eben jo wenig, wie im Raume, fließt fi im Laufe feiner zeitlihen Entwidlung der Körper zu firenger Einheit ab. Nicht aus eignen Mitteln ſich ergänzend wachſend und entfal- tend, ift er vielmehr überall auf die mithelfende Begünftigung

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der äußern Welt angewiefen. Sein Leben gleicht einem Stru⸗ del, ben ein beſonders geftaltetes Hinderniß im Ylußbett eines Stromes erzeugt. Der allgemeine Naturlauf ift diefer Strom, der organifche Körper das Hinderniß, an dem er fi bricht, und deſſen eigenthilmliche Geftalt den gleichförmigen und geradlinigen Andrang der Gewäffer in die wunderbaren Windungen und Kreu- zungen bes Wirbel8 verwandelt. So lange die Form des Fluf- bette8 biefelbe fein und fo lange die Wellen zuſtrömen werben, wird unaufhörlih fi das Spiel der Bewegung erneuen, in immer gleicher Geftalt, ſcheinbar unverändert, obwohl es Doc von Augenblid zu Augenblid andere Fluten find, die kommend e8 erzeugen und gehend es verlafien. Aber die Form des Fluß⸗ bette8 wird nicht bleiben; die Gewalt der Strömungen wird fie ftetig ändern, und was dieſe nicht vermag, das wird bie eigne noch zerftörendere Kraft des angeregten Strudels felbit vollbrin- gen. Wie ein Meeresftrom durch feinen Wellenfhlag, zu dem er durch die eigenthümliche Geftalt des Bodens genöthigt wird, diefen felbft nivellirt und fo die Urfache feiner bejondern Bewe- gung ſich felbft Hinwegräumt, jo Tehren fi auch die ausgelibten Thätigfeiten des Lebens, alle Aeußerungen und Leiftungen feiner Organifation, mit langſamer aber fiherer Gewalt gegen bie Grundlage zerftörend zurüd, auf der fie beruhen. Der Strudel von heute ift nicht der von geftern; der beftändige Wiedererjat bringt wohl ähnliche, doch nie völlig gleiche Zuftände wieder. Wir verlaffen dieſes Bild nit, ohme ihm eine letzte zu- ſammenfaſſende Anfchauung der Lebensoorgänge zu entlehnen. Die höchſten und edelften Erſcheinungen der Natur wie des geiftigen Daſeins glaubt ein weitverbreiteter Wahn durch firenge Bedürf⸗ nißlofigfeit ausgezeichnet, durch unüberwindliche Starrheit ihres Kernes ftegreih gegen alle Angriffe der äußern Welt, durch Einfachheit ihres inneren Gefüges in der Stetigfeit ihrer Eut- willung gefihert. In Wahrheit aber hat alles Höhere mehr Borausfegungen als das minder Hochgeftellte, und die Kraft feiner Eriftenz befteht nur in ber geiftuollen Berechnung, mit

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der e8 die gejteigerte Vielfältigkeit feiner Bedürfniſſe zu befrie- digen weiß. Nicht ein einfacher in ſich geſchloſſener und durch feine Intenfität mächtiger Geftaltungstrieb befeelt die lebendigen Körper, nit mit ungemöhnlicden unüberwindbaren Kräften Ihließen ihre Beftandtheile fih zu einer dichteren Einheit zu⸗ fammen, als fie dem Unbelebten möglih wäre; auf beftändigem Wechſel ihrer Maſſen berubend, find fie, verglichen mit dieſem, Iodere und gebrechliche Gebilde. Aber an den glüdlichen Ver: bältniffen, in denen fie ihre Theile untereinander verbunden dem Naturlauf entgegenftellen, bricht ſich dennoch ber eindringende Strom unzähliger phyſiſchen Ereigniffe und geftaltet fi zu einem feitftehenden Bilde, das die Stoffe der Außenwelt in ſich hinein⸗ zieht eine Zeit lang fefthält und fie dann dem forınloferen Tret- ben der unorganifhen Natur zurüdgibt. Nicht an ein feftes Subftrat ift dieſes reiche Spiel der Ereigniffe gebunden, fondern ihmebt, beweglich wie der farbige Glanz des Negenbogens, über einem raſtlos veränberlihen Untergrunde. Ja fo wenig finden wir in ben organiſchen Körpern jene einheimifche ſich ſelbſt ge- nügende Lebenskraft, daß wir fie vielmehr nur wie jene Derter im Raume anjehen können, an denen die Stoffe, die Kräfte und Die Bewegungen des allgemeinen Naturlaufes in fo glüdlichen Berhältniffen fi) kreuzen, daß veränderliche Maffen fich für eine Zeit lang zu einer doch immer bald vergehenden Geftalt verdich— ten und ihre Wechſelwirkungen eine melodiſch abgefchlofiene Reihe aufblühender und verwelkender Entwidlung durchlaufen können. Wie fehr das ſtill aufwachſende Bild der Pflanze und die be- weglich fortichreitende Geftalt des Thieres uns verleiten mögen, fie als fefte Einheiten und auf fih beruhende Ganze zu bewun- dern; mie dringend endlich fittlihe Motive uns auffordern mögen, ung als ſolche im Gegenfage zu der übrigen Welt zu fühlen, welche das geftaltbare Material unjerer Handlungen umſchließt: für die Wifjenfchaft dennoch, welche die leibliche Begründung un= ſers Dafeins fucht, Tiegt die übrige Natur nicht wie ein frembes formlojes Chaos um das einzelne Tebendige Gefchöpf ausgebreitet,

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erft von feiner Lebenskraft Zuſammenhang Form und Entwid- ung erwartend. So wie der Brennpunft einer Linfe die mär- mende Kraft des Lichtes verbichtet, oder das zierlihe Bild einer Geftalt entwirft, ohne fein eigne® Verbienft, fondern die zuſam— menfdießenden Strahlen find es, die e8 ihm fchenfen, der Schau: platz jo ansgezeichneter Erſcheinungen zu fein: fo verbienftlos beinahe fammelt der Iebendige Körper die Stoffe und Bemegun- gen der Umgebung zu dem geſchloſſenen Bilbe feiner eignen Ge- ftalt. Wohl ift er zum Theil jelbft die Pinfe, deren brechende Kraft die Strahlen vereinigt, aber auch diefe wirkſame Yorm verdankt er einer Meberlieferung, in welde die Kräfte der Außen⸗ welt mitthätig eingriffen. So ift er, was er ift, al8 Ergebniß dev Umftände, die ihn hervorbrachten; zu harmoniſcher Entwid- fung erwählt, wenn fie günftig zu feiner Erzeugung liberein- fimmten, zu ſiechem und kümmerlichem Dafein venrurtheilt, wenn mißhellige Bedingungen fi) in feiner erften Anlage durchkreuzten. Die unabläffige allgemeine Bewegung der Natur ift überall Die umfaffende Strömung, in deren bewegteſtem Theile, nicht ein= mal wie feſte Injeln, jondern nur wie bewegliche Wirbel die lebendigen Gefchöpfe auftauchen und verjchwinden, indem Die vorüberfließenden Maſſen augenblidlib eine Zuſammenlenkung in eine eigenthümliche Bahn und eine Verdichtung zu beftimmter Geftaltung erfahren, um bald durch biefelben Kräfte, von denen fie in dieſen Durchſchnittspunkt zufannmengeführt wurden, im die geſtaltloſe allgemeine Strömung wieder zerftreut zu werben.

Bweites Bud.

Die Seele.

Erſtes Kapitel. Das Dafein der Seele.

Die Gründe für die Annahme ber Seele. Freiheit des Willens. Unvergleichbar: feit der phyſiſchen unb ber pſychiſchen Vorgänge. Nothwendigkeit zweier verfchies benen Erflärungsgränbe. Annahme ihrer Bereinigung in bemfelben Weien. Die Einheit des Bewußtfeind. Was fie nicht iſt, und worin fie wirklich beftcht. Unmöglichkeit, fle aus ber Zufammenfeßung vieler Wirkungen zu erflären. Das beziehenbe Wifien im Gegenfag zu phyfiſcher Refultantenbilbung. Neberfinnliche Ratur ber Seele.

Un in dieſer beftändigen Flucht der Elemente, die einan= ber fuchen und meiden, wo ift unfere eigne Stelle? Die Man nigfaltigfeit unferd inmern Lebens, das Spiel der Erfenntniß, Leid und Luft und die Regſamkeit wechlelnder Beftrebungen, wen gehören fie an? Iſt dies Alles vielleicht nur eine feinere Form des Scheines, ein Wiederglanz der inneren Bewegungen jenes Wirbels, dem Farbenſpiele ähnlich, das der Leichtefte Staub bes Waſſers über der jchrwerfälligeren Kreuzungen der Fluten ent- widelt? Oder gibt e8 in aller diefer Aeußerlichleit des Durdhein- andergehens noch einen ftillen Punkt wahrhafter Innerlichkeit, für den alle lörperliche Bildung nur eine heimatliche Umgebung, und alle Unruhe der Beränderung, welche durch die ſichtbare Geftalt geht, nur eine wechjelnde Aufforderung ift, die Einheit feines eignen Lebens in vielgeftaltiger Entwicklung zu bethätigen?

Entgegengefeßt bem unmittelbaren Augenfchein der Erfah: rung hat die natürliche Ueberlegung des menfchlichen Gefchlechts fich ftetS für dieſen Glauben entfchieven. Keine Beobachtung zeigt und geiftiged Neben anders, al8 in beftändiger Verknüpfung mit

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ber Eörperlichen Geftalt und ihrer Entwidlung; zufammen fehen wir beide fi entfalten, und mit dem Zerfallen der körperlichen Bildung verfchwindet ſpurlos für uns auch die Fülle und Macht des Geiftes, der fie befeeltee Mit fo deutlichen Hinweiſungen juht uns die Erfahrung davon zu überreden, daß alle innere Regſamkeit aus der Verbindung der Stoffe entipringt und mit ihrer Auflöfung verſchwindet; dennoch hat die lebendige Bildung aller Völker, indem fie den Namen der Seele ſchuf, in ihm bie Meberzeugung ausgebrüdt, daß nit nur eine Verfchiedenheit des Ausfehens die inneren Erfheinungen von dem körperlichen Leben ſcheidet, ſondern daß ein Element von eigenthümlicher Natur, anders geartet als die geftaltbildenden Etoffe, der Welt der Empfindungen Gefühle und Strebungen zu Grunde liegt und durch feine eigne Einheit fie untereinander zu dem Ganzen einer in fich geichlof- jenen Entwidlung zufammenhält. Ein fo allgemeines Vorurtbeil wird nie entftehen ohne dringende Aufforderungen, welde in ber Natur der Sache Liegen; dennoch dürfen wir es zunächſt nur al8 ein Borurtbeil betrachten, deffen Prüfung Beftätigung oder Widerlegung einer ausdrücklichen Unterfuchung vorbehalten bleiben muß. Denn fo gewiß der allgemeine Inftinet der menſchlichen Bildung nicht ohne tiefere Berechtigung unabweisbarer Bedürfniſſe zur Ausprägung folder Auffaſſungsweiſen fchreitet, jo wenig dür⸗ fen wir als gewiß vorausfegen, daß er überall glüdlih in feinen Ergebniffen ift und nicht auf unrichtigem Wege eine Befriedigung juht, deren Trüglichleit fich dem geſchärften Blide der Willen- ſchaft zulett nicht entziehen Tann. Und in der That, wenn wir bie Gründe prüfen, welche der allgemeinen Meinung immer im ‚Stillen in Gedanken liegen, wo fie das geiftige Leben dem Ge- biete der Natur zu entziehen fucht, jo werden wir finden, daß fie fi nicht auf alle mit gleichem Rechte fügt, und daß nur in einem kleinen Kreife von Erfcheinungen die entjcheidende Nöthi- gung liegt, aus einen eigenthümlichen Wejen die. Erklärung ber innern Ereigniffe herzuleiten.

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Drei Züge find es vornehmlich, welche das unwiderrufliche Weife von allem Naturlauf zu trennen einen. Auf leinen von ihnen legt die gewöhnliche Anficht mehr Gewicht, als auf den zweifelbafteften von allen, auf die Freiheit der inneren Selbſtbeſtimmung nämlich, die wir mit unmittelbarer Klarheit in ung ſelbſt zu erfahren glauben, im Gegenfat zu der ununterbroche⸗ nen Nothwendigfeit, mit welder die Zuftände des Unbefeelten ſich auseinander entwideln. Alles was unfer geiftiges Daſein aus⸗ zeichnet, alle Würde, die wir ihm retten zu müfjen glauben, aller Werth unferer Perfönlichleit und unferer Handlungen jeheint un an diefer Befreiung unſeres Weſens von dem Zwange der me= chaniſchen Abfolge zu hängen, deren Gewalt nicht nur über das Unbelebte, fondern aud über die Entwidlung unfers leiblichen Lebens wir einpfinden. Und doch genügt eine Teichte Ueberlegung zu der Einfiht, daß weder jene Freiheit als eine beobachtbare Thatſache unſers innern Lebens vorliegt, noch unfere eigne Mei- nung über den Werth, den wir ihr beilegen, überall mit ſich ſelbſt in Uebereinſtimmung bleibt. Es ift wahr, daß unfere Selbſtbeobachtung ung fehr häufig feine bedingenden Beweggründe nachweiſt, aus denen mit kenntlicher Abhängigkeit unfere Entſchlüſſe und andere Bewegungen unferd Innern herborgingen; aber fo zerftreut und bruchſtückweis wendet fih auch unfere Aufmerkfam- feit auf uns ſelbſt zurüd, daß ihrer unvollkommenen Ueberſicht leiht das als freie Selbitbeftimmung ericheinen Tann, deſſen zwingende Gründe fie vielleiht finden würde, wenn fie noch einen Schritt in der Zergliederung umferer inneren Zuftände zuriidginge. Es ift wahr, daß Eindrüde, die auf uns geſchehen, Rüdwirfun- gen aus und hervorrufen, Die weder in ihrer Form noch in ihrer Größe ihnen entiprechen, und daß in verſchiedenen Augenbliden dem gleichen Anftoß, den wir von außen erfahren, die verſchie— denartigften Yeußerungen antworten, Aber mit all diefem unbe= rehenbaren Benehmen wiederholt doch unfer geiftiges Leben nur die allgemeine Erfcheinung der Neizbarkeit, die dem leiblichen Da- fein eben fo wie jelbft dem Unbelebten gemeinſam, nicht eine

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Befreiung von dem Zwange geſetzlicher Wirkſamkeit, fondern viel- mehr der wahre Begriff diefer Wirffamteit felbft ifl. Denn nir- gends trägt ja eine thätige Urfache die Wirkung fertig über auf das Element, da8 von ihr leidet, fo daß fie von dieſem nur das gleichlautende Echo ihres eignen Thuns zurüderhielte; überall regt der geſchehene Eindrud nur die eigne Natur deffen zur Aeußerung an, dem er geihah, und die Geftalt des kommenden Erfolges ift, nicht minder als durch ihn felbft, durch die eigen- thümlichen Thätigfeiten bedingt, die er eindringend in bem Lei⸗ enden medte. Zuweilen kennen wir das innere Geflige ber Gegenſtände, welche der Reiz trifft, und wir vermögen feinen Weg und die Verkettung der Rüdwirkungen zu verfolgen, die er fort- fhreitend anregt; noch öfter find uns die inneren Berbältniffe bes Gereizten unflar, und unfere Beobachtung umfaßt nur den erften äußeren Anftoß und die legte Form der endlichen Rück- wirkung; unbekannt in ber Mitte Tiegt die Menge der Bermitt- Iungsgliever, melde das Ende mit dem Anfang nothwendig ver- knüpfen. Im mancherlei Abftufungen zeigt und daher bie Reihe der Erſcheinungen bald Erfolge, deren ſämmtliche Boransfegungen deutlich in unfern Geſichtskreis fallen, und die uns deshalb als völlig bedingte Folgen ihrer Vorangänge fi barftellen, bald Ergebnifje, deren Geftalt, durch die verborgen bleibende Natur verwidelter Mittelgliever auf das Wejentlichfte mit beftimmt, nun in feiner faßlihen Beziehung zu dem einfachen Reize mehr fteht, der fie zuerft veranlaßte. Immer Tiegt in ſolchen Fällen die Neigung nabe, den nothwendigen Zuſammenhang abgebrochen zu glauben ; wir find ihr begegnet in der Deutung des körperlichen Lebens; wir treffen fle hier wieder an, wo die noch ungleich größere Ber- widlung der mitwirtenden und doch meift verborgen bleibenden Bedingungen die Rückwirkung der Anregung noch unähnlicher macht und uns um fo lebhafter von der Freiheit urfachlofer Selbftbe- ftimmung überredet. Ueberzeugen wir und nun von der Irrigfeit bes Schluffes, melcher Die durchgehende Bebingtheit des geiftigen Lebens leugnet, weil fie nicht überall nachweisbar ſei, jo innen wir

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vielleicht verfuchen, die Freiheit al8 nothwendige Folge moraliicher Wahrheiten oder als unabweisbare Borbedingung für die Erfüllung fittlicher Aufgaben feftzuhalten. In der That würden wir einem folgen Beweife, wenn er zmeifello® gelänge, reichlich den gleichen Werth für die Begründung unferer Anfichten zugeftehen, den wir einer beobachteten Thatſache beilegen. Aber wir haben bereits erinnert, daß hierüber das allgemeine Urtheil nicht mit fih in Mebereinftimmung ift; e8 wird uns häufig zweifelhaft, ob iiberhaupt, und in welcher beitimmteren Geftalt für die Befriedigung mora- liſcher Bebürfniffe jene bebingungslofe Freiheit förderlich oder noth- wendig fei; nicht Allen Hat fie unentbehrlich gefchienen, und der Verſuch, fie beftimmter ind Auge zu fafjen, führt zu Fragen, deren Beantwortung, wie fie ausfalle, jedenfalls weit von der Klarheit eines Gedankens entfernt iſt, der fich zur entfcheidenden Grund⸗ legung einer wichtigen Anficht eignen fol. Enblid, müfjen wir hinzufligen, würde doch jeve Meinung nicht von einer Freiheit bes inneren Lebens überhaupt, fondern nur von einer Freiheit des Willens Tprechen wollen und können; in dem Verlaufe unferer Borftellungen, unferer Gefühle und Begehrungen treten fo deutlich und unverhillt die Spuren eimer allgemeinen Geſetzmäßigkeit her- vor, daß nie eine Anficht gewagt hat, auch dieſe Ereigniffe dem Gebiete einer mechaniſchen Nothwendigkeit zu entziehen. Eine weiter forigefchrittene Unterfuchung würde vielleicht dieſes Be⸗ benfen befeitigen und uns zeigen Können, wie wenig wir Grund haben, diefe Vereinigung von Freiheit und Mechanismus in dem Wefen der Seele zu fcheuen, aber gewiß kann am Anfange ber Betrachtung die offenbare Geltung allgemeiner Geſetzlichleit in den größeren Theile unfers inneren Lebens dem Glauben an die unbeobachtbare Freiheit in einem kleineren nur entgegen fein. Aber eben fo wenig überzeugt doch die Erfahrung und von ihrem Nichtuorhandenfein, und die Meinungen, die mit zubring- licher Zuverſicht uns auf die beftändige Verknüpfung der geiftigen Creigniffe mit Börperlihen Veränderungen binmeifen, deuten eine befannte Thatſache mit irriger Willkür, wenn fie in ihr den Be- 11*

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weis zu finden glauben, daß alles Geiftige vollkommen aus ben Eigenjhaften der Materie erflärbar fei, von der es getragen wird. Bon äußeren Eindrüden und ihren Wechſelwirkungen mit den materiellen Beftandtheilen unferes Körpers zeigt und allerdings eme allgemeine und unabläffig wiederholte Erfahrung die Ber- änderungen unferer geiftigen Zuſtände abhängig. Unfere Empfin- dungen wechjeln mit den mwechfelnden Erregungen unſerer Sinnes- organe; andere Gefühle und Strebungen entitehen und, wenn äußere Einflüfje oder die eignen ftetigen Ummandlungen der Teben- digen Thätigfeiten unferem Körper veränderte Stimmungen gegeben haben; in der weiteften Ausdehnung finden wir bie Lebhaftigleit und Regſamkeit unſers Gedanfenlaufes an die Schwankungen der körperlichen Zuſtände geknüpft, bald durch fie begümnftigt, bald geſchmälert und gehemmt, und eine forgfältige Unterfuchung wird zugeftehen müfjen, daß jelbft in den höchſten Erſcheinungen des geiftigen Lebens, wie fie der gefchichtliche Verlauf der menſchlichen Bildung hervorgebracht hat, noch immer fi Nachklänge des Ein- fiufjes finden, mit welchen förperlihe Stimmungen, nicht allen Zeitaltern gleich gegeben, auf die geiftige Entwidlung überwirfen. Aber alle dieſe Thatjachen beweifen doch nur, daß die Ber- änderungen körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen darftellen, an welchen Dafein und Form unferer inneren Zuftände mit Nothwendigfeit hängt, aber fie beweijen nicht, daß in jenen Veränderungen die einzige und hinreichende Urſache Liegt, melde aus eigner Kraft und ohne die Mitwirkung eine ganz anderen Princips zu bedürfen, die Mannigfaltigleit des Seelenlebens aus ſich allein erzeugt.

Ein zweiter Blid auf die Natur dieſes Zufammenhangs zeigt bie luft, die fich bier zwifchen dem ſcheinbar genügenden Grunde und feiner angeblichen Yolge befindet. Alles, was den materiellen Beftandtheilen der äußeren Natur oder denen unfered eignen Körpers begegnet, Alles, was ihnen als einzelnen oder als man- nigfach verbundenen zuftoßen fan, die Gejammtheit aller jener Beftimmungen der Ausdehnung Miſchung Dictigkeit und Be—

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wegung, Died Alles ift völlig unvergleichbar mit der eigenthihn- lihen Natur der geiftigen Yuftände, mit den Empfindungen, den Gefühlen, den Strebungen, die wir tbatfächlih auf fie folgen ſehen und irrthümlich aus ihnen entftehen zu fehen glauben. Keine vergleichende Zergliederung würde in der hemifchen Zufam- menfegung eines Nerven, in der Auffpannung, in der Lagerungs- weife und der Beweglichkeit feiner kleinſten Theilden den Grund entdeden, warum eine Schallmelle, die ihn mit ihren Nachwir- kungen erreichte, in ihm mehr als eine Aenderung feiner phyſiſchen Zuftände hervorrufen follte. Wie weit wir auch den eindringenden Sinnesreiz durch den Nerven verfolgen, wie vielfach wir ihn feine Form ändern und fih in immer feinere und zartere Bewegungen umgeftalten lafjen, nie werden wir nachweifen können, daß es von felbft in der Natur irgend einer fo erzeugten Bewegung Liege, als Bewegung aufzubören und als Teuchtender Glanz al8 Ton als Süßigkeit des Gefchmades wiedergeboren zu werben. Immer bleibt der Sprung zwiſchen dem legten Zuftande der materiellen Elemente, den wir erreichen können, und zwiſchen dem erften Aufgehen der Empfindung gleih groß, und kaum wird Jemand die eitle Hoffnung nähren, daß eine ausgebildetere Wiſſenſchaft einen geheimnißvollen Uebergang da finden werde, wo mit der einfachften Klarheit die Unmöglichkeit jedes ftetigen Uebergehens fi uns aufdrängt. Auf der Anerkennung diefer völligen Unver- gleihbarfeit aller phyſiſchen Vorgänge mit den Ereigniffen des Bewußtſeins hat von jeher die Ueberzeugung von der Nothmen- digkeit geruht, eine eigenthlimliche Grundlage für die Erflärung des Geelenlebens zu fuchen.

In dem Imtereffe der Wiſſenſchaft Tiegt e8 ohne Zweifel, eine Mannigfaltigfeit verfchtedener Erfcheinungen unter ein ein= ziges Princip zufammenzufafjen, aber das größere und wefentlichere Intereſſe alles Willens ift doch ſtets nur dies, das Geſchehende auf diejenigen Bedingungen zurüdzuführen, von denen e8 in Wahr- heit abhängt, und die Sehnfuht nad Einheit muß fi da der Anerkennung einer Mehrheit verfchtevener Gründe unterorbnen,

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wo die Thatfachen der Erfahrung uns fein Recht geben, Berfchie- denes aus gleichem Duell abzuleiten. Kein Bedenken allgemeiner Art darf uns daher abhalten, fir die beiden großen und geſchie— denen Gruppen des phyſiſchen und des geiftigen Geſchehens eben fo gefchtedene und auf einander nicht zurückführbare Erflärungs- gründe anzunehmen; ohnehin würde jener Trieb nad Einheit doch nur die Forderung einfchließen, daß in dem einen Ganzen bed Weltbaues überhaupt fich das zulegt verbunden finde, was unferer unmittelbaren Beobachtung fich getrennt zeigt; wir würden ver⸗ langen Können, daß aus einer Wurzel die verfchiedenen Zweige ſtammen, aber nicht zugleih, daß die Zweige felbft zufammenfallen oder der eine ftet8 nur aus bem andern, und nicht unabhängig neben ihm aus der gemeinfamen Wurzel entfpringe. Ueberlaſſen wir deshalb fpäteren Betrachtungen die Wieberaufnahme diefer Frage und begnügen wir uns jegt mit dem Rechte, für Ereigniffe, die un- vergleichbar find, auch gefchiedene Erflärungsgründe zu verlangen.

Und dieſes Recht nehmen wir bier nicht in anderer Weife in Anſpruch als in der, in welcher e8 ung ſtets aud für Die Er- ſcheinungen innerhalb des Gebietes der Natur jelbft zugeftanden wird. Ueberall, wo wir ein Element Erfolge hervorbringen fehen, bie wir weder aus feiner beftändigen Natur, noch aus ber Be— wegung, in der es ſich augenbliclich befindet, verftehen können, juhen wir den ergänzenden Grund diefer Wirkung in der anders gearteten Natur eines zweiten Elementes, die, von jener Bewegung getroffen und angeregt, aus fi) den Theil oder die Form bes Erfolges erzeugt, Die wir vergeblih aus dem erften abzuleiten verſuchen würden. Nicht ver Feuerfunke ift e8, der die Exploftons- kraft dem Pulver mittheilt, denn auf andere Gegenftände fallend, bringt er feine Wirkung ähnlicher Art hervor; weder in feiner Temperatur no in der Art feiner Bewegung, noch im irgend einer andern feiner Eigenfchaften würden wir den Grund finden, ber ihn befähigte, aus fih allein heraus jene zerſtörende Kraft zu entwideln; er findet fie vor in dem Pulver auf welches er faͤllt; ober richtiger, ex findet fie auch bier nicht fertig vor, aber

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ex trifft bier mehrere Stoffe in einer Verbindung an, die bei dem Butritt der erhöhten Temperatur, die er binzubringt, fich mit plöglicher Gewalt gasförmig ausdehnen muß. Yür die Form der entftehenden Wirkung Liegt alfo der Grund in der Miſchung des Pulvers allein, für ihren wirflihen Eintritt bringt die Glühhige des Funkens die legte nothwendige ergänzende Bedingung hinzu. Zu denfelben Schlüffen berechtigt und die Unvergleichbarfeit der materiellen Zuftände und ihrer geiftigen Folgen. Wie feit bie letzteren an jene als ihre Bedingungen gebunden find, den Grund ihrer Form müſſen fie doch in einem andern PBrincip haben, ‚und Alles, was wir als Thätigfeit oder Wirkſamkeit der Materie denken Können, bringt nicht aus fich felbft das geiftige Leben her- vor, ſondern veranlaßt nır fein Herbortreten durch die Anregung zur Aeußerung, Die e8 einem anders gearteten Elemente zuführt.

Allein wir müfjen noch genauer die Folgerung bejchränfen, Die wir aus Diefen Betrachtungen ziehen zu dürfen glauben. Wir waren berechtigt, für die beiven abweichenden Gruppen von Er⸗ fcheinungen verſchiedene Erflärungsgründe zu fuchen, aber wir haben darum noch nicht das Recht, diefe Gründe an verſchiedene Gattungen von Wejen zu vertbeilen. Kann aus denjenigen Eigen- ‘haften, um bevenwillen wir die Materie Materie nennen, das Auftreten eines geiftigen Zuftandes nicht abgeleitet werden: was Bindert uns, in ben Zörperlichen Elementen noch neben jenen Eigenſchaften einen Schag inneren Lebens anzunehmen, ber unferer Aufmerkſamkeit fonft entgeht und eben nur in dem, mas wir geiftigeß Xeben nennen, Gelegenheit zur Aeußerung findet? Warım fol der Materie al8 einem beftändig todten Stoffe gegenüber alle geiftige Regfamleit in das beſondere Weſen einer Seele ver- bichtet werden, bie ihrerfeitö der Eigenſchaften entbehrte, mit denen die körperlichen Elemente fih in der Natur Geltung verfchaffen ? Könnte nicht der fihtbare Stoff unmittelbar ein doppeltes Leben führen, als Materie nach außen erſcheinend und Feine Fähigfeit

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verrathend, als die mechaniſchen Eigenſchaften, die wir Tennen, innerlih dagegen geiftig bewegt, ben Wechjel feiner Zuftände empfindend und mit Strebungen die Wirkſamleit begleitend, deren allgemeine Gefeglichleit er freilich nicht mit Freiheit zu ändern vermag?

Nur allmählich werben wir im Verlauf diefer Betrachtungen die volle Antwort auf diefe Tragen geben Können; e8 muß jekt genügen, zu zeigen, wie wenig ihre Bejahung an dieſem Anfange der Unterfuhung den Stand der Sache ändern würde. Denn eben ein Doppelweſen wiirde biefer empfindende und firebende Stoff immer bleiben; jo ſehr aud die Einheit feines Weſens die Eigenſchaften der Materialität und die der Geiftigfeit zuſammen⸗ hielte, fo unvergleihbar würden fie doch immer bleiben, und nie . würden wir aus einer Veränderung feiner materiellen Zuftände Die Nothwendigkeit ableiten Können, daß feine geiftige Seite folge- recht eine entiprechende Veränderung erleiden müßte. Er würde zwei Entwidlungsreihen erfahren, aus deren keiner ein Uebergang in die andere denkbar wäre; äußerlich zufammengepaßt würden wohl thatſächlich die Glieder der einen Reihe denen der andern entiprehen, aber auch hier würde Die materiale Veränderung nur deshalb eine geiftige nad) fich ziehen, weil fie auf der andern Seite dieſes Doppelmefens die geiftige Natur ſchon vorfände, welche fie weden Tann. Hierin liegt das Recht diefer Anfiht und zu— gleich ihre Unfruchtbarkeit. Ihr Recht; denn darin allein befteht ber ſchlimme und alle Weltauffafjung wahrhaft zerftörende Mate- rialismus, daß man aus den Wechfelwirkungen der Stoffe, fofern fie Stoffe find, aus Stoß und Drud, aus Spannung und Aus- behnung, aus Mifhung und Zerfeßung, die Fülle des Geiftigen als eine leichte Zugabe von felbft entftehen läßt; daß man glaubt, jo ſelbſtverſtändlich, wie aus zwei gleichen und entgegengejegten Bewegungen Ruhe, oder aus zwei verſchiedenen eine dritte in mittlerer Richtung entfteht, fo gehe aus der Durchkreuzung ber phuftihen Vorgänge die Mannigfaltigkeit des innern Lebens hervor. Dies ift es, was jede ernfthafte Veberlegung immer wird zurüd-

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weiſen müſſen, diefe Nachläſſigkeit des Gedankens, die jene Formen des mechaniſchen Geſchehens, welchen überall in der Welt nur der Beruf mechfelfeitiger Vermittlung zwiſchen dem Innern der einzelnen Wefen obliegt, als das Urfprüngliche auffaßt, woraus als beiläufiger Nebenerfolg alle Kraft und Regſamkeit dieſes In- neren felbft entipringe.

Diefen Irrthum nun vermeidet die Auffaffung allerdings, welche der Materie ein verborgenes geiftiges Leben zufchreibt; denn nicht aus den phyſiſchen Eigenfchaften derjelben läßt fie das Geiftige entipringen, fondern aus dem, was die Materie heimlich Beſſeres ift, als fie ſcheint. Aber wir fehen in ihr feinen Vortheil, den wir für die erfte Ausbildung unferer Anfichten benugen könnten. Sind in demfelben Stoffe zwar thatſächlich, aber doch unableitbar auseinander, die Eigenfchaften der Materialität und der Geiſtigkeit vereinigt, jo wird alle auf die einzelnen Erſcheinungen gerichtete Unterfuchung die Beränderungen der phyfifchen Seite dieſes Doppel- weſens doch nur als Veranlafjungen für das Herportreten auch der geiftigen Zuftände faffen können. Sie wiirde nicht erfläven können, wie es zugehe, daß eine phyſiſche Veränderung nur darum eine ihr ungleihartige geiftige nach ſich ziehe, weil daſſelbe Subject der Träger beider wäre, und fie würde aus der Einheit der auf fih wirkenden Subftanz die allgemeinen Geſetze, nach denen die Aenderungen der eimen dieſer Zuſtandsreihen von den Aende— rungen ber andern abhängen, um Nichts befjer entwideln können, als es unter Borausfegung einer Wechſelwirkung zweier ver: ſchiedenen Subjecte möglih wäre. Es kann fein, daß dennoch in diefer Vereinigung alles inneren und äußern Geſchehens auf daſſelbe Reale eine Wahrheit liegt, die an anderer Stelle und in anderer Verwendung wichtig wird; hier erfcheint fie un— fruchtbar. Und nit allen unfruchtbar; ſchon drängt ſich viel- mehr eine dritte Betrachtung zu, weldye uns verbieten wird, hier von ihr den Gebrauch zu machen, der uns vorgeichlagen wurde,

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ALS die entſcheidende Thatſache der Erfahrung, weldye uns nöthigt, in der Exrflärung des geiftigen Lebens an Die Stelle ber Stoffe ein überfinnliches Weſen als Träger der Erſcheinungen zu fegen, müſſen wir jene Einheit de8 Bewußtſeins bezeichnen, ohne welde die Geſammtheit unferer inneren Zuftände nicht ein- mal Gegenftand unferer Selbftbeobadhtung werden Könnte. Manche Mifverftändniffe haben fih um den einfachen Namen gehäuft, unter dem wir diefe Thatſache erwähnten, und nöthigen uns, ausführlicher das zu bezeichnen, was wir mit ihr meinen.

So lange nicht befondere Beranlafjungen und zu anderen Annahmen nöthigen, find wir gewöhnt, in jeder abgejchloffenen lebendigen Geftalt eine Seele zur vermuthen, für deren inneres Leben fie die umgebende Hülle und eine Zufammenftellung wir- fungsfähiger Werkzeuge darbietet. Das gemöhnliche Leben gibt und feine Gelegenheit zu dem Gedanken, daß außer der Seele, die unfer eigne8 Ich bildet, in unferm Körper ſich noch andere Weſen befinden, die auf gleiche Weiſe als Sammelpunkte aus und eingehender Wirkungen die Erregungen, von denen fie erreicht werden, zu einer Welt bewußter Yuftände in fich verarbeiten. Die Beobachtung aller höheren Thiere erhält ung in dieſer Ge- wohnheit oder führt doch nur durch einzelne Erfcheinungen, die der Wiſſenſchaft näher Liegen als der unbefangenen Beobadtung des Lebens, zu Zweifeln an dieſer Einheit des Bewußtſeins, welche nur eine Seele der Zahl nad in jedem lebendigen indivinuellen Gebilde vorausfegt. Die Aufmerkſamkeit auf niedere Thierklaflen erinnert ung zuerft daran, daß wir zu fehr geneigt find, dieſes thatfächlicde Verhalten als ein allgemein nothwendiges zu be= traten. Die Theilftiide des zerfchnittenen Polypen ergänzen fich nachwachſend zu vollftändigen Thieren, deren jedes völlig Die Summe pſychiſcher Fähigkeiten entwickelt, die dem urfprünglichen unverleg- ten Gefchöpfe zukam. Doc nicht jeder Schnitt, den wir beliebig führten, würde diefe Wirkung haben; die Möglichkeit ber Ver— vollftändigung jheint daran gebunden, daß in dem Theilftüd ein vielleicht unbedeutender, aber doch beftimmter Betrag innerer

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Organifation als entwidlungsfähiger Keim erhalten blieb. Nicht blos die Fünftlihe Theilung zeigt diefe merkwürdigen Erſcheinun⸗ gen; in zahlreichen Thiergattungen erfolgt die Fortpflanzung durch freiwillige Zerfällung des Körpers, deſſen Bruchſtücke zum heil noch im Zuſammenhang mit ihm, zum Theil nad ihrer Abldfung bie vollſtändige Geftalt und Organifation der Gattung ausbilden. Noch andere endlich ſehen wir ftet8 fo leben, daß an einem ge⸗ meinjchaftlihen und ununterbrocdhenen Stamme, wie bie Knospen bed Baumes, ſich einzelne Individuen entwideln, unabhängig von einander in ber Ausübung der fpärlichen Aeußerungen lebendiger Regſamkeit, die ihnen möglich find, und doch durch ihre Ber- bindung unter einander gemeinſam manden äußern Einflüffen unterworfen. Deutlich zeigen uns dieſe Thierkolonien, daß nicht überall das Körperliche Maſſengebiet, in welchem die Lebenbigfeit der einzelnen Seele fich geltend machen kann, völlig abgegrenzt ift zu einer umfchriebenen Geftalt; an einzelnen Punften einer zufammenbhängenden organiſchen Maſſe finden bier ſich mehrere jelbftändige Wejen, deren Wirkungen in dem gemeinfchaftlichen Stamme ſich freuzen mögen und nur in beſchränkter Weife jedem einzelnen einen Spielraum feiner Willkür geftatten. Was hier als beitändige Lebensform auftritt, mag in den Thieren, die durch Theilung fi fortpflanzgen, nur eben in dieſem Vorgange zu Tage fommen, während in jenen, Die durch Fünftliche Schnitte ih zu mehreren Individuen fpalten laſſen, vielleicht niemals bie Mehrheit der einzelnen Yebensfähigen Wefen, bie in den Grenzen einer und berfelben Körpergeftalt vereinigt find, Gelegenheit zu jelbftändiger Entwidlung findet, wenn nicht der Zufall oder will- kürlicher Eingriff fie ihnen verſchafft. Nicht Die Seele des Polypen würde der Schnitt getheilt haben, fondern da8 Körperliche Band, das viele vorhandene Seelen in einer Verknüpfung zufammen- hielt, welde die individuelle Ausbildung der einzelnen hinberte. Irren wir und nicht in dem Rechte, diefe Vorgänge fo anzufehen, fo Binnen wir gewiß auch nicht im Voraus beftimmen, wie weit diefe Zerftrenung vieler Seelen in die gemeinfame Körpermaſſe aud)

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in höheren Thiergattungen reichen möge. Ohne diefe Frage ent- ſcheiden zu voollen, deren Beantwortung, fo meit fie möglich ift, einer fpäteren Stelle paflender überlaffen bleibt, müffen wir bes- halb hier erwähnen, daß die Einheit des Bewußtſeins nicht diefen Sinn hat, die Zahl der Weſen zu beichränfen, die eine organiſche Geftalt beleben, und daß fie am wenigften durch Berufung auf die Erfcheinumgen, deren wir gedachten, in ihrer Geltung auf- gehoben wird. Vielmehr von jedem einzelnen jener Theilſtücke des Polypen würden wir behaupten, daß, wenn überhaupt eine Seele fein bewegendes Brincip ift, von dieſer in derſelben Be- deutung die Einheit des Bewußtſeins gelten müſſe, in welder wir fie unferer eignen Berfönlichleit zufchreiben.

Diefe Bedeutung felbft nun ſuchen wir näher zu beſtimmen. Berftändlich wird uns allerdings der Zuſammenhang unfer8 innern Lebens nur dadurch, daß wir alle feine Ereigniffe auf das eine Ich beziehen, das ebenfo ihrer gleichzeitigen Mannigfaltigfeit als ihrer zeitlihen Aufeinanderfolge unverändert zu Grunde liegt. Jeder Rüdblid auf Die Vergangenheit führt dieſes Bild des Ich al8 den zufammenhaltenden Mittelpunkt mit fih; nur als feine Zuftände oder Thätigfeiten, nicht als Ereigniffe, die frei für ſich im Leeren ſchwebten, find alle unfere Borftellungen, ımfere Gefühle und GStrebungen uns begreiflih. Aber unabläffig wird dennoch dieſe Beziehung des innern Mannigfaltigen auf die Einheit des Ih nicht von und vollzogen. Sie findet fih mit Deutlichkeit doch eben nur in dem Rüdblid, den wir auf umfer Leben mit gewiſſer Sammlung der zufammenfafjenden Aufmerkſamkeit richten. Die einzelne Empfindung dagegen in dem Augenblid, in welchem der Äußere Reiz fle erzeugt, das einzelne Gefühl, indem es aus dem nützlichen oder ſchädlichen Eingriff der Außenwelt entipringt, jelbft die Begierden und Strebungen, die eine vorübergehende Veranlaſſung oft plöglih in uns erwedt, führen dieſe Hindeutung auf die Einheit unſers Wefens, in der fie zufammengehören, mit merfbarer Stärke keineswegs allgemein mit fih. Mande Ein brüde bleiben unbewußt bei ihrer Entftehung und wir finden fie

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zuweilen wie zufällig in uns auf, nachdem ihre bewirfenden Ur- ſachen wieber verfchwunden find; andere ruhen durch Tange Zeit- räume vergeſſen in uns, und felbft die beflifiene Aufmerkjamteit, welche fie auffucht, vermag ihrer nicht habhaft zu merden; von dem mannigfadhen Inhalt, der in gleicher Zeit unfer Bewußtſein füllt, bleibt Vieles zufammenhanglos neben einander und vers ſchmilzt weder zu dem Ganzen eines und deſſelben Gedankenkreiſes, noch wird es in eine beutlihe Beziehung zu der Untbeilbarkeit unſerer Perfönlichfeit geſetzt. Diefen Sinn kann mithin die Ein- heit des Bewußtſeins, von der wir ſprechen, nicht haben, ein beftändiges Bewußtſein der Einheit unferd Weſens zu fein, und die Schlüffe bleiben untriftig für uns, die von einer folden An⸗ nahme auszugeben verſuchten.

Anderſeits Liegt jedoch in dem Thatbeftande, den wir zugaben, Teine Schwierigfeit, welche die Folgerung aus der Natur unferes Bewußtſeins auf die Einheit des feiner bemußten Weſens unmög- ih machte. Denn nicht dies ift nothwendig und unerläßlich, daß in jedem Augenblide und in Bezug auf alle feine Yuftände ein Weſen die vereinigende Wirkfamfeit auslibe, deren Möglichkeit ihm die Einheit jener Natur gewährt; der Erfolg jeder Kraft hängt an Bedingungen und kann duch ungünftige gehindert wer⸗ den, ohne daß darum die Kraft nichtig wird, durch die er unter günftigeren Bedingungen entftehen würde. Läßt die Seele Daher manche ihrer Zuftände unverbunden, und obne fidh ihrer als bloßer Zuftände ihrer eignen Subſtanz bewußt zu werben, fo ift aus diefem Thatbeſtande Tein verneinender Schluß gegen die Einheit ihre Weſens zu ziehen. Iſt Dagegen. die Ceele auch nur felten, nur in beichräntter Ausdehnung, aber doc überhaupt einmal fähig, Mannigfaltiges in die Einheit eines Bemußtjeind zufammenzuziehen, fo reicht dieſer geringe Thatbeftand hin, um den bejahenden Schluß auf die Untheilbarfeit des Weſens noth- wendig zu machen, dem dieſe Leiftung gelingen kann. Ich vertraue für den Augenblid auf die eigne Ueberredungskraft dieſes einfachen Gedankens und behalte feine Erläuterung vor; aber ich füge hier

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noch hinzu, daß ja felbft unfer Willen um den oben zugeftandenen Thatbeftand der Zuſammenhangloſigkeit mander innern Zuftände nur unter Borausfegung der Einheit des wiſſenden Weſens begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen Wahrnehmung das Verhältniß der entftehenden Empfindung zu der Einheit des Ich fih uns nicht aufprängt, Daß wir vielmehr jelbftlo8 in den empfundenen Inhalt und verlieren; aber Die Thatfache eben, daß dieſes Verhalten ftattfand, würde fpäter für und nie zum Gegenftand der Wahrnehmung und Berwunderung werden können, wenn nit die Empfindung doch fchon im Augen- bli ihrer Entftehbung der Einheit unſers Weſens angehört hätte und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft die verfpätete Aner- fennung ihrer ftet3 beftandenen Yufammengehörigfeit mit unferem Ich zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Eindrüde in dem Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine ipätere Nachbefinnung das Urtheil über ihre Beziehung zu uns nachholen, fo Liegt doch in jener anfänglichen Zerftreuung fein Grund gegen Die Einheit unferes geiftigen Weſens, in ber Möglichkeit der fpätern Zufammenfafjung dagegen ein zwingender Grund für ihre Annahme.

Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß, dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht noch ausgeſetzt fein dürfte. Denn dies iſt meine Meinung nicht, das Bemußtfein, welches wir von der Einheit unſers Weſens haben, verbürge an fi, durch das, was es jelbft ausfagt, auch die Wirklichkeit diefer Wejenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte wenigften® wiirde man dieſer Auffaffung einwerfen, daß mit faſt unwiderſtehlicher Ueberredungskraft fih im Laufe unferer inneren Entwidlung ger viele Ueberzeugungen einftellen, die trog ber fiegreihen Klarheit, mit welder fie das unbefangene Gemüth überwältigen, doch dem ſchärferen Nachdenken fich als Fehlſchlüſſe darftellen, im Widerfpruch mit den Gefeßen des Dentens, welche allein als der und unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unferen Zweifeln entzogen bleiben müſſen. So ſei auch jene Einheit des

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Ich doch nur die Geftalt, in welder unfer eignes Weſen ſich jelbft ericheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere Dinge und erfcheinend ſich darftellen, unmittelbar einen Anblid ihrer wahren Natur befigen, fo wenig müſſe unfer eignes Wefen eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil wir felbft uns fo vorkommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht dieſer Gebante zu jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen fich ſelbſt um die Fehlſchlüſſe dreben, welche fie vermeiden möchten; in der Form, in welcher er gewöhnlich geäußert wird, trifft er das nicht, was wir bier zu ermeifen wünſchen. Denn nicht darauf beruht unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir uns als foldhe Einheit ericheinen, fondern darauf, daß wir uns überhaupt erfheinen Kinnen. Wäre der Inhalt defien, als was wir uns erſchienen, ein völlig anderer, kämen wir ung felbft vielmehr als eime zufammenbanglofe Bielheit vor, fo würden wir auch daraus, aus der bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt etwie und vorkommen, auf die nothmwendige Einheit unſeres We- ſens zurüdihließen, Diesmal in vollem Widerſpruch mit dem, was unfere Selbftbeobachtung uns als unfer eignes Bild vor- bielte. Nicht darauf kommt e8 an, als was ein Weſen fich jelbft erſcheint; kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes ihm erfcheinen, jo muß es nothwenbig in eimer vollfommenen Untbeilbarkeit feiner Natur als Eines das Mannigfache des Scheines zufammenfaflen können.

Was und in diefer Frage zu verwirren pflegt, Das iſt Das etwas TLeichtfinnige Spiel, das wir fo oft und mit dem Begriffe der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Wejen entgegenzufegen, das den Schein wirft, und wir vergeflen, daß zur Möglichkeit des Scheines ein anderes Weſen hinzugedacht werden muß, das ihn flieht. Aus der verborgenen Tiefe des An- ſichſeienden bricht, wie wir meinen, die Erſcheinung als ein Glanz hervor, der da ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem er entftände, der fich ausbreitet in die Wirffichleit, gegenwärtig und faßbar für den, ber ihn ergreifen will, aber auch dann nicht

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noch Hinzu, daß ja jelbft unfer Wiffen um den oben zugeftandenen Thatbeftand der Zufammenbanglofigfeit mander innern Zuftände nur unter Borausfegung der Einheit des willenden Weſens begreiflih if. Es mag fein, daß im Augenblid der finnlichen Wahrnehmung das Berhältniß der entftehenden Empfindung zu der Einheit des Ich fih uns nicht aufbrängt, daß wir vielmehr felbftlo8 in den empfundenen Inhalt uns verlieren; aber Die Thatfache eben, daß dieſes Verhalten fattfand, wiirde fpäter für und nie zum Gegenftand der Wahrnehmung und Berwunderung werben können, wenn nicht die Empfindung doch ſchon im Augen- bli ihrer Entftehung der Einheit unfers Weſens angehört hätte und von ihr aufbewahrt wäre, um nun erft die verfpätete Aner- fennung ihrer ſtets beftandenen Yufammengehörigfeit mit unferem Ich zu erlangen. Mögen daher immerhin viele Eindrüde in dem Moment ihrer Entftehung vereinzelt bleiben, und mag erft eine fpätere Nachbefinnung das Urtheil über ihre Beziehung zu und nachholen, fo Tiegt Doch in jener anfänglichen Zerſtreuung fein Grund gegen die Einheit unferes geiftigen Weſens, in ber Möglichkeit der fpätern Zufammenfaffung dagegen ein zwingender Grund für ihre Annahme.

Ich entferne endlich ausdrücklich ein letztes Mißverſtändniß, dem der Gedankengang der vorigen Bemerkungen doch vielleicht noch ausgejegt fein dürfte. Denn dies ift meine Meinung nicht, das Bewußtſein, welches wir von der Einheit unjers Weſens haben, verbürge an fi, durch das, mas es felbft ausfagt, auch Die Wirklichkeit diefer Wefenseinheit. Gewiß mit ſcheinbarem Rechte wenigftens wiirde man dieſer Auffafiung einwerfen, daß mit faft unwiberftehlicher Ueberredungskraft fi im Laufe unferer inneren Entwidlung gar viele Weberzeugungen einftellen, Die troß ber fiegreihen Klarheit, mit welcher fie das unbefangene Gemüth überwältigen, doch dem fchärferen Nachdenken ſich als Fehlſchlüſſe darftellen, im Widerſpruch mit den Gejeten des Denkens, welche allein als der uns unvermeidliche Maßſtab aller Wahrheit unferen Zweifeln entzogen bleiben müſſen. So fei auch jene Einheit des

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Ich doch nur die Geftalt, in welcher unfer eignes Weſen ſich jelbft ericheint, und fo wenig wir an der Art, in welcher andere Dinge uns erfcheinend ſich darftellen, unmittelbar einen Anblid ihrer wahren Natur befigen, jo wenig müſſe unfer eignes Weſen eine untheilbare Einheit deshalb fein, weil mir felbft uns fo vorkommen. Ich will nicht unterfuchen, ob nicht dieſer Gedanke zu jenen Uebergenauigfeiten des Nachgrübelns gehört, die im Stillen fich ſelbſt um die Fehlſchlüſſe drehen, welche fie vermeiden möchten; in der Form, in welder er gewöhnlich geäußert wird, trifft er das nicht, was wir bier zu erweilen wünſchen. Denn nit darauf beruht unfer Glaube an die Einheit der Seele, daß wir und als ſolche Einheit erſcheinen, ſondern darauf, daß wir ung überhaupt erſcheinen können. Wäre der Inhalt defien, als was wir umd erfchienen, ein völlig anderer, kämen wir uns felbft vielmehr als eine zuſammenhangloſe Bielheit vor, fo würden wir auch Daraus, aus der bloßen Möglichkeit, daß wir überhaupt etiwie und vorlommen, auf die nothwendige Einheit unferes We- ſens zurücichliegen, diesmal in vollem Widerfpruch mit dem, was unfere Selbftbeobachtung uns als unfer eignes Bild vor- bielte. Nicht darauf kommt es an, als was ein Wefen fich ſelbſt erſcheint; kann es überhaupt fich felbft, oder kann Anderes ihm erfchernen, jo muß es nothwendig in einer volllommenen Untheilbarkeit feiner Natur als Eines das Mannigfache des Scheines zufammenfaflen Tönnen.

Was und in diefer Frage zu verwirren pflegt, das iſt das etwas Teichtfinnige Spiel, das wir fo oft und mit dem Begriffe der Erſcheinung erlauben. Wir begnügen uns, ihm das Weſen entgegenzufegen, das den Schein wirft, und wir vergeflen, daß zur Möglichleit des Scheine ein anderes Weſen hinzugebacht werden muß, das ihn ſieht. Aus der verborgenen Tiefe des An- fihfeienden bricht, wie wir meinen, die Erjcheinung als ein Glanz hervor, der ba ift, ehe ein Auge vorhanden ift, in welchem er entftände, der ſich ausbreitet in die Wirflichkeit, gegenwärtig und faßber für den, der ihn ergreifen will, aber aud dann nicht

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minder fortdauernd, wenn Niemand von ihm wüßte. Wir über- jehen dabei, Daß auch in dem Gebiete der finnlichen Empfindung, dem wir dieſes Bild entlehnen, der Glanz, welcher von den Ge- genftänden ausgeht, eben nur von ihnen auszugehen fcheint, und daß er felbft nur deswegen fcheinen Tann von ihnen zu fommen, weil unfere Augen dabei find, aufnehmende Werkzeuge einer wifjenden Seele, fir welde überhaupt Erfcheinungen entftehen können. Nicht um uns herum breitet ſich des Lichtes Glanz aus, fondern dieſe wie jede Erfcheinung hat Dafein nur in dem Be- wußtſein defien, für welchen fie ift. Und von diefem Bewußtſein, bon diefer Fähigkeit überhaupt, irgend etwas fich erfcheinen zu laſſen, behaupten wir, daß fie nothwendig nur der untheilbaren Einheit eines Weſens zukomme, und daß jeder Verſuch, fie einer irgendwie verbundenen Mannigfaltigkeit zuzuſchreiben, durch fein Miplingen unfere Weberzeugung von der überfinnlichen Einheit der Seele befräftigen wird.

Kaum fohiene mir diefer einfache Gedanke eines weiteren Beweiſes bebirftig, wenn nicht Doch der Verfuche, ihn zu umgeben, fo viele wären. Denn immer noch erneuert ſich zuweilen Die zuverfichtliche Behauptung, die zufanmmenfaflende Einheit des Be- wußtſeins laſſe fi als der natürliche Erfolg der Wechſelwirkung vieler Elemente und ihrer Zuftände begreifen. Verſuchen wir darum zu erörtern, wie weit Die Möglichleit dieſer Erzeugung des Einen aus der Bielheit reicht.

Die Zufammenfegung vieler räumlihen Bewegungen zu einer gemeinfamen Refultante ift immer das Vorbild gewefen, auf welches dieſe Verſuche mehr ober minder unmittelbar bie Hoffnung ihres Gelingens ftüßten. So wie hier zwei Bewegungen bon verſchiedener Richtung und Geſchwindigkeit fih zu einer dritten völlig einfachen vereinigen, in der feine Erinnerung mehr an den Unterfchieb ihrer beiden Urſprünge enthalten fei, ebenfo

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werde aus der Mannigfaltigleit geiftiger Elementarbewegungen, bie in den verſchiedenen Beftandtheilen des lebendigen Körpers borgehn, die Einheit des Bewußtſeins als refultirende Bewegung entfpringen. Aber die Ueberredungstraft diefer Analogie beruht auf einer Ungenauigfeit ihres Ausdrucks und verſchwindet gänzlich, wenn dieſe befeitigt wird. Denn nicht von zwei Bewegungen ſchlechthin fpricht jener unzweifelhafte Lehrſatz der phyſiſchen Me- chanik, Tondern nur von zwei Bewegungen, deren Ausführung von irgend welchen Kräften einem und demfelben untheilbaren Maj- jenpunfte in einem und demfelben Augenblide zugemuthet wird. Die einfache Giltigfeit des Sates hört fogleih auf und weicht einer vernwidelteren Berechnung des herauskommenden Erfolgs, ſobald wir an die Stelle jenes untheilbaren Punktes ein wie auch immer feſt verbundenes Syſtem vieler Maſſen fegen, und Die verichiebenen Bewegungen auf verjchiedene Punkte diefer vereinigten Bielheit wirken Iafjen. Und die einfache Nefultante ſelbſt, die in dem erſten günftigeren alle entiteht, ift eben fo wenig eine Bewegung Ihlehthin, deren Richtung und Geſchwindigkeit zwar gefetglich beftimmt wäre, während die Maſſe unbeſtimmt bliebe, bon der fie ausgeführt wird; fie ift natürlich nur als eine Be— wegung befjelben untheilbaren Punktes zu denken, auf welchen Die gleichzeitigen verſchiedenen Bewegungsantriebe einwirkten. Ergänzt man diefe wenigen Nebengedanfen, die in der Grundlegung ber Mechanik nie vergefien und nur in den kurzen Berufungen auf Died Grundgejeg nicht weitläuftig wiederholt werden, To überſieht man mit einem Blid die Hoffnungslofigfeit jedes Verſuchs, Die Ableitung des einen Bewußtjeind aus der Wechſelwirkung vieler Theile dur die Glaubwürdigkeit des unbeftrittenen mechaniſchen Theorems zu empfehlen. Denn eben dieſen wejentlichen Beftand- theil des Theorems pflegt jene Wbleitung zu vernadläffigen; fie Ipriht gern von dem Zufammengeben der verſchiedenen Zuſtände, die in verfchievenen Elementen ftattfinden, aber fie macht jenes untheilbare Subject nicht nambaft, in welches fie einmlnden, durch deffen Einheit fie überhaupt zur Erzeugung einer Refultante Zope 1. 4. Aufl. 12

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gendthigt werden und an welchem endlich, als fein Zuftand, dieſe Refultante eine begreifliche Wirklichfeit allein erft haben Könnte, Wie ein neues aus Nichts entftandenes Weſen ſchwebt über den Wechſelwirkungen der vielen Elemente in haltlofer Selbftändigfeit dieſes Bewußtſein, ein Bewußtſein ohne Jemand, deſſen Bewußt⸗ ſein es wäre.

Verſuchen wir nun, dieſen Mangel zu tilgen und die mög- lichen Ergebnifle feftzubalten, zu denen diefer Weg führen Tann. Nehmen wir zuerft an, jedes der vielen Elemente, deren Wechiel- wirkung wir vorausfegen, verichmelze in ſich ſelbſt die Eindrücke, Die e8 von andern erfährt, zu der Einheit eines refultirenden Endzuftandes, fo würde die Summe diefer Refultanten zwar in gewiffen Sinne fi als Gefammtzuftand der ganzen vereinigten Bielheit jener Elemente faſſen laſſen, aber doch nicht in einem Sinn, in welchem diefer Gefammtzuftand der von uns gefuchten Einheit eines Bewußtſeins ähnlich wirbe. Denn im Grunde gilt von allen Zuftänden der Thätigfeit oder des Leidens daſſelbe, was wir von dem Bewußtjein behaupten: fie können alle in ftrenger Bedeutung nur von untheilbaren Einheiten ausgefagt werden. Stellen wir uns eine Anzahl von Atomen auf irgend eine Weiſe zu einer unveränderlichen Verbindung vereinigt vor, io daß fie jedem Bewegungsantrieb nur in Gemeinſchaſt folgen können: fchreitet diefer ganze Körper gerablinig vorwärts, jo wirb feine Bewegung doch nur die Summe der völlig gleichen Be— wegungen fein, welche feine einzelnen Theile für fi ausführen. Ya felbft dies ift zu viel gefagt, daß wir von einer Summe von Bewegungen ſprechen; in Wirklichfeit geſchieht hier nur derfelbe Borgang fo vielmal, als Atome vorhanden find, die ihn er- leiden können, und diefe Vorgänge, an ſich von einander getrennt, bilden weder eine Summe noch ein Ganze. Sie werden Dazu erft unter einer von zwei Bedingungen. Laſſen wir zuerft alle einzelnen Bewegungen jener Atome fi) auf ein und bafjelbe un— theilbare Element übertragen, fo werben fie fi in dieſem aller= dings zu der Einheit eines Zuſtandes fummiren, deſſen Subject

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diefe8 Element ijt; aber hiermit wiirde zugleich die Yorm des Ereigniſſes verändert und an die Stelle einer Gefammtbemwegung Bieler nur ein Effect derjelben, die Bewegung einer Einheit getreten fein. Ohne dieſe Aenderung hat die Gefammtbewegung einer verbundenen Bielheit nur unter ber zweiten Bedingung Wirklichkeit, dann nämlich, wenn das eine Bewußtfein eines Beob- achters die Vorftellungen der vielen Einzelbemegungen, ohne fie zu verichmelgen, auf einander bezieht und ihre bleibende Vielheit Doch unter den Gedanken der Einheit zufammenfaßt. Denken wir und ferner ein anderes Syſtem von Atomen, die unter einander Ioderer verbunden und in Bewegungen von verſchiedenen Geſchwin— digfeiten und Richtungen begriffen find, fo wiirde von einer Ge— jemmtbewegung dieſes Syftems nur noch in dieſer zweiten Weife zu reden fein. Wir Könnten allerdings die Größe der verfligbaren Bewegung beftimmen, welde das ganze Syſtem nad Abzug der entgegengejeßten Wirkungen, die ſich wechſelſeitig aufheben würden, auf ein Element außer ihm zu übertragen vermag. Aber noch deutlicher ift an dieſem Beifpiel al8 an dem vorigen, baß die Einheit dieſes erzeugbaren Effecteß nicht gleichbedeutend mit ber Geſammtbewegung des Syſtemes felbft ift, denn zu diefer gehörte - ohne Zweifel auch die mannigfaltige Durcheinanderbewegung feiner Theile, die in der Einfachheit jenes Ergebniffes verſchwunden ift. Für das Ganze diefer Mannigfaltigfeit gibt e8 in der That nur einen Ort, wo e8 als Einheit wirklich ift: die zufammenfaffenbe Borftellung jenes Beobachters. In diefer allein hängt Das Ber gangene mit dem Gegenwärtigen und dem Yufünftigen zufammen, in der Wirklichkeit ift Das eine, menn das andere nicht ift; nur in diefer Vorftelung hat jede Formenſchönheit, jeder Reichthum und jede Bedeutung der Entwidlung wahrhaftes Dafein, denn nur in ihr beftehen eigentlih Die Verhältniffe des einen zum andern, auf denen dieſe Vorzüge alle beruhen; im Wirklichen arbeitet jeder einzelne Theil wie im Finftern und fieht feine Stellung zu den übrigen nicht, obgleich er die Einflüffe, die er von ihnen leidet, vielleicht in da8 Gefühl eines ihm wiberfahrenden 12*

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Zuftande8 verdichten mag. So werden alſo alle Leitungen einer verbundenen Mehrheit entweder ſtets nur eine Mehrheit gefonderter Leiftungen bleiben oder in eine nur dann wahrhaft verſchmelzen, wenn fie auf die Einheit eines Weſens, als deſſen Zuſtände, übertragen werden. Bon dem Bemwußtfein aber können wir Tagen, Daß es als Thätigfeit eines untheilbaren Weſens wohl die Durch- bringung des Mannigfadhen zu eimer Einbeit möglich made, Daß aber nie aus der Wechſelwirkung des Mannigfachen allein die Einheit eines Bewußtſeins entfpringen könne.

Von dieſen allgemeinen Erörterungen wenden wir uns noch einmal zu unſerem eigentlichen Gegenſtande zurück. In den mannig- fachen verbundenen Atomen des Körperd nehmen wir noch einmal jenes innerliche feelifche Leben an, welches die Anficht, von der wir ausgingen, aller Materie zutrauen zu müflen glaubte Möge nun ein gemeinfamer Sinnedreiz, wie vorhin ein gemeinfamer Bewegungsanftop, auf alle zugleich wirken, jo werben wir Die entftebende Empfindung doch nirgend anders als in Dem Innern jedes einzelnen Atomes fuchen Finnen. Sie wird fo oft da jein, als es untheilbare Weſen in dieſer verbundenen Menge gibt, aber dieſe vielen Empfindungen werden nirgend zu einer gemein= famen Gefammtempfindung zufammenftoßen, e8 jei denn, Daß außer ihnen allen ein bevorzugtes Weſen hinzugedacht wird, auf welches alle ihre innern Zuſtände übertragen, dann wird dieſes die Seele eines ſolchen Körpers fein. Und Iaffen wir wieder, wie vorhin verſchiedene Bewegungen, fo jet verſchiedene Empfindungen in den einzelnen Elementen dieſes Ganzen entjtehen, und nehmen wir an, daß jevem die Möglichkeit gegeben fei, feine eigne Er— regung irgendwie zur Anregung auch des anderen zu verwerthen, fo wird auch hier wohl jedes einzelne Wefen nad) feiner eigen- thümlichen Stellung zu den übrigen auf feine bejondere Weile von ihren Einflüffen leiden und Die überall her empfangenen Eindrüde in fich verfchmelzen oder verfnüpfen. Aber das neue Empfinden oder Wiflen, das aus dieſen Wechſelwirkungen entjteht, wird Doch ein Dafein immer wieder nur in den einzelnen Elementen haben,

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deren jedes in feiner Einheit die mannigfaltigen Eindrücke zur Mifhung zufammendrängt. Es war vielfach das gleihe Wiſſen vorhanden, wenn jedes Element die Einflüffe aller andern in gleicher Weife erlitt; e8 wird hier ein vielfach verſchiedenes Wiſſen entftanden jein, wenn bie nicht gleichartigen Verhältniſſe, in welchen die einzelnen zu einander ftehen, jedem von ihnen eine befondere Mifhung der Eindrüde verurfachen, die bis zu ihm reihen können. Aber feines von ihnen wird im letzteren alle die Mannigfaltigfeit aller entftandenen Zuſtaͤnde überjehen: dieſer Sefammtbetrag der Empfindung oder des Wiſſens wird als ſolcher nur für einen neuen Beobadter außerhalb vorhanden fein, ber wiederum in der Einheit feines untheilbaren Weſens die zeritreuten Thatjachen zu eimem nur ihm erfcheinenden Totalbilde ſammelt. Sp wie der Zeitgeift, die öffentliche Meinung, nicht neben und zwiſchen den perjönlichen Weſen ſchwebt, fondern ihr Dafein ſtets nur in dem Bewußtſein der Einzelnen bat, unvolllommen und nur al8 Bruchftüd in denen, die ohne Ueberblid in Die Wechfel- wirfungen verflodten find, welche fih um ihre Stellung herum entipinnen, vollflommener nur in der Anfchauung deffen, welcher die größte Menge fremder Stimmungen vergleidhend beurtbeilt, jo werden bier die verfchiedenen geiftigen Elemente, welche Diefes lebendige Syſtem zufammenfeßen, verſchiedene Anſchauungen des Ganzen entwideln, in welchem fie befaßt find; die vollkommenſte aber wird in jenem Elemente entftehen, das durch einen urfprüng- lihen Vorzug feiner Natur oder dur die Gunft feiner Stellung zu den übrigen, als beherrſchende Monade, alle Wechfelwirkungen der Theile des Ganzen am Iebbafteften in fi fammelt und am lebhafteften auf die fo ihm zu Theil gewordenen Eindrüde zurüd- zuwirken vermag.

Auf diefe Vorſtellungsweiſe führt in Wahrheit der Verſuch zurüd, die Einheit des Bewußtfeind aus der Wechſelwirkung Vieler abzuleiten. Selbft unter der Vorausſetzung jenes feelifchen Lebens aller Materie gelangen wir auf Diefem Wege zwar zu einer Aen⸗ derung, aber nicht zu einer Aufhebung des Gegenjates zwiſchen

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Leib und Seele. Denn allerdings eine qualitative Verſchiedenheit ihrer Naturen trennt beide unter dieſer VBorausfegung nicht; aber in Eins verjchmelzen fie noch weniger; immer bleibt die eine und individuelle herrſchende Seele in völliger Sonderung den gleidh- artigen aber dienenden Monaden gegenüberftehen, deren verbundene Menge den lebendigen Körper bildet. Es mag für den Augen- blick dahingeftellt bleiben, ob für die Erflärung der Erſcheinungen dieſe Auffafjung des Lebens, als einer Wechſelwirkung von Seelen und Seelen, größere Vortheile bietet, als der Gegenſatz des Geiſtes zu dem körperlichen Stoff, den wir unfern Betrachtungen zu Grund legten. Iſt die herrichenne Monade diejenige Seele, welche unfer Ich bildet, und deren innere Regungen wir zu ver- ftehen fuchen, jo bleibt wenigftens uns, den Unterfuchenden, das Innere jener andern Monaden völlig verichlofien; wir Tennen von ihnen nur die MWechfelwirkungen, durch die fie und als Materie ericheinen, und nur unter biefem Zitel und mit den Anfprüchen, die durch ihn begründet find, werden fie von ung in der Unter- ſuchung der einzelnen Vorgänge verwendet werben Können.

Nicht daraus ſchloſſen wir die Einheit der Seele, dag wir uns als Einheit ericheinen; fondern Died, daß uns überhaupt etwas erſcheinen kann, überzeugte und von der Ungetheiltheit unſers geiftigen Weſens. Ich werde vielleicht iberzeugender fein, wenn ich die unterfcheidende Natur des Bewußtſeins ausdrücklich ber- vorhebe, Die ich bisher ſtillſchweigend vorausfegte. ‘Die Vorſtellung von dem Berfchmelzen mehrerer Zuftände zu einem mittleren, von vefultivenden Kräften oder Erfolgen, die aus der Kreuzung einzelner Wirkſamkeiten entfprängen, haben nadtheilig genug auf Die Erklärung der inneren Erſcheinungen eingemwirkt; es iſt ber Mühe wertb, zu zeigen, wie ganz anders geartet die Natur des Borftellens ift, und wie völlig und auf dieſem Gebiete die ge- wohnten Betrachtungsmerfen der Naturmiffenichaften verlaffen,

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denen das Bisherige nod eine unmittelbare Anwendbarkeit zus zugeftehen ſchien.

Sehen wir in der Natur aus zwei Bewegungen bald Ruhe, bald eine dritte mittlere entftehen, in welder fie unfenntlich untergegangen find, To bietet fih uns Aehnliches im Bewußtſein nirgend® dar. Unſere Borftellungen bewahren durch alle ver: ſchiedenen Schickſale hindurch, die fie erfahren, denfelben Inhalt, den fie früher befaßen, und nie jehen wir die Bilder zweier Farben in unferer Erinnerung zu dem Gefanmtbild einer dritten aus ihnen gemiſchten, nie die Empfindungen zweier Töne zu der eines einfachen zwifchen ihnen gelegenen, niemals die VBorftellungen von Luft und Leid zu der Ruhe eines gleichgiltigen Zuftandes ſich mifchen und ausgleihen. Nur fo Lange verjchiedene der Außenwelt entipringende Reize noch innerhalb des körperlichen Nervengebietes, durch deſſen Vermittlung fie auf die Seele wirken, nad phyſiſchen Geſetzen einen Mittelzuftand erzeugen, läßt ung biefer, als einfacher Anftoß nun dem Geifte zugeführt, auch nur die einfadhe Mil: empfindung entwideln, ftatt der beiden, die wir getrennt wahrgenont- men haben würden, wenn die Reize und gefondert hätten zufommen können. So milden ſich für unfere Empfindung wohl die Farben an den Rändern, mit denen fie im Raum ſich unmittelbar berühren; aber die Bilder der Farben, die in unferer Erinnerung raumlos und ohne Scheidewand zufammen find, rinnen nicht in das ein- förmige Grau zujammen, da8 wir als Mittelergebnig erwarten müßten, wenn überhaupt das Berjchiedene in unferer Seele fich ausgleichend verfchmölzge. Aber das Bemußtfein hält im Gegen- theil das Berjchiedene auseinander in dem Augenblide ſelbſt, in welchem es feine Vereinigung verſucht; nicht in der Miſchung läßt ed die mannigfachen Eindrüde unkenntlich zu Grunde gehen, fon- dern indem e8 jedem feine urſprüngliche Färbung läßt, beivegt es fi) vergleihend zwijchen ihnen und wird ſich babei der Größe und der Art des Weberganges bewußt, durch den e8 von dem einen zum andern gelangte. In dieſer That des Beziehen und des Vergleichens, den erften Keimen alles Urtheilens, befteht das,

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was auf geiftigein Gebiet, völlig anders geartet, der Refultanten- bildung phyſiſcher Ereigniffe entſpricht; hierin Liegt zugleich Die wahre Bedeutung jener Einheit des Bewußtſeins.

Wenn zugleich ein ftärkerer und ein ſchwächerer Ton gleicher Höhe und gleichen Klanges unfer Obr treffen, jo hören wir nur denfelben Ton ftärker, nicht beide getrennt; ihre Wirkungen fallen bereit in dem Gehörnerven zufammen und die Seele Tann in dem einfachen Reize, der an fie gelangt, feinen Grund zu einer Spaltung in zwei Wahrnehmungen finden. Aber wenn beide Töne nad einander erllangen, jo daß das Sinnesorgan ihre Ein- drücke gejondert leiten konnte, jo entſteht aus ihren Borftellungen, welche die Erinnerung aufbewahrt und zu dem Zwecke der Ber- gleihung in demfelben Augenblid beide wieder insg Bewußtfein führt, nicht mehr die Vorſtellung eines dritten Tones von größe— rer Stärke, ſondern beide, obwohl ohne Scheivewand in dem un- räumlichen Auffafien gegenwärtig, bleiben als gejonderte einander gegenüber. Und entftände jener mittlere Ton, jo wiirde er nicht eine Bergleihung beider, fondern nur ein Zuwachs des zu ver gleichenden Materials fein für ein Bewußtjein, das zu vergleichen verftände. Die VBergleihung, welche wir wirklich vollziehen, be- fteht in dem Bewußtwerden der eigenthümlichen Veränderung, die unjer Zuftand erfährt, indem wir von dem einen Tone vor= ftellend zum andern übergehen, und im ihr entjteht uns ftatt eines dritten gleichen Tones ein ungleich größerer Gewinn: Die Borftellung eines intenfiven Mehr oder Minder. Roth und Gelb verichmelzen, wenn fie, jchon im Auge ſich mijchend, nur als ein- facher mittlerer Reiz unferer Seele ſich nähern; in unferer Erin- nerung bleiben die getrennt empfundenen getrennt und e8 entfteht nicht aus ihnen der Eindrud des Orange; entftände er, jo wäre auch durch ihn nur vergleichbares Material vermehrt, nicht die Bergleihung vollzogen. Sie wird vollzogen, indem wir uns ber Torm des Wechſels bewußt werden, den unfer Zuflend in dem Mebergang von Roth zu Gelb erfährt, und wir gewinnen durch fie die neue Vorftellung qualitativer Nehnlichkeit und Unähnlichkeit.

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Bergleichen wir endlich einen Eindrud mit ſich felbft, fo ift nicht das Ergebniß, daß der doppelt gedachte zu einer Verboppelung feiner einfaden Stärke führte, fondern indem wir bie Thätigfeit bes Vebergehens wahrnehmen, ohne eine Aenderung in ihrem Ergebniffe zu bemerken, erlangen wir bie VBorftellung der Gleich: heit. Wir haben feinen Grund, dieſe Beifpiele mehr zu häufen; befannt genug ift Jedem das innere Leben, um fchon hier die allgemeine Ueberzeugung zu erweden, daß alle höheren Aufgaben unferer Erfenntniß und unferer ganzen geiftigen Bildung auf derfelben Schonung beruhen, mit welcher das Bewußtſein das Mannigfaltige der Eindrüde in feiner Mannigfaltigkeit, in allen Unterfchieden feiner Färbung beftehen läßt, und daß nichts fo weit von den nothwendigen Gewohnheiten der Seele entfernt ſein fonn, als jene Bildung refultivender Mifchzuftände, mit deren Hilfe man fo oft und fo unbedacht alle Weiterentwidlung, ja jelbft alle urfprüngliche Entftehung unferer inneren Regungen er- Hören zu innen glaubt.

Diefe Thaten nun eines beziehenden und vergleichenven Wiffens wird kaum Jemand geneigt fein, noch als Handlungen eines Aggregates Mehrerer zu betrachten. So lange e8 fih nur darum handelte, daß alle Vorftellungen in demfelben Bemußtfein verfammelt find, daß alle aufeinander Wechfelmirkungen ausüben und wechjelfeitig fi} verbrängen oder hervorrufen, fo Lange konnte man fich wenigften® leidlich dariiber täufchen, daß doch auch fchon diefe Erfheinungen die Einheit ihres Trägers nothwendig machen. Man konnte das Bewußtſein als einen Raum anjehen, in welchem ſich dies mannigfaltige Spiel drängt, und dahin geftellt laſſen, woher eigentlich die Beleuchtung des Gewußtwerdens ftammt, in der e8 fich bewegt. Das thätige Element Dagegen, welches von einem zum andern libergehend, beides beftehen läßt, aber fich der Größe Art und Richtung feines Uebergehend bewußt wird, dieſes eigenthiimlichite Band zwiſchen dem Bielfachen kann unmöglich ſelbſt ein Bielfaches fein; wie alle Wirfungen überhaupt nur in ver Einheit eines untheilbaren Weſens, in der fie ſich treffen, ver-

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bunden werden, jo erfordert noch mehr dieſe beſondere Weile, Mannigfaches zu verfnüpfen, die ftrenge Einheit des Verknüpfenden. Jeder Berfuh, an ihre Stelle eine irgendwie verbundene Mehr: beit zu jegen, wiirde auch hier nur zu den Folgen zurüdführen, Die wir bereit8 erwähnten, und buch deren Wiederholung wir nit ermüden wollen.

Die Notbmendigfeit, für zwei unvergleihbare Kreife von Erſcheinungen zunächft zwei gefonderte Erflärungögründe zu ver langen, verbot uns jeden Berfuh, dus Wirkungen materieller Stoffe, jo fern fie materiell find, das innere Leben als einen jelbftverftändlihen Erfolg ableiten zu wollen. Die andere Noth- wendigfeit, Die Thatjache der Einheit des Bewußtſeins anzuerkennen und die Einfiht in die Unmöglichkeit, dieſe Einheit aus der Wechſelwirkung irgend welcher Vielheit zu erzeugen, Tieß uns auch von der Annahme eines verborgenen feelifhen Lebens in alle dem, was wir Materie nennen, feinen Bortheil für die Erklärung der einzelnen Erjeheinungen hoffen. Wir drüden daher am ein- fachiten das bisher erreichte Ergebniß in ber längft gemöhnlichen Form einer Trennung der überfinnlichen Seele von dem finnlichen Körper aus, gleichviel, worauf das Dajein oder die Ericheinung des letzteren felbft beruhen möge. Unſer Weg wird noch lang fein, und manche feiner Wendungen wird uns vielleicht neue Anfichten auch über das eröffnen, was wir jegßt nur in Diefer erwähnten Projection erbliden können. Für mißverſtändlich aber würden wir eine Sehnfuht nach Einheit halten, die ſchon hier Diefen Iharfen Gegenjaß in irgend einem Höheren zu vermitteln eilte, und in Wirklichkeit nur feine nothmwendige und deutliche Auffaffung ver- dunfeln würde. Wir leugnen nicht, daß es einen jo hohen Stanb- punft der Betrachtung geben fann, für welchen der Unterſchied des Geiftigen und Körperlichen in feinem Werthe verblaßt, oder als eine Täufhung begriffen werden kann. Aber das Gebeihen

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unferer Anfichten hängt weniger von der Erreichung dieſes Staud- punktes ab, als e8 Durch feine verfrühte Borausnahme gejchmälert wird. Auch die Kämpfe und Mühen des Lebens ericheinen einem geſammelten Weberblide zulett als eine Uebung, deren Werth nicht eigentli in der Erreihung eines Zieles Tiegt; die irdiſchen Zwecke mögen in nichtige Kleinheit zuſammenſchwinden im Ber- gleih mit der endlichen Beitimmung, die wir ahnen; bittere Gegenfäte unſeres Dafeins verlieren ihre Schärfe und Bedeutung, an dem Ewigen und Unendlichen gemejjen, auf welches unfere fehnfüchtigen Blicke fi) richten. Und doch werben wir in jenen Vebungen fortfahren, diefen beſchränkten Zielen alle Wärme unferes Gemüthes widmen, dieſe Gegenfäße empfinden und den Kampf um fie immer wieder erneuern müfjen; unfer Leben würde nicht edler werben durch die Geringſchätzung feiner Verbältniffe und des Spielraums, den es unferer firebenden Kraft darbietet. So mag auch jener Gegenjat zwiſchen körperlichem und geiftigem Dafein fein letter und unverföhnlicher fein, aber unfer gegen: wärtiges Leben fällt in eine Welt, in der er nod nicht gelöſt ift, fondern als ungelöfter allen Beziehungen unſeres Denkens und Handelns zu Grunde Tiegt. Und ebenjo wie er beftändig dem Leben unentbehrlich fein wird, ift er zunächſt wenigſtens unent- behrlich für die Wiſſenſchaft. Was uns als unvereinbar fich gibt, haben wir zuerft jedes auf fein befonderes Princip zu gründen. Kennen wir den natürlichen Wuchs und die Verzweigung jeder einzelnen der Ericheinungsgruppen, Die wir fo gefchteven haben, fo wird es fpäter möglich fein, von ihrer gemeinjamen Wurzel zu reden. Gie zu früh vereinigen wollen, würde nur heißen, ihre Ueberſicht trüben und den Werth verfälichen, den jeder Unterſchied auch dann bat, wenn er nicht unaufheblich ift.

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Zweites Kapitel.

Natur und Bermögen der Seele.

Die Mehrheit der Seelenvermögen. Wängel ihrer Annahme. Ihre Vereinbarkeit mit der Einheit ber Seele. Iinmittelbare unb erworbene Bermögen, Unmöglichkeit eineß einzigen Urvermögense. Borftelen, Fühlen und Wollen. Beftänbige Thättgkeit des ganzen Weſens der Seele. Niebere und höhere Rüdwirtungen. Veränderlichleit der Seele und ihre Grenzen. Das belannte und das unbekannte Weſen der Seele.

Nur dazu haben uns die bisher betrachteten Erſcheinungen beredhtigt, in der Seele jenes unbelannte Weſen zu ſehen, beflen ungetheilte Einheit die Mannigfaltigfeit des inneren Lebens zu- fammenhält: fie haben noch feine Aufklärung über die wejentliche Natur gegeben, mit welcher die Seele dieſe leere Form der Einheit ausfüllt und die buntfarbige Bielheit ihrer Zuſtände entwidelt. Eine vollftändigere Ueberficht der inneren Erfahrung wird gleid- wohl der einzige Weg zur Löſung auch dieſer Trage fein; wir haben keine andere Einfiht in das Weſen der Seele außer ber- jenigen, welche ung die Rückſchlüſſe von den beobachteten Thät- ſachen unſeres Bewußtſeins gewähren. So müſſen wir ihre Natur denken, wie fie jein muß, wenn fie das Toll leiden können, was wir als ihre Zuftände, und das leiſten, was wir als ihre Thätigkeiten in uns vorfinden. Bon einer Bergleihung ber inneren Ereigniſſe werden wir deshalb ausgehen müſſen; Aehn- liches zufammenftellend, Unähnliches fondernd, werden wir das Mannigfache in Gruppen jammeln, deren jede das in ſich ver- einigt, was durch die Gleichheit feines allgemeinen Gepräges zufammengehört und von Anderögeartetem fich ſcheidet. Die inneren Erſcheinungen find abweichend genug von einander, um es wahrſcheinlich zu machen, daß biefe Vergleihung, fo Yange fie feine anderen Geſichtspunkte einmifcht, mit der Auffindung mehrerer gejonberten Gruppen enbigen wird, deren eigenthimliche

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Unterſchiede auf einen gemeinfamen Ausbru gelingt. Bon den veränderlichen äußeren Bedingungen, die Thätigfeit der Seele weden, werden wir wohl jene kleineren Unterfhiede abhängig denken, welche innerhalb jedes einzelnen Kreifed die in ihm zufammengehörigen Aeußerungen trennen, ohne die allgemeinere Aehnlichkeit ihres Charakters aufzuheben. Aber für das Ganze jedes Kreifed von Erſcheinungen werden wir Doch ber Seele eine eigentbümliche Anlage zufchreiben müfjen, in der Weiſe thätig zu fein, die ſich in allen feinen befonderen Gliedern gleihmäßig als berrihend erweiſt. Wie viele auf einander nicht zurüdführbare Gruppen der Ereigniffe uns mithin die Beobachtung übrig läßt, jo viele gejchiedene Vermögen der Seele werden wir vorausfeßen müffen, aber wir werden über: zeugt bleiben, daß fie dennody nicht als eine zufammenhanglofe Mehrheit von Anlagen neben einander in ihre Natur eingeprägt find, fondern daß zwiſchen ihnen eine Verwandtſchaft ftattfindet, durch welche fie als verichievenartige Ausdrücke eines und deſſelben Weſens zu dem Ganzen ſeiner vernünftigen Entwicklung zuſam⸗ menſtimmen.

So erwuchs die bekannte Lehre von den Seelenvermögen, mit ihren erſten Keimen ſchon der gewöhnlichen Auffaſſung des täglichen Lebens angehörend. Lange als Lieblingsgegenſtand der Wiſſenſchaft gepflegt und mehrfach zu ausführlichen Lehrgebäuden entwickelt, iſt ſie allmählich in Mißachtung gerathen und kaum würde man gegenwärtig mehr in ihr ſehen wollen, als eine erſte und vorläufige Ueberſicht der Thatſachen zum Zwecke einer Unter- ſuchung, die nun erft auf fie folgen fol. Und in ber That werben wir zugeftehen müffen, daß fie für die Aufflärung ber Erſcheinungen im Einzelnen allzumenig leiftet. Es würde eine Täuſchung fein, wenn man in dem Begriffe der Seelenvermögen ein ebenfo wirkfames Mittel der Unterfuhung zu befigen glaubte, wie die Naturmwiffenfchaft ein ſolches in dem Begriffe der wirkenden Kraft gewonnen hatte. Was diefem feine Fruchtbarkeit gibt, fehlt jenem, ber dagegen völlig die Fehler wiederholt, um beven

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willen der verwandte Begriff der Lebenskraft ſich in vergeblichen Berfuhen zur Erklärung der Tebendigen Ericheinungen erſchöpft. Wo die Phnfit Gebrauch von ihrem Begriffe der Kraft madt, begnügt fie fich nicht, Diefe durch die Form und das Ausfehen ihres Erfolges zu charakterifiren; fie redet nicht von anziehenden oder abftoßenden Kräften iiberhaupt, fondern fie fügt ein Gefet hinzu, nad weldem die Größe ihrer Wirkſamkeit fich ändert, wenn genau angebbare Bedingungen, an bie fie gebunden ift, eine ebenfo beftimmt zu meſſende Beränderung ihres Werthes erfahren. Nur dadurch ift fie in den Stand gefegt, das beftunmte Ergebniß zu berechnen, welches jede Kraft unter gegebenen Ber- hältniffen Tiefern wird; nur dadurch gelingt es ihr überhaupt, an bie beftändig gleiche Wirkfamfeit derjelben Kraft die mannigfachften Erfolge zu fnüpfen, die zunächſt zwar nur ihrer Größe nad fi unterfeiden, aber in ihrem Zuſammentreffen mit anderen in gleicher Weife beftimmten Wirkungen zu einer unüberſehbaren Bielheit auch der formverſchiedenſten Ereigniffe führen. Der Be- griff der Seelenvermögen bietet dieſe Vortheile nicht. Einfeitig abgeleitet aus der allgemeinen Form, die einer Menge mannig- faltiger Vorgänge gemeinfan zufommt, bejtimmt natürlich auch rückwärts jedes derfelben nur im Allgemeinen wieder die Form, die feinen Aeußerungen zukommt. So wird ohne Zweifel das Borftelungdvermögen Borftellungen, das Gefühlsvermögen Ge- fühle erzeugen, aber es fehlt an Regeln der Beurtbeilung, Die über dieſe unnütze Gewißheit hinaus uns ſchließen Iehrten, melde Borftellung unter welchen Umftänden entftehen oder was gefchehen wird, wenn mehrere Aeußerungen befielben Vermögens zufam- mentreffen.

Ueberall freilich hat aud die Naturwiſſenſchaft die Wirkungs- gefege ihrer Kräfte nicht beftinnnen können; aber wo fie es nicht vermochte, gibt fie eben zu, für bie wirfliche Erflärung der Erſchei⸗ nungen noch nicht hinlänglich vorbereitet zu fein. Selbft in folden Fällen bietet ihr jedoch ihr Begriff der wirkenden Kraft noch Vor⸗ theile, die dem der Seelenvermögen abgehen. Die Wirkungen der

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natürlichen Kräfte find untereinander ftet8 vergleichbar; denn wie wunderfam verichieben auch die inneren Zuftände der Elemente fein möchten: die äußeren Veränderungen, in denen fie fihtbar werben innen, werben ſich zulegt immer auf Bewegungen im Raume zurüd- führen laſſen, die nur nad) Geſchwindigkeit und Richtung unterfchte- den find. Deshalb ift die Phyſik im Stande, die allgemeinen Rech⸗ nungsregeln der Mathematik auf fie anzumenden und mit Beftimmt- heit den Erfolg anzugeben, welchen das Zufammentreffen mehrerer Kräfte an demfelben Elemente hervorbringt; aus zwei einfachen geradlinigen Bewegungen fehen wir bald das Gleichgewicht der Ruhe, bald eine gleichförmige Geſchwindigkeit in mittlerer Richtung, bald beftändige Kreisläufe in gefrümmten Bahnen entfiehen. Und um diefer Vergleichbarkeit der Kräfte willen ift e8 jelbft dann, wenn ihre Geſetze nicht genau befannt find, noch immer möglich, aus der Form ihrer Wirkſamkeit wenigftens einen wahricheinlichen Weber: ihlag des Erfolges zu entnehmen, den ihr Zuſammenwirken haben wird, und beffen muthmaßlichen Werth zwiſchen beftimmte Grenzen einzufchließen. Dem gegenüber ericheinen die Seelenvermögen al8 unvergleichhar unter einander; war doch jedes von ihnen eben nur aus dem eigenthüimlichen Charakter feiner Neuerungen abgeleitet, den man verzweifelte, mit dem unterfcheidenden Gepräge der anderen auf einen gemeinfamen Geſichtspunkt zurüdzubringen. Wie Daher eine That des Vorftellungsvermögend auf das Vermögen der Ge: fühle einwirken, wie dieſes ferner Strebungen veranlaffen oder hem⸗ men werde, das errathen wir zwar ohne die Wiffenichaft Leiblich, indem wir bem Inſtinete unferer inneren Erfahrung folgen; aber in dem Begriffe diefer Vermögen Tiegt nichts, was uns befähigte, biefen Tact des richtigen Urtheils zu einer Haren wiſſenſchaftlichen Einſicht in die gegenfeitige Abhängigkeit Diefer Vorgänge zu fleigern.

Fügen wir endlich noch eines hinzu. Die Phyſik gibt mit Be- ftimmtheit die Bedingungen an, unter denen überhaupt von einer Wirkſamkeit der angenommenen $räfte die Rede fein kann. Sie unterjcheidet jene Grundfräfte, die als beſtändig der Maſſe anhaf- tend gedacht werden können, weil ihre Bedingungen beftändig reali⸗

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firt find, und die deshalb ſtets vorhanden nur noch auf einen Gegen- ftand zu warten fcheinen, an dem ihr Einfluß fihtbar werden Tann; fie ftellt ihnen jene anderen Leiftungsfähigfeiten gegeniiber, bie ein Clement nit von Anfang an befigt, fondern unter Umftänden er- wirbt, und die deshalb, jet auftretend, dann wieder verichwindend, eine wiſſenſchaftlich zu verfolgende Geſchichte ihres Entſtehens Haben. Auch hierin befindet fih die pſychologiſche Lehre im Nachtheil. Sie fonnte feines ihrer Vermögen als eine beftändig von der Seele aus⸗ geübte Thätigkeit faffen; ein Vorſtellen, das auf feinen Gegenftand, ein Gefühl, das auf feine Färbung, ein Wille, der auf fein Ziel noch wartete, erſchienen zu auffällig als widerfinnige Annahmen; man fühlte, daß fie ſämmtlich nur Leiftungen find, zu deren Aus- führung die Seele erft durch beftimmte Eindrüde angeregt und befähigt wird; eben deshalb fette man fie unter dem Namen der Bermögen den Kräften entgegen. Aber die Geſchichte ihres Zu— ftandefommens aus dem Zuſammentreffen jener Eindrüde mit der Natur der Seele hat man zu wenig verfolgt, und der Mangel dieſes Nachweiſes ließ fich nicht dadurch ausgleichen, daß man claffificirend Die verſchiedenen Vermögen nad der größeren Allgemeinheit ober Beſonderheit ihrer Aeuperungen einander über- und unterorbnete. Denn immer erichten jo Vieles gleich urfprünglih und neben ein- ander, was in Wahrheit durch die fortichreitende Bildung des Le- ben erft erworben und angelibt, fehr verſchiedene Stellen nady ein- ander in der wirflihen Entwidlung des geiftigen Xebens einnimmt. Die unbeſtimmten Borftellungen endlich von einem Schlummer und dem nachfolgenden Erwachen einzelner Vermögen waren nicht geeig- net, für die im Allgemeinen fehlende Einfiht in das Zufammen- greifen und Die gegenfeitige Unterſtützung ihrer Wirkungen zu ent- ſchädigen.

So verlor man den eigentlichen Zweck der wiſſenſchaftlichen Unterſuchung aus den Augen, die Nachforſchung nach dem urjäd- lihen Zuſammenhange, durch welchen Schritt für Schritt jedes ein- zelne Ereigniß des Seelenlebens aus feinen Borangängen entfpringt und feinerjeit8 auf Die Geftaltung des nächſten Augenblides Ein-

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flug übt. Darauf aber muß jede Wiſſenſchaft, der ihre zukünftigen Anwendungen am Herzen Liegen, bedacht fein, daß es ihr möglich werde, aus dem vorhandenen Zuftande Vergangenes und Kommen= des zu errathen. Und wo die uniiberjehbare Verwidlung der mit- wirfenden Bedingungen, wie in dem Falle des Seelenlebens, die erihöpfende Löſung diefer Aufgabe ſtets ummöglih machen wird, müfjen wir doch wenigftens nad) einer ſolchen Ueberſicht des urſäch⸗ lihen Zufammenhangs ſtreben, weldhe im Ganzen und Großen mit mehr Sicherheit, als die unbeftimmte Schägung eines natürlichen Inſtinctes gewährt, die Umrifje des Künftigen und die vergangenen Gründe der Gegenwart erkennen lehrt. Nur dieſe Kenntniß würde uns befähigen, in der Erziehung die Gegenträfte in Bewegung zu jegen, Die geeignet find, unerwünſchte Ergebnifje zum Beſſeren zu wenden. Für dieſe Aufgabe bietet Die Lehre von den Seelenver- mögen feine Löſung; fle wiederholt und eigentlich nur farbloſer und bon ferne den allgemeinen Umriß der Ericheinungen, die wir in der vollen Mannigfaltigkeit ihrer lebendigen Localfarben unmittelbar in ung beobachten, aber fe ſchweigt über die unferer Beobachtung ent- zogenen Ereignifje, die dieſes mannigfache Spiel eben jo ungefeben hervorbringen, wie die unwahrnehmbaren Schwingungen des Aethers die Welt des ſinnlichen Lichts und ſeiner wunderbaren Brechungen.

Nun könnte man geneigt ſein, dieſe Mangelhaftigkeit nicht dem Grundgedanken, ſondern der noch unfertigen Ausführung der Lehre zuzurechnen. Vielleicht, nachdem ſorgfältige Beobachtung von den urſprünglichen Vermögen der Seele diejenigen abgetrennt haben wird, die augenſcheinlich nur im Verlaufe der Bildung erworbene Fähigkeiten find, gelangt fie noch dazu, für jene Uranlagen die Geſetze ihrer Wirkfamfeit und ihres wechfelfeitigen Einflufjes zu entveden. Aber ehe wir diefer Hoffnung einen Schritt weiter nachgehen, müſ⸗ jen wir eines Einwurfes gedenken, ber fie kurz abzufchneiden droht.

Jede Mehrheit urfprünglicher Vermögen wiberfpreche der Ein- beit der Seele; fie zu Grunde zu legen, fei eben fo unvereinbar

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mit der nöthigen Strenge des Gedankens, als unerſprießlich für die Abſicht der Erflärung, deren Befriedigung verkürzt werbe, jo- bald man eine Mamnigfaltigleit von Leiftungen, deren Herleitung aus einer einzigen Duelle eben das Geſchäft der Wiſſenſchaft fein müßte, al8 neben einander vorhandene und einer Erläuterung ihres Urſprungs unbebürftige hinnehme. Man bat fich fo jehr gewöhnt, hierin das Entfcheidendfte zu erbliden, was gegen die Lehre von den Seelenvermögen eingemendet werden kann, daß wir falt zögern, eine entgegengefegte Anficht gelten zu machen. Geſprochen bat man bon jenen Vermögen allerdings häufig fo, als wären fie fertige, zuſammenhanglos neben einander der Seele eingeprägte Anlagen; und mit Recht ftellt man diefer unvolllommenen Schilderung bie Forderung entgegen, alle verſchiedenen Eigenfchaften eines Weſens nur als verfchiedene Ausdrüde feiner einen und ſtets fich gleichen Natur anzufehen, erft durch die Wechſelwirkung ihr abgendthigt, in melde fie mit anderen Elementen geräth. Aber im Streit mit jener nadjläffigen Redeweiſe ſchätzt man vielleicht Neuheit und Werth dieſes Einwurfes zu hoch. Daß die Körper nur farbig find im Licht, hart nur, wenn eine eindringende Gewalt ihren Widerftand weckt, flüfftg in diefer, fet in einer anderen Temperatur, das Alles find Veberlegungen, welche die gemöhnlichfte Erfahrung anregt. Leicht mußte man von ihnen aus zu der Weberzeugung gelangen, daß wenigftens die ſinnlichen Eigenihaften der Dinge nicht fefte, ihnen an fi eingeprägte Beitimmtheiten find, fondern werdende ent- ftehende und vergehende Scheine, die für uns ihre Natur unter wechſelnden Bedingungen wechſelnd annimmt. Aber weit näher Tag e8 noch, diejelbe Anficht auf Die Vermögen der Seele anzuwen⸗ den, deren Name ſchon darauf deutete, daß fie nicht als fertige Wirflichleiten, fondern eben nur als die verſchiedenen Möglichfeiten der Aeußerung gelten follten, welche der einen Natur der Seele zu Gebote ftehen, wenn fie von verfchtedenen Reizen, deren noth⸗ wendige Mitwirkung man nicht vergaß, zur Thätigfeit veranlaßt wird. Vielleicht thun wir deshalb wohl, wenn wir mandes in diefer Frage begangene Ungefchid des Ausdrucks auf fi beruhen

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laſſen und es der hart angegriffenen Lehre zutrauen, baf fie na- türlich won derfelben Weberzeugung ausging, welche ihr jener Vor— wurf gegenüberftellt. Den erften Theil deffelben wenigftens ver- dient fie nit; auch fie ſah alle Vermögen als Folgen der einen Natur der Seele an, nur daß fie nicht glaubte, fie auch unter einander in ſolche Abhängigkeit bringen zu müffen, daß aus einem einzigen alle iibrigen hervorwüchſen. Ob fie nun darin Recht ge= habt, und ob fie nicht die Anfprüche der Wiffenichaft verkürzt hat, indem fie fih zu früh mit der Annahme urfprünglicher Anlagen begnügte und ihre wirflihe Zurückführung auf einen Quell ver: fäumte, dies ift ein anderer noch zu enticheidender Zweifel. Aber andy über dieſen zweiten Theil des erwähnten Vorwurfes Finnen wir eine jet weit verbreitete Meinung nicht völlig theilen. Gewiß kann unſere Wiſſenſchaft nicht weiter gehen, als bie Mittel unſerer Erkenntniß reichen, und ſie muß das als eine Reihe gegebener Thatſachen hinnehmen, was ſie in Wahrheit aus einem einzigen Grunde abzuleiten nicht vermag. Hierin um jeden Preis zu Ende kommen zu wollen, führt nur in die Verſuchung, von dem Gehalte des Thatſächlichen unbewußt etwas abzubrechen, um den bequemeren Reſt leichter zu erflären. Auch in dieſer pſychologiſchen Trage Tiegt eine ſolche Berfuchung nahe. Jene Forderung, welche alle Aeußerungen eines Weſens nur als verfchievene Folgen feiner einen Natur anzufehen befiehlt, erfennen wir al8 wohlberedhtigt an, aber wir find nicht im Stande, ihr durch die wirfliche Aus- führung in der Wiſſenſchaft Genüge zu leiſten. Aus wenigen Orten, die ein Komet zu verfchiedenen Zeiten am Himmel einnahm, fchlie- Ben wir auf die Bahn, die er ferner verfolgen muß; die Geſetze der himmlischen Bewegungen erlauben ihm nicht, Diefe Orte ein- zunehmen, ohne in nothmwenbiger Folge davon ſpäter auch Die anderen zu durchlaufen, die mit ihnen zu einer gefeglich beftimmten Krüm— mung zufammengehören. Eine gleiche Folgerichtigfeit fegen wir aud) in dem Weſen der Seele voraus. Aeußert ihre Natur ſich gegen den einen Reiz auf eine beftimmte Weife, fo ift num auch die andere

Aeußerung, mit der fie einem zweiten antworten wird, nicht mehr 13*

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unbeftimmt oder ihrer Wahl überlafien; der eine Schritt entſcheidet auch über alle übrigen, und welcherlei Eindrüde ber verjchiebenften Art fie betreffen mögen, ihr Benehmen gegen jeden berfelben ift bedingt durch das, welches fie gegen den einen beobachtete. So wer⸗ den auch in ihr die mannigfachen Rückwirkungen, melde ihr ver: [chtedenartige Anregungen abgewinnen, nicht beziehungslos unter einander fein, fondern zu dem Ganzen einer in folgerichtiger Viel⸗ feitigfeit fih ausbrüdenden Natur zufammenftimmen. Aber dieſe Annahme, die wir bier jo unvermeidlich finden, wie dort, ift hier nicht ebenfo fruchtbar, wie dort. Für den Kometen kennen wir Die Gefege der Anziehung und der Beharrung als das verfnüpfende Band, welches alle Theile feiner Laufbahn unter einander in einen nachmeisbaren Zuſammenhang fett; für die Seele würden wir ein ungleich tiefer liegendes Geſetz bedürfen, welches uns verſchiedene, ihrer Form nach nicht vergleichbare Thätigleiten dennoch als Glie- der einer und derſelben Entwidlungsreihe begreifen lehrte. Wir müßten fagen können, warum ein Wefen, das auf Beranlafjung der Aetherwellen Licht und Farben fteht, nothwendig Töne hören müffe, wenn Luftſchwingungen auf feine Sinnesorgane wirken, ober warum feine Natur, wenn fie unter gemwifjen Eindrücken anfchauliche aber gleichgiltige Wahrnehmungen erzeugt, folgerichtig in Gefühle der Luft und Unluft unter dem Einfluß anderer ausbrechen müfle. Kaum dürfen wir ausdrüdlic erwähnen, daß diefe außerorbentliche Aufgabe nie gelöft worden ift, und daß wir nirgends eine Ausficht auf ihre mögliche Löſung ſehen; jede Piychologie wird Die Ueber- zeugung theilen, daß diefe ununterbrodene Folgerichtigleit in der Natur der Seele ftattfindet, aber feine wird ihr Geſetz auszufprechen wiſſen. ALS Leitender Geſichtspunkt, der die Verknüpfung und die Führung unferer Unterfuhungen im Allgemeinen beberricht, wird daher jene Forderung nad folder Einheit der Seele ftet8 gelten können, aber in der Ausführung unferer Erklärungen müfjen wir und begnügen, verſchiedene Aeußerungsweiſen der Seele als ge- gebene Thatfachen binzunehmen.

In der That haben Die Verſuche, die der Lehre von den Ber-

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mögen gegenübergeftellt worden find, mit der Anerkennung einer folden Mannigfaltigfeit geendigt. Aber fie haben unterſchieden zwi⸗ ſchen ber Bielheit diefer einfachen, gleich urſprünglichen Thätig- feiten, die nicht aus einander, fondern nur gemeinfam aus der Natur der Seele hervorgehen, und zwifchen jenen höheren Wirk- ſamkeiten, die nicht gleich urfprüngliche Beſitzthümer derſelben bil- den, jondern eben aus den Berfettungen jener einfachen Zuftände entipringen, und um beren Erklärung man die Wiflenfchaft ver- kürze, wenn man fie unmittelbar auf eigne ihnen gewidmete Ver⸗ mögen zurüdführe. Gegen diefen Vorwurf fih in allen Fällen zu rechtfertigen, wird der Xehre von den Seelenvermögen nicht gelingen. Sehen wir zum Beifpiel unter diefen auch Urtheilsfraft und Ein- bildungsfraft neben anderen aufgeführt, fo werben wir ohne Be- denfen zugeben, daß diefe beiden nicht zu dem angebornen Befit der Seele gehören, jondern Fertigkeiten find, die fi durch Die Bildung des Lebens, die eine langjam, Die andere fchnell, ent- wideln. Wir werden zugleich zugeftehen, daß zur Erflärung ihrer Entſtehung nicht als die Geſetze des BVorftellungslaufes nöthig find, nad denen jede erworbene Wahrnehmung im Gebädhtnif bebarren, und nachdem fie dem Bewußtfein verſchwunden ift, durch Erneuerung anderer, mit denen fie früher verbunden war, der Er- innerung wiedergegeben werden kann. In der Seele, bevor fie Erfahrungen gemacht bat, werden wir die Fähigkeit nicht juchen, Aehnlichkeiten und Unterfchieve der ankommenden Eindrüde mit Leichtigfeit und Schärfe aufzufafien und jeden fofort unter die all- gemeinen Geſichtspunkte unterzuoronen, die feinem Inhalte entipre- den. Aber jede im Gedächtniß feftgehaltene Wahrnehmung, durch eine nene ähnliche wiedererweckt, führt auch Die anderen mit ihr ver⸗ bundenen in das Bewußtſein zurüd, die dem neuen Eindrud fremd find, und fo fordert ſie auf zu fondernden und verbindenden Verglei- Hungen. Jede Wiederholung diefer einfachen Vorfälle vermehrt bie Anzahl der Gefihtspuntte, deren Erinnerung fpäter neuen Beobach⸗ tungen entgegenfommt und ihre Einordnung in den Kreis ver- wandten Inhaltes begünftigt.. So entwidelt fih allmählich und

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wachſend die Sicherheit des Urtheild, indem Schritt für Schritt jede neu erworbene Erfenntniß zu dem Stamme von Einſicht ge⸗ ſchlagen wird, durch deffen zunehmende Verzweigung die anfangs ſchwierige und oft fruchtloſe Arbeit zulegt mit der Leichtigfeit eines ſcheinbar angeborenen Vermögens erfolgt. Noch weniger möchten wir von einer urſprünglich fertigen Fähigkeit die Leiftungen der Einbildungskraft abhängig machen, Leiftungen von jo buntfarbig verjchiedenem Anſehen, daß zu ihrer Ausführung weit weniger die Volgerichtigkeit einer einzigen an ein beftändiges Wirkungsgefet ge- bundenen Kraft, als vielmehr eine allgemeine Ungebundenheit der Kräfte förderlich ſcheinen könnte. In der That freilich Liegt der Grund diefer Fähigkeit nicht in einer ſolchen Geſetzloſigkeit, aber doch darin, daß nicht eine befondere Kraft ihre Erfolge vermittelt. Eine glüdlihe Mannigfaltigleit der gemachten Erfahrungen bat dem Borftellungslauf einen hinlänglicden Reichthum von Eindrük⸗ fen zugeführt, mit denen er ſchalten Tann; günftige andere Umftände, der Eörperlichen Bildung und dem geiftigen Naturell angehörig, vereinigen fich zugleich, um feinem Spiele alle jene Beweglichkeit zu laſſen, mit welder er von felbft die mannigfadhften Verbin⸗ dungen ber Borftellungen erzeugt, Verwandtes einander anklingen läßt, Entgegengefegtes contraftirt und angefangene Gedanfenreihen fortfeßt. So haben dieſe beiden Vermögen ihre Gefchichte, wir innen ihre Ausbildung durch die wachſende Erfahrung, ihre Ver⸗ fümmerung durch ärmlichen Inhalt dev Eindrüde, ihre Mißleitung durch einfeitige Füihrung des Lebens und kranfhafte Hemmungen verfolgen, und zur Erflärung dieſer Ereignifje bebürfen wir nicht der Annahme bejonderer Anlagen, die diefen Leiftungen gewidmet wären. Beide fegen zur Durchführung ihrer Verrichtungen bie Thätigleit anderer Vermögen voraus; aber ihre eignen Arbeiten laſſen fi aus biefen auch vollftändig begreifen.

Läßt ſich num dieſelbe Betrachtung weiter fortfegen, jo daß zu⸗ legt nur eine einzige wrfprüngliche Aeußerungsweiſe der Seele zu⸗

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rüdbliebe, aus deren gemeinfamer Wurzel die übrigen ſcheinbaren Bermögen hervorwüchſen? Sind diefe vielleicht den Blättern Blü⸗ then und Yrüchten ähnlich, die ſämmtlich Erzeugniffe derfelben Trieb- kraft, ihre abweichenden Formen theils der Verſchiedenheit der äuße⸗ ven Reize verdanken, theils der Gunft der Umftände, die dem höheren Erzeugniß geftattet, die Bollendung des nächftniedrigeren zu feinem Ausgangspunkt zu nehmen? Diefe Frage bat die frühere Pſycho⸗ Iogie verneint; fie hat vor Allem geglaubt, daß Gefühl und Wille eigenthilmliche Elemente enthalten, welche weder aus der Natur des Borftellens fließen, noch aus dem allgemeinen Charakter des Be- wußtſeins, an dem beide mit dieſem zugleich Theil haben; dem Ver⸗ mögen des Vorſtellens wurden fie Deshalb als zwei ebenfo urfprüng- liche Fähigkeiten zugefellt, und neuere Auffafjungen fcheinen nicht glüädiih in der Widerlegung der Gründe, die zu dieſer Dreiheit der Urvermögen veranlaßten. Zwar nicht das können wir behaup- ten wollen, Daß Borftellen, Gefühl und Wille als drei unabhängige Entwidlungsreihen mit geſchiedenen Wurzeln entipringend ſich in ben Boden der Seele theilen, und, jede für ſich fortmachlend, nur mit ihren legten Berzweigungen fi) zu mannigfadhen Wechfel- wirkungen berühren. Yu dentlic zeigt die Beobachtung, daß mei- ſtens Ereigniffe des Vorftellungslaufes die Anknüpfungspunkte der Gefühle find und daR aus diefen, aus Luft und Unluft, fic begehrende und abſtoßende Strebungen entwideln. Aber dieſe offen vorliegende Abhängigkeit entfcheidet Doch nicht darüber, ob bier das borangehende Ereigniß in der That als die volle und hinreichende bewirfende Urſache aus eigner Kraft das nachfolgende erzeugt, oder ob e8 nur als veranlafiende Gelegenheit dieſes nach fich zieht, indem es zum Theil mit der fremden Kraft einer unferer Beobach- tung entgebenden, im Stillen mithelfenden Bedingung wirkfam if. Die genauere Zergliederung bes gegebenen Thatbeſtandes muß diefen Zweifel befeitigen., Wo es ums gelingt, in dem Ge- gebenen Punkt für Punkt alle Keime und Beitandtbeile des Künf- tigen zu finden und dieſe Keime zugleich in ihm in einer Bewe- gung anzutreffen, aus deren Fortſetzung von ſelbſt Die neue Geftalt

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des fpäteren Erfolges fih herausbilden muß, da werben wir das Frühere als die genügende Urſache deſſelben betrachten bitrfen. Wo der Erfolg dagegen einen Reſt zeigt, der nicht aus den bebingen- ben Umftänden ſich erzeugen läßt, fondern fremd zu ihnen hinzutritt, da werben wir fchließen, Daß jene Umſtände allein nicht den vollftän- Digen Grund der fpäteren Erſcheinung enthielten, fondern daß um- beobachtet von und eine außer ihnen liegende Bedingung, bie wir nun auffuchen müfjen, zu ihrer Ergänzung binzugetreten war. Die Vergleihung jener geiftigen Erſcheinungen nöthigt ung, wenn ir nicht irren, zu dieſer letzteren Annahme. Betrachten wir Die Seele nur als vorftellendes Wefen, jo werben wir in feiner nod fo eigenthümlichen Lage, in welde fie duch die Ausübung dieſer Thätigfeit geriethe, einen binlänglichen Grund entbeden, ber fie nöthigte, nun aus dieſer Weife ihres Aenßerns hinauszugehen und Gefühle der Luft und Unluft in fi zu entwideln. Allerdings kann e8 fcheinen, als verftände im Gegentbeil nichts To ſehr ſich von jelbft, al8 daß unverſöhnte Gegenjäge zwiſchen mannigfachen Borftellungen, deren Widerftreit der Seele Gewalt anthut, ihr Unluft erregen und daß aus diefer ein Streben nad heilender Berbefjerung entipringen müſſe. Aber nur uns fcheint dies fo, die wir eben mehr als vorftellende Weſen find; nicht von felbft verſteht fi) die Nothwendigkeit jener Aufeinanderfolge, ſondern fie verfteht fi) aus dem allgemeinen Herfommen unferer inne- ven Erfahrung, Die uns Längft an ihre thatfächliche Unvermeid- lichfeit gewöhnt hat. Dieſe allein läßt uns darüber hinmwegfehen, daß in Wahrheit hier zwifchen jedem vorangehenden und dem folgen- ben Gliede der Reihe eine Lücke ift, die wir nur durch Hinzunahme einer noch unbeobachteten Bebingung ausfüllen Können. Sehen wir ab von dieſer Erfahrung, fo wide bie blos vorftellende Seele feinen Grund in fi finden, eine innere Veränderung, wäre fie ſelbſt gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Dafeins, anders als mit ber gleichgiltigen Schärfe der Beobachtung anfzufafien, mit ber fie jeden anderen Widerſtreit von Kräften betrachten würde; entftände ferner aus anderen Quellen doch neben ber Wahrneh-

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mung noch ein Gefühl, fo wiirde wieder die blos fühlende Seele Telbft in dem höchſten Schmerze weder Gund noch Befähigung in fidh finden, zu einem Streben nad Veränderung überzugehen; fe wiirde leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht jo ift, und damit es anders fein Hinne, muß die Fähigkeit, Luft und Unluft zu fühlen, urfprünglid in der Seele liegen, und bie Ereignifje des Borftellungslaufes, zurückwirkend auf die Natur der ©eele, weden fie zur Aeußerung, ohne fie erft aus fi zu erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüth beherrſchen mögen, fie bringen nicht ein Streben hervor, jondern fie werden nur zu Beweggrümden für ein vorhandenes Vermögen des Wollens, das fie in der Seele vorfinden, ohne e8 ihr jemals geben zu können, wenn es ihr fehlte. Diefe Ueberzeugung würden wir keineswegs für erjegt halten durch ein Zugeſtändniß, mit dem man uns entgegentommen könnte: daß ja allerdings irgend eine thatfähliche Lage des Vorftellungsverlaufes noch nicht felber das Gefühl der Luft oder Unluft oder das Streben fei, das aus ihr bervorgehe, daß aber doch eben Gefühl und Streben nichts An- deres ferien, als die Formen, unter welchen jener Thatbeſtand von dem Bewußtſein aufgefaßt werde. Wir würden vielmehr hinzufügen müfjen, Daß gerade diefe Formen der Auffaffung nicht unbedeutende Beimwerle find, deren man gelegentlich gedenken Bnnte, als fpielten fie nırr neben jenem Thatbeftand des Vorftel- lungslaufes, in dem allein das Weſen der Sache läge, nebenher; das Wefentliche Tiegt hier vielmehr eben in dieſer Art des Er- ſcheinens. Als Gefühle und Strebungen find die Gefühle und Strebungen von Werth fiir das geiftige Leben, deſſen Bedeutung nicht darin befteht, daß allerhand Bermwidlungen der Vorftellungen eintreten, die beiläufig unter jenen Formen zum Bemußtfein kom⸗ men, fondern darin, daß die Natur der Seele im Stande ift, ſich irgend etwas als Gefühl und Streben erjheinen zu laffen.

Sp würden num diefe drei Urvermögen fi als ftufenmweis höhere Anlagen darftellen, und die Aeußerung der einen die Thä- tigleit der folgenden auslöfen. Aber dies wird doch nur dann

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die Borftellung fein, die wir von ihnen erwecken wollen, wenn wir feft- halten, daß uns in dem Weſen der Seele dennoch für Eines gilt, was fir unfere Erkenntniß in dieſe Dreibeit auseinanderfällt. Nicht fo ſtückweis tritt fie felbft in ihre Aeußerungen ein, daß einer ihrer Theile erwachte und die anderen fortſchlummerten; in jeder Form ihres Wirkens ift vielmehr die ganze Seele thätig; fie läßt ſchon im Borftellen nicht nur eine Seite ihres Wefend wirken, ſondern gibt dem ganzen einen einfeitigen Ausorud, weil fie einer beftimmt- ten Anregung nicht mit allen, fondern nur mit einer beſtimmten Möglichkeit der Aeußerung antworten kann. Bergleihen wir Die Bier mit der Fünf, fo zeigt fie fih um eine Einheit Heiner, aber unaufgefordert fett fie nicht hinzu, daß fie auch Die Hälfte Der Acht und das Doppelte der Zwei fei; es bedarf neuer Vergleicdh- ungen, damit fie auch an Diefe VBerhältnifje erinnere; aber in jedem berjelben drückt ſich doch die ganze Natur der Bier aus, mur einfeitig nad) der Richtung allein, in welcher ihr Veranlaſſung gegeben war. Der kehren wir noch einmal zu einem früher gebrauchten Ber- "gleiche zurüd. Faſſen wir einen bewegten Körper in einem einzigen Punkte feiner Bahn ins Auge, fo kann Niemand jagen, mit welcher Richtung und Geſchwindigkeit er durch ihn hindurch geht, und ben- noch wirkt in ihm auch in dieſem Augenblide vollftändig die Bewegung, welche über die Fortfegung feiner Bahn im nächften entfcheidet. Beobachten wir die Seele nur in ihrem Borftellen, fo liegt in dieſem einen Element ihres Lebens für uns nicht ihre ganze Natur ausgeiprochen, aus der im nächften Augenblide ber Mebergang in Gefühl und Streben erfolgen kann; dennoch ift auch in diefem Bruchftüd ihres Entwillungsganges diefe volle Natur wirkſam vorhanden. Eime göttliche Einfiht würde nicht erft aus einem ausgedehnten Theile feiner Bahn die Bewegung eined Kör- pers erkennen, fondern fie unmittelbar in jedem untheilbaren Punkte anſchauen; fie würde eben fo in jeder einzelnen Aeußerung ber Seele ihre ganze Natur gegenwärtig fehen und die Nothmendig- feit in ihr wahrnehmen, welche unter anderen Bebingungen zu anderen Formen der Wirkfamkeit führen muß. Unferer. menfch-

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lichen Exfenntniß bleibt nichts übrig, als dieſe Fälle nach und nach zu erihöpfen und eingeben? zu fein, daß, mo wir eine Mehr- beit der Anlagen jehen, dennod in der Natur der Seele nur bie Einheit eines Weſens zu Grunde Liegt. Indeſſen haben wir doch nicht Urſache, dieſe Annahme verichiedener Vermögen Lediglich als einen Behelf für die Schwäche der menſchlichen Erkenntniß anzufehen; fie entipricht vielmehr in gewiffen Sinne dem Weſen der Sade. Auch eine göttliche Einſicht fände vielleicht in dem Begriffe des Vorſtellens allein feine Nothwendigleit, um deren willen das Gefühl aus ihm folgen müßte; fie wiirde nur in dem ganzen vernimftigen Sinne des. Seelenlebens klarer als wir den Grund fehen, der beiden Erfheinungen zufammenzufein und auf einander zu folgen gebietet, gleich der belebenden Idee eines Ge: dichtes, bie feft und mit zwingender Gewalt mannigfache Beitand- theile an einander feſſelt, deren feinet aus eigner Macht den anderen aus fi entwidelt hätte.

Bielleiht zu Lange ſchon haben wir dieſen Ueberlegungen nach: gebangen, aber fie treffen jo jehr die wejentlichften Vorftellungen, die unferen Gedanken über das Leben der Seele zu Grunde liegen, daß wir noch einen Augenblid bei der allgemeinen Anficht der inneren Ereigniffe verweilen müfjen, die als nächſte Yolge aus ihnen hervorgeht. Wir haben erwähnt, daß jede Auffaffung zuletzt mit der Anerkennung einer Vielheit auf einander nicht zurüdführ- barer Aeuferungsweifen der Seele jchließt. Eine Xehre, melcer bie Pſychologie große Fortſchritte verdankt, beſchränkt jedoch biefe Anerkennung auf jene Rücdwirkungen, melde die Seele in un- mittelbarer Wechſelwirkung mit äußeren Reizen entwidelt, auf die einfachen Empfindungen. Dieje urfprünglicften Aeußerungen, mit denen das Xeben der Seele anhebt, betrachtet auch fie als nicht zurüdführbar auf einander, und fie meint nicht, fagen zu Unnen, warum das Weſen, dem Licht und Farben ericdheinen,

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andere Eindrüde als Töne auffaffen müſſe. Alle anderen höheren Thätigfeiten Dagegen, die in der Verarbeitung und der gegenfeitigen Wechſelwirkung diefer inneren Zuſtände entftehen, ſollen zugleich auch völlig aus ihnen entftehen; nachdem Die Seele einmal jenes urfprünglide Material, die Welt der Empfindungen, aus ihrer Natur erzeugt, zieht fi ihre wirkende Thätigkeit zurück; fie über- läßt diefe Erzengniſſe ihres Thuns fich felbft und den allgemeinen Geſetzen ihrer Wechſelwirkung, ohne wieder mit ihrer vollen Natur felbft handelnd einzugreifen und den herbeigeführten Berhältniffen neue Wendungen zu geben, die nicht von felbft aus ihnen nach der Folgerichtigleit ihres mechanifhen Verlaufes hernorgingen. So ift die Seele nur noch der Schauplak für das, was zwiſchen den Empfindungen und Borftellungen gefhieht, allerdings ein ſolcher, der alles auf ihm Gefchehende mit Bewußtſein begleitet, aber ohne viel anderen Einfluß darauf auszuüben, als den Des Umfaſſens und Zufammenhaltens, womit jeder Rahmen den um— ſchloſſenen Gemälde dient. Dies ift der Punkt, dem unfere Be— trachtungsweiſe entgegen treten möchte. Nicht nur einmal, nicht nur in der Entwidlung der einfachen Empfindungen tft Die Seele in diefer ſchöpferiſchen Weile thätig; mögen dieſe erſten Erzeugnifſe immerhin einem gefeglihen Mechanismus anbeimfallen, und Der Lauf der Borftellungen feine Verknüpfungen und Trennungen, fein Bergeflen und Wiedererinnern von jelbft und ohne einen neuen Eingriff der Seele zu Stande bringen, jo ift doch damit das geiftige Leben nicht abgeſchloſſen, und die höheren Thätigkeiten, auf denen fein Werth beruht, gehen aus diefem mechaniſchen Treiben nicht won felbft hervor. Der ganze nothwendige Ab- lauf dieſer inneren Ereigniffe erzeugt nur Beranlaffungen, Die dadurch allein, daß fie auf das ſtets gegenwärtige ganze Weſen der Seele zurüdwirten, aus dieſem neue Yormen der Wirfung beroorloden, die fie für fih allein nicht erzengt hätten. Gegen jeden einzelnen ihrer inneren Zuftände befindet fi Die Seele in berfelben Lage, in welcher fie fidh gegenüber den äußeren Empfin- bungsreizen befand; auf jeden Tann fie mit einer Geftalt der

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Thätigkeit antworten, die wir nicht aus jenen Zuſtänden ableiten können, weil fie in der That nicht in ihnen allem Yiegt, die wir vielmehr an diefe Zuftände nur anknüpfen können, nachdem ung die Erfahrung gelehrt hat, daß eben diefe neue Form des Wir⸗ kens es ift, die von ihnen als Reizen einer höheren Orbnung in dem Wefen der Seele gewedt wird.

Wir wollen nicht vermeiden, denſelben Gedanken noch ein- mal fo zu wieverholen, wie ihn eine naheliegende und doch gefähr- liche Bergleihung des geiftigen Lebens mit der Entwidlung eines organiſchen Geſchöpfes anregt. Die Seele bildet fi nicht jo aus, wie die Pflanze. Die Geftalt der letteren geht aus einer An⸗ zahl mefentlich gefchiebener felbftändiger Theile hervor, die Außer: lich in beftimmter Form verbunden, nad den allgemeinen Geſetzen des Raturlaufes die fortſchreitende Geftaltung herborbringen; und auch das Leben der vollendeten Pflanze ift eine Summe von Wirkungen, die zwifchen verfchiedenen, jelbitändig bleibenden Thei- len gefchehen und, wie das Leben einer Gefellfichaft, beftimmte Formen des Verlaufs durch die Stellung und Die Thätigkeit ihrer zufanmenwirfenden Glieder annehmen. Solchen Theilen fünnen wir die einzelnen Elemente des Seelenlebens nur mit vorſichtiger Beſchränkung vergleihen; denn dieſe Elemente find nicht felbftän- dige Atome, fondern ſtets doch nur Zuſtände des einen Weſens, aus dem fie nicht beraustreten innen. Für fie gibt es Daher nicht einen gleichgiltigen Schauplag, auf defien theilnahmlojem Grund und Boden fie ungeftört ſich ihren Wechſelwirkungen über- laſſen Könnten, einzig den Geboten eine® allgemeinen Mechanis- mus unterworfen. Für ihr ſpäteres Verhalten ift vielmehr auch der Boden reizbar, auf dem fie fi bewegen; nicht nur einmal hat die Natur der Seele fie hervorgebracht und entläßt fie dann, fo wie man fih vorftellt, daß die Erde die Thiere erzeuge, um ihren freien Bewegungen künftig nur als gebuldiger Schauplag zu dienen; fie fühlt vielmehr jeden Schritt, den der Verlauf ber Borftellungen in ihr thut, und durch ihn gereizt, tritt fie hier und da wieder felbfthandelnd hervor und führt in das ſcheinbar

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fich jelbft überlaffene Getriebe derfelben neue Elemente ein, deren Grund wir vergebli in diefem allein fuchen würden. Dies ift feine Gefeglofigfeit, fondern jene Gejetlichleit von mehr verwidelter

Form, die wir früher ſchon ald einen allgemeinen mögligen Fall

bezeichneten, und von welder nur die Erfahrung ums verfichern fonnte, daß fie in der körperlichen Welt nicht in diefer Weile ftattfinde. In der Entwidlung des Organismus ift baher der Erfolg, den die Wechjelwirfung zweier Elemente haben wird, völlig beftimmt durch die allgemeinen Gefeße des Naturlaufes und die gegebenen Umftände des Augenblicks; in dem geiftigen Leben Dagegen tft zu jeden zwei Zuftänden und zu den Geſetzen, bie über ihre Wechſelwirkung gelten, die Natur dyr Segle ein beftändig vorhandenes viertes Element, das den Tonifitendek: Er- folg jo mitbedingt und umgeftaltet, wie etwa Die Berücfihligung eines widerſtehenden Mittel8 die Berechnung einer Bewegung um⸗ ändern kann, die flir einen leeren Raum gemadt worden war. Es wird allerdingd Reihen von Ereignifien in unferem Innern geben können, in deren Verlauf diefes vierte Element nicht um⸗ geftaltend eingreift, und dieſe werden in emem fortlaufenden Mechanismus fih völlig auseinander zu entwideln ſcheinen; aber nur eine genaue innere Beobachtung kann uns über die Ans: dehnungdgrenzen dieſes Verhaltens aufklären, defien Vorkommen allgemein anzunehmen wir nicht berechtigt find.

Wir verlaffen diefe Betrachtungen, aus denen einige Folge: rungen zu ziehen fpäteren Gelegenheiten aufgehoben bleibt, und wenden uns einem längft zu erwartenden Zweifel zu, der an eine

ſtillſchweigend von uns benutte VBorausfegung anknüpfen wird. Offenbar ift fir uns die Seele unter den Begriff eines reizbaren Weſens gefallen. Nicht von ſelbſt und ohne fremde Anregung ftrebt ihre Natur zur Thätigkeit oder vermag fie, fih Ziel und Richtung ihres Thuns vorzuzeichnen, fondern Eindrüde, Die von

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außen an fie gelangen, rufen fie zu Rückwirkungen auf, aus beren weiteren Wechſelwirkungen die Mannigfaltigkeit des inneren Lebens entfpringt. Der eignen Natur der Seele gehört dabei die eigen- thumliche Form der Aeußerung an, fie bleibt die Duelle bes Empfindens, der Gefühle, des Strebend; in den Reizen Tiegen nur die Beweggründe, welche die beſtimmte Reihenfolge ihrer Henferungen bebingen und ihren an ſich unentfchiedenen Yähig- feiten ihre Richtung geben. Aber wir künnen dieſe Vorftellungen nicht begen, ohne, wie es fcheint, dem Weſen ber Seele eine Beränderlichleit zuzufchreiben, die uns in Widerſpruch mit jener firengen Einheit zu bringen droht, in welde für Veränderung fein Pla fein fcheint. Wir können dieſe Folgerung nicht ab- Ich; GEWIE wird nur dann ein äußerer Reiz ein zwingender nd für die Entfaltung einer Rückwirkung fein, wenn er im Stande gewefen ift, einen wirklichen Eindrud auf Die Seele bervorzubringen, von dem" ihr Weſen etwas leidet. Nicht die bloße Drohung der Störung kann die Seele zur abwehrenben Thätigleit aufregen; denn jede Drohung, fo lange fie von dem Bedrohten nicht empfunden wird, tft nicht fiir ihm vorhanden; ſobald fie ihm merklich wird, ift fie bereits zu einer Veränderung feineg Weſens geworden. Widerſpricht e8 den Gefegen unferes Denkens, aus der ſich gleichbleibenden Einheit eines Weſens von jelbft Antriebe zu vielfäftigen Handlungen hervorgehen zu laſſen, fo ift e8 nöthig zuzugeben, daß die Seele, indem fie handelt, eine andere ift, al8 zuvor, da fie ruhte; denn nur weil fle verändert ift, kann fie der hinlängliche Grund fiir ein verändertes Ver— halten fein. :

Es wird nicht möglich fein, dieſer Forderung zu entgehen und von ber Seele die Veränderlichkeit durch denſelben Kunft- griff abzuhalten, durch welchen die Naturwiſſenſchaft die materiellen Atome als völlig ſtarre und unwandelbare Träger der derſchieden⸗ artigften Erſcheinungen auffaffen Tann. So wie fiir unfer Auge entfernte Gegenftände, im Raum zuſammenrückend, zu einem Ein- drude verfchmelgen, näher kommend fich wieder in die Vielheit

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einzelner Theile auflöfen, jo mag überhaupt der Naturlauf für uns, die Beobadhter, eine Menge fcheinbarer Veränderungen ber- beiführen, in denen doch in Wirklichleit Die äußeren Gegenftände geblieben find, was fie waren. Indem die Atome, innerlich vollkommen unmwandelbar, in wechjelnde und mannigfaltige äußere Beziehungen zu einander gerathen, ihre Lage, Entfernung, Be⸗ wegung beftändig ändern, bringen fie auf ung Eindrüde ebenfo wechlelnder Art hervor, und in ber That flarr und undurch⸗ dringlich, ſcheinen fie für unfere zuſammenfaſſende Beobachtung bald zu verfchmelzen, bald fich zu trennen, bald in ihren Eigen- ſchaften völlig andere zu werben. Allein wenn wir auf dieſe Weile die Veränderungen in der äußern Welt auf einen nur in und erzeugten Schein zurüdführen, während die Wirflichfeit nur unweſentliche Beziehungen der unwandelbaren Elemente megpiele, jo Eönnen wir doch nicht wieder auch die Entftehung dieſes Scheines in ung nur für einen Schein erflären, der einem zweiten Beobachter wohl eine Aenderung unferes Weſens einzufchliegen fcheine, ohne daß ſie wirklich in uns ftattfinde. Das beobachtende Weſen er- fährt. vielmehr wirflih eine Veränderung, nicht feiner äußeren Lage, jondern feine inneren Zuftandes, wenn es vorftellend den Wedel des Aeußeren auffaßt und von einer Borftellung zur andern übergeht. Könnte e8 daher gelingen, die VBeränberlichkeit aus der ganzen äußeren Welt zu entfernen, jo würde ſie um fo unvermeidliher an dem Weſen der Seele haften. Geben wir deshalb diefe Veränderlichleit zu und machen wir nicht den hoff- nungsloſen Verſuch, einen Kunftgriff zu entdeden, durch welchen die Eigenfhaft einer unftörbaren Unveränderlichleit verträglich würde mit der Beſtimmung eined Weſens, das zur einer inneren Entwicklung berufen if. Wir glauben nicht durch dieſes Zuge- ftändniß etwas einzubüßen, was wir im Intereſſe der Unterfuchung beibehalten müßten. Suden wir zu einem Kreife von Er- ſcheinungen ein Wejen, das ihr Träger fei, jo müſſen wir es wohl feft und felbftändig genug denken, damit es ben mannig- faltigen Ereigniffen an ſich einen baltbaren Stützpunkt biete, aber

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ihm jene unerfdjütterliche Starrheit völliger Unbeweglichkeit beizu⸗ legen, baben wir feinen Grund; wir würden dadurch feinen Be= griff vielmehr unbraudhbar machen. Indem wir einfeitig für feine Veftigfeit forgten, hätten wir es untauglich gemacht, die viel wefentlichere Beftimmung zu erfüllen, ein Mittelpunft der aus⸗ und eingehenden Wirkungen zu fein, aus denen der zu erklärende Kreis von Ereigniffen befleht. Nur Weniges werden wir Hinzu- fügen müfjen, um die Beforgnifle zu gerftreuen, die fih am biefe Borftellung einer veränderlihen Seele knüpfen möchten.

Sie ſchließt vor Allem nicht die Gefahr eines planloſen An⸗ Deröwerdens, einer beftändigen Aufeinanderfolge immer neuer Zu⸗ ftände ein, in deren Flucht alle Einheit des urfprünglichen Weſens zu Grunde ginge. Kein Ding in der Welt ift ein gleichgiltiger Traftlofer Stoff, jo daß nur äußere Eindrüde ihm feine Beichaffen- heit gäben und er jelbft nur als Das Mittel diente, durch die Härte feiner Realität dieſen wechfelnden Inhalt in der Wirklichkeit zu befeftigen, dem Halten gleich, deſſen Haltbarkeit theilnahmlos die verfhiebenften Gewänder tragen kann. Kein Ding läßt fi durch die Reihenfolge äußerer Einwirkungen jo aus einer Geftalt in die andere treiben, daß am Ende einer Anzahl von Metamor⸗ phofen in dem völlig neu gewordenen feine Erinnerung mehr an feine frühere Natur zu finden wäre. Das, was ein Weſen zu- nächſt nur von außen zu leiden fcheint, ift in Wirklichkeit Doch allemal eine Aeußerung feiner eignen thätigen Natur, nur an- geregt, aber nicht gemacht durch den fremden Anftoß. Im jedem Augenblide feines Veränderungslaufes ift Daher der gegenwärtige Zuſtand eines Weſens zugleich eine mitwirffame und vielleicht Die mächtigfte Bedingung, welche den Erfolg des nächſtlommenden Ein- brudes mitbeftimmt. Nichts hindert ung num, die urfprüngliche Natur eined Wejend mächtig genug zu denken, damit durch alle Glieder einer ausgedehnten Veränderungsreibe ihr Einfluß als der kräftigſte fortwirkt, und fie alle dadurch in einen folgerichtigen Zu⸗ fammenhang tieten, dem innere Einheit fo wenig fehlt, als der Melodie, die ſich in einer Vielheit ſich folgender un ent⸗

Loge 1. 4. Aufl.

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widelt. Ich weiß nicht , was uns antreiben könnte, bon einer Subftanz, die wechſelnden Ericheinungen zu Grunde liegt, mehr als diefe Art der Einheit mit fich felbft zu fordern; die Geele aber Teiftet dennoch mehr. Sie ift nicht allein Der Träger ihrer Zuftände, fondern fie weiß ſich auch als folden; und indem fie im Gebächtniß das früher Erlebte neben den Eimbrüden der Gegenwart aufbewahrt, bietet fie nicht allein für einen Beobachter außer ihr das Schaufpiel einer folgerichtigen Veränderungsreihe, fondern faßt in fi) felbft die verſchiedenen Entwidlungen ihres veränberlichen Weſens im eine Einheit von höherer Bedeutung zufammen, als fie je der unergiebigen Starrheit einer unflör- baren Subftanz zukommen würde.

Wir haben Hiermit nur die allgemeine Form der Borftellung angebeutet, in welcher wir dieſe Frage faflen wirrden. Eine genaue Ueberficht der wirflichen Erfcheinungen des Seelenlebens wilrde und zeigen, daß es noch lange nicht jenen großen Spielraum der Ber- änderlichtett befigt, den wir durch dieſe Borftellungsweife recht⸗ fertigen könnten. In der Natur, wie wir früber fahen, findet Feine bleibende Veränderung der Atome ftatt, Teine ſolche wenigfteng, die fich durch neue Formen der Wirkung nad außen werriethe; mit dem Aufhören der ändernden Bedingungen kehren die alten Eigenſchaften wieder. Dies iſt gewiß nicht überall jo im Seelen- leben, deſſen Entwicklungsfähigkeit vielmehr auf der Vervollkomm⸗ nung der Rüdwirkungen durch die gemöhnende Uebung beruht. Aber ein großes Gebiet finden wir doch fogleich, in welchem bie Stetigfeit des Verhaltens fich der Weile der phyſiſchen Wirkungen nähert. Alle Sinneseindrüde, jo oft fie auch bereit8 wahrgenom⸗ men fein mögen, ermwedfen Doch immer wieder dieſelben Empfin- dungen; immer bleibt das Roth roth, immer find Drud und Hitze fchmerzlich und diefelben körperlichen Bedürfniſſe erwedien ſtets wie- der diefelben Strebungen. Dies Alles fcheint ſich jo von ſelbſt zu verfiehen, daß e8 befremden mag, e8 erwähnt zu jehen. In ber That aber ift Doch jede einzelne Empfindung eine Veränderung in dem Weſen der Seele; daß ibre Natur nun die Fähigkeit be-

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fit, alle die Erſchütterungen, melde zahllofe Eindrüde ihr beftän- big zuführen, fo auszugleichen, daß fie jedem fpäteren mit derſelben Unbefangenheit entgegentommen Tann, biefe Thatfache verftehen wir zwar leicht in ihrer Zwedmäßigfeit für die Aufgaben der geiftigen Bildung, über ihr mechaniſches Zuſtandekommen, wenn wir fo fagen dürfen, begreift fi nicht von ſelbſt. Wir können dieſelbe Stetigfeit in den Gefegen bemerfen, nach denen Gebädht: niß und Erinnerung die Borftellungen feithalten, verknüpfen und wiederbringen; unverändert bleiben ferner die Verfahrungsweiſen des Verftandes in der Verfnüpfung und Beurtbeilung der gege- benen Eindrüde; überall ſehen wir, daß die unzähligen Einflüffe, welche die Seele nicht ohne innere Veränderung aufnehmen kann, doch die Beftändigfeit und Folgerichtigfeit der Kräfte nicht ftören, mit denen fie fi) bearbeitend auf dieſe Eindrüde zuriidiwendet ; nur eine größere Gewandtheit fcheint allen diefen Kräften mit

. der wachfenden Uebung zu Theil zu werben, durch welche fle mit den Derwidlungen der Gegenftände ihres Angriffd vertraut ges

worden find. So ‚wenig jehen wir alfo die Veränderung der Seele faffungslos ins Unbeftinnnte geben, fo fehr drängt fich vielmehr die beftändige formgebende Nachwirkung ihrer urfprüng- lichen Natur hervor, daß wir von ihrer Veränderung überhaupt faft nur um des logiſchen Intereſſes willen ſprechen Tonnten, das ung ihre Entwicklung nicht an den ihr widerfprechenden Be- griff innerlicher Unbewegtheit Inüpfen Tief. In Wahrheit aber, ihrer Bedeutung und ihrem Werthe nach ift Die Yolgerichtigfeit der innern Entwidlung jo groß, daß fie ftetd ums mehr das Bild beftändiger Gleichheit mit ſich felbft, als das einer fort- fchreitenden Umwandlung gewährt.

Worin aber befteht num endlich das, was in diefer Entiwid- lung fich gleich bleibt, worin jenes urfprüngliche Weſen und jenes Was der Seele, defien nähere Darftellung der Anfang dieſes Ab-

ſchnittes zu verfpresden ſchien? Wir würden a wie jedes 14*

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Wefen fih nur nad den Folgen erkennen läßt, mit denen e8 in unfere Beobachtung fällt, fo Können wir auch von der Seele nur jagen, daß fe das fei, was die Fähigfeit zu diefer Entwicklung in fih trage. Diefe Antwort wird Niemand befriedigen. Ale Vor⸗ ftellungen, alle Gedanken, Gefühle und Strebungen, würde man ung einmwenden, find nur Handlungen ber Seele, burd irgend welche Bebingungen ihr abgenöthigt; wir aber wollen wiſſen, nicht wie die Seele handle, fondern was fie an fich fein möge, um fo handeln zu können, und welches ihre urfprüngliche Natur fein müffe, um dieje Fähigkeiten in fich hegen zu können. Auf diefe verihärfte Frage Könnten wir am einfachiten zugeftehen, daß dieſes Was der Seele ung ftet8 unbelannt bleiben werde; allein wir wür- den Durch dieſes Zugeſtändniß den Schein erwecken, als ginge durch biefe Unfenntniß uns Vieles verloren, worauf unfere Unterfuchung Werth legen müßte, und als wäre und in Bezug auf die Seele eine Schwierigfeit unlösbar, die in Betreff aller anderen Ding, fih mit Leichtigkeit binwegräumen ließe.

Wie wenig zunächft das Letztere der Fall ift, Tann eine füge tige Meberlegung der Kenntnifje lehren, die wir über das Weſen natürlicher Dinge zu haben glauben. Wenn wir Hagen, daß wir die Natur der Seele nie fo zu Gefiht bekommen, wie fie an fich und abgefehen von jeder einzelnen Bedingung tft, welche ihr eine beftimmte Aeußerung entlodt, jo müflen wir dieſelbe Klage viel- mehr auf unfere Borftellungen aller Dinge ausdehnen. Wir Denken zu wiffen, was das Waffer ift und was das Quedfilber, und doch können wir feines von beiden durch beftändige Eigenfchaften kenn⸗ zeichnen, die ihm abgeſehen von allen äußeren Bedingungen zu- fommen. Beide find bei gewöhnlicher Temperatur flüffig, beide bei erhöhter gasförmig, beide bei erniedrigter feit; aber mas find fie abgefeben von aller Temperatur? Wir willen ed nicht, wir fühlen ſelbſt das Bedürfniß nicht, e8 zu wiflen, da wir einfeben, daß nie in der Welt einer von beiden Stoffen fih dem Ein- flufle diefer Bedingungen ganz entziehen kann; wir begnügen und daher, das Wafler als den Körper anzufehen, ber bei biefer

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der außerbem feine Gleichheit mit fich felbft durch bie beftän- digen Rückwirkungen beweift, die er unter gleichen Bedingungen immer gleich ausübt. Und dbaffelbe gilt von Allem, was wir finnlich beobachten. Alles nehmen wir anfänglich in einem feiner einzelnen möglichen Zuftände wahr, den wir jo lange für feine volle beftändige Natur halten, bis die Erfahrung uns lehrt, daß andere Bedingungen andere Zuftände herbeiführen. Dann verfnüpfen wir die verſchiedenen Eriheinungen unter einander als die wandel⸗ baren mehreren Formen eines und befielben Weſens, welches wir fortfahren mit demfelben Namen zu nennen, obgleich wir es nicht mehr durch eine einzige beftimmte Eigenfchaft bezeichnen, ſondern nur noch als das Unbekannte auffefjen können, das fähig ıft, in diefem Kreife von Formen ſich bin und her zu verwandeln, ohne jemals doch aus ihm herauszutreten und in Anderes überzugehen. Nichts jo Feſtes und Unmandelbares gibt es, das diefem Schid- fal fich entziehen Könnte; alle unfere Definitionen wirklicher Gegen- ftände find bupotbetifche, und fie bezeichnen unvermeidlich das Ver⸗ langte als dasjenige, was unter der einen Bedingung jo, unter einer anderen ſich anders darftellen wird. Geben wir deshalb zu, daß das Wefen der Seele unbelannt fei, jo thun wir es nur in diefem Sinne, welcher zugleich die Unmöglichkeit einjchließt, zu fagen, mie das Weſen irgend eines Dinges fein werde, wenn man jede Bedingung entfernt denkt, welche ihm Gelegenheit zu irgend einer Aeußerung gäbe. So unfagbar es ift, wie die Dinge im Binftern ausfehen, jo widerfprechend die Forderung zu wiffen, wie die Seele ift, bevor fie im irgend eine ber Lagen eintritt, innerhalb deren allein ihr Leben fich entfaltet.

Doch nichts ſcheint hierdurch gewonnen, als daß wir für die Pſychologie den Vorwurf der Unwiſſenheit mildern, indem wir ihn über Die ganze menſchliche Erkenntniß ausdehnen. Aber wenn es wahr ift, daß das Weſen der Dinge in diefem Sinne uns unbe-

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kannt ift, ift e8 dann gleich wahr, daß wir durch dieſe Unfenntniß viel verlieren, und müſſen wir in diefem Weſen, Das uns entgeht, eben das Wefentliche fuchen, welches wir nicht vermiflen möchten ? Ich glaube nicht, daß wir dieſe Frage bejahen dürfen, und in der That denten wir über fie im Leben anders, als wir in der Wiflen- haft zumeilen denken zu müſſen glauben. In der Summe der Renntniffe, in der Stimmung des Gemüthes, den Gefinnungen des Charakter8 und in der eigenthümlichen Wechſelwirkung diejer Ele⸗ mente unter einander glauben wir die volle Berfönlichleit eines An⸗ deren gegenwärtig, bat unjere Menſchenkenntniß dieſen Beftand durchdrungen, fo meinen wir nicht, daß unfere Einficht in das innerfte Weſen des Menfchen noch gewinnen wirrde durch den Nad- weis deſſen, was er urfprünglich war, ehe er im Lauf der Bildung dieſe Fülle feines inneren Dafeins gewann, oder was er jetzt noch im Grunde ift und als was er fich jett noch zeigen wide, wenn man alle dieſe Ergebniffe des früheren Lebens zugleich mit allen Bedingungen, die num noch auf ihn wirken Einnten, von ihm hin⸗ wegnähme. Wohl geben wir zu, daß dieſes geiftige Leben ſich nicht hätte entwideln Können, ohne daß eine uranfängliche noch äuße⸗ rungslofe Seele vorangegangen wäre, am fi dem Einfluffe der erwedenden Lebensbedingungen darzubieten; aber fie, die und fonft als das eigentlichjte und tieffte Weſen der Sache erjcheint, kommt und hier nur noch wie eine unentbehrliche, aber an fich ſelbſt würde⸗ Iofe Borbedingung, als ein vorauszujegendes Mittel zu dieſer Ent- widlung vor, im welcher ſelbſt erft aller Werth und alle wejentliche Bedeutung liegt. Darin ſcheint uns jegt da8 wahre Weſen zu liegen, wozu das ſich Entwidelnde geworben ift, und fo wenig wir glauben, an der entfalteten und blühenden Pflanze ein Geringeres zu befigen, al8 an dem einförmigen und geftaltlofen Keime, dem fie entiprang, jo wenig find wir bier geneigt, die BVorftellungen, Die wir mitdenfen, die Gefühle und Strebungen, die wir mit aller Wärme unferer Theilnahme begleiten und mit empfinden, als einen kärglichen Erjag für die Anſchauung des unentfalteten ur- Iprünglihen Was der Seele zu bedauern.

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Fällt es uns nun dennoch fo ſchwer, das Suchen nach dieſem Unauffindbaren ganz aufzugeben, fo rührt dies von einem andern Verlangen ber, das ſich in der Frage nach dem Wefen eines Dinges verbirgt. Nicht blos der Keim foll es fein, aus dem die Tpätere Erſcheinung ſich entfaltet, jo daß wir in ihrem Inhalt auch den fei- nigen hätten; jondern das Weſen muß zugleich das fein, mas jenen Inhalt in der Wirklichkeit befeftigt, ihn, dem an fih nur denkbaren jene harte und ſtarke Realität gibt, durch die er al8 Wirken des und Leidendes in der Welt der Dinge Plat ninmt. Das Wefen ift zugleich das Band, das mit feiner unveränderlicen Natur die ein- zelnen Erſcheinungen an ſich verſammelt, e8 möglih macht, daß unfere Vorftelungen und alle unjere inneren Zuſtände fi er- halten, dauern und zu fruchtbarer Wechſelwirkung zufammtenftoßen Knmen. So zeigt fi, daß wir in dem Wefen der Seele nicht allein den Grund für die Form und den Inhalt der inneren Entwid- lung fuchen, fondern noch mehr vielleicht die Urſache, die beiden Wirklichkeit gibt. Das ift es, was. wir wifjen wollen, wie es zu- gehe, daß dies innere Xeben fein Tann, durch welchen Zauber e8 dem fchaffenden Weltgeift gelinge, in dev Mitte dieſer wandelbaren Ereigniffe etwas Unauflösliches, Feſtes zu geftalten, das fie alle in fi hegt, an fich trägt und ihnen den Halt des Dafeins gibt, dem Gerippe ähnlich, an deſſen Starrheit die blühende Fülle der Ge- ftalt befeftigt ift. Diefe Frage natürlich ift jedem Nachdenken un- löslich; nie werden wir entdeden, wie Sein und Dafein gemacht wirb, oder was das iſt, woraus die Dinge beftehen. Aber biefe Frage wäre auch nur Dann wichtig fin ung, wenn unſere Erkennt⸗ niß die Aufgabe Hätte, Die Welt zu ſchaffen. Ihre Beftimmung ift es jebod nur, das Vorhandene aufzufafen, und gern geſteht fie fih, daß alles Sem ein Wunder ift, das ald Thatſache von ihr anerkannt, aber nie in der Weife feines Hergangs enträthjelt werden kann. Im diefem Sinne ift das Dafein aller Dinge für uns unergründlich; aber diefer Heft, den unfer Wiffen läßt, befteht nicht in dem Kerne der Dinge, fondern eher in einer Schale, nicht in dem Inhalte ihres Wefens, fondern in der Art der Segung,

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durch welche e8 befteht. Was die Dinge find, ift uns beshalb nit unverſtändlich; denn dieſen Inhalt entfalten fie in ihrem Erſcheinen; wie fie überhaupt fein und ericheinen Lönnen, ift das allen gemeinjchaftliche Räthfel.

Dritte Kapitel.

Bon dem Berlaufe der Borftellungen.

Das Beharren ber Vorſtellungen und ihr Vergeſſenwerden. Ihr gegenſeitiger Druck und die Enge bed Bewußtſeins. Die verſchiedene Stärke der Empftudungen. Klarheitsgrade der Erinnerungsbilder. Der Gegenfat ber Borftellungen. Der innere Sinn. Leitung be Borftellungslaufes durch bie Geſetze der Affectation und Reprobuction.

So wie im leiblichen Leben eine Zeit unbeobachteter Wirk: famfeit vorangeht, in der überräfchende Neubildungen und Im: geftaltungen fi drängten, während nad der Geburt kaum mehr als ein gleichförmiges ſtilles Fortwachſen Längft feitgeftellter Formen übrig bleibt, fo finden wir aud in unferer Seele die bleibenven Gewohnheiten ihres Wirkens ſchon als gegebene Thatſache vor, jobald wir zuerft mit abfichtlicher Aufmerkſamkeit ihre Entwidlung zum Gegenſtand unſeres Nachdenkens machen. Was noch vor unferen Augen gejchieht, das ſcheint uns Nichts zur fein, als eine beftändige Uebung von Kräften, bie längft gebildet find, ein immer zunehmender Anfag von Erfenntniffen, in Formen gegoffen, die aus früherer, unbewußt gebliebener Arbeit des Geiftes nım ſchon fertig ihnen entgegenfommen, eine Ausbreitung endlich unferer Gefühle und Begehrungen über den wachſenden Kreis von Beziehungspunkten, den die Erfahrung, von Tag zu Tag fih mehrend, uns für fie darbietet. In allen diefen Vorgängen liegen ohne Zweifel noch ſehr enfcheidende Gründe, welche bie eigenthiimliche Geſtalt und den Werth der höheren menſchlichen Ausbildung bedingen; aber da, wo es fih noch nicht um bie Entftehung der Humanität handelt, fondern um Natur und Ent⸗ widlung der allgemeinen Seelenfähigfeiten, aus deren befonderer

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Anwendung diefe hervorgeht, da fcheint Die innere Beobachtung ung wenig Aufichluß zu verſprechen. Das Meifte von dem, was wir wiſſen möchten, Tiegt gleich den erften großen Bildungsepochen un: jere8 Erdkörpers vor aller Erfahrung, und nur durch Vermuthun⸗ gen Können wir von den verhältnißmäßig doch immer einförmigen und befhränften Vorgängen, die unfer Inneres noch jetzt bewegen, auf die Ereignifje zuritdichliegen, durch welche Die Urzeit unſerer Geele fiir die fernere Entwicklung den feſten Boden bereitet bat.

Und noch weit mehr als die Geologie, werben mir bon diefen Schwierigkeiten gebrüdt; denn dunkel find felbft die Geſetze, nach denen das noch Geſchehende ſich in und ereignet, und mit deren Hilfe allein wir den früheren Thatbeftand errathen müßten. Unzählige Eindrüde haben ſchon früher von und Befig genommen und ihre nachwirkende Kraft übt in jedem Wugenblide auf das Schickſal jedes fpäteren einen mitbeitimmenden Einfluß, den wir faum völlig von dem trennen können, was bie ſtets gleichen all- gemeinen Geſetze des inneren Lebens für ſich allein gebieten witrden. Und es ift uns nicht möglich, gleich der Natunviffen- haft im Experiment künftlich die verfchiedenen Kräfte zu jondern, um den Beitrag zu beftimmen, den jede einzelne zu dieſem zu: fammengejegten Erfolge liefert. Denn außer Stande, unſer vergangenes Leben ungefchehen zu machen, können wir un® nie von dem dunklen, feiner Zergliederung fähigen Drude befreien, durch den es alle fpätere Gefchichte des Bewußtſeins mitbebingt; und nie tritt für und eine Gelegenheit ein, jene einfachen und elementaren Wirkungen zu beobadhten, aus denen der unendlich verwidelte Zuftand, in dem wir uns befinden, hervorgegangen fein muß. So bleibt ung faum etwas Anderes übrig, als zunächft und an bie großen umd nicht leicht zu mißdeutenden Umriffe defien zu halten, was unfere innere Erfahrung noch darbietet. Indem wir dann die allgemeinen Bermuthungen, die ſich aus dieſer Ueberficht entwideln, verfuchsmeife ſchärfer ausprägen und die größere oder geringere Viebereinftimmung ihrer Folgen ınit dem Thatbeftande der Beobachtung prüfen, Können wir fo vielleicht auf weitem Ummege

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zu einer beſtimmteren Einfiht in die Geſetze des geiftigen Lebens gelangen.

So unendlich verſchieden num dieſes Leben für jeden Einzelnen verläuft, fo bat doch der übereinſtimmende Eindrud aller Selbft- beobadytung zeitig und allgemein die Borftellung von einem Me- hanismus hervorgebracht, dem der Lauf der inneren &reigniffe vielleicht überall und fidher in großer Ausdehnung unterworfen fei, in anderen Formen zwar und nad anderen bejonderen Geſetzen, als fie der äußere Naturlauf darbietet, aber mit gleicher durch⸗ gängiger Abhängigfeit jedes einzelnen Ereigniſſes von feinen vor- angehenden Bedingungen. So deutlich indeſſen biefer pfychifche Mechanismus fih in den Erſcheinungen des Gedächtniſſes und der Wiedererinmerung, in der Abhängigleit unferer Gefühle und Strebungen von gewiflen Einbrüden zeigt, durch welche fie vegel- mäßig hervorgerufen werben; fo ſicher und mit richtigem Tact wir ſelbſt im alltäglichen Leben auf feine unbeirrte Wirkfamteit rechten, jo wenig find wir doch im Stande, die Regeln, denen er folgt, mit der Schärfe von Naturgefegen anzugeben. Denn die Schmierigfeiten der inneren Beobachtung, deren wir ſchon gedachten, werden dadurch vermehrt, daß feine allgemeine, für fi felbft gewiſſe Lehre über die nothwendigen Wechfelmwirkungen, in denen bie Zuftände jedes Weſens unter ſich ftehen müßten, uns bier aushelfend entgegenkommt. “Die meiften der Grundzüge, Die mir in dem Verhalten des geiftigen Lebens bemerken, können wir nur als thatſächliche Einrihtungen anfehen, deren Werth für die höhere Ausbildung wir zwar häufig volllommen begreifen, aber wir Können nicht nachweilen, daß gerade diefe Formen bed Be— nehmens für jedes überfinnliche Weien, das einer unbeftimmten Bielbeit äußerer Eindrüde offen fteht, die nothwendigen Folgen biefer feiner Natur fein müßten. Man fteht leicht, wie nad theilig dieſe Tage der Sachen fir die Bebürfniffe der Erflärung if. Sind wir nur auf eine Sammlung erfahrungsmäßiger That- ſachen angewieſen, fo dürfen wir nicht über das hinausgehen, was bie Erfahrung felbft uns jagt; vermöchten wir biefelben That-

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ſachen in ihrem nothwendigen Hervorgehen aus der Natur der Seele zu verfolgen, jo würden wir ihnen leicht einen ftrengeren und tieferen Ausdruck geben innen, der und den Zugang zu einer Menge jegt verfagter Yolgerungen eröffnete. Dieſe Schwie- rigleiten ift man fehr geneigt geringer zu fchägen, als fie find; duch die Erfolge der Naturwiſſenſchaft vermöhnt, pflegt man zu oft Säge, die für die Erklärung phyſiſcher Vorgänge eine unbe- frittene Geltung befigen, fir allgemeine und nothwendige Wahr- beiten anzufeben und vergigt dariiber, daß alle unbefangene Beob- achtung des inneren Lebens und durchaus andere, mit den Natur⸗ eriheinungen kaum noch vergleichbare Formen des Geſchehens und Wirkens darbietet. Ueber die Bewegung des Stoffes befigen wir eine Summe wifjenfhaftlic genauer Geſetze, über die Aeußerungen der Seele eine Anzahl empirifcher Anſchauungen, aber noch fehlt ung das Dritte und Höhere, deſſen wir bebürften: eine allgemeine Lehre, die uns die Geſetze aufiwtefe, nach denen die Zuftände ber Weſen überhaupt ſich richten, und aus welcher als zwei ver- ſchiedene Anwendungen die Wiſſenſchaft vom Naturlauf und die ‚von dem geiftigen Leben hervorgehen könnten.

Zu den einfachiten Thatſachen, in denen der piychiiche Me— chanismus fich zeigt, gehört die befannte Wahrnehmung, daß von den unzähligen Borftellungen, die wir äußeren Eindrüden ver- banken, in jedem Yugenblide nur wenige und gegenwärtig find; die meiften find dem Bewußtſein verſchwunden, ohne deshalb zu= gleich der Seele überhaupt verloren zu fein; denn ohne Erneuerung bes äußeren Einvrudes kehren die vergeflenen ber Erinnerung wieder. Man hat diefe Thatjachen fo gebeutet, daß man die ewige Fortdauer jeder einmal erregten Borftellung als das natür- licherweiſe zu erwartende Verhalten anfah; nur für das Vergeſſen⸗ werben juchte man eine Erflärung und glaubte fie leicht in dem wechſelſeitigen Drude zu finden, durch welchen die mannigfaltigen einander begegnenven Vorftellungen fi aus dem Bemwußtfein zu

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verdrängen ftreben. Aber vergeblich würden wir verfuchen, jene Unvergänglichleit der Vorftellungen als die felbftverftändliche Folge eines allgemeinen Gefeges der Beharrung darzuftellen, nad) welchem jeder einmal erregte Zuſtand eines Weſens, fich ſelbſt überlofien, fo lange fortdauern müßte, bis eine neue dazwiſchen fommende Wirkung ihn änderte oder aufhöbe. Die Analogie Der Naturwiſſenſchaft, die fich dieſes Geſetzes als eines der vorzüg⸗ Tichften Hilfsmittel in der Lehre von den Bewegungen der Körper bedient, reiht um eines nahe liegenden Unterſchiedes in der Natur beider Fälle willen nicht aus, feine Anwendbarkeit auf Die Borgänge des Seelenlebens zu fihern. Denn der Körper leidet nichts von feiner Bewegung, die für ihn nur ein äußerlicher Wechſel der Orte ift, von denen Feiner fin ihn mehr Werth bat al8 der andere, dieſem Wechfel zu widerfiehen wird mithin feine eigne Natur weder Grund noch Fähigkeit befiten. Das Bor- ftellen dagegen tft als inneres Ereigniß nothwendig zugleich fiir das Wefen, in dem es geichiebt, eine Störung feines uriprling- lichen Zuftandes; mit dem gleichen Rechte nun, wie es fcheint, mit weldem wir ein ewiges Beharren der einmal erregten Bor- ftellung erwarten, könnten wir baffelbe Gefeß auf die Natur der Seele anwenden; wir Kinnten in ihr ein Beſtreben zur Feft- haltung ihres früheren Zuftandes vermuthen, Durch welches fie jeden ihr aufgebrängten einzelnen Eindrud nad dem Aufbören der äußeren Gewalt, bie ihn erzwang, wieber zu befeitigen fuchte. Ohne in das unentfchiedene Fin und Wider einzugehen, in welches der Streit diefer Anfichten auslaufen würde, wollen wir uns ein- facher mit dem Belenntniß begnügen, daß die Tchatfachen bes Bewußtſeins die Annahme jener Yortdaner der Eindrüde nöthig machen, und der Zukunft möge der Verſuch überlaffen bleiben, dieſes thatſächliche Verhalten als die unvermeidliche Folge bes Weſens der Seele zu begreifen. Fremdartig und-als eine fonber- bare Einzelbeit tritt e8 auch für uns nicht auf; beruht doch auf diefer Feſthaltung der Eindrüde die Erfüllung des Berufes, der dem geiftigen Leben gefallen ift: zu vereinigen, was in Raum und

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Zeit beziehungslos auseinanderfällt, und dem Bergangenen einen mitwirkenden Einfluß auf die Gegenwart dur fein zurüdgeblie- benes Bild zu fihern, lange nachdem es felbit aus der Wirflich- keit des Naturlaufes ausgefchieden ift.

So wenig wir num die Beharrung der Borftellungen Teugnen, jo wenig können wir auch zögern, in dem Einfluffe, welchen fie auf einander äußern, den Grund ihrer Verdrängung aus dem Bewußt⸗ jein anzuerkennen. Aber während die Erfahrung überall zur An- nahme dieſes Einfluffes drängt, find wir fehr wenig im Stande, einen Grund für die Nothmendigfeit feines Vorkommens nachzu⸗ weifen. &8 reicht nicht bin, ſich auf Die Wefenseinheit der Seele zu berufen, welche ihren verſchiedenen Zuftänden nicht geftatte, unver- bunden und wirkungslos neben einander zu verlaufen. Denn diefe Einbeit ließe ung zunächſt nicht8 Anderes als das Beftreben erwar- ten, alle Unähnlichfeit der inneren Zuftände in einen gleihförmigen Geſammtzuſtand zu verjchmelzen. Aber wir wiſſen, daß eine folche Neigung weder in dem bewußten Vorftellungslauf vorhanden ift, denn alle Mannigfaltigfeit der Eindrücke bleibt in ihm erhalten, noch daß fie in jenen unbewußten Zuftänden vorkommen kann, in welche die verſchwindenden Borftellungen ſich verwandeln, dem fle ehren aus dieſer Vergeflenheit mit ungetrübter Schärfe der Gegenjäte wieder, die fie im Bewußtſein befaßen. Völlig würden wir uns alfo in jener Erwartung getäufcht haben, die wir auf die Einheit der Seele gründen zu Finnen glaubten, und dies Mißlingen macht und darauf aufmerffam, daß überhaupt wohl die Einheit eines Weſens im Allgemeinen zu einer Wechſelwirkung feiner verichie- denen Zuftände drängen möge, daß aber die beſtimmte Form oder der Sinn, in welchem diefe Wirkung gejchiebt, won der be- ſonderen Natur jedes einzelnen Weſens abhänge. Daß die Vor- ftellungen fi nicht zu einem Mittleren miſchen, fondern nur die Beleuchtung durch das Bewußtjein einander ftreitig machen, da⸗ von müfjen wir den Grund in dem fuchen, was die Seele zur Seele macht, oder in dem, wodurch das Bewußtſein fi von an⸗ deren Aeußerungen ihrer Thätigleit unterſcheidet.

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Ueber die Schwierigfeiten nun, weldhe die Natur des Bewußt⸗ ſeins darbietet, tröften wir uns im täglichen Leben mit fo umvoll- kommenen Borftellungen, daß wir kaum Beranlafiung hätten, auf diefe gewöhnlichen Auffaflungen zurückzukommen, wenn nicht die Auffälligfeit ihrer Mängel uns die Räthfel verdeutlichte, welche fie ungelöft laſſen. Wir betrachten wohl das Bewußtfein als einen Raum von begrenzter Weite, in welchem die Eindrüde fi ibre Pläge ftreitig machen; wir kümmern und wenig dabei um den Grund, welcher der Ausdehnung diefe8 Raumes Schranken zieht, und ebenfo wenig um die Urfache, welche die Eindrüde veranlaßt, in ihn einzubringen; indem wir endlich an dem Bilde Körperlicher Geftalten hängen, deren jede freilich durch ihre Undurchdringlichkeit der andern den Plat entzieht, den fie felbft einnimmt, finden wir e8 felbitverftändlich, daß in dem begrenzten Raume des Be- wußtſeins auch nur eine endliche Menge der Borftellungen neben- einander fein inne. So haben wir lediglich unter dem Schute eines ganz unberechtigten Bildes den Gebanten an eine Unver- träglichfeit der Vorftellungen untereinander und an die Nothwen⸗ digkeit eines Drudes, den fie gegenfeitig ausüben, nebenher er- lichen. Oder wir Iprechen von dem Bewußtſein wie von einem Lichte von vielleicht veränderlicher, aber Doch immer nur enblicher Stärke der Helligkeit, und finden e8 dann natirlih, daß fein Borrath von Erleuchtungskraft fi über die vorhandene Menge ber Eindrücke vertbeile, durch Zerftreuung auf eine größere Biel- heit ſich abſchwächend, durch Einſchränkung auf Weniges ſich deut- licher fammelnd. Und bei diefer Vergleihung verläßt uns fogar das Bild, dem wir folgen wollten. Denn jebed Licht, rundum fi verbreitend, erleuchtet das Viele nicht ſchwächer als Das Wenige, und man fieht nicht feine Strahlen von dem Punlte, wo fie nichtS zu beleuchten fanden, in frummlinigen Bahnen um— ſchwenken, um ſich gefammelter auf die geringere Anzahl vorhan⸗ dener Gegenftände zu merfen. Nur dann werden die vielen ſchwächer beleuchtet, wenn fie einander deckend ſich das Licht ent- zieben, und gerade die war es, was zu erflären war, wie es

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geihehen könne, daß zwiſchen den Vorftellungen Verhältniffe ein- treten, in denen die eine der andern die Möglichfeit des Gewußt⸗ werdens entziehe. Und nur wenig würden wir gewinnen, wenn wir, dieſe räumlichen Gleichniffe verlaffenn, das Bewußtſein über⸗ haupt als eine erichöpfbare Kraft bezeichneten, die nur einen be- grenzten Aufwand von Thätigkeit machen könne. ‘Denn immer wirde der Grund dafür mangeln, daß einzelne Borftellungen allein von ihr Tebendig erfaßt, andere ganz fallen gelafien werben; wir würden nicht wiflen, warum ftatt einer Dämmerung, bie mit immer abnehmender Helligfeit fich über eine ſtets anwachſende Zahl der Eindrüde verbreitete, diefer Wechſel voller Beleuchtung und völligen Dunkels eintreten müßte, in welchem die Vorftel- lungen auftauchen und wieder verſchwinden.

Doch auch fir diefe Frage bat unfere gemöhnlicde Meinung eine Antwort, die etwas tiefer eingehend auch uns zu weiterem Eingehen nöthigt. Bon allen jenen Reizen, welche ber Seele bon außen zukommen, läßt man in ihr zunächſt Eindrücke ent⸗ ftehen, die als ſolche noch nicht Empfindungen, noch nicht Bor- ftellungen find, fondern als eine angebäufte Summe innerer Zuftände eine Bewußtſeins noch warten, das fie wahrnehmen und durch fein Wahrnehmen fle erft zu Empfindungen verflären wird. Bon der Eigentbümlichfeit diefer Eindrüde können wir und natürlich nie eine Anfchauung bilden, weil fie als das, was fie find, ftet8 dem Bemwußtfein entzogen bleiben, und aufhören zu fein, was fie waren, fobald fie von ihm ergriffen werben; ihre unendliche Anzahl aber erfcheint uns als eine verkleinerte und angenäherte Wiederholung ber äußeren Welt, zwar in das Innere der Seele verfegt, dem Bewußtſein jedoch nod eben fo fremd, mie Alles, was noch ohne eine Wechſelwirkung mit uns in äußerer Ferne ruht. Bon diefen Einvrüden gelte das Gefet beftändiger Beharrung; einmal entftanden, vergehen fie nicht wieder; aber veränderlich fei ihr Verhalten zu der wifjenden Thätigfeit umferes Geiſtes, die mie ein wandelndes Licht bald dem einen, bald dem andern fi) zumendenb, fie bald wahr:

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nehme, bald in das bewußtloſe Dafein verborgener Eindrüde. zurückfallen Laffe.

Es ift nicht ohne Imtereffe, den verſchwiegenen Vorausſetz⸗ ungen nachzugehen, auf denen diefe Auffaffung beruht. Wo wir durch einen äuferen Reiz irgend ein Element zu einer Berän- derung bemogen jehen, deren beftimmte Geftalt diefes nur aus feiner eignen Natur, nit aus der des Reizes entlehnt, da werden wir das Ganze befien, was in dem Elemente geſchieht, in Gedanken ſtets al8 eine Aufeinanderfolge zweier Ereigniffe, eines Eindrudes und einer lebendigen Rückwirkung gegen ihn, betrachten innen. Unfere Beobachtungen im Leben pflegen ſich nun auf zuſammengeſetzte Gebilde zu beziehen, und bier bedarf e8 einiges Zeitverlaufes, ehe Die Erfchütterung des einen Theiles, den der Eindrud zunächſt getroffen bat, fi über das Ganze verbreitet und dur Anregung der übrigen einen Rüdichlag gegen die urſprüngliche Störung hervorruft. So gewöhnen wir uns an die Vorftellung einer Kluft zwilchen dem Leiden und ber Thätigfeit, die ihm antwortet. Wenden wir nun unfere Gedanken auf die einfache Natur der Seele, fo erſcheint dieſelbe Vorftellung nicht mehr gleich zwingend. Gewiß wirb jeder äußere Reiz fie nur dadurch zum Handeln bringen, daß fie von ihm leidet, denn er wäre nicht fir fie vorhanden, Litte fie nicht; gewiß werben auch ihre inneren Veränderungen, ihr Leiden ſowohl als ihre thätige Rüdwirkung fih nur in einem Zeitverlauf entwideln; aber nothwendig wenigftens ift e8 nicht, daß dieſe beiden für unfere denkende Auffaffung unterſcheidbaren Theile des ganzen Borganges in verfchievenen Zeitabichnitten auf einander folgen, oder daß zu dem Eindrude der äußeren Reize erjt noch irgend eine andere ergänzende Bedingung binzutreten müſſe, um ihm, dem an fih unbewußten, die Aufmerkſamkeit des Bewußtſeins zuzumwenden. In jedem untheilbaren Augenblide vielmehr können wir beide als gleichzeitig, als jo in einander verſchmolzen betrach- ten, daß die verſchiedenen Namen, die wir ihnen geben, nicht mehr zwei Vorgänge bezeichnen, fondern den einen und ungetheilten

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unter verichiedenen Gefthtspunften auffaffen. Denn auch das, was wir Leiden nennen, ift ja nicht eine fertig in das Leidende ges brachte Veränderung, von der es nur einen Drud überhaupt em⸗ pfände, ohne ſich in einer beftimmten Form und Weiſe bebriidt zu fühlen. Inter demfelben Eindrud leiden verſchiedene verſchie⸗ den; fo num zu leiden und nicht anders, ift ſelbſt ſchon eine Rück⸗ wirkung, in ber fi die innerfte Natur eines jeden lebendig gelten macht.

Menden wir und nun zu der unmittelbaren Empfindung, welche uns ein äußerer Sinnesreiz veranlaßt, jo müffen wir ge- ftehen, daß das ganze Ausſehen diefer einfachen Vorgänge wenig für jene trennende, weit mehr für dieſe vereinigende Auffaflung ſpricht. Wir willen nicht, warum die Lichtwelle, die unjer Auge trifft, durch ihre Nachwirkung auf die Seele zuerft einen unſagba⸗ ren unbewußten Eindrud berborbringen müßte, dem nım erft als eine Rückwirkung die Empfindung folgte, für die er als Blau ober Roth erſchiene. Das Sehen diefer beftimmten Farbe, das Hören dieſes beftimmten Tones läßt fih unftreitig unmittelbar als der eine ungetbeilte Zuftand faflen, in den die Seele gerätb, und wir nennen ihn Eindrud, wenn wir an feine Berurfahung durch einen äußeren Reiz benfen, lebendige Rückwirkung aber, fobald wir uns erinnern, daß derfelbe Reiz in anderen Naturen andere Zuſtände vege gemacht haben würde, die Form des bier vorhandenen mithin von dem Weſen diefer Seele abhängt. Nicht anders feinen wir diefe Vorgänge auffaffen zu müſſen, als fo, wie wir auch die Mit- theilung der Bewegung zwiſchen unelaftifchen materiellen Punkten beurtheilen. Wir meinen nicht, daß der geftoßene Körper zuerft nur empfangend die Geſchwindigkeit und Richtung aufnehme, die ibm der Stoß zu geben ftrebt, und daß er Dann erſt vermöge ber Bewegung, in welcher er fidy bereit8 befand, auf diefen Eindrud zurückwirkend, jene mittlere reſultirende Bahn beftimme, die er wirklich durchlaufen wird. Vom erften Augenblide des Stoßes an kommt vielmehr nichts in ihm zur Wirflichleit, als dieſe eine und ungetheilte Bewegung, in welcher der mitgetheilte Eindrud

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und die Wirffamleit des urfprüngliden Zuftandes ununtericheib- bar verfchmolgen find. Bon ſolchen Ueberlegungen geleitet, würden wir es ablehnen Können, unbewußte Erregungen in der Seele der bewußten Empfindung voranzudenken; nicht nur müßig, fondern vielleicht widerfinnig erfchtene es, in dem Geifte, der Iauter Be- wußtſein und Licht fei, einen dunklen Grund der Nacht zu ſuchen, aus dem als eine fpätergeborne Erſcheinung fich die Helle ver Ge- danken entwidle. Und in der That bat hieraus ſich eine piycho- logiſche Anficht gebildet, welde die bewußten Empfindungen als die Urvorgänge des Seelenlebend betrachtet und alle übrigen Er- eigniffe aus ihren Wechſelwirkungen ableitet.

Die nöthige Rüdfiht auf die vergeflenen Borftellungen än- dert einigermaßen diefen Stand der Sade. Gewiß dürfen wir e8 dem Sprachgebrauche nicht verargen, wenn er das, was einft Borftellung war, auch dann nod fo zu nennen fortfährt, wenn es längſt das weſentliche Merkmal eingebüßt bat, um deswillen ihm dieſer Name zufam. Aber die erflärende Unterfuhung muß fih dod der Ungenauigfeit diefer Ausdrucksweiſe erinnern; fie muß zugeben, daß die Namen der vergefienen oder unbewußten Bor- ftellungen etwas bezeichnen, was in feiner Weife mehr Borftellung ift, und daß diefe in ſich widerſprechenden Benennungen nur als Erinnertingen an den Urfprung, aber nicht al8 Behauptungen über die gegenwärtige Natur der durch fie angebeuteten Zuftände zu dulden find. Wie fehr man dann auch fortführe, alles unbewußte Geſchehen in uns nur aus der Hemmung der Borftellungen ab- zuleiten, immer würde aud fo diefe Auffaffung das Geſtändniß einichließen, daß es doch eben außer dem Bemußtfein noch andere Zuftände der Seele gebe, in weldhe das Bewußtfein fi) verwan- deln könne. Müſſen wir aber dies einmal zugeben, jo wird es [mer fein, die Grenzen der Folgerungen zu beftimmen, die ſich daraus ziehen Taffen. Eine beftändige Wechſelwirkung zwiſchen dem hellen Xeben des Bewußtſeins umd dem bunflen Grunde des Unbewußten haben wir damit einmal zugeftanden, und num ge— winnt aud) die andere früher erwähnte Anficht wieder Boden, wenn

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fie das Borftellen überhaupt als eine wandelbare Thätigkeit be- tradtet, Die zu dem aufbewahrten Reichthume unbewußter Ein- drücke bald hinzutritt, bald fi von ihnen abmwenbet.

In dem Gegenfat diefer beiden Meinungen liegt wohl einer der hauptſächlichſten von jenen Gründen, welche die pfychologiſchen Anfihten auch der Gegenwart nad verſchiedenen Wegen ausein⸗ ander gehen laſſen. Für beide muß es die weſentlichſte Aufgabe fein, Erflärungen der beftimmten Reihenfolge und der Ordnung überhaupt zu finden, bie fich in dem Wechſel umferer Borftellungen zeigt. Die eine wird bie Frage ſich fo ftellen, daß fie nach den Regeln des Mehanismus fucht, durch welchen die bewußten Zu- flände einander verdrängen; die andere wird nad) den Gründen forſchen müſſen, durch welche die einzelnen unbewußten Einbritde die Aufmerkſamleit des Vorftellens auf ſich ziehen und von anderen ablenten. Beide werden in ihren Ergebniffen mehrfach zuſammen⸗ treffen, wie fle denn beide von der Betrachtung eines und befjelben Thatbeſtandes fi) müſſen Leiten laſſen; dennoch bleibt die Ver⸗ ſchiedenheit in der Art ihres Vorgehens beträchtlich genug, um noch emige Augenblide unfere Erwartung zu fpannen.

In der größeren oder geringeren Stärle der Vorftellungen wird natürlich die erſte Anficht den Grund für das Maß des drängenben Einfluffes finden, welchen fie auf einander üben. Doch find die Vorftellungen nicht urfprünglich mit abftoßenden Kräften begabt; eine Nothmwendigfeit ihrer Wechſelwirkung überhaupt tritt erft dadurch ein, daß die Einheit der Seele fie zu verbinden ftrebt, ihre Gegenfäte unter einander aber diefer Bereinigung widerftehen. Deshalb wird die Weite des Gegenfages, ber zwei Borftellungen trennt, im Allgemeinen Die Lebhaftigfeit ihrer Wirkung auf einan- der, ihre Stärke dagegen das Maß des Leidens beftimmen, welches in diefer Wechſelwirkung jebe einzelne der andern zufligt oder von ihr erfährt. Daß nun diefer Kampf, obwohl angeregt durch

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Die Gegenfäge der Borftellungen, doch nicht mit einer Ausgleihung derfelben endet, fondern daß nur die Stärke der ftreitenden Bor- ftellungen ohne Aenderung ihres entgegengelegten Inhalt vers mindert wird, diefen Umftand wird die erwähnte Anficht am beften tbun, fr eine ebenfo unerwartete als unerflärliche Thatſache auszugeben, zu deren Annahme die Beobadhtung zwingt. Erſt nad dem Zugeftändniß dieſes Punktes beginnt die Möglichkeit, die verwickelteren Erſcheinungen auf ihn zurückzuführen; bie innere Nothwendigkeit feined eignen Vorkommens entgeht uns völlig und wir gewinnen nicht8 duch das Bemühen, diefe Lüde durch täufchende Reden zu füllen.

Aber auch jene Begriffe der Stärke und des Gegenfates, an die wir in der Berechnung phyſiſcher Ereigniffe gewöhnt find, bieten bei ihrem beabſichtigten Gebrauche zur Exflärung bes Vor⸗ ftellungslaufes mehrfache Schwierigleit. Den Empfindingen, d. h. jenen Borftellungen, welche durch Die gegemwärtige Einwirkung eines äußeren Reizes in uns erregt werden, kommt ohne Zweifel eine gradweis verſchiedene Stärke zu, denn Feine von ihnen ift eine reine und gleichgiltige Darftellung ihres Inhaltes; jede wird vielmehr zugleich als eine größere oder geringere Erſchütterung, als ein mehr oder minder eingreifender Zuſtand unſeres eignen Weſens von ung gefühlt. Nicht nur an fi ift das blendende Licht ein Stärferes, als der ſanfte Schimmer, fondern auch uns begegnet mehr, wenn wir jenes, als wenn wir dieſen jehen; nicht blos an ſich ift der Iautere Klang ein größerer Stoff für unfere Wahrnehmung, jondern auch feine Wahrnehmung ift ein ftärkerer Eindrud in uns, als die des leiſeren Tones. Und nicht nur die Empfindungen deffelben Sinnes find in dieſer Weife vergleichbar; aud) die Erregungen des einen können als größere oder geringere Erihütterungen unjeres Innern mit denen eines andern zufanmen- geftellt werden. Denken wir uns deshalb eine Seele, deren Bes wußtfein noch von feiner Erinnerung früherer Erfabrungen be- herrſcht wird, einer Mannigfaltigfeit äußerer Reize zum erften Mal ausgelegt, jo werden wir e8 mahricheinlich finden, Daß die

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Empfindung des ftärferen Inhaltes Die des ſchwächeren verdrängen wird. In der ausgebildeten und durch Erfahrung erzogenen Seele finden wir die Ereigniffe nicht mehr fo einfach; wir wiffen, daß ein leiſes Geräuſch unfere Aufmerkſamkeit von lautem Lärmen ab- ziehen Tann, und daß überhaupt die Macht, welche die Borftellun- gen über die Richtung unferes Gedantenlaufes ausiiben, nicht mehr im Berbältniß zu der Stärfe des finnlichen Inhaltes fteht, ben fie wahrnehmen. Im Fortſchritt des Lebens hat ſich vielmehr an die Eindrücke ein überwiegendes Interefje gelnüpft, das nur noh an den Werth gebunden tft, welchen fie al8 vorbedeutende, begleitende oder nachbildende Zeichen anderer Ereigniffe befigen. So beftimmt für die Zukunft die Erfahrung, die filr jeden eine andere ift, auch für jeden die Werthe der einzelnen Borftellungen . anders und beſtimmt fie felbft für den Einzelnen nicht unveränder- lich. Nur die beharrlice Natur des Geiftes und die nicht min- ber beftändigen Grundzüge der Törperlihen Organifation forgen dafür, daß diefe Verſchiedenheit nicht ind Ungemefjene geht, indem die überwältigende Kraft, mit welcher einzelne finnlihe und in⸗ tellectuelle Eindrüde in Alle gleichmäßig eingreifen, überall die Werthbeftimmungen des BVorgeftellten auf ein gewiſſes Maß der Bergleihbarkeit und Berechenbarkeit zurückbringt.

So ſcheint e8, als wenn wir dreifach untericheiden müßten, zuerit das Mehr oder Minder des vorgeftellten Inhaltes, dann die Stärke der Erregung, die er uns zufügt, endlich die Macht, welche fein Eindrud über unfern Vorftelungslauf ausübt; und nur in der Empfindung der noch erfahrungslofen Seele würden diefe verſchiedenen Beftimmungen vollftändig zufammtenfallen. Aber in unferer Erinnerung verſchwindet das zweite diefer Glieder. In— bem fie den Inhalt früherer Empfindungen getreu nah Art und Stärke wieberholt, wiederholt fie nicht gleichzeitig Die Erſchütterung, Die wir von ihnen erfuhren, oder wo fie dies zu thun ſcheint, fügt fie Doch in Wahrheit vielmehr das bloße Bild des früheren Er- griffenfeins als eine zweite Vorftellung zu der wiebererzeugten An- ſchauung des früheren Inhaltes hinzu. Das Rollen des Donners

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ift in unferer Erinnerung, fo deutlich fie auch feine Eigenthüm⸗ lichleit und feine Stärke wiedergibt, Doc feine gewaltigere Erre⸗ gung als die gleich deutliche VBorftellung des leiſeſten Tones; wir gedenken vielleicht wohl der ftärkeren Erſchütterung mit, die ber beftigere Klang uns zufügte, aber auch dieſe Vorftellung der leb⸗ hafteren Erregung ift nicht jet wieder eine größere Bewegung im uns, als die gleich deutliche des geringeren Ergriffenfeind. Wir unterfcheiden in der Erinnerung die verſchiedenen Gewichte zweier Segenftände, aber die genaue Wiebervorftellung bes ſtärkern Druckes, den uns ber eine verurfachte, iſt nicht auch jetzt wieder ein flärferes Ergriffenfein fir uns, als das nicht minder genaue Nachgefühl der geringeren Laft. Die Borftellung des Schmerzes ift nicht Schmerz, die der Luft nicht Luft felber; leidlos und freudlos erzeugt das Bewußtfein wie aus einer ficheren Höhe herab den Inhalt vergangener Eindrüde mit aller Mannigfal- tigleit feiner inneren Berhältniffe, jelbft mit den Bildern der Gefühle, die fih an ihn Mmüpften, aber nie trübt es die Auf- fung feiner Aufgabe dadurch, daß es an der Stelle der Bilder ben Eindrud felbft mwiederfehren ließe. Ausdrücklich als abweſend ftellt e8 das Vorgeftellte vor, und ohne von dem Größeren mehr als von dem Kleineren ergriffen zu werben, wiederholt e8 mit gleicher Leichtigkeit beide, gleich zweien Schatten, von denen feiner fhwerer iſt als der andere, wie verſchieden auch Die Gewichte der Körper fein mögen, denen fie entſprechen.

So würde mithin der Gebantenlauf der Erinnerung zwar großen und kleinen, ftarten und ſchwachen Inhalt dem Bewußt⸗ fein wiederbringen, aber die vorftellende Thätigfeit,, die er dazu verwendet, würde gradlos überall diefelbe fein. Und doch wilde nur von Unterfchieden dieſer Legteren die Wechſelwirkung der Bor- ftellungen, da ihre Inhalte ſich nicht miſchen, abhängig fein kön— nen, denn nur in der unmittelbaren Empfindung würde die Größe des Borgeftellten, da fie zufammenfällt mit der Stärke der Erre- gung, den Sieg bes einen Eindrudes über den anderen entſcheiden. Wenn wir deshalb von einer Stärke der Borftellungen fo ſprechen,

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daß wir von ihr das Schickſal der VBorftellungen im Streite gegen einander beftimmt denken, fo kann e8 nur noch in jener dritten Bedeutung gefchehen, in welcher fle Die Macht ift, welche jede ein⸗ zelne Borftelung auf die Richtung des Gedankenlaufes ausübt. Aber dieſe Macht ift nicht mehr eine vorher Hare Eigenſchaft, durch weldhe wir den ferneren Erfolg erläutern Tünnten, fondern fie ift die Fähigkeit felbft, deren Gründe wir fuchen. Bon einer Stärke in dieſem Sinne die Leiftungen der Borftellungen berzu- leiten, würde nicht mehr Aufflärung gewähren, als die Behaup- tung, daß im Kampfe derjenige zu fliegen pflege, der aus unbekannt bleibenden Gründen die Oberhand erhalte. Aber ehe wir dieſe noch unbelannten Gründe anderöwo fuchen, müſſen mir noch einige Berhältniffe erwähnen, die dem Gedanken einer veränber- lihen oder verſchiedenen Stärke der Vorſtellungen doch einige Unterftügung zu gewähren jcheinen.

Man ift völlig an die Meinung gewöhnt, daß jeder Inhalt, ohne daß er felbft verändert würde, in unzählig verfchiebenen Gra⸗ den ber Klarheit oder Stärke gedacht werben könne, und eben, in- dem’ fie abwärts Die Stufenreihe diefer Grade durchlaufen, follen die Borftelungen allmählich und ftetig ſich verdunkelnd aus dem Bewußtfein verfhwinden. Aber dies ift die Beſchreibung eines Ereigniffes, das Niemand beobachtet haben Tann, da die beobach⸗ tende Aufmerkſamkeit eben die Möglichkeit feines Eintreten auf- heben würde. Exft fpäter, wenn wir inne werden, daß eine Vor- ftellung eine Zeit hindurch in unferem Bewußtſein gefehlt bat, beantworten wir ung die Frage nad) der Art ihres Verſchwindens durch Diefe Bermuthung eines allmählichen Erlöſchens, für deren Nichtigkeit die wirkliche Beobachtung, fo weit fie der Sade fid nähern kann, durchaus fein Zeugniß ablegt. Erinnern wir uns des inneren Zuſtandes, in dem wir uns befanden, wenn eine ſtark angeregte Vorftellung längere Zeit in uns lebendig war und nach und nad zu verſchwinden fchien, fo werden wir ſtets finden, daß fie nicht ftetig verdunkelt wurde, fondern mit vielen und ſcharfen Unterbrechungen bald im Bewußtſein war, bald nicht. Jeder neue

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Eindrud, defien Inhalt in irgend einer Beziehung zu jener Bor- ftellung ftand, führte fie augenblicklich wieder in die Erinnerung zurüd, durch jeden fremden, in feiner Neuheit auffallenden warb fie augenbfidlid wieder verdrängt; jo glich fie einem ſchwimmen⸗ den Körper, der durch wechſelnde Wellen bald plötzlich verichlungen, bald ebenfo geſchwind gehoben, in dem einen Augenblid ganz ſicht⸗ bar iſt und im anderen gänzlich umfichtbar. Was wir bier als all- mählie Verdunkelung deuten, find zum Theil die wachſenden Pauſen, welde die Wiedererfheinungen der Borftellung unter- brechen, theils eine andere Eigenthümlichkeit, deren wir fpäter ge⸗ denken werben.

Theilen wir nun die vielgeftaltige Menge der Borftellungen in die einfachen Eindrüde der finnliden Empfindung und in die zufammengefegten Bilder, Die aus biefen durch mannigfacdhe Ber- fnüpfung entfteben, fo würden wir nicht angeben künnen, worin für die erfterem die Verſchiedenheit ihrer Stärke befteben follte, wenn wir nicht den vorgeſtellten Inhalt unvermerkt verändern. Denjelben Ton von derjelben Höhe und Stärke, von gleichen Klange des Inſtrumentes, Können wir nicht mehr oder weniger deutlich vorftellen, wir haben entweder feine Borftellung, oder wir haben fte nicht, oder enblich wir fehlen gegen unfere eigne Boraus- fegung, indem wir die Borftellung eines ſtärkeren oder ſchwächeren, alſo eines anderen Tones an die Stelle einer ftärkeren oder ſchwä⸗ cheren Borftellung deſſelben Tones fegen. Und ebenfo dieſelbe Schatz tirung derſelben Farbe Können wir nicht in derſelben Helligkeit ihrer Beleuchtung nun noch mehr oder minder deutlich vorftellen; wohl aber, wenn fie und durch einen Namen ober eine Befchrei- bung angedeutet war, fünnen wir in dem Berfuche, uns ihrer zu erinnern, ungewiß ſchwanken zwifchen mehreren verwandten Far: benbilbern, die ſich anbieten und von denen wir nicht wiffen, wel- ches das verlangte if. Damm beuten wir fälfchlich unjeren in- neren Zuftend fo, als hätten wir Die Borftellung wirklich, nur in geringer Klarheit, während wir fie in der That nicht haben, fondern fie herausſuchen aus einer Menge, mit berem Anzahl

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unfere Ungewißheit, alfo die fcheinbare Unflarheit der Borftellung wädhlt.

Noch weniger gehen unfere zuſammengeſetzten Anfchauungen durch fietige Verdunkelung zu Grunde, durch welche ihr ganzes Bild allmählich ſchwächer beleuchtet verblaßte; fondern fle werben unklar, indem fie wie verwefend ſich auflöfen. Bon einem geſehe⸗ nen Gegenftande fallen in unferer Erinnerung einzelne minder beadytete Theile aus und die beftimmte Verbindungsweife, in ber fie mit anderen zufammengebörten, wird völlig vergeflen; bet dem Berfude, im Gedächtniß das Bild nachzuzeichnen, irren wir rath⸗ 108 zwiſchen den manderlei Möglichkeiten, die entftandenen Lücken auszufüllen oder die Einzelheiten zu verknüpfen, die uns nod in voller Klarheit vorſchweben. Sp entjteht auch bier eine ſcheinbare Unklarheit der Vorſtellung, die in geradem Verhältniſſe mit der Weite des Spielraumes wächft, der unferer ergänzenden Phantaſie gelafien ift. Vollkommen Kar ift Dagegen jede Borftellung, deren Theile vollftändig und zugleich mit zweifellofer Beftimmtbeit ihrer gegenfeitigen Beziehungen gedacht werben, und. diefe Klarheit ift an fich weder einer Steigerung noch einer Minderung fähig. Den- noch ſcheint e8 uns häufig fo, als ob felbft ein längft vollftän- dig vorgeftellter Inhalt noch an Stärke feines Vorgeſtelltwerdens zunehmen Hinne; in der That aber wird er in folden Fällen um einen nenen Gehalt vermehrt. So wie er unflar wird durch ent- ſtehende Lücken, die feinen Beftand verkleinern, fo fcheint er an Klar⸗ beit noch zuzunehmen, jobald über feinen eignen Beitand binaus nod die mannigfachen Beziehungen in das Bewußtſein treten, Die ihn nach allen Seiten hin mit anderem Inhalte verknüpfen. Es ift nicht möglich, den Kreis oder das Dreied mehr oder weniger vorzuftellen; man hat entweder ihr richtiges Bild oder hat e8 nicht; aber gleichwohl feheint die Anfchauung beider an Klarheit zu mach- fen, wenn unfere geometrifche Bildung die zahlreichen wichtigen Be- ziehungen, durch die beide Figuren fi auszeichnen, fogleih mit erinnert. Dies ift eine Klarheit in dem Sinne, in mweldem wir fie als gradweis verfchieden zugaben; eine Macht nämlich, Die der

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Vorſtellung nit aus einer eignen Stärke, fondern aus ihren Connexionen erwächft. Unklarer fcheint uns deshalb in unferem Bewußtſein eine früher lebhafte Borftellung dann zu werben, wenn fie aus irgend einer Urfache allmählich abläßt, alle die anderen in bie Erinnerung mitzubringen, die fi im erften Augenblide ihrer größten Lebhaftigfeit an fie knüpften, oder auf deren Mit- gegenwart eben dieſe Lebhaftigkeit ſelbſt beruhte. So verflingt, wie wir oben erwähnten, eine angeregte Borftellung in uns, indem fie bald auftauchend, bald verichwindend, bei jever jpäteren Rüdkfehr einen Heineren Theil der Nebengedanten mit fih führt, von denen fie anfangs begleitet war. Deshalb ſcheint uns auch nachher, wenn wir auf einen vergangenen Borftellungslauf zurückblicken, ein einzel- ner Eindrud nur mit geringer Klarheit ober nur in niedrigerer Höhe durch das Bewußtſein gezogen zu fein, wenn er in Der That zwar mit derfelben gradlojen Deutlichkeit, wie jeder andere, auftrat, aber zu we- nige Nebenvorftellungen anregte, durch die er Längere Zeit fich Hätte halten und auf die Richtung unferer Gedanken Einfluß üben Können.

Sp kommen wir endlidh zu der Behauptung zurüd, daß die Macht, mit welcher die mannigfachen Vorftellungen einander be- fämpfen, nicht abbängig ift von einem beftimmten Grade der Stärke, den jede einzelne entweder urfprünglich gehabt hätte, oder bald größer bald Heiner in jedem Augenblid aus irgend welden Grün- den erlangte. Was wir als die Stärke der Borftellungen bisher fennen lernten, befteht nicht in einer gradweis beftimmbaren In- tenfität des Wiflens um fie, fondern in einer ertenfiv meßbaren Bolftändigfeit ihres nothwendigen Inhaltes und in dem veränber- lichen Reichthum überzähliger Elemente, welche fih an den Iu- haltsbeſtand jeder einzelnen anknüpfen. Doc findet vielleicht eine genauere Nachforſchung noch Etwas, was wir bisher in den That⸗ jachen überjehen haben; aber ehe wir uns bazu menden, bebarf das andere Element, auf das man fi) in der Betrachtung Des Borftelungslaufes zu fiüten pflegt, der Gegenſatz der einzelnen Eindrüde unter einander, eine kurze Berlidfichtigung.

In der Empfindung, fo lange wir alſo gegenwärtige äußere

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Eindrüde wahrnehmen, jehen wir unfer Bewußtfein der größten Mannigfaltigkeit zugänglid. Unzählige Farbenpunkte unterfcheibet unfer Auge mit einem einzigen Blid, nnd wo dieſe verfchiedenen Eindrüde einander zu trüben feinen, haben wir Grund, diefen Erfolg nicht von einer Wechſelwirkung der ſchon gebildeten Farben⸗ borftellungen, fondern von Störungen abzuleiten, welde die lörper- lichen Erregungen in den Elementen des Sinnesorganes durch ein- ander erfahren, noch ehe ihre legte Endwirkung für die Seele zur Beranlafjung der Empfindung wird. Am menigften dürften wir annehmen, daß in irgend einem früheren Alter die Farbenpunkte für das Auge, die Töne fir das Obr nur ein unterfchieblofes Ge- miſch Darböten, aus welchem erft die wachlende Aufmerkfamfeit die einzelnen Elemente ſchiede. Denn weder einen Beweggrund wiirde biefe, noch eine Regel des Scheidens haben, wenn nicht der Ein- druck verſchiedenartige Beitandtheile ſchon erkennbar darböte, zwi- ſchen denen fie die Theilſtriche wohl vertiefen und zufchärfen, aber da nicht ziehen kann, wo fie durch Feine Andeutung vorgezeichnet find. Ohne Zweifel ift Daher das Bewußtfein weder zu eng für eine Bielheit von Empfindungen, no iſt in ihm irgend eine Neigung, bie einmal gebildeten verichiebenartigen Borftellungen zu irgend einem Mittleren zu verſchmelzen. Diefe mehrfach erwähnte Eigen⸗ tbümlichleit nun macht uns zwar mißtrauiſch gegen die Annahme, daß ber Gegenfat der Borftellungsinhalte gleihwohl maßgebend fein ſolle für die Lebhaftigfeit, mit welcher fie fih aus dem Be⸗ wußtſein zu verbrängen fuchen; aber fie macht body dieſen Einfluß nit fo unmöglich, dag wir nicht zuvor die Entfcheivung der Er⸗ fabrung einholen müßten. Sehr deutlich nun find unfere Selbft- beobachtungen in diefem Punkte überhaupt nicht; dennoch feinen - fie jene Annahme in feiner Weife zu beftätigen. Es bat immer große Schwierigkeiten, zwei VBorftellungen unverbunden neben ein- ander zu fafien; jo weit es indeſſen gelingt, finden wir die gleich⸗ zeitige Borftellung von Weiß und Schwarz nicht ſchwerer als Die von Roth und Orange, den Verſuch, Süß und Sauer zugleich zu denken, nicht mißlicher, als den, zwei äbnlidhe Süßigfeiten zu

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vereinigen. Es ſcheint uns im Gegentheil, als wenn die äußer- ften Gegenfäge, die wir in dem Inhalte der Vorftellungen errei- hen können, mit größerer Leichtigfeit neben einander gedacht wür⸗ den, als Verſchiedenheiten, deren Weite ein beftimntes Maß bat. Die Vorftellimgen des Lichtes und der Finfterniß, des Großen und bes Kleinen, des Pofttiven und des Negativen, und unzählige &hn- liche finden wir fo im Bemwußtfein verbunden, daß das eine Glied nicht ohne das andere gedacht wird, und wenn es und unmöglich ift, Diefe entgegengejeßten als gleichzeitige Merkmale Eines und Defielben zu faflen, jo bat e8 dagegen feine Schwierigfeit, fie auf Verſchiedenes zu vertbeilen, und dies reicht hier völlig bin, wo es ſich nicht um Die Berträglichleit der Eigenfchaften an den Din- gen, fondern um die Vereinbarkeit ihrer Vorſtellungen in unferem Bemußtfein handelt. Störten in der That die Vorftellungen ein- ander nad Maßgabe der Gegenfäte in ihrem Inhalte fo, daß die unähnlicheren fich mehr von ihrer Klarheit raubten, als Die äbnliheren, fo wiirde Daraus die fonderbare Folge entfpringen, Daß nun auch unfere vergleichende Beobachtung die Meinen Unter- ſchiede Haxer faſſen müßte als die großen. Aber alle Ausbildung unferer Gedanken beruht vielmehr darauf, daß das Bewußtſein voll- kommen unbefangen durch den Inhalt bleibt, und daß es, um die Berhältniffe zwifchen dem gegebenen Mannigfaltigen unparteiiſch aufzufafien, eben durch dieſe Berhältniffe in feinen Verrichtungen nicht gehemmt oder gefördert wird. Zugeben binfen wir wohl, daß durch Die verfchiedenen Beziehungen zwifchen den Vorftellungs- inhalten Gefühle in un® erregt werben, melde das Maß der Aufmerkſamleit beftimmen, die wir dem einen von ihnen mehr als dem anderen zuwenden; allein abgejehen von dieſen Wirkungen, die einem anderen Zwecke des geiftigen Lebens dienen, glauben wir die Behauptung ausſprechen zu Dürfen, daß für bie gegenfettige Berdunlelung oder Verdrängung der VBorftellungen durch einanber ber Gegenſatzgrad ihrer Inhalte ohne alle Bebeutung if. Dean kann an diefem Ergebniß Anſtoß nehmen, weil man es in Wider- ftreit glaubt mit dem allgemein nothwendigen Sage, nach welchem

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entgegengefeßte Zuftände eines und befielben Weſens einander auf⸗ heben müſſen. Aber wie es fih aud um die Gültigkeit dieſes Satzes verhalten möge, jene Erfahrungen lehren uns eben, daß die Thätigfeiten, durch welche wir entgegengeleßte Inhalte vor⸗ ftellen, entweder nicht entgegengefegt find, oder nit in einem ſolchen Sinne, in welchem ihr vielleicht vorhandener Gegenfaß zum Grunde einer Gegenwirkung werden müßte Auch bier lernen wir nur, wie durchaus anders fi das Gefchehen im Geifte ver- hält, als die Ereignifjfe in der Natur, und wie jehr ung bie vor⸗ eilige Anwendung von Erlenntniffen irre führen muß, die in der Naturwiſſenſchaft unbeftritten gelten, weil man die Punkte genau fennt, auf die fie anzıtwenden find, während auf dem Gebiete des geiftigen Lebens ihre vielleicht auch hier allgemeine Giltigkeit vor⸗ läufig nutzlos für uns wird, da wir nicht die Urvorgänge, auf die fie fich beziehen müßten, fondern vielfach vermittelte Folgen derfelben vor uns haben.

Keine unſerer Fragen ift bisher beantwortet. Für die Noth- wendigfeit, daß überhaupt das Bewußtſein nur eine begrenzte Menge von Borftellungen faffe, haben wir feinen zwingenden Grund gefunden. Und festen wir fie als eine Thatſache voraus, fo jchien weder in dem Begriffe einer verſchiedenen Stärke ber Borftellungen, nod in dem ihrer Inhaltögegenjäge ein Erflärungs- mittel für die Größe der Macht gegeben, mit welcher, jede ber: jelben fi gelten madt und zu ihrem Theile die Richtung bes Sedantenlaufes bedingt. No einmal müſſen wir verfuchen, in dem jet verfleinerten Kreife möglicher Annahmen eine taugliche zu finden.

Jene Enge des Bewußtſeins nun, die den erften Gegen: ftand unferer Fragen ausmachte, findet im Grunde nicht ftatt fir die wirflide Empfindung äußerer Eindrüde. Alle unfere Sinne können zugleich thätig fein und eine unermeßliche Mannig-

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faltigleit einzelner Reize aufnehmen, deren jeder, fo lange nicht körperliche Zwiſchenwirkungen feine Sortleitung zu der Seele hemmen, durch eine bewußte Vorftellung wahrgenommen wird. Man mag immerhin behaupten, daß von fo vielen Eindrüden doch Die meiften nur bunfel und unflar aufgefaßt werden; die Mög- lichkeit, fich ihrer und ſelbſt ihrer Unflarheit fpäter zu erinnern, beweift uns doch, daß fie wirklich im Bewußtſein geweſen find, nur daß fie weder durch eine überwiegende finnlidde Erregung noch durch einen größeren Werth ihrer Bedeutung Die anderen verdrängen und ſich als richtungbeftimmende Mächte im Gedan⸗ fenlauf hervorthun konnten. Es fcheint völlig anders, wenn wir, ohne von gegenwärtigen Sinneßreizen genöthigt zu fein, in Der Erinnerung das abmefende oder vergangene Manmigfaltige zu wiederholen ſuchen. Faft nur nad emanber Tehren Hier Die Theile des Gefehenen und Gehörten zurüd, die in der wirflichen Empfindung gleichzeitig erjchienen; und die Gebanfen, welche weniger unmittelbar ein Nachbild finnlicher Einbrüde find, bilden in unferem Inneren ftetd einen fchmalen und dünnen Strom. der wohl häufig und in ſcharfen Sprüngen fi von einer Bor- ftellung zur andern wendet und in kurzen Abwechfelungen Biel- faches durchläuft, aber faft ganz die Fähigkeit verloren zu haben ſcheint, gleich dem Blicke des Auges eine unzählbare Vielheit zu- gleich zu umfaflen. So ift e8, als weite nur der Zwang, Den die andringenden Reize der Außenwelt uns anthun, das Bewußt- fein aus, während es in der Erinnerung fich felbft überlaffen fi zu einer Enge zuſammenzieht, die kaum Mehreres neben ein- ander, fondern nur Mannigfaches nad einander faßt. Dennoch würden wir zu viel behaupten, wenn wir dies Letztere in voller Strenge ausfprechen wollten. Denn obgleich es fehr ſchwierig fein würde, durch unmittelbare Beobachtung zur entfcheiden, ob mehrere Borftellungen zugleidy im Bewußtſein vorkommen Einen, und ob nicht vielmehr überall und nur die Raſchheit der Ab- wechſelung mit dieſem Scheine täufcht, jo nöthigt uns doch Die Thatſache, daß wir überhaupt Vergleiche anftellen Tönnen, zu der

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Annahme einer möglichen Gleichzeitigleit. Denn wer vergleicht, gebt nicht blos von dem Borftellen des einen der verglichenen Glieder zu dem Norftellen des andern über; um den Vergleich zu vollziehen, muß er nothwendig in einem untheilbaren Bewußt⸗ fein beide und zugleich die Form feines Weberganges zwifchen beiden zuſammenfaſſen. Wenn wir eine Bergleichung mittheilen wollen, find wir dur die Natur der Sprache genöthigt, bie Namen beider verglichenen Glieder und die Bezeichnung ber Be: ziehung zwiſchen ihnen zeitlich auf einander folgen zu laſſen und Died verurfacht und wohl die Täufchung, al8 fände in der Bor- ftellung, die wir mittbeilen wollen, das gleide Nacheinander ftatt; aber zugleich vechnen wir body darauf, baß in dem Bewußt⸗ ſein des Anderen unfere Ausſage nicht drei getrennte Vorftellungen, fondern die eine Vorſtellung einer Beziehung zwifchen zwei andern veranlaflen wird. Obgleich wir endlich, gemöhnt an den Gebraud der Sprache, auch unferen verjchwiegenen Gedankengang in die Form einer innerlichen Rede bringen, fo ift Doch offenbar auch hier die Reihenfolge, in melder zeitlich die Worte für unfere Borftellungen fih verfnüpfen, nur eine Nachzeichnung der Be- ziehungen, die wir zwifchen ihren Inhalten früher vorftellten, und dieſe Gewohnheit des innerlichen Sprechens verzögert eigentlich den Gebantenlauf, indem fie das urſprünglich Gleichzeitige in eine Reihe auflöft.

Bürgen und nun diefe Thaten des beziehenden Wiffens für die Gleichzeitigfeit einer Mehrheit von Vorftellungen, fo ſcheinen fie zugleich die Bedingungen des Stattfindens berfelben zu lehren. Nur für unverbundenes Biele hat das Bewußtſein feinen Raum; es ift nicht zu eng für eine Mannigfaltigfeit, deren Glieder wir durch Beziehungen getheilt geordnet und verbunden benfen. Zwei Eindrüde zugleich, aber ohne irgend ein gegenfeitiges Verhältniß borzuftellen gelingt uns nicht; das Bewußtſein bebarf einer An- ſchauung bes Weges, den e8 felbit von einem zum andern zurüd- zulegen hätte; mit diefer umfpannt es die größere Vielheit leichter als die Heinere ohne fie. Seine Faſſungskraft ift deshalb ftei-

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gender Ausbildimg fähig. Zuſammengeſetzte finnlihe Bilder wie- derbolt die Erinnerung leichter, je geübter wir waren, fchon in der Wahrnehmung uns nicht nur leidend ihren Eindrud hin— zugeben, fondern die Berhältniffe ihrer Theile nachzuzeichnen. Die gleichzeitigen Töne einer Muſik werden von Jedem als ſolche empfunden, aber ſchwer von dem erinnert, für den ſie nur eine zufammenhangloje Vielheit waren; das muſikaliſch gebildete Ohr faßt fie von Anfang an als ein beziehungsreihes Ganze auf, befien innere Organifation durch den vorhergehenden Berlauf ber Melodie vorbereitet war. Jedes räumlide Bild haftet fefter in unferm Gebächtniß, wenn wir ım Stande find, feinen anſchau⸗ lihen Eindrud in eine Beſchreibung aufzuldjen. Wenn wir von dem einen Theile eines Gebäudes jagen, daß er auf dem andern ruhe, einen dritten ſtütze, gegen einen vierten fich unter beftimmtem Winkel neige, vermehren wir zunäcft die Menge der feſtzuhalten⸗ den Borftellungen; aber in Diefem ſprachlichen Ausdruck durch Süße verwandelt fi das ruhende Nebeneinander der Theile in eine Reihe von Wechſelwirkungen, die zwifchen ihnen ftattzufinben - feinen und fie deutlicher gegenfeitig verbinden, als die unzer- gliederte Anſchauung. Je reicher die Bildung des Geifled wird, je feiner fie die vereinigenden Beziehungen entlegener Gedanuken zu finden weiß, um fo mehr wächſt die Weite des Bewußtſeins auch für Vorftellungen, deren Inhalt nicht mehr durch räumliche und zeitliche Sormen, jondern durch Zufammenhänge innerer Ab- hängigfeit verbunden ift.

Erſchien uns nun in der Empfindung das Bewußtſein durch bie Gewalt der äußeren Reize, die gebieterifch ihre Berüdfihtigung verlangen, einer unbegrenzten Bielheit leidentlicher Zuftände zu— gänglich, To ftellt fich dieſes Wiffen der Erinnerung mehr als eine von dem Geifte ausgeübte beziehende Thätigleit bar. So lange wir das Bewußtjein als einen Raum behandelten, im

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welchen die Vorftellungen aus eigner Kraft auf und ab fteigen, fehlte e8 uns am einem Grunde für die enge Begrenztheit feiner Ausdehnung und die Bielheit gleichzeitiger Zuftände konnte ung nicht unmöglich ſcheinen; natürlicher glauben wir Dagegen voraus- fegen zu müſſen, daß die Einheit der Seele eine gleichzeitige Menge unverbundener Handlungen ausichließt, und daß fie nur das umfaßt, mas fe in der Einheit einer einzigen Handlung zufammenbalten kann. So ſchiene die Anficht, welche das Vor⸗ ſtellen als einen beweglichen inneren Sinn die Eindrücke hervor⸗ heben laßt, leichter zu der Enge des Bewußtſeins zu führen, nad) deren Gründen wir fragten. Doch enthält fie noch keinen Nach: weis der Gefeße, nach denen dies wandelnde Licht der beziehenden Aufmerkſamkeit die Richtung ſeines Weges wählt. Nicht unbe- ftimmt in das Leere hinaus wird es fuchend geben können, ſondern wenn es thätig feine Gegenftände zu erfaffen jcheint, wird feine Thätigfeit doch nur in der Wahl beftehen, mit der es von ben vielen Eindrüden, Die fih ihm entgegenfommend aufprängen, Die einen aufnimmt und die andern fallen läßt.

Es find befannte Thatſachen, auf die wir hiermit hindeuten. Daß ein neu erzeugter Eindrud die vergeffene Vorftellung eines früheren gleichen wiederbelebt oder fie in das Bewußtjein repro⸗ ducirt, ift das einfachfte der allgemeinen Gefege, welche den Lauf der Erinnerung beherrihen. Aber dieſe Wieberermedung ift doch nur infofern von Werth für unfer inneres Leben, als fie nicht nur das Vergeſſene wieberbringt, jondern zugleich da8 Bewußtſein feiner Gleichheit mit dem neuen Eindrud vermittelt. Neues und Altes darf deshalb nicht völlig zufammenfallen, ſondern beide mäüffen als zwei gefchiedene Fälle der gleichen Borftellung aner- kannt werben, und dies ift nur möglich, ſobald beide durch Neben: züge, die fi an fie knüpfen, unterfcheibbar find. Der Gewinn jener unmittelbaren Reproduction berubt Daher auf der Möglicdh- feit, daß der wiebererwedte Inhalt auch Die andern mit ſich ins Bewußtſein zurüdführt, mit denen er früher verbunden war, be⸗

ftänden dieſe au in Nichts weiter, als in bem dunklen Gefühl Loge I. 4. Aufl. 16

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ber allgemeinen Gemüthslage, in welche feine frühere Wahrnehmung fiel, und die verfchieden wäre von der Stimmung, welche feinen neuen Eindrud begleitet. Mit den Namen der Affociationen pflegt man dies gegenfeitige Haften der Eindrüde an einander zu bezeichnen, das wir auch in ihrem unbewußten Zuftande als fortbeftehend betrachten müffen, um ihr gemeinſchaftliches Hervor⸗ treten im Augenblide der Wiederbelebung zu begreifen. Ber geblich würde jede Bernühung fein, von der Art und Weiſe dieſes Haftens irgend eine anfchauliche Borftellung zu gewinnen; nur in feinem Erfolge bemerkbar, iſt e8 an ſich aller Beobachtung entzogen und hat nirgends eine Analogie in dem Gebiete ber Naturerfheinungen. Ohne deshalb zu fragen, durch meldes Bindemittel die Haltbarkeit dieſer Vorſtellungsverknüpfungen be- wirkt werde, können wir nur die Bedingungen zu bezeichnen fuchen, unter denen fie auf übrigens unbegreiflihe Weiſe jtattfinden. Alle Afjociationen der Borftellungen laſſen fih nun auf den gemeinfamen Geſichtspunkt zurückführen, daß die Eeele die Summe aller ihrer gleichzeitigen Zuftände nicht chemiſch zu einem einfür- migen Mittelzuftand, wohl aber mechaniſch als Theile zu einen zu fammenhängenden Ganzen verbindet, und daß fie ebenfo bie zeitlich ablaufende Reihe ihrer Veränderungen zu einer Melodie verknüpft, in welcher die Glieder am fefteften zufammenhängen, die ohne Da: zwiſchentreten anderer fich unmittelbar berühren. Gebe Reprobuc- tion beruht dem entipredhend darauf, daß das Wiederbelebte nicht allein auftauchen kann, fondern das Ganze mit fich zu bringen ftrebt, deffen Theil e8 früher bildete, und aus dem Ganzen zunaͤchſt ben andern einzelnen Theil, mit dem e8 am engften verbunden war. Auf diefen gemeinfamen Ausdruck laſſen ſich die einzelnen Fälle zurüdführen, die man zu unterfcheiden pflegt. Er umfaßt vor Allem nicht allein die Afiociationen der Vorftellungen, auf die unfer Zufammenhang ung bier zunächſt führte, ſondern ſchließt die zahl- veihen Verknüpfungen mit ein, die in ganz ähnlicher Weife zwiſchen Gefühlen, zwiſchen Strebungen unter einander oder zwiſchen Vor⸗ ftellungen und Gefühlen, Gefühlen und Strebungen ftattfinden,

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und deren mitbeftimmender Einfluß in einem vollftändigen Gemälde auch des BVorftellungslaufes für ſich nie überſehen werden barf. Wir finden ferner in ihn eingejchloffen die Affoctatton, durch welche die Bilder einzelner räumlicher Geftalttheile einander und das Ganze zurüdrufen. Denn jede Raumgeftalt läßt uns ihre Theile entweder gleichzeitig überſehen, oder wir werden uns ihrer in einer Reihenfolge nachbildender Bewegungen unſeres Blickes bemußt. Jede andere innerlihere Beziehung ferner, durch die wir früher einmal Mannigfaches zu dem Ganzen eines Gedankens verknüpft hätten, würde ebenfo nur in einem gleichzeitigen Vorftellen oder in dem ununterbrodhenen Zuge eines zeitlich verlaufenden für uns faßbar gemwefen fein. Eyinnert ung endlich oft ein Eindrud an einen andern ähnlichen, mit dem er doch früher nie in gleichzeitiger Wahrnehmung gegeben war, fo erforbert Doch auch dieſer jehr häufige Borgang Feine befondere Erflärung. Er beruht zum Theil auf der unmittelbaren Wiederbelebung des Gleichen durch das Gleiche; Die frühere Vorftellung deffen, was beiden Eindrücken gemeinfhaftlic ift, ftrebt zurüdzufehren und führt num durch mittelbare Reprodue— tion auch die befonderen Züge mit fi, um deren willen das Alte dem Neuen nur noch ähnlich, nicht gleich iſt. Einfache Vorftellun- gen, deren Aehnlichfeit in einer ebenfo einfachen unfagbaren Ber- wandtſchaft ihres Inhaltes befteht, rufen einander mit geringer Leb⸗ haftigkeit hervor; eine Farbe erinnert nur wenig an andere Farben ; ein Ton faum an die Manmnigfaltigfeit der Scala; viel kraftvoller reproduciren beide das Ganze, als deſſen Theil fte früher auftraten, die Farbe, die Geftalt der Blume, an der fie erſchien, die Töne, die Melodie, die mit ihnen begann. ‘Das Wort, als eine Reihe von Tönen, erinnert wohl an gleichgebaute, und wir vermwechjeln es; aber doch Iebhafter an das Bild der Sache, mit dem es zu einem afioeiirten Ganzen verbunden war. In zufammengefegten Bor- ftellungen pflegt überall die Verbindungsform des Mannigfachen in unferer Erinnerung über den Eindrud zu überwiegen, den die un= mittelbare beſondere Eigenſchaft der Theile gibt; diefelbe Form ber Buchſtaben erlennt ſchon das Tindliche Auge wieder, ohne Durch die 16*

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Berichiedenheit ihrer Färbung fi aufhalten zu laſſen. Auf Das Lebhaftefte erinnern daher Bilder an einander, deren vielleicht äußerfi verfchiebene Beftandtheile doch in gleicher Art der Verzeihnung, nach einem gleichen Schema des Zuſammenhangs, fi gruppirten. Die Richtung, welche der Verlauf der geiftigen Ausbildung nimmt, bevorzugt allmählich Die eine Diefer Reproductionsweiſen vor ben andern; je häufiger unfere Aufmerkſamkeit auf Die gleigen und ähnlichen Verknüpfungsformen des Mannigfachen gerichtet geweſen ift, um fo leichter überficht fie das Verſchiedene, das jelbft in diefen vorkommt, und hält die allgemeineren Aehnlichkeiten feft; fie gewöhnt fih, auch die innerlichen und unanfhauliden Zu— fammenbänge aufzufaffen, und fir ihre Erinnerung wird das, was unter allgemeinen Geſichtspunkten begrifflich zufammengehört, näber verwandt, als dasjenige, was feinem Wefen nad einander fremd nur durch gleichzeitige Wahrnehmung fih im Bewußtfein zufammenfand. Dann pflegt nicht felten die Schärfe des Gedächt- niſſes fir die Reihenfolge der Vorfälle des Lebens abzunehmen, während feine Treue für die allgemeinen Beziehungen zwiſchen den Naturen der Dinge wächſt. Aber e8 muß binreiden, an dieſe Verhältniffe erinnert zu haben, deren reihe Mannigfaltig- feit bier zu erjhöpfen völlig unmöglich fein wiirde.

So ift durch den Mechanismus der Affociationen dem Ge— panfenlauf eine Bielheit möglicher Wege eröffnet, die er ein- fchlagen kann und zwiſchen denen er wählen muß. Indem num jede der eben vorhandenen Vorftellungen alle jene andern wieber- zubringen ftrebt, mit denen fie im Laufe des Lebens nad und nad) verknüpft worden ift, wird die Entſcheidung darüber, was von al diefer Fülle in jedem Augenblide zuerft in das Bewußt⸗ fein zurüdtehren fol, von einem Zufammenfluß verichiedener Be— dingungen abhängen. Je größer die Anzahl der ähnlichen Züge ift, welche irgend eine vergeſſene Vorſtellung mit der eben herr⸗ ſchenden theilt, um jo leichter wird fie Durch dieſe wieder erweckt werben, denn um fo zahlreicher find bie einzelnen Fäden bes Bandes, welches beide vereinigt. Aber die wirkjame Verwandt⸗

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haft zwifchen ihnen wird doch nicht allein in der Wehnlichkeit ihrer Inhalte beſtehen; auch ohne dieſe Webereinftimmung kann in fehr mannigfaltiger mittelbarer Weife eine Borftellung mehr oder weniger eng mit dem Sinne einer eben ablaufenden Gedan⸗ kenreihe zuſammenhängen, mit welcher fie frühere Weberlegungen als weſentlichen Beziehungspunkt, al8 Beſtandtheil, als Beiſpiel, als begleitendes Phänomen, verbunden haben. Selbſt eine form⸗ lofe Stimmung des Gemüthes wird zwei Vorftellungsgruppen, welche fie mit gleicher Färbung begleitete, troß der Verſchiedenheit ihrer Inhalte einander verwandter erjcheinen laſſen, als andere von ähbnlicherem Gepräge. An die Stelle eines feiten Gegen: ſatzes zwiſchen den Vorftellungen, welcher maßgebend für die Leb⸗ baftigfeit ihrer gegenfeitigen Verdrängung ober Wiederbelebung wäre, haben wir daher eine für jeden Augenblid neu beftimmte Größe ihrer Verwandtſchaft zu fegen, die fi) ändert, wie der Contraſt zweier Yarben mit dem Hintergrunde wechſelt, auf den fie aufgetragen find. Und ebenfo wandelbar ift die andere Be- dingung für die Richtung des Gebanfenlaufes, die Größe des In- tereſſes, die jeder Borftellung zukommt, und welche die Stärke ausmacht, mit der fie im Bewußtfein fich gelten zu machen jucht. Kein fpäterer Augenblid bringt dieſelbe Geſammtſumme von Bor- ſtellungen, Gefühlen und Strebungen und diefelbe Körperliche Stimmung wieder, im Zufammenhang mit denen früher dem Eindrud die Höhe ſeines Intereſſes zugemefjen war. Nicht mit diefem alten Werthe wirft er daher für die Beſtimmung des weiteren Gebantenlaufes mit, fondern mit dem neubeftimmten Grade defjelben, den er zu gewinnen vermochte, indem er mit jenem, welden er früher befaß, in diefen neuen Streit mit neuen Berhältniffen eintrat.

Die Entwillung eines Vorſtellungszuges geftaltet ſich unter diefen Bedingungen zu dem wandelbaren und veränderlichen Schau⸗ fpiel, das wir alle in uns kennen, und deſſen fcheinbar vegellofer Wechſel und häufig in Verwunderung fest, weil wir feine leiten- den Gründe nie zu überfehen im Stande find, ‘Denn der boll-

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ftändige Grund für die Geftalt jedes nüchſten Augenblid8 Tiegt nur in dem vollftändigen Gefammtzuftande unferer Seele während des gegenwärtigen; aber von ihm zeigt uns unfere Gelbftbeob- achtung immer nur wenige Bruchſtücke; wir werden und wohl der Reihenfolge unferer vorangegangenen Borftellungen bewußt, aber nie find wir in der Lage, zugleich die Eigenthümlichkeiten unferer körperlichen Stimmung, unferer Gemüthslage, unferer Strebungen, endlich die bejonderen Wechjelbeziehungen zu zerglie= dern, in melde alle diefe Elemente zu einander verflocdhten waren. Und doch hängt nur von der Summe aller diefer Bedingungen zujammengenommen aud der Fleinfte und unbebeutendfte Zug unſeres Vorftellungslaufes ab; denn nicht in einem fonft leeren Bemußtfein ereignet er fih ja iiberhaupt, ſondern nur in der ganzen vollftändigen Iebendigen Seele, die immer zugleih in jenen andern Richtungen thätig ift und im dieſen wieder nicht thätig fein kann, ohne vermöge der Einheit ihres Weſens deſſen auch in ihrem Vorſtellen eingedenf zu fein.

Biertes Kapitel. Die Formen des beziehenden Wiffens.

Die Verbältniffe zwifgen den einzelnen Vorſtellungen als Gegenftände neuer Borftel- lungen. Wechfel des Wiffend und Willen vom Wechſel. Angeborene Ideen. Die räumlich zeitliche Weltauffaffung der Sinnlichkeit. Die denkende Weltauffaf- fung des Verſtandes. Der Begriff, das Urtheil, ver Schluß. Das zufammen- fafiende Beſtreben ber Vernunft.

Jede Rede verftehen wir nur, wenn unfere Erinnerung bie früheren Worte aufbewahrt, während wir die fpäteren hören. Und nicht Died allein; auch die Reihenfolge, in welder die einzelnen uns zugezählt werden, muß bis zum Scluffe der Rede irgendwie in unferem Bemwußtfein wirffam erhalten bleiben; denn nicht ohne dieſe zeitliche Abfolge fonnte der Sprechende vollftändig Die innere Berfnüpfung des Vorftellungsganzen bezeichnen, das er und mit-

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zutheilen wünſcht, und ber Hörende dürfte die zeitliche Ordnung ber Worte erft dann vergefien, wenn er den Sinn dieſes Ganzen in fih aufgenommen bat.

Zwei verjchiedene Leiftungen finden wir hierin eingejchloffen. Ich erwähne diejenige zuerft, die in etwas veicherer Ausführung zu den befannteften Erſcheinungen gehört: die Fähigfeit, auch in Ipäterer Nacherinnerung eine Reihe von Eindrüden, eine Gefchichte, Melodie oder Rede, in derſelben Aufeinanderfolge ihrer Beſtand⸗ tbeile zurüdzurufen, in welder eine frühere Wahrnehmung fie darbot. Unmöglich wäre offenbar diefe geordnete Wiederholung, ebenfo unmöglih auch ſchon jene erfte verftehende Zuſammen⸗ faſſung de8 Mannigfachen in der Wahrnehmung, wenn die zu- rüdbleibenden Erinnerungsbilver aller früheren Eindrüde mit denen der fpäteren nur überhaupt in einen Knäuel verſchmölzen; irgend eine beftimmte Gliederung muß ſogleich zwiſchen ihnen geftiftet worden fein und fie mit Auswahl und Abftufung gefondert und verbunden haben. Nur unter diefer Bedingung kann es gefchehen, daß der Hörende mit der Vielheit der nad) und nad vernommenen Worte einen Sinn verbinde, und daß dem Erinnernden jekt diefe vielen nicht in einem formlofen Schwalle zurüdfehren, fondern in berfelben Reihenfolge, die fie in der urſprünglichen Wahr: nehmung hatten, vor feinem Berwußtfein fi wieder entwideln.

Man bat weitere Rechenſchaft von der Art diefer Gliederung zu geben verfuht. Wenn eine Reihe finnlicher Neize nad und nad auf uns einmwirkt, jo begegne jchon der erfte einer hemmen- den Rückwirkung von Geiten des übrigen Inhalts, den er ftet8 im Bewußtjein bereit8 borfinde; unvermeidlich werde deshalb die Stärke des von ihm erzeugten Eindrucks ſchon eine Verminderung bi8 zu dem Augenblide erlitten haben, in welchem der zweite Reiz der Reihe zu unjerer Wahrnehmung kommt. Nicht mit dem urſprünglichen Eindrud des erften Reihengliedes, fondern nur mit dem noch vorhandenen abgeſchwächten Klarheitörefte defjelben, ver- bindet fi) num der Eindruck des zweiten Gliedes, denn dieſen Reſt allein trifft e8 im Bewußtſein noch wirfiih an. Auch dieſe

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Berbindung aber unterliegt demfelben hemmenden Einfluß, und beide Beftandtheile derjelben werden eine neue Verminderung ihrer Stärke bis zu dem Beitpunfte erlitten haben, in weldem der dritte Reiz unfere Wahrnehmung erwedt. Auch Diefer dritte verknüpft fich daher weber mit dem erften felbit, noch mit dem zweiten jelbft, am wenigften gleich innig mit beiden; er lann ſich nur zu dem gejellen, was er jet no im Bewußtſein vorfinbet, zu jener Combination nämlich, in welder ein zweiter Klarheits⸗ reſt des erften Eindrucks mit einem erften Klarheitsreſt des zwei- ten verbunden ift. Die Fortſetzung dieſer Betrachtung würde mit: hin zeigen, daß jeder fpätere Eindrud ſich mit einer Gruppe ver- fnüpft, die fir feinen andern die gleiche ift, und in welcher jedes frühere Glied der Reihe durch einen um jo ſchwächeren Klarheitd- reſt vertreten ift, je länger die Neibe geworden und je näher es felbft an deren Anfange Tiegt. Die Wiebererinnerung der Reihe folgt dann denfelben Abftufungen. Das Anfangsglied, wenn feine Borftelung im Bewußtfein auf irgend eine Art erneuert worden ift, hebt nicht auf eimmal und mit gleicher Kraft alle übrigen Glieder empor; erft wenn e8 felbft bis zu jenem erften Klarheitd- refte gehemmt ift, mit dem in der urfprünglichen Wahrnehmung fih das zweite Glied verbunden hatte, zieht e8 num auch Dies zweite in das Bewußtſein zurüd; erft dann taucht das britte Glied auf, wenn gegen den Widerftand, den die übrige Anfüllung des Bewußtſeins auch dieſem Vorgang leiftet, die Wiederbelebung des zweiten gelungen und die Combination der erften beiden bis zu dem Klarheitsreſte gehemmt ift, mit dem allein dies dritte Glied fih früher verknüpfen konnte.

Wenn ed nur um einen Grund für die Ordnung zu thun wäre, in welcher die Erinnerung die Glieder der wahrgenommenen Reihe wiederholt, jo reichten einfachere Betrachtungen aus. Wenn einmal eine Mehrheit von Eindrücken der Seele in zeitlicher Folge zulommt, fo werden diejenigen am inmigften oder ausſchließ⸗ Lich fich verknüpfen, die unmittelbar‘, ohne ein anderes Glied zwi⸗ hen ihnen, auf einander folgen. Denn worin auch immer Grund

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und Weſen der Vorftelungsverbindung, für die wir den Namen der Aflociation brauchen, und worin auch immer die Abftufung in der Innigfeit dieſer Verbindung beftehen mag: unter allen Umftänden wird doch ein mittleres Glied zwiſchen zweien das beffere Recht der engen Verknüpfung mit jedem von beiden haben und Durch fein Dazwiſchentreten beide von einander trennen. Wie- derholt daher die Seele in zeitlicher Yolge die einft ihr ebenfo zugelommenen Wahrnehmungen, fo kann der Weg dieſes Erinnerns von dem erften Gliede zu dem dritten nur durch das zweite gehen, und nicht die Innehaltung diefer Richtung, ſondern nur die Ab- weichungen von ihr würden befonderer Erflärung bedürfen. Allein daß überhaupt die Erinnerung in zeitlicher Abfolge die Eindrücke wiederholt, welche die erfte Wahrnehmung zeitlich nach einander aufnahm, ift nicht ebenfo ſelbſwerſtändlich. Dies Nacheinander ber Wahrnehmung war das Mittel und der Grund, die einzelnen Eindrüde in Beziehungen von abgeftufter Innigleit zu verbinden; wenn aber zwifchen dem Augenblid der vollendeten Wahrnehmung und bem der Erinnerung die ganze Reihe vergeffen ruht, fo ift fie mit der ganzen fo erworbenen Gliederung aller ihrer Beſtand⸗ theile gleichzeitig und auf einmal vorhanden. Warum erwedt nun die Erinnerung nicht das Ganze auf einmal, als eine gleichzeitige Momnigfaltigkeit, deren Theile unter einander nur mit jenen Ab- flufungen der Engigkeit verbunden find? Auf diefe Frage fuchte die Anfiht zu antworten, deren wir gebachten. In den Hem- mungen der Borftellungen durch einander und in der Anftrengung, Durch welche gegen foldhe Hemmung eine vergefjene Vorftellung wieder in das Bewußtſein zurückgebracht wird, ſah ſie Vorgänge, die an fich des Zeitverlaufs zur Erreichung ihres Zieles bedürfen; nur nah und nad, indem in beftimmten Zeitpunkten beftimmte Klarbeitsgrößen der Vorſtellungen wiedererrungen worden find, treten daher die wirffamen Veranlaffungen wirklich ein, welche ber Reihe nach die mit jenen Klarheitsreften verbundenen Glieder der urſprünglichen Wahrnehmungskette zurüdführen.

Aber wichtiger ift und bie andere zweite Leiftung, die wir

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oben ſowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als in der Nacderinnerung ihres Ablaufs nachzuweifen veripradhen. Zum Verſtändniß reichte e8 nicht bin, Daß die gehörten Worte nach einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben neben den fpäteren; auch die Erinnerung einer Reihe bringt nicht in jedem Augenblid nur ein Glied wieder, ſodaß vor und hinter ihn Nichts im Bewußtſein wäre; vor Diefem Gliede fenfen fich nod die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm beben ſich bereit8 die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ber- ftändniß erfordert mehr, e8 reicht nicht hin, Daß dieſe geordneten und abgeftuften Beziehungen zwifchen den einzelnen Vorftellungen beftehen, oder daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs- bilder derfelben im Bemußtfein vorüberziehen. Käme Nichts an- deres hinzu, jo wäre die Seele nur ein Schauplag, auf welchem thatſächlich ein Zuſammenhang des Vorftellend oder ein Wechfel des Willens ftattfände; ein Vorſtellen dieſes Zuſammenhangs aber oder ein Wiffen von diefem Wechfel würde exit in einem Beob- achter entftehen Können, der mehr verjtände, al8 Zuftände in fich auf einander folgen zu laſſen; der es verftände, in einem zweiten und höheren Bemußtjein jene Thatjachen, Die ftattfindenden Be— ziehungen zwiſchen jenen gleichzeitigen oder abwechſelnden Bor- ftellungen, zufammenzufaffen und zu beurtheilen.

In der That nun bebürfen wir freilich Diefes andern Zu— Ihauers nicht; denn dadurch ift Die Seele ja Seele, daß fie Au— deres und fich felbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben wir dennoch Grund zu haben, dieſe ihre eigenthümlidhe Fähigkeit ausdrücklich im Gegenfage zu dem Mechanismus der Wechjel- wirkungen zwilchen ihren unmittelbaren Borftellungen hervorzu⸗ heben. Man täufcht ſich gewiß, und nicht ohne nachtheilige Tol- gen des Irrthums, wenn man dies Wiffen vom Wechiel Des Willens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine felbftwer- ftändliche der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen glaubt. Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann uns

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wohl zu der unbeftimmten Forderung irgend eimer d PER den Verknüpfung zwiſchen allen Zuſtänden veranlaſſen, die Sl einen Weſen begegnen könnten; in welcher Form aber diefe Ber: knüpfung ftattfinden müßte, würden wir nicht errathen; einer fo wenig charakterifirten Verpflichtung würde Die Seele in ber- That ſchon durch jene Verfettungen der Affociation und Repro= duction zu entfprechen fcheinen fünnen, die ja wirklich ihre Vor— ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Auch Dies aber würde nicht ausreichen, die Nothmenbigfeit des zuſammen⸗ fafienden Wiffens vom Wechſel des Wiffend durch den Zuſatz be= gründen zu wollen, Daß das einheitliche Wefen der Seele zugleid) ein vorftellendes Weſen ſei. Wahricheinlichfeit, obmohl nicht Ge= wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele die Fähigkeit bed Borftellene, in welcher ihre unterfcheidende Eigenthümlichkeit befteht, in der That auch auf jeve Veranlaffung ausübt, welche geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordern; wahrſcheinlich tft es alſo an fi ſchon, daß auch die Verhältniffe, welche zwiſchen ihren einzelnen Vorftellungen eingetreten find, zu neuen Reizen für fie werden, auf melde fie wieder mit einer Handlung des Borftelend antwortet. Und da die Erfahrung uns nun lehrt, daß wirklich geſchieht, was wir hier erwarten zu können glaubten, fo entfteht allerdings der Schein, als ginge alles Wiffen um bie Aufammenhänge der Borftellungen und um ihren Wechſel als jelbftverftändlihe Zugabe aus der Thatfache diefer Zuſammen— hänge und dieſes Wechſels ſelbſt hervor.

Wenn wir im Gegenfag zu dieſem Schein für nothwendig halten, die zufammenfafjende und beziehende Bewußtſein als eine neue Thätigkeitsäußerung der Seele abzutrennen und auszuzeich- nen, jo wünſchen wir durch diefe Sonderung eine Folgerung ab- zujchneiden, Die und irrig ſcheint. Aus der Zerglieverung eines äußern Sinnesreizes, und ohne die Erfahrung zu befragen, kön— nen wir nicht vorher beftimmen, ob er als Ton oder als Farbe werde empfunden werben. Vergleichen wir aber zwei ähnliche Reize, von denen wir aus Erfahrung wiſſen, daß fie um ihrer

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oben fowohl in dem erften verftehenden Anhören einer Rede als in der Nacerinnerung ihres Ablaufs nachzuweiſen veripraden. Zum Berftändnig reichte es nicht hin, daR die gehörten Worte nach einander folgen; die früheren mußten aufbewahrt bleiben neben den fpäteren; auch die Erinnerung einer Reihe bringt nicht in jedem Augenblid nur ein Glied wieder, ſodaß vor und hinter ihn Nichts im Bewußtſein wäre; vor dieſem Gliede fenfen fich noch die ſchwindenden Bilder der früheren, hinter ihm heben fich bereit8 die auffteigenden der fpäteren Eindrüde. Aber das Ver— ftändniß erfordert mehr; e8 reicht nicht bin, daß dieſe georbneten und abgeftuften Beziehungen zwiſchen den einzelnen Vorftellungen befteben, oder daß in regelmäßiger Abfolge die Erinnerungs- bilber derjelben im Bewußtfein vorüberziehen. Käme Nichts an= deres hinzu, fo wäre die Seele nur ein Schauplat, auf welchem thatjächlih ein Zufammenhang des Vorftellend oder ein Wechſel des Wiffens ftattfände; ein Vorſtellen dieſes Zuſammenhangs aber oder ein Wiflen von dieſem Wechfel würde erft in einem Beob- chter entjtehen Können, der mehr verftände, als Zuſtände in fich auf einander folgen zu laſſen; der es verftände, in einem zweiten und höheren Bewußtſein jene Thatfachen, die ftattfindenden Be- ziehungen zwiſchen jenen gleichzeitigen oder abwechſelnden Vor— ftellungen, zufammenzufafien und zu beurtheilen.

In der That nun bebürfen wir freilich diefes andern Zu— ſchauers nicht; denn dadurch ift Die Seele ja Seele, daß fie An— dere und fich jelbft zu beobachten vermag. Aber dazu glauben wir dennoch Grund zu haben, diefe ihre eigenthümliche Fähigfeit ausdrücklich im Gegenfate zu dem Mechanismus der Wechfel- wirkungen zwifchen ihren unmittelbaren Borftelungen hervorzu=- heben. Man täufcht ſich gewiß, und nicht ohne nachtheilige Fol- gen des Irrthums, wenn man Died Wiffen vom Wechſel Des Wiſſens blos aus dem Begriffe der Seele als eines vorftellenden Weſens und aus der Einheit ihrer Subftanz als eine ſelbſtver— ftänbliche der Erwähnung kaum bebürftige Folge zu begreifen glaubt. Denn zuerft der leere Begriff diefer Einheit kann ung

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den Berknüpfung zwiſchen allen Zuftänden veranlafjen, die die einen Weſen begegnen könnten; in welcher Form aber dieſe Ber- knüpfung ftattfinden müßte, würden wir nicht erratben; einer fo wenig harakterifirten Verpflichtung würde die Seele in ber: That ſchon Durch jene Berkettungen der Affociation und Repro— Duction zu entiprechen jcheinen Fünnen, die ja wirklich ihre Bor- ftelungen in gegenfeitigen Zuſammenhang bringen. Aud Dies aber würde nicht ausreichen, Die Nothwendigkeit des zufammen- faffenden Wiffens vom Wechiel des Willens durch den Zufat be= gründen zu wollen, daß das einheitliche Wefen der Seele zugleich ein vorftellendes Weſen ſei. Wahricheinlichleit, obwohl nicht Ge- wißheit, hat allerdings der Gedanke, daß die Seele Die Fähigkeit des Borftellens, in welcher ihre unterjheidende Eigenthümlichfeit befteht, in der That aud auf jeve Veranlaffung ausübt, melche geeignet ift, zu ihrer Ausübung aufzufordem; wahrſcheinlich ift ed alſo an fih fchon, Daß auch die Verhältniffe, welche zwiſchen ihren einzelnen Borftellungen eingetreten find, zu neuen Reizen für fie werden, auf welche fie wieder mit einer Handlung des Borftellend antwortet. Und da die Erfahrung uns nun lehrt, daß wirklich gefhieht, was wir hier erwarten zu können glaubten, fo entjteht allerdingd der Schein, als ginge alles Wiſſen um Die BZufammenhänge der Vorftelungen und um ihren Wechfel als jelbftverftändlihe Zugabe aus der Thatfache dieſer Zuſammen⸗ hänge und dieſes Wechſels ſelbſt hervor.

Wenn wir im Gegenfat zu diefem Schein für nothwendig halten, dies zufammenfaffende und beziehende Bewußtſein als eine neue Thätigfeitsäußerung der Seele abzutrennen und auszuzeich- nen, jo wünſchen wir Durch diefe Sonderung eine Folgerung ab— zufchneiden, die und irrig fcheint. Aus der Zergliederung eines äußern Sinnesreizes, und ohne die Erfahrung zu befragen, kön— nen wir nicht vorher beftimmen, ob er ald Ton over als Farbe werde empfunden werben. Vergleihen wir aber zwei ähnliche Reize, von denen wir aus Erfahrung willen, daß fie um ihrer

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Form willen beide al8 Töne gehört werden, und dürfen wir vor⸗ ausfegen, daß die Thätigfeit des Hörens unter dem gleichzeitigen Eindrude zweier Reize das Verfahren nicht ändert, mit dem fie einen einzelnen für fich aufnehmen würde, jo Können wir daran denfen, das Ergebniß des Zuſammenwirkens beider Töne als Er- folg ihrer Wechfelwirfung zu berechnen. Dieſer Verfuch würde dagegen fruchtlos werben, wenn die Thätigfeit des Hörens durch jeden Wechjel in der Zahl und dem Berhältni von Tönen, die gleichzeitig an fie Anfpruch machen, zu einer Abänderung der Ge⸗ jege beftimmt würde, nach denen fie auf jeden einzelnen zurüd- wirt. Was fle dann in jedem diefer Fälle wirflich hörte, würde fi nicht aus der bloßen Berehnung der Eindrüde, welde bie Töne einzeln gemacht haben würden, und der zwiſchen biefen Eindrüden entftehenden Wechſelwirkungen errathen: man müßte noch einmal fragen, wie diefe ganze Summe von Thatfachen auf die börende Thätigkeit einwirkt, und weldhe neuen und eigenthlim- lichen Rückwirkungen fie in ihr veranlaßt.

Ih babe an einer früheren Stelle (S. 204) dieſe allgemeine Betrachtung ausgeführt, nach welcher wir von den einfachen Bor: ftellungen, Die und für erfte Rückwirkungen der Seele auf un- mittelbare Reize der Außenwelt galten, geiftige Thätigfeiten höherer Ordnung unterfchieden, als Rückwirkungen zweiten Gra⸗ des, angeregt durch die Verhältnifſe, welche zwiſchen jenen ein⸗ facheren einzelnen Acten der Seele entſtanden ſind. Immer von neuem als Reize höherer Ordnung ſchienen uns dieſe Verhältniſſe auf Das ganze Weſen ber Seele einzuwirken und Fähigkeiten deſ⸗ jelben zur Aeußerung zu Inden, zu deren Ausübung jene ein- facheren Reize erfter Orbnung feine Anregung gaben; nicht felbft- verſtändlich aus der Betrachtung dieſer veranlaffenden Urfachen ſchienen uns diefe neuen Rückwirkungen ableitbar; fle konnten in Formen gejhehen, die aus der Beichaffenheit der Bedingungen, die fie hervorriefen, unerflärbar wären, erflärbar nur aus der eigenthlimlidden Erregbarfeit der Seele, bie miterzeugend in ihnen fih äußert. Diefe Betrachtungen nun wenden wir auf ben bor=

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Tiegenven Fall an. Käme ed nur darauf an, Das Wiſſen vom Wechſel des Wiſſens als ein bloßes Gewahrwerden ber Verhält- niffe zwiſchen den Borftellungen zu. begreifen, ohne daß im Ge- wahrwerden Neues zu ihnen hinzukäme, fo wäre bie Umftändlich- feit unferer Ueberlegung überflüffig. Aber Dies zufammenfafjende Wiſſen gejchieht in Formen, die und nicht in den zujammenzu- fafjenden Thatſachen bereits gegeben ſcheinen, in Formen, welche nicht fo einfache Erzeugniffe gewiſſer Vorgänge im Vorſtellungs⸗ verlauf find, daß fie mit begreiflicher Nothwendigkeit überall ent- ftehen müßten, wo diefe Vorgänge ſich ereignen; wir halten fie für abhängig von einer neuen Seite in ber Natur der Geele, die bisher noch nicht zur Aeußerung fam, und die auch dann eine befondere Beachtung erforbert, wenn fie thatſächlich eine überall vorhandene, nur in unferer Definition noch nicht berüdftichtigte Eigenſchaft jeder Seele ift.

Frühere Zeiten haben von angeborenen Ideen geſprochen, die, dem menfchlichen Geifte vor aller irdiſchen Erfahrung ange- hörend, einen unverlierbaren Theil feines Weſens bildeten. Ohne immer genau zu prüfen, welche Merkmale e8 fein müßten, durch die ein Gedanke diefen vorzeitlihen Urfprung beweiſen könnte, bat man die Grenzen dieſes urjprünglichen Befiges von Erfennt- niß weit genug gezogen und Alles, was dem gebilveten Menſchen am höchſten gilt, den Glauben an Gott, an die Unfterblichkeit der Seele, an die freiheit des Willens ficherer zu ftellen gefucht durch Einreihung in den Schag der Wahrheiten, melde nicht die trüglide und unvollftändige Erfahrung, fondern Die ewig gleiche Natur unſeres geiftigen Weſens und darbiete. Die Willkirlich- feit ſolcher Anfichten hat der erfte Aufſchwung unferer nationalen Pbilofophie dur die Annahme begrenzt, daß allerdings wohl dem menfchlichen Geifte eine Mehrheit angeborner Ideen zukomme, aber nicht folcher Ideen, welche irgend eine Thatſache oder einen

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einzelnen Zug des Weltbaues enthüllen, fondern nur older, welche die allgemeinen Beurtheilungsgründe ausbrüden, nach denen unfer Denken jeden noch zu erwartenden möglichen Gehalt der Wahrnehmung auffaffen und verarbeiten muß. Aller Inhalt unferer Gedanken komme uns mittelbar oder unmittelbar von ber Erfahrung, aber nicht ebenfo die Regeln, nach denen wir be ziehend vergleichend urtheilend und folgernd diefen Inhalt ver- binden und trennen, von einem zu dem ambern übergehen. Ihre Duelle fei nicht außer uns zu ſuchen; das Gefühl der nothwen⸗ digen und unausweichlichen Giltigfeit, mit dem fie unjerem Be- wußtſein ſich aufprängen, bürge uns vielmehr dafiir, daß fie von dem abflammen, von dem wir uns nie trennen können, won ber eignen Natur nämlich unſeres geiftigen Weſens. Ausgerüftet mit diefen Weifen der Auffaffung ftehen wir der Mannigfaltigfeit der Eindrüde gegenüber, welche die Außenwelt in ung veranlaft hat; durch ihre Anwendung erft wird die thatfächlich vorhandene Summe der innern Zuftände für uns zur Erkenntniß. So bringen wir, und eingeboren, die anfchaulichen Formen des Raumes und der Zeit jenen Eindrüden entgegen, deren gegenfeitige Verhältniſſe fih nun fir uns in das Nach- und Nebeneinander der finnlichen Ericheinungswelt verwandeln; fo treten wir mit der unabweisbaren Borausfegung, daß alle Wirklichkeit auf der Grundlage beharı- liher Subftanzen beruhen müſſe, an melde fi) abhängig und unfelbftändig die mwanbelbaren Eigenfchaften knüpfen, mit ber Gewißheit ferner, daß jedes Ereigniß dur einen urfächlicen Zufammenhang als Wirkung an feine Borangänge gebunden jet: mit diefer uns eingeborenen Zuverfiht treten wir zur Beobach⸗ tung des gegebenen Inhaltes Hinzu und vermandeln feine Wahr: nehmung, indem wir diefe Grundfäge unferer Beurtheilung auf ihn anwenden, in die Erfenntniß eines durch innerlihen Zu— ſammenhang in fi abgefchloffenen Weltganzen.

Manches an diefen Anftchten, die den Gedanfengang unferer Wiſſenſchaft noch immer in weiter Ausdehnung beherrichen, wird innerhalb der Wiſſenſchaft felbft anders gefaßt werden müflen.

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Der ungeeignete Name angeborener Ideen wird und nicht ver⸗ leiten dürfen, jene Grundfäge unſeres Erkennen, oder die Be— griffe, mit denen man fie kurz zu bezeichnen pflegt, die Vor— ftellung des Raumes der Zeit des Dinge8 der Urſache und die andern, Die vielleicht von gleichem Werthe ſich anfchließen, als einen urfprünglich bewußten Beſitz des Geiftes zu betrachten. So wenig in dem Steine der Funke als Funke ſchon vorher ruht, ehe der Stahl ihn hervorlockt, jo wenig werben vor allen Ein- drücken der Erfahrung jene Begriffe vor dem Bewußtſein fertig fhweben und ihm in feiner Einfamfeit die Unterhaltung ge— währen, die und etwa die Betrachtung eines Werkzeuge vor dem Beitpunft feines möglichen Gebrauches verichaffen könnte. Selbft in unferm fpäteren durch Erfahrungen ausgebildeten Leben treten fie jelten in dieſer Geftalt vor unfere Aufmerkſamkeit; in ung vorhanden ift nur Die unbewußte Gewohnheit, nach ihnen zu han⸗ deln und in der Erkenntniß der Dinge zu verfahren; einer ab- fichtlichen Weberlegung bedarf e8, um fie, die lange unbemerkt bie Yeitenden Triebfedern unferer Beurtheilungen gewejen find, felbft zu Gegenftänden unferes Vorſtellens zu machen. In feinem an- deren Sinne find fie mithin angeboren als in dem, daß in ver uriprünglichen Natur des Geifte8 ein Zug Liegt, der ihn nöthigt, unter den Anregungen der Erfahrung unvermeidlich diefe Auf- faffungsweifen des Erkennens auszubilden, und daß andererfeits nit der Inhalt der Erfahrung allein fie ihm ſchon fertig zur bloßen Aufnahme überliefert, fondern daß e8 eben diefer Natur des Geifted bedurfte, um durch die Eindrüde der Erfahrung zu ihrer Bildung getrieben zu werden.

Und in folder Faſſung wird die allgemeine Richtigkeit die— fer Anfiht kaum für widerlegt zu Halten fein durch die mannig- fachen Berfuche, die Entftehung aller jener Grundzüge des Den- kens aus dem Mechanismus des unmittelbaren Vorftellens allein nachzuweiſen. Die Sprade, indem fie von einer Urfache, von einem Urſprung, von Abhängigkeit und dem SHerborgehen der Folge aus dem Grunde Spricht, erinnert uns allerdings durch dieſe

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Namen an die einzelnen Thatjachen und Formen der Erfahrung, auf deren Beranlaffung wir und am leichteften des inneren Zu- fammenhanges bewußt wurden, den jene uriprünglihe Natur unferer Vernunft zwifchen dem Mannigfachen vorausfest. ber eine genauere Ueberlegung wird uns Doch ftet zu dem Glauben zurüdführen, daß durch alle jene Beobachtungen dem Geifte nur Gelegenheit gegeben wurde, fi einer ihm eingebornen Wahrheit zu erinnern, und daß fie jelbft für ſich allein uns die allgemeinen Grundfäge der Beurtheilung aller Dinge nicht überliefern konn⸗ ten. In welden fein abgemefjenen Beziehungen auch immer unfere Borftellungen fich befinden mögen, al ihre innere Orb- nung wilrde nicht von jelbft den Gedanken einer nothwendigen Berbindung zwiſchen ihnen erzeugen, wenn nicht die Natur des Geiſtes ihrerfeit8 die Forderung einer folchen erhöbe.. Niemals wird Die genauefte Kenntniß der mechaniſchen Wechfelwirkungen zwiſchen den einzelnen Vorftellungen zu einer Erflärung der Art führen, wie jene allgemeinften Vorausfegungen über den Zuſam⸗ menhang aller Dinge in unfern Geift kommen, wenn wir nidt in ihm einen Drang zu ihrer Erzeugung anerlennen, den wir in unfern Begriff von feiner urfprünglicden Natur mit aufnehmen müffen. Darin befteht die wahre Einheit des Geiſtes, die ihn als Geift von der Einheit jedes andern Wefens unterjcheidet, daß er nicht nur feine verſchiedenen Zuftände zu einem Mechanismus der Wechſelwirkung unter einander zufammenbrängt, fondern über- Dies durch die beziehende Thätigleit, Die er in jenen Berfahrunge: weiſen bes Erfennens ausübt, dieſes Mannigfaltige der Eindrüde in dem Sinne eines zufammenhängenden Ganzen zu deuten und e8 in das Bild einer Welt zu verwandeln ftrebt, in beren innerlicher Verknüpfung er den Widerfchein feiner eignen Ein- heit findet.

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Berfuchen wir die einzelnen Leiftungen zu überbliden, in welchen die Aufgabe dieſes vereinigenden und beziehenden Wifjens nad und nach gelöft wird, fo gedenken wir zuerft jener Einheit der Seele noch einmal, Die nody nichts Anderes bedeutet, als Die Identität des wahrnehmenden Subjects, in welchem die Eindrücke aus verſchiedenen Theilen der Außenwelt und aus verſchiedenen Zeiten ſich ſammeln. Sie bildet die erfte nothwendige Bedingung fir jede That des Beziehens, die fpäter möglich werben foll, aber fie ift nicht Die zureichende Bedingung für die Entftehung folder Thaten. Nun blieb allerdings unfere Ueberlegung nicht bei die— fem leeren Gedanken einer fubftantiellen Einheit der Seele über— haupt ftehen; die Erfahrung lehrte und Gefete des Wirkens kennen, durch welde die innern Zuftände dieſes geiftigen Weſens und ihre wechfelfeitigen Einflüffe ſich auszeichnen; wir ſahen, wie der Mechanismus der Affvciation und Reproduction einzelne Ein- drücke enger verband als andere, und wie in Die bunte Menge der aufbewahrten Eindrücke eine Gliederung kam, die Aehnliches zuſammenbrachte, Unähnliches von einander ſchied. Doch auch diefe zweite Leiftung, alle dieſe Geſetze des Vorſtellungsverlaufs ſchufen an fi nur Beziehungen zwifchen den einzelnen Acten der vor- ftellenden Thätigfeit, geordnete Gegenftände einer Tpäteren mög- lichen Anſchauung; fie liegen den beobadhtenden Blid vermifien, ber dieſe Orbnung wahrnimmt und fie deutet. Diefer Blick des geiftigen Auges begegnet und zuerft in einer dritten Leiftung, in den Anfchauungen des Raumes und der Zeit, in welde das vereinigende und beziehende Thun des Geiſtes die gegenfeitigen Berhältniffe der Eindrüde wie in eine eigne neue Sprache überſetzt.

Wohl mag es ſcheinen, als wenn jede zeitlich ablaufende Reihe von Eindrücken eben dadurch, daß fie abläuft, von ſelbſt uns als ein zeitliche Naceinander auch ericheinen müſſe; und ebenjo wiirde die räumliche Ordnung bes 1. nur des Gewahrwerdens liberhaupt bedürfen, aber Teiner befondern

Thätigleit des Geiftes, welche dies Gegebene oder die Lotze I. 4. Aufl.

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Formen erft aus fich ſelbſt erzeugte, in denen es ihm erfcheinen wird. Aber vielmehr, eben fofern eine Reihe von Eindrüden zeit- ih in uns abläuft, ift fie niemals in unferem Bewußtſein als ein Ganzes, fle ift auch nicht in ihm als eim zeitlich georbnetes Mannigfadhe vorhanden; ihres Vorübergehens und ihrer inneren Gliederung im Borübergehen werben wir doch nur inne, wenn wir in einer ungetheilten That des Wiſſens ſchon vergangene und noch gegenwärtige Glieder der Kette zufammenfafien und ihre gegenfeitigen Berbältnifie auf einmal überſehen. Verlaufen daber unfere inneren Zuftände wirflih in zeitlicher Ordnung, gegen welche natürliche Annahme wir ſchwer zu behandelnde Einwürfe nicht bier bereits vorbringen wollen, jo find doch dieſe wirklichen Zeitverbältniffe unferer Eindrüde nur Bedingungen, welche unfere Seele nöthigen, durch eine neue und eigenthümliche Rückwirkung nun aus ſich ſelbſt auch die Anſchauung der Zeit hervorzu⸗ bringen, und welde fie zugleich befähigen, in biefer angefchauten Zeit jedem einzelnen Eindrude die ihm zukommende Stellung anzuweiſen.

Was uns ſchwieriger hier ſcheint, iſt uns deutlicher an dem andern Beiſpiele, dem Raume. Denn eine räumliche Ausdehnung, Größe und Lage werden wir den Eindrücken der Dinge in uns nicht beizulegen meinen; wie groß der vorgeſtellte Inhalt ſein mag, unſere Vorſtellung von ihm breitet ſich doch nicht in unſerer Seele zu gleicher räumlicher Ausdehnung aus. Mögen wir da⸗ ber unentſchieden lafjen, ob die Welt außer ung dieſe räumliche Wirklichkeit, in der wir fie zu fehen glauben, an ſich jelbft be⸗ fist oder nicht befißt: die Eindrüde, die fie ung mittheilt, find in unferem Geifte in beiden Fällen raumlos neben einander wie Die gleichzeitigen Töne einer Muſik, und alle wechfelfeitigen Beziehun⸗ gen zwifchen ihnen find nicht Verhältniffe der Lage, der Richtung und der Ausdehnung, ſondern den abgeftuften Verwandtſchaften zu vergleichen, bie auch die Töne dur unräumliche Intervalle von einander fcheiven und auf einander beziehen. Aus biefer Welt der raumloſen Eindrüde bildet die Seele die Anſchauung

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ber räumlichen Welt, nicht weil das Aeußere räumlich war, fon- dern meil der Kaum ein Wort ihrer eignen Sprache ift, in welche fie die unräumlichen Erregungen überjeßt, die fie von jenem empfing. Und ebenfo wie wir, an die Ausdrucksweiſe der finn- lichen Anſchauung gewöhnt, uns die harmoniſchen Beziehungen der Töne in die räumlichen Symbole der Höhe und Tiefe, bes Auf- und Abſteigens durch Intervalle zurücküberſetzen, fo Tieß Die Seele durch die uriprünglichen itberfinnlichen Beziehungen ber Eindrüde ſich darin leiten, jedem einzelnen zu jedem andern feine Stellung in der von ihr geichaffenen Raumwelt des Borftellens anzuweifen. Beide mithin, Zeit und Raum, zeitliche und räum- liche Berhältniffe der Eindrüde find nicht etwas Fertige, das unfere wiffende Thätigleit auf ihrem Wege fände und aufläfe; Beides erzeugt fie ſelbſt. Ob wir Recht Hatten, zu fagen, daß fie die Beziehungen der Eindrüde und der äußeren Gegenjtände in eine neue, nur ihr felbft eigne Sprache überjege, mag dahin geftellt bleiben. Vielleicht ift die Außenwelt an fich felbft eine räumliche; vielleicht verlaufen Ereigniffe wirklich in einer Zeit; dann hat unfer Bewußtfein, indem es feine eigne Sprache redete, zugleich die getroffen, welche die Sprache der Dinge ift; aber feine Thätigleit war darum weder eine andere noch eine weniger eigenthümliche. Denn aud wir, Die wir unter einander biefelbe Sprade und dafjelbe Denken haben, flößen nicht dem Andern unmittelbar den fertigen Sinn unferer Gedanken ein; auch er vernimmt zunächſt nur den an fich bebeutungslofen Schall des Wortes und muß durch eigne Thätigkeit aus ihm ſich dieſelbe Borftellung bald eines finnlichen Gegenftandes, bald einer über⸗ finnlihen Beziehung, bald eines Ereignifjes wieder erzeugen, die wir ihm mitzutheilen ftrebten.

Es ift eine unbewußte Wirkſamkeit unſeres Geiftes, durch welche auf dieſe Weiſe das räumliche Bild einer umgebenden Welt und die Anſchauung eines zeitlichen Fluſſes der Ereigniſſe um uns und in uns entſteht; niemals werden jene urſprünglichen Berhältniffe der Eindrücke, deren Abſtufungen wir in dieſen For⸗

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men deuten, in ihrer eignen wahren Geftalt Gegenftände unferes Bewußtſeins; niemals jehen wir unferer eignen Thätigkeit zu, wie fte dieſe räumlich zeitliche Welt aufbaut, die vielmehr ſtets fertig uns unmittelbar gegeben ſcheint und und einen müheloſen Einblick in ihre Mannigfaltigfeit geftatte. Aber in anderer Weile verräth diefe finnlihe Weltauffafiung doch überall die Spuren eines beziehenden Wifjend, das liber ihre einzelnen Theile fih verbreitet hat. Denn niemals beſchränkt fie fih in der That auf die Darftellung eines räumlichen Nebeneinander und einer zeitlichen Folge; ſelbſt dies finnliche Bild der Welt ift überall von Gedanken einer ſtufenweis gegliederten inneren Abhängig- feit durchzogen, ohne welche feine anſchauliche Ordnung fir uns unverftändlich fein würde. Nicht nur wie ein Spiegel gibt das Bewußtfein die Geftalt des Aeußeren; indem e8 einzelne Theile derjelben zu Eleineren Ganzen zufammenfaßt und fie gegen ihre Umgebungen abgrenzt, bringt e8 Theilftriche an, die fo nicht in dem unmittelbar gegebenen Bilde Liegen, fondern von der Voraus⸗ fegung einer ungleichen inneren Zuſammengehörigkeit ausgehen, die zuweilen wohl das Entferntere ftärker verknüpft, als das Be- nahbarte. Zu diefer neuen Drbnung des Sinnes und der Be- deutung, in welde wir das finnlih Wahrgenommene bringen, führt und zum Theil der natürliche Mechanismus unferer Vor⸗ ftellungsafjociationen, ohne doch allein dieſes Werk zu vollenden. Indem er die früheren Wahrnehmungen fefthält und fie wieder auftauchen läßt, wenn ber veränderte neue Eindrud doch burdh einzelne beibehaltene Züge an fie erinnert, bringt er nach und nad das Material zu einer zufammenhängenden Erfahrung ber- bei, deren wirkliches Zuftandelommen doch nur durch die eingrei- jende Thätigfeit des Denkens erfolgt.

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Gar Vieles führt die äußere Wahrnehmung räumlich und zeitlich verbunden unferm Bewußtſein zu, was durch feine Ge- meinfhaft des Sinnes verknüpft, ſondern fremdartig unter ein- ander, nur eimem beſonderen Zufalle fein augenblidliches Bei- fanmenfein verdanlt. Die Erinnerung wiederholt treu und unbefangen, was ihr die Wahrnehmung bot; fie bringt Das Zu- ſammenhangloſe mit gleicher Genauigfeit wieder, wie das innerlid Berwandte, und wirft unfern Borftellungslauf durch ungeeignete Afjociationen, die fih_an einzelne Eindrüde gefnüpft haben, aus der ftetigen Richtung heraus, die er durch die Reihenfolge ein- ander begründbender Gebanfen nehmen könnte. Aber der Geift begnügt ſich nicht damit, fi) von dem Mechanismus der Wahr- nehmung und Erinnerung Verbindungen der Borftellungen auf- drängen zu lafien; als eine beftändige kritiſche Thätigfeit jucht das Denken jede berjelben auf die Rechtsgründe zurückzuführen, weldye die Verbindung des Verbundenen bedingen und das Zu- ſammenſeiende als ein Zuſammengehöriges erweifen. So trennt e8 von einander die Eindrücke, die ohne inneren Zufammenhang fih in der Seele zufammenfanden, und erneuert beftätigend Die Verknüpfung derer, denen die innere Verbindung ihres Inhaltes ein Recht auf beftändige Gefellung gewährt. In allem diefem Thun wird es geleitet und unterſtützt durch denfelben mechanifchen Borftellungsverlauf, den es berichtigt; denn er felbft, indem er durch nee Wahrnehmungen den früheren widerfpricht ober fie beftätigt, führt feine eigne Verbeſſerung durch die allmähliche Sonderung herbei, bie auf dieſem Wege unvermeidlich das Fremd⸗ artige jcheidet und das Verwandte zufmmenbringt. Dennoch ift er allein nicht das Denten und vollzieht nicht ſelbſt die Auf- gaben, die wir dieſem ftellen.

Dft wiederholte ähnliche Borftellungen werden nicht allein in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit aufbewahrt, jondern neben ihnen bilden ſich zugleich allgemeinere und unbeftimmtere Bilver, welche Das Gleichartige der einzelnen auffammeln und ihre Unterfchiebe verwiſchen. Aber die bloße Gegenwart diefer Bilder, welche der

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mechaniſche Borftelungslauf für fich erzeugt, ift noch nicht gleid- zufegen dem Begriffe, in deſſen Form. das Denken diefelbe Man- nigfaltigfeit auf ihr gleichartige Allgemeine zurüdführt. Denn in biefem ift überall der Nebengedanfe einer geſetzgebenden Regel mitvorhanden, durch welche die einzelnen Züge des Allgemeinen nit nur als eine thatſächliche Verknüpfung, die in vielen Ein- zelnen fich wiederholt, jondern als ein zufammengehöriges Ganze eriheinen, in ihrer Verbindung durch den untheilbaren Sim des Weſens verbirgt, defien Bild fie find. Es kommt wenig darauf an, wie ausgebildet unſer Wiſſen um den Grund und die Bedeutung diefer Zufammengehörigfeit ift; daß fie überhaupt von uns gefühlt wird, und daß wir die bloße Summe vereinigter Merkmale, welche und der Vorftellungslauf an ſich bietet, in den Gedanken eines Ganzen verwandeln, ſcheidet binlänglich unfere Auffaffung von dem bloßen Bilde ſelbſt. Diefe Verwandlung aber vollzieht be- ftändig auch das ungelibtefte Denken, wenn es einen Namen ber Sprache ausipriht; noch mehr, wenn es dem Namen den Ar- titel voranjhidt und das Wahrgenommene als irgend ein Das bezeichnet, hat es jchon Fräftig genug und umverfennbar dieſe Ber- einigung der zufammengefellten Züge des Bildes in den Geban- fen eined innerlich untheilbaren Ganzen vorgenommen.

Der Lauf der Wahrnehmungen zeigt uns oft zwei Eindrücke verbunden, Die eine bald kommende nene Empfindung uns getrennt darftellt, während eine dritte ihre frühere Verknüpfung wieder beftätigt. Kein Grund konnte und veranlaffen, in jener erften Wahrnehmung das Verbundene zu trennen, wir nahmen es un: befangen als an einander bängend bin; der letzten erneuerten Wahrnehmung diefer Verbindung ftellt fi dagegen bie Erinne- rung an die inzwiſchen gemadte Beobachtung ihrer Auflöfung entgegen; beide Eindride werden nun nicht mehr in jener arg: Iofen Weife, wie fie ung die erfte Anſchauung darbot, an einander haften, fondern durch den Nebengedanfen ihrer möglichen Tren⸗ nung aus einander gehalten werden. Der Baum, zuerft blühend oder belaubt gefehen, wirb und ein einzige8 Bild gewähren, beffen

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Theile alle mit gleicher Innigkeit zufammenhängen; die folgende Wahrnehmung des entlaubten ftört dieſes Bild, und auch mo e8 nen durch wirkliche Anſchauung gegeben wird, ift es nun für uns in Die Borftellung der feitftehenden Form des Stammes übergegangen, an den als veränderliche, vergängliche Theile bie Blätter fih knüpfen. Solche Trennungen und Verbindungen der Borftellungen find das, was wir denfend in der Form des Ur- theils ausdrücken; aber wir jagen im Urtheil mehr, als fie ſelbſt enthielten. Indem wir vom Baume fagen, er fei grün, faffen wir ihn unter der Form eines jelbftändigen Dinges, an dem bie Farbe in jener Weife veränderlich und abhängig bafte, in welcher überhanpt Eigenichaften ihren Trägern zufommen. Dieſes mitge- dachte Verhältniß zwilchen Ding und Eigenfchaft ift der Grund, auf welchen wir jene eigenthümliche Verknüpfung unferer Borftel- lungen zurüdführen, die ebenjo ſehr das Verbundene auseinanber- hält, wie fie es vereinigt; in der Natur jener inneren Beziehung, welche die Subftanz mit ihren Attributen zufammenfaßt, Tiegt die Nothwendigfeit, welche auch hier den Inhalt der BVorftellungen in biefer befondern Form zufammenfpannt. Nicht anders, wenn in unferer Wahmehmung auf die Anfchauung der Bewegung, mit der ein Körper ſich uns nähert, der Schmerz des Stoßes folgt. In unferer Erinnerung werden beide Eindrüde fich affociiren, aber das Urtheil, daß der Körper uns ftoße, enthält mehr als die bloße Wiederholung der Thatſache, daß beide Eindrücke ſich in und zu folgen pflegten. Indem e8 den Körper als die thätige Urſache, den Stoß als die Wirkung bezeichnet, führt e8 das Zu- fammenfein auch diefer Verbindung der Borftellungen auf einen inneren Grund ihrer Zufammengehörigfeit rechtfertigend zurück, auf jenen Cauſalzuſammenhang, deſſen allgemeine Herrichaft über alle Ereigniffe eine ber urfprünglichen Vorausſetzungen unferes Geiſtes über die Verknüpfung der Welt ift.

Aus der Öfteren Wiederholung einer Wahrnehmung endlich, in welcher eine Begebenheit auf Die andere folgte, wird ſich die Gewohnheit der Erinnerung ausbilden, bei dem Wiedereintritt

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ber einen von ihnen auch Die Wieberfehr der andern zu erwarten. Sole Erwartungen Hoffnungen oder Befürchtungen über die Zukunft, einfache Erzeuigniffe des mechaniſchen Borjtellungsverlau- jes, beherrjchen uns im täglichen Leben überall, und ein großer Theil unferer Handlungen wird ohne Zweifel durch diefe unmit- telbaren Borftellungsverbindungen ohne weitere Weberlegung ihres Urſprungs ebenfo geleitet, wie wir e8 von der Seele des Thieres voranszufegen pflegen, der wir mit Recht oder Unrecht jenen Me⸗ chanismus allein, nicht aber die höhere Thätigleit des Denkens zugeftehen. Und in dev That werben jene Erwartungen dem Thiere fitr die praftifchen Zwecke feines Lebens ziemlich dieſelben Dienfte Leiften, Die e8 von einer denkenden Wiederholung deſſel⸗ ben Inhaltes in der Yorm eines Schluffes hoffen künnte. Aber dennoch Liegt in dem Schluſſe eine ganz andere geiftige Arbeit, als in jener inftinctiven Erwartung. Indem wir die erneuerte Wahrnehmung zum Ausgangspunkt einer Vorausſicht benußen, rechtfertigen wir im Schluffe Das Zufanmenfein des Ermwarteten mit dem Wahrgenommenen durch den Gedanken eines allgemeinen Gefetes, durch deflen Gebot beide zufammengehören. Eo bringen wir auch hier die Thatfache der Verknüpfung entweder auf ben Grund zurüd, der in ber eignen Natur der Sache liegend fie nothwendig macht, oder wir überzeugen uns, daß feine wefentliche innere Beziehung beide Glieder mit einander zufammenfchließt und daß jene Erwartung eine der vielen Täufchungen ift, welche der Mechanismus des Borftellungslaufes uns zuführt, indem er die mannigfachen Eindrücke nicht nad der Verwandtſchaft ihres In⸗ haltes, jondern nad dem Zufall ihres gleichzeitigen Eintretens in unfer Bewußtſein aneinanderfügt.

Bon den Ergebnifjen diefer fichtenden, kritiſchen Thaͤtigkeit des Geiftes ift nun unſere ſinnliche Weltauffafjung überall be- reits durchdrungen; fie ift nirgends eine rein finnlidde, ſondern zugleich eine verftändige. Nirgends fchweben uns Die Erſcheinun⸗ gen als bloße Bilder vor, wir glauben bie Dinge mit zu ſehen, beren Einheit und Selbftändigfeit fie zu einem zuſammengehörigen

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Ganzen als Eigenfchaften verbindet; nie tritt in der Beobachtung eine8 Ereigniſſes der nächte Zuftand fir und nur an die Stelle des früheren, höchftens in unferem Bewußtſein durch die Erinne- rung an diejen begleitet, fondern wir glauben den urfächlichen Zufammenhang mit zu beobachten, der beide durch die Stetigfeit einer inneren Verknüpfung verbindet; mo endlich größere Gruppen der Begebenheiten einander folgen, ſcheint uns in ihrer Ordnung unmittelbar der Zwang einer durchdringenden Geſetzlichkeit offen- bar, der jedem Grunde feine Folge, jeder Urſache Größe und Art ihrer Wirkung zumißt. Doc dieſes allgemeine Beftreben des Berfiandes, die finnlihe Wahrnehmungswelt als ein innerlich zuſammenhängendes Ganze aufzufaflen, erreicht felbft feine Be- friedigung nur durch die Beihilfe der Erfahrung. Indem wir den Erſcheinungen Wefen, den Ereignifjen Urfachen, ihrem Zu⸗ ſammenhange Gejege unterlegen, greifen wir doch häufig fehl in der Bezeichnung beilen, was das eigenthümlihe Wefen der ein- zelnen Erſcheinung, die befondere Urfache des beftimmten Ereig⸗ nifjes, das inhaltuolle Geje eines begrenzten Zuſammenhanges ift. Nur indem eine glüdlihe Mannigfaltigleit der Beobachtun⸗ gen und eine ftetige Aufmerkſamkeit auf ihre Unterfchieve und Aehnlichkeiten und von den zufälligen Borftellungsverfnüpfungen befreit, melde die einzelnen Wahrnehmungen in uns bewirken, lernen wir allmählich die allgemeineren und weientlihen Zuſam⸗ menhänge erkennen, und unfere Weltauffafjung thut in wachjen- der Annäherung dem Verlangen des Berftandes Genüge, die Bor: ausjegungen, die er mit Nothwendigfeit über allen Zufammen- hang der Dinge macht, an der Mannigfaltigfeit des Wirflichen in der That zur Geltung gebracht zu jehen. Aber die Gelchichte diefer allmählihen Entwidelung gehört nit zu den Gegenftän- den, die diefer erſte Ueberblick unſeres geiftigen Lebens umfaffen fol. Nur der Betrachtung der Hilfsmittel gewidmet, aus deren Gebrauch die menſchliche Bildung entftehen Tann, muß er fid begnügen gezeigt zu baben, wie wenig diefe Bildung fertig in und liegt, und wie felbft das, was als angeborne Anlage uns

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zulommt, nur dadurch feine Aufgabe erfüllt, daß feine Kraft im Gebrauche wächſt, indem jede gewonnene Erfenntniß das Ber- mögen des Geiftes zu ihrer Erweiterung vermehrt.

Ueber die wahrnehmende Sinnlichkeit und den beziehenden Berftand hinaus hat eine weit verbreitete Anficht noch ein höheres Streben der Erfenntniß in dem menſchlichen Geifte zu finden geglaubt, die Thätigleit der Bernunft, die, auf Einheit unferer Weltauffaffung gerichtet, die Erfahrung zum Abſchluß zu bringen ſuche. Welche Zweifel e8 auch erweden möcte, fie als nenes und höheres Vermögen dem Berftande überzuordnen, mit deſſen Gewohnheiten ihre eignen Forderungen fogar in Streit zu ge— rathen fcheinen, jo drückt doch diefer neue Name in der That eine neue und eigenthlimliche Form des beziehenden Dentens aus, bie in dem wirklichen Leben des Geiftes zu bedeutſam bervortritt, um nicht bier hervorgehoben zu werden, noch ehe wir ihrem Ur- fprunge weiter nachforſchen können.

In jedem einzelnen Falle, den uns die Erfahrung darbietet, ift der Berftand befchäftigt, nad jenen Gejegen des Zuſammen⸗ hanges, die er als allgemein geltende Nothwendigkeiten voraus- fegt, nach dem nächften ergänzenden Gliede zu forfchen, auf wel- ches die Wahrnehmung hinmweift und welches fie fordert. Bu jedem einzelnen Schein der Eigenſchaften fucht er ein Weſen, Das ihn wirft, zu jedem einzelnen Ereigniß die Urſache, die es her⸗ vorbrachte, und Die Wirkungen, bie es ſelbſt begründen wird, zu jeder Gruppe von Thatſachen das Geſetz, melches fie beherricht. Sp von Punkt zu Punkt fortichreitend, wie weit ihn die Beran- lafjungen der Wahrnehmung treiben, verfnüpft er aud nur im Einzelnen Punkt mit Punkt; aber er legt fi nicht die Frage vor, welches endliche Geſammtbild der Welt und ihres Zuſammen⸗ hanges nun zulett entfliehen werde, wenn Diefelben Regeln Der Beurtbeilung auf alle wirklichen und benfbaren Fälle der Wahr- nehmung und auf jeden einzelnen fo oft wiederholt angemanbt

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würden, als jeder nad) feiner Natur zur Erneuerung diefer An- wenbung veranlaflen Könnte. Es befümmert den Berftand nicht, wie die Reihe der Urjachen, welche auffteigend jede Urſache eines einzelnen Ereignifjes von Neuem verlangt, irgendwo abjchließen werde, in welchem Zuſammenhang die unzähligen Fäden geſetz⸗ licher Berfnüpfung, die er neben einander fcharfjinnig verfolgt, zulegt in einander verflochten fein mögen, an welchem Dafein von unbebingter Natur endlich die vielfachen bedingten Wirklichfeiten bangen, deren Wechfelverhältniffe unter einander, nachdem fie vor⸗ handen find, ſich feinen Gejegen unterworfen zeigen.

Es Tann eine fpielende Bertheilung der Arbeiten fcheinen, wenn wir von dem Berftande behaupten, daß er dieſe ragen fih nicht ftelle, und wenn wir num hinzufügen, daß aus ihrer Beantwortung die Vernunft ihre Aufgabe madt. Und gewiß find beide darin verwandt, daß fie eine Zufammenfaffung des Mannigfachen verſuchen, aber der Leitende Gedanke, den Die Ver⸗ nunft bierbei befolgt, die Gewißheit, daß die Summe der Wirt: lichfeit nur als vollendete Einheit und Ganzheit Beftehen haben tönne, ift doch nicht derſelbe Grundſatz, nach welchem der Ber: ftand nur die Form der Verknüpfung zwifchen je zwei Gliedern unterfucht, obne über die Geftalt, welche aus der Bereinigung aller hervorgehen wird, einen Ausfpruch zu thun. So wie der ardhiteftonifche Stil, den wir bauend wählen, die Berfettungsart jedes Baugliedes mit jedem andern beftimmt, aber völlig unbe- ftimmt die endliche Form des Gebäudes läßt, defien Plan viel- mehr nur der Zweck vorzeichnet, dem wir es wibmen: fo zeigen uns die Grundſätze des Verſtandes wohl den Stil des Welt- baues, aber nicht die Geftalt der Umriſſe, die fein vollendetes Ganze befist. Daß die Vernunft dieſes Räthſel Idfe, werben wir ebenſo wenig behaupten, al8 wir dem Berftande jemals das voll- fändige Gelingen feiner geringeren Aufgabe nachrühmen dürfen. Schon über den Sinn der allgemeinen Gefege, die er dem Zu— fammenbange der Dinge vorjhreiben zu können glaubt, täufchen ibn oft die Gewohnheiten einer beſchränkten Erfahrung; an den

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Beifpielen ber Ereignifje haftend, welche und der für jeden end⸗ lihen Geift nur beſchränkte Kreis der Beobachtung verführt, nehmen wir zu oft die beftimmte Form, unter der fi in befon- beren Fällen der geſetzliche Zuſammenhang der Dinge äußert, für die reine und allgemeine Nothwendigfeit an, die wir überall wie- derfinden müßten; fo gerathen wir in manderlei Unflarbeiten über den wahren Sinn und die Giltigfeitögrenzen der Grundſätze, die wir auf einen gewohnten Erfahrungskreis lange mit dem voll= ften Gefühle ihrer Nothwendigkeit und unmittelbaren Klarheit anmwendeten. Um fo weniger, je mehr fchon dieſe Schwierigkeiten und drüden, vermag die Bernunft das Bild eines Weltganzen zu begrenzen, deſſen Einzelnbeiten ihr nur unvollftändig liberliefert werden; fie kann nur allgemeinfte Forderungen ausfprechen, denen Genüge zu leiften fie von jedem Verſuche dieſes Wagniſſes verlangt, und auch) fie wird, bevrängt von dem mannigfach widerftreitenden Intereſſe, mit dem unfere Wünfche und Bedürfniſſe in den That- beftand der MWirflichleit venwidelt find, den Sinn deſſen häufig mißverftehen, was fie verlangen muß. Noch mehr wie die ver- ftandesmäßige Betrachtung der Welt werben biefe Beftrebungen der Vernunft, wie fie im unmittelbaren Leben des Geiſtes vor⸗ fommen, eine geordnete Aufflärung über fich felbft durch Die Hilfe der Wiffenfchaft bebitrfen, und noch weniger als jene find fie, ohne die Zucht einer abfichtlich geleiteten Bildung, nur als na- türliche Anlage des Geifted zur Erreichung ihres Zieles fähig. Aber in dem Anlauf, den fie nehmen, verratben fie doch eim eigenthiimliches der Beachtung würdiges Thun des Geiftes, deſſen Duelle wir nicht mehr allein in der vorftellenden ober beziehenden Natur der Seele, jondern in einem andern Zuge ihres Wefens, dem wir und nun zumenben, glauben fichen zu müffen.

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Füunftes Kapitel,

Bon den Gefühlen, dem Selbftbewußtfein und dem Willen.

Entſtehung und Formen ber Gefühle Ihr Zuſammenhang mit der Erkenntniß.

Die Werthbeitimmungen der Vernunft. Selbfibemußtfein; empiriſches und reines

Ich. Triche und Strebungen. Der Wille und feine Freiheit. Schluß:

bemerfung.

So wie die Farbe eines Gemäldes den Eindrud feiner Zeich⸗ nung belebt und fteigert, fo durchdringen Gefühle der verichieben- ften Arten alle Die mannigfachen Ereigniffe des Borftellungslebens, die wir bißher ſchilderten. Wie wenig wir ihren Urfprung unmittel- bar aus den Berwidlungen der Vorftellungen ableiten können, bie zu ihrem Hervortreten Beranlafiung geben, haben wir uns früher überzeugt. War es eine urſprüngliche Eigenthümlichkeit des Gei- ſtes, Beränderungen nicht nur zu erfahren, fondern fie vorftellend wahrzunehmen, fo ift e8 ein ebenfo urfprünglicher Zug deſſelben, fie nicht nur vorzuftellen, fondern in Luft und Unluft auch des Werthes inne zu werben, den fie für ihn haben, indem fie bald in dem Sinne feiner eignen Natur ihn anregen, bald ihm For⸗ men und Berfnüpfungen der Zuftände zumuthen, die dem natlir- lichen Ablauf feiner Thätigleiten zuwider find, Denn darauf wird doch zulett alle Luft beruhen, daß dem Geifte, deſſen Beftimmung nicht Die Ruhe, fondern die Entwidlung ift, Erregungen zugeführt werden, die, mit ber Richtung den Bedingungen oder der Form feiner lebendigen Entfaltung übereinftimmend, ihm nicht nur bie Sicherheit des Unangefochtenjeins ſondern eine Förderung feines eignen Thuns verichaffen. Und ebenjo, wie die Seele als ver- änderliche8 und thaͤtiges Welen im Gefühle der Luft fich biefer Uebung ihrer Kräfte als einer Steigerung in dem Werthe ihres Daseins bewußt wird, ebenfo befigt fie die Fähigkeit, die Std- rungen, die von ihrem eignen Wege fie ablenfen möchten, weder blos zu leiden noch an ihnen zu Grunde zu geben, fondern fie

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im Gefühle der Unluſt als das was fie find, als Störungen ihres beftändigen Sinnes, zu empfinden und von der natürlichen Ent= widlung ihres Weſens abzutrennen.

Wir find es freilich zunächft, die Unterjuchenden, welche bie Entftehung der Gefühle jo uns deuten; wir vollziehen jene Berglei= hung des Eindruckes mit den Bedingungen, bie dem Leben ber Seele ans ihrer eignen Natur vorgeſchrieben find; wir glauben in dem Unangenehmen’ den Wiberftreit der gejhehenen Erregung mit dem, was diefe Bedingungen fordern, in der Luft die Ueber— einftimmung beider zu finden. Die fühlende Seele jelbit macht weber überall, no unmittelbar im Augenblide des Gefühls dieſe Bergleihung. So wenig fie fi der vermittelnden Ereigniſſe in ihrem Körper bewußt wird, aus denen die finnlide Empfindung entfteht, fo wenig fieht fie vor dem beginnenden Gefühle dem Streite oder der Webereinftimmung der Eindrüde mit den Be— dingungen ihres Lebens zu, um nım erft nad) dein Ergebniß dieſer Bergleihung Luft oder Unluft an fie zu Tnüpfen. Unbelannt mit jenen Bedingungen, wie fie unbelannt ift mit den Ereigniffen in den Sinnedorganen, wiirde fie felbft dieſe Vergleihung nicht ausführen können; und wie von allen Vorgängen, welde die Em⸗ pfindung begründen, nur das legte Ergebniß, die Empfindung felbft, in dem Bewußtſein auftaucht, ebenjo fteigen die Gefühle in und auf, ohne die innere Bewegung der Seele zu verrathen, aus der fie entipringen. Aber einmal vorhanden, werden fie doch immer von und fo gedeutet werden, wie wir e8 gethan haben, und nie wird es dem natürlichen Bewußtſein zweifelhaft fein, Daß in irgend einer unbelannten Förderung, die unfer Leben erfahren hat, die Luft, in irgend einer Störung die Unluft wurzele Und ebenfo endlich, mie die wachſende Erfahrung unfere Vorſtellungsver⸗ knüpfung berichtigt, wird auch diefer Rückſchluß durch fie näher be= ftimmt. Die augenblickliche Förderung, die und ein Eindrud bereitete, bürgt nicht für die Heilfamkeit auch der fpäteren Nachwirkungen, mit welchen er in das Ganze unferes Lebens eingreift, und ber einzelne Bortheil, den und die eine Eigenfchaft eines Reizes bereitete, hin⸗

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bert nicht die Gefährlichkeit der Einflüffe, die von ben übrigen ausgehen Können. Das Gefühl wird Recht behalten, wenn es die Süßigfeit eines Giftes Tiebte und die geredhte Strafe bitter fand, denn immer Yag in jenem Geſchmacke eine augenblidliche Vebereinftimmung des Eindrudes mit der Thätigfeit des Nerven, und in dem Schmerz der Strafe eine feindlihe Störung unferer Stimmung. Die Erfahrung nimmt diefe Urtheile nicht zurück; fie warnt nur, fi auf fie allein zu verlaffen, und lehrt uͤns über den Geſammtwerth eines Eindrudes erſt dann zu urtheilen, wenn wir aud die Geſammtſumme feiner Folgen und der Stö- rungen oder Förderungen, die fih an fie Inüipfen, gezogen haben.

Die Formen find verichtenen, unter denen die Gefühle im finnlichen wie in dem geiftigen Theile unſeres Dafeins fi dar⸗ bieten. Bald treten fie hervor, an einen beftimmten Eindrud ge- knüpft, deffen Inhalt und Form noch außerdem durch eine beut- Tihe Borftelung wahrgenommen wird, bald breiten fie fih ohne Hare Erinnerung an ihren Urfprung als allgemeine Stimmungen über das Gemüth aus, den Beleuchtungen ähnlich, die von einem verborgen bleibenden Lichtquell durch unzählige Zurückwerfungen der Strahlen entftehen. Verknüpft mit mancherlei körperlichen Zu⸗ ftänden, von denen fie entweber veranlaßt werden, oder Deren Ver⸗ anlafjungen fie jelbft find, begleitet bald von einem ärmeren Er⸗ innerungßfreife, defjen jeder einzelne Theil das eigenthümliche In⸗ terefle wiederzuerwecken fucht, welches feinem Inhalt anhaftete, durchzogen endlich von mancherlei ihres Zieles entweder gewillen oder unbeftimmt fuchenden Strebungen, nehmen die Stimmungen des Gemüthes eine Mannigfaltigfeit fein fchattirter Formen an, die weit entfernt find von der trodenen Vergleichbarkeit eines bloßen Mehr und Minder allgemeiner Luft und Unluſt. Der Ber: lauf der Bildung, wie er die Weite des Bewuftfeins für die Zu- jammenfafjung mannigfacher Borftellungen vergrößert, fteigert aud) die Feinheit diefer Durchkreuzungen der Gefühle und bringt jene

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unermeßliche Vielfeitigfeit der Gemüthsregungen hervor, Deren Darftellung faum der Kunſt und nie den unvolllommmeren Mitteln der wiſſenſchaftlichen Zergliederung gelingt.

Ohne dieſes Labyrinth jett zu betreten, in welches ung Die Betrachtung der menſchlichen Eultur fpäter und zu vertiefen nö- tbigen wird, möchten wir drei Richtungen namhaft machen, in denen das Gefühl als eine ber weſentlichſten Kräfte in dem Zu- fammenhange unferes geiftigen Lebens wirkſam wird. Man wird vor Allem fich entwöhnen müflen, die Gefühle als Nebenereigniffe zu nehmen, die im Verlauf der inneren Zuftände zumeilen ein- träten, während der größere Theil der legtern in einer gleichgilti- gen Reihe Teid- und Luftlofer Veränderungen beftände. Außer der völligen Ruhe würden wir uns feinen Zuftand denken fünnen, ber nicht mit den eignen Entwidlungsbedingungen der Seele entweder üübereinftimmte ober in irgend einer Weife ihnen zumider wäre. Welche Erregung daher die Seele aud immer erfahren mag, von jeder werden wir einen Eindrud der Luft oder Unluft erwarten müfjen, und eine genauere Selbftbeobadhtung, fo weit fie bie ver- blaßten Farben dieſer Eindrücke zu erfennen vermag, beftätigt diefe Bermuthung, indem fie feine Aeußerung unferer geiftigen Thätig- feit findet, Die nicht von irgend einem Gefühle begleitet wäre. Verblaßt find jene Farben allerdings in dem entwidelten Gemüth vor dem übermächtigen Intereffe, das wir einzelnen Sweden un- ſerer perjönlichen Beftrebungen zuwenden, und nur eine abfichtliche Aufmerkfamteit findet fie wieder auf, ebenfo wie unfere mikroſtopiſche Beobachtung die regelmäßige Bildung unfcheinbarer Gegenftände, über die unfer Blid gewöhnlich unachtſam hinwegſieht. Jeder ein- fachen finnlihen Empfindung, jeder Farbe, jedem Zone entipricht urſprünglich ein eigner Grad der Luft oder Unluft; aber gewöhnt, dieſe Eindrücke nur in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegen- ftände aufzufaflen, deren Sinn und Begriff ung wichtig ift, bemerken wir den Werth des Einfachen nur dann noch, wenn wir mit geſam⸗ melter Aufmerkſamkeit uns in feinen Inhalt vertiefen. Jede Form ber Zufammenfegung des Mannigfaltigen erregt neben ihrer Wabr-

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nehmung in uns einen leiſen Eindrud ihres Uebereinſtimmens mit den Gewohnheiten unferer eignen Entwidlung, und dieſe oft unflaren Gefühle find e8, welche fiir jedes einzelne Gemüth jedem einzelnen Gegenftand feine bejondere Färbung geben, jo daß er, mit demfelben Thatbeftande dev Merkmale für alle, doc für jeden von ung ein anderer ſcheint. Aber jelbft die einfachiten und fchein- bar trodenften Begriffe des Denfens find nie von diefem neben- hergehenden Gefühle ganz entblößt; wir fafjen den Begriff der Einheit nicht, ohne zugleich ein Glück der Befriedigung zu ge⸗ nießen, da8 fein Inhalt einfchließt, den des Gegenfates nicht, obne zugleich die Unluft der Feindfeligfeit mit zu einpfinden; Ruhe Bewegung und Gleichgewicht beobadhten wir weder an den Din- gen, nody entwideln wir uns ihre Vorftellungen, ohne und mit unferer ganzen Lebenbigfeit in fie binein zu verfegen und ben Grad und die Art der Förderung oder der Hemmung mitzufühlen, die fir uns aus ihnen hervorgehen könnte. Auf diefer Allgegen= wert der Gefühle beruht ein guter Theil unferer höheren menſch⸗ lichen Ausbildung; fie ift der Grund der Phantafle, aus der die Werke der Kunft geboren werben, und melde das Verſtändniß aller natürlihen Schönheit eröffnet; denn in nichts Anderem be- fteht dieſe Ichaffende und nachſchaffende Kraft, als in der Fein— finnigleit des Geiftes, welche die Welt der Werthe in die Welt der Formen zu Tleiden, oder aus ber Verbüllung der Form das in ihr enthaltene Glück berauszufühlen verfteht.

Aber das Gefühl enthält zugleich den Grund jener eigen- thümlichen und höchſten Thätigleit, welcher wir in dem Gebiete der Intelligenz begegneten, jener Vernunft nämlich, die von den Ganzen der Wirflichleit Formen des Dafeins befolgt willen will, in denen fie allein den Werth des Wirflichen verbirgt findet. Wenn wir von dem Weltall ebenſowohl die zählbare Endlichkeit einer beftimmten Größe als die unvollendete und unvollendbare Grenzenloſigkeit abhalten möchten, wenn wir von feiner Vorftellung - verlangen, daß fie ein Ganzes und innerlich abgejchloffenes Eine darbiete, daB Doch zugleich das Umfaffende aller Einzelnen fei, fo

Zope 1. 4. Aufl. 18

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folgen wir in diefer und in anderen Forderungen nicht mehr ber bloßen Neigung eines gleichgiltigen Verſtandes, dem fein Gegen- ftand ohne diefe Bedingungen undenkbar würde, fondern wir folgen den Eingebungen einer werthempfindenden Vernunft, die auch das Denkbare abweift, fo Iange es nur denfbar ift und nicht durch die innere Würde feines Inhaltes zugleich die Anerlennung feiner Giltigfeit in der Welt erringt. Gar Bieled würde ber Berftand für fi allein möglih und den Gefeßen feines Ber- fahrens entiprechend finden, was die Vernunft dennoch um feiner inneren Unglaublichfeit willen verſchmähen wird; vieles Andere wird fie verlangen können, was dem Verſtande in feinen eignen Denkformen aufzufafien mißlingt. Blicken wir auf unfere Welt- auffaffung, wie fie fih um Laufe unferer wirflicden, nicht allein durch die Schlüffe der Wifjenichaft, ſondern aud durch die Erfahrung des Lebens zu Stande gelommenen Bildung entwidelt bat, fo werden wir fie veichlich eben jo ſehr von diefen oft nur verſtohlen mitwirfenden Forderungen unferer Bernunft, als von den völlig aufflärbaren Grundfägen unferes Verſtandes beitimmt finden. An den Räthfeln, welche uns die Beräuderung der ‘Dinge, bie Mannigfaltigkeit ihrer Eigenfchaften, die Lebendigfeit und Freiheit aller Entwidlung darbieten, an diefen Schwierigfeiten arbeitet bie wifjenfchaftliche Kraft des Verſtandes ſich müde, nicht fruchtlos zwar, aber außer Stande doch, die Begriffe der lebendigen Frei⸗ heit und Thätigkeit jo Mar zu rechtfertigen, wie die unverwüſt⸗ lihe Zuverfiht der Vernunft zu ibrer nothwendigen Giltigfeit verlangen würde. Dem menſchlichen Gemüthe ift jene glüdliche Inconſequenz gegeben, zwei Gebanfenrichtungen arglos zugleich zu folgen, ohne den Widerſpruch zu empfinden, in welchen fie zulegt, nicht immer freilich in größter Nähe, zufammenftoßen. So geben wir und im Laufe der gewöhnlichen Erfahrung ohne Bedenken den Derfahrungsmeifen des Berftandes hin, mit denen wir ficher find, immer Einzelnes mit Einzelnem gejegmäßig verbinden zu lönnen, und mit denen wir zugleich fiher fein fünnten, wenn wir e8 eben bemerften, niemals jenes Bild des Weltganzen zu er-

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reihen, das während aller diefer Bemühungen unfere Vernunft gleichzeitig fefthält oder zu gewinnen fucht.

Nicht immer allerdings laſſen uns die Ereigniffe des Lebens in diefer Bergeßlichkeit; in dem ‘Dafein der Einzelnen wie in bem ber Geſchlechter ſehen wir unvermeiblih an einzelnen Wende: punkten das Bewußtfein der großen Lücke auftauchen, die zwiſchen unferer wiflenihaftlihen Erfahrung im Gebiete des Endlichen und unjerem Glauben über den Inhalt und die Form des Ewigen ſich ausdehnt. Aber weder biefen Kampf in dem einzelnen Ge- müthe, noch die großartigeren Formen, die er in ber Gefchichte der Eultur und Speculation angenommen bat, mögen wir in dieſem vorläufigen Weberblid einer ſpäteren Schilberung bormeg- nehmen. Wie man auch immer geglaubt hat, ihn entſcheiden zu müfjen, dieſe verichiedenen Urtbeile haben im wirklichen Leben, in weldem die Evidenz unferer Gedanken noch eine andere und anders vertheilt ift, als innerhalb der Schranken der Wiffenfchaft, niemals die Zuverficht zu trüben vermodt, daß in jenem Gefühl für Die Wertbe der Dinge und ihrer Verhältniſſe unfere Vernunft eine ebenſo ernſt gemeinte Offenbarung befigt, wie fie in den Grundfägen der verftandesmäßigen Forfhung ein unentbehrliches Werkeug der Erfahrung hat. Aber zugleih würde uns eine Meberficht jener Urtbeile lehren, daß feine Quelle der Offenbarung trüber fließt, feine fo fehr einer feften Faſſung bedarf, als dieſe, welche ihre Behauptungen über Die nothwendige Form der Welt nur aus dem Gefühle des Werthes zu begründen vermag, ben fie in ihr zu entdeden, in anderen denkbaren zu vermiffen glaubt. Unzählige Umftände können uns bier täufchen; unzählige unver- merkt entftandene Gewohnheiten des Denkens und der Anſchauung, aus individueller Eigenthümlichkeit, aus dem Bildungsftande ber Zeit, aus der Beſchränktheit unferer Lebenserfahrung hervor- gegangen, Können ums verleiten, Das, was wir mit Recht in einer Allgemeinen Weife verlangen würden, eigenfinnig in einer einzelnen beſtimmten Form oder unrihtig und uns felbft mißverftehend in völlig falſchem Sinne zu fuhen Mögen daher dieſe höheren

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Anfichten der Dinge, wie man fie zu nennen liebt, immerhin die belebende und erwärmende Macht in allen menfchlichen Bejtre- bungen fein, fo werben fie doch immer die Verwandtſchaft ber wertbbeftimmenden Bernunft mit der Fünftlerifhen Phantafie be- ftätigen; was fie hervorgebracht haben, darin tritt überall das Gefühl einer poetifhen Geredhtigfeit an die Stelle der Einſicht in Die Gründe der Gewißheit. Sie bilden einen großen, «aber fhwer zu gemeinfamer Berftändigung zu verwertbenden Schatz unferes Innern, und die Wiffenfchaft muß vielleicht zufrieden fein, wenn ihr der Nachweis gelingt, daß die Haren und unwiberleg- lihen Grundſätze des Verftandes eben nichts find, als felber die aufklärbaren und zum Gebrauch fertig ausgebildeten Theile jenes Schages, nicht ihm frembartig zugefellt, jondern aus ihm ſelbſt hervorgehend, als die einzigen Berfahrungsmeifen, Denen ed von unferem menſchlichen Standpunkte aus gelingen kann, den eignen Sinn und Zwed der Bernunft, die Verbindung der Wirklichkeit in die Einheit eines zufammengebörigen Ganzen, durchzuführen.

Entipreden nun diefe Verſuche unſeres Geiftes, aus ber Welt der Werthe Die Welt der Formen zu deuten, der auffaſſenden Thätigleit der Phantafie, welche Das Wirkliche aus feiner eignen Schönheit, wie aus einer wirkenden Kraft, nachzuſchaffen jucht, fo fteht der Tünftlerifchen Erzeugung der Schönheit die handelnde Bernunft zur Seite. Verſchiedene Zeitalter haben verſchiedenen Idealen der Kunft nachgetrachtet; aber wie abenteuerlich auch Die Geftalt fein mochte, in welcher zuweilen ihre wenig feinfinnige Phantaſie ſchon den Ausdruck des Höchſten erreicht zu haben meinte: alle empfanden eben al8 Ideal, was fie verehrten. Kaum we- niger berjchieden find ın der Mannigfaltigfeit der Zeiten und der Eulturftufen die fittlichen Ideale der handelnden Bernunft ge- weien; aber mas auch ihr Inhalt fein mochte, man empfand es als Pflicht, ihn durch Thaten zu verwirkliden, und Die fittlichen Srundfäge jeder Zeit wurden ftet8 von dem Gemüthe in einer anderen Weife gebilligt, als die Wahrheiten der Erfenntniß; auch fie waren Ausiprühe eines wertheinpfindenden Gefühles. Kine

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Bildung, die von den verfchiedenften Seiten ber Die mannigfad- ftien Aufflärungen über die Stellung des Menſchen in der Welt, über Maß und Bedingungen feiner Kräfte und über den Neich- thum des realifirbaren Guten empfangen bat, glaubt vielleicht über diefen Standpunft hinaus zu fein, der aud das Bewußtſein unferer moralifhen Verpflichtungen aus einem fittlichen Gefühle entfpringen ließ. Uns allerdings erjcheint der Inhalt der weſent⸗ lichften fittlihen Gebote fo Har, daß wir meinen, ihre innerliche Nothwendigkeit müſſe fih ebenfo unmittelbar aufdrängen, wie fich die einfachften Grundfäge der Erlenntniß wenigftens als unbewußte Uebung allen Bölfern aufgedrängt haben. Aber doch auch uns be- lehrt Die Erfahrung des Lebens wenn gleich in geringerem Mafftabe von ber Verſchiedenheit des Inhaltes, den einzelne Gemüther mit gleicher Weberzeugung und Religiofität als die verpflichtende Auf- gabe ihres Handelns fefthalten; eine ausgedehntere Weberficht aber würde bei der Bergleihung verjchiedener VBölfer und Gulturen faum etwas Anderes finden, als die Thatfache, daß überall auch Sefinnungen und Handlungen Gegenftände einer werthbeftimmen- den Bernunfs find, aber daß die Fähigkeit diefer Vernunft, den Werth ihres gefuchten Ideals in den beftimmten Yormen des Handelns wiederzuerlennen, ähnlichen Täuſchungen unterliegt, wie ihnen die Berfuche zu höherer Erkenntniß der Dinge ausgefett find. Auch die Welt der fittlichen Weberzeugungen ift ein Ergeb- niß der Bildung; daß fie nicht ohne die zahlreichen Einflüfie diefer entftehen konnte, davon haben wir in dem weiten Ge- mälde der Humanität, dem dieſe Betrachtungen zum Eingange die⸗ ‚nen, die bezeichnenden Züge zufammenzuftellen, daß fle aber auch nicht durch die Bildung allein entjtand, fondern ihre Wurzeln in dem inneriten Wefen des Geiſtes hat, daran allein war bier zu erinnern Beranlaffung. Weit entfernt, als eine nebenherlaufende Zugabe nur aus der Mebung unferer vorftellenden Thätigfeit zu entftehen, beruht das Sittliche vielmehr auf Diefem Grunde des Gefühles, das weit eigenthümlicher als die Erkenntniß die wahre Natur des Geiftes bezeichnet und mit feinem Einfluß auf bie

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offenbarfte Weife, wie wir gejehen haben, auch in die Bemühun⸗ gen unferes erfennenden Verſtandes hinübergreift.

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Aber wir wollten die Wirkſamkeit des Gefühls nach drei Seiten hin beſtimmen, und die eben gemachte Aeußerung erinnert uns an die zweite dieſer inneren Erſcheinungen, die wir nicht ohne die Grundlage des Gefühls begreifen können, obwohl fie am häufigften als eine Thatſache des bloßen Erkenntnißlebens auf: gefaßt wird. Ich meine dad Selbftbemußtjein, in welchem wir uns als Ich von dem Nicht-Ich ber librigen Welt umter- fheiden und die Mannigfaltigleit der inneren Zuſtände auf dies Ih, als den zufammenbaltenden Mittelpunlt aus- und ein- gehender Wirfungen, beziehen.

Früheren Anfichten hat es oft gefchienen, als bilde gerade das Selbftbewußtfein jenen wefentlihen und angeborenen Charak⸗ ter, ohne deſſen urſprüngliches Borhandenfein der Geift felbft un- denfbar fein wiirde, oder durch deſſen Beſitz er wgnigftend von der felbitlofen Seele des Thieres ſich unterſcheide. Man bat all- mählich diefe Annahme aufgegeben und ſich gewöhnt, das Selbft- bewußtſein al8 das Ergebniß eines nicht kurzen Bildungslaufes zu betrachten, fei es, daß man ein Streben zu feiner Entfaltung überhaupt als die treibende Kraft in aller geiftigen Entwidlung anfah, oder daß man als ein glüdliches Nebenerzeugniß aus dem Mechanismus des Borftellungsverlaufes unter anderen auch das Bewußtſein des eignen Ich hoffte hervorgehen zu ſehen. Zwiſchen diefen Auffafjungen hindurch fcheint do die Natur der Sache einen anderen mittleren Weg zu fordern. Gewiß kann Niemand ernftlih das Selbftbemußtfein fo für ein angebornes Beſitzthum des Geiftes Halten, daß wir das, was wir felbft find, in einer deutlichen BVorftellung abgebildet von Anfang an vor und fähen. Kommen wir doc, durch alle Bildung des Lebens und durch alle Aufmerkſamkeit abſichtlichen Nachſinnens unterftügt, nie zu dieſer

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vollfommenen Erfenntniß, vor deren erfchöpfender Auskunft alle weiteren ragen nach der eigentlicheren Natur unſeres Weſens verftummten. Niemals zeigt unſer Bewußtfein und dies Bild als ein gefundenes; nur hingewiefen werden wir auf einen mehr ober minder dunklen Punkt, in dem das liege, was wir als unſer Ich ſuchen. Aber daß wir e8 eben fuchen können, daß mir dies fo unvolftändig Erkannte doch mit der entſchiedenſten Lebhaftigkeit immer von der Außenwelt trennen, dieſen Trieb können wir nicht verſtehen, ohne ihn als unabhängig von den Umſtänden zu den- fen, melde die fortichreitende Vervolllommnung unferes Wiſſens um ung felbft bedingen. Wie kommen wir alfo dazu, die Mannig- faltigfeit alle8 Vorftellbaren in dieſe zwei Theile zu ſcheiden, das eine Ich und ihm gegenüber bie unzählbare Fülle alles Uebrigen? Unterfcheiden wir uns von der Welt, fo ift e8 nicht ein Unter- ſcheiden, dem ähnlich, Durch welches wir zwei andere Gegenftände auseinander halten; dieſer Gegenfag vielmehr zwifchen uns und dem, was nicht wir find, erfcheint ung nad Sinn und Größe als ein unbedingter und unvergleihbar mit allen übrigen.

Und dies aus fehr natürlichem Grunde, wird man fagen: enthält doch er den befondern und völlig einzigen Fall, in welchem dasjenige, welches dieſe entgegenfegende Beziehung denkt, felbft das eine Glied des Gegenfates bildet. Dies Zuſammenfallen des Den- fenden und des Gedachten, der mejentlihe Zug befien, mas wir das Ich nennen, vedhtfertige das befondere Gewicht, welches wir auf diefen Unterfchied legen. Aber genauer betrachtet erflärt dieſer Umftand fehr wenig das Räthſel des eigenthümlichen Intereſſes, das wir an diefem Unterfchiede nehmen, und das ſehr wenig mit der bloßen Theilnahme an der interefjanten Eigenthlimlichfeit eines befonderen Falles gemein hat. Nicht darin Tiegt die Bedeutung des Selbſtbewußtſeins, daß Denkendes und Gedachtes zufammen- fallen; denn diefer Zug bezeichnet nicht unfer Ich allein, fondern die allgemeine Natur jedes Ich, von der wir eben das unfere wodurd nun eigentlich unterfcheiven? Dadurch gewiß, daß es das Denkende unferer Gedanken ift. Aber mad meinen wir damit,

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wenn wir irgend welche Gedanken als unfere bezeichnen? Darüber, was unfer ift, muß es offenbar eine unmittelbare Gewißheit geben, und fie fann uns nicht aus der allgemeinen Vorftellung von der Natur des Ich fliegen, von welcher unfern eignen Fall zu unter- fcheiden gerade die wefentliche Keiftung unferes Selbftbemußtfeins if. Und num wird man leicht verftehen, wie wenig eine immer vollfommenere Ausbildung unferer Einfiht in das Wefen unferer Seele die Tüde ausfüllen würde, die wir hier vorfinden. Denn felhft wenn wir genau und zutreffend alle die eigenthümlichen Merkmale verzeichnen Lönnten, durch die in der That unjere Seele fih von allem Anderen unterjcheibet, fo wiirde doch noch immer und jeder Beweggrund fehlen, die fo gewonnene Vorſtellung für mehr, als für das gleichgiltige Gemälde eines Weſens zu nehmen, das irgendivo vorhanden wäre und von einem zweiten ſich ebenfo vollftändig unterichiede, wie ein drittes von einem vierten. Und wenn nım ferner auch dies felbft unferer Wahrnehmung nicht ent- ginge, daß dies in fo vollftändiger Erkenntniß durchſchaute Wefen zugleich eben bafjelbe ift, welches in diefem Augenblide diefe An- ſchauung feiner felbft vollzieht, fo würden wir mit diefer that- ſächlich vollendeten Selbftbefpiegelung zwar Das Bild jenes Weſens durch den letzten ihm eigenthümlichen merkwürdigen Zug ergänzt haben, aber noch immer würden wir gleich weit entfernt fein von Der Bedeutung deſſen, was wir in unferem wirklichen Leben als Selbft- bemußtfein fennen und genießen. Wohl wäre für dieſe vollkom⸗ mene Erkenntniß ihr eigned Weſen in ‚völliger Klarheit gegen- ſtändlich geworden, aber auch fo gegenftändlih, daß ihr eignes Selbft ihr nur als ein Gegenftand unter anderen erſchiene; un= befannt und unverſtändlich würde ihr die Innigfeit bleiben, mit der wir in unferem wirklichen Selbitbewußtfein den unendlichen Werth diefer Zurückbeziehung auf uns felbft empfinden. Wie alle Merthe des Vorgeftellten, jo wird auch biefer nur durch Gefühle der Luft und Unluft von uns ergriffen. Nicht indem jenes Zu- fammenfallen des Denkenden mit dem Gedachten von und gedacht, fondern indem es in dem unmittelbaren Wertbe, den es für uns

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bat, gefühlt wird, begründet es unfer Selbftbemußtfein und hebt unmiderrufli den Unterſchied zwifchen uns und der Welt über ale Bergleihung mit den Gegenfäten hinaus, durch Die ein Gegenftand fi vom andern fondert.

Und hierzu reichen einfache finnliche Gefühle ebenſowohl aus als jene feiner gegliederten intellectuellen, durch welche entwideltere Geifter zugleich den Werth und das eigenthümliche Verdienſt ihrer Perfönlichkeit fih zur Anfchauung bringen. Wie reich oder wie armlich die Vorſtellung der Seele von ſich felbft ift, wie treffend fie ihr Bild entwirft oder es ganz verfehlen mag: völlig unab- hängig davon ift die Lebhaftigkeit und Innigkeit, mit welder der Inhalt diefes Bildes von allem Andern unvergleichbar verſchieden gefühlt wird. Der getretene Wurm, der fi im Schmerze krümmt, unterfcheidet fein eignes Leiden gewiß von ber übrigen Welt, ob- gleich er weder fein Ich noch die Natur der Außenwelt begreifen mag. Aber die vollendete Intelligenz eines Engels, fehlt ihr jenes Gefühl, würde wohl fcharfe Anfchauungen des verborgenften Weſens der Seele und der Dinge entwideln und in Lichter Klar⸗ beit die Erſcheinung ihrer eignen inneren Selbftipiegelung beob- achten, aber fie würde nie erfahren, warum fie auf ihren Unter: ſchied von der übrigen Welt jemals einen größeren Werth Iegen ſollte, als auf die zahlreichen Verſchiedenheiten der Dinge über: haupt, die fi ihrer Erfenntniß ebenfo darbieten. So gilt uns das Selbftbewußtfein nur für die Ausdeutung eines Selbftge- fühl s, deſſen vorangehende und urfprüngliche Lebendigkeit Durch die Ausbildung unſerer Erkenntniß nicht unmittelbar geſteigert wird; nur der Reichthum und die Klarheit des Bildes, das wir von unſerem Weſen uns erfennend entwerfen, erhöht ſich im Fortſchritt unſerer Bildung. Und ebenſo allerdings wächſt mit ihm die Summe dev Gedanken, die den äußeren Gegenſtänden eine Beziehung zu unferem Streben und Wollen geben; nicht nur klarer wird ber Inhalt unjeres Ich, fondern er dehnt ſich aus über einen zunehmen den Umfang; fo wächſt mittelbar auch die Lebhaftigkeit des Selbft- gefühles, indem bie gebildete Eeele veizbar wird für unzählige Ber-

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hältniffe, die ihr al8 Störungen oder Förderungen ihres eignen Weſens gelten, während fie dem unentwidelten Gemüthe nur gleichgiltige Beziehungen zwifchen dem Yeußeren feinen.

Auch diefen Bildungslauf zu fhildern, müfjen wir der ‘Dar- ftellung der menfchlichen Lebensverhältniffe, durch bie er bedingt wird, zurücklaſſen, und nur mit wenigen Worten gedenfen wir einiger Punkte defjelben, durch welche hindurch wir ung dem legten Gegenftande diefer Weberficht nähern. Es iſt leicht begreiflic, wie im Anfang das Bild des eignen lebendigen Körpers eine bevorzugte Stelle in unferm Gedantenlaufe einnehmen muß. Werkzeug aller Wahrnehmungen und aller Bewegungen, ift er in jede Aeußerung unfere® Lebens verflodhten, und jede Erinnerung eined Eindrudes, einer Handlung, eine8 Leidens oder Gennſſes führt mit fi) auch fein Bild zurüd und gewöhnt und daran, Die Regſamkeit unferes Weſens unmittelbar in der bewegten und beweglichen Geftalt des Leibes zu ſehen. Aber eben fo einfad find doch die Erfahrungen, die uns bald davon überzengen, daß das Lebendige in ihm nicht er felbft ift, daß wir wohl in ihm, aber nicht aufgehend in feine fihtbare Form, eine bewegende Kraft ſuchen müffen, die gleichzeitige Urfache feiner eignen Ber- änderlichkeit und der Iebenbigen Ummwandlungen der inneren Welt, in der unfere Borftellungen, Gefühle und Strebungen einander drängen. Mit diefer unvollkommenen Auffaffung begnügt fi ohne Zweifel die größte Anzahl der Menſchen, mehr hinausgewie⸗ fen über die Borftellung des Körpers, ald hingewiefen auf irgend einen andern beftimmten Punkt. Wohl verjucht die Wiffenfchaft diefe Lücke zu füllen, indem fie die dunkle gefuchte Weſen in der Form eines Dinges, einer überfinnlichen Kraft, einer immateriellen Subitanz zu faffen ftrebt; «aber dieſe Verfuche Tiegen liber den Umfang des natürlichen und unbefangenen Gedanfenganges bin- aus, und indem fie die allgemeine Natur der Seele feitzuftellen

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fuchen, führen fie ohnehin nicht dazu, jedem Einzelnen die unter: ſcheidende Natur feines eignen Ich aufzubellen. Deshalb ift das natürliche Bewußtfein wenig geneigt, dieſem grübelnden Nadh- denken nachzuhängen; es freut ſich feiner Individualität vielmehr, indem ed durch die Erinnerung an feine körperliche Ericheinung, an die Gedichte feines Lebens, an feine Leiden ımb Freuden, feine Leiftungen und Hoffnungen, an feine ganze eigenthümliche Stellung in der Welt ſich als dieſes einzelne Ich von jedem andern unterſchieden weiß.

Aber es erfährt auch, wie die Welt ihm Widerftand Leiftet, wie wenig es im nächſten Augenblid das werden fann, was es im vorigen werden wollte; fein Wiffen und Können findet es ab- hängig von den Zufällen feines Bildungsganges, feine ganze ihm ſelbſt beobachtbare Individualität ericheint ihm als angethan durch Umſtände, die nicht es ſelbſt ſind. So kommen wir dazu, dieſem ſcharfgezeichneten Bilde des empiriſchen Ich ein anderes gegenüber— zuftellen, in welchem wir jene beftändigen Züge zu fammeln glau- ben, die den wahren Gehalt unjeres Wefens bilden und unab- hängig von der beftimmten Form find, in melde die äußeren An- vegungen uns weiter ausgeprägt haben. So wie wir in der Betrachtung aller Dinge die zufällige Geftalt, die ihnen eine fremde Einwirkung gegeben bat, von den unveränberliden Eigenfchaften ſcheiden, durch melde fie jet eben zu diefer und unter anderen Umftänden zu ganz anderen Formen der Erſcheinung befähigt werden, jo ſuchen wir jeßt unfer wahres Ich in den dauernden Gewohnheiten und Eigenthümlichleiten unſeres geiftigen Wirkens, die immer fich würden gleich geblieben fein, auch wenn die äufe- ren Bedingungen ihrer Ausbildung völlig andere gemwejen wären. Nicht Durch das mithin, was wir wiflen, was wir gethan und er⸗ lebt haben, glauben wir jet unſer Ich zu erichöpfen, ſondern in- dem wir ausdrücklich die ganze Mannigfaltigfeit dieſer Entwid- lung nur für eine der vielen möglich geweſenen Ausbildungen unſeres Weſens halten, finden wir uns felbft vielmehr in ber all- gemeinen Stimmung unferer Gefühle, in dem Temperament, das

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wir mit Niemand vollkommen ähnlich theilen, in der ganzen Ma— nier und Gewohnheit, der Gemanbtheit oder Schwerfälligfeit unfe- res Verhaltens, in der eigenthiimlichen Weife, in der wir mit dem Inhalte unferes Erkennens ſchalten und walten. Died Alles, meinen wir, würde völlig fich felbft gleich geblieben fein, welden Entwillungsgang and die Schickſale des Lebens uns vorgezeichnet hätten, und wenn wir gern jede ſchöne und vorzügliche Ausbildung, die unfere wirfliche Lage ung möglich gemacht bat, zu dem eignen Berdienfte unferer Natur zählen, fo zweifeln wir doch nicht, daß alles Berfehlte und Ungerathene den hemmenden Umftänden allein zuzurechnen fei. Das empiriiche Ich erfcheint und wie die Belau- bung eines Baumes, deren Fülle und Schönheit von der Gunft und Ungunft des Jahres abhängt; ftreifen wir fie ab, fo bleibt in dem Stamme bie treibende Kraft, immer fich felbit gleich und unter glüdlicheren Bebingungen zu der Hoffnung befferer Ent- widlung berechtigt. Im dieſer Weife, durch dieſes äfthetifche Bild unferes beftändigen Naturells, pflegen wir am meiften unjere Per: fönlichfeit uns jelbft anfhaulid zu machen, und gewiß erreichen wir dadurch ein treuereö und fprechenveres Gemälde unferes We- ſens, als durch die zeritrente Mannigfaltigfeit unferer empirifchen Erinnerungen, welde des Vergangenen und Zufälligen zu viel, und von dem Zukünftigen zu wenig einfchließt. Aber wir finden body bald, daß auch dieſe Borftellung uns das noch nicht gewährt, was wir in gefteigerter Bedeutung des Wortes als unfer wahres Ih ſuchen.

Denn nur in zu großer Ausdehnung finden wir unfer Tem: perament, Die beftändige Stimmung unſeres Gemüthes, die eigen- thümliche Richtung und die Lebhaftigkeit der Phantafie, endlich die hervorragenden Talente, welche zunächſt den Beftand unferer individuellſten Perſonlichkeit auszumachen ſchienen, abhängig von ber körperlichen Conſtitution und ihren Veränderungen; ſelbſt als ererbte Anlage iſt Vieles davon nur das Ergebniß eines Natur⸗ laufe, der lange vor unſerem eignen Daſein ſchon einzelne Zuge unſeres ſpäteren Lebens unwiderruflich beſtimmte. Und ſelbſt wenn

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ed nun nicht der Zufammenhang phyſiſcher Wirkungen wäre, dem wir auf dieſe Weife verjchuldet find, wenn vielmehr unabhängig - von ihm ſich die weientliche Natur unferer Seele gebildet hätte: immer würde jelbft dann ihre urfprüngliche Anlage und als ein Gegebenes, als eine Mitgift der ſchaffenden Kraft ericheinen, aus welcher unjer Dafein floß, und wo wir irgend unfer eignes Selbit zu erfaffen meinten, würden wir e8 doch nur finden als ein durch eine fremde Macht feftgeftelltes, nicht jo al8 unſer Eigenthum, wie wir das befigen, was aüs unferer eignen Anftrengung und freien Thätigkeit entftanden if. So bildet fi jene Sehnſucht aus, über allen Inhalt unferes Ich hinauszugehen und in einem reinen noch beſtimmungsloſen und fich felbft geftaltenden Triebe da8 wahre und tieffte Wefen unferer Perfönlichkeit zu fuchen; nur das glauben wir jegt wahrbaft zu fein, wozu wir uns ſelbſt gemacht haben. Wir wollen nit den ſeltſamen Widerſprüchen folgen, zu welcden in der wiſſenſchaftlichen Forſchung dieſe Rich- tung der Gedanken nothwenbig führen mußte; die natürlicere Meinung des unbefangenen Gemüthes befcheidet fih hier und verlangt nicht, daß aus unferem Weſen Alles entfernt werde, was nicht unfere eigne That fei. Indem fte zugefteht, mas fie nicht leugnen Tann, daß ohne unfere Wahl der Umkreis aller unferer möglichen Entwidlung durch äußere Umſtände, durch die Eigen: thümlichkeit des Gefchlechtes, dem wir angehören, der leiblichen Conftitution, die uns mitgegeben ift, des Zeitalterd, in dem wir - geboren werden, endlich durch Die allgemeinen Geſetze des geiftigen Lebens, welche für Alle gleich gelten, unverſchiebbar beſtimmt ift, verlangt fie nur no, daß in der Mitte aller diefer gefeglichen Nothwendigkeit ein Punkt der Freiheit wenigftend vorhanden ei, bon dem aus unfere Thätigleit dieſen uns dargebotenen Stoff des Dafeind zu einem uns allem angehörigen Beſitzthum geftalten inne. Bedingt in allem Uebrigen, in den Formen der Erkennt⸗ niß, dem Laufe der Vorſtellungen und Gefühle, wollen wir frei wenigftens im Wollen und im Handeln fein.

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Wir haben früher Die Meberzeugung ausgeſprochen, daß neben dem Borftellen und dem Gefühl das Wollen ein eigenthümliches Element geiftiger Regſamkeit enthalte, nicht ableitbar aus jenen beiden, obwohl von ihnen als Beranlafjungen ‚feines Hervortre- tens abhängig. Indem wir jedoch jegt zu einer genaueren Be- trachtung dieſer neuen ThätigfeitSweife der Seele geführt werben, müflen wir das Zugeftändniß vorausichiden, daß unter den man- nigfaltigen Erſcheinungen, Die man unter verſchiedenen Namen ihr entweder unmittelbar zuordnet oder Doch als verwandt an fie an- fnüpft, viele fi) befinden, in denen wir nur befondere Formen des Borftellend und des Gefühle zu erkennen vermögen. Mit dem Namen des Wollend und Strebens find wir unleugbar zur frei= gebig und bezeichnen mit ihm manches Ereigniß, zu welchem bie Seele fi) nur als beobachtendes Bewußtſein, nicht als handeln- des Wefen verhält; Bewegungen der Borftellungen und Gefühle, die in und auf manderlei Veranlaſſungen des allgemeinen pfychi⸗ ſchen Mechanismus nur gefhehen und al8 geichehende von uns bemerkt werben, faffen wir irrig als Thätigkeiten, die unfer ent- ſchiedener Wille oder doc ein weniger ausdrückliches Streben un- feres Ich ind Werk gefett habe.

Prüfen wir die Mannigfaltigfeit der finnlihen Triebe, fo werben wir al8 ihren eigenthümlichen Kern immer nur ein Ge- fühl antreffen, das in Luft oder Unluft und den Werth eines vielleicht nicht zu bewußter Einficht kommenden körperlichen Yu- ſtandes verräth. Nur weil wir Erfahrungen gemacht haben, die nun der Mechanismus der Erinnerung und wieder vorführt, fo daß die Borftellungen der Bewegungen oder der Gegenftände, die früher die Luft verlängerten oder die Unluft verkürzten, jet dem Bewußtſein wiederlehren, nur dadurch geht das Gefühl in eine Bewegung über, auf die Wiebererlangung diefer günftigen Um— ftände gerichtet. Aber was hier zunächſt entfteht, Das ift nicht eine Aeußerung unferes Willens, jondern völlig willenlos und mit mechanischer Abfolge vegt das Gefühl felbft und die mit ihm verbundenen Borftellungen ſogleich die Anfänge der leiblichen Be-

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wegungen an, die jenem Zwecke dienen, und was wir nım Trieb nennen, ift nicht ein Wollen, durch welches wir den Körper Ien- fen, ſondern eine Wahrnehmung feines Leidens und der unmwill- fürlih in ihm entftehenden Bewegungen, durch melche nun auch die übrigen Thätigfeiten unfere8 Bewußtſeins zu entfprechender Wirkſamkeit veranlagt werben. So ift mithin der Trieb nur das Innewerden eines Getriebenwerdend; und wenn irgend ein Wille in ibm vorkommt, fo ift e8 einfach dieſer, dem natürlichen Ab⸗ lauf Diefer inneren Veränderungen nicht zu widerftehen, fondern fi ihnen ‚hinzugeben.

Aber wir können diefe Betrachtung nicht auf finnliche Triebe beichränfen; der größte Theil deffen, was wir im täglichen Leben unfere Handlungen nennen, geſchieht völlig in derſelben Weiſe. Borftellungen tauchen in und nad allgemeinen Gefegen auf und an fie nüpfen ſich theild unmittelbar, theil® durch das Mittel- glied verichievenartiger Gefühle allerlei Bilder Körperlicher Be: wegungen, die bald als Mittel zur Erreihung eines äußeren Gegenftandes, bald als Linderungen eines vorhandenen Wehes unjerem Bewußtfein vorſchweben. Im den feltenften Fällen wird dur dieſen Andrang innerer Reize ein wirkliches Wollen aufge- regt; von felbft geht meiftens die Vorftellungsreihe in äußere Bewegung über, und eine große Anzahl felbft zufammengefegter Handlungen Täuft in diefer unwillkürlichen Weife ab, ohne daß auch nur die Reihe der Vermittlungsglieder, durch welche fie von dem urfprünglichen Anlaß abbingen, vollftändig fich vor dem Be- wußtſein entfaltet hätte. Kein Grund ift vorhanden, diefe Er- eignifje durch einen befonderen Namen von jenen Wirkungen ab- zutrennen, die wir in jedem zufammengejegten Organismus in gleicher Bormenmannigfaltigfeit und mit gleicher mechaniſcher Nothwendigkeit der Abfolge zu Stande fommen ſehen; und in ber That pflegen wir geneigt zu fein, den Thieren, deren Yeußerim- gen wir und ausſchließlich auf dieſe Weiſe begründet denken, jeden eigentlichen Willen abzufpregen. Nur da find wir überzeugt, es mit einer That des Willens zu thun haben, wo in beutlichem

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Bewußtfein jene Triebe, die zu einer Handlung drängen, wahr- genommen werden, die Enticheidung darüber jedoch, ob ihnen ge= folgt werben foll oder nicht, erſt geſucht und nicht der eignen Ge— walt biefer Drängenden Motive, fondern der beftinnmenden freien Wahl des von ihnen nicht abhängigen Geiftes überlaffen wird. So nahe zeigt ſich der Begriff der Freiheit mit dem des Willens verfnüpft; denn in diefer Entſcheidung über einen gegebenen That- beftand beſteht allein die wahre Wirkjamfeit des Willens. Aller mögliche Inhalt des Wollend Dagegen wird überall durch den un- willkürlichen Verlauf der VBorftellungen und Gefühle herbeigeführt, und ohne an fich ſelbſt ein nach außen gerichtete, geftaltendes und fchaffendes Streben zu fein, muß der Wille fi mit der Yrei= heit unbefchränfter Wahl zwiichen dem begnügen, was ihm bon dorther dargeboten wird.

Wäre e8 num unmöglich, dieſe Freiheit zu denken oder ihre Annahme zu rechtfertigen, würden wir dann noch Beranlaffung haben, überhaupt den Namen des Willend beizubehalten? Wie fehr auch Die eigenthümliche Berwidlung der Ereigniſſe im geiftigen Leben die des Naturlaufes noch übertreffen mag, ihr Zufammenhang fhiene dann Doch dem Wefen nad) in Nichts mehr von ber vollkommenen und blinden Nothmwendigleit eine8 ununter- brochenen Mechanismus abzuweichen. Dennoch glauben wir, daß ſelbſt unter diefer Vorausfegung das Wollen als eigenthihmliches Element fi) aus der Reihe der übrigen Aeußerungen. geiftiger Thätigleit nicht wlrbe hinmwegbeuten laſſen, obmohl feine Stellung eine ſehr befrembliche fein würde. Wenn Die Sprache der Men- hen für einfache, nicht aus einer Vielheit von Vorftellungen zufammengefegte, ſondern mande Bielbeit vielmehr zu einem Ganzen erft verbindende Vorgänge einen eigenthiimlichen Namen ausprägt, fo mag fie häufig in feiner Anwendung irren und febl- greifen in der Begrenzung der Erfcheinungen, in denen fie Dies Bezeichnete wieder zu finden glaubt; aber das, was fie meinte, wird fie ſchwerlich aus der Luft greifen, ohne daß es etwo im Der Welt wirflides Daſein hätte. Denn zulett kann fi) Doch alles

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unſer Vorſtellen nur des Inhaltes bemäcdhtigen, den wir irgend- wie erleben, und wie wir nichts völlig Neues erfinnen, jo können wir uns auch kaum anders irren, als in der Verbindung und Benugung der einfachen Elemente, welche dieſe innere Erfahrung ung dargeboten hat. Nur ein Borurtheil der Schule Tann des⸗ halb, wie es fcheint, den Verſuch machen, die Natur des Wollens auf ein bloßes Wiſſen zurüdzuführen und die Behauptung zu vertheibigen, der Sat: ich will, fei gleichbedeutend mit dem Maren und zuverſichtlichen Bewußtſein des andern: ich werde. Nur die Gewißheit vielleicht, daß ich handeln werde, mag gleichgeltend fein mit dem Wiffen meines Wollend, aber dann wird in dem Begriffe des Handelns jenes eigenthümliche Element der Billigung, der Zulaffung oder Abficht eingefchloffen fein, welches den Willen zum Willen macht, und welches wir in der bloßen Vorausficht des zufünftigen Eintretens einer von uns ausgehenden Wirfung vermiffen. Vergeblich fucht man deshalb das Vorhandenfein des Wollens zu leugnen, ebenfo vergeblih, als wir uns bemühen wirden, feine einfache Natur, die nur unmittelbar ſich erleben läßt‘, durch umſchreibende Erflärungen zu verdeutlichen. Dieſe Biligung nun, duch welche unfer Wille den Entſchluß, welchen die drängenden Beweggründe des Borftellungslaufes ihm darbieten, al8 den jeinigen adoptirt, oder die Mißbilligung, mit welcher er ihn von fich zurückweiſt, beide würden denkbar fein, auch wenn feine von beiden die geringfte Macht beſäße, beftimmend und verändernd in den Ablauf der inneren Ereigniffe einzugreifen. Ebenſo wie der Menſch durch äußere Verhältniffe zu einer Weife des Verhaltens gedrängt wird, der jede Theilnahme, jede Zu- ſtimmung ſeines Innern fehlt, jo könnten auch in feinem Innern jelbft mit ununterbrochener Nothwendigkeit die einzelnen Ereig- nifje ſich verketten und wunaufbaltfam Handlungen erzwingen, welche das Gewifjen mit macdhtlofer Reue ſchon im Augenblide ihres Geſchehens begleitete.

Dieſe Vorſtellung, ſo befremdlich ſie im erſten Augenblicke

erſcheinen mag, liegt doch nicht ſo weit von = a ab, Zope I. 4. Aufl.

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die wir im Leben zu hegen gewohnt find. Faſt nur bie wiffen- ſchaftliche Unterſuchung pflegt Die unbeſchränkte Freiheit des Wol- lens mit der grenzenlojfen Fähigfeit des Vollbringens zu verwed- feln; unfere lebendige Erfahrung dagegen mahnt uns an unfere Schwäche im Streit mit der drängenden Gewalt unwillfürlicher Strebungen, und wir glauben eines höheren Beiftandes bebürftig zu fein, um über fie zu fiegen. Im der That ift e8 ein Irr— thum, von dem Willen mehr zu verlangen, als daß er wolle, und die Schwierigfeiten, die man der Ueberzeugung von feiner Frei⸗ beit entgegenftellt, gehen am meiften, obwohl aud fo nit un⸗ überwindlich, aus dieſem Vorurtheile hervor. Wie oft hat man nit von dem freien Entichluffe eines befeelten Weſens, wenn es nicht gelänge, auch ihn wieder als eine nothwendig bedingte Folge in den übrigen Zufammenbang des Weltlaufes einzufchalten, eine Zerſtörung aller Ordnung der Wirklichkeit beforgt! Man vergaß, wie eng die Grenzen der Macht auch dann noch dem endlichen Geſchöpfe gezogen ſein würden, wenn fein Wille nicht nur frei im Wollen, fondern auch die Mittel der Törperlichen Organifation feinen Entſchlüſſen unbedingt dienftbar wären. Man vergaß, daß jede Wirkung, wie unberechenbar frei auch ihr Beweggrund gewefen wäre, doch, ſobald fie als Wirkung berbortritt, wieder in ben Kreis der berechenbaren den allgemeinen Naturgefegen unter- worfenen Ereigniffe eintritt, und daß Feiner Freiheit mehr Spiel- raum des Erfolges gegeben tft, als die unverrüdte Orbnung der Dinge nach ihrem eignen Rechte ihr zugefteht. Und wenn man endlich beforgte, Daß dennoch die Vorgänge, welche der befeelte Wille nach feiner Wahl in den Ablauf der Wirflichfeit einführt, allmählich fih jummirend, dem Plane der Natur zumider fich ausbreiten Könnten, fo überſah man doch, daß felbft der ununter- brochene freibeitlofe Zuſammenhang aller Zuftände im Seelen- Yeben diefe Gefahr nicht mindern wiirde. ‘Denn wo Täge bie Bürgſchaft dafür, daß in jedem einzelnen Gemüthe die Borftel- lungen die Gefühle die Strebungen fich jederzeit in jo glücklicher Form und Miſchung zufammenfänden und aufeinander wirkten,

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um zulegt immer einen Ausſchlag zum Handeln zu geben, welcher mit dem eignen Sinne des Naturlaufes übereinftimmte? Greifen wir nicht fo wie wir wirklich find, frei oder unfrei, in der That flörend ober verwüftend in den Beftand der Natur ein, mannig- fache Spuren unferer eigenwilligen Thätigkeit deutlich zurücklaſſend, ohne freilich im Großen die Ordnung der Dinge erjhüttern zu Ennen? Und wenn wir nun annehmen, daß ein völlig unbe- vechenbarer und freier Wille unfere Handlungen lenkte, würden wir dann, jobald wir Rüdfiht auf die Grenzen unferer Macht nehmen, eine viel beträchtlichere Störung in der Orbnung der äußeren Welt befürchten müffen? Und eben fo wenig, wie die Ratur um uns, würde durch eine unbebingte Freiheit unferer Entſchlüſſe unfer eignes Weſen, wie man fo oft meint, jeden in- neren Zuſammenhang verlieren. ‘Denn immer wilden es nur die Entſchlüſſe fein, Die wir jener Freiheit überlaffen hätten; auf dem angebornen Gemeingefühl unferer Eriftenz, auf der Eigen- thümlichkeit unferer Talente, der Summe der empfangenen Ein: dDrüde, auf dev Erinnerung des Erlebten, auf der fortdauernden Stimmung, auf den immer wieder wirffamen allgemeinen Ge— fegen unſeres Vorſtellungslaufes würde die Einheit und Stetigkeit unſeres perjönlihen Bewußtſeins breit und ficher beruhen, denn über alle diefe Elemente unſeres geiftigen Lebens würde jene Freiheit feine Macht befigen. Jene Größe der Veränderlichkeit Dagegen, die in der That durch die Unberechenbarkeit der Entfchlüffe uns nod übrig bliebe, dürfte Leichter zu der Entwidlungsfähig- feit gehören, die wir wünſchen müſſen, als zu dem Wechſel, den wir zu fliehen haben.

Aber das allgemeine Geje der Kaufalität, welches zu jeder Wirkung die genügende Urſache binzuzufuchen befiehlt, wird es nicht zulegt jeder Annahme einer Freiheit entgegenftehen und unerbittlih den Zuſammenhang des ganzen Weltall in eine unendliche Kette blinder Wirkungen verwandeln? Wir möchten meinen, je deutlicher fich diefe Verwandlung als die nothmwendige Bolgerichtigkeit jener Auffaffung des urfächlichen Zufammenhanges

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zeigt, um fo deutlicher fer auch die Unrichtigfeit der Auffaffung ſelbſt. Daß die Geſammtheit aller MWirklichleit nicht die Unge- veimtbeit eines überall blinden und nothwendigen Wirbels von Ereigniſſen darftellen könne, in welden für Freiheit nirgends Platz ſei: dieſe Heberzeugung unferer Vernunft fteht uns fo un⸗ erfchütterlich feft, daß aller übrigen Erkenntniß nur die Aufgabe Zufallen kann, mit ihr als dem zuerjt gewifjen Punkte den wider- ſprechenden Anſchein unferer Erfahrung in Einklang zu bringen, Wir leugnen nicht, daß dieſe Aufgabe der Wiffenfhaft noch weit von der Haren fung entfernt ift, die wir für fie wünſchen, und ohne hier in Unterfuchungen einzugehen, deren Yührung ſchwer und deren Ergebniß zweifelhaft fein wiirde, mögen wir der ge= wöhnlichen Ueberzeugung nur einzelne Punkte zu wiederholter Ueberlegung einwerfen.

Wenn das Eaufalgefeg mit Recht zu jeder Wirkung eine Urſache verlangt, jo ift e8 Dagegen unfere Schuld, wenn wir in jedem Ereigniß eine Wirkung fehen, oder wenn wir Die gefundene Urſache überall jelbit wieder als Wirkung einer anderen betrad- ten. Die unvollendbare Reihe, in welche wir uns hierdurch ver⸗ wickeln, muß uns darauf aufinerkſam machen, daß jener Satz im Grunde weniger ausſagt, als er ſcheint. Wenn wir behaupten, daß jede Subſtanz unzerſtörbar ſei, ſo ſagen wir etwas Richtiges, ſobald wir in dem Begriffe der Subſtanz eben das Merkmal der Unzerſtörbarkeit eingeſchloſſen haben; aber wir drücken damit nichts aus, was eine unmittelbare Geltung hätte; denn es wird ſich dann eben fragen, ob es Subſtanzen in dieſem Sinne gibt, und ob die Erfahrung, die uns allerdings nöthigt, zu jedem Kreiſe von Eigenſchaften und Entwicklungen ein Subject als Träger der⸗ ſelben hinzuzudenken, uns auch überall dazu nöthige, dies Sub- ject ſelbſt in Geſtalt einer ſo gearteten Subſtanz aufzufaſſen. Eben ſo verlangt ohne Zweifel Alles, was wir einmal als Wir⸗ kung denken und bezeichnen, ſeine Urſache, aber es iſt fraglich, ob wir ein Recht haben, jedes vorkommende Ereigniß als Wirkung in dieſem Sinne zu betrachten. Eben jene Unvollendbarkeit der

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Saufalveihe überzeugt und von dem Nichtvorhandenſein dieſes Rechtes, denn fie führt nothwendig auf die Anerkennung eines urfprünglicden Seins und einer urſprünglichen Bewegung zurüd. Nicht darin befteht die unbedingte Giltigkeit des Caufalgefetes, daß jeder Theil der endlichen Wirklichleit immer nur im Gebiete biefer Endlichfeit ſelbſt durch beftimmte Urſachen nach allgemeinen Geſetzen erzeugt werden müßte, fondern darin, Daß jeder in dieſe Wirklichkeit einmal eingeführte Beftandtheil nad) dieſen Geſetzen weiter wirkt. Sprechen wir gewöhnlich nur davon, daß jede Wirkung ihre Urſache babe, fo follten wir im Gegentheil das größere Gewicht -auf den andern Ausdrud des Satzes legen, darauf, daß jede Urfadhe unfehlbar ihre Wirkung hat. Darin befteht, nicht allein zwar, aber wie mir fcheint zum mejentlicheren Theile der Sinn der Sanfalität, daß fie jedem aus irgend welcher Duelle einmal entjtandenen Elemente der Wirklichkeit fein thäti- ges Eingreifen in den übrigen Beſtand der Welt, zu welcher es nun gehört, fihert, und zugleich ihm verwehrt, innerhalb der⸗ jelben anders thätig zu fein, als in Mebereinftimmung mit jenen allgemeinen Gefegen, die in ihr alles Geſchehen beherrſchen. So gliche die Welt einem Wirbel, zu dem von allen Seiten ber, nit von ihm felbft angezogen, nicht von ihm erzeugt, neue Fluten fih einfinden; aber einmal in ihn eingetreten, find fie nun gezwungen, an feiner Bewegung Theil zu nehmen. Go haben wir ferner ein Bild deſſelben VBorganges an dem Verhal- ten unferer eignen Seele zu den Werkzeugen des Körpers; eine Menge Entihlüffe, Anfangspunfte künftiger Bewegungen, erzeugt Die Seele in ſich; keiner von ihnen braucht bedingt und begriün- bet zu fein durch Ereigniffe in dem leiblichen Leben, auf welches er zurückwirkt; aber jeder, in dem Augenblide, in welchem er in dieſes Leben übergeht, ordnet fih nun den eignen Gefeten deſ— felben unter und erzeugt fo viel oder fo wenig Bewegung und Kraft, als diefe ihm zugeftehen, und Bewegung in diefer und in feiner andern Richtung, als in welcher fie es ihm geftatten. Der Anfänge, deren Urfprung nicht in ihm felbit enthalten ift, kann

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der Weltlauf in jedem Augenblide unzählige haben, aber feinen, deffen nothwendige Yortfegung nicht in ihm anzutreffen wäre. Wo aber ſolche Anfänge Liegen, fönnen wir nicht im Voraus beftimmen; überzeugt und die Erfahrung, daß jedes Ereigniß der äußeren Natur zugleich eine Wirkung ift, die ihre Urfache in vorhergehenden Thatſachen hat, fo bleibt die Möglichkeit unbe- nommen, daß der Kreis des inmeren geiftigen Lebens nicht gleich durchgängig einen ftarren und nothmwendig ablaufenden Mechanis- mus bilde, fondern daß in ihm neben unbeichränfter Freiheit des Wollend auch eine befchräntte Macht des unbedingten An— fangens gegeben fei.

Indem wir nun dieſes Gemälde abichließen, in welchem wir, weit entfernt, die Fülle des geiftigen Lebens erichöpfen zu wollen, vielmehr nur die großen Umriſſe feines Zufammenbanges in füch felbft zu bezeichnen fuchten, möchten wir einen Punkt bauptfächlich al8 den Gewinn diefer Betrachtungen feſthalten: Die Ueberzeugung nämlich von der durchgehenden Verſchiedenheit, welche das Ber- halten des inneren Lebens von den Eigenthümlichkeiten Des äußeren Naturlaufes trennt. Nicht nur feine Elemente find an dere als die der Natur; Bewußtjein, Gefühl und Willen haben feine Aehnlichkeit mit den Zuftänden, die unjere Beobachtung ung in’ den materiellen Mafjen entweder nachweiſt oder anzunehmen nöthigt; auch die Yormen der Thätigfeit, alle jene Aeußerungen einer beziehenden Zuſammenfaſſung des Mannigfaltigen, deren Werth wir Tennen gelernt haben, bieten keine Analogie mit Den Wechſelwirkungen, die wir zwijchen jenen verfolgen Tönnen. Wie jehr wir auch durch die weit überwiegende Ausbildung der Na- tumwifjenichaften daran gemöhnt fein mögen, die Grundvorftellun- gen, welche diefe entwidelt haben, als die überall anwendbaren Hilfsmittel Der Unterfuhung anzufehen: wir müfjen ung Dennoch zugeftehen, daß wir hier ein völlig andere und neues Gebiet

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betreten haben, deſſen eigentbümliche Natur au die Gewöhnung an neue und eigentbiimliche Gefichtspunfte von uns verlangt. Man würde irren, wenn man dieſe Sorderung nur gegenüber dem Materialismus ausgeiprochen glaubte, der folgerecht, indem er die Selbftändigfeit des geiftigen Weſens leugnet, auch die Ber- pflihtung abweifen muß, neue Betrachtungsweifen für einen Gegenftand zu ſuchen, der ihm nicht neu erjcheint; viel weiter breitet ſich diefelbe Neigung, die wir tadeln, auch durch Anſich⸗ ten hindurch aus, die gemeinjam mit der unferen auf dem Zu- geſtändniß der felbftändigen Urſprünglichkeit des Geiftigen ruhen. So fehr find wir in der Betrachtung der Natur an die mittel- baren Wirkungen und an ihre Erflärung durch Zuſammenſetzung einzelner Beiträge, jo ſehr an die Zurüdführung inhaltvoller Unterfchiede der Eigenfchaften auf unbedeutende Veränderungen in der Größe und Verbindungsweiſe gleichartiger Elemente gewöhnt, daß uns zulegt das Verſtändniß alles Unmittelbaren abhanden fommt und eine allgemeine Sucht, Alles zu conftruiven, Allem eine verwidelte Mafchinerie feines Entſtehens und Daſeins unter- zufchieben, fi unferer Gedanken unmillfürlich bemächtigt. Faſt möchten wir dann behaupten, daß auch in unſerem Innern nichts vorhanden fei, al8 eine äußerliche Aneinanderfettung von Ereig- nifjen, ähnlich der Mittheilung der Bewegung, durch welche wir in der Außenmelt ein Element das andere ftoßen jehen; und was fonft nod in uns vorkommt, Bewußtſein Gefühl und Stre- ben, wir würden faft verjucht fein, e8 nur als einen beiläufigen Schein anzufehen, den jenes wahre Geſchehen in und wirft, wenn nicht dann doch wieder Etwas da fein müßte, für welches und in welchem diefer Schein entſteht. Dieſes Etwas ift nun da; jede einzelne Aeußerung unſeres Bewußtſeins, jede Negung un⸗ ferer Gefühle, jeder keimende Entſchluß ruft uns zu, daß mit unüberwindliher und unleugbarer Wirklichfeit Ereignifje in ber That gefchehen, die nach feinem Maße naturmiffenihaftlicher Be- griffe meßbar find. So lange wir dies Alles in uns erleben, wird der Materialismus zwar im Bereiche der Schule, die fo

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viele nom Leben ſich abwendenden Gebanten einfchließt, fein Da- fein friften und feine Triumphe feiern, aber feine eignen Belen- ner werden durch ihr lebendiges Thun ihrem falihen Meinen widerſprechen. Denn fie merben alle fortfahren, zu lieben und zu haſſen, zu boffen und zu fürchten, zu träumen und zu forſchen, und fie werden fich vergeblich bemühen uns zu überreden, daß dies mannigfaltige Spiel der geiftigen Thätigfeiten, welches ſelbſt die abfichtliche Abmwendung vom Weberfinnlichen nicht zu zerftören vermag, ein Erzeugniß ihrer Eörperlihen Organiſation fer, oder daß das Imterefje für Wahrheit, welches die einen, die ehr- geizige Empfindlichkeit, welche andere verratben, aus den Berridy- tungen ihrer Gehirnfaſern entfpringe. Unter allen Berirrungen des menſchlichen Geiftes ift dieſe mir immer als die feltiamfte erihienen, daß er dahin kommen konnte, fein eignes Weſen, welches er allein unmittelbar erlebt, zu bezweifeln oder es ſich als Erzeugniß einer äußeren Natur wieder ſchenken zu laſſen, Die wir nur aus zweiter Hand, nur dur das vermittelnde Willen eben des Geiftes kennen, den wir leugneten.

Drittes Bud.

Das Leben.

7 5 OF THP

VNIYERSITY

Erſtes Kupitel,

Der Zufammendbang a Leib und Seele.

Verſchiedene Stufen der Weltauffaffung; die wahren und die abgeleiteten Standpunkte, Das allgemeine Band zwiſchen Geift und Körper. Die Möglichkeit und bie Unerlärlicgleit der Wechſelwirkungen zwiſchen Gleichartigem und Ungleihartigen. Die Entſtehung der Empfindungen. Die Lenkung der Bewegungen. Der ge⸗ ſtaltbildende Einfluß der Seele.

Weit ab von den Pfaden, auf denen fi die Erklärung der Naturerfheinungen zu bewegen pflegt, hat und die Beobady- tung des inneren Lebens nad andern Richtungen geführt. Aber je größer die Eigenthiimlichfeit des geiftigen Daſeins ift, fo groß, daß nur die unbedachteſte Gewöhnung an die Formen der Sin⸗ nenwelt. feine Entftehung aus den Gegenmwirkungen der Stoffe denkbar fand, um fo Tebhafter drängen fich jest die mühſam zu= rüdgehaltenen Fragen nach der Möglichfeit des gegenfeitigen Ein- fluffes hervor, in welchen wir beide fo ſcharf geſchiedene Gebiete des Geſchehens doch überall verwidelt finden. Wie groß und ſchwerwiegend die leitende Macht ift, welche in jedem Einzelnen der Wechſel der Eörperlichen Stimmung über Größe und Rich— tung der geiftigen Regſamkeit ausübt, davon überzeugt uns, hin⸗ reihend um jede weitere Erwähnung unnöthig zu maden, Die gewöhnlichfte Erfahrung; ich meine jene Erfahrung, die auch dann noch übrig bleibt, wenn wir die leichtfinnigen Webertreibumgen abziehen, mit denen mande Anficht unferer Zeit, als ſei ihr jedes Andenken an Selbftbeherrfhung und Entfagung abhanden gefommen, in allen Regungen des Seelenlebens nur den gleid- Inutenden Widerhall phufticher Vorgänge zu finden verfihert. Wie

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ſehr anderfeit8 alle höhere Cultur von den unzähligen Wechlel- wirtungen abhängt, die, alle zulegt durch Körperliche Thätigfeiten und Bedürfniffe vermittelt, zwiichen uns und der Außenwelt aus⸗ getaufcht werden, und mie mächtig die umgebende Natur bald durch Teichte Gewährung bald durch eigenfinniges Verſagen neue Entwillungen unferer Kräfte anregt oder verfümmern läßt: da⸗ von hat jedes Zeitalter liberzeugende Beifpiele gegeben, aber noch keinem ift fo lebhaft wie dem unferen diefe Abhängigkeit zu vol- lem und klarem Bemwuhtfein gekommen. Ob dies im Ganzen uns günftiger ftellt, «als frühere Gefchlechter, ob dieſe bewußte und in dem Umfange ihrer Anftrengungen großartige Ausbeutung der Außenwelt für den Fortſchritt des allgemeinen Wohlbefindens auch den Sinn für die Höhe der Zwecke lebendig laſſen wird, für die Doch alle dieſe Weußerlichfeit der Eultur zum Mittel be- rufen ift, müſſen wir der Zukunft anheimftellen; gewiß bat bis jegt die Haft dieſes Fortichritteß nicht die Theilnahme für Die ernten Fragen zu erftiden vermodt, die uns über den großen Zuſammenhang der geiftigen Weltorbnung mit dem Naturlauf und im Kleineren über die Verknüpfung unferer perfönlichen Seele mit ihrer leiblichen Hülle inner von Neuem auffteigen.

Aber von je mannigfaltigeren Intereffen das nach außen gerichtete Leben bewegt wird, aus deſſen Geräuſch wir uns jelbft fammelnd zur Weberlegung diefer Fragen zurüdtehren, deſto viel- geftaltiger find aud die Bedürfniſſe nad Aufflärung und Die verjchwiegenen Erwartungen, Die wir zu ihrer Unterfuhung mit- bringen, deſto verjchiedenartiger die verfiohlenen Keime von Mik- verftändniflen, Die ſpäter mit widerſprechender Lebhaftigkeit ihrer Anſprüche anwachſend unfere Bemühungen zu verwirren drohen. Allen dieſen ihrer jelbft fo oft ungewiflen Anforderungen bes Gemüthes zu genügen, wird jeder Anficht ſchwer fallen; am ſchwerſten dann, wenn wir ohne Theilung der Aufgaben auf ein- mal die verſchiedenen Zwecke erfüllen wollen, die jede wifjenjchaft- liche Erörterung fih überhaupt ftellen Tann.

Denn unfere Wünſche innen entweder auf das Verſtändniß

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der Erfcheinungen und auf die Nachempfindung ihres wejentlichen Sinnes, oder auf die genaue Erfenntniß der äußerlichen Formen ihres Zuſammenhanges und ihre gegenfeitige Berechenbarkeit aus- einander gerichtet fein; aber mehr als eine Unvollkommenheit der menſchlichen Natur ſcheint und das völlige Verjchmelzen beider Richtungen unſeres Forſchens zu einer untheilbsren Einheit des Wiſſens zu verfagen. Auf die letzten und tiefften Gründe in dem Weſen der Dinge zurüdzugeben und jede Unflarheit ber Exfchei- nungen, die und beläftigt, aus den urſprünglichſten Geſetzen alles Wirkens in der Welt und aus dem vernünftigen Sinne des Planes aufzuklären, der die einzelnen Ereigniffe zu der Orbnung eine bedeutungsvollen Ganzen zujammenfaßt: diefe ideale Auf- gabe möchten wir weder dem begeifterten Streben verfümmern, das immer wieder zu ihrer Löſung zurüdtehrt, noch möchten wir fie der Unempfänglichkeit gegenüber, die ſich geringſchätzend von ihr abwendet, für minder werthvoll anerkennen, als fie iſt. Dennoch müſſen wir zugeftehen, daß dieſe Begeifterung für das Höchfte jelten die Mutter einer genaueren Erkenntniß des Niedrigeren geweſen ift; indem fie dem Gemüthe die eigenthümliche Befriedigung einer fiheren Ruhe in dem allgemeinen Grunde aller Dinge gewährte, bat fie nicht zugleich die Iharffinnige Beweglichkeit gefteigert, mit welcher der menfchliche Geift, für die Erfüllung feiner Lebensauf- gaben aud auf die Verkettung der endlichen Welt angewiefen, das Hervorgehen des Einzelnen aus Einzelnem zu erforichen em jo großes Intereffe bat. UWeberall mo Zwecke des Handelns zu den Aufgaben der bloßen Erkenntniß binzutreten, wo es uns darauf ankommt, den Ablauf der Ereigniffe nicht allein bewun- dernd zu verftehen, fondern umgeftaltend in ihn eingreifen zu tönnen, da tritt an Werth die Einficht in die höchſten Gründe der Dinge, die allen gemeinfam find, binter die Kenntniß der nächſtliegenden Kegeln zurüd, welche in dieſem einzelnen Gebiete unſeres möglichen Handelns berrihen. Nun gelangen wir wohl Veiht von der Betrachtung des Einzelnen zu dem Allgemeinen und Höheren, das ſich über ihm ausbreitet, aber jchwerer finden

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wir den Rückweg aus der Unbeftimmtheit des Allgemeinen in alle jene Verwicklungen des Einzelnen, um defjen genaue Beherr- hung uns zu thun iſt. Nicht diefen Weg fehen wir daher bie Wiſſenſchaften einjchlagen, denen wir bisher die bleibendite und fruchtbarfte Erweiterung unferer Einfihten verdanken; fie gehen in ihrer Arbeit nicht von den Punkten aus, die auch ein ſpäteres ausdrückliches Nachdenken als die höchſten ihrer ſelbſt gewiſſen Grundlagen aller Folgerungen, als die eigne weſentliche Wahr- heit der Dinge zugeftehen müßte. Manches laſſen fie vielmehr unentſchieden und dahingeftellt, am meiften die endliche Recht⸗ fertigung der Grundfäße, die fie der forgfältigen Zergliederung der Erfahrungen als wohlbeglaubigte, obgleich in ihrem Urfprunge dunfle Unterlagen für die weiteren Schritte ihrer Erflärungen entlebnen; immer vorwärts auf Die zunehmende fichere Herrichaft über das Einzelne gerichtet, mögen fie beſchaulichen Gemüthern weniger Kopf zu befiten fcheinen, aber gewiß haben fie mehr Hand und Fuß, als jene höheren Anfichten der Dinge, Die meift mit undurhführbaren Anfprüden, immer fehr verfchmenbertich mit Forderungen, und Nichts felber gewährend, ihnen gegenüber: treten. Es gelingt uns vielleicht zumeilen, indem wir alle Be- dingungen eine Naturereignifjes berüdfichtigen, eine Yormel zu finden, welde das vollftändige Geſetz derſelben erſchöpfend aus⸗ brüdt; aber die Gleichung, die wir fo erlangt haben, vermögen wir vielleicht nicht aufzuldfen, und die Wahrheit, die wir an ihr befigen, bleibt ein unbenutzbar verichloffener Schatz. In ſolchen Vällen beſcheidet ſich die Wiffenihaft, und indem fie einige der Bedingungen, die geringen Einfluß auf Die Begründung der Er: ſcheinung und großen auf die Benwidlung der Formel haben, aus ihrer Unterfuhung binwegläßt, zieht fie aus ber vereinfad- ten und lösbar gewordenen Gleihung Bolgerungen, die nur an- nähernd richtig, aber deshalb, weil man fie haben kann, nütz⸗ licher find als die volllommen genauen, die man nicht haben kann. Auf ähnliche Weife finden wir vielleicht eine glaubliche Aufklärung über Die höchften Zwecke der Welt; aber bie bißherigen

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Berfuhe dazu haben uns mit dem Mißgeſchick vertraut gemacht, daß wir aus diefen hohen Aufgaben jehr wenig den verwidelten Geihäftsgang abzuleiten verftehen, durch melchen der Naturlauf fie zur Erfüllung bringt, und doch liegen die meiften praftifchen Beweggründe zu unferen Unterfuchungen auf dieſem Gebiete, deſſen Geſetzlichkeit fich einem weniger hochfliegenden Gedanken⸗ gange nicht unerforſchlich zeigt.

Mit dieſer natürlichen Vorliebe nun für die Dinge, die ſich ausführen laſſen, verbindet ſich für und noch eine doppelte Be⸗ trachtung, die und überredet, die Aufgabe, melde uns obliegt, zu theilen. Je weiter wir und von den gegebenen Thatjachen ent- fernen, um aus ihrer verallgemeinernden Vergleichung die höch⸗ ften Grundfäge zu finden, die uns wieder zu ihnen zurüdführen ſollen, um fo zahlreicher werden unvermeiblidh Die Quellen mög⸗ licher Irrthümer; ihre Menge wächſt mit der fteigenden Anzahl ber Vermittlungsglieber, durch Die unfere Schlüffe das Gegebene mit dem gefuchten Höchften verbinden. Nur ein verhängnifivolles Zutrauen zu ihrer eignen Unfehlbarfeit kann Daher die Wiflen- haft verleiten, ihre Erfenntniß iiber einen reich geglieverten In⸗ halt mit Vorliebe an die möglich geringfte Anzahl von Grund- fügen oder an den dünnen Faden eines einzigen Princips zu nüpfen, mit beffen Riß das Ganze fallen müßte. Anftatt ihren Bau auf die fharfe Schneide einer einzigen Grundanſchauung zu ftellen und das ſonderbare Kunſtſtück der möglich größten Labili- tät mit immer tieffinnigeren Mitteln auszuführen, wird fie nüß- Ticher arbeiten, wenn fie für die breitefte Grundlage ihres Auf- ſteigens forgt und das Gegebene mit bejcheidenerem Anlauf zuerft auf die nächftliegenden Erflärungsgründe bringt, Die feine Deutlich erkennbare Eigentbinmlichleit verlangt. Sie wird ſich vorbehalten, dieſe Ergebnifje erfter Ordnung zum Gegenftand einer höher ftei= genden Forfhung zu machen; aber indem fie fich erinnert, wie in dieſer Höhe allmählich die Schärfe der Umriſſe in den Gegen- ftänden der Frage und damit die Sicherheit unferer Beurtbeilung abnimmt, wird fie die Möglichkeit des Irrthums zugleich zugeben

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und zugleich feine Schäblichleit mindern. ‘Denn e8 wird ihr frei fteben, diefe höheren Gebiete wieder aufzugeben, die fie mit un⸗ zureichenden Mitteln ſchon erkämpft zu haben glaubte, und ſich auf jene niedrigeren noch immer unabhängig für fi haltbaren Standpunkte zurüdzuzieben, deren Ausficht, obwohl fie nicht Die Ausfiht vom Gipfel ift, Doch immer aud eine Wahrheit und Wirklichkeit bleibt.

Und endlich, felbft wenn wir uns getrauten, den Weg bis zum Gipfel der höchſten Höhe fehlerlos zurlidzulegen, würben wir doch eine Beranlaffung haben, ibn nur felten zu gehen. Denn um die Höhe zu erreichen, würden wir gendthigt fein, gar manche von jenen Borftellungsarten der Dinge aufzugeben, auf deren Anwendung für uns alle Klarheit und Anfchaulichkeit in unferm täglichen Verkehr mit den Gegenftänden beruht. So gewiß wir nun dieſe Berzichtleiftung auf die Richtigkeit des uns jo vertraut gewordenen Scheines entjchloffen durchführen müfjen, eben fo ge- wiß werden wir doch Dann, wenn wir.von jenen höchften Stand⸗ punkten zu ber Ebene der und umgebenden endlichen Welt zu- rüdfehren, aud Die Sprache des Scheines wieder vorziehen müſſen. Klarheit und Einficht erreichen wir nicht, indem wir in jedem einzelnen Falle die gewohnten Formen menſchlicher Auffaflung aufgeben und die Sprache einer höheren Wahrheit an ihre Stelle fegen, fondern dadurch, daß wir einmal auf den Grund der Dinge zurüdgehen und aus ihm die Grenzen verftehen lernen, innerhalb deren wir eben jene gewohnten Auffafjungsformen als gelenkige Werkzeuge unferer Erkenntniß als angenäberte und ber Handhabung fähige Abkürzungen des wahren Berhaltens ohne Irrthum anwenden dürfen. Niemals Vortheil, fondern nur ben Nachtheil beängftigender Unflarheit bringt es mit fi, wenn wir in befondere und einzelne Unterfuhungen unmittelbar die höchften Principien einmiſchen, von denen alle Eutfcheidung freilich zuletst abhängt; Niemand ift im Stande, zugleich die ganze Reihe der Weiterbeftimmungen im Auge zu behalten, durch welche doch eigent- ih auch jene höchften Gründe erft zu dem werden, wovon der

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gegebene Fall zunäcit abhängt. Obwohl die Aftronomie den Stillftand der Sonne und die Bewegung der Erde entſchieden hat, fo vermeidet unſer Sprachgebraud Doch die Gefchmadlofigfeit, dem Auf- und Untergang der Sonne den ſchwerfälligeren Ausdruck des wahren Verhaltens vorzuziehen; obwohl von den Kräften, mit welchen die kleinſten Theilchen gegen einander wirken, die größere oder geringere Fähigkeit der Körper abhängt, ihre geftörte Geftalt wieder herzuftellen, jo gehen wir Doch nicht bei jedem Anlaß auf die Berechnung derfelben zurüd, fondern freuen uns, in dem Be- griffe der Elafticität und in ihren erfahrungsmäßig gefundenen Gefegen näher liegende Mittel zu bequemerer Beurtheilung zu befiten; obwohl endlich jede Veränderung, durch melde unfere Speijen genießbar werden, ohne Zweifel auf allgemeinen chemi⸗ ſchen Geſetzen beruht, fo warten wir doch nicht, bis dieſe entdeckt ſein werden, und vermuthlich wird die Kochkunſt ſelbſt dann die Kunſtgriffe der Erfahrung als beſſere Bürgſchaften des Erfolges den Vorſchriften der Wiſſenſchaft vorziehen. Die geringe Neigung, welche bisher die höheren Unterſuchungen gezeigt haben, den Schatz ihrer vielleicht ſehr vollwichtigen Ergebniſſe in dieſe gangbare Kleinmünze behaltbarer Gedanken und faplicher Abkürzungen aus- zuprägen, bat ihnen nicht allein die allgemeine Theilnahme ent- zogen, fjondern zu ihrer eignen Unflarheit mitgewirkt. Es ift kein volllommener Zuftand der Gejellichaft, wenn die Entfcheidung jeder ftreitigen Kleinigfeit und die Anweiſung zur Beforgung des geringiten Gejchäftes unmittelbar von der höchſten Behörde einge- holt werden muß; wie man bier der geleßgebenden Gewalt und der leitenden Regierung einen wohleingeübten Mechanismus ber Berwaltung unterorbnet, fo bedarf auch die Wiffenichaft einer Ab- ſtufung der Geſichtspunkte, und die nicht genügenden Entſchei⸗ dungen ber niedrigeren müflen zwar den höheren zu befjerer Auf- klärung überwiefen werben Können, aber nicht überall muß die Recht fuchende Forſchung zu dem weiten Wege bis an den lebten Urfprung der Dinge zurüd genöthigt fein,

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Keine Frage dürfen wir fiherer erwarten, als die nach dem Bande überhaupt zwifchen Leib und Seele; fie pflegt die erfte zur fein, die man in diefen Betrachtungen aufwirft, und zu ihr kehrt man im Berlaufe derſelben zurüd, indem man unbefriedigt durch alle beftimmteren Auseinanderfegungen wie mit einem tiefen Athem- Thöpfen nun noch einmal die eigentliche Schwierigleit der Sache in ihr zufammenzufaffen meint. Und dod kann kaum etwas hin- derlicher fein, al8 eben das Mißverſtändniß, welches diefe Faſſung der Frage jelbft einfchließt. Denn was ift ein Band Anderes, als ein Mittel äußerlicher Verknüpfung fir das, was nicht von felbft aneinander haftet und wegen des Mangels jeder innerlichen Beziehung feine Wechſelwirkung auszutaufchen geneigt ift? Und wäre e8 uns nun gelungen, dieſes allgemeine und zwar dieſes eine Band zwiſchen Leib und Seele zu entveden, welches Bebürf- niß hätten wir dann eigentlich befriedigt? Keine der zahllofen Wechſelwirkungen, die wir zwifchen beiden gefchehen fehen, würde ihrer Geftalt und Art nah aus dieſer äußerlichen Umfchnürung erflärbarer fein, als ohne fie; ja ſelbſt Die Möglichkeit jedes gegen- feitigen Einfluffes würden wir noch einmal mit einem ganz neuen Anlauf der Unterfuhung aus der Natur des Verbundenen zu be- greifen ſuchen müſſen, da wir fie in der unbeftimmten Borftellung des Bandes nicht finden. Und jedes Band überdies, durch welches neue Bindemittel find feine eigen Beſtandtheile verfnüpft, um nun mit ihrem Zuſammenhang auch Anderes binden zu können? Wie weit wir auch in das Kleine hinein den Behelf eines immer ernenerten Kittes wiederholen mögen, zuletzt werden wir zugeftehen müffen, daß nicht ein vorangehendes Band die legten Elemente zur Wechſelwirkung befähigt, fondern daß eben die Wechfelwirfung felbft fie unmittelbar aneinander heftet und fie befähigt, Bänder zu werben fiir Anderes, deſſen eigne gegenfeitige Berwandtfchaften zu kraftlos find, um feine Bereinigung im Kampfe mit miber- ftreitenden Hinderniffen zu bewirken.

Aber hat nicht dennod die Forderung, jenes allgemeine Band aufzuzeigen, den richtigen Sinn, eine Bedingung zu verlangen,

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bie für das Zuftandelommen der Wechſelwirkung vorher gewährt fein muß? Das Gefäß, welches zwei chemiſche Stoffe umfchliekt, wirkt es nicht als ein Band, das beide zunächſt zu gegenfeitiger Berührung zufammenzwingt und dadurch erft ihnen Gelegenheit gibt, die Einflüffe auszuüben, deren beftimmte Art und Größe freilich nur in ihrer eignen gegenfeitigen Verwandtſchaft begründet ift? Gewiß, die Elemente, deren Wechfelbeziehungen nicht fo leb- haft find, um fie einander auffuchen zu laſſen, bedürfen einer leitenden Hand, um fie zufammenzuführen; aber num, nachdem fie zufammen find, ift e8 weder jene Hand mehr nod das Gefäß, was fie verbunden hält, fondern ihre eignen Wechfelwirfungen verknüpfen fie, und oft zu einer größeren Feſtigkeit, als jenes äußerliche Band ihnen je hätte geben können. Und fo mag es, um das Gleihniß zu verlaffen, eine der Aufmerkfamleit würdige Frage fein, auf welche Weife in der erjten Bildung des Lebens Leib und Seele vereinigt worden find; aber in dem einmal ge= bilveten und fich erhaltenden Leben, deſſen Aufklärung nothwendig unfer nächſter Gegenftand fein muß, da wir nur aus der Kennt⸗ niß feines Beſtehens Vermuthungen über feine Entftehung ent-

wideln können: aud in ihm ein fortdauerndes Band zwiſchen Leib -

und Seele zu verlangen, das von der lebendigen Wechſelwirkung beider noch verjchieden wäre, ift eine gleich überflüffige und arm- jelige Vorſtellung. Sie ift ebenjo überflüffig, als wenn wir das Band der Freundichaft. das zwei Gemüther verknüpft, noch be- ſonders als eine fihtbare Umſchnürung wahrnehmen wollten, wäh- vend es eben die Freundſchaft ſelbſt ift, welche das Band bildet; fie ift armſelig, weil fie e8 ift, Die recht eigentlich auf ganz äußer⸗ liche Weife Leib und Seele aneinanderketten möchte und nicht daran denkt, daß ftatt des einen formlofen Bandes vielmehr das feingegliederte Geflecht unzähliger Beziehungen beide auf das Sinnvollite zu gegenfeitigem Eingehen auf ihre Zuftände und Be- dürfniſſe befähigt. Denn jede einzelne Wechſelwirkung, die zwifchen ihnen ausgetauſcht wird, ıft ein Faden deſſen, worin ihr Band be- fteht, und die fpottenden Einwürfe, die jo oft der Anficht von der 20*

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aittheilbarleit und De”

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Zuſammenſetzung der menſchlichen Natur aus Leib und Seele ge- macht werden, weil fie unfer Weſen aus der Abdition zweier Be- ftandtbeile erzeugen wolle, tragen nur diefe Kümmerlichkeit ihrer eignen Borftellung von einem allgemeinen Bande mit Unrecht auf bie unbegrenzte Mannigfaltigleit dieſer organifirten Wechſelwirkung über. Laſſen wir deshalb diefe nugloje Anficht auf ſich beruhen, wie fie theils in gröberer Form ſich nach einem ftoffartigen Cement ſehnt, das vielleicht in Geftalt einer ätheriſchen Materie Leib und Seele verlitte, theils in feinerer und doch nicht wahrerer Ausbil- dung die Seele felbft als Mittelglied zwiſchen Körper und Geift ftellt und Durch dies Alles nur die Anzahl der Fugen vermehrt, deren Berlittung fie doch wünſcht.

Aber diefe Wechſelwirkungen felbft, gehören fie nicht zu dem Unerklärlichſten, oder gäbe es ein Mittel, fich eine Anſchauung da⸗ bon zu machen, wie die Eindrlide vom Körper zur Seele übergeben und von dieſer zurüdfehren? Auch dieſe Trage enthält des Mip- verftändlichen viel, und in der That ift fie nur eine neue Form des Ausdruckes für die falſche Meinung, die der vorigen zu Grunde lag. Denn unerflärlich ift jene Wechſelwirkung allerdings, aber fie gehört nicht zu den Vorgängen, deren Wirklichleit wir um ihrer Unerflärlichleit willen bezweifeln dürfen, weil e8 ihre Pflicht fein würde, nach uns bekannten Gefeten fich erflären zu laſſen; fie felbft ift vielmehr der Begriff jenes einfachen und urfprünglichen Geſchehens, auf welches jede Erläuterung zufammtengefegter Ereig- niffe uns zurüdführt, und welches wir nun, uns felbft mißver- ftehend, aus feinen eignen Folgen begründen möchten. Ober ver- langen wir mit jener Frage vielleicht etiwa8 Anderes als die aus⸗ führliche und anfchauliche Befchreibung der Arme, mit denen Die Seele thätig in den Körper übergreift, der phufiichen Werkzeuge, durch welche der Körper ihr feine Eindrüde beibringt, kurz jener ganzen Maſchinerie, welche hier, wie in anderen Fällen der Wedh-

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felwirkung, die wir genauer zu kennen glauben, den Uebergang des Einfluffes von einem zum andern vermittele?

Prüfen wir uns unbefangen, jo können wir nicht leugnen, daß in unferer Weltauffaffung ſehr oft Die Neugierde an die Stelle der Wißbegierde tritt, und daß die reiche Befriedigung der einen durch Die umterhaltende Mannigfaltigfeit aufeinanderfolgender Bil- der und nur zu oft vergeffen läßt, wie völlig ungeftillt die an- dere bleibt. Wir ſchätzen die Gründlichkeit unferer Einſicht ehr gewöhnlich nach der Menge der Einzelheiten, die wir in irgend einer Unterfuhung kennen gelernt haben; je mehr innerliche Mafchinerie, je mehr Zufammenfegung unfere zergliedernde Aufmerkfamteit in irgend einem Gegenftande findet, deſto vollftändiger glauben wir MWefen und Wirkungsweife befielben begriffen zu haben. Wir denken nicht daran, daß diefe Mannigfaltigfeit zufammenhängen- der Glieder eigentlich doch nur die Summe deſſen vermehrt, was einer Erflärung eben bebürftig wäre, und daß jeder Nachweis von Mittelgliedern zwiſchen erfter Urſache und Enderfolg das Räthiel, wie nun überhaupt Wechſelwirkung zwifchen verfchiedenen Elementen möglich fei, nicht Yöft, fondern nur vervielfältigt. Haben wir eine Maſchine, deren Wirkungsweife ung zunächſt völlig unbegreiflich fchien, in ihrem Innern betrachtet und gejehen, wo jedes Rab des Getriebes in das andere eingreift und feine eignen Bewegungen in beftimmten Richtungen auf andere Elemente überträgt, fo glauben wir nun alle Rätbfel gelöft. Und doch haben wir nicht im Geringften eine Kenntniß der Art erlangt oder be inneren Borganges, durch welchen hier die wirkenden Kräfte ihren Erfolg hervorbringen; wir haben nur das große unanfchaulide Ge⸗ heimniß der ganzen Mafchine in jene einzelnen Geheimniffe der einfachen Naturwirkung zerlegt, in Betreff deren wir ung ein- mal entfchieden haben, fie als klar gelten zu laſſen, obwohl fie doch für jede nähere Betrachtung fi zu völliger Unbegreiflichleit verdunkeln.

Denn alle Maſchinenwirkung beruht auf der Mittheilbarkeit der Bewegung und auf der Feſtigkeit des Gefüges und des Zu⸗

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fammenhanges in den Maffen, zwiichen denen fte übertragen wer⸗ den fol. Welche von dieſen beiden Bedingungen verfteben wir nun? Wiffen wir anzugeben, was in der Mittheilung der Bewe- gung gefchieht, und wie der treibende Körper e8 anfängt, um durch Stoß oder Drud den anderen in Bewegung zu fegen und einen Theil feiner Gefchwindigfeit an ihn zu übertragen? Ober ift e8 uns vielleicht Flar, wie und wodurch die einzelnen Theile eines Trieb- rades jo aneinanderhaften, Daß der Stoß, der dem einen von ihnen gegeben wird, auch die andem nöthigt, mit ihm in Gemeinfchaft fih zu bemegen und die freisförmige Ummwälzung um eine Are hervorzubringen, die nun zu neuen nüßlichen Effecten verwendet wird? Vielleicht berufen wir ung auf die Wirkung anziehender Kräfte, welche alle Theilchen zu einem Ganzen verbinden. Aber diefe Wechſelwirkung der gegenfeitigen Anziehung, worin befteht fie felbft und wodurch wird fie hervorgebracht? Wie fangen jene Kräfte e8 an, liber die Grenzen des Körpers binauszugreifen, dem fie angehören, und über einen andern, deflen Eigenthum fie nicht find, dieſe Macht auszuüben, daß er ihrer Anziehung folgen muß? Wir befürchten nicht, daß man auch hier nod einmal von einem Bande fprechen werde, das Sonne und Planeten zufammenbalte: man wird der Trage, die fich fogleich erneuern würde, wie fie es nun machen, dies Band bald zu verkürzen, bald zu verlängern, durch das offene Zugeſtändniß ausweichen, daß hier eine der ein- fahen Wirkungen vorliege, durch deren Zufammenfeßung man wohl bie Geftalt verwidelter Erfolge erflären könne, während fie felbft durch Keinen neuen Zwiſchenmechanismus deutlicher werden als obne ihn. Sowie wir wohl willen, was mir meinen, wenn wir fügen, daß etwas fei, aber nie erfahren und ergründen werben, wie Sein gemacht wird, fo wiffen wir, was wir meinen, wenn wir vom Wirken fprechen, aber nie werden wir angeben können, wodurch das Wirken überhaupt zu Stande kommt. Nichts wird unfere Wifjenfchaft Leiften Birnen, als daß fie genau die Bedingm- gen auffucht, unter denen dieſes umbegriffene und unbegreifbare Wirken entfteht; und wie großartig und wichtig ihre Leiftungen

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in der Entwirrung und Berglieberung verwidelter Zufammen- hänge fein mögen: wenn fie die einfachen Wechfelwirfungen er- reicht bat, auf deren Zufammtenfegung fie jenes Mannigfaltige zurüdführt, wird fie überall befennen müſſen, daß der eigentliche Act des Wirkens in allen denkbaren Fällen feines Vorkommens ung glei unerflärbar bleibt.

Aber man wird dies nur zugeftehen, um es fogleich wieder zu vergeflen, fobald die beftunmte Frage nach der Wechſelwirkung zwifchen Körper und Seele aufgeworfen wird. Obgleich eine kurze Durchforſchung der Naturwiſſenſchaft uns lehren Tann, daß in der That in allen Formen der Gegenwirkung zwifchen Stoff und Stoff die gleiche Dunkelheit herricht, ift e8 doch eine kaum zu überwäl- tigende Gewohnheit geworden, den gegenfeitigen Einfluß zwilchen Leib und Seele als einen bejonderen unglüdlihen Ausnahmefall zu betrachten, in weldhem und wider Erwarten das nicht Far wer⸗ ben wolle, was in jebem Beifpiele blos phufiicher Wirkungen ung ganz deutlich fei. Wie wenig ed num dort deutlich ift, haben mir zwar gezeigt; aber dennoch wird dieſe Klage fich wiederholen, denn der Eindrud der Unflarheit wird bier geſchärft durch die Unver— gleichbarkeit der Glieder, die auf einander wirken jollen. Den materiellen Beftandtbeilen des Körpers fteht die überfinnliche Na- tur der Seele gegenüber; wie kann nun der Stoß und “Drud der Maſſen, oder ihre chemiſche Anziehung, die einzigen Mittel, mit denen fie wirken zu können fcheinen, Eindrud auf die Seele ma- chen, die ihnen wie ein nichtiger Schatten feinen Angriffspuntt ge- währt? Und wie möchte umgelehrt Das Gebot der Seele, ein Ge— bot, dem an fich feine ausübende Gewalt des Stoßes zur Seite fteht, Maſſen bewegen, die nur fo handgreifliden Antrieben ge= horchen würden? Nur von Gleichartigem zu Gleichartigem ſei ein Austaufh der Wirkungen denkbar. Aber bei näherer Ueber- legung zeigt fich Doch auch dieſes Verlangen nad) Gleichartigfeit aus dem Irrthume hervorgegangen, als feien Stoß Drud Anziehung und Abftoßung oder chemiſche Wahlverwanbtichaft erflärende Be- dingungen der Wechjelwirkung, da fie doch nur Formen find,

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in denen die Wirkung auf unbegreifliche Weife erfolgt. Die völlige Gleichheit zweier Kugeln macht an fi die Mittheilung ihrer Be- wegung im Stoße nicht begreiflicher; fie gewährt lediglich unferer Anſchauung den Vortheil, die beiden wechjelwirkenden Elemente gleich deutlich vorftellen zu können und die räumliche Bewegung zu ſehen, mit der fie fih nähern; d. h. fie macht ung ein Bild des Thatbeftandes möglich, wie er vor aller Wechfelwirkung iſt, aber fie erklärt das Zuftandelommen des Wirkens um nichts befjer. Jener Bortheil der Anfchaulichkeit nun entgeht uns zunächſt allerdings. Wir würden getröftet fein, wenn wir die Seele ſprung⸗ fertig der Materie gegenüber jehen Könnten, um auf fie einzu- dringen oder ſich ausbreitend, um den Stoß derjelben aufzufangen; wir würden dann das Bild erreicht haben, nad) dem wir ung fo ſehr fehnen, ohne für das Verſtändniß des Herganges das Ge- ringfte gewonnen zu haben. Vielleicht führt und nun eine fpätere Wendung unferer Unterfuhung zu einem Standpunkte, auf wel- chem dieſe Ungleichartigfeit der überſinnlichen Seele und bes finn- ih wahrnehmbaren Stoffes ohnehin verſchwindet; aber auch wenn fie nit verſchwände, wiirde fie nicht im Ernft eine Vergrößerung der Schwierigkeit für uns fein. Denn der Act des Wirkens, da ex felbft fein ſinnlich anſchaulicher Vorgang ift, kann auch feine andere Gleichartigkeit der wechſelwirkenden Glieder verlangen, als eine folche, die reichlich dadurd gewährt ift, daß die Seele als wirkliche, des Thuns und des Leidens fähige Subftanz den Ato⸗ men des Stoffes gegenüberfteht, die wir ihrerfeitö ebenfo als reale Mittelpunkte aus- und eingehender Wirkungen betrachten. Jede Forderung noch weiter gehender Aehnlichfeit wirrde nur auf dem Irrthum beruhen, welcher den Act des Wirkens als einen Lebergang fertiger Zuftände aus einem Element in das andere anfieht und deshalb freilich auf Aehnlichfeit oder Gleichheit beider dringen muß, um dem auswandernden Zuftande da, wo er einwandert, eine gleich große und gleich geftaltete Behaufung wieder anbieten zu Können.

Und endlih, müfjen wir hinzufügen, gibt es nicht Wechſel⸗ wirkungen überhaupt, fo wie e8 nicht eine Verknüpfung überhaupt

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gab. Jede Wirkung ift eine befondere, nad Form und Größe beſtimmte, und wir haben feinen Grund zu der Annahme, daß alle Verſchiedenheit der Erfolge in der Welt immer nur von ver⸗ fhiedenen Zufammenfegungs- und Benutungsweifen eines und befielben gleichartigen Wirkens herrühre. Iſt dies nun fo, was witrden wir für die Aufhellung der Erfcheinungen gewonnen haben, wenn wir die allgemeine Möglichkeit des Wechſelwirkens zwifchen Leib und Seele irgendwie erflärt hätten, wenn wir aber aus ihr nicht entwideln Könnten, warum unter verſchiedenen Umftän- den bald diefe, bald jene eigenthümliche Art der Wirkung zwiſchen beiden ſich entipinnen müßte? Im Interefje der Wiffenichaft kann e8 deshalb nur wenig liegen, dieſe allgemeinfte Frage weiter zu verfolgen. Sie wird zugeftehn und vorausfegen, daß die Art, wie Wirkungen überhaupt in der Welt möglich feien, in allen Fällen und auf jedem Gebiete der Ereigniffe gleich undurchdenkbar bleibe; das wahre und ergiebige Feld der Unterfuchung liege in der Nach⸗ forſchung darnach, unter welchen beftimmten und angebbaren Be- dingungen ebenſo beftimmte und angebbare Wirkungen allgemein und gefeglich eintreten. Während fie e8 aufgibt, zu erfahren, wo⸗ burch und wie überhaupt Wirkungen von ihren Urſachen hervor: gebracht werben, richtet fie ihre Aufmerkſamkeit auf Die andere nüßlichere Frage, welche Wirkungen von welchen Urfachen ausgehen. Indem fie Die Sorge für da8 Zuftandelommen der Ereigniffe einer allgemeinen und gefeglichen Naturnothwendigkeit überläßt, deren Gebote feinen Widerftand finden, welchen hinwegzuräumen be- fondere Mittel nöthig wären, hat fie an diefem Gedanken einen ebenjo reichen und ergiebigen Gegenftand der Unterfuchung, wie die Aftronomie einen ſolchen in der Borftellung der allgemeinen Anziehung befigt, von deren Zuſtandekommen fie nichts weiß, aber aus welcher fie unter Berüdfihtigung der mannigfachen Umftände, unter denen ihre unbegreifliche Wirkung auftreten Tann, eine Fülle der verwideltiten Erſcheinungen zu erklären vermag.

Man wird dieſe Anficht richtig bezeichnen, wenn man fie mit dem Namen des Occafionalismus belegt, aber man wird Unrecht

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haben, e8 im Sinne eined Tadels zu thun. Wir nennen eine Lehre fo, die Alles, was unjerem unbefangenen Blicke als die hervorbringende Urſache eines Erfolges eriheint, nur als Die Ge- legenheit auffaßt, bei welcher auf unbegriffene Weiſe dieſer Erfolg berportritt. Dies Bewußtfein num möchten wir eben ermeden, daß alle unfere befte Kenntniß der Natur überall nur ein genaues Studium der Gelegenheiten ift, bei denen dur einen Zufammen- hang des Wirkens, deſſen innere bewegende Nerven wir nicht verftehen, die Ereignifje berbortreten, jedes nach allgemeinen Ge- fegen an eine ihm allein zugehörige VBeranlafjung gefnüpft, und jedes nach ebenfo beftändiger Regel ſich mit der Veränderung diefer Beranlafjung verändernd. Wir ftehen nicht außerhalb des Kreifes naturwiſſenſchaftlicher Auffaffungen, wenn wir den Wechjelwirkun- gen zwiſchen Leib und Seele diefe Betrachtung unterlegen, ſondern wir dehnen nur die Gewohnheiten der Naturerkenntniß folgerecht auf dies neue Verhältniß aus. Ja die Klare Einficht, daß auch unfer Wiſſen um die phyſiſchen Ereigniffe fein wejentlich tieferes ift, wird ung nun jelbft erlauben, jene Anſchauungen der täglichen Beobachtung, deren Wegfall in diefer Frage wir oben bebauerten, . ohne Befürchtung eines Irrthums wieder anzumenden.

In der That warum follten wir uns verjagen, von dem Drud und von dem Stoß der Maſſen auf die Seele, von der An- ziehung und Abſtoßung beider durch einander zu ſprechen, ſobald diefe Ausdrücke, obwohl fie feine Aufflärung enthalten, Doch dazu dienen, unfere Vorftellungen des Sachverhaltes bequem und an= ſchaulich abzukürzen ? Was wir unter jenen Worten im gewöhnlichen Leben zunächſt verftehen, das find die äußerlichen Formen, welche die Wechſelwirkung größerer und zufammengefegter Maſſen gegen- einander annimmt. Hier ſcheint es uns, al8 wirkten die Maſſen Durch den Stoß, durd den Drud. Aber gehen wir auf die einfachen Atome zurüd, die das Gefüge diefer Körper bilden, fo treffen wir innerhalb der phyſikaliſchen Anfchauungen auf die Bor- ftellung von großen Zwifchenräumen, die auch in ber Dichteften Maffe die Heinften Theile trennen, und deren Größe zwar durch

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mannigfaltige Kräfte verfleinert, aber nie bis zu völliger. Berüh- rung der Atome vernichtet werben inne. Dann wiirde der Stoß zweier Atome anderd zu faflen fein. Noch ehe eine Berührung erfolgt, würde die Annäherung des einen in dem andern eine zurüdftoßende Kraft erweden oder fteigern, und die nun erfolgende Wirkung, die und früher durch den bandgreifliden Anprall des Stoßes wie dur ein Mittel ihrer Verwirklihung zu entftehen ſchien, würde in der That von einem wechfeljeitigen Einfluß der Elemente aufeinander abhängen, für deffen Zuftandelommen wir gar Teine weitere Mafchinerie mehr aufzuzeigen wiffen. Die Er- ſcheinung des Stoßes würde nur noch die Folge eines inneren unvermittelten Verſtändniſſes der Dinge untereinander fein, kraft deffen fie ihre Zuftände nach allgemeinen Gefegen auf einander wirten laflen. Warum alfo follte nicht ein Atom des Nerven- ſyſtems ebenfo auf Die Seele oder fie auf jenes ftoßen und brüden können, da doch jeder gemeine Stoß und Drud ſich für Die nähere Betrachtung nicht als ein Mittel zur Wirkung, fondern nur als die anſchauliche Form eines viel zarteren Creigniffed zwiſchen den Elementen ausweilt?

Doch ohne allzuviel Werth auf den Wiedergewinn dieſer Ausdrücke zu legen, wollen wir vielmehr die nächte allgemeine Folge hervorheben, die aus unferer Anficht fich für die Behand- Yung ber einzelnen Fragen ergeben wird. Wir haben eben des feltfamen Vorurtheils Erwähnung gethan, welches den Borgang des Wirkens als die Uebertragung eines fertigen Zuftandes von einem Element zum anderen betrachtet. Wie wenig aus einer folden Vorausſetzung fih die Mannigfaltigleit der Ergebniffe würde erflären laſſen, welche ber Eindrud eined Reizes in ver- ſchiedenen Gegenftänden wedt, auf bie er trifft, bedarf feiner weiteren Erörterung; beftände fein Wirken nur in der Aus: ftrahlung eines fertigen Zuſtandes, der von jenen als folder

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aufgenommen würde, jo könnte ihm auch nichts antworten, als ein ganz gleichlautendes Echo, ebenfo vielftimmig, als Gegen- ftände vorhanden waren, die dieſem gleichen Eindruck ſich öffneten. Mag es fein), daR von dem wirkenden Punkte immer nur eine, ibm und feinem Zuſtande entiprechende Bewegung fi) ausbreitet, fo muß doch offenbar der Erfolg, den fie haben wird, verſchieden fein nad der Verſchiedenheit der Weſen, auf welche fie trifft. Die Anſicht, die wir feftzubalten befchloffen haben, legt uns jenen Irrthum nicht nahe; fie führt uns vielmehr ohne Umfchweif dazu, jeden äußeren Einfluß, der von irgend einem Element auf ein anderes überwirkt, immer nur als einen veranlaffenden Reiz zu betrachten, welcher in dieſes zweite nicht einen fertigen und ihm fremden Zuftand bineinträgt, jondern in ihm nur wedt, was in feiner eignen Natur ſchon begründet war. Die hölzernen Taften des muſikaliſchen Imftrumentes enthalten. nicht felber die Töne, bie fie Durch ihren Anfchlag aus den Saiten bervorloden lediglich die Spannung der legteren ift e8, Die durch jenen Stoß in ton- erzeugende Schwingungen übergeben Tann. Ebenfo find alle Ein- brüde des Körpers nur Anftöße für die Seele, auß ihrer eignen Natur die inneren Phänomene der Empfindung zu erzeugen, bie ihr von außen nie mitgetbeilt werben innen. Denn aud wenn e8 nicht die Bewegung einer Tafte, fondern felbft ſchon eine Schallſchwingung wäre, was Die Saite zum Mittönen brächte, immer wiirde Doch dieſe den Ton nur durch ihre eigne Spannung wieder zu erzeugen fähig fein, gleichviel ob das, was fie in Erzitte- rung verjegte, ein diefer Schwingung ähnlicher oder unähnlicher Borgang war. Nicht anders würde es ſich verhalten, wenn wir auf irgend eine Weiſe die Empfindung als einen ſchon in den Nerven vorhandenen Zuſtand faſſen wollten; er würde in ber Seele doch von Neuem entftehen müfjen dur irgend eine An- regung, die der empfindende Nerv ihr zufommen ließe, und er würde nie durch Äußere Eindrüde in ihr entftehen können, wenn nicht ihre eigne Natur zur Entfaltung diejer eigenthinnlichen Form des inneren Geſchehens an fich ſelbſt befähigt wäre. Jede

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Borausfegung mithin, die das, was in der Seele entftehen foll, auf irgend eine Art ſchon außer ihr als vorhanden vorausfekt, ift doch genöthigt anf dieſen Gedanken zurückzukommen und das Aeußere nur als eine Beranlaffung, das innere Ereigniß dagegen al8 ein aus der Natur defien, in welchem es geichieht, hervor: gehende zu betrachten. Die Nothwendigkeit dieſer neuen Ent- ftehung beffelben Tann durch jene Annahme eben fo wenig ver- mieden werben, al8 etwa die Erfenntniß einer Wahrheit oder bie Degeifterung eines Gefühle fi von einem Geifte an den andern ohne eine wiedererzeugende Selbitthätigleit des letztern mittheilen läßt. In wie vielgeftaltiger Weife daher die Einwirkungen bes leiblichen Lebens die Entwidlung des geiftigen bedingen, jo führen fie Doch weder das Bewußtfein überhaupt, noch irgend eine ein- zelne Empfindung oder Borftellung der Seele fertig, al8 das ſchon gewonnene Reſultat Körperlicder Vorgänge zu; alle jene Einwir⸗ fungen find nur Signale, auf deren Eintreten die Seele nad un⸗ veränberlichen Geſetzen nur aus der Natur ihres eignen Weſens beftinumte innere Zuftände erzeugt; aber die feine Organifation des Körpers, die ed ihm möglich macht, jene Signale in eimer beftimmten, den wirklichen Berhältnifien der Dinge entſprechenden Sruppirung und Reihenfolge zu überliefern, leitet auch die Seele zu .einer Abwechſelung und Berfnüpfung ihrer Empfindungen an, in welcher fie alle Wahrheit erreicht, die überhaupt durch Die bloße Auffafjung des Gegebenen noch ohne denkende Bearbeitung feines inneren Zuſammenhanges möglich ift.

So wie nun das Ganze der Empfindungswelt eine innere Entwidlung ift, nicht von Außen bereingefommen, fondern in der Einheit des vorftellenben Weſens durch die Vielheit fremder An- ftöße nur angeregt, fo ift auch die Mannigfaltigfeit der körperlichen Bewegungen, die auf den Anlaß der Seele entſtehen, eine Entfal- tung wirkungsfähiger, in der leiblichen Organifation begründeter Berhältnifie, angeregt wohl durch die inneren Zuftände der Seele, aber nicht von ihr als fertige auf die Werkzeuge des Körpers übergetragen. Bon jenen äußeren Reizen, welde eine Empfin-

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dung hervorrufen, kennt unfer unmittelbares Bewußtfein weder ihre Natur noch die Mittel, durch welche fie einen Eindrud auf und erzeugen; erft die Wiſſenſchaft Hat nad Langer fruchtlofer Bemübung die Eigenthümlichkeiten der Licht- und Schallwellen aufgeflärt, denen wir Ton und Barbe verbanfen. Aber felbft von jenen Vorgängen, die durch Diefe Reize in unſerem Nerven⸗ iuftem hervorgebracht, die nächte Beranlaffung unferer Empfin- dungen find, wiffen wir nicht, und auch Die phyſiologiſche Unter: fuhung bat fie bisher nicht kennen gelehrt; nichts tritt in unferem Bewußtſein hervor, als das Ende aller diefer Vermittlungen, die bewußte Empfindung des Tones oder der Farbe ſelbſt. So wenig verfteht die Seele die Entwidlungsgeihichte ihrer Vor⸗ ftellungen; fie erzeugt fie nicht als freie, wählende und ihres Thuns fih bewußte Thätigfeit, fondern durch ein allgemeines und bindendes Naturgeſetz ift fie als ein fo geartetes Weſen ge- nöthigt, diefem Emdrud mit diefer, einem beftimmten andern ftet8 mit einer beftimmten andern Empfindung zu antworten. Ganz ebenfo wenig weiß und verfteht die Seele von dem Bor- handenfein, der Lage, der Verknüpfung und der Wirkſamkeit der Werkzeuge, durch welde fie ihre Bewegungen ausführt; fie lernt wohl bald die äußere Geftalt der beweglichen Gliedmaßen Tennen, aber nicht unmittelbar, fondern nur durch die Hilfe der Wiſſen⸗ haft erfährt fie, und immer unvolllommen, die innere Einrich- tung ber Muskeln und der Nerven, Die zu ihrer Bewegung dienen. Nicht durch dieſe mangelhafte Kenntnig wird fie zu ihren Handlungen befähigt; nicht fie ift e8, welche die vorhan- denen Mittel überblidend, wählen und im Einzelnen Alles leitend, fih zur Ausführung einer Bewegung die nöthigen Muskeln aus- ſucht. Hätte fie felbft diefe gefunden, fie wiirde doch rathlos ftehen, wie fie dieſen Werkzeugen die hinlängliche Größe eines Anſtoßes zukommen laſſen follte; weiß doch jelbft die Wiffentchaft noch nicht zweifellos, durch welche Form des Vorganges der be- wegende Nerv feine Erregung den Muskeln mittheilt. Auch bier muß die Seele jenem Zufammenbange vertrauen, der in allem

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Naturlauf nah unveränderlichen Gefegen Zuſtand mit Zuftand verbunden hat und der auch die inneren Regungen, zu denen ihre Natur fähig ift, ohme ihr mithelfendes Zuthun mit Verän- Derungen ihres Körpers verknüpft. Sobald das Bild einer be- ftimmten Bewegung in unferem Bewußtfein verbunden mit dem Wunſche ihres Geſchehens auftaucht, fo ift dies der innere Zu— ftand, an den diefe durchdringende Gefeglichfeit der Natur als notbwendige Folge die Entftehung diefer beftinnnten Bewegung gefettet hat und fie gefhieht nun, nachdem dieſe Anfangsbebin- gung ihres Eintretens gegeben ift, ohne unfer Mitwirken, ohne unſer Zuthun, jelbft ohne alle Einfiht unferfeit8 in den Gang des Mechanismus, den und der Zufammenhang der Natur zu Gebot geftellt hat.

Und nit immer gehen Bewegungen aus unferem Willen hervor; fie erfolgen als Ausdrud leidenſchaftlicher Erregungen in unfern Gefihtszügen und in allen Theilen unſeres Körpers häufig ohne, felbft gegen unferen Willen; fie erfolgen in Formen, deren Bedeutung oder deren Nuten zum Ausdrud oder zur Linderung Diefer inneren Erregung wir nicht verſtehen; wir weinen und laden, ohne zu wiſſen, warum das eine der Freude, Das andere der Trauer ein nothiwendiger Ausdrud fein müßte; das Schwanken unferer Gemüthsbewegungen verräth fi in taufend Abwechſe— Lungen unſeres Athmens, und wir Binnen nicht nachweifen, weder auf welchem Wege, noch zu welchem Zwecke fich dieſe Fürperlichen Erſchütterungen an die umferes Inneren Inüpfen. So find offen= bar viele geiftige Zuftände, nicht allein Entjchlüffe des Willens, fondern auch willenlofe Gefühle und Borftellungen, von dem allesumfaflenden Naturlauf zu bebingenden Anfangspunften ge- macht worden, die allerding8 unjere Seele zum Theil wenigfteng felbftthätig aus ihrem eignen Innern erzeugt; nachdem fie aber erzeugt find, bringen fie die ihnen entſprechende Bewegung mit der blinden Sicherheit eined Mechanismus, ohne unfer einrich⸗ tendes und leitendes Mitwirken, felbft ohne unfere Kenntniß von der Möglichfeit dieſes Wirken hervor

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Man täufcht fi daher, wenn man mit einem beliebten Gleichniſſe den Leib als das bewegliche Schiff, die Seele als feinen Führer bezeichnet. Denn der Iegtere keunt, oder Tamm wenigftend den Bau Tennen, deſſen Bewegung er leitet; er ſieht vor fih den Weg, den er ihn führen fol, und indem er in jedem Augenblid die Richtung, in der er fi bewegt, mit der Bahn vergleicht, die er durchlaufen fol, kann er nicht nur die Größe der nöthigen Ablenkung berechnen, jondern flieht vor ſich bie mechaniſchen Handhaben des Steuer, durch weldye fie zu be- wirken ift, und feine eignen Arme, welde jene Handhaben drehen fönnen. Weit entfernt von diefer verhältnigmäßig volllonnmenen Einfiht in den Gang der Maſchine, gleicht die Seele vielmehr einem untergeordneten Arbeiter, der wohl an dem einen Ende eine Kurbel zu drehen oder Kohlen aufzufchlitten verfteht, aber gar nichts bon der inmenbigen Webertragung der Bewegungen weiß, durch welche das andere Ende des Getriebes ein fertiges Product Liefert. Oder wollen wir bei jenem Gleichniß bleiben: das Verhaͤltniß zwifchen Seele und Leib gleicht nicht dem zwiſchen dem Führer und der Maſchine, fondern natürlich dem zwiſchen der Seele biejes Führers und feinem Leibe; der Führer erfüllt feine Auf- gabe nur, weil ihm zu den verftändlichen Bewegungen, die er feinem Werkzeug mittheilen fol, die unverftandene Beweglichkeit feiner eignen Arme als Mittel zu Gebot fteht. So täufcht jenes Gleichniß oberflächlich, weil e8 das unbegriffene Berglichene ftill- ſchweigend einſchließt.

Man wird wenig geneigt fein, dieſer Anficht rückhaltlos zuzuſtimmen. Zu ſehr hat man ſich gewöhnt, die Seele als die freiherrſchende und ſchaltende Gebieterin anzuſehen, deren Gebot den Körper zwinge. In dem Schwunge, den wir dem Arme mittheilen, glauben wir unmittelbar das Ueberſtrömen unſeres Willens in die Organe zu fühlen, wie er fie werkthätig in Be- wegung jeßt; und diefer Anftoß follte nicht genligen? Eine all- gemeine Naturnothwendigfeit follte dem Willen die Folgfamfeit der Glieder erft zum Geſchenk maden müſſen? Und doc ift es

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fo; in jenem Schwunge des Armes fühlen wir nichts fo wenig, als das Webergehen der Kraft; was wir empfinden, iſt nichts, als Die Veränderung, welche durch die ſchon gefchehene Anregung die Muskeln während ihrer Zufammenziehung erfahren, und von welcher eine Wahrnehmung, der Müdigkeit ähnlich und in fie übergehend, zu unferem Bewußtfein zurückkehrt. Nicht die Reben- digfeit des Willend und auch nicht Die Thatfache feiner Macht über die Glieder wird durch unfere Auffaffung bedroht; aber feft- geftellt wird, daß die Natur des Willens nur im Tebenbigen Wollen, nit an fi zugleih im Vollbringen beſteht; fo wenig unfer Wille unmittelbar über die Grenzen unferes Körpers hin- ausreicht und als thätige Gewalt die entfernte Außenwelt ver- ändert, jo wenig reicht er in unferer Perfönlichleit an fich über unfere Seele hinaus; wenn er dennoch eine Macht ausiibt über den Körper, den ihm bie Natur als Werkzeug zugefellt bat, fo ift e8, weil diefelbe Naturnothwendigkeit es feftgefett hat, daß an feine Gebote, die an ſich machtlojen, eine gefeglich geordnete Yolg- ſamkeit ver Maſſen fich knüpfe.

So iſt alſo, um zu unſerem Anfange zurückzukehren, die Mannigfaltigkeit unſerer Bewegungen eine Entwicklung der zweck⸗ mäßigen Berbältnifje unſerer körperlichen Organiſation, nicht aus⸗ gedacht, nicht im Einzelnen überwacht und ins Werk geſetzt durch die Seele, ſondern von ihr einſichtslos angeregt. Wohl kann die Seele, indem ſie eine Reihenfolge ſolcher inneren Zuſtände in ſich erzeugt, die der allgemeine Naturlauf zu Anfangspunkten von Bewegungen gemacht hat, auch eine Reihenfolge der letzteren in einer Ordnung und zweckmäßigen Gruppirung hervorrufen, für welche an fi die Einrichtung des Organismus keinen hinläng-— lichen Grund enthält; aber alle ihre Herrſchaft über den Körper kommt in dieſer Beziehung doch nicht über eine unendlich man- nigfach variirte Benutzung und Zuſammenſetzung elementarer Be- wegungen hinaus, von denen ſie keine einzelne zu erſinnen oder zu begreifen weiß. Sie verknüpft zweckmäßige Elemente zu einem zweckmäßigen Gebrauch, wie die Sprache ihre und Conſo⸗

Lotze 1. 4. Aufl.

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nanten zu einem unendliden Reichthum der Worte und bes Wohlklanges; aber wie die Sprache ihre Laute vorfand, fo findet die Seele die einfachen zweckmäßigen Bewegungen vor, leicht er⸗ regbar durch einen inneren Zuftand, den fie herbeizuführen weiß, aber in der fibrigen Weife ihrer Entftehung und Durchführung ihr völlig dunkel und von ihr unabhängig.

ALS wir die Vorftellungen prüften, welche über den Grund ber zweckmäßigen Bildung des lebendigen Körpers nach und nad berborgetreten find, haben wir bereits jener Anficht gedacht, welche feine Harmonie nur aus der thätigen Mitwirkung eines geiftigen Weſens ableitbar glaubte Wir haben Damals gejehen, daß diefe Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch die Hilfe der Seele die Entwidlung bes Körperd dem Gebiete des mechaniſchen Ge- ſchehens zu entziehen fuchte. Denn das, wodurch allein die Seele mehr ift, als der blinde Mechanismus, die verfländige Meber- legung und die willfürlihe Wahl der Zwecke und Mittel, Tonnte nad Allenı, was die Erfahrung uns lehrte, nicht als mitwirkend bei dem allmählihen Aufbau der körperlichen Geftalt betrachtet werden. Die Formen des Leibes werden in einem Zeitraum endgiltig feftgeftellt oder vorbereitet, in welchem alle dieſe Thätig- teiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgegenfehen; Alles, was fie felbft daher zur Begründung des Eörperlichen Vebens beitragen konnte, vermochte fie nur, fofern fie als ein Element neben an- dern in den Zuſammenhang der mechanischen Wechſelwirkungen mit verflochten war, aus deren zufammenftimmender Thätigfeit mit blinder Nothwendigkeit die worherbeftimmte Form des Orga- nismus hervorging.

Diefe nöthige Zurüdweifung einer falihen Borftellung über bie Form, in welder die Seele an dem Ausbau bes Körpers theilnimmt, würde an ſich nicht hindern, diefen Antheil groß und

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wichtig zu denken. Immer wiirde die Seele durch Die bedeutungs⸗ vollere Natur ihres Weſens ein bevorzugtes Element in der Mitte aller übrigen fein, und. obgleih aud ihre Mitwirkung nur in nothwendigen Rückwirkungen beftände, zu denen fie in jebem Augenblide dur die Summe ihrer Beziehungen zu jenen ge- zwungen wird, fo Tönnte Doch eben die Tiefe ihrer eignen Natur fie befähigen, aud auf diefe Weile Einflüffe von fih ausgehen zu laffen, deren Nuten für den Fortſchritt der Organifirung die Berdienfte aller übrigen Beftandtheile überböte. Sehen wir nun, wie noch innerhalb der Grenzen unferer Beobachtung die An- vegung des Willens die Musfelfafern zur Verkürzung bringt, wie alfo offenbar einem Wechſel in den Zuftänden der Seele auch eine Beränderung in den Lagenverhältnifien kleinſter Maffentheil- hen des Körpers nadfolgt, To Können wir im Allgemeinen die Möglichfeit durchaus nicht bezweifeln, daß in einer früheren Bil- dungszeit, in welcher Die Elemente des Körpers noch nicht die feſte Structur und Lage angenommen baben, welche fie im Erwachſenen befigen, die inneren Regungen der Seele auch auf die erſt noch zu gewinnende Lagerungsform der Theilchen, mithin auf die Aus- bildung der Geftalt, einen beträchtlichen Einfluß ausüben könnten. Allerdings wird der Anfangspunft diefes Einfluffes nicht die be- wußte Vorftellung der Bewegung von Gliedmaßen fein können, von deren Dafein und Verwendbarkeit die Seele in diefem Zeit- raume noch feine Erfahrung haben könnte; aber wie wir aud noch in ber fertigen Geftalt Gemüthsbewegungen unwillkürlich fi mit der Gewalt ihres Eindrudes auf einzelne Theile werfen und die Lagenverhältnifje dieſer ſchon verfeftigten Elemente durch mimifche Bewegungen verändern fehen, jo könnten ohne Zweifel auch die formlofen, noch auf Feine beftimmten Handlungen be- ziehbaren Erregungen, weldje die unentwidelte Seele des werben- den Organismus erihüttern, nad) ihrer qualitativen Natur einen ähnlichen Einfluß auf die erſte Feftftellung einzelner Formverhält- nifje äußern.

Aber im Ganzen müfjen wir und body zugeftehen, daß Dies

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nanten zu eimem umendlichen Reichthum ber

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aber im ver übrigen Weiſe ihrer Entflehung u:

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Als wir die Scorfiellungen prüften, welche der zweilmäßigen Bildung bes lebendigen Körpe bervergetreten find, haben wir bereits jener Anſi feine Harmonie nur auß der thätigen Mitwirku Weſens ableitbar glaubte. Wir haben damals Meinung ihr Ziel verfehlte, wenn fie durch tv. die Entwidlung bes Körpers dem Gebiete des ſchehens zu entziehen fuchte. Denn das, wodu mehr ift, als der blinde Mechanismus, vie legung und die willtürlihe Wahl der Ymede ı nah Allem, was die Erfahrumg uns lehrte, m dei dem allmählichen Aufbau ber körperlichen werden. Die Formen des Leibes werben enbgiltig feftgeftellt oder vorbereitet, in melden feiten der Seele ihrer Ausbildung noch entgege: fie felbft aber zur Begründungshbesilörperlidh. fonnte, vermochte jie nur, joh@g v.als bern in ben —* aniſchen mit berflochten nu ' tn mit blinder No eit | kl nısmud bevborg

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Kapitel.

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e ift einfach; laſſen wir dahin geftellt, seilbaren Weſen eines wahrhaft Seien- ısdehnung in dem Sinne zuzufchreiben, ‚nateriellen Stoffen beilegen zu können alle Meinungen darin ſich vereinigen ausgedehnten Wefen ein Ort im Raume vd e8 vorhanden fein, bis wohin alle n ſich fortpflanzen müffen, um e8 mit hen, und bon wo aus rüdwärt®

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Alles nur Möglichkeiten find, oder vielmehr, wenn allerdings aud) nach unferer Anfiht ein Mangel aller Theilnahme der Seele an den Wechfelwirkungen, durch melde ihr Körper entfteht, unmög- lich ift, fo find wir doch durch die Analogien der Erfahrung nicht befähigt, den Umfang zu fehägen, in welchem jene Theilnahme wirklich ftattfindet. In dem ausgebildeten Körper ift die Macht der Seele über die Geftaltbildung eine jehr geringe, und felbft fo weit fie ftattfindet, ſcheint fie nur mittelbar fih durch eine Abänderung der Berrihtungen zu äußern, auf weldhe, wie auf Herzihlag Athmung und Verdauung oder auf einzelne Mustel- gruppen, der Wechſel der Gemüthszuftände oder die Uebung ge= wiffer Bewegungen näher oder entfernter Einfluß hat. Die Wirkungen der Seele find deshalb meift über den ganzen Körper verbreitet und ändern mehr feine Haltung, als feine Geftalt. Geben wir gern zu, daß die Veredlung bes geiftigen Lebens zu⸗ legt auch die körperlichen Formen veredelt, feine Berwilderung fie verwilbern läßt, jo möchten wir hierauf aud den Einfluß ber Seele beſchränken. Er entwidelt bis zu gewiſſem Maße Schön- heit und Häßlichkeit Der Geftalt durch leiſe Veränderungen, welche er den an ſich fchon feſtſtehenden Proportionen einprägt; daß aber die erfte Bildung der organifchen Form in überwiegendem Maße aus ber geftaltenden Kraft der Seele hervorgegangen fei, ift eine poetifche Lieblingsmeinung Vieler, für welde die zahlreichen BVei- fpiele der Nichtübereinftimmung zwiſchen den geiftigen Anlagen und dem körperlichen Baue nicht vorhanden find.

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Zweites Kapitel. Bon dem Site ber Seele.

Bedeutung der Trage. Beſchränkter Wirkungskreis ber Seel. Gebirnbau Art der Entftehung von Bewegungen. Bebingungen ber räumlichen Anfchauung. Bedeutung der unverzweigten NRervenfafern. Allgegenwart der Seele im Körper.

In dem Begriffe der Seele, welchen wir bisher benußt ha= ben, dem eines untheilbaren Wejens, defjen Natur zur Entwid- lung von Borftellungen Gefühlen und Strebungen fähig tft, Tiegt nichts, was auf Raum und räumliche Beziehungen hindeutete, Aber die Gegenwirtungen, in welde die Seele zu den Maſſen des Körpers tritt, erregen das natürliche Verlangen, nicht nur die Möglichkeit und Art dieſes Wechfeleinfluffes im Allgemeinen, fondern auch die gegenfeitige Stellung beider wirkſamen Glieder dieſes Verhältniffes mit jener räumlichen Anſchaulichkeit vorftellen zu Können, welche unfere Beobachtung der Natur zwar nicht bie Sache eigentlich erflärend, aber wohl unfere Borftellungen über fie aufflärend, überall begleitet. Man wird nad) dem Site der Seele fragen.

Der Sinn diefer Frage ift einfach; laſſen wir dahin geftellt, ob es möglich fei, dem untheilbaren Wefen eines wahrhaft Seien- den irgendwie räumliche Ausdehnung in dem Sinne zuzufchreiben, in welchem wir fie den materiellen Stoffen beilegen zu können glauben, jo werden doch alle Meinungen darin ſich vereinigen dürfen, daß auch dem unausgevehnten Wejen ein Ort im Raume zulommen fünne. Da wird e8 vorhanden fein, bi8 wohin alle Eindrüde des ihm Fremden fi fortpflanzen müfjen, um es mit ihrer Wirkſamkeit zu erreichen, und von wo aus rüdwärts alle

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die Anregungen kommen, durch welche e8 unmittelbar feine Um— gebung, mittelbar durch diefe Die weitere Welt in Bewegung fett. Diefer Punkt des Raumes ift der Ort, an weldem wir un Die unräumliche Welt des wahrhaften Seins hinabfteigen müfjen, um das wirkende und leidende Weſen zu finden; und in diefem Sinne wird jede Anficht einen Si der Seele fuchen dürfen, auch wenn fie ihr außer dem Orte nicht zugleich Die Ausdehnung einer räum- lihen Geftalt zugeftehen zu dürfen glaubt.

Aber unfere Begriffe über die Wechſelwirkung der Dinge unter einander laffen in Bezug auf die räumliche Erſcheinung mehrere Möglichkeiten zu. Wir fönnen ung denfen, daß ein Weſen mit der Gefammtheit der übrigen Welt nicht nur überhaupt in Beziehung ftehe, jondern mit jedem Theile derſelben in gleich inniger unabgeftufter Beziehung. Nicht nur mit wenigen wird ed dann unmittelbare Wechfelwirkungen austaufchen, um durch beren Vermittlung hindurch erft die übrigen zu beherrichen, fon- dern mit allen zugleich ſteht e8 in jener lebendigen Verbindung, welche die Zuftände des einen unmittelbar auf die des andern wirten läßt. Drüden räumliche Lagen und Orte die Enge oder Lockerheit diefer inneren Verbindungen aus, fo wird dieſes Weſen nicht einen begrenzten Sig im Raume haben, fondern allen Theilen der Welt innerlich gleich nahe, wird e8 äußerlich in ihr allgegenwärtig zu fein fcheinen. So ftellen wir uns das Dafein Gottes vor. Er, der Schöpfer des Ganzen, ift jedem fcheinbar verlorenen Punkte des Gefchaffenen gleich nahe; feine Kraft bat nicht einen Weg zurüdzulegen, um zu erreichen, worauf fie wir: fen will, und die Zuftände der Dinge brauchen ihn nicht aufzu- fuchen, um feiner Borfehung ſich anzuvertrauen, von der fie über- all gleih innig umſchloſſen find. Aber wir faſſen doch Diefe Allgegenwart nicht fo, daß wir dem Weſen Gottes die unermeß⸗ liche Ausdehnung felbft zuſchrieben, die feine Macht beberricht; mit richtiger Enthaltſamkeit von diefer finnlichen Anjchaulichfeit denken wir ihn als das überfinnlich geftaltlofe Wirken, für welches dieſe Unermeßlichleit eben nicht8 ift, weder eine Schranke feiner

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unmittelbaren Gegenwart, noch eine Eigenfhaft, die der Fülle feines Weſens etwas hinzufegte.

Die Naturwifjenihaft bat und am einen zweiten denfbaren Tall gemöhnt, den von Wefen, welche zwar mit der Gejammtheit aller ihres Gleichen ummittelbar, aber mit den verichiedenen Doc in abgeftufter Innigfeit der Beziehungen in Wechſelwirkung ftehen. So erſtreckt fi Die anziehende Kraft jedes gravitirenden Theil- chens auf alle andern und bis in jede unendliche Entfernung hin- aus unmittelbar; aber Die Größe der Kraft nimmt mit der wach⸗ fenden Entfernung ab. Und auch jene molecularen Wirffamteiten, beren Erfolg ſchon bei den geringften merflihen Abftänden der wechſelwirkenden Elemente für unfere Wahrnehmung verſchwindet, laſſen wir doch ins Unendliche hinaus mit raſch beichleunigter Abnahme reihen; ſchon in geringften Entfernungen mag ihre Stärke ſich dem Verſchwinden nähern, aber e8 kann feinen abſo— Iuten Werth der Entfernung geben, welcher fie völlig vernichtete. Ueber die Räumlichkeit fo wirkender Wefen find verichiedene Vor- ftellungen gleich zuläſſig. Man kann ſie allgegenwärtig im Raume nennen, denn in der That bedarf ihre Wirkſamkeit feiner fort- leitenden Vermittlung, um jeden Punkt des Raumes zu erreichen. Man Tann ihnen ebenfo wohl einen beichränkten Ort von punkt⸗ förmiger Kleinheit zuichreiben, wenn man die Abftufung ihrer Wirkſamkeit beventt. Dann werben fie an der Stelle des Rau⸗ mes fih zu befinden feinen, auf deffen berührende Umgebung fie das Marimum ihrer Kraft äußern; fie werden Dagegen ben übrigen unendlichen Raum nur mit abnehmender Macht zu be- herrſchen ſcheinen, ohne in ihm vorhanden zu fein. Dieſe dop⸗ pelte Möglichleit zeigt, daß die Frage nur ein irriges Intereſſe hat, ob in dem Falle ſolches Wirkens dem Wefen eine endliche oder unendliche Ausdehnung zukomme; ihm felbit wird gar fein Prädicat räumlicher Größe beigelegt. Wir dachten Gott nicht ebenjo groß als die Welt, die er beherrſcht; wir denken auch dieſe wirkenden Subftanzen weder unendlich klein, wie Die geometrischen Bunkte, von denen ihre Wirkung ausgeht, noch unendlich groß wie

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die Weite, iiber die fie ſich erftredt. Sie felbit find, mas fie find, überfinnliche Weſen; nichts ift weiter über fie geſagt, als daß nah dem Sinne, der ihnen im Ganzen der Welt zufommt, in- nerhalb der väumlichen Ericheinung der Dinge ihre Kraft von einer beftimmten Stelle auszugehen und abnehmen die entfernten zu erreichen fcheinen muß.

Man fann eine dritte Annahme verfuchen, nach welcher ein Weſen feine unmittelbare und unabgeftufte Wirkſamkeit auf ein beftimmte8 ausgebehntes Raumgebiet erftredte, mit allen aber, was jenfeit der Grenzen dieſes Gebietes läge, nur in mittelbarer Wechſelwirkung ftände. Aber diefe Annahme wirde eine falfche Borausfegung zu vermeiden haben. In dem leeren Raume Tiegt fein denfbarer Grund dafür, daß die Kraft eines Weſens fih nur bis zu einer Kugeloberflähe von beftimmten Halbmeffer verbreiten, über diefe Grenze hinaus aber erlöſchen jollte. Wenn irgend eine Entfernung vor irgend einer andern den Vorzug vor: aus haben fol, diefe einihränfende Macht zu üben, jo kann fie ihn nur dem Realen verdanken, mit welchem bis zu ihr hin der Raum angefüllt ift, über fie hinaus nicht mehr. Ohnehin darf jo eine Kraft nicht wie ein Etwas vorgeftellt werden, das von dem wirkenden Element immer ausginge, auch dann, wenn ein zweites nicht vorhanden wäre, auf das fie wirken Könnte; fie entfteht in je dem Augenblide des Wirkens zwifchen den beiden Elementen, zwi⸗ hen welchen eine Wechſelwirkung um ihrer qualitativen Natur willen unvermeidlich ift. Sie wird deshalb überall jo meit in den Raum hineinreihen, als in ihm Elemente anzutreffen find, Denen ihre innere Berwandtfchaft diefe Nothwendigfeit des Wirkens auferlegt; und man Tann deshalb nie jagen, ein Element entziehe ſich durch zu große räumliche Entfernung dem Einfluß einer Kraft, der es im Uebrigen um feiner Natur willen zu gehordhen verpflichtet wäre, Mit andern Worten: e8 kann feine Kraft geben, deren Wirkfam- feit von Haus aus fi auf ein endliches Raumgebiet, dann aber auch auf Alles das erftredte, was innerhalb deſſelben anzutreffen wäre; wohl aber ift an einem Clement eine Kraft denfbar, Die

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fih nur auf eine gewiſſe Art oder einen gewiſſen Kreis anderer Elemente befhränft und gleichgiltig vorübergeht an allen denen, Die nicht zu dieſer Art oder zu dieſem Kreiſe gehören.

Ich ſchalte noch einmal die eindringliche Wiederholung einer Behauptung ein, die allem Früheren zu Grunde lag; es ift durch⸗ aus nothwendig, den oft gehörten Sat, ein Ding wirfe nır ba, wo e8 fei, in dem entgegengefegten umzulehren: es fei da, mo es wirke. Es ift durchaus ein Irrthum zu glauben, e8 heiße tiber- haupt etwas, wenn wir fagen, ein Ding fei an einem Orte und erlange in Folge deſſen die Fähigkeit zu beſtimmter Richtung und Ausdehnung feines Wirkens. Schon die gemöhnlichfte Ueberle— gung des alltäglichen Lebens bejtimmt den Ort eines Dinges nur nach feinen Wirkungen; dort ift ein Körper, von wo die Lichtfirah- len ausgehen, die er nach verfchiedenen Seiten endet; dort ift er, bon wo er der Hand, die ihn zu bewegen ftrebt, wiberftehenven Drud entgegenftellt; dort endlich, von wo er auf andere Körper anziehend feithaltend oder zurüditogend einwirkt. Und auch Dies ift nicht jo zu verſtehen, als feien alle diefe Wirkungen nur für ung Erfenntnifgründe, durch welche wir des Körpers Sein an feinem Orte gewahr würden, während dies Sein felbft eine von den Wirkungen, die e8 Fenntlich machen, unabhängige Bedeutung hätte. Es ift vielmehr weder zu jagen noch einzujehen, warum kon einem Dinge, das gar nicht wirkte, mit größerem Rechte ein Sein an diefem, als ein Sein an jedem andern Orte behauptet wer⸗ den dürfte, oder wodurch ſich der Zuftand eines Dinges, welches ohne alle Wirkffamteit an einem bejtimmten Orte blos wäre, von dem Zuſtand untericheiden könnte, in welchem es fich befinden wiürbe, wenn es an irgend einem beliebigen andern Orte fid aufbielte. |

Unter diefer Borausfegung laſſen ſich die Vorftellungen feft- ftellen, die wir uns von dem angeführten dritten Fall bilden önnen. Iſt ein Weſen da, wo es wirkt, hängt e8 aber in feinem Wirken nur von den innerlihen Beziehungen, die zwijchen ihm und anderen Elementen ftattfinden, nit von dem leeren

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Raume und feinen Orten und Entfernungen ab, jo Können wir noch weiter binzufügen: es ift überall da, mo es wirkt, und fein Ort ift Hein ober groß, ftetig ober discontinuirlich, je nach⸗ dem diefe andern Elemente im Raume vertbeilt find, mit denen e8 in dieſer unmittelbaren Gemeinſchaft der Wechſelwirkung ftebt. Welches aber auch und wie geftaltet der Ort eines wirkenden Weſens fein mag, er ift nie eine Eigenfhaft des Weſens felbft; Dies wird nicht groß mit feiner Größe, nicht Hein mit feiner Kleinheit, nicht ausgedehnt, weil er ausgedehnt ift, nicht vielfach und tbeilbar, wenn er vielfach oder zerftreut iſt. Neb- men wir an, um diefe Anfchauungen zu verdeutlichen, ein wir: kendes Element a ſtehe in Wechſelwirkung mit allen Elementen der Art b und diefe Wechſelwirkung fei unabhängig von ben Entfernungen, in melden fi in der Welt die einzelnen b vor- finden, fo würde a einen fo vielfadhen Ort im Raume haben, wie viele Elemente b in dem unendlichen Raume zerftreut find; an jedem biefer Orte würde a eben fo vorhanden fein wie an jedem andern, ohne daß deshalb die Einheit und Untheilbarkeit feines Weſens litte. Es fchadet der Denkbarkeit diefer Vorſtel⸗ lungsweiſe Nichts, daß wir in der Weltordnung für fie feinen Tall der Anwendung wiffen. Nehmen wir ferner an, a ftebe in unmittelbarer Wechſelwirkung mit einer beftunmten Anzahl b von Elementen, gleihartigen oder verfchtevenartigen, jo wird der Ort des a überall fein, wo eines diefer Elemente ſich findet. Dächten wir fie alle auf der Oberfläche einer Kugel vereinigt, jo würde der metaphufiiche Ort des a diefe krumme Oberfläche fein, und zwar jeder ihrer Punkte, der von einem der b realen Elemente befegt wäre. Wir würden nicht eigentlich Recht haben, aber wir fönnten unferer Einbildungsfraft das Bild verftatten, a befinde fih im Mittelpunkt der Kugel und übe von da eine Kraft aus, deren Wirkungsſphäre durch den endlichen Halbmefjer der Kugel beftimmt und begrenzt fei; wir würden durch diefe Wendung des Ausdruckes uns die bleibende untheilbare Einheit des a anfchau- liher machen, ohne fie im Grunde noch ficherer zu machen,

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als fie ohnehin bleiben würde. Man würde fi endlich vor- ftellen innen, die Elemente b, mit weldhen a in unmittelbarer Wechſelwirkung fteht, feien im Naume zerftreut und zwifchen ihnen andere Elemente der Art c gelagert, mit melden bem a burd feine Natur Teine wirfungserzeugende Beziehung zufomme; dann wird a einen vielpunktigen Dbiscontinuirliden Ort im Raume haben, over an vielen Punkten zugleich fein und es würde jeßt, um ber Zwiſchenſchaltung der Punkte willen, an denen a nicht ift, unferer Phantafie zwar ſchwerer fallen, die Anfchau- ung der Einheit des a fetzuhalten, ohne daß deshalb in dem Sachverhalt ſelbſt eine größere Schwierigkeit derſelben läge.

Wenden wir dieſe allgemeinen Betrachtungen auf den beſon⸗ dern Fall an, der uns beſchäftigt, ſo wird nur der glückliche Glaube an die Offenbarungen der Hellſeherinnen das unmittelbare Macht⸗ gebiet der Seele ins Unendliche noch bemerkbar reichen laſſen; die Erfahrung des wachen Lebens hat nie darein Zweifel geſetzt, daß vor Allem der Umriß unſeres Körpers den Bezirk abgrenzt, in welchem die Seele ſelbſt thätig iſt und von deſſen Zuſtänden ſie leidet. Wir empfinden nur, was den Körper erſchüttert, wir be⸗ wegen nur ihn; durch ſeine Vermittlung wirkt die Außenwelt auf uns und wir auf ſie. Aber die mannigfachſten Beobachtungen haben uns ebenſo gewiß gelehrt, daß ſelbſt in dem Körper der Schauplatz ſeiner unmittelbaren Wechſelwirkungen mit der Seele noch enger zu begrenzen iſt. Verloren iſt für die Seele jeder Zuſtand des Körpers, der nicht einen Theil des Nervenſyſtems zu erregen vermag, verloren für den Körper jede Bewegung der Seele, für welche der Uebergang aus dieſem Syſtem in bie folg- famen Werkzeuge der Glieder verhindert if. So tritt die große Maſſe des Leibes doch nur als ein mittelbar beherrichtes Gebiet der Außenwelt dem Nervengeflehte als dem eigentlichen Site ber Seele gegenüber. Aber auch in dieſem lehrt die‘ Beobachtung einen Unterſchied zwiſchen zuleitenden Theilen, die den Austauſch der Erregungen vermitteln und anderen wefentlicheren, in denen

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bie Wechſelwirkung felbft vollzogen wird, Trennt ein einfacher Schnitt einen fenfiblen Nerven in feinem Verlauf zum Gehirn, fo find die Eindrüde, die ſein an ber Oberfläche des Körpers haftendes Ende num noch von außen aufnimmt, für die Seele verloren; trennt ein gleiher Schnitt einen motorifchen Nerven, To geht dev Willenseinfluß der Seele nicht mehr auf Die Glieder über, zu deren Muskeln der durchſchnittene Nero verlief. Nicht mit jedem Theile des Nervenſyſtems fteht daher die Seele in unmittelbarer Wechſelwirkung; nur die Erregungen der Gentralorgane können e8 fein, von denen fie in der That bewegt wird und welche fie umgekehrt durch ihre eigne Kraft hervorruft; der gefammte Verlauf der Nerven ift nur ein Mittel, diefem engeren Bezirke wahrhafter MWechfelmir- fung äußere Eindrüde, die an ſich fir Die Seele unerreihbaren, an- zunähern und ihre eignen Strebungen, die an fih machtloſen, auf die ausführenden Glieder überzuleiten. Die Fortjegung diefer Be- obachtungen, zu denen Berfuche und Krankheitsfälle Gelegenheit geben, verengt das Gebiet der Seele noch mehr; fie lehrt erfen- nen, daß eine Trennung zwiſchen Gehirn und Rüdenmarf die Em- pfänglichleit des Bewußtſeins für die Eindrüde, die dem lebtern Organe zufommen, und ebenfo die Herrihaft der Seele über die Glieder aufhebt, Die von ihm ihre zuleitenden Nerven erhalten.

Allerdings führen die enthaupteten Rümpfe namentlich Talt- blütiger Thiere auf Äußere Reize noch Bewegungen aus, deren zweckmäßige Zufammenftimmung Bielen von nicht blos phufilchen Urſachen abhängen zu können ſchien. Doc auch dieſe Bewegun- gen geſchehen nur, fo lange das Rückenmark und der Zuſammen⸗ hang der zu bewegenden Glieder mit ihm unverlegt ift; fie wür— den daher höchftens bemeilen, daß der unmittelbare Einfluß der Seele oder ihr Sit nicht auf das Gehirn ſich beſchränkt, fondern auch über dieſen andern Theil der Centralorgane ausdehnt. Allein daß die Unterbrehung der Verbindung zwiſchen Rückenmark und Gehirn die Bewegungen der von dem eriten allein abhängenden Theile dem Bewußtfein ſowohl als dem Willen entzieht, ift eine gewiffe Thatſache; daß Dagegen die Bewegungen enthaupteter

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Rümpfe unmittelbar, oder in welcher Weiſe ſie etwa mittelbar von phyſiſchen Bedingungen abhängen, iſt ungewiß. Ueberlaſſen wir deshalb ſpäterer Gelegenheit die Ueberlegung dieſer Erſchei⸗ nungen und halten wir vorläufig daran feſt, daß Eindrücke, die unſer Bewußtſein nicht empfängt, nicht ohne andern Beweis als Zuſtände unſerer Seele, Wirkungen, die wir weder wollen noch in ihrem Geſchehen wahrnehmen, nicht ohne andern Beweis für Thätigkeiten der Seele gelten können. Unter dieſer Vorausſetzung beſchraͤnkt ſich allerdings der Sit der Seele auf das Gehirn. Im dieſem ſelbſt endlich haben wir Grund, verſchiedene Theile von verſchiedenem pſychiſchen Werth zu unterſcheiden; aber Die größeren und wohl unüberwindliden Schwierigfeiten der Unterjuchung ge- ftatten hier nicht mehr, die eigentlicheren Organe der Seele von dem umgebenden Apparat blos zuleitender und bimmegleitender Werkzeuge genau abzutrennen. Ziehen wir das Ergebniß dieſer Betrachtungen, fo finden wir, daß die erfte der oben verzeichneten Borftellungsweifen auf das Verhältniß zwifchen Seele und Kör- per unanwendbar ift: die Seele ift nicht fo in ihrem Leib all- gegenwärtig, wie wir und Gott in der Welt allgegenwärtig den⸗ fen; fie fteht in unmittelbarer Wechſelwirkung nur mit dem Ges bien; bier aljo bat fie in der Bedeutung, die diefem Worte zu geben ift, ihren Sie.

Sehen wir num zu, ob zur nähern Beltimmung diefed Or- tes die zweite Auffaſſungsweiſe tauglidyer if. Bon einem einzigen Punkte aus, an welchem ihre Wirkſamkeit ein Marimum: ift, würde nad ihr die Seele ihren Einfluß mit abnehmender Stärke über die entfernteren Theile des Körpers gleich unmittelbar aus- dehnen. Wollte man diefe Abnahme der Kraft fi zwar raid, aber doch nod mit fo gemäßigter Beichleunigung erfolgen vorftel- len, daß ihre Wirkungen in irgend wahrnehmbarer Entfernung von jenem Punkte des Maximum nod merklich blieben, fo würde fich feine Erſcheinung finden, welche Diefer Annahme günftig wäre. Die zuleitende VBerrichtung der fenfiblen, die wegleitende der mo- torifchen Nerven hört ftet8 auf, wie nahe auch immer an ben

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Gentralorganen ihr Zufammenbang mit diefen unterbrochen wird, und niemals findet fih die Spur einer auch nur foweit unmit- telbar in die Ferne reichenden Wirkung der Seele, daß durch fie Der geringe Abſtand überflogen wiirde, den ein feiner Schnitt zwiichen zwei nädftbenachbarte Elemente eines Nerven gebracht bat. Nur in der befonderen Form würde Daher diefe zweite Bor- ftellungsweife hier anwendbar fein, in welcher wir fie allerdings auf den größten Theil des gemöhnlichen Verhaltens der Körper an⸗ wenden; To außerordentlich fchnell müßte mit der Entfernung von dem Punkte der größten Wirfung dieſe Wirkung felbft ab- nehmen, daß fie in merflichen Abftänden nicht mehr wahrnehmbar würde. So wie ein Körper die Lichtitrablen erſt Dann reflectirt und vom Stoß erſt dann in Bewegung gefegt wird, wenn beide ihn an feinem Orte berührt haben, ebenfo würde Die Seele nur mit den Elementen verkehren, deren Einwirkungen fi bis auf unwahrnehmbar Heine Abftände dem Punkte ihrer größten Wir- fung näherten, einem Bunte, den wir eben deshalb nahezu als den einzigen Ort ber unmittelbaren Wirkſamkeit der Seele, oder als "ihren ausſchließlichen Sit bezeichnen dürften.

Dies ift nun die Vorſtellung, die man feit alter Zeit mit Borliebe ausgebildet hat. Der Bau des Nervenfyftens im Großen begünftigte fie. Sichtlih ift der Verlauf der Nerven beftimmt, Eindrüde einem Orte im Gehirn anzunähern, um fie dort erft zur Wechſelwirkung mit der Seele zu bringen, und die motorischen führen Anregungen, die der Wille nur dort wirflih auf Maſſen überträgt, den Musleln zu, Die Durch ihre räumliche Entfernung dem unmittelbaren Einfluß feines Antriebs entzogen find. Mau hoffte eine Fortfegung deffelben Baues in dem Gehirn felbft zu finden, einen folden Schlußpunkt des ganzen Nervenſyſtems, in welden alle zuleitenden Fäden zufammenliefen und aus welchem alle hinmegleitenden Kanäle der Wirkungen ausſtrahlten. Dieſen Punft wiirde man mit voller Befriedigung als den Sit der Seele anerkannt haben. Aber die Anatomie bat ihn bisher nicht fin- den Können, und es ift keine Hoffnung, daß fie ihn fpäter finden

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werde. Neben einander ftreichen die Faſern vorbei, durchkreuzen fih und verflechten fi; aber fe verjchmelzen nicht untereinander zu einem gemeinfamen Schlußgliede; nicht einmal eine gemeinfame Endrichtung nehmen fie an, mit der fie einem ſolchen Punkte ſich näberten. Auch in dem Syſtem der Ganglienzellen, vundlider Bläschen, welche das gefaferte Mark in größter Menge von außen umgeben und zwifchen feine Züge eingeftreut find, fehlt jede An- deutung einer Centralifation. Sie ftehen durch feine Verbindungs- fäden unter einander in Berbindung; aber wir wiſſen weder, ob die Berfettung eine allgemeine ift, noch welche Bedeutung den Ganglienzellen überhaupt für die Aufnahme Erregung und Um— formung der im gefaferten Mark geichebenden Erregungen zu- kommt.

Wer dennoch die Hoffnung hegte, daß geſchärftere Unter— ſuchung dieſen beſchränkten Sitz der Seele finden werde, müßte ſich ohnehin zugeſtehen, daß man ihn unter falſcher Form geſucht hat. Wie fein auch die einzelne Nervenfaſer iſt, eine gemeinſame Durchſchnittsſtelle aller könnte doch nie ein untheilbarer Punkt, fondern müßte ein kubiſcher Raum von ſehr wahrnehmbarer Größe feines Durchmefferd jein. Diefen Raum müßte die Seele mit unmittelbarer Wirkſamkeit beherrichen; innerhalb beffelben würden wir eine Yortjegung gejonderter Nervenfäden nicht erwarten; ihre Iſolirung hätte nur die Aufgabe, die phuftichen Vorgänge, die in ihnen fi ereignen, ohne gegenfeitige Vermiſchung bis zu dem Wirkungskreiſe der Seele zu bringen. Haben fie diefen erreicht, fo ift ihre fernere Auseinanderhaltung unndtbig; denn in ber Seele ſelbſt gibt es doch ſchließlich leine Scheidewände, welche bie einzelnen Eindrücke ſonderten, und ſie muß es verſtehen, die vielen verſchiedenen ohne gegenſeitige Trübung in der Einheit ihres We- ſens zu beherbergen. Jenen kubiſchen Raum, den Sig ber Seele, würbe man fidh daher entweder ausgefüllt durch ein ungefafertes, irgendwie bomogened Parenchym denken, durch welches hindurch alle Erregungen der Nerven ſich allſeitig verbreiten, oder als einen Höhlenraum, an deſſen Wandungen und innerhalb der Entfernung,

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bis zu welcher die unmittelbare Wirkſamkeit der Seele reicht, Die fämmtlihen Nervenfafern oder eine hinreichende Anzahl Abgeorb- neter berfelben nur vorüberzugehen, aber nicht zu endigen brauch⸗ ten. In der That hat man häufig Die leßgenannte Borftellung gewählt und in der vierten Hirnhöhle den Sit der Seele, freilid ohne die nöthige Beftätigung durch anatomiſche Thatſachen, zu finden geglaubt.

I) führe dieſe Möoglichteiten, denen fi) noch mande andere

beifügen ließe, theil8 in der Ueberzeugung von dem Nugen auf, den allemal die Ausarbeitung jeder Anfiht bis zu vollftändiger Klarheit gewährt, theils in der anderen Ueberzeugung, daß aller: dings die Anatomie zu einem völlig entjcheidenden Endurtheil über fie noch nicht befähigt if. An fi bat Feine dieſer Vermuthun⸗ gen einen ſehr großen Werth; man wird leicht finden, daß jede bon ihnen, auch wenn fie thatfächlich richtig wäre, doch ihrem Be- griffe nad eine Zurüdführung auf die Dritte der oben verzeid- neten Borftellungsweifen nothwendig machen würde. Denn mas hieße es Doch zulett, daß Die Seele in einem beftimmten Raume enthalten ſei und in Folge deffen nur mit dem wechſelwirkte, was biefen Ort berührt? Sie kann nicht einen beftimmten leeren Raum einen andern leeren Raum vorziehen, um in ihm recht⸗ mäßiger ihren Ort zu haben, als in diefem; daß fie an einem beftimmten Orte fei, bedeutet ja, wie wir gejehen haben, nichts Anderes, als daß fie nur mit den realen Elementen, die ſich an diefem Orte finden, in unmittelbarer Wechſelwirkung zu ftehen durch ihre Natur genöthigt wäre. Dieſe Wechſelwirkung, indem fie gefhieht, macht eigentlich erft jenen Raum zum Orte ber Seele, und wenn es, wie ohne Zweifel vorauszufegen ift, viele Elemente find, mit denen die Seele in diejer wechlelfeitigen Be- ziehung fteht, jo ift auch ihr Ort ebenfo vielfach. Nur aus Leicht begreiflihem Bedürfniß der Anfchaulichkeit, aber ohne Nöthigung durch Die Natur der Sache, ſucht dann zu diefen vielen Orten unfere Phantafte noch einen geometriſchen Mittelpunft ihrer Ver⸗ theilung und mödte dieſen dann gern als den eigentlichften Sit

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der Seele anſehen; aber fie würde nicht angeben Können, in wel- her innigeren Beziehung die Seele zu ihm ftände, als zu jenen, in denen fie wirft. Ob daher die vielen Orte diefer Wirkſamkeit fich im Gehirn nahe zufammendrängen, ohne andere Orte der Un- wirfamfeit einzufchließen, ob fie alſo einen auch anſchaulich als Einheit ſich darftellenden Sit der Seele bilben, oder ob fie zer- ſtreut eine Bielheit von Punkten bleiben: dies ift eine anato- mifche Frage nad der Anordnung der wechſelwirkenden Elemente, deren Beantwortung man ber Erfahrung überlaffen kann. Wie die Antwort auch ausfallen mag, fie ändert die allgemeinen Bor: ftellungen nicht, die wir gewonnen haben.

Noch einer Bermuthung erwähne ich, um hiermit abzufchlie- en, der Vorftellung nämlich von einer beweglichen Seele, deren Ort innerhalb der Gentralorgane wechſele. Sie ſcheint mir von geringem Bortheil. Damit die Seele an den beftimmten Punkt fih hinbewegen könne, an welchem e8 eine ankommende Erregumg aufzufafen gibt, müßte fie doch von der Richtung bereits Kunde erhalten haben, von welcher ber die Erregung zu erwarten ift. Um alfo zu diefer Bewegung nach der eben jetzt gereizten Nerven- fafer und nad Feiner andern Richtung hin beftimmt zu werben, müßte fie ſchon aus der Terne irgendiwie von den inneren Zu⸗ ftänden derfelben auf andere Weile beeinflußt worden fein, als von den Zuftänden der anderen, in denen jegt eben eine Erregung nit anlommt. Die Bewegung der Seele könnte mithin nicht als Mittel zur erftien Ermöglihung einer Wechjelwirkung mit dem erregten Element, ſondern nur als Beihilfe zur Verftärkung einer ſchon eingetretenen dienen. Noch unflarer bliebe, mie die Seele e8 begönne, um ihre Richtung zum dem motorifchen Element zu nehmen, dem ſie felhft ihr eigne Erregung erft mittheilen will.

Eine Schwierigkeit, die man bereit8 empfunden haben wird,

nöthigt und noch zu einer ferneren auch fonft ge la Loge I. 4. Aufl.

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Umformung der gewonnenen Anfihten. Daß die Seele mit einer beichräntten Anzahl der Nervenelemente ausichlieglih in unmittel- barer Wechſelwirkung ftehe, bleibt jo lange unwahrſcheinlich, als wir in der Natur diefer bevorzugten Elemente feinen Unterfchieb von der Natur aller der übrigen finden künnen, mit denen bie Seele in gleiher Beziehung nit ſteht. Nun ift es allerdings eine in der Phyſiologie häufig vorgetragene Anficht, daß die Vker⸗ rihtung des Centralnervenmarks wejentlich verſchieden von den Functionen der Nerven und auch verfchieden fei von den Thätig- feiten derjenigen Gehirntheile, die jelbft nur als in die Schädelhöhle hinein verlängerte Fortſetzungen der Nerven zu betrachten wären. Diefe Annahme würde die Borausfegung einer irgend wie auch bevorzugten Natur der Elemente einfließen, welche dieſen bevor⸗ zugten Berrichtungen dienen, obgleich eine unmittelbare Beftätigung für diefe Folgerung durch anatomiſche Beobachtung fehlt. Aber gleichviel, wie es ſich hiermit verhalten mag: aus allgemeineren Gründen finden wir die bisher gemachte Vorausfegung unzuläng- th, daß alle Nöthigung und Befähigung zur Wechſelwirkung zwijchen zwei Elementen auf einer beftimmten Beziehung zwifchen dem beruhe, was wir ihre Natuven oder den qualitativen Inhalt ihres Wejend nennen. Was das eine Element von dem andern erfährt, wird nicht allein von dem abhängen, was biefe8 andere beftändig ift, fondern aud won dem veränderliden Zuſtande, in welchen es ſich eben befindet; daß überhaupt ein Element mit dem andern zu wechſelwirken genöthigt ift, auch dieſer wirkſame Zufammenhang findet vielleicht nicht immer zwiſchen den conſtan⸗ ten Naturen beider, fondern nur in einzelnen Wugenbliden zwi- hen beftimmten Zuftänden beider ftatt; oder wenn für alle Zeit und für alle Zuftände beide in dieſer Weile verleitet find, fo liegt der Grund ihres Füreinanderſeins nicht in dem, was fie beide ſind, fondern darin, daß fie vermöge deſſen, was fie find, Zuſtände erfahren Können, welde nad dem Sinn und Plan ber Weltordnung als erregender Grund und nachfolgende Erregung zufammengebören. Ich verzichte Darauf, dieſen Gedanken in feine

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metaphuftichen Zuſammenhänge bier zu verfolgen und ziehe vor, ihm einen deutlichen Ausdrud in engerer Beziehung zu unferem beſonderen Gegenftand zu geben: die Seele wird nicht in aus- ſchließlicher und dann unabläffiger Wechfelmirfung mit einer be- fonderen Art von Nervenelementen und allen beliebigen Zuſtänden diefer Elemente ftehen; fondern fie wird zuerft nur veizbar für gewiſſe Arten des Gefchehens fein, auf jene Art und Zahl von Nervenelementen aber ihre Wirkſamkeit und ihre Empfänglichleit beshalb beichränfen, weil nur in dieſen jenes Geſchehen verwirk⸗ licht wird. Und nun bleibt dahingeftellt, ob dieſe Elemente ihre eigenthlimliche Natur, oder ob ohne folde Eigenthümlichleit bie Gunſt ihrer Stellung zwiſchen andern fie ausichlieglich zu Schau- pläßen dieſes Geſchehens macht. In dem letztern alle wiirde es einer ſpecifiſchen Verſchiedenheit zwiſchen den Elementen der Centralorgane und denen der Nerven nicht bedürfen; die Eigen⸗ thümlichleit der Structur würde die erſteren ausſchließlich zum Sitze der Seele machen, weil ſie allein die Vorgänge möglich machte, für welche dieſe die angedeutete ſympathiſche Reizbarkeit beſitzt.

Es bleibt mir zu zeigen, daß die eben vorgetragene Anſicht ihre Entſtehung nicht allein den Ueberlegungen über den Sitz der Seele verdankt, daß ſie vielmehr unabhängig hiervon auch in der Betrachtung von pfychiſchen Ereigniſſen wieder entſteht, welche auf den erſten Blick keineswegs mit ihr verträglich ſcheinen.

Zu den gewöhnlichſten Vorſtellungen über die Entſtehung der willkürlichen Bewegungen gehört die, daß im Gehirn die Ur⸗ fprünge der motorifhen Nerven wie eine Claviatur nebeneinander ausgebreitet Tiegen, dem bewegenden Einfluß der Seele geöffnet. Aber möge diefe Elaviatur immer vorhanden fein: Die Seele ift unfäbig auf ihr gu fpielen. Sie hat fein Wiffen von der gegen- feitigen Lage dieſer Taften, und Feine Kenntniß davon, daß Diele und nicht eine andere Tafte der beftimmten Bemwegungsabficht ent= Ipreche, welche fie hegt, jo wie etwa der Clavierſpieler gelernt Bat, die Tafte, die er ſieht, mit der gefchriebenen Rote in Beziehung

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zu feten. Und müßte fie felbft dies Alles, was follte e8 ihr nügen? Wie finge fie e8 doch an, nun ihre Wirkſamkeit auf dieſe und nicht auf jene Taſte überzutragen? Kann doch der Spieler dies nur vermöge eben dieſer noch unerflärten Folgſamkeit feiner beweglichen Finger, die dahin greifen, wohin fein Wille fie weit; und er würde e8 nicht Können, wenn er auch dieſen Uebergang feines beftimmten Wollens auf die ihm entiprechenden Nerven- fäden felbft erft durch feine Einficht vermitteln follte. Die Seele fann, wie wir gefehen haben, nicht8 Anderes thun, als einen in- neren Zuſtand in fi erzeugen oder erleiden, an welchen ohne ihr Zuthun der Naturlauf die Entftehung einer körperlichen Berände- rung gefnüpft bat. Nur durch das, was er qualitativ ift, kann dieſer Zuſtand fih von andern unterjcheiden; und von diefer Qua⸗ lität muß nicht nur die Größe und Art, fondern aud der Ort ber Wirkung abhängen, die der Naturlauf an ihn knüpft. Freude und Schmerz enthalten beide weder eine Kenntniß gewiffer Ner- ven und Musfeln, noch einen Trieb zu deren Bewegung; aber fie find verſchiedenartige Erjhlitterungen des Gemüthes, und um dieſes inneren Unterſchiedes willen folgt dem einen das Lachen, dem andern das Weinen. Weder bewußt noch unbewußt bat hier Die Seele um der Freude willen ihren Einfluß dahin, um bes Schmerzes willen dorthin gerichtet, fondern ohne al ihr Zuthun bat der einen Art der Erregung diefe, der andern jene Bewegung, der einen aljo eine Wirkung in diefen, der anderen eine zum Theil in andern Muskeln geantwortet.

Soll denn num in der That, wird man fragen, die Seele ihre inneren Zuftände fo gewiffermaßen nur klagend ind Blaue binausrufen, und erwarten, daß die geeignete Abhilfe blos durch den verſchiedenartigen Ton ihrer Aeußerung zu Stande kommen werde, ohne daß fie felber befühle, was eigentlich geſchehen Toll? Gewiß ift diefe Zumuthung, die wir der Phantafie ernftlich ma⸗ hen müffen, ungewöhnlich genug; aber Doc wird fie ſich als eine ausführbare erweifen laſſen. Bon den unzähligen Schallwellen, welche bie Luft durchkreuzen, wird jede ohne Zweifel in einer ge=.

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fpannten Platte, einer Fenſterſcheibe, melde fie trifft, irgend welche Erfchütterungen hervorbringen; aber nur eine von ihnen wird Die Platte zum Mittönen bringen, nur die nämlich, deren Schwingungen regelmäßig zu wiederholen die Platte duch ihre eigne Structur und Spannung befähigt if. Wenn e8 gilt, aus einer flüffigen Miſchung verichiedener Stoffe einen einzelnen auszu- ideiden, bringen wir das Mittel, dad zu feiner Fällung dienen fol, nur überhaupt hinein und wir haben nicht nöthig, nun diefem noch ſelbſt eine beftimmte Richtung zu geben und mit ihm den überall zerftreuten Theilchen des auszufcheidenden Stoffes nachzu- gehen; indem es ſich durch die ganze Flüſſigkeit verbreitet, geht e8 von felbft theilnahmlos an denen allen vorüber, zu denen e8 feine Wahlverwandtſchaft befist, und findet mit völliger Sicherheit überall Die Theile desjenigen auf, mit dem es fich zu einem Nieberichlage verbinden Tann. Nach der Ausfällung dieſes einen wird ein zmei- te8 Reagens aus derfelben Flüffigfeit einen andern Stoff aus- icheiden, überall indem das, mas durch feine qualitative Natur aufeinander bezogen ift, fi zur Wechſelwirkung zufammenfindet und auf Heine Entfernungen felbft gegenfeitig fih anzieht, nie⸗ mals fo, Daß dem einen von Anfang an eine beftimmte Richtung inwohnte und fein Erfolg fich verſchieden geftaltete nach der Natur deffen, was e8 in dieſer Richtung anträfe. Läge der Seele in der That die ganze Claviatur der motorischen Nervenenden geordnet vor, jo könnte die Art ihres Einfluffes auf fie feine an- dere fein. Sie würde nit in jevem Falle einen übrigens gleich: artigen Stoß ausführen, dem fie nur eine beftimmte Nichtung gäbe, und ber num blos deswegen, weil er in diefer Richtung auf dieſes, nicht auf jenes Nervenende träfe, auch nur diefe, nicht eine andere Bewegung erzeugen müßte; fie Tann für jede beabfichtigte Bewegung vielmehr nur einen eigentbümlichen qualitativen Zuftand, einen Ton von beftimmter Höhe in jenem Gleihniß, hervorbrin- gen und von der Wahlverwandtichaft, welche zwiſchen dieſem Zu- ftand und der eigenthümlichen Leiftungsfähigfeit eines beftimmten Nervenurfprungs obmaltet, wird erſt Die räumliche Richtung ab-

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hängen, welde der Einfluß der Seele nimmt, und welde er nur täufchend von Anfang an ſchon inne zu halten fchien.

Nichts kann dieſes Verhalten fo einfach Mar machen, als Die Erinnerung an die mimifhen Bewegungen. In dem Geſichtsaus— druck erfcheinen in unendlich feinen Abftufungen und Miſchungen die in unfern Stimmungen einander durchkreuzenden Gefühle verförpert. Kaum wird Jemand geneigt fein, Died unerſchöpflich harakteriftiiche Spiel Eleiner Bewegungen und Spannungen von einer bemußten oder unbewußten Thätigkeit der Seele abzuleiten, Die eine große Anzahl Nervenurfprünge aufgefucht habe, um jebem bon ihnen eine den bier gemijchten Elementen der Luft und Un- luft entſprechende Anregung mitzutbeilen. Weiß die Seele doc ohnehin nicht, aus welchem Grunde die Thräne befjer der Trauer als der Luft und das Laden diefer befler als jener entipräde. Ohne Zweifel hat fie bier gar nicht gefucht und nicht gefunden; wie vielmehr jeder einzelne Gemüthszuftand als eine Erſchütterung der Seele feinen Weg zu beſtimmten Organen feines Ausbrudes nimmt, weil diefe allein eben von biefer Erfchlitterung miterregt werben, jo findet auch jene Miſchung der Gefühle von felbft ihren verwidelten Weg zu ven Theilen, in denen fie ihre Teibliche Re- fonanz erhalten fol. Aber dies Verhalten ift nicht auf dieſe eine Klaffe der Bewegungen beſchränkt. Auch jeder anderen willkür⸗ ih von und ausgeführten Bewegung geht als ihr wahrer er- zeugender Anfangspunft eine Vorſtellung jener eigenthümlichen Mopdification des Gemeingefühls voran, die mit der geſchehenden Bewegung, wie frühere Erfahrungen ums gelehrt, verfnüpft war. Wir beugen den Arm nicht, indem wir feinen einzelnen Nerven beftunmte Anftöße zumeflen, fondern indem wir das Bild jenes Gefühles in und wieder erzeugen, das wir in biefer Stellung bes Armes, bei diefer Faltung der Haut, bei dieſem Spannungsgrade der Muskeln hatten; wir finden uns Dagegen ungeſchickt, eine Bewegung nachzuahmen, die wir zwar deutlich jehen, ohne aber ung fogleih in die eigenthümliche Empfindung bineinfühlen zu önnen, die ihre wirkliche Ausführung und gewähren würde.

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Vergeblich würden wir num verfuchen, von der Verbreitungs- weife dieſer geiftigen Zuftände über die Eörperlichen Organe und von der Art, in welder fie bier in einzelnen die ihnen ent- ſprechende Reſonanz hervorrufen, eine noch meiter ausmalenbe anſchauliche Borftellung zu geben. Wir müfjen vielmehr, wenn, wie wir hoffen, die angeführten Vergleiche den Gedanken, ben wir hegen, klarer gemacht haben, ſelbſt diefe Vergleiche wieder zu vergefien bitten. Denn eine nothwendige und unvermeidliche Geltung Können wir nur dem allgemeinen Sate beilegen, daß jede erregende Wirkung der Seele auf den Körper von ber quali- tativen Beftimmtheit eines geiftigen Zuftandes ausgeht und erft um ihretwillen eine Iocale Richtung nach einem beftimmten Or- gane nimmt; jebe weitere Ausführung oder Verbildlichung dieſes Borganges dagegen müfjen wir ablehnen. Denn allgemeine Be- trachtungen, wie fie und bier möglich find, werben doch bie Bedürfniſſe der Seele in ihrem Verkehr mit dem Körper nie fo pollftändig und genau errathen, daß wir aus unferer Einfiht in das, was zwedmäßig fein würde, die vorhandenen Einrichtungen im Boraus zu beftimmen vermöchten. Erft der wirkliche Befund des Thatſächlichen pflegt uns hinterher auch die Zweckmäßigkeit einfehen zu lafjen, die in ihm Liegt, und macht uns aufmerkfam auf Bebürfniffe, Die dann, nachdem wir fie aus den Anftalten zu ihrer Befriedigung Tennen gelernt haben, uns freilich als dringliche und unabweisbare ericheinen, ohne body vorher von und um mindeſten geahnt worden zu fein.

Ein Gegenftüd der vorigen Betrachtung veranlaßt die Auf⸗ gabe des Bewußtſeins, eine große Anzahl von Empfindungen nicht allein in ihrem qualitativen Inhalt wahrzunehmen, fondern außerdem in beftimmter räumlicher Anordnung fie unter einander zu verbinden. Diefe Leiftung ſchien nothwendig vorauszufegen, daß die einzelnen Eindrüde in derfelben gegenfeitigen Lage, in

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welder fie den Körper berührten, auch zu der Seele fortgepflang: werden, und daß an dem Site ber lebteren ſich die iſolirten Nervenfäden, deren jeder nur einen einzigen Eindrud leitet, in derjelben regelmäßigen Nebeneinanderordnung endigen, in welcher fie in dem Sinnedorgan die ankommenden Reize aufnehmen. Aber eine genauere Betrachtung wird uns bald lehren, daß dieſe Borausfegung zu einer wirklichen Erflärung unferer räumlichen Anfchauungen nicht dienen würde.

Sollen wir zunächſt ausdrücklich erinnern, oder Dürfen wir dies al8 zugeftanden annehmen, daß von den Gegenftänden nicht räumliche ausgedehnte Bilder, ihnen ähnlih und fie dedend, ſich ablöſen, um in die Seele einzutreten? Und daß, wenn dies wirk⸗ lich geihähe, auß der Gegenwart dieſer Bilder innerhalb der Seele ihr Wahrgenommenmwerden noch jo wenig erflärlih würde, wie aus dem vorherigen Daſein der Gegenftände außerhalb der Seele? Sollen wir binzufügen, daß ja Doc dies, was wir ein Bild des Gegenftandes in unferem Auge nennen, nichts ift, al8 die That- fache, daß in unferem Sinneswerkzeug die neben einander Liegen- den Nervenenden in derjelben Ordnung von verfchiedenfarbigen Lichtftrahlen getroffen werben, in welcher dieſe Strahlen von ben Gegenftänden felbft ausgehen? Daß endlich diefe Thatſache eines geordneten Nebeneinanderfeind verſchiedener Erregungen in ver- ſchiedenen Nervenfaſern doch noch nicht die Wahrnehmung dieſes Borganges, jondern nur der wahrzunehmende Borgang felbft ift, deſſen Möglichkeit, in feiner ganzen inneren Ordnung zum Be wußtfein zu kommen, eben den Gegenftand unferer Trage aus- maht? Wir wollen die VBorausfegung machen, daß uns dies wenigftens zugeftanden ſei. Möge nım entweder, wie e8 Einigen wahricheinlich dünkt, diefes Bild im Auge ohne Verlegung feiner Zeichnung dur die Sehnerven bis zu dem Gehirn an den Ort ber Seele fortgepflanzt werben, oder möge dieſe jelbft, wie es Anderen denfbarer fcheint, unmittelbar in beiden Augen gegen- wärtig fein: auf welche Weife kann dann in beiden Fällen bie beftimmte Lage der verfchiedenartig gereizten Nervenenden, mithin

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die gegemfeitige Lage der Eindrüde für fie ein Gegenftand bes Bewußtfeind werden ? Und wäre die Seele felbft, damit wir das Aeußerſte zugeben, ein ausgedehnte Weſen, ben Umfang ber Augen und die Ausbreitung der Haut mit ihrer Gegenwart füllend, fo daß jeder Farbenpunkt, der die Neghaut, jeder Drud, der die Oberfläche des Körpers trifft, zugleih auch eine räumlich beftimmte Stelle der Seele träfe: wie würde ſie ſelbſt dann inne werben, Daß es jet dieſe Stelle ihrer eignen Ausdehnung fei, welche der Reiz berührt babe, und nicht jene? in einem andern Augenblide aber jene und nicht Diefe ?

Wollen wir nicht ein unmittelbar fertige8 und unerflärbares Wiſſen der Seele von ihrem eignen Umfange oder von ber Ge- ftalt des Körpers vorausfegen, jo werben wir zuzugeben haben, daß irgendwo der Zeitpunkt kommen muß, in welchem die räum- lihe Lage der wahrzunehmenden Bildpunkte, jo lange und fo ſorgſam fie aud von dem Sinnesorgan feitgebalten worden fein mag, dennoch bei ihrem Webergang in das Bewußtſein gänzlich verſchwinden muß, um in biefem völlig von Neuem nicht als räumliche Lage, fondern als Anfchauung einer foldhen wieder ge- boren zu werben. Die Nothwendigfeit dieſer Annahme ift in feiner Weife von der Borftellung, die wir und von der räumlichen oder unräumlichen Natur der Seele machen, fondern einzig von dem Begriff des Bewußtſeins abhängig, welches wir Diefer wie auch immer befchaffenen Natur zufchreiben. Möchte die Seele immerhin ſelbſt fih im Raume ausbreiten und als eine feine Duchduftung den Körper bis in feine letzten Enden durchdringen: ihr Willen und Wahrnehmen wird Doc ſtets eine intenfive Thätigfeit fein, die wir nicht felbft wieder ftoffartig ausgebreitet denken können. In dem Bewußtfein hören alle jene Scheivewände auf, welche in dem körperlichen Sinnedorgan die einzelnen Ein- brüde von einander trennten; in ihm Tann jelbft jene Mannig- faltigfeit der örtlichen Lage nicht mehr vorkommen, durch melde etwa an der außgebehnten Subftanz der Seele die ihr eingeprägten Eindrüde ſich noch unterjchteden; feine unräumliche Einheit ift

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nur noch empfänglich für qualitative Verſchiedenheiten der Er⸗ regungen, und alle jene farbigen Punkte des Auges, alle Drud- punkte ber gereizten Haut können zunächſt in ihm nur jo ortlos zufammen fein, wie die gleichzeitigen und doch unterjheibbaren Zöne einer Harmonie.

Soll die Seele dies Mannigfache in cine räumlide An- ſchauung wieder auseinanderordnen, jo bedarf fle zweierlei. Sie muß zuerit in der Natur ihres Weſens eine Nöthigung, Fähig- feit und Drang zugleich, befigen, Raumvorſtellungen überhaupt zu bilden und das Vielfache ihrer Empfindung gerade in dieſer Form der Verbindung und Sonderung aus und an einander zu rüden. Vielleicht vermag die Philofophie einen höheren Grund dafür zu finden, daß die Seele oder daß wenigflend bie menſch⸗ liche Seele diefe Form der Anſchauung aus fi entwideln muß; vielleiht vermag fie es auch nicht; wir jebenfall® ſetzen dieſe Vähigfeit als eine gegebene Thatjache voraus und unfere Be— trachtungen haben nicht die Abficht, fte felbft, fondern nur ihre mögliche Anwendung zu erflären. Damit e8 nämlich zu dieſer Anwendung fommen könne, damit die Seele in ihrer allgemeinen Raumanſchauung, mit welder fie jedem möglichen Inhalt ber Wahrnehmung ganz gleihmäßig entgegenlommt, jedem einzelnen Eindrude feinen beftimmten Plat anzuweiſen im Stande fei, dazu bedarf fie offenbar eines Anftoßes, der von den anzuorb- nenden Eindrüden felbft herkommt, und durch welchen dieſe ihre gegenjeitige Lagerung im Raume verlangen. Dieſes zweite Be⸗ dürfniß allein ift e8, deſſen Befriedigung hier den Gegenftand unferer Frage bildet; nur hierauf hat die Weberzeugung Bezug, welche wir ausſprachen, daß der zwingende Grund, um beSwillen die Seele jedem Eindrud feine beftimmte Rage in dem Raume anmeift, melden fte vorftellt, nicht in der Lage felbft Liegt, melde dev Eindrud im Sinnesorgan hat, denn diefe räumlichen Ber- hältnifje des Wahrzunehmenden Können nicht wie fie find, nicht als väumlihe in das Bewußtſein übergeben; daß vielmehr jener. Grund einzig in einer qualitativen Eigenfchaft irgend welcher

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Art Tiegen kann, welde ber Eindruck um der eigenthümlichen Natur des Ortes willen, an welchem er den Körper berührt, zu feiner übrigen qualitativen Beftimmtbeit hinzu erwirbt. Nur für ſolche Unterfchiede iſt das Bewußtſein zugänglich, und fie werben ihn als Merkmale oder als Rocalzeihen dienen, nad deren An- leitung es in ber Wieberaußbreitung der Eindrüde zu einem räumlichen Bilde verfährt, zu unmittelbarer Nähe diejenigen zu- fammenftellend, deren Localzeihen näcftverwandte Glieder einer abgeftuften Reihe find, andere um beftimmte Entfernungen aus- einanderrüdend, deren Merkmale eine größere Verſchiedenheit darbieten.

So lange dieſe Kennzeichen fehlten, würde der Eindruck zwar ſeinem Inhalte nach wahrnehmbar, aber nicht an eine beſtimmte Stelle des Raumes localiſtrbar fein. Kann doch jede Farbe nach und nad an jeder beliebigen Stelle unſeres Gefichtöfeldes erſchei⸗ nen, jeder ftärlere und ſchwächere Drud auf jeden Theil unferer Körperoberfläche wirken; durch feinen unmittelbaren Inhalt, fo und nicht anders gefärbt zu fein oder diefen beftimmten Grab ber Stärke zu befigen, Tann deshalb fein Eindrud einen beftunmten Drt in unferer Raumanfhauung verlangen. Neben diefem In- halt vielmehr und ohne ihn zu flören, muß in jeder Erregung eine charakteriſtiſche Nebenbeftunmung vorhanden fein, welche aus⸗ Ichließlich dem Punkte entipricht, in welchem der Reiz die empfäng- liche Fläche des Sinnedorganes traf, und welche anders fein wiirde, wenn der gleiche Reiz eine andere Stelle de8 Organs berührt hätte. Jeder einzelne der Seele zugeführte localiſirbare Eindrud beſteht daher in einer feften Afjociation zweier Elemente; das eine von ihnen ift jener phyſiſche Vorgang, welder das Bewußtſein zur Erzeugung einer beftimmten Empfindungsqualität, zum Sehen diefer Barbe, zum Fühlen dieſes Wärmegrades nöthigt; das an- dere ift der befondere Nebenvorgang, der fiir allerlei Empfin- dungsinhalt derjelbe, für jeden einzelnen Ort feiner Entjtehung verjchieden ift. Nicht deshalb alfo, weil ein Eimdbrud irgendwo entftand, wird er von der Seele, als wüßte fie von felbft davon,

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auf diefe Stelle feines Urſprungs wieder zurüdbezogen, jondern nur deöwegen, weil in ihm fich dieſes qualitative Merkzeichen feiner relativen Lage zu andern erhalten bat.

Man wird finden, wie dieſes Verhalten dem entfpricht, was wir über das Zuftandefommen der Bewegungen früher äußerten. Wie dort die Seele nicht gleichartige Anftöße nach beftimmten Richtungen ded Raumes ausfandte, fondern qualitative innere Zuftände erzeugte, denen fie überlaflen mußte, nah Maßgabe ihrer Eigenthlimlichfeit ihre Richtung zu finden: fo nimmt fie bier nicht die räumlichen Lagen der Reize als foldhe fertig auf, fondern verlangt innere Unterfchiede zwifchen ihnen, um fie über- haupt räumlich zu trennen, und meßbare Größen diefer Unter- ſchiede, um fie an beftimmte Stellen des Raumes auseinander zu rüden. Diefe Einrihtung nun balten wir für die nothmwen- dige Grundlage aller unferer Raumvorftellungen, welder unferer Sinne fie auch vermitteln möge; aber wir müfjen den fpectelleren Unterfuchungen der mebicinifchen Biychologie den Nachweis über⸗ laflen, in welcher Form in jedem einzelnen Falle diefen allge- meinen Anforderungen genügt jei.

So lange man glaubt, daß die räumlichen Berhältnifie der Eindrüde als foldhe fertig in die Seele übergehen, wird man natürlich im Interefje der Seele jeden derſelben in einer ifolirten Faſer zu der Seele geleitet und zugleih bis zu dem Sitze der Seele die gegenfeitige Tage der Faſern volllommen unverſchoben denken müſſen. Daß man mit alle dem zulegt doch nichts er- reiht, bedenkt man gewöhnlich zu ſpät; denn bie bloße Thatfache, daß ber eine Eindrud aus dieſer bier, der andere aus jener dort gelegenen Bahn kommt, würde der Seele für ihre Raumanſchauung nur etwas nügen, wenn fie entweder mit einem neuen Auge und einer neuen unerllärten Wahrnehmungskraft die Richtung beider Bahnen und die Größe des Winkels zwifchen ihnen ſehen

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könnte, oder wenn fie im Stande wäre, auch blind dem Reize abzumerfen, aus welcher Gegend er komme. Das erſte kann fie nicht, das zweite wiirde fie nur köönnen, wenn eben der Reiz in feinem Inhalt oder neben demfelben ein wahrnehmbares Zeichen feines Urfprungs an fi träge, und fo würde dieſe Meinung doch am Ende auf die Borftellung von den Rocalzeihen zurückkommen, von der wir ausgingen. Hängt Dagegen die Beurtheilung des Urfprunges der Eindrüde nicht mehr von der Richtung ihres An- drängens zur Seele, fondern von dem qualitativen Nebeneindrud ab, den ſie al8 Erinnerung an ihren Ausgangsort bewahrt haben, fo iſt e8 nun nicht mehr in pſychiſchem Intereſſe nothwendig, daß in dem Zwiſchenraum zwiſchen Sinmesorgan und Seele ihre rela- tive Lage beibehalten und jeder von ihnen in einem befonderen Kanale zu ihr hingeleitet werde. Wenn wir eine Bibliothek in einem neuen Xocale in derjelben Ordnung aufzuftellen wünſchen, welche fie in ihrem früheren hatte, jo plagen wir ung nicht damit ab, auch unterwegs diefe Ordnung feſtzuhalten; wir zertören fie vielmehr und fchichten einftweilen zufammen, was ohne gegenjei- tige Beihädigung zur Bequemlichleit des Transportes vereinigt werben kann, und einer ganz fremben Berfon fünnen wir es üüberlaffen, in dem neuen Locale die alte Ordnung wieder herzu- ftellen, indem fie ſich nach den aufgellebten Etiketten richtet, die jedem Bande feine Stelle bezeichnen. Ganz ebenfo wird bei dem Uebergang der Nerveneindrüde in das Bemwußtfein die räumliche Ordnung derjelben jedenfalls zerftört und es ift fein Grund vor- handen, warum dies nicht ſchon früher innerhalb der Nerven ſelbſt gefcheben könnte. Denn nur darauf kommt es an, daß jeder Eindrud jo lange von andern tfolirt gehalten wird, bis er feine Iocale Etikette erhalten hat; nachdem dies einmal geſchehen ift, bleibt für den Dienft der Seele fein Bedürfniß weiterer Son- derung. So padt man viele Briefe zufammen, und am Empfang ort läßt fih der Ort ihres Abganges aus dem aufgebrücdten Stempel gleich gut erkennen, welches auch die Art ihrer Beför— derung gewefen fein mag. Nur dann würde jened Bedürfniß

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fortbeftehen, wenn die Natur der Nervenproceffe die gleichzeitige Leitung verfchiedener Eindrücke mit ihren Localzeichen nicht ohne wechfeljeitige Störung durch dieſelbe Faſer möglich machte.

Es iſt möglich, daß diefer letztere Fall ftattfindet, und in ber That deutet man auf dieſe Weife ganz gewöhnlich den tjolirten Berlauf der Nervenprimitivfafern, ohne Verſchmelzung mit andern und ohne Theilung ihres einfachen Eylinders. Aber die Deutung anatomiſcher Thatſachen ift zuweilen mehr eine hergebrachte Ge- wohnbeit als eine bewiefene Wahrheit. So jehr die Iſolirung ber Faſern eine gejonderte Leitung der Eindrüde vermitteln zu follen ſcheint, jo finden wir fie doch auch im folhen Fällen ange- wandt, in denen wir an biefen Zweck kaum benten können. Ein Muskel, deffen ſämmtliche Bündel normal ſich ſtets nur zugleich zu verfürzen beftimmt find, erhält doch ebenfalls mehrere Nerven- fäden, und aud fie verlaufen unverſchmolzen zum Rückenmark, obgleih nie ein Ball eintreten zu Können fcheint, in welchem es für die beabfichtigte Function förderlich wäre, daß die Erregung jedes einzelnen von ihnen fich gefondert von denen der übrigen fortpflanzte. Der Geruchsnerv zerfällt, wie alle anderen Sinnes- nerven, in eine große Anzahl feiner Fäden und doch ift er kaum dazu beftimmt ober fähig, eine diefer Anzahl entſprechende Biel- heit von Gerüchen gleichzeitig und ohne Vermiſchung ihrer Eigen- tblimlichleiten aufzunehmen. Ein Gleiches gilt vom Geſchmacks⸗ nerven, defien Wahrnehmungen verichiedener Eindrücke niemals eine Deutlichkeit befigen, zu deren Herftellung eine Menge gefon- derter Leitungswege der Mühe werth geweien wäre. Sch glaube nicht, daß man aus folden Thatſachen einen anderen Schluß ziehen Tann, als diefen, daß die Anwendung der ifolirten Nerven: fofer, deren Durchmeſſer wir überall nur zwiſchen ſehr engen Grenzen ſchwanken ſehen, für den Organismus aus einem fehr allgemeinen Grunde nothwendig ift. Bielleiht Tann überhaupt jener phyſiſche Vorgang, auf welchem die Thätigleit der Nerven beruht, worin er num auch beftehen möge, nur in Fäden von be- ftimmter Dicke und beſchränktem Querſchnitt ſich entwideln. Fügen

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wir dann die Bermuthung Binzu, daß die Größe dieſes Vor⸗ ganges innerhalb eines einzelnen dieſer chlindrifchen Elemente gleichfalls nur eine beichränfte fein kann, fo würde Daraus Die Nothwendigkeit folgen, durch eine größere Anzahl von Yafern, die denfelben Einbrud leiteten, die Stärke defjelben bis zu dem Maße zu erhöhen, welches feine weitere Benutzung für die Zwecke des Lebens verlangt. Sehen wir doch diefelbe Einrichtung auch außer: halb des Nervenſyſtems in dem Tleifche der Musteln, deſſen Zer⸗ fällung in eine außerorbentlihe Anzahl feinfter Fäden müßig ſcheinen würde ohne die Annahme, daß auch hier Die Zuſammen⸗ ziehungsfähigfeit nur fo dünnen Eylindern überhaupt möglich war, fo daß die große Anzahl vereinigter Faſern die verlangte Stärke der mechaniſchen Wirkung beftreiten mußte. “Die allgemeine Ber- wendung der Zellenform zu dem Aufbau des Pflanzenkörpers ift eine ähnliche Thatfache; auch fie deutet an, daß jene eigenthlim- liche Gattung hemifcher Vorgänge, welche das Pflanzenleben be- darf, nur in biefen räumlich beichränkten Gebilden möglich ift, in denen eine halbflüffige Saftlugel von geringem Durchmeſſer mit ihrer ganzen Maſſe innerhalb des Wirfungskreifes der Mole⸗ cularkräfte Liegt, welche von ber feiten Umhüllungshaut auf fie ausgeübt werden. Doc wie die auch fein mag: jedenfalls kön⸗ nen wir bie Bildung langgeftredter und unverzweigter Faſern als eine jehr allgemeine Gewohnheit des organischen Geftaltungstrie- bes bezeichnen. Nachdem fie aber aus irgend einem Grunde ein- mal in die beftändigen Berfahrungsweifen befjelben aufgenommen ift, wird fie natürlich mit Vortheil auch für die Iſolirung ein- zelner Erregungsbahnen, wo ein befonderer Zweck eine foldje ver⸗ Yangt, verwendet werben können, ohne deshalb doch in allen Fäl- len ausschließlich nur diefer Abſicht zu dienen.

Die Aufmerkfamkeit endlich, die wir jo lange diefer ganzen Trage gewidmet haben, möchte ich ausdrücklich noch gegen bie Ge—

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ringſchätzung rechtfertigen, mit welder entgegengefegte Anfichten ihre Verhandlung überhaupt für überflüffig halten. Ueberflüſſig kann es uns nicht jcheinen, auf eine Neugier einzugeben, die un- bermeidlich Doch wieder in Jedem fich einjtellen wird, jo oft fie auch, durch hohe Worte eingefchlichtert, verſtummt fein mag, und ohne deren klare Befriedigung die Vorftellung, melde wir über das Wechjelverhältniß zwifchen Leib und Seele uns ausbilden, ftet8 ihres natürlichften Anknüpfungspunktes beraubt haltlos im Leeren ſchweben wird. Nur den Inhalt unferer Antwort, nicht das Beftreben eine zu geben, Tünnen wir dem Tadel und Wider- ſpruch überlafien. Er wird ihn veichlih und in verſchiedenen Formen bon jener Anfiht ernten, welche die Seele mit gleicher allgegenwärtiger Wirkſamkeit durch den ganzen Körper ausgegoſ⸗ fen denft, an Ort und Stelle die Eindrüde aufnehmend, wie fie geſchehen, und die Anregungen ertbeilend, die ihren Zwecken ent- ſprechen. Wenn indeflen die Tauglichkeit einer Vorftellungsweife an ihrer Webereinftiummung mit den Tchatfachen der Beobachtung abgemefjen werben darf, fo glaube ich nicht, daß wir den Angriff biefer Gegnerin zu ſcheuen haben. Bedarf fie jenes Schlußpunk⸗ te8 des ganzen Nervengewölbes nicht, welchen die Anatomie nicht finden konnte, fo hat fie Dagegen noch nie überzeugend nachzuwei⸗ fen gewußt, wozu fie überhaupt noch des Nervenſyſtems felbft be- Darf, welches die Beobachtung nun einmal findet: es ift ihr nicht gelungen zu zeigen, wie dieſe iiberall verbreitete Seele dazu komme, ihre einzelnen Eindrüde auf beftimmte Raumpunfte zu beziehen, und fi ein Bild des Körpers zu entwerfen, durch den fie ergof- fen ift; fie hat endlich nie den Widerſpruch der Erfahrung befei- tigen können, welche uns nun einmal lehrt, daß nur nach vollen- beter Fortleitung zu den Gentralorganen die Erregungen des Kör⸗ pers fir das Bewußtſein, nur nach vwollendeter Leitung in ent- gegengefegter Richtung die Antriebe der Seele für den Körper vorhanden find. Weit mehr im Kampf gegen die Thatfachen der Beobachtung als durch fie unterftüßt, ſucht dieſe Anficht nur die vorgefaßte Meinung von der nothwendigen Einheit des Körpers

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und der Seele durchzufegen und im Gefühl des Werthes dieſer höheren Auffaffung wendet fie jelten andere Waffen, als die des Spotted, gegen die Borftellungsweife, die wir bisher vertheidigten. Alſo aus Leib und Seele, wird fie uns einwerfen, foll wie aus zwei getrennten Beftandftüden unfere Perſonlichkeit beftehen? Und an einem einzelnen Punkte fol, wie ein menſchlicher Richter, die Seele auf hohem Throne figen, den Parteien und Zeugen zu- hörend, die ihr melden, mas in ihrem Körper gefchah, und was fie unmittelbar wahrzunehmen nicht im Stande war? Man wird leicht fi diefe Einreden weiter ausmalen, aber man wird zugleich bemerken, daß fie felbft ſchon bis hierher zu viel ausmalten; denn in der That zu diefem Alfo Haben wir feine Beranlaffung gegeben. Natürlich nicht aus Leib und Seele laſſen wir unjere Perfönlichleit zufammengefegt fein, fondern überall, wo wir in firengem Sinne des Wortes unjer wahres Weſen ſuchen, find wir uns bewußt geweſen, es ausfchließlih in der Seele zu finden, und nie haben wir den Körper für mehr, als für das vertrau- tefte Stüd der Außenwelt gehalten, das eine höhere Macht uns inniger zum Eigenthum gegeben bat, als unfere eigne Arbeit jemals Fremdes und anzufchließen vermag. Und an jenem Sie der Seele, was können wir zulegt Unpafjendes finden, wenn wir in aller Stille den hohen Thron und das ganze Genrebild der Gerichtsverhandlung bei Seite räumen, Zuthaten, die nur die ge⸗ fällige Phantafte der Gegner uns ſchenkte? Da es nım doch ein- mal nicht fo ift, daß unfere Seele allwiſſend die Ereigniffe in der Entfernung wahrnähme oder allmächtig in bie Weite hinaus wirkte, was verlieren wir doch, wenn wir dieſe Thatſache aufrichtig zu⸗ geben und den Umkreis der unmittelbaren Wechſelwirkungen zwiſchen Körper und Seele auf einen Theil der Centralorgane befchränfen ? Wenn die Seele die Leifeften Erzitterungen des Leibes durch mit- telbare Fortpflanzung berfelben in fi aufnimmt und mit den zarteften Abwechſelungen der Empfindungen und Geflihle begleitet; wenn umgelehrt das Getriebe bes Körpers jede flüchtige Erre⸗ gung, welde die Seele einem feiner Punkte an zu aus⸗ Zope I. 4. Aufl.

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drucksvoller Bewegung ausgejtaltet: was vermiflen wir dann eigentlih? Und was würden wir im Grunde gewonnen haben durch Die entgegengefete Meberzeugung, daß die Seele felbft fich mitfrämmt in dem gekrümmten Yeigefinger, durch den wir Se- mand Ioden, oder fi mitballt in der ballenden Fauſt, durch Die wir ihn hernach nieverichlagen ?

Drittes Kapitel.

Formen der Wechſelwirkung zwiſchen Leib und Seele.

Organ ber Seele. Organ ber Raumanfhauung. Korperliche Begründung ber Gefühle. Höhere Autelligenz, fittliche8 und äſthetiſches Urtheil. Organ des Gedächtniſſes. Schlaf und Bewußtloſigkeit. Einfluß Förperlicher Zuflände auf den Borftellungslauf. Gentralorgan ber Bewegung. Reflexbewegungen. Angeüdte Rücdwirkungsformen. Theilbarkeit ber Seele. Phrenologie Hemmung bed Geiſtes durch die Verbindung mit bem Körper.

Wenn man den Aufforderungen des Materialismus zu ent- gehen fucht, und doch die offenbare Thatfache nicht leugnen kann, baß die Möglichkeit der Ausübung geiftiger Fähigkeiten in hohem Grade von dem unverjehrten Zufammenbang und dem unverlet- ten Bau des Gehirns abhängig ift: fo pflegt man gemöhnlich zu dem Ausweg zu flüchten, diefen weſentlichen Körpertbeil doch nur als das Organ der Seele zu betrachten. Sie felbft fahre fort, als das überfinnliche einfache Wefen zu beſtehen, ausgeftattet mit Fähigkeiten, die wir kennen gelernt haben; nur zur Ausübung berfelben bebürfe fie der Werkzeuge, welche die Organifation ihr in dem Baue bed Gehirns vorbereitet Darbiete.

Ich babe ſchon öfter meine Ueberzeugung ausgefprodhen, daß unfere Kenntniß des geiftigen Lebens Feine Fortſchritte machen wird, fo Lange man glauben wird, mit einer jo ſehr gedankenloſen Borftellung, wie es dieſe von den Drganen der Seele ift, etwas geleiftet zu haben. Nicht einmal den Materinlismus wird man

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durch fie an Klarheit libertreffen. Denn abgeſehen von der all» gemeinen Unbegreiflichleit, wie e8 ibm überhaupt gelingen könne, geiftige Wirkungen an körperliche Mafjen zu Inüpfen, ift ev darin wenigften® klar, daß er das Gehirn als das Handelnde, Deufen und Empfinden Fühlen und Wollen unmittelbar als die Leiftun- gen dieſes Handelnden bezeichnet. Dies einfache Verhältniß ver: ftehen wir; was es Dagegen heißen folle, daß nicht das Gehirn felbit, fondern die Seele durch das Gehirn fühle denke oder wolle, das bedarf offenbar einer Aufflärung; denn jedes ſolche Durch ift für einen wifjenfchaftlic erzogenen Berftand ein Räthjel, wel⸗ ches gelöft fein will, während Die Schwärmerei höherer Anfichten der Dinge fat immer in der Unflarheit folder Bermittlungs- verhältnifje die Löſung aller Räthſel jelbft zu finden glaubt. Wo bon einem Werkzeug die Rede ift, da werben wir uns immer fragen müſſen, Durch welchen Mangel feiner eignen Kraft der⸗ jenige, der fich befjelben bedienen foll, zu feiner Benutzung ge⸗ nöthigt wird; durch welche Vorzüge ferner dies zur Hilfe gezo: gene Mittel die Mängel der benutzenden Kraft fo ausgleichen kann, daß fie fähig wird zu einer Leiftung, welche ohne dies ihr unausführbar geweſen wäre; auf melde Weile endlich der Ge- brauchende ſich des Werkzeuges zu bemächtigen und es für bie Zwede feiner Abſicht fruchtbar zu handhaben verftehen wird. Diefe Fragen hat man fich felten vorgelegt, und wenn wir die große Menge der Organe des Vorftellend des Dentens des Wollens überbliden, bon denen man fo oft leichtbin, freilich ohne fie näher zu ſchildern, geiprochen bat, jo können wir nicht zweifeln, daß viele unter ihnen find, welche der Seele gerade das möglich, maden follen, wozu ſie feiner fremden Hilfe bebarf, viele ferner, die das gar nicht leiften Könnten, wozu man fie beruft, manche endlich, von denen man nicht begriffe, wie ibre an ſich viel- leicht nliglihe Einrihtung jemals zur Verfügung der Seele ge- bracht werden könnte.

Die geringere Sorgfalt, welche man bisher auf die Ber: dentlihung deſſen verwandt hat, was man eigentlich von dem

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Körper für die Aufgaben dev Seele an Unterftügung und Hilfe: leiftung zu erwarten und zu verlangen berechtigt ift, bat ber richtigen Deutung der Centralorgane immer als eine befondere Schwierigfeit entgegengeftanden. Und wir werben nicht im Stande fein, diefe Hinderniffe einer gedeihlichen Unterfuhung ſchnell bin- wegzuräumen. Denn wie leiht wir auch Einiges ausſcheiden fönnen, was wir nur als eingeborene Thätigleit der Seele be- trachten dürfen und wofür nad einem Organ zu fuchen thöricht fein würde, fo können wir nur felten den ganzen Umfang der fleinen Beihilfen überfehen, bie einer Fähigkeit doch nöthig find, um ihre Ausübung in Webereinftinnnung mit der äußeren Welt zu lenfen, von welder die Seele nur durch die Bermittlung förperlicher Werkzeuge Kunde bat. So Tann es mittelbar doch leibliche Organe geben für Verrihtungen, die ihrem wefentlichen Charakter nach aller körperlichen Unterftügung unfähig und unbe⸗ dürftig find. Nur wenig werden wir baber im Stande fein, aus unferer Kenntniß des geiftigen Lebens heraus im Voraus bie Werkzeuge vollftändig zu beitimmen, welche die Organifation zu feinem Dienfte ftelen muß. Aber nachdem fo oft von den ver- fchiedenften Seiten her die mannigfachſten Anläufe zur Erflärung des vorhandenen Baues gemacht worden find, reizt und Doc dieſer Verſuch, nicht jo ſehr um der Aufichlüffe willen, die wir von ihm über die Beltimmung der einzelnen Gebirntheile zu er- halten hofften, al8 um der Beranlaffung willen, Die er ung gibt, die äußerft mannigfachen Formen des wechjelfeitigen Ein- flufles zwiſchen Körper und Seele zu durchmuſtern.

Ich babe kaum nöthig, von dem Anfange des geiftigen Le bens, von der Empfindung, noch einmal ausführlicher zu ſprechen. Nichts ſcheint der Körper für fie leiften zu können, als daß er. die äußeren Eindrüde aufnimmt und fie in einer fiir die leichte und genaue Fortleitung günftigen Zorn dem Wirkungsfreife ber

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Seele räumlich nähert. Welches auch die phyſiſchen Vorgänge fein mögen, welche die Sinnesnerven durchkreiſen: ihre Umfegung in die Empfindungen der Yarbe des Toned oder des Geruches kann nie durch ein neues zwilchen fie und die Seele eingefcho- benes Organ erleichtert werden. Denn alle Arbeit eines folchen würde doch immer nur die eine Form nervöſer Erregung in eine andere verwandeln können, aber niemals die Kluft verkleinern, die zwiſchen allen phyſiſchen Bewegungen als folden und den Empfindungen felbft al8 Zuſtänden des Bewußtſeins beftchen bliebe. Und eben fo wenig werben alle jene Aeuferungen des beziehenden Wiflens, welche fi auf eine Vergleichung der gege- benen Empfindungsinhalte beſchränken, einer Krperlichen Unter- ftüßung bebürftig oder fähig fein. Um die größere oder geringere Berwandtichaft zweier Farben oder Töne, oder die Unterſchiede in der Stärke der Eindrüde zu beurtheilen, bedarf das Bewußtſein Nichts, als dieſe Elemente felbit, die es vergleichen fol, und außer ihnen nur jene Fähigkeit des beziehenden Uebergehens, die wir unter allen Leiftungen des geiftigen Lebens am wenigiten auf phyſiſche Wirkungen zurüdführbar gefunden haben. So Iange daher nicht andere Aufgaben binzutreten, würden wir leine Ber- anlaffung haben, ein Gentralorgan der Sinnlichkeit zu erwarten, bon deſſen vorgängiger Verarbeitung der Eindrüde die Seele in ihrer eignen Verwerthung derſelben abhängig wäre; nur zulet- tender Kanäle würde fie bedürfen, welche die einzelnen Reize ihr zuführen und fie befähigen, ihre Empfindungen in einer Reihen- folge zu entwideln, welche den Abwechfelungen in dem Thatbe⸗ ftande der Außenwelt entfpriht. Aber zwei andere Aufgaben laſſen fih neben dieſer einfacheren unterfcheiden: die räumliche Anordnung der Sinnedeindrüde in unferer Auſchauung, umd Die Wahrnehmung der Gefühlswerthe, welche theils den einzelnen, theil® beftimmten Verbindungen mehrerer von ihnen zulommen. Für beide Leiftungen bebarf die Seele körperlicher Beihilfe, Wir haben gefehen, auf welche Vorausfegung die Möglid- feit einer räumlichen Anſchauung mit Nothwendigkeit zurückführt:

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jedem einzelnen Eindrude, jedem Farbenpunkt der Netzhaut, jedem Berührungsgefühle der Haut mußte ein eigenthlimlicher Neben- eindrud hinzugefügt werden, welcher, ohne den Inbalt diefer Em⸗ pfindung zu ändern, nur als Localzeihen die Stelle ihres Ur⸗ fprunges bezeugt. Diefer nothwendigen Forderung fügen wir jegt eine Bermuthung über die Form hinzu, in welder wir glauben, daß fie wenigſtens für den Gefichtsfinn erfüllt fei. Nur eine fehr Heine Stelle in der Mitte der Netzhaut gewährt uns vollkommen ſcharfe Wahrnehmungen; undeutlich erfcheinen alle Gegenftände, deren Bilder neben dieſer Stelle auf die feitlichen Gegenden der Netzhaut fallen. Allein jeder ftärkere Einbrud, welcher einen von diefen minder benorzugten Orten trifft, erweckt unmwilltürlich eine Bewegung des Auges, durch welche wir ihm unjern vollen Blick zuwenden, und jo das Bild, welches er er- zeugte, auf jene Stelle des deutlichſten Sehens überführen. Aber nach feiner befonderen Lage wird jeder diefer feitlichen Punkte der Netzhaut eine ihm allein eigenthümliche Größe und Richtung ber Bewegung des Auges erfordern, damit den Strahlen, die früher auf ibm fich zu einem unbeutlicheren Bilde vereinigten, dieſe Stelle der deutlichſten Wahrnehmung als auffangende Fläche un⸗ tergeichoben werde. Die Erfüllung diefer Forderung fegt voraus, daß jede der einzelnen Fafern, Deren Enden in der Netzhaut bie Lichteindrlide aufnehmen, in einer ihr allein eigenthümlichen Art und Größe ihre Erregungen auf die verfdjievenen motorifchen Nervenfäden übertragen könne, von deren mannigfach abgeftuften Zuſammenwirken die Weite und Richtung der Angenbemegungen abhängen.

Geftatten wir und nun die Vermuthung, daß eine jolde Wechſelwirkung zwifchen ben reizaufnehmenven und den bemegung- erzeugenden Nerven der Augen filr die Begründung der Raum- anſchauungen benutt fei, jo würde die vielfache und reichgeglie⸗ berte Verflechtung der Fäden beider Gattungen, wie wir fie für diefen Zweck vorausfegen müßten, uns ganz das Bild eines eigen- tbümlihen Gentralorgans der räumliden Anſchauung

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gewähren. Jede einzelne gereizte Stelle ver Nethaut würde dann vermöge ber befonderen Art, in welcher die von ihr entipringende Safer mit den motorifhen Fäden verbunden ift, einen ihr aus— Ichlieglich zugehörigen Bewegungsantrieb in Diefem Organe erzeu- gen, von welchem bie Seele auch dann, wenn ihm Ferne wirkliche Bewegung bed Auges nachfolgt, einen irgendwie geftalteten Ein- drud erfahren kann. Dieſer Eindrud endlich, der nicht nothwen⸗ big felbit ein vom Bewußtſein wahrgenommener Vorgang zu fein braucht, fondern zu jenen unbewußten Zuftänden gehören Tann, deren Einfluß auf die Seele dennoch groß ift: dieſer Eindrud würde das Localzeichen fein, nad; beffen Anleitung die Seele dem Farbenpunkte, mit welchen er verbunden ift, feine Lage zu allen übrigen, mithin feine fefte Stelle in dem Raume ihrer Anfchauung zumeift. Wir müfjen es den ausführlichen Unterfuchungen ber mebicinifchen Pſychologie überlafien, theils die zahlreichen Schwie- rigfeiten hinmwegzuräumen, die im Einzelnen diefer vermidelte Zu- fammenhang .Darbietet, theils nachzuweiſen, daß in der That ein Syſtem folder Bewegungsantriebe alle jene Feinheit und Biel- feitigfeit der Abftufung und der Verwandtſchaft zwiſchen den ein- zelnen Localzeichen darbieten würde, wie fie Die Schärfe unferer räumlichen Gefihtsmahrnehmungen vorausfegt. Unſere Abjicht fonnte bier nur die fein, an dem Beifpiele dieſer Anficht, deren Inhalt bei aller Wahrjcheinlichfeit, welche er für und befitt, doc nicht Thatfache, fondern Vermuthung ift, ein Bild der Vorftellung zu geben, Die wir uns auf dieſe oder andere Weiſe im Wejent- lichen immer ähnlich von der Begründung unferer räumlichen An- ſchauung werden machen müfjen. Welche andere Vorſtellungsweiſe man aud immer im Einzelnen zulegt vorziehen möchte, ınan wird nicht von der Nothwendigkeit abkommen, für dieſe Leiftung unferer geiftigen Thätigfeit ein vorarbeitendes Gentralorgan anzunehmen, und wir tragen Tein Bedenken zuzugeftehen, daß wir einen be= trächtlichen Maſſenantheil des Gehirns allein für dieſen Zmwed beſtimmt glauben.

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Die Gefühle der Luft und Unluft, melde theils die einzelnen Empfindungen begleiten, theil® aus der vergleichenden Zufammenfaffung mehrerer entftehen, ſehen wir zu auffällig nad dem Stande des körperlichen Befindens ſchwanken, als daß wir ihren Urfprung ganz allein in ber werthempfindenden Thätigleit ber Seele fuchen möchten. In jehr vielen Fällen allerdings än- dern krankhafte Verſtimmungen nit nur das Gefühl, fondern auch den Inhalt der Empfindung, an die es fi knüpft; es iſt nicht derſelbe Geſchmack, den der Kranke widrig und der Gefunde angenehm findet; und in folden Fällen könnten wir vermuthen, daß Die Seele über den Einvrud, den ihr der Sinnesnerv wirk⸗ lich zuführt, immer nad denfelben Gefegen ihrer eignen Natur urtheilt, ohne dazu nody der maßgebenden Dazwiſchenkunft eines förperliden Organs zu bebürfen. Aber häufig bleibt doch auch der Inhalt der Wahrnehmung unverändert und doch wechſelt die Größe und Art des Gefühles, melde er erweckt. Gewiß wird nun au bier oft die Lebhaftigleit der Theilnahme, die wir ihm zuwenden, durch den allgemeinen Charakter der eben vorhandenen Gemüthsftimmung, die aus rein geiftigen Anläfjen entftanden fen ann, bald erhöht, bald herabgefegt, und zu denjelben Harmonien der Töne, zu denfelben Zufammenftellungen der Farben fühlen wir und wahrſcheinlich nur aus folden Gründen bald mehr bald we⸗ niger wahlverwandt geftimmt. Dennoch bleibt fowohl in Bezug auf die Stärfe als auf die Färbung unferer Gefühle eine Ber- änderlichfeit unſeres Ergriffenwerdens übrig, welche wir mit Wahr- ſcheinlichkeit nur Davon ableiten Finnen, daß die Vebereinftimmung oder der Widerftreit, in welchem fich die Erregungen der Nerven mit den Bedingungen unfere® Lebens befinden, erft an einer be= fonderen Nachwirkung gemefjen wird, welche nicht immer der wirt: lich erlittenen Störung oder Förderung richtig entfprechend erfolgt.

Nah der Einathmung von Aether oder Chloroform erliſcht nicht immer mit dem Gefühl zugleih das Bewußtfein; es ift im Anfange den Beläubten zuweilen möglich, mit ziemlicher Genauig- feit die einzelnen Vorgänge einer chirurgifchen Operation mwahr-

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zunehmen, welder fie unterworfen werben; aber fie fühlen den Schmerz derſelben nit. Auch in anderen Berftimmungen des Nerveniyitems fühlen wir uns zuweilen von der eigenthümlichen Affectlofigkeit unferer Eindrücke beängftigt, die. mit aller Deut- lichleit aufgefaßt uns doch kaum als unfere eignen Zuſtände er- feinen; fo wenig find fie von dem Gefühle des Ergriffenfeins begleitet, welches im gefunden Leben jebe unferer Empfindungen in angemeflenem Grade mit fi führt. Hier ſcheint es nun, als wenn zwar Die Leitung der Äußeren Reize bis zu jenem Punkte ununterbroden wäre, wo fie durch Wechſelwirkung mit der Seele in bewußte gleichgiltige Wahrnehmungen umgefegt werben, aber als wenn zugleich ihre Fortpflanzung bis zu einem anderen Punkte geheınmt wäre, an welden anjchlagend fie jene eigenthümliche Reſonanz ermweden müßten, deren Rückwirkung in der Seele erft das begleitende Gefühl erwedt. Die genauere Unterfuchung würde jedoch nach den Thatſachen, welde die Erfahrung bisher Tennen gelehrt bat, die Frage nicht völlig entfcheiven Können, ob wir in der That in diefem Sinne ein eigenthümliches Centralorgan des Gefühles anzımehmen haben, oder ob nicht eine andere Form körperlicher Mitwirkung die vorkommenden Eriheinungen ebenfalls erflären würde.

Aber nicht ohne Interefje würde eine Nachforſchung nach den Grenzen fein, innerhalb welcher überhaupt die Gefühle dieſer Mit- wirkung bebirfen. Beruht das Wohlgefallen an den confontrenden Accorden der Töne auf einer Bergleihung der entjtandenen Ton⸗ empfindungen allein, fo daß Die Seele ſelbſt, jedes Körpers entledigt, noch fortfahren würde, Diefelben Accorde ſchön zu finden, falls es möglich wäre, ihr die erneuerte Empfindung derſelben zu verichaffen? Oder fühlt die Seele in diefem MWohlgefallen nur die gimftige Nebenwirkung, welche gerade diefe Verbindung von Tönen auf einen anderen Theil ihrer leiblichen Organifation ansübt, fo daß ihr Genuß nur von eimem nebenberlaufenden Nuten, nicht von den eignen inneren Berwandtichaften biefer Ton⸗ gruppe berrührte und mithin unmöglich würde, wenn mit ber

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Brperlihen Grundlage auch die Möglichkeit, ihr wohlzuthun, hin⸗ wegfiele? Diefe ragen find unlösbar fiir jegt und ftatt ihrer Beantwortung, deren Werth für die Auffafjung bes ganzen gei- ſtigen Lebens fchon dieſes eine Beifpiel binlänglich erkennen Läft, miüffen wir uns vorläufig mit der Ueberzeugung begnügen, daß die Lebhaftigfeit und Wärme unferer Gefühle und damit Die ganze Geftaltung unferer Gemüthäwelt von dem Einfluffe der leiblichen DOrganifation jedenfalls in hohem Grade abhängig ift.

Durch die genaue Weberlieferung der äußeren Eindrücke durch bie Lebhaftigkeit der Geflihle, welche fich am jede einzelne Empfin- dung und an ihre Berbindungen mit andern knüpfen, durch alle diefe Leiftungen arbeiten die körperlichen Organe aud jenen höhe⸗ ren Thätigleiten des Geiſtes vor, durch welche feine verftändige und vernünftige Erkenntniß das Ganze einer geordneten Welt- auffaffung hervorbringt. Aber in dieſer Vorbereitung des Ma⸗ terial8, an welchem die Seele die Kräfte ihres beziehenden Wif- ſens ausüben foll, jcheint auch der einzige Beitrag zu befteben, den die Berrichtungen des Körpers fir dieſe höheren Aufgaben des Seelenlebens darbieten können; ihre fung felbft wird ber eignen Thätigleit des Geiſtes überlaſſen bleiben. Spricht man bon Organen des Berftandes oder ber Vernunft, von Werkzeugen bes Denkens und der Beurtheilung, fo geftehen wir, weder von dem Bedürfniß, welches zu folden Annahmen führen Ünnte, noch von der Art des Nutzens eine Ahnung zu baben, welchen das Vorhandenſein aller diefer Inftruumentation für das höhere geiftige Xeben gewähren könnte. Keine jener beziehenden Thätigfetten, aus deren unerſchöpflich mannigfacher Wiederholung alle unfere Erfenntniß hervorgeht, wird im Mindeſten durch bie Mitwirkung einer körperlichen Kraft beförbert werben können; aber die Möglichkeit einer jeden wird davon abhängen, daß ihr die Beziehungspunfte, welche fie vergleichen fol, das Material

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ihrer Arbeit durch die Sinne und folglich durch die Beihilfe der körperlichen Verrichtungen pafjend und richtig dargeboten werbe, So hängt die Blüthe des geiftigen Lebens, was nie geleugnet worden ift, durch taufend Wurzeln mittelbar mit dem Boden des leiblichen Dafeins zufammen ; aber außer der allgemeinen Nah⸗ rung, welde er barbietet, treibt der Boden nicht noch ein bes fondere8 Organ in die Höhe, deſſen die Pflanze fich bedienen müßte, um zu blüben.

Wenden wir uns ferner zu der fittlihen Beurtheilung von Handlungen, jo Binnen wir zugeben, daß aud fie mittelbar ſehr gemwichtig mit beftimmt wird durch Die Genauigfeit, mit mwel- her unfere finnlihe Auffafjung einen Thatbeſtand barftellt, und duch die Lebhaftigkeit, mit welcher nach der beftänbigen ober augenblidlichen Stimmung unferes körperlichen Befindens ſich theil® andere Vorſtellungen umflchtiger oder verworrener an dieſen That⸗ beftand anknüpfen, theild Gefühle feinen Werth meflend ſich ent- wideln. Aber dennoch wird feine Erregung eines Törperlichen Drganes der Seele in dem weſentlichſten Punkte, in der Fällung des moralifchen Urtheiles felbit beiftehen können; die Mithilfe der Nerven wird ſtets nur den angenehmen oder unangenehmen Ge- fühlswerth der betrachteten Handlung für das perjönliche Leben des Beurtheilenden, aber niemals die von aller perfönlichen Luft und Unluſt entblößte Beurtheilung ihrer fittlihen Güte oder Schlechtigkeit begründen Binnen. Wie wenig wir deshalb auch leug⸗

nen können, daß in mur zu hohem Maße jene Einwirkungen ber

törperlichen Thätigkeiten in Wirklichkeit unfer moralifches Urtheil lenken und verbüftern, fo haben wir body nirgend Grund, dieſem zu feiner eigenthümlichen Leiftung die gefährliche Hilfe eines eignen leiblichen Organs aufzubringen. Und ebenfo mag ein großer Theil des Eindrudes, den uns ſchöne Gegenftände erweden, auf einer gefälligen und übereinftimmenden Erregung unjerer Nerven beruben. Aber wer in dem äftbetifhen Gefühle neben dem ge⸗ wiß nicht fehlenden Antheil perſönlichen Wohlgefühles noch eine unabhängige Verehrung und Werthihägung des Schönen fieht,

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wird nun auch dieſes Mehr einzig der Seele zurechnen müſſen. Der Schauer ber Erhabenheit, das Lachen tiber komiſche Vorfälle, fie werben beide gewiß nicht durch eine Webertragung der phufi= fen Erregungen unferer Augen an die Nerven der Haut ober bes Zwerchfelles erzeugt, fondern dadurch, daß der Inhalt bes Geſehenen in eine Welt der Gedanken aufgenommen und in dem Werthe erkannt wird, den er in dem vernünftigen Zufammen- hange der Dinge bat. An die geiftige Stimmung, die hieraus fi entwidelt, bat der Mechanismus unferes Lebens jenen kör⸗ perlihen Ausdruck geknüpft, aber ber Törperlidhe Eindruck würde für fi ohne jenes Verſtändniß deffen, was er Darbietet, niemals diefe Stimmung erzeugen. Wie groß daher auch und wie biel- geftaltig die Mitwirkung der Törperliden Functionen fir das höhere Geiftesleben fein mag, fo befteht fie doch gewiß nicht darin, daß diefem befondere Werkeuge für das Eigenthimlichfte feiner Leiftungen zugeordnet wären, fondern nur darin, daß zur Ber- wirflihung mander mittelbar nothwendigen Vorbebingungen bie- fer Leiftungen die ungeſchmälerte Thätigkeit vielfacher vorbereiten- der Drgane erforderlich ift.

Zu diejen Borbedingungen gehört nit nur die Zuleitung augenblicklich einwirkender Eindrücke, fondern auch Die Feſthaltung vergangener, ihr Wiedererſcheinen im Bewußtſein, jener ganze be⸗ wegliche Ablauf der Vorſtellungen, durch deſſen Zuſammenhang unſer Leben Einheit, unſere Handlungen beſtändige Ziele errei— chen. Haben wir eben die höheren Thätigleiten des Geiſtes un⸗ abhängig von dem Körper zu faſſen geſucht, ſo würden ſie in eine gleich tiefe Abhängigkeit zurüdfallen, wenn die Erhaltung dieſer Grundlage, aus welder fie auftauchen, den phufiichen Gegenwir⸗ ungen des Drganismus überlaffen wäre. Je nachdem das Or⸗ gan des Gedächtniſſes mehr oder weniger treu und dauer⸗ haft den Gewinn des früheren Lebens fefthielte, je gelenkiger und

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elaftifcher die nervöſen Erzitterungen verliefen, durch welche die im Gehirn erhaltenen Nachbilder vergangener Eindrücke einander wechjelfeitig beleben: um fo reiner und reicher oder um fo mehr verbüftert und eng würde in jedem Augenblid unfer Bewußtſein von dem Zuſammenhang unſeres Lebens, unferer Pflichten und Hoffnumgen fein. Oder vielmehr Tem folder Zuſammenhang wiürbe überhaupt ftattfinden, ſondern vereinzelt wiirde in jedem Augenblid die Seele die Vorftellung, das Gefühl oder die Stre- bung entfalten, welche ihr die eben wieder erwachende Körperliche Anregung geböte; ohne die eigne Fähigkeit, auch in ihrem In⸗ nern jelbft das Vergangene zu dem Gegenwärtigen aufbewahren berüberzuziehen, Tunte fie ſelbſt durch den Heinften Zeitraum hindurch die Stetigfeit eines einzigen Gedankens nicht erzeugen, defien ganzer Sinn erft durch die Aufeinanderfolge mehrerer Vor⸗ ftellungen vollftändig würde. In der That nun bängt ohne Zweifel au unfer Borftellungslauf mittelbar in großer Ausbeh- nung von der beftändigen Einwirkung der körperlichen Vorgänge ab; der Annahme eines befonderen Gedächtnigorganes jedoch, auch) wenn es nur als unterſtützendes Hilfsmittel für die eigne Er- innerungsfäbigteit der Seele gelten follte, ftehen größere Schwie- rigleiten entgegen, al8 man gemeinhin anzunehmen pflegt. ‘Dem Einwurf, daß die Maſſe des Gehirns, ohnehin nicht beftändig, fondern einer langſamen Erneuerung gewiß unterworfen, nicht obne Verwirrung die eingeprägten Nachbilder unzäbliger Eindrüde zu ſpäterem Wiedergebraud aufbewahren könne, begegnet man zwar ſcheinbar, aber doch nicht triftig mit dem Hinweis auf die un- zähligen Wellenbewegungen der Töne und ber farbigen Lichter, Die ohne gegenfeitige Störung denſelben Luftraum gleichzeitig durchkreuzen können.

Wenn unfer Blid eine kurze Zeit unverwandt auf Die Sonne gerichtet war, dann bleibt von ihr uns ein ſcharf umfchriebenes kreisförmiges Nachbild auch bei gefchloffenem Auge zurüd; denn während der ganzen kurzen Dauer jenes Blickes wurden diefelben nebeneinanderliegenden Punkte der Neghaut von den Strahlen

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getroffen; in demfelben Kreife aneinanderftoßender Nervenfafern zittert die Nachwirkung fort, und fo erhält uns die gegenfeitige Lage der gereizten Theile die runde Geftalt und die Größe bes Bildes. Sehen wir dagegen die Geftalt eines Menſchen auf ums zulommen, fo dehnt mit jedem Schritte ihrer Annäherung ihr Bild auf unferer Neshaut fich vergrößernd aus; Taum ein ein- ziger Punkt der ganzen Geftalt bildet fih im nächſten Augenblid auf derfelben Stelle des Auges ab, auf welcher e8 im vorigen geſchah; nicht ein einziges Nachbild, fondern unzählige von einander verſchiedene würden uns zurückbleiben, wenn in der That umfere Nervenorgane jeden Eindrud eines Augenblides in dauernden Spuren firirten. Und nichts wilrden wir gewinnen, wenn wir meinten, daß erft eine größere Anzahl diefer momentanen Er⸗ vegungen ſich zu einem bejtänbigen bleibenden Nachbilde zufam- menſetzten; denn welches deutliche Bild könnte aus einer Anhäu- fung vieler entftehen, die unter einander zwar in ihren Zügen ähnlich, in ihrer Größe aber fo verichieven wären, daß jebes mit feinen Rändern über das andere herborragte und alle mithin ein- ander mit ungleihartigen Punkten ihrer Zeichnung beiten? Be- obachten wir, wie ganz unter denfelben Berhältnifien Die verſchie⸗ denen ſich in einander fchiebenden Farbenſpectra des Prisma zu eintönigem Grau verihmelgen, jo werden wir gewiß nicht anneb- men können, daß die Wahrnehmungen des Auges auf dieſem Wege bleibende Einvrüde erzeugen, die den Nachbildern ähnlich Form und Farbe gejehener Geftalten aufbewahren. Und doch haben wir bisher dieſe Geftalten noch als unveränderlich in ihren Umriſſen vorausgefegt. Aber wir fehen denfelben Menfchen viel- feiht in taufend verſchiedenen Stellungen und Bewegungen feiner Glieder; welches von all den unzähligen Bildern, bie er fo im unfer Auge warf, ift dasjenige, welches das Gehirn feftbalten wird? Oder follen wir annehmen, daß fle alle aufbewahrt wer- den? Und wenn wir ung vielleiht auch dazu entichlöffen, um welchen Preis würden wir zulegt dieſe Körperliche Verfeftigung der Eindrüde erfauft haben? Doch wohl nur um den Preis der An-

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nahme, daß bei der Kleinheit des Gehirns, welche nicht geftattet, für jedes dieſer zahlloſen Bilder ein eignes Maflentheilden vor⸗ auszuſetzen, dem es inwohne, jedes einzelne einfache Atom eine unendliche Menge verfchiedener Einbrüde ohne gegenfeitige Stö- rung berfelben müſſe in ſich beherbergen können. Daſſelbe Atom, welches in dem Bilde eines Baumes einen grünen Punkt vertritt, wirbe in dem einer Blume einen xothen, in dem bes Himmels einen blauen, in dem jeder einzelnen Menjchengeftalt wieber einen anders gefärbten vertreten, und ohne zu wiſſen, wie es zugehen jollte, müßten wir ferner vorausfegen, daß Die Wiederer- wedung eines einzelnen won biefen Eindrücken in dem einen Die- fer Atome ſtets im dem andern Atom aud nur den beitimmten andern Eindruck weckte, ber mit dem vorigen felber zu ber Ein- beit eines zufanmengebörigen Bildes ftimmt.

Eine foldde Vorſtellungsweiſe würde nur vervielfältigt Dies felbe Annahme enthalten, welche wir ein Mal machen. Wenn jede8 einzelne Atom der Gehirnmaſſe zur unverwmorrenen Aufbe- wahrung unzähliger Eindrücke fähig iſt, warum follte die Seele allein, ein einfaches Weſen gleich jenem, dazu unfähig jein? Wa- rum follte fie allein das Vermögen des Gedächtnifſes und ber Erinnerung nit am fich ſelbſt, nicht ohne Die Unterſtützung eines törperlihen Organs befiten können, ba wir doch jedem Theile dieſes vorausgefegten Organs baffelbe Vermögen unmittelbar und ohne die Zwiſchenſchiebung eines neuen Werkzeuges zuerkennen müfjen? In der That aber müſſen wir vielmehr behaupten, daß nur der ungetheilten Einheit der Seele, nicht einer Mehrheit zu- ſammenwirkender Gehirntheilchen die Aufbewahrung und Wieber- bringung der Eindrücke möglih if. Denn jelbft die Bilder finnlider Wahrnehmungen, welche unferem Gedächtniß zurückblei⸗ ben, find nicht im eigentlichen Sinne Bilder, nicht Zeichnungen bon unverändberlicher Größe Zahl und Stellung ihrer einzelnen Theile; nur das allgemeine Schema vielmehr, die Methode ber Berzeihnung, den Sinn des inneren Zuſammenhanges mannig- faltiger Merkmale hält unfere Seele feft und erzengt daraus in

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den einzelnen Augenbliden der Erinnerung die beſtimmten Bilder wieder, und nicht immer das Bild einer folden Stellung Lage oder Bewegung der Geftalt, welche fie früher ſchon mahrnahm, und von ber ein verfeftigter Eindrud ihr zurlidgeblieben fein Könnte, ſondern der Erfahrung vorgreifend bringt fie mit gleicher Deutlichleit bekannte Figuren in nie beobachteten Verfchiebungen ihrer Umriſſe zur Anſchauung. Aber diefe Aufbewahrung nicht jowohl der mannigfachen Beſtandtheile felbft, als vielmehr der Regel, nach der fie zuſammengeſetzt find, ift eine Handlung bes beziebenden Wiſſens, eine Leiftung ber Seele; jeve Annahme eines Gedächtnißorgans wirde nur dahin führen, außer dem: jenigen Gedächtniß, welches wir unferer Seele felbft dann noch würden züfchreiben müſſen, auch die einzelnen Gehirnatome als Seelen zu betrachten, deren Erinnerungstraft die unfere unterftütte. Und in diefer ganzen Betrachtung haben wir noch völlig abge- fehen von jenen mittelbar erzeugten allgemeineren Borftellungen unfere8 Denkens, die nicht Bilder eines Gegenftandes, ſondern Ausprüde innerer Beziehungen find; der Verſuch, auch ihre Feſt⸗ haltung auf Törperliche Nachbilder zurückzuführen, würde nur die Nothwendigkeit beftätigen, das Gebähtnig zu den urfprünglichften Leiftungen der eignen Natur der Seele zu zählen.

Aber beweifen nicht zahlreiche und ganz alltägliche Erfah⸗ rungen, daß dieſe Weberlegung, welche aus dem Begriffe des Bor- ftellens und Erinnerns die Unmöglichkeit feiner leiblichen Begriün- Dung zu erweifen juchte, dennoch zu einem falichen Ergebniß ge- kommen ift? Sind nicht für dieſe Begrimdbung Beweiſes genug der gewöhnliche Schlaf, die Bemwußtlofigkeit und die zahlreichen Störungen der Erinnerung in Krankheiten? Zeigen dieſe Erſchei⸗ nungen nicht alle, daß jene Leiftungen des geiftigen Lebens nur fo lange ausführbar find, als die körperliche Gefunpheit ihre Werkzeuge unverjehrt erhält? Sp überredend jedoch dieſe Folge- rung fih ausnimmt, fo ift fie dennoch willkürlich und bat eine andere Deutung ber Thatſachen gegen fich.

Wenn in einem vielfach zujammengefegten Syſteme von

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Elementen die Störung des einen Theiles eine beitimmte Ber- richtung aufbebt, fo kaun e8 fein, daß dieſe Verrichtung auf die- ſem Theile als auf ihrem einzigen bewirtenden Grunde beruhte, und nun wegfällt, weil das hinwegfiel, wovon fte erzeugt wurbe; doch ift ebenſo möglich, daß fie in ihrer Erzeugung gar nicht ab- bängig war von dem geftörten Theil, durch die Störung deſſelben aber wie durch ein poſitives Hemmniß verhindert wird. Die legte SDeu- tung bier vorzuziehen, werben wir allerdings zunädhft durch unſere Anfiht von der Natur des Bemußtjeind überhaupt geneigt ge= macht; denn völlig unbegreiflich ſchiene e8 Doch, wie ein körperliches Organ ed anfangen follte, der Seele die Fähigkeit des Bewußt- ſeins mitzutheilen, wenn fie dieſelbe nit in ihrer eignen Natur befäße. Aber auch die Thatfachen der Beobachtung ſprechen zum Theil deutlih für unfere Auffaffung, und nirgends entſchieden gegen fie. Den gewöhnlichen Schlaf von einer Erihöpfung ber Sentralorgane abzuleiten, die zur weiteren Erzeugung des Be- wußtſeins unfähig geworden wären, ift im höchſten Grade un⸗ wahrſcheinlich für Jeden, der ſich erinnert, wie raſch in gefunden Körpern, und wo die Gewöhnung daran vorhanden ift, der Schlum- mer unmittelbar auf den lebhafteften Gebrauch aller geiftigen Fä⸗ higkeiten folgen Tann, und wie wenig, wenn er zufällig unter- brochen wird, dieſe oder die ihnen zu Grunde gelegte Kraft ber Centralorgane ſich wirklich erfchäpft zeigt. Viel überredender ftel- Yen fih die allmählich wachſenden Gefühle der Ermübung als Reize dar, die durch ihre abipannende Unluft die Freude und Theilnahme an der Fortführung des Gedankenganges ſchmälern; und eben fo gibt der ſchlaftrunken Erwachende faum fo jehr Das Bild eines Erſchöpften, deſſen Kräfte ſich wieder ſammeln, al8 den eines Gebundenen, von dem Hemmungen allmählich fich löſen. Brin- gen ſehr heftige Körperfchmerzen plögliche Bewußtloſigkeit hervor, fo mag man in diefem Falle wohl an eine fchnelle Lähmung eined Organs glauben, auf welcher der Wegfall feiner Leiftung, des Bewußtſeins, beruhe; entfteht dieſelbe Ohnmacht aus einer

Ueberraſchung des Gemüthes dur traurige —— , jo weiß Lobe I. 4. Aufl.

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ih nit, warum nicht unmittelbar diefer innere Aufruhr der Seele als ein Hinderniß gelten foll, welches ihr die Fortſetzung des Bewußtſeins augenblidlih unmöglich macht und zugleich bie gewohnte Folgfamleit der Eörperlichen Thätigfeiten gegen ihre Herr- [haft mit aufhebt. Können wir nun bier den geiftigen Schmerz als den hemmenden Reiz anfehen, welder die ftetS vorhandene Vähigfeit des Bewußtſeins an ihrer Aeußerung hindert, warum fol nit in dem vorigen Falle der Körperliche Schmerz dieſelbe Wirkung haben? Auch er ift ja nicht blos die leibliche Störung, bon welcher er ausgeht, fondern als Gefühl ift er ein Zuſtand des Bewußtſeins, und zwar ein folder Zuftand, von deſſen ge- vingeren Graden wir wirklich noch in uns felbft beobachten kön- nen, wie fehr fie Die Fortfegung jedes Gedankenganges durch ihren übermwältigenden Eindrud und durch die Abfpannung des Intere- ſes für alles Andere beeinträchtigen. Wir müffen endlich hinzu— fügen, daß Teinesmeges alle Einflüffe, weldhe der Körper auf die Seele vielleicht mit großer Gewalt ausübt, ſtets von der Art fein müffen, daß fie in unferem Bewußtſein deutliche Wahrnehmungen und Gefühle veranlaffen; vielmehr wie Die Brperlichen Reize in der Em⸗ pfindung eine Aeußerung des Bemußtfeins hervorrufen, ebenſowohl kann ihre Wirkung die entgegengefette fein, und das Bewußtſein kann plöglich ſchwinden unter einem Eindrude, der entweder ganz verborgen bleibt, oder von der fliehenden Befinnung nur noch unter der Form wenig lebhafter frembartiger unfagbarer Gefühle empfunden wird.

Wir können nicht finden, daß die mannigfadhen Arten ber Bemußtlofigfeit noch eine andere Erklärung bedürfen, als biefe; nit das Bewußtſein braucht erzeugt zu werden durch ein Organ, mit deflen Beihädigung es verginge; aber e8 Tann als eine ein- geborene Fähigfeit der Seele von unzähligen Seiten ber durch Eindrüde gehemmt werden, welche den inneren Zuftand der Seele ungünftig verändern. Weit dunkler find jene halben Störungen bes Gedächtnifjes, welche der Wiedererinnerung einzelne Theile des Erlebten unzugänglid machen, und von denen wir manche ficht- lich verfälfchte Erzählungen aus früherer Zeit befiten, mande

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unbezweifelbare Beifpiele der gewöhnlichften Erfahrung entnehmen können. Wir halten Das Bekenntniß nicht zurüd, daß bier Vieles unenträthjelt bleibt und in den einzelnen Fällen immer bleiben wird; aber wir nehmen von biefen Thatfachen nicht den Eindruck mit, daß fie für eine fpecielle Körperliche Begründung unferer Erinnerung ſprächen.

Betrachten wir au nur den Gedankenlauf unfere8 gefun- den Zuftandes, fo müfjen wir geftehen, daß uns fehr häufig die Triebfedern, welde die eine Vorftellung in unfer Bewußtſein zurüdführten und die Gründe, aus denen eine andere fo lange in ihm fehlte, ganz bunfel bleiben; wir ahnen, baß der Wechiel un- ferer Gedanken nicht blos durch die Verknüpfung der Vorftellungen unter einander gelenkt wird, welche wir beobachtend noch ziemlich verfolgen Können, fondern daß er in hohem Grade von jenen andern weit unbeutlicheren Afjociationen bedingt wird, welche fich in jedem Augenblide zwiſchen dem vorhandenen Borftellungsfreife und bem gleichzeitigen Gemeingefühl unferer körperlichen und gei- fligen Stimmung bilden. Krankheit und Fortſchritt im Lebensalter ändern allmählich oder plöglich dieſes Lebensgefühl; in manchen Ge- dankenkreis der Jugend findet ſich Daher das Alter nicht mehr zurück; denn wenn es aud den Thatbeſtand der Vorftellungen in einigem Umfang wieder erzeugt, fo fehlt doch jest dem Inhalte derfelben die unwiederholbare Stimmung, Die weiter führen follte; in die Träume der Krankheit weiß ebenfo der Genejene ſich nicht zurüdzuverfegen, denn mit dem flechen Gemeingefühl, weldes er überwunden hat, fehlt ihm der Schlüffel zu dem Wege, der zu ihnen führte; fo feßt endlich ein erneuerter Krankheitsanfall die irren Träume des vorigen fort, indem er ihren Anfangspunft, die Störung des Gemeingefühles, wieder erzeugt; fo fühlen wir uns überhaupt zumeilen im Leben, und befonder8 wenn große Erſchütterungen des Gemüthes unfer ganzes Wefen aufgeregt, plöglic von lang- entwöhnten Träumen, von Erinnerungen und Stimmungen über: fallen, denen wir in ber Geſchichte unferes Lebens kaum noch

eine beftimmte Stelle zu geben wifjen. 247

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Jene auffälligen Störungen des Gedächtnifſes, mie fte ſchwere Krankheiten oder Berlegungen erzeugen, fcheinen mir feine weſent— lich anderen Räthſel darzubieten, als diefe Zufälle des verhält- nigmäßig gejunden Lebens; überall würde es darauf ankommen zu zeigen, von welcher Seite her ein hemmender Drud auf die Verbindung ausgeübt wird, durch welche die eben einmwirkenden Eindrüde im gefunden Zuftande die mit ihnen afjociirten Erin- nerungen wieder emporheben würden. Wir können kaum hoffen, daß in irgend einem einzelnen Falle uns dieſer Nachweis voll- kommen gelingen werde; am wenigften aber möchten wir Died an den vorhandenen zahlreihen Geſchichten verſuchen, in denen wir zu oft und zu kenntlich den vielfachen Irrthümern und Lücken begegnen, welche das Vorurtheil des Beobachter oder feine Un- aufmerkſamkeit auf ibm unmwichtig erjcheinende Züge verurſachen. In vielen folder Erzählungen fehen wir die Störung der Erin- nerung aus der Berkehrtheit des ſprachlichen Ausdruckes gefolgert. Aber mit diefer Erſcheinung betreten wir ein bon dem borigen ganz verichievenes Gebiet, in welchem die Seele nicht mehr bei ſich allein bleibt, ſondern körperliche Mittel der Aeuferung zu verwenden ſucht. Dieſe Herrihaft über Stimm- und Sprad- werkzeuge ift gewiß nur durch ein Gentralorgen möglich, in welchem die bewegenden Nerven in folder Weiſe angeordnet und verflodten find, daß der im Bewußtſein ſchwebenden Laut- vorftellung die gleichzeitige Erregung ber zu ihrem Ausſprechen mitwirfenden Faſern geftattet if. Sind die VBermuthungen zu- läffig, welche wir früher über die Entftehungsweife der Bewe⸗— gungen ausbrüdten, jo würden wir leicht begreifen, daß manche krankhafte Berftimmung dieſes Centralorganes die richtige Ueber: tragung jener Erregung verhindern fann. Dann würde der Kranfe mit dem ungetrübten Bemwußtfein des Lautes, den er bilden will, doch zum Ausſprechen eined andern genöthigt, oder zu jedem Ausdrud überhaupt unfähig fein. Diefelbe VBeranlaffung, ein zu- fammenordnendes Centralorgan vorauszufegen, welche wir bier bei der Sprache finden, haben wir jedoch in Bezug auf alle Be-

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wegungen überhaupt, und es ift Zeit, unfere Vorftellungen über ihre Erzeugung bier zum Abſchluß zu bringen.

Daß die Seele weder von den Mitteln der Bewegung, von Muskeln und Nerven, nod von der Art ihrer möglichen Benugung, bon ber Natur des Anſtoßes, welcher den letzteren mitzutheilen tft, oder der Zuſammenziehungsfähigkeit der erfteren eine un- mittelbare Kenntniß befitt, haben wir früher gefehen. Sie kann nichts thun als gemiffe innere Zuftände in fich erzeugen, und erwarten, daß an diefe der Zuſammenhang der Organifation die Entftehung einer beftimmten Bewegung Inüpfen werde. Nicht fie felbft ift die Werkführerin, fondern auf ihr unbelannte Weiſe voll- zieht der Mechanismus des Lebens ihr Gebot. Aber dieſe Ge- bote wenigftend müßte fle zu geben im Stande fein, fie müßte in fih nicht nur einen Grund finden, eine beftimmte Bewegung zu wollen, fondern auch jenen inneren Zuftand in fich erzeugen fönnen, bon meldem die Entftehung derjelben abhängt. Wäre nun die Seele in einen Körper eingeſchloſſen, der nie von felbft fich bemegte, wie würde fie auf den Gedanken fommen, daß er beweg⸗ ih fei, daß Bewegungen nüßen, daß diefe Bewegung von dieſem, jene von jenem inneren Zuftande ihres eignen Wejend erzeugt werden könne? Offenbar ift e8 nicht allein nothwendig, daß der Körper durch eigne Reize ſich von felbit bewege, damit die Seele feine Beränderlichleit bemerfe und e8 Tennen lerne, welchen Ein- drud überhaupt Bewegungen ihr verichaffen, fondern gleich nöthig auch, daß der Äußere Reiz mit mechaniſcher Sicherheit von felbft in dem Körper Diejenigen Bewegungen anvege, die unter den bor= handenen Umftänden zur Bertheidigung des Lebens, zur Aus- gleihung einer Störung, zur Beiriedigung eines Bedürfniſſes zwedmäßig find. Unkundig an fi aller dieſer Verhältniſſe, würde die Seele das Richtige nicht errathen, und felbft die Erfahrung. würde ihr ein zweckmäßiges Verhalten, wenn nicht ein Keim we⸗

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nigften8 dazu ihr fertig gejchenft wäre, entweder niemals oder erſt dann lehren, wenn eine lange Reihe von Mißgeſchick vielleicht das Beftehen der Organifation überhaupt untergraben hätte. ‘Denn gewiß würde e8 um die Erhaltung derfelben übel ftehen, wenn der Scharffinn der Seele in jevem Augenblide die Mittel ent- deden und anwenden jollte, drohenden Störungen zu entgehen; fie wird nur gefihert fein, wenn in gewiſſer Ausdehnung wenig⸗ ftend auch ohne die Mitwirkung der Seele die zweckmäßige Hanb- lung von dem Eindrude der Umftände felbft als nothmwendige Folge ausgelöft wird.

Unfähig zur erften Erfindung wird die Seele dagegen wohl fähig fein zur Vervollkommnung dieſes Mechanismus; indem fie beobachtet, auf welchen Reiz welche Bewegung mit weldem gün- figen Erfolge und mit welchem unmittelbaren Eindrud für fie feröft folgt, wird fie in einem fpäteren Falle nicht mehr den wirklichen Eingriff des Reizes abzuwarten brauden. Sein der Erinnerung wieberfehrendes oder aus der Ferne wahrgenommenes Bild, ſelbſt das Bild nicht defjelben, ſondern eines ähnlichen Reizes wird in der Eeele die Borftellung jenes Eindrudes und damit auch einen unwillkürlichen Trieb zur Wiebererzeugung jener Be: wegung erweden. Wenn daher zunächſt die Seele nur als ohn⸗ mächtiger Beobachter den zwedmäßigen Wirkungen zuſah, buch welche der organiſche Mechanismus die Sicherheit ihres Wohn- fige8 vertheidigte, fo dankt fie ihm doc fpäter dafür, indem fie ihre mannigfachen Fähigfeiten, Vergangenes in der Erinnerung aufzubewahren, Zufünftiges aus früheren Analogien zu erwarten, das gemeinfame Achnlihe aus oberflächlicher Verſchiedenheit her⸗ vorzuheben, unwillkürliche Wirkungen durch Rüdficht auf den er- zielten Erfolg zu verbeffern, nun der Verfeinerung und Vervoll- kommnung jener gewiß ſchon Fünftlichen, aber den Bedürfniſſen des vollen Xebens noch nicht entſprechenden Verkettung zwiſchen Reizen und Rüdwirkungen widmet. Die Langfamleit, mit welder das menſchliche Kind allmählich zur Herrichaft über feine Glieder kommt, in Verbindung mit der äußerft feinen individuellen Aus-

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prägung dieſer Herrſchaft, die ihm doch im Fortſchritt der Bil- dung möglich ift, zeigt und, wie bedeutend bier der mithelfende und veredelnde Einfluß der Seele eingreift: der äußerſt Furze Zeitraum dagegen, den das neugeborene Thier meift bedarf, um die Bewegungsarten feiner Gattung völlig zu erlernen, und die oft komiſche Gleichförmigkeit, mit welcher die jungen Geſchöpfe ohne individuelle Unterſchiede die Sonderbarleiten derjelben ent- wideln, Dies lehrt uns, wie bier umgelehrt eine feftere, früh und füher wirkende Verbindung zwiſchen den Eindrüden bes Gemein- gefühles und den Bewegungen hergeftellt ift.

Beobachten wir die [pielenden zwedlofen Bewegungen junger Thiere und der Kinder, jo muß uns auffallen, wie felten und foft nie ohne befondere Krankheit fi unter ihnen einzelne, zu- fammenbanglofe', unzweckmäßige Zudungen einfinden. Und doch hätte man ſolche erwarten können bei der unzähligen Menge zu— fälliger Eindrüde, welche die Muskeln und die motoriichen Nerven in jedem Punkte ihres Verlaufe treffen können. Aber fie treten nicht auf; vielmehr verrathen felbft die zögerndften und ungeſchick— teften Bewegungen, welche wir wirklich beobachten, dod immer ſchon Die gleichzeitige und zwedmäßige Wirkſamkeit zufanmenge- höriger Musfelgruppen. Wir können es al8 eine Thatfache ber Beobachtung ausſprechen, daß in dem jungen Organismus fchon den zufälligen Reizen, worin fie auch beftehen mögen, bie verein- zelte und zufammenhanglofe Anregung einzelner Bewegungsbrud- ftüde ſchwer, die Herborrufung zufammtenftimmender Bewegungs⸗ gruppen leicht gemadt if. Das erſte vielleicht, aber nicht das zweite ift denfbar ohne ein Centralorgan, in welchem die einzel- nen motoriſchen Nervenfäden fo zufanmengelagert und verflochten find, daß ein einziger Reiz, welcher einen beftimmten Punkt deſ⸗ felben trifft, auf einmal eine Mehrheit von Faſern zu überein- ftimmender Bewegung erregt. Theils das Gehirn, theild ſchon das Rückenmark hat ohne Zweifel unter andern Aufgaben aud die eines ſolchen Centralorganes, und obgleich wir ben beftimm- teren Bau deflelben blos aus den Bebirfniffen des Lebens nicht

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vorauszufagen unternehmen möchten, Können wir doch einen Zug defjelben mit hinveichender Wahrjcheinlichfeit vermuthen, nämlich die beftändige Mitverflehtung zuleitender jenfibler Fafern in das Gewebe der motoriichen.

Die erfte Aufgabe eines motorifchen Centralorganes wiirde darin beftehen, überhaupt Die Bewegungen des Körpers, die der Eigenthümlichfeit feiner Gattung gemäß in dem Baue der Glieder möglich gemacht find, zu wirklicher Ausführung zu bringen. Es würde bierzu hinreichen, daß innere Reize, wäre es felbft nur ber des Blutlaufs, die Elemente des Gentralorganes abwechſelnd oder dauernd zur Thätigleit erregten, und wir würden Dann mit me- hanifher Sicherheit und Regelmäßigkeit jene Elemente aller Be- wegung, das Schreiten Schwimmen liegen und ähnliche, erfol- gen feben. Allein alle dieſe Bewegungsfähigfeiten find dem Thiere doch zum Gebraude in einer widerftehenden Welt gegeben und es muß eine Möglichkeit vorhanden fein, aud ihre eingelnften Abſchnitte ſchon in Webereinftimmung mit den veränderlichen äußeren Umftänden -abzuändern, unter denen fie ausgelibt werden follen. Iſt e8 nun ausfchlieglich das Gefhäft eigenthihnlicher fen- fibler Faſern, von dem veränderlihen Zuſtande der einzelnen Theile Eindrüde aufzunehmen und zu leiten, fo werben wir aud in jenem Gentralorgane eine mannigfache Begegnung fenfibler Faden mit motorifhen erwarten müfjen. Jedes beginnende Un- gleihgemicht des Körpers wird dann durch den neuen Eindrud, den e8 durch die erfteren auf die leßteren überträgt, eine paffende Rückwirkung zur Herftellung des Gleichgewichtes, jedes Hinderniß den Anfang wenigftens zu einer zwedmäßigen Umgehung hervor⸗ rufen. Denſelben Zufammenbang werden wir ferner da benutzt finden, wo ein von außen kommender ungewöhnlicher Reiz eine beftimmte Bewegung theil® zur Abwehr, theil® zur Benutzung feines Eindrudes verlangt. Auch hier werben wir es fir Die Sicherung des Lebens als die nüglichfte Einrichtung vorausfegen önnen, daß, ohne die liberlegende Anordnung der Seele abzu- warten, der Reiz unmittelbar mit mechanischer Nothwendigkeit die

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zwedmäßige Rüdwirkung auslöſt. Zahlreiche Bewegungen dieſer Art beobachten wir theils an unferem eignen Körper, wie bie convulfivifchen Explofionen des Huſtens des Niefens des Er- brechens, durch welche ohne unfere Kenntniß des Herganges die Entfernung jchäblicher Reize bewirkt wird, theils hat man fie an dem Rumpfe gelöpfter Thiere, alfo unter Umftänden mahrgenom- men, unter denen die natürlichſte VBorausfegung gegen die Mit- betheiligung der Seele ſpricht.

So lange num diefe Bewegungen im Uebrigen das Gepräge mechaniſcher Wirkungen nicht verleugnen, fo lange fie alſo nicht ohne äußere oder nachweisbare innere phyſiſche Anregungen ent- ftehen und ohne Rüdficht auf Diejenigen äußeren Umſtände, welche fih nicht Durch phyſiſche Eindrüde gelten machen können, auf gleihe Reize immer in gleicher Weife erfolgen: jo lange würde alle zwedmäßige Mannigfaltigfeit ihrer Zufammenfegung in der That feinen Grund enthalten, auf eine verborgene Mitwirkung der Seele zu fchließen. Aber manches Andere kann diefen Schluß zu empfehlen fdheinen, ohne ihn doc wirklich zu berechtigen. Es ift nicht unwahrſcheinlich, ſondern hat im Gegentheil die Wahr- ſcheinlichkeit für fih, daß für Die Form, welche die erregte Be- wegung annehmen wird, nicht blos der Ort fondern aud bie Art des hervorrufenden Reizes mitbedingend ifl. Hierauf ift wenig bisher geachtet worden; man hat ſich begnügt, die That- ſache zu beobachten, daß zum Beiſpiel in einem enthaupteten Froſche Die Reizung einer beſtimmten Hauptftelle eine Bewegung des Beines nad; diefer Stelle bin zur Folge babe, und daraus bat ſich die BVorftellung entwidelt, daß der fenfible Nerv eines beftimmten Hauptpunktes feine Erregungen, welcher Art fie fein mögen, immer in gleicher Weife auf motorifche Nerven übertrage, mithin eine ftet8 gleiche Bewegung zur Folge habe. Gegen wir Dagegen voraus, was möglich ift, daß dieſe Mebertragung anders, theil8 in anderem Maße, theils auf andere motorifche Faſern geſchehe, wenn die mitzutheilende Erregung eine andere ift, fo würde bereitö hierdurch in dieſe Reflerbemegungen, wie man

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fie zu nennen pflegt, der Schein einer zwedmäßig wählenden Will- für Tommen, obne daß doch in ber That eine Mitwirkung ber Seele in ihnen vorhanden wäre.

In fo weit würde nun die Harmonie der Bewegungen auf der Zweckmäßigkeit der beftändigen Bildung des Centralorganes beruhen. Aber die befannten Erſcheinungen der Uebung und Ges wöhnung, die Erfahrungen, daß Bewegungen und zur zweiten Natur werben können, deren erfte Ausführung uns große Schwie- vigfeiten darbot, überzeugen uns, daß die erfte Bildung der Or- gane im Laufe des Lebens zu noch größerer Trefflichfeit entwidelt werden kann. Denn die Wahrnehmung, wie häufig ſich einzelne Züge erworbener Anmuth und Feinheit der Eörperlihen Haltung und Bewegung forterben, läßt uns darauf fchließen, daß die An= übung nicht erfolge, ohne in den leiblihen Organen eigenthim- liche phyſiſche Veränderungen hervorzubringen und zurüdzulafien. Manche zweckmäßige Rücdwirkung, die an und für fi) nicht durch die beftändigen Grundzüge der Organifation an einen beftimmten äußeren Reiz gebunden war, kann dieſe anerzogene Dispofition des Nervenſyſtems ‚nun doch auf ihn folgen laſſen; dann ent- widelt das Organ eine Intelligenz des Wirkens, die nicht fein urſprüngliches Eigenthbum und auch nicht die unmittelbare That einer noch in ihm lebenden Seele, fondern nur der Gewinn an phyſiſcher Gewohnheit ift, welden es feinem früheren Verlehr mit der Seele verdankt. ‘Denn lernen allerdings konnte es dieſe Formen des Rückwirkens nicht aus fich jelbit, fondern nur dadurch, daß an den Reiz, den e8 empfing, Die dazwiſchentretende Ueber⸗ legung der Seele die Rückwirkung knüpfte; aber mas die körper⸗ liche Organijation nicht erfinden Tonnte, das Tann fie doch feft- halten, nachdem eine wiederkehrende Uebung für fie den Zufam- menhang zwijchen dem gejchehenen Eindrud und der folgenden Beränderung durch zurüdgelafiene materielle Spuren zu einer phyſiſchen Nothwendigfeit ausgeprägt bat. Sehen wir daher den Rumpf geföpfter Thiere auf einen Äußeren Reiz zuweilen durch eine Form ber Bewegung antworten, welche aus dem phufiichen

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Eindrude, den der Reiz in diefem Augenblide dem Nervenſyſtem wirklich mittheilt, nicht binlänglich erklärbar fcheint, fo ift es dennoch nicht nöthig, in dem Rumpfſtück einen mitabgetrennten Seelentheil anzunehmen, deſſen Heberlegung zu dem wahrgenom- menen Reize die nöthigen Vermittlungsgliever bis zur hinläng- lihen Begründung der zwedmäßigen Bewegung ergänzte. Welches auch immer die Thatſachen der Beobachtung fein möchten, wir könnten uns zu ihrer Erklärung nicht dieſe Ber- muthung erlauben, deren innere Unmöglichleit uns deutlich ift. Bon einer theilbaren Seele mag man mit einem Scheine der Verſtändlichkeit noch fprechen, wenn man nur an Die noch unent- widelte Anlage zum geiftigen Leben denkt, die wie ein homogenes Ganze fih durch den Körper auszudehnen fchiene; fol aber das im Leben bereit8 ausgebildete Bewußtjein mit feinen Erinnerun- gen, Erfahrungen und den durch dieſe gewonnenen Fertigkeiten und Kenntniffen der Gegenftand der Theilung fein, fo würden wir kaum mit dieſer Forderung und auch nur fo weit Far wer- den, daß wir uns vorftellen könnten, was wir eigentlich verlangen. Und doch würde nur eine Theilbarkeit der letztern Art dieſe Erjheinungen erflären; denn die Fähigleit, den Umftänden ge- mäß zu handeln, würde dem Topflofen Rumpfe durch eine noch aller Erfahrung entbehrende Intelligenz nicht um das Geringfte Yeichter verſchafft als durch einen rein phyſiſchen Mechanismus der erften Bildung. Nur zwei Anftchten fcheinen jenen Beobad- tungen gegenüber möglid. Entweder wir jehen die Zwedmäßig- feit folder Bewegungen, wie fie der kopfloſe Rumpf Taltblütiger Thiere häufig ausführt, zwar als Erzeugniffe der Intelligenz an, aber nicht einer in ihm noch gegenwärtigen, -[ondern der Intelli⸗ genz jener einen Seele des Thieres, mit deren Site diefer Rumpf früher zufammenhing, und deren Weberlegung in feinen Gentral- organen Gewohnheiten zwedmäßigen Wirkens begründete, welche fortdauern, auch nachdem der Zuſammenhang zwiſchen ihm und ber Seele aufgehoben ifl. Oder wenn wir, mit Unrecht wie mir ſcheint, dem Eindrude voller Xebendigfeit nadhgebend, den jene

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Bewegungen allerdingd erweden, fie nicht mehr von einem Echo, fondern nur von unmittelbarer Gegenwart: einer Intelligenz ab- leiten zu dürfen glauben: fo fteht nicht8 im Wege, in dem Rüden- mark eine Mehrheit individueller Wejen von feelifher Natur an⸗ zunehmen, deren jedes feine Intelligenz für fih haben möchte. Während des Lebens würde die eine Seele, meldhe wir Die bes Thiered nennen, durch ihre bevorzugte Stellung oder die größere Kraft ihrer Natur alle diefe Theilfeelen beherrſchen und alle würden durch die Verbindung, in der fie unter einander fiehen, an den Erlebniffen des ganzen Thieres Theil nehmen und von feinen Erfahrungen Nuten ziehen. Fällt am entbaupteten Thiere der Einfluß feiner Hauptjeele weg, fo werden Die Seelen der Theile noch immer fi) den Reizen gemäß äußern können, die ihre Kör⸗ pergebiete treffen, und die früheren Erfahrungen, die freilich jede von ihnen nur im Zufammenbange mit dem Kopf und feinen Sinnesorganen machen konnte, die fie aber einmal gemadt in der Erinnerung fefthält, werben ſie noch jett befähigen, ſich in ihren Handlungen den äußeren Umftänden mit Zregnßigtei zu accommodiren.

Mit der Annahme dieſes Centralorganes für die Regelung der Bewegungen glauben wir die Reihe der Hilfen erſchöpft zu haben, welche wir unmittelbar von dem Baue des Körpers für die Leiſtungen der Seele verlangen müſſen. Sie ſind alle darauf gerichtet, einestheils die Verknüpfung äußerer Eindrücke zu einer räumlichen Ordnung der Anſchauung, anderſeits die Ausgeſtaltung innerer Zuſtände in einen zweckmäßigen Zuſammenhang räum⸗ licher Bewegungen möglich zu machen; alle jene umfaſſende Arbeit dagegen, durch welche die Intelligenz den Inhalt der ſinn⸗ lichen Eindrücke zur Einheit einer vernünftigen Weltauffaffung gliebert, haben wir der körperloſen Thätigleit der Seele allein überlaffen müflen. Biel einfacher fcheinen daher die Aufgaben,

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die wir dem Gehirn ftellen, als die mannigfachen Leiftungen, welche bie Phrenologie von ihm erwartet, indem fie fir viele ber verwideltften Aeußerungen des Geiftes eigenthümliche Organe ſucht und zu finden glaubt. Wie unſicher auch dieſe Beſtrebungen fein mögen, der unbefangene Eindruck der Beobachtung läßt fie doch nicht als ganz grundloß ericheinen, und nicht jeder Einwurf, welder ihnen gemacht wird, trifft fie mit Recht. Gewiß ift bie Annahme nicht nothwendig, daß alle an ſich gleihartigen Seelen ihren individuellen Charakter erſt durch die befondere Ausbildung ihrer leiblichen Organe erhalten, Nichts hindert vielmehr die Ueberzeugung, daß durch eine urfprünglidhe Eigenthümlichkeit jede einzelne von Anfang an zu einer ihr allein angehörigen Entwid- lung der allgemeinen Yähigfeiten beftimmt fei, welche fie als bie gemeinfamen Grundlagen alle geiftigen Lebens mit allen übrigen theilt. Wenn wir dagegen Anjtoß daran nehmen, auch nur einen andern Theil der Vorbeſtimmung zu dem eigenthiimlidden Cha- talter der Perfönlichleit in dem körperlichen Baue zuzugeftehen, fo vergeffen wir, daß alle ſolche Bemühung, das geiftige Leben von leiblicher Bedingtheit fern zu halten, doch an andern nicht zu leugnenden Thatfachen ohnehin fcheitert. Weder unfer Ge= ſchlecht, noch unfere Nation, nicht die Zeit unferer Geburt noch die gejellichaftliche Stellung unferes Lebens, nicht unfere Armuth oder die Vortheile des Reichthums haben wir uns felber gewählt oder gegeben; fo lange wir an ſolchen Berhältniffen fo oft Die Hoffnungen geiftiger Entwidlung zu Grunde geben jehen, haben wir wenig Veranlaffung, die Abhängigfeit des Geiftes von feinem Körper mit befonderer Heftigfeit zu beftreiten. So gewiß der Ma- terialismus für eine höhere und zufriedenftellende Weltanficht Feine Ausfiht gibt, jo wenig räumt doch Die Behauptung einer jelbft- ftändigen Seele die dunklen Räthſel fogleich hinweg, welche ber Weltlauf und die Schickſale des Lebens uns oft fo ernft und brüdend entgegenhalten.

Aber die Annahme befonderer, an verſchiedene Gegenden Des Gehirns vertheilter Organe für einzelne höhere Geiſtesvermögen

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hat doch wenig Wahrjcheinlichfeit. Theils würden wir uns von der Art ihres Nutzens keine Borftellung machen Tönnen, theils die gegenfeitige Wechſelwirkung, die zwilchen allen Thätigfeiten der Seele beftändig ftattfindet, durch fie nicht begünſtigt finden; endlich wenn wir auf Erflärung verzichteten, würde felbft die bloße Samm- Yung thatjächlicher Beweife für den Zufammenhang einer gewiſſen Gebirnbildung mit beftimmten geiftigen Verrichtungen beſondere Schwierigleiten darbieten. Sie würde in dem Unterfuchenden jene vollftändige und durchdringende Menſchenkenntniß vorausfeten, für welche nicht nur jede verborgene Neigung eines individuellen Cha- rakters völlig Durchfichtig wäre, fondern ebenfo Har auch das noch weit verborgenere Gewebe der Gründe, aus weldem fie als ein nun fertiges Ergebniß hervorging. Denn ohne Zweifel wird auf die Geftalt, welche der abgefchloffene Charakter eines Menſchen dem Beobachter darbietet, nicht die angeborne Anlage allein, fon- dern auch die Reibenfolge und Eigenthümlichleit der äußeren Um- gebungen, in denen er ſich bildete, einen mitbeftimmenven Einfluß ausgeübt haben. Kaum der Erwähnung aber bedarf e8, wie ſchwer die Rüdvertheilung der gefundenen Züge auf Diefe ver- ſchiedenartigen Urſachen fein muß, und wie nahe die Gefahr Liegt, Erzeugniffe der Erziehung, des Lebensganges und der Krankheit al8 unmittelbare Folgen einer körperlichen Organbilbung zu deuten. Höchſtens bei jenen Talenten, deren Vorhandenſein Teicht nachweisbar ift, die durch Vererbung häufig fi fortpflanzen und durch Hebung kaum in merklidem Grade erfeßt werden Fönnen, wo fie fehlen, dürfte e8 einer vorurtheilslofen Beobachtung Leichter gelingen, ihre Beziehung irgend welcher Art zu beftimmten Ausbil- dungsformen bes Gehirns und feiner knöchernen Hülle feftzuftellen. So laſſen fi fir Ortfinn und Farbenfinn, fir mufilelifche An- Tage, vielleicht fire mathematifche Befähigung überhaupt und für bie erfinderifche Geſchicklichkeit der Hand Körperliche Grundlagen finden, während für die feineren Eigentblimlichleiten der geiftigen Indi⸗ pidualität wir biefe Erwartung nur wenig hegen.

Und dennoch mögen auch fie in hohem Maße von dem Ein:

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fluß des körperlichen Lebens abhängen, obwohl in einer anderen Weiſe, als daß jeder einzelnen derfelben ein beſonderes Organ zugeordnet wäre. Die ungeheuren Berfchiedenheiten in der Höhe und Eigenthümlichkeit der geiftigen Ausbildung, wie fie das menfch- liche Geſchlecht mehr als irgend eine Gattung der Thiere dar- bietet, fcheinen am meiften aus den Unterſchieden eines allgemei- neren pſychiſchen Naturells berborzugehen, das in naher Bezieh- ung zu dem fteht, was wir mit dem Namen des Temperamentes zu bezeichnen pflegen. Geiftige Fähigkeiten haben in allen Indi— viduen einen unfcheinbaren Keim, und wie raſch auch in einzelnen ihre Kraft berbortritt, fo entwideln fie fich doch überall durch bie Aufbewahrung und Summirung ihrer einzelnen Leiftungen, deren jede zum Mittel fir die Ausführung einer fpäteren größeren wird. Richt nur von der Schärfe des urſprünglichen Eindrudes der Wahrnehmungen, fondern hauptſächlich von der Lebhaftigleit des Gefühlsantheils, welcher fih an fie nüpft, von der Regſamkeit des organifchen Lebens und der Beweglichfeit des mit feinen Ver- änderungen wechſelnden Gemeingefühles, von der Mannigfaltigfeit der Stimmungen und dem Keihthum der inneren Erregungen, bon denen einzelne Borftellungsreihen angeregt, andere abgebrochen, der Uebergang von der- einen zur anderen mit größerer oder ge- ringerer Geſchwindigkeit bewirkt wird: von allen diefen Einflüffen hängt ohne Zweifel nicht nur Die Schnelligkeit oder das Zögern der geiftigen Entwidlung überhaupt, fondern auch manche bleibende Eigenthümlichfeit der Richtung ab, welche ihr Verlauf annimmt. Zum großen Theil werden diefe Einwirkungen des Körpers nicht durch befondere Organe, fondern durch feinen ganzen Bau über: haupt vermittelt; die verichievene Kräftigfeit der Conftitution wird dem Dichten und Trachten des Gemüthes auch im Ganzen einen eigenthinmlich gefärbten Hintergrund geben, und der cdhemifchen Miſchung des Blutes, von defien Reizkraft die Thätigkeit der Nerven erregt wird, würden wir, hierin auch durch Erfahrungen in Krankheiten unterftügt, einen beträchtlichen Einfluß auf Höhe und Richtung der geiftigen Regſamkeit einräumen müfjen.

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Doch mag zu einem andern Theile die Bildung der Central- organe auch hierauf Bezug haben. Hauptjächlic die Hemifphären des großen Gehirns ſehen wir in der auffteigenden Thierreihe mit der größeren geiftigen Entwidlung der Gattungen an Maffe gewinnen, und zahlreiche Erfahrungen laſſen kaum zweifelhaft, daß in dem Menſchen, in weldem ihre Ausbildung die umfang- veichite ift, Die Größe des geiftigen Lebens von ihrem mehr ober minder vollkommenen Baue abhängt. Aber diefe Gehirntheile baben nicht das Ausjehen einer Reihe von einzelnen in fi ab- gefchloffenen Organen; aus einer großen Menge von Fafern mit zwiichengejchalteten Ganglienzellen zuſammengeſetzt, befigen fie eine weit gleichförmigere umd monotonere Structur, als die zu ſehr eigenthümlichen Formen ausgeprägten inneren und unteren Theile des Gehirns, über und um welche fie ſich als eine dicke durch vielfache Furchungen gezeichnete Hüllenfhicht wölben. Es ift feine erweisliche Thatfache, aber es gilt uns für eine glaubhafte Ver— mutbung, daß dieſe beftimmter geftalteten Gegenden des Gehirns Die Organe bes geiftigen Lebens einjchliegen, deren nothwendige Annahme wir früher begründeten, und denen eine unveränderliche befondere Form des Wirkens eigenthümlich ift; daß dagegen die äußere Maſſe der Hemiſphären einen Apparat von allgemeinerem Nuten bilde, dazu beftimmt, theild die Wiedererzeugung ber nervöſen Kraft zu vermitteln, welde in jenen Organen thätig ift, theils die Reizbarkeit derfelben zur regeln, theils endlich, wie wir bei der Betrachtung der Gefühle andeuteten, eine Art ber Refonanz zu gewähren, durch welche dem wahrgenommenen In= halt eine gewiſſe Größe de8 Gefühlsantheiles, dem fich bilben- den Willensanftoß eine beitimmte Stärke bewegender Kraft mit- getheilt würde. Nur in diefem Sinne einer mittelbaren und doch jehr mächtigen Einwirkung auf das geiftige Leben möchten wir diefen Theilen des Gehirns den Namen eines Drganes der Intelligenz des Gemüthes oder des Willens zugefteben.

So haben wir die verfchtevenen Formen gefchilvert, in denen ber Körper ſich als beförderndes und helfendes Mittel der geiftigen

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gen Ausbildung bewährt. Nur dieſe eine Seite der Sache pflegt die naturwiſſenſchaftliche Unterſuchung hervorzuheben; veligiöfe Ueberlegungen allein führen gewöhnlich auf die andere: ſie erzeu⸗ gen in uns die Neigung, den Körper auch in gewiſſem Umfange als eine Schranke zu betrachten, welche die freie Entfaltung der Seele hindere. Nichts ſteht der Möglichkeit dieſer neuen Anſicht entgegen; ſo wie wir ungewöhnliche Schwankungen des leiblichen Lebens in Krankheiten die Thätigkeit des Geiſtes hemmen ſehen, jo kann auch die beftändige gefunde Berbindung zwifchen beiden eine zurüdhaltende Wirkung auf die Entwidlung des Innern aus- üben. Die Erfahrung zeigt uns jedoch nur ärmliche Thatfachen, die hierauf hindeuteten, und nirgend ſehen wir in Zörperlichen Krankheiten, durch welche jenes Band zwiſchen den beiden Natu⸗ ven in und etwa gelodert würde, einen unerwarteten und neuen Aufſchwung des Seelenlebens eintreten. Die Berufung auf die Wunder des Sommambulismus und des Hellfehend wird dieſe Behauptung nicht entlräften. Nachdem num fo oft ſchon diefe Er- iheinungen die Aufmerkſamkeit erweckt und getäufcht haben, nad}: dem fo viel hellgefehen worden ift ohne den minbeften bleibenben Gewinn für den Fortſchritt der Menſchheit: nad diefen Erfah⸗ rungen follte man vermuthen, daß auch Die Theilnahme für dieſe Dinge nun hellfehend geworben fei und in ihnen das erkannt habe, was fie find: eigenthümliche Steigerumgen krankhafter Bor- gänge, denen verwandte von geringerer Heftigfeit Die alltägliche Erfahrung darbietet. Schon der gewöhnliche Rauſch zeigt und jene einfeitige Belebung bes Bewußtſeins, dem die klare und zu= fammenfafjende Weberficht feines Inhaltes und der äußeren Um- gebungen abhanden kommt, während allerhand Triebe zu patheti- ſchem rhythmiſchem Gebahren, die Luft und mit ihr die Yertigfeit zu manderlei Wagniffen bervortreten, was Alles in dem Nücd- ternen theils die geringere Lebhaftigfeit feiner Nervenwirkungen und die niedrigere Stimmung feine Gemeingefühles theils die ſchüchterne Rückſicht auf Schielichleit und Herkommen zurüdhielt. Und ebenfo mag im Schlafe eine befonders er Borftellungs- Zope 1. 4, Aufl.

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reihe, die ſich wach erhält, während die unzähligen zerftreuenden Eindrüde der Außenwelt hinwegfallen, zuweilen leichter ihren Schluß finden und der Schlafmandelnde in feinem halbaufermed- ten Bemwußtfein die Löſung einer Aufgabe vollbringen, die dem Wachenden mißlang. Aber wir vergeflen dabei nicht, daß es doch eigentlich die Kräfte die Kenntniffe kurz der ganze Erwerb bes wachen Lebens war, was auch den Schlafenden zu diefer Lei- ftung befähigte. Mit den finfenden Bemwußtfein der Gefahr wächſt die Kühnheit des Wagenden, mit dem Wegfall der Rüdficht auf die Umgebung die Dreiftigfeit des Verfuchenden, mit der Abhal⸗ tung aller Störung. die innere Sammlung und der Zufammen- Hang der Kräfte, ohne daß im Grunde Neues und Ungeahntes an die Stelle des fonjt Gewöhnlichen tritt. So ift dies menſch- liche Leben, welches wir beobachten, ausnahmslos an die Wechfel- wirkung mit dem Körper gefnüpft, die größere Schönheit der Ent- widlung aber, zu welder die Seele, befreit von biefem Bande, fih erheben mag, werden wir nicht woreilig vor feiner Serrei- Bung errathen.

Biertes Kapitel. Das Leben der Materie.

Die beftändige Täuſchung ber Sinnlichkeit. Unmöglichkeit be Abbildes der Dinge in unferer Wahrnehmung. Eigner und höherer Werth ber Sinnlichkeit. Die innere Regſamkeit der Dinge. Die Materie Erfeheinung eines Ueberfinnlichen. Ueber bie Möglichkeit ausgebehnter Weſen. Die allgemeine Befeelung ber Welt. Der Gegenſatz zwifchen Körper und Seele nicht zurüdigenommen. Berechtigung ber Vielheit gegen bie Einheit,

Wie viele Einwürfe mögen im Stillen jeden Schritt unferer bisherigen Darftellung begleitet haben! nicht folche allein, die von den einzelnen Schwierigfeiten der mannigfadhen bon uns durch⸗ eilten Fragen Beranlafjung zu Gegenreden nahmen, denen nicht wir, fondern nur die ausgedehnteren Unterfuchungen ber Wiffen-

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ſchaft Antwort geben Könnten; vielmehr eine zufammenhängende Empörung des Gemüthes müfjen wir erwarten über die Kälte einer Anficht, welche alle Schönheit und Lebendigkeit der Geftal- ten in einen ftarren phyſiſch-pfychiſchen Mechanismus verwandele. Gegen die jchöpferifche, aus fich ſelbſt quellende Entwidlung des körperlichen Lebens, gegen die Durchgeiftigung des Leibes, gegen die Wahrheit der Empfindung und die Willkürlichkeit der Be- wegung haben wir mande Angriffe richten müffen, und in ber That haben wir damit faft alle jene Züge in Frage geftellt, in denen das unbefangene Gefühl den Kern aller Poeſie des leben: digen Dafeins zu befigen glaubt. Befremdlich Tann und daher die Standhaftigkeit nicht fein, mit welcher die MWeltanficht des Gemüthes als eine höhere Auffafjung der Dinge auch den über: zeugendften Daritellungen von unferer Eeite wiberftehen wird; um jo nöthiger ift deshalb der Berfuch, die Harmlofigkeit unferer An⸗ fit zu zeigen, die, wo fie und zwingt, Meinungen aufzuopfern, mit denen wir einen Theil unſeres Selbft aufzugeben glauben, Doch durch das, was fie uns dafür zurückgibt, die verlorene Be- friedigung wieder möglich macht.

Die Empfindung gilt dem unbefangenen Bewußtſein überall als die Wahrnehmung einer vollen außer ihm vorhandenen Wirk: lichkeit. Bon ihrem eignen Glanze beleuchtet Liegt die Welt um uns, und Töne und Düfte durchkreuzen außer und den unermeß=. lihen Raum, der in den eignen Farben der Dinge fpielt. Ge— gen biefe ftet8 vorhandene Fülle ſchließen unfere Sinne bald fid ab und beichränfen uns auf den Verlauf unferes inneren Lebens, bald öffnen fie fih wie Pforten dem anfommenden Reize, um ihn fo, wie er ift, in der ganzen Anmuth oder Häßlichkeit feines Weſens in ſich aufzunehmen. Kein Zweifel trübt die Zuverſicht⸗ lichkeit dieſes Glaubens, und felbft die Täufchungen der Sinne, verſchwindend gegen die Ueberzabl in fi zufammenftimmenber Erfahrungen, erichüttern die Gewißheit nicht, daß wir hier über- al in eine vorhandene Welt bineinbliden, die fo, wie fie und er- ſcheint, auch dann zu fein nicht aufhört, wenn unjere wanbel-

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bare Aufmerkſamkeit fih von ihr abmwendet. Der Glanz ber Sterne, den der Wachende fah, wird, jo bofft er, auch über dem Schlafenden fortglänzen; Töne und Düfte, ungenofjen zwar und ungebört, werden duften und Flingen, nad wie vor; nichts von der finnlichen Welt wird untergegangen fein außer der zufälligen Wahrnehmung, die vorher von ihr dem Bewußtfein zu Theil wurde. Und dieſes volllommene Zutrauen zu dem wahrhaften Dafein ihrer Anſchauungen befigt die Sinnlichkeit nicht nur harm⸗ los, fondern ein tiefes Bedürfniß bewegt fie zugleich zur lebhaf⸗ ten Abwehr jedes Angriffes, der die volle Wirklichkeit ihrer Er⸗ iheinungen bedrohen möchte. Es ſoll die eigne Lieblichkeit des Gegenſtandes bleiben, die uns in der Süße des Gefchmades und des Duftes berührt, die eigne Seele der Dinge, die im Klange zu ung ſpricht; der Glanz der Farbe verbliche für uns in feinem Werthe, wenn wir feinen Schimmer nicht als die Offenbarung eines andern Weſens bewundern dürften, das, uns fremd, nun doch To durchſichtig für und wird, daß wir mitgenteßend in feine Natur und verfenfen und mit ihr verichmelzen Können. Der befte Theil der Bedeutſamkeit des Sinnlichen wiirde hinweg fallen, wenn diefe helle Wirklichkeit des Empfundenen und genommen würde; diefelbe Sehnfucht, Die auf höheren Stufen des geiftigen Lebens nah Ergänzung duch ein Anderes ftrebt, ſucht fchon bier in ber Sinnlichkeit diefen träumerifhen Genuß einer völligen Durchdrin⸗ gung mit fremden Wefen feitzuhalten. Und nicht nur haften fol in irgend einer Weife das Sinnliche an den Dingen felbit; derſelbe Zug jener Sehnfucht verlodt und vielmehr, die ſinnlichen Eigen- Ihaften als Thaten deſſen zu betrachten, an dem wir fie finden. Die Dinge find nicht allein farbig, jondern es ift ihr lebendiges thätiges Scheinen, das in den Farben uns anblidt; ihr Geſchmack, ihr Duft find an uns andrängende Handlungen, in denen ihr innerfted Weſen fi) dem unjeren nähert und und das aufichließt, was innerhalb der äußerlihen Raumgrenzen, die ihre Geftalten füllen, das eigentliche Reale ihres Dafeins bildet.

Nicht überall freilich im täglichen Leben ift ung diefer Ernſt

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der Empfindung gleich gegenwärtig; andere Zwecke mit der Man⸗ nigfaltigfeit der Meberlegungen, welche fie mit ſich führen, laſſen uns ohne Andacht über manche finnlihe Anihauung hinweggehen; was im Einzelnen uns bewegen würde, verſchwimmt für unferen zerftreuten Blick zu gleichgiltigem oder widerwärtigem Gefammt- eindrude; wir glauben chaotiſche unreine Maffen zu fehen, wo das bewaffnete Auge oft noch regelmäßige Kruftallifation und Spuren einer zierlihen Bildungsfraft entdedt. So werben die Farben uns gleichgiltig an den künſtlichen Formen unferer Geräthe; wenden wir aber unfern Blick auf die Feinften Theilchen des natürlichen Stoffes, den unfere Technik für die Beblirfniffe des Lebens in eine ihm gleichgiltige Geftalt gezwungen bat: wie tritt fogleich wieder die Macht des finnlihen Zaubers hervor in der fatten Tiefe und der leuchtenden Pracht der Farbe, in jenem wunder⸗ famen Spiel gebrochener Lichter, die irifirend um die feinften Ritzungen und Streifen der Oberflächen ſchweben! Dann fehen wir im Meinen bafjelbe ſchöne Geheimniß aufblühen, das in ben ge- ftaltlojen duftigen Faͤrbungen des Himmels und an den ſelbſt ge- beimnißvollen Geftalten der Blumen immer unfere Sinne ahnungs- vol erregte. Die manderlei Klänge, welche die Welt beleben, fegen fih wohl vor dem beichäftigten und unaufmerkfamen Ohr zu einem gleichgiltigen Geräufche zufammen; aber das nachdenk⸗ liche Lauſchen, das fie fondert, erkennt in den einzelnen Stimmen der Natur wieder jene Kundgebungen, durch die ein räthſelhaftes Innere der Dinge unüberjegber in jede andere Sprache und doch mit unmittelbarer Deutlichkeit zu uns ſpricht. Nur die zu- fälligen Verbindungen, in welche die Elemente des Sinnlichen für mande Gewohnheit unjerer Auffaffung gerathen, die willkürlichen Formen, in die wir die Dinge zum ‘Dienfte unferes Lebens zu- fammenjegen, lafjen die uriprünglicde Bedeutſamkeit der finnlichen Anſchauungen für uns zeitweis verfchwinden; aber fie wird über— al von neuem empfunden, wo wir dem Eindrude des Einfachen und bingeben oder ihn auffuhen, oder wo wir in vollendeter Kunft das verbinden, was durch die Wahlverwandtſchaft feiner

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Natur verbunden zu werben verlangt. Dann erfennen wir den Anfpruch wieder an, den unfere Sinnlichkeit macht, uns den Ein- blid in das innerfte Lebendige Wejen einer fremden wahrhaften Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt bald feindjelig und gegenüberfteht.

Und allen diefen Glauben ftrebt uns nun in der That die mechaniſche Naturanficht zu rauben, oder fie ſcheint es doch zu wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigne Erzeugniß unferer Seele fei, angeregt zwar von äußeren Ein- drücken, aber weder diefen noch den Dingen ähnlich, von denen fie ausgingen. Weder finfter noch hell, weder laut nod fill, vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt um ung ber, ohne Duft und Geihmad die Dinge; felbft was auf das Unmiderleglicfte die Wirklichleit des Aeußeren zu be- zeugen ſchien, Härte Weichheit Widerftand der Dinge find zu Formen der Empfindung geworden, in denen nur eigue Zuftände unferes Innern zum Bewußtfein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗ lichleit den Raum, als eine unbeftunmbare Unzählbarfeit von Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen einander jchwingend. Und weder diefe Atome noch jene Bewe— gungen find fo, wie fie find, Gegenftände unferer Beobachtung ; beide find bie nothwendigen Borausfegungen, auf welde nur bie Berechnung der Erſcheinungen, diefe aber nothwendig, zurück⸗ führt, Jene einfachen Elemente ſelbſt Können wir nicht ſchildern, da fie allen finnlichen Eigenfchaften, dem einzigen anſchaulichen Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen können wir wohl verzeichnen, aber nie find fie in ihren wirklichen Formen Gegenftände unferer wirklihen Wahrnehmung. Unferem Bewußtfein wird in aller Wahmehmung unmittelbar Nichts zu Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die fpätere Veberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen entftehen, leitet und allmählich zu der Annahme jener Urfachen zurüd, die für fi) der Beobachtung ftet8 entzogen bleiben. So ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig

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geſchieden, und die ganze Mannigfaltigfeit der Sinnenwelt eine Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts über Die Dinge ausbreiten, als fei fie ihre natürliche Geftalt und Beleuch— tung, die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen hervorgeht, als etwa die Neflerionen, zu denen ung die Erfahrung veranlaßt, fertig ‚an den Gegenftänden hängen, an welche wir fie anfnlpfen.

Vergeblich verſuchte man, gegen dieſe Xehre die Realität der finnlihen Erſcheinungen zu vertheidigen. Man mußte zugeben, daß jene Bewegungsformen, welche die Berehnung vorausgefett hatte, in der That die veranlaffenden Bedingungen unferer Em- pfindungen find, aber man vermißte und verlangte den Beweis, daR nicht das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigen Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt jelbft und in den Reizen vorhanden ſei, Die zu feiner Wiedergeburt im Be⸗ wußtfein treiben. Leuchtende Schwingungen des Aethers und tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die me= chaniſche Bewegungsform nur das äußerliche Hilfsmittel fein, durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fid vorbandenen finnlichen Inhalte erregen. Aber man hätte den Beweis des Gegentheile8 nicht von der mechaniſchen Phyſik er- werten jollen, da eine leichte Ueberlegung ihn vorher von felbit hätte darbieten können. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton nur duch unfer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig fein zu jagen, was wir und unter ihnen noch vorftellen zu können meinten, ſobald fie nicht von uns oder von einem anderen Be- wußtfein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindigkeit nur an der Bewegung haftet und nicht fiir fi etwas ift, das zur Bewegung noch hinzukommen könnte, fo haben alle finn- lichen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Exiftenz, das Be- wußtſein, und nur die eine Art ihrer Eriftenz, ein Leiden oder eine Thätigkeit, ein Zuftand überhaupt dieſes Bewußtſeins zu fein. Noch ehe eine mechanische Theorie in den Berwegungsformen ber äußeren Elemente die Urfachen nachwies, von denen bie Ent-

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Natur verbunden zu werden verlangt. Dann erfennen wir den Anſpruch wieder an, den unfere Sinnlichleit macht, uns den Ein- blid in das innerfte lebendige Wefen einer fremden wahrhaften Wirklichkeit zu gewähren, die in ihrer Fremdheit bald verwandt bald feindfelig uns gegenüberſteht.

Und allen diefen Glauben ftrebt und nun in ber That die mechaniſche Naturanfiht zu rauben, oder fie fcheint es doch zu wollen. Sie lehrt uns, daß jede Empfindung nur das eigne Erzeugniß unferer Seele jet, angeregt zwar von äußeren Ein- brüden, aber weder biefen noch den Dingen ähnlich, von denen fie außgingen. Weder finfter noch hell, weder laut nod ſtill, vielmehr völlig beziehungslos zu Licht und Klang Tiege die Welt um uns ber, ohne Duft und Gefchmad die Dinge; felbit mas auf das Unmiderleglichfte Die Wirklichleit des Aeußeren zu be= zeugen ſchien, Härte Weichheit Widerſtand der Dinge find zu Formen der Empfindung geworden, in denen nur eigne Zuftände unſeres Innern zum Bewußtſein fommen. Nichts erfüllt in Wirk⸗ lichkeit den Raum, als eine unbeftinmmbare Unzählbarkeit von Atomen, in den mannigfaltigften Formen der Bewegung gegen einander ſchwingend. Und weder dieſe Atome noch jene Bewe— gungen ſind ſo, wie ſie ſind, Gegenſtände unſerer Beobachtung; beide ſind die nothwendigen Vorausſetzungen, auf welche nur die Berechnung der Erſcheinungen, dieſe aber nothwendig, zurück⸗ führt. Jene einfachen Elemente ſelbſt Kinnen wir nicht ſchildern, da fie allen finnlichen Eigenfchaften, dem einzigen anfchaulichen Material unferer Schilderungen, fremd find; ihre Bewegungen können wir wohl verzeichnen, aber nie find fie in ihren wirklichen Formen Gegenftände unferer wirflihen Wahrnehmung. Unferem Bemußtfein wird in aller Wahrnehmung unmittelbar Nichts zu Theil, als was es in fich felbft erzeugt hat; nur die Tpätere Ueberlegung der Bedingungen, unter denen unfere Empfindungen entftehen, leitet uns allmählich zu der Annahme jener Urſachen zurüd, die fiir fi) der Beobachtung ftet8 entzogen bleiben. So ift denn das Reale der äußeren Welt von unferen Sinnen völlig

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geihieden, und die ganze Mannigfaltigkeit der Sinnenwelt eine Erſcheinung in uns felbft, die wir freilich rückwärts über Die Dinge ausbreiten, als fei fle ihre natürliche Geftalt und Beleuch⸗ tung, die aber doch fo wenig an ihnen haftet oder aus ihnen hervorgeht, als etwa die Reflerionen, zu denen und Die Erfahrung veranlaßt, fertig an den Gegenftänden hängen, an welche mir fie anknüpfen.

Vergeblich verfuchte man, gegen dieſe Lehre die Realität der finnlihen Erfheinungen zu vertbeidigen. Man mußte zugeben, Daß jene Berwegungsformen, welche die Berechnung vorausgefegt hatte, in der That die veranlafienden Bedingungen unferer Em= pfindungen find; aber man vermißte und verlangte den Beweis, Daß nicht Das, was einerſeits freilich Erzeugniß unferer geiftigen Natur ift, anderſeits doch zugleich in der Außenwelt ſelbſt und in den Reizen vorhanden fei, die zur feiner Wiedergeburt im Be- wußtfein treiben. Leuchtende Schwingungen des Aethers und tönende Schallwellen follten den Raum durchkreuzen und die me— chaniſche Bewegungsforn nur das Außerliche Hilfsmittel fein, durch welches fie Auge und Ohr zur Nachbildung jener an fid vorhandenen finnlihen Inhalte erregen. Aber man hätte den Beweis des Gegentheile8 nicht von der mechaniſchen Phyſik er- warten follen, da eine leichte Weberlegung ihn vorher von felbft hätte darbieten innen. Wir kennen nicht allein Farbe und Ton nur durch unfer Empfinden, fondern wir würden völlig unfähig fein zu fagen, was wir uns unter ihnen noch vorftellen zu können meinten, fobald fie nicht von und oder von einem anderen Be- wußtfein mehr wahrgenommen würden. Sowie Geſchwindigkeit nur an der Bewegung haftet und nicht fin fi etwas ift, das zur Bewegung noch hinzukommen Könnte, jo haben alle finn- lichen Empfindungen nur den einen Ort ihrer Exiftenz, das Be- wußtjein, und nur die eine Art ihrer Exiftenz, ein Leiden oder eine Thätigleit, ein Zuftand überhaupt dieſes Bewußtſeins zu fein. Noch ehe eine mechanische Theorie in den Bewegungsformen ber äußeren Elemente die Urfachen nachwies, von denen die Ent-

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ftehung der Empfindungen in uns abhängt, hätte Die Reflerion ſich darüber Kar werden Können, daß fie auf alle Fälle nur als ſolche Zuſtände des geiftigen Weſens und feines Wiſſens denfbar find, und daß jeder Verſuch mißlingen muß, das was an dem Lichte leuchtet und in den Tönen Klingt, irgendwo außer den empfinben- den Weſen als für fi vorhandene Eigenfchaft der Dinge oder al8 ein Ereigniß zwiſchen ihnen feftzuhalten. Vergeblich ift eg, das Auge fonnenhaft zu nennen, als wäre das Licht, ehe es ge⸗ fehen wird, und als bebürfte das Auge einer befonderen geheimen Fähigkeit, das nachzuahmen, was es vielmehr jelbft erft erzeugt; fruchtlos ſcheitern alle myſtiſchen Beſtrebungen, durch eine ver- borgene Identität des Geiſtes und der ‘Dinge den finnliden Au⸗ ſchauungen eine Wirklichleit außer ung wiederzuverichaffen. Aber wie fruchtlos fie fein mögen, immer werben fte freilich von jener feltiamen Empfindfamleit erneuert werben, bie ihre vielleicht be⸗ rechtigten Wünſche nicht Durch thätige Hinwegräumung der Schwie⸗ tigleiten zu befriedigen, fondern nur durch die bequeme Hingabe an Das innerlid Wideriprechende zu täufchen verſteht.

Sollen nun wirklich alle diefe Anfprüche aufgegeben werben, die dem unbefangenen Bewußtſein fo begründet fchienen ? Soll die ganze Pracht der Sinnlichkeit nichts fein, als eine Täuſchung unferes Inneren, das unfähig die wahre Natur der Dinge anzu⸗ hauen fih durch die Erzeugung eines Scheines tröftet, dem feine objective Geltung irgend einer Art zulommt? Wäre es wenigftend möglich, die finnlihen Empfindungen jo zu faflen, als überſetzten fie, der Bedeutung nach wiedererfennbar, die Eigenjchaften ber Dinge in eine Sprache, die dem Geifte geläufig iſt, ſo würden wir uns beruhigen und bie unvermeidlicde Trübung hinnehmen, die der Inbalt des Seienden bei feinem Uebergang in unfere Erkenntniß erlitte. Aber was haben Schwingungen bes Aethers

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mit Licht, Verdichtungswellen der Luft mit Tönen zu thbun? So völlig unvergleichbar ift bier die phyſiſche Beranlaffung mit der Empfindung, die ihr folgt, daß wir in Diefer nicht einmal einen abgeſchwächten Widerhall jener finden, fondern ohne einen Schat- ten der Aehnlichkeit eine neue Erfcheinung in uns auftauchen ſehen. Wie ungefchidt ift daher die Sinnlichkeit zu ihrer Auf- gabe, die Natur der Dinge, oder doch wenigftend die wahre Außen- feite ihres Weſens wiederzugeben; wie völlig ſchwankend wird da⸗ durch auch die Hoffnung, daß die Erkenntniß ihr Inneres durch⸗ dringen werde! Ueberall in Irrthum eingefchloffen, Tönnen wir unfere finnlihe Wahrnehmung nur eine fortgefegte Sinnestäu- (dung nennen.

Wenn diefe Klagen natürlich find, jo iſt es doch gewiß nicht der Geift der mechaniſchen Naturforfchung, der fie veranlagt hat. Indem die Phyſik von den unanſchaulichen Elementen ausgeht und die Mannigfaltigkeit ihrer Bewegungen verfolgt, indem ſie den Eindrud zu beftimmen fucht, den die Mebertragung dieſer Erſchütterungen auf die empfänglichen Nerven des Tebendigen Kör⸗ pers, von ihnen endlich auf die Seele hervorbringt, betrachtet fie dieſen Zufammenbang einfach als eine caufjale Kette von Vor⸗ gängen und findet es hier nicht wunderbarer als fonftwo, daß nad) ſo vielen Mitteilungen der Wirkung von einem Träger zum andern der letzte Erfolg, die Qualität der bewußten Empfin- dung jelbft, den erften veranlaffenden Urfachen völlig unähnlich if. Warum doc, würde fie und mit Recht fragen, verlangt ihr, daß es anders fei? Warınm fest ihr als eine Pflicht eurer Sinne voraus, Daß fie Die Dinge, von denen fie angeregt werben, fo darftellen follen, wie fie wirklich find, und nicht vielmehr eben fo, wie fte diefelben wirklich darftellen? Warum überhaupt follen fie nit den legten Erfolg zum Bewußtfein bringen, fondern viel⸗ mebr bie erſten Urſachen; und ift nicht der Glanz und der Ton, ben fie euch überliefern, eben indem er überliefert wird, fo gut wie die ungefehenen Dscillationen des Aether und der Luft eine Thatiache, Die gleiches Recht hat, wahrgenommen zu werben, wie

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jene? Und wenn ihr bedauert, daß die Pracht der finnlichen Welt verloren gehen foll, was hindert euch doch, fie vielmehr feftzuhnl- ten und euch des Umftandes zu erfreuen, daß es Wefen in ber Welt gibt, deren Inneres durch den Andrang jener Berwegungs- formen zu fo ſchönen Rückwirkungen, zur Entfaltung einer hellen Farben» und Tonwelt fih anregen läßt? Was endlich nöthigt euch, in die meit minder erfreuliche Tiefe zu gehen, dieſen ſchönen Schein hinmwegzufcheuchen, und euch nad dem wahren Anblid des tragenden Gerippes zu fehnen, deſſen Starrheit feine weichen Um⸗ riffe verhüllen?

In der That ift wohl Veranlaſſung Dazu, jene fo felbflver- ftändlich ſcheinende Vorausſetzung zu prüfen, als ſei Sinnlichkeit und alle Erkenntniß nur dazu vorhanden, Die Geftalten der Dinge, wie fle find, unferem Bewußtſein abzubilden. Man wird uns zweifelnd einwenden, wozu doch biefer Zweifel führen folle? ALS wenn nicht natürlih die Aufgabe des Erkennens eben im Er- kennen beftehen müßte? Aber diefer Einwurf wiederholt eben nur jene Mebereilung, die und Allen fo geläufig ift. Denn eine un- zweifelhafte Thatjache, von der unfere Betrachtung beginnen muß, befteht nur in der Wahrnehmung, daß in unferem Bewußtſein eine mannigfache Welt der Borftellungen vorhanden ift, in beren Erzeugung wir und von unbelannten außer uns gelegenen Be- dingungen abhängig finden. Geſetzlich in fi und mit dem Reiche diefer unbelannten Bedingungen verbunden, entwirft dieſes Spiel der Borftellungen übereinftimmend für die verſchiedenen Geifter das Bild einer gemeinichaftlichen Außenwelt, in welder ſie zum Wechſelverkehr des Handelns und der Mittheilung einander be gegnen. Für jeden Einzelnen hat daher das BVorftellen Die Auf: gabe, wahr zu fein, aber doch nur in dem Sinne, daß e8 Jedem die gleiche Welt vorhalte, die es Andern zeigt, und daß nicht eine individuelle Täufhung uns aus der Gemeinfhaft mit den übri- gen Geiftern ausſchließe, indem fte uns eine Neihe äußerer Be- ziehungspunkte vorſpiegelte, an denen wir nie mit der Thätigfeit dev Andern uns berühren Können, weil fie fir Niemand als fin

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und vorhanden find. Unbeftimmt bleibt e8 dabei gänzlich, ob die Melt, deren Anfchauung wir übereinftimmend dur unfere Bor: ftellungen erhalten, für alle ein gleicher folgevechter Irrthum ift, oder ob das, was wir zu fehen glauben, in der That Die eigne Geſtalt der Außenwelt abbildet, von deren Einwirkungen wir ung abhängig fühlen.

Theils diefe Gewöhnung des täglichen Lebens, theils das eigenthihnliche Interefje der Wiſſenſchaft, die freilich ausdrücklich das Erkennen der Dinge zur Aufgabe ihrer Unterſuchungen macht, haben in uns die Gewohnheit hervorgebracht, die Vortrefflichkeit unferer Borftellungen und Empfindungen nad der Genanigfeit zu mefjen, mit welcher fte abbilbend die Natur der Gegenftände wiederholen. Man vergißt dabei, daß der Lauf dieſer inneren Erſcheinungen in uns ganz ebenfomohl eine vollwichtige Thatſache ift, als Das Dafein deſſen, von dem fie herrühren; und nachdem man fih einmal gewöhnt bat, fie mit dem Namen des Erkennens zu belegen und ihnen ftillfchweigend dadurch die nothwendige Be- ziehung auf ein Aeußeres anzuheften, pflegt man nun Sein und Erkennen fo einander gegenüberzuftellen, als fei mit dem erften der eigentliche Effectivbeftand der Welt abgefchloffen und Liege dem legteren nur ob, gut oder fchlecht dieſe fertige Welt im Wiſſen noch einmal zu wiederholen. Aber diefe Thatfache, daß der Ein- fluß des Seienden und feiner Veränderungen in dem Innern der geiftigen Weſen dieſes Aufblühen einer Welt finnlicher Empfin- dungen veranlaßt, fteht nicht. als eine müßige Zugabe neben dem übrigen Zufammenbange der Dinge, als wäre der Sinn alles Seins und Geſchehens vollendet auch ohne fie; fie felbft ift viel- mehr eines der größten, ja das größte aller Ereigniffe iiberhaupt, neben deſſen Tiefe und Bedeutſamkeit alles Uebrige verſchwindet, was ſonſt zwiſchen den Beſtandtheilen der Welt ſich ereignen Bunte. Sowie wir jede Blüthe nach ihrem eignen Farbenglanz und Dufte ſchätzen, ohne zu verlangen, daß fie die Geftalt ihrer Wurzel abbildend wiederhole, fo müfjen wir auch dieſe innerliche Welt der Empfindungen nach ihrer eignen Schönheit und Be-

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deutung fehäken, ohne ihren Werth an der Treue zu meilen, mit der fie das Geringere wieberbringt, auf dem fie beruht.

Denn in der That warum follten wir nicht dies ganze Ver⸗ hältniß umlehren, an welches uns eine undurchdachte Borftellungs- weife gewöhnt hat? Anftatt das Aeußere als den Zielpunkt auf- zuftellen, nach dem alle Sehnſucht unferes Empfindens ſich richten müßte, warum follen wir nicht vielmehr dieſe leuchtende und tönende Pracht der Sinnlichkeit als den Zweck auffaffen, zu deſſen Erfüllung alle jene Beranftaltungen der Außenwelt beftimmt find, über deren Berborgenfein wir uns beflagen? Die poetiſche Idee und ihre eigne bedeutſame Schönheit ift e8, was an dem Schau⸗ fpiel uns befriedigt, das wir auf der Bühne fi vor uns ent- wideln jehen; Niemand glaubt diefen Genuß zu ſteigern oder die noch tiefere Wahrheit zu finden, wenn er ſich in die Betrachtung der Mafchinerien verfenken könnte, welche dieſen Wechfel der ‘De: corationen und der Beleuchtung hervorbringen; Niemand, indem er den Sinn der geſprochenen Worte in fih aufnimmt, vermißt Die deutliche Erkenntniß der phyſiſchen Vorgänge, durch welche der Organismus der Darfteller jene tönenden Vibrationen der Stimme erzeugt ober die Bewegung der ausdrucksvollen Geberden ins Werk ſetzt. Der Lauf der Welt ift dieſes Schaufpiel; feine we: fentlihe Wahrheit ift der Sinn, der fih in ihm verftändlich für das Gemüth entfaltet; jenes Andere aber, was wir oft jo gern willen möchten umd worin wir in befangener Täuſchung erft das wahre Weſen der ‘Dinge fuchen, ift nichts als der Apparat, auf dem die allein werthvolle Wirklichkeit diefer ſchönen Erſcheinung beruht. Anftatt zu Hagen, daß die Sinnlichkeit Die wahren Eigen- ſchaften der Dinge außer uns nicht abbilvet, follten wir glücklich fein, daß fle etwas viel Größeres und Schönered an ihre Stelle jeßt; nicht gewinnen, fondern verlieren würden wir, wenn wir Die leuchtende Herrlichkeit der Farben und des Lichtes, die Kraft und Anmuth der Töne, die Süße des Duftes aufopfern müßten, um an der Stelle dieſer verihmwundenen Welt der mannigfachiten Schönheit und an der genaueften Anſchauung mehr ober minder

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häufiger, nad) diejer oder jener Richtung gehender Schwingungen zu tröften. Iſt es doch außerdem uns möglich, in wiflenfchaft- licher Unterfuchung diefer Erkenntniß babhaft zu werden und jene farblofen Gründe der ſinnlichen Welt in der That noch zu er- veihen, über welche die wirkliche Empfindung diefen täufchenden oder, wie wir richtiger jagen würden, diefen verflärenden Schim- mer verbreitet. Sehen wir deshalb von der Klage ab, als ent- gehe unferer Wahrnehmung das wahre Wefen der Dinge; eben darin befteht es vielmehr, als was fie uns erſcheinen, und Alles was fie find, ehe fie uns ericheinen, das ift die ver⸗ mittelnde Vorbereitung für dieje endlihe Verwirklichung ihres Welens ſelbſt. Die Schönheit der Farben und der Töne, Wärme und Duft find ed, was an fi die Natur hervorzubringen und auszudrüden ringt und für ſich allein nicht zu erreichen ver: mag; fie bedarf dazu als des letzten und edelſten Werkzeuges eben des empfindenden Geiſtes, der allein im Stande ift, dem ftummen Streben Worte zu geben und in der Pracht der finn- lichen Anfhauung zu heller Wirflichleit zu beleben, was alle jene Bewegungen und Geberden der äußeren Welt fruchtlo8 zu jagen fi bemühten. _

Aber ‚wie groß auch die Bedeutung fein mag, die wir auf dieſe Weife der finnlichen Empfindung in dem Zuſammenhange der Welt zufchreiben: wir müſſen doch fürchten, Die alten Klagen nicht durch fie wöllig- zu beſchwichtigen. Denn zu einfeitig fällt ber Bortheil des Genuſſes der geiftigen Welt zu, und alle Natur ſteht ihm gegenüber nur noch als das Teblofe, wenn gleich be= wegliche Gerüft der Mittel da, durch welches die Schönheit der Sinnenwelt nur in einem Anderen, aber nicht in ihm felbft her⸗ vorgebracht wird. Sollen nun die Dinge nur dazu dienen, durch ihre Bewegungen felbft genußlos den Seelen Anregungen zu die- fem innerlichen Leben zuzuführen? Sol die eine Hälfte des Ge- Ichaffenen, die, welche wir unter dem Namen der materiellen Welt zufammenfaflen, durchaus nur zum Dienfte der anderen Hälfte,

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bes Reiches der Geifter, vorhanden fein, und. haben wir nicht Recht mit der Sehnſucht, den ſchönen Glanz der Sinnlichkeit auch in demjenigen anzutreffen, von dem er doch immer fir uns aus- zugeben fcheint? Vielleicht würde nun dieſe Sehnſucht allein nicht hinreichen, um eine neue Geftaltung unferer Anſichten hinläng- ih zu begründen; nehmen wir jedod an, daß eine tiefer gehende Unterfuhung die Kraft dieſes Grundes ergänzte, jo würden wir Doch gewiß auch in den Dingen felbft die Wirklichfeit alles finn- lichen Imbaltes nur unter VBorausfegung der Bedingungen mög- Tih finden dürfen, unter denen fie uns überhaupt denkbar ift. Nur als Formen oder Zuſtände eines Anſchauens oder Wiffens laßt fi num der Inhalt der finmlichen Empfindung, Iaffen fich Licht und Farbe, Ton und Duft begreifen; jollen fie nicht allein Erſcheinungen in unferem Inneren fein, jondern auch den Dingen eigen, von benen fie auszugehen fcheinen, fo müſſen bie Dinge ſich ſelbſt erſcheinen fönnen und in ihrem eignen Empfinden fie in fich erzeugen. Zu diefer Folgerung, welche iiber alles Seiende die Helligfeit Lebendiger Beſeelung ausbreitet, müßte unfere Sehn- fucht entſchloſſen fortgeben; in ihr allein fände fie eine Möglich- feit, dem Sinnlichen eine Wirflichleit außer uns zu verfchaffen, in⸗ dem fie ihm eine Wirflichkeit im Innern der Dinge gäbe; fruchtlos dagegen würde jeder Verſuch fein, das was nur als innerer Zu- ftand irgend eines Empfindens denkbar tft, als eine äuferliche Eigenſchaft an empfindungslofe Dinge zu heften.

So finden wir uns hier zu einem Gedanken zurlidgeführt, ben ſchon unſere erften Betrachtungen tiber die Natur der Seele uns nahe legten, zu jener Annahme eines boppelten Dafeins, das alle Materie führe, äußerlich mit den bekannten Eigenſchaften bes körperlichen Stoffes fi benehmend, innerlich von geiftiger Regſamkeit belebt. Wir wiefen damals die Anwendung dieſes Gedankens zurüd, welche das Ganze des lebendigen Leibes un- mittelbar zugleich als die empfindende Seele auffaflen, oder aus dem Zuſammenwirken vieler Elemente die Einheit unſeres Be⸗ wußtfeins erflären wollte; wir erkannten, daß die letztere nie als

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das Ergebniß aus Wechfelwirkungen einer Vielbeit, fondern nur als Die Aeußerung eines untheilbaren Wejens denkbar fei, und daß die nöllige Verſchmelzung ber geiftigen Thätigleit mit dem Ganzen bes Körpers, das nicht von Ewigkeit beifammen war, fondern im Laufe des Wachsthums aus den verichiebenartigften Beiträgen der Außenwelt zufammentritt, gleich ſehr den allgemeinen Möglicgkeiten als den beftimmteften Thatiachen der Erfahrung widerſpreche. Auch jett Können wir nicht anders denken, und der Verſuch, Die Materie als befeelt zu faflen, muß nothmwendig mit dem anderen verbunden fein, die Geftalt, in welcher unſere un⸗ mittelbare Beobachtung dieſe Materie wahrzunehmen glaubt, die unendlich theilbare Ausdehnung, al8 einen Schein nachzınveifen, dem eine Mannigfaltigkeit untheilbarer, nur durch überfinnliche Eigenſchaften beftimmter Wefen zu Grunde Liegt. Manche bisher zerſtreut und ohne Abfchluß gebliebenen Fäden unferer Ueberlegun- gen laufen jegt zufammen und nähern ſich ihrem Ende; möge e8 ung erlaubt fein, um zu ihrer völligen Vereinigung zu gelan- gen, die Aufmerkſamkeit nod einmal ausbrüdlicher auf jenen Be— geiff der Materie zu richten, den wir bisher gelten Tiefen, zu- frieden, feine Webergriffe in fremde Gebiete abzuwehren, und dem wir jegt endlich auch das zu entziehen fuchen müfjen, welches er eigenthümlich zu beherrihen fchien. Denn während frühere An- fihten aus den Wirkfamfeiten des Stoffes das geiftige Leben wie eine leichte und felbftverftänbliche Zugabe glaubten hervorgehen zu ſehen, ift es jeßt in der That unfere Abfiht, Die alleinige urfprüngliche Wirklichkeit der geiftigen Welt zu vertreten und zu zeigen, daß wohl die materielle Natur aus ihr, aber nicht fie aus dieſer begreifbar ift.

In jenen allgemeinen Betrachtungen, die wir dem Bilde des Veiblichen Lebens vorausſchickten, haben wir uns überzeugt, daß eine Erklärung der mannigfachen Yormen und Ereigniffe, welche uns die Beobachtung im Großen darbietet, nur aus den Wechſel⸗ wirkungen vieler von einander geſchiedener und gegen einander felbftändiger Mittelpunkte aus⸗ und eingehender Kräfte möglich

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ift. Beſtätigt Doc unmittelbar die Wahrnehmung des bewaffneten Auges in vielen Fällen dieſe innere Gliederung ſcheinbar gleidy- artiger Maſſen, und eine eindringendere Unterfuchung, welche alle bie räthſelhaften Erſcheinungen berüdfichtigte, Die uns ber feinere Bau au der unbelebten Körper und die von ihm abhängigen Eigenthümlichkeiten ihres Wirkens zeigen, würde fi unvermeid- lich Dazu genöthigt jehen, diefelbe Organifation der Materie aus einzelnen wirkſamen Theilen nody weit über die Grenzen mög- licher Wahrnehmung hinaus anzunehmen. Aber der legte Schritt, den unfichtbar Fleinen Atomen, auf welche wir jo geführt werben, jede räumliche Ausdehnung, Form und Größe abzufpredden, war doch dort nur eine mögliche, noch nicht eine nothwendige Verboll- ftändigung diefer Anſicht. Konnte man jedoch für die Bedürfniſſe der Phyſik diefe Trage unentjchieden laſſen, fo nöthigt uns bie Borftellung, welche geiftige8 Leben oder eine Analogie befjelben auch für die Materie retten möchte, eine beftimmte Antwort auf fie zu ſuchen.

Bezeicnet nun die gewöhnliche Annahme die Materie als das Ausgedehnte, Undurchdringliche, Widerftandleiftende und Un- vergängliche, jo würden wir ihr zuerft einwerfen müffen, daß zu dieſen Eigenichaften und Handlungsweilen das Subject fehle: wir vermiſſen die Angabe deſſen, was bier ausgedehnt, undurchdring⸗ lich und umvergänglidh ſei, und mas dieſe verjchiebenen Eigen- Iheften, die ihrem eignen Begriffe nad in Feiner nothwendigen Berbindung ftehen, zufammen vorzufonmen nöthige. Beflert nun jene Annahme ihren Mangel durch das Zugeftändniß, daß ja allerdings das eigentlich Seiende in der Materie in einem un- jagbaren Ueberfinnlichen beftebe, aus deſſen Natur eben jene Eigen- ſchaften und ihre Verbindung nothwendig und beftändig folgen: fo würden wir ihr antworten müffen, daß mit dem Begriffe eines Seienden zwar die übrigen Prädicate, aber nicht das der Ausdeh⸗ nung vereinbar fei, durch welches Doch gerade am mwefentlichften Die Materie fi) von allem anderen Seienden zu unterjcheiden meine.

Denn wer bon der Ausdehnung der Materie fpricht, iſt nicht

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zufrieden damit, in jedem Punkte des Raumes, den er im Auge bat, die wirkende Herrichaft die Macht oder die geiftige Gegen- wart einer Subftanz anzutreffen, welche felbft doch nur an einem einzigen Punkte zugegen wäre; jeber Fleinfte Drt dieſes Raumes fol vielmehr von ihr ftetig ebenfo erfüllt fein, wie fie jenen be- vorzugten Punkt erfüllen würde. Und zugleich ift fir dieſe Anficht jeder einzelne Punkt jenes erfüllten Raumes auch für fich ein bleibender Mittelpunkt von Kräften, und der Wegfall aller übrigen würde ihn nicht Kindern können, der Natur des in ihm enthal- tenen Antheil8 an Realem gemäß feine Wirkungen fortzufegen. Sp kommt diefe Vorftellungsweife zu einer unendlichen Theilbar- keit des Ausgedehnten, aber eben damit vermag fie, wie mir fheint, die Borftellung eines wirklichen Getheiltſeins nicht von ihm abzu- halten. Denn das, was nad) feiner geſchehenen Abtrennung von einem Ganzen feine Wirkungen mit dem proportionalen Antheil von Stärke, der feiner Größe entipricht, ungeftört fortzufeßen ver- mag, eriftirte doch wohl ſchon in dem Ganzen als ein felbftän- diger Theil, mit andern gleich felbftändigen zwar zu einer geord⸗ neten Summe, aber nicht zu einer wahrhaften Weſenseinheit ver- bunden. Oder umgefehrt, mas im Stande ift, in eine Vielheit völlig ſelbſtändiger Theile zu zerfallen, einzelne ohne Aenderung feiner Natur aus ſich zu entlaffen, andere, die nie feine Theile waren, in fi aufzunehmen: das kann in folder Gleichgiltigfeit gegen Vermehrung und Verminderung nicht mehr als ein einziges in fi geſchloſſenes Wefen, fondern nur als eine Vereinigung ur- ſprünglich vieler gedacht werden. Wan mag dieſer äußeren BViel- fältigfeit immerhin eine innere Einheit des Vielen entgegenfeßen, men mag annehmen, daß alle diefe Theile durch Gleichheit ihres Weiens, durch gemeinfamen Sinn, durch ſolidariſche BVerpflich- tung zu einer gemeinfhaftlichen Entwidlung und Wirkungsmeife auf das Innigfte verbunden find: fobald wir abjehen von dem, was fie einft waren, und dem, was fie fein follen, fo lange wir nur ind Auge faffen, was ſie find, kann Feine diefer höheren Ein- beiten und darüber täufhen, daß fie zunächſt unmiderfprechlich Lotze I. 4. Aufl. 26

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eine Bielheit bilden. Welche Nebengedanten man ſich auch immer über die Innerlichleit des Ausgevehnten machen möge: wir be= ftehen darauf, daß man ıim ihretwillen feine Aeußerlichkeit nicht bemäntele. Und dieſe Yeußerlichleit, eben das Ausgedehntſein, wird nie denkbar werden, ohne daß wir einzelne Punkte voraus- fegen, die unterfheibbar , die außer einander, die durch Entfer- nungen von einander getrennt find, die endlich durch die Wirkung ihrer Kräfte oder durch ihre gegenfeitigen Einflüffe iiberhaupt ein- ander die Drte beftimmen, welche fie einnehmen. Dieſe Unter- ſcheidbarkeit vieler Punlte ift nicht eine beiläufige Folge der Aus- behnung, fondern ſie ift das, worin ihr Begriff felbft beftebt; wer den Namen der Ausdehnung ausipricht, bezeichnet Damit eine Eigenſchaft, die nur gegenfeitige Beziehungen von Mannigfachem, nur Nichteinbeit, nur Wechfelwirkung einer Vielheit ausbrüdt.

Jeder Berfuh, die Ausdehnung als Prädicat nicht eines Syſtems von Wejen, jondern eines einzelnen Elementes zu faflen, müßte nothwendig die andere Behauptung einfließen, daß im diefem Elemente die Theile, die auch in ihm untericheivbar fein müffen, damit es eine räumliche Größe darftelle, doch nie zu felbftändiger und freier Eriftenz trennbar feien. Aber unfere Er- fabrung befräftigt im Großen wenigftens durchaus die Trennbar- feit des Unterfcheidbaren; nur in den unfichtbar Heinen Dimen- fionen der Atome könnten wir hoffen, zugleich Ausdehnung und untheilbare Stetigfeit anzutreffen. Aber wir wirben wenig mit diefer letzten Vermuthung gewinnen. Denn worin würden wir dann den Grund ber beftimmten, weder größeren noch geringeren Ausdehnung fuchen, welche jeves Atom unveränderlich füllt? Wenn nicht in der Anzahl der Theilchen, die e8 einjchliegt, worin dann anders, als darin, daß die üiberfinnliche Natur defien, was bier wahr oder ſcheinbar fi ausbehnt, nur zur Erfüllung dieſes und feines größeren Raumes, nur zur Herftellung dieſer und feiner größeren unzerreißbaren Scheingeftalt ausreichte? So ift zulegt Doch auch für diefe Anficht die Größe der Ausdehnung nur Der räumliche Ausdruck für das Maß intenfiver Kraft, und es iſt

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nicht eigentlih das Weſen, fondern feine Wirkſamkeit, welche den Kaum füllt. Gefteben wir darum lieber fogleih zu, daß Aus- dehnung jo wenig das Prädicat eines Weſens fein kann, als ein Strudel oder Wirbel die Bewegungsweife eines einzelnen Ele- mentes ift; beide laſſen fih nur als Formen der Beziehung zwi- chen vielen denfen. So werben wir genöthigt, jene Vorftellungs- weife feftzuhalten, die uns früher nur als eine mögliche erichien und die ausgedehnte Materie als ein Syſtem unausgedehnter Weſen zu faſſen, die Durch ihre Kräfte ſich ihre gegenfeitige Lage im Raume vorzeichnen, und indem fie der Verſchiebung unter einander wie dem Eindringen eines Fremden Widerftand Teiften, jene Erſcheinungen der Undurchdringlichkeit und der ftetigen Naum- erfüllung berborbringen.

Die Neigung, die Ausdehnung unmittelbar als Eigenfchaft des Wirflichen zu denfen, beruht vielleicht auf einer Vorftellung, Die wir and unferer eignen Xebenserfahrung veritohlen in dieſen ganz anderen Gedankenkreis einführen. Jene Anfichten wenig- ſtens, welche die Ausdehnung der Materie nur als einen von vielen Ausdrücken deuten, in welchen ein viel allgemeineres Be⸗ ſtreben des fchaffenden Abfoluten, eine Sehnſucht nach Entfaltung und Ausbreitung ins Unendliche ſich kundgebe, verrathen in ber äfthetifchen Begeifterung für dieſe Form des Thuns ihre Erinne- rung an den Genuß, den die Freiheit ungemeflener Ausbreitung und Erweiterung unjeres Dafeins uns menfchlichen Weſen ver- ſchafft. Für uns ift der Raum der Umgebung zunädhft eine Schranke, eine Weite, die wir Durch Bewegung überwinden und aufzehren müſſen; für uns ift deshalb Bewegung gleichzeitig An- firengung und Genuß; jenes, weil wir fie nur durch den Me- hanismus unferer Glieder durchführen Tönnen, dieſes, weil die veränderte Stellung den Reiz neuer Anſchauungen und das Be⸗ wußtfein unferer Kraftübung erweckt, durch die wir fie errungen haben. Diefe Stimmung, dies Gemeingefühl gehobener Kraft und befriedigter Sehnfuht, das uns in der Durchwanderung großer Entfernungen belebt, tragen wir unvermerft auf den all-

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gemeinen Begriff der Bewegung über. Alle jene Phantafien, Die in der unenbliden Bewegung der Himmelstörper einen Gegen- ftand Ichwärmerifcher Verehrung fahen und in ihr das wahre Sein und die ewige Thätigfeit ded Ceienden fanden, meinten im Stillen, daß die Ueberwindung diefer ungeheuren Räume für jene Körper eine Leiftung fei, deren lebendigen Kraftaufwand fie felber empfänden; wie der Vogel ſich feines Fluges freut, jo ge- nöffen die Planeten felber den Schwung ihrer Bewegung, und wie jener mit ſcharfem Auge die fchöne Verſchiebung feiner Um- gebimgen überblidt, an ihr den durchmeſſenen Raum ſchätzend, ſo fei aud für diefe ein Bemußtfein von der Größe der überwun— denen Entfernungen in irgend einer Weile vorhanden. Es find ähnliche Nebengedanken, welche uns für die Exrpanfion des Abfo- Iuten und für die ftetige Ausdehnung ber Materie begeiftern; wir begleiten fie dabei mit einem Gefühl der Entlaflung von be= engendem Drude; und wie wir tiefemathmend in der Erweiterung unferer Bruft unmittelbar die Zunahme unferer Lebenskraft zu empfinden glauben, jo Liegt eine berworrene Erinnerung an das fühlbare Glüd folder thätigen Ausbreitung aud in der Vorftel- lung jener raumerfüllenden Thätigfeit, die wir der Materie zu- jhreiben. Und doch überzeugt uns eine einfache Betrachtung, daß von allen den Bedingungen, auf welden für uns Die Möglichfeit diefer Luft beruht, Feine fiir die unorganifirte Materie vorhanden ift; je urfprünglicher ihr die Ausdehnung zulommen fol, um fo weniger ift fie eine Leiftung fir fie, deren Ausführung eime Te bendige Anftrengung erforderte; und alle jene Expanfion des Ab- foluten Tann nicht als eine Luft der Befreiung und ber Ueber- windung von Schranfen, fondern nur al8 Zerfall in eine Biel- heit verichiedener Punkte gefaßt werden, auf deren Aufereinan- derfein alle Ausdehnung allein beruht.

Bielleiht haben wir den Vorwurf zu beforgen, in dieſen Be- merfungen Nebenvorftellungen, die ſich als Zuthaten individueller Phantafie wohl zufällig bie und da einfchleichen, für wejentliche Beitandtbeile jener Anfiht von einer ausgedehnten Materie aus⸗

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gegeben zu haben. Aber zu viele Beispiele zeigen uns doch, wie häufig dieſe Tiebenswirdigen Erinnerungen an das volle menfd- lihe Dafein wirklich im Stillen Die Erwägungen Ienten, deren Zügel das reinfte und abftractefte Tpeculative Denken ganz feft allein zu führen glaubt; und in unferem Falle wüßte ich in der That nicht, wenn das Seiende nichts davon hätte, ausgedehnt zu fein, was uns dann noch veranlafien follte, jo hartnädig feiner inner- lichen Natur dieſe Eigenſchaft anhängen zu wollen und mit ftetiger Materie den Raum völlig auszuftopfen, den, für alle Erflärung der Erſcheinungen binreihend, überſinnliche Weſen mit ihren lebendigen Kräften beherrſchen könnten. Aber hinzufügen könnten wir im Gegentbeil, daß unferer Auffaflung möglich fein würde, was jener mißlingt;. indem jedes einzelne Weſen durch feine Wechfelwirkung mit den übrigen ſich jelbft und dieſen ihre Orte im Raume beftimmt, Wirkungen ausjendet und in fih aufnimmt, wird e8 von dieſer feiner Lage zu der Geſammtheit der anderen auch Eindrüde empfangen Können, die dem ftetig Ausgedehnten feine bloße Gegenwart und Ausbreitung im Raume nicht ver-

Ihafft haben würde.

Mit diefer Borausfegung unräumlicher Atome haben wir die einzige Schwierigfeit befeitigt, die uns hindern fonnte, jenem Ge⸗ danfen eines inneren geiftigen Lebens nachzuhängen, weldes alle Materie durchdringe. Die untheilbare Einheit jedes Diefer ein⸗ fachen Weſen geftattet ung, in ihm eine Zufammenfaflung der äußeren Eindrücke, die ihm zulommen, zu Formen der Empfindung und des Genufjes anzunehmen. Alles, was an dem Inhalte der Sinnlichkeit unfere Theilnahme erregte, Tann num in diefen Wefen eine Stätte objectiver Exiſtenz haben, und unzählige Ereigniffe, auf deren Borbandenfein uns nicht unjere unmittelbare Empfin- dung, fondern nur der Umweg wiffenfchaftlicher Unterfuchung führt, brauchen num nicht verloren zu geben, fondern Können im Innern ber Stoffe, an denen fie auftreten, zu mannigfacher ung unbe-

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kannter Wärme und Schönheit der Wahrnehmung verwerthet wer⸗ den. Jeder Drud und jede Spannung, welde die Materie er- leidet, die Ruhe des ficheren Gleichgewichtes wie die Trennung früherer Zufammenhänge, alles dies gefchieht nicht nur, ſondern ift geſchehend zugleich der Gegenftand irgend eines Genuſſes; jedes einzelne Weſen, mit abgeftuften Wechfelwirkungen in das Ganze der Welt verflochten, ift, wie einer der größten Geifter ımferes Volkes es nannte, ein Spiegel des Univerfum, den Zufammen- bang des Weltalls von feinem Orte aus empfindend und die be= fondere Anfiht abbildend, melde er diefem Orte und dieſem Standpunkte gewährt. Kein Theil des Seienden ift mehr un- belebt und unbefeelt; nur ein Theil des Geſchehens, jene Be- wegungen, welche die Zujtände des einen mit denen des andern vermitteln, fchlingen fi als ein äußerliher Mechanismus durch die Fülle des Befeelten, und führen allem die Gelegenheiten und Anregungen zu wechfelnder Entfaltung des inneren Lebens zu. Wir zeichnen mit diefer Schilderung eine Auffaffung, fir welche wir, überzeugt von ihrer weſentlichen Wahrheit, doch kaum ein andered Zugeftändniß erwarten dürfen, als daß fie unter den Träumen, die unfere Phantafie fi) entwerfen Tann, einer von denen fei, bie nicht im Widerſpruch ˖mit dem Wirklichen ftehen. Aber eben fo wenig fei ihre Wahrfcheinlichkeit überredend, denn indem fie meine, eine ſchwärmeriſche Sehnſucht zu befriedigen, biete fie weit mehr, als Diefe gern annehmen möchte. Wer wiirde den Gedanken ertragen wollen, daß in jedem Staub, den unfer Fuß tritt, in dem profaifchen Stoffe des Tuches, das unfer Ge- wand bildet, in dem Material, welches unfere Technik zu man- cherlei Geräthen auf das Willkürlichſte formt, überall die Fülle bes feelenvollen Lebens vorhanden fei, das wir uns freilich gern in dem geheimnißvollen Umriſſe der Blume und vielleicht noch in der regelmäßigen ſchweigſamen Geftalt des Kruftalles ſchlummernd denfen? Allein mit diefem Einwurf wiirde man doch nur ben Irrthum wiederholen, mit dem, wie wir früher erwähnten, ſchon unfere finnlihe Anſchauung geringſchätzend über die Schönheit der

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einfachen Beftandtheile Hinmegfieht, welche der Zufall ihr in ungünſtiger und verworrener Stellung und Miſchung vorführt. Jener Staub ift Staub nur für den, melden er beläftigt; die gleichgiltige Form des Geräthes fest den Werth der -einzelnen Elemente, aus denen e8 befteht, ebenjo wenig herab, als eine verkümmerte gefellichaftlihe Lage, melde alle Aeußerung bes geiftigen Lebens unterdrückt, die hohe Beſtimmung aufbebt, für welche auch dieſe niebergebrüdten Bruchitüde der Menjchheit dennoch berufen find. Wenn wir von dem göttlichen Urſprunge und dem himmliſchen Ziele der menſchlichen Seele ſprechen, haben wir mehr Urſache, einen befümmerten Blick auf dieſen Staub bes Geifterreich® zu werfen, deffen Leben uns häufig jo fruchtlos ſcheint und feine Aufgabe völlig verfehlend; weit weniger Grund würden wir haben, jenen unbeveutenden Beftandtheilen der Außen⸗ welt ihr inneres Leben zu leugnen, denn wie fie auch in ihren Zufammenbäufungen uns unſchön erjcheinen mögen, fie vollziehen wenigftens überall und ohne Mangel die Wirkungen, welche ihnen die allgemeine Ordnung als Yeußerungsweifen ihrer inneren Zu⸗ ftände geftattet hat.

In der That nun beruht die Neigung, welche wir hier für die Borftellung einer durchgängigen Befeelung des Weltalls be- fennen, nicht auf dem Wunfche, jenen Glauben an die Verfchmel- zung unferer Seele mit dem Ganzen unferer leiblihen Drgani- fatton, den wir früher zurückwieſen, jest noch und anzueignen. Sie hängt überhaupt nicht mit Diefer engeren Frage nad dem Zufammenhange des Geiftigen und Körperlihen im uns zu— fammen, fondern geht aus einer allgemeineren Weberzeugung über das Wefen der Dinge hervor, deren Gründe vollftändig und geordnet zu entwideln die Aufgabe der ftrengeren Wiſſenſchaft bleiben muß. Diefe würde zu zeigen haben, wie undenfbar und widerfprechend im Grunde jene Vorftellung tft, mit der allerdings das gewöhnliche Leben und ſelbſt die berechnende Unterfuchung ver Welt fi zu behelfen weiß: die Vorftellung von einem Seienden, welches nie für fich felbft vorhanden wäre, in all feinem: Sein

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nur den Sammelpuntt von Eindrüden bildete, die nicht zum Gegenftand feines eignen Genuſſes würden, oder den Ausgangs- punft von Wirkungen, die weder in feinem Wiffen noch in feinem Wollen begründet, erft für ein Anderes eine Anregung zu mannig- faltigem Thun enthielten. Bergeblid würden wir verſuchen, das Was dieſes Weſens durch irgend eine einfache und überfinnliche Dualität bezeichnet zu denken; wir würden uns überzeugen müffen, daß eben fo wie die finnlichen Qualitäten, deren objective Wirk⸗ lichkeit aufzugeben wir uns leichter entichlöffen, auch. alle jene überfinnlihen, bie wir ihnen als das Wahre gegenüberftellen möchten, ihr Dafein doch nicht minder nur in dem Bewußtſein deffen haben, ber fie denkt, und daß fie nie im Stande fein würben, den Duell ver Wirkfamleiten und Kräfte zu bezeichnen, die wir von den Dingen ausgehen jehen und für welde wir eine Be— gründung in dem Wejen derfelben fuchen müſſen. Jene Scheu, den einen Theil der Welt nur als das blinde und leblofe Mittel für die Zwecke des anderen Theiles anzufeben, jene Sehnfudt, das Glüd der Befeelung über Alles zu verbreiten und die überall in jedem Punkte ſich jelbft genießende Welt als eine vollkom— menere gegenüber dem zwiejpältigen Aufbau des Geiftigen über dem bewußtlojen Grunde zu rechtfertigen: dies Alles ift nur Die eine Reihe ber Beweggründe, melde und drängen, hinter der ruhigen Oberfläche der Materie, Hinter den flarren und gefeß- lichen Gewohnheiten ihres Wirkens die Wärme einer verborgenen geiftigen Regſamkeit zu ſuchen. Eine andere und bringendere Keihe von Motiven Tiegt in den inneren Widerfprücden, die uns den Begriff eines nur Seienden, aber nicht fich ſelbſt Befiten- den und Genießenden unmöglich machen und ung zu der Weber: zeugung nöthigen, daß lebendigen Wefen allein ein wahrhaftes Sein zufomme, und daß alle anderen Formen des Dafeins ihre Erklärung nur aus dem geiftigen Leben, nicht dieſes Die feinige aus ihm erhalten könne.

So finden wir uns faſt am Ende unfered Weged auf Die Gedanken zurüdgeführt, die am Anfange der menfhliden Ent-

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widlung in den mythologifchen Dichtungen das Gemüth bewegten. Und mit Abficht erinnern wir an dieſe Verwandtſchaft, die für bie wiſſenſchaftliche Sicherheit unferer Auffaffung wenig empfehlend ſcheint. Denn in der That haben wir mit diefer Behauptung einer durchaus befeelten Welt nur eine Ausficht bezeichnen wollen, die fidh bier vor und eröffnet und einen vworauseilenden Blid wohl, aber nicht einen wirflihen Gang in unendliche Fernen möglih macht. Wie gern wir diefen Blid im Gtillen feft- halten mögen, ihn in die wirkliche Wiffenfchaft einführen dürfen wir dennoch nicht; wir würden in der That nur zu baltlofen Träumen einer weniger maleriſchen Mythologie zurückkehren, wenn wir das auszuführen verſuchen wollten, was wir als die Wahr- heit der Sache allerdings uns denken: wenn wir zeigen wollten, wie die Geſetze der phyſiſchen Erfcheinungen aus der Natur der geiftigen Regfamleit hervorgehen, die im Inneren der Dinge ver- borgen ihr wahres Wefen und der einzige Duell aller ihrer Wirk— famteit if. Wohl hat ſchon das Alterthum von Liebe und Haß gefprochen, als den Gewalten, welche ‚die Stoffe bewegen und die Formen ihres gegenfeitigen Verhaltens beftimmen, und hat dadurch auf ein lebendige und verftändliches Motiv jene An- ziehungen und Abftoßungen zu begründen gefucht, die wir jett ohne Berftändniß ihres rundes nur thatfächlid an Die todte Maſſe geknüpft denken. Wohl müfjen wir im Allgemeinen zugeben und fefthalten, daß jede räumliche Bewegung der Stoffe fi als der natürliche Ausdrud der inneren Zuftände von Weſen deuten läßt, die mit einem Gefühle ihres Bebürfniffes, mit der Sehnſucht nach wahlverwandter Ergänzung, mit der Empfindung beginnen- ber Störung einander ſuchen oder fliehen: aber gewiß ſtehen wir nicht jo im Mittelpunkt der Welt und des ſchöpferiſchen Gedan— tens, der fih in ihr ausdrückt, daß wir jemald aus einer voll- ftändigen Erkenntniß des geiftigen Weſens, die und ja verfagt ift, die beftimmten Gefete der phufiichen Vorgänge als nothwendige Folgen abzuleiten vermöchten. Hier, wie fo oft für die Beichränft- heit des menjchlihen Standpunftes, ift der Weg des Erkennens

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ein anderer als der, auf welchem die Natur der Sache fi ent- widelt; Nichts bleibt und übrig, als der Erfahrung die Gefete abzulaufchen, die ſich in den legten Verzweigungen der Wirklich- feit geltend erweifen, fiir das Ganze der finnlichen Welt aber und im Stillen das Verſtändniß zu bewahren, daß fle doch nur bie Berhüllung eines unendlichen geiftigen Lebens ift.

Werfen wir num einen Blid auf die Vortheile, welche dieſe Umgeftaltung unferer Anfichten für die Auffaffung des Berbält- niffe8 zwiſchen Leib und Seele gewähren könnte, fo werben mir fie vielleicht geringer, vielleicht in anderer Richtung gelegen finden, als wir erwarteten. Wer Anftoß an der Möglichkeit einer Wechſel⸗ wirkung nahm, die zwifchen der Seele und dem anders gearteten Realen der Materie ftattfinden follte, wird feine Bedenken nun durch die Einficht befchwichtigen können, daß ja in ber That nicht verjchiedene Wefen einander hier gegenüberftehen, jondern daß die Seele als ein untheilbares Wefen, der Körper als eine zu- fammengeordnete Bielheit anderer, ihrer Natur nad verwandte und nun gleichartige Glieder dieſes Verhältniſſes find. Nicht auf den Körper, jofern er Materie ift, wirkt die Seele, fondern fie wirkt auf die mit ihr vergleichbaren überfinnlichen Wejen, die nur durch eine beftimmte Form ihrer Verknüpfung und den Anſchein der ausgedehnten Materie gewähren; nicht al8 Stoff und nit mit Werkzeugen des Stoffes itbt der Körper feinen Einfluß auf den Geift, fondern alle Anziehung und Abftogung aller Drud und Stoß find felbft in jener Natur, die uns aller Bejeelung ledig Icheint, felbft wo fie von Stoff zu Stoff wirken, nur der ericheinende Ausdrud einer geiftigen Wechſelwirkung, in der allein Leben und Thätigfeit if. Aber wir legen wenig Werth auf dieſen Vortheil, durch den nur eine eingebilbete Schwierigfeit entfernt, und das Unbegreifliche, wie überhaupt Eines auf das Andere wirken könne, ung nicht klarer wird.

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Noch weniger Tann unfere Anficht jenen gefallen, denen ein völliges Sneinanderaufgehen von Körper und Seele der nothiwen- Dige und allein wünſchenswerthe Abſchluß aller unſerer Betrach- tungen ſchien. Denn fo fcharf wie jemals vorher fahren wir aud jeßt fort, die eine untbeilbare Seele, die wir die unfere nennen, dem befeelten Körper gegenüberzuftellen, und fo hartnädig wie früher müfjen wir den Körper felbft als ein Syitem von Theilen betrachten, aus deren zufammenmirkenden Thätigkeiten fein Leben hervorgeht, nur daß eine innerliche geiftige Regſamkeit jett jedes der Theilchen füllt, die unferer früheren Darftellung nur als Ausgangspuntte phnfiicher Kräfte von Bedeutung waren. So wenig ed uns früher möglich ſchien, aus der Durchkreuzung phnfiiher Wirkungen der Nerven die eigentbüimlichen Elemente des geiftigen Lebens zur erklären, ſo wenig reicht jetzt Die vergeiftigte Natur der Theile hin, um die Entftehung des einen Bewußt⸗ jeins in uns begreiflicher zu machen. Was aud immer jebed Atom eined Nerven innerlich in fich erleben mag, ob es unter dem Eindrud der äußeren Reize eine der unferigen ähnliche oder ihr unähnlihe Empfindung erzeugen, fie wie wir mit eimem Grade der Luft oder Unluft begleiten und ſich durch fie zu Stre- bungen hinreißen laſſen mag: all dieſes innere Leben ift für unfere eigne geiftige Entwidlung ohne alle Bedeutung, jo lange es ſich nicht äußert. Nur dadurch, daß jedes Atom der Nerven auf das ihm zunächft Tiegende feinen Eindruck überträgt, bis durch die gefchloffene Kette aller die Erregung auch unferer Seele üiber- Tiefert wird, nur hierdurch greifen die inneren Zuftände dieſer Elemente in die Geftaltung unſeres geiftigen Lebens mitbeftim- mend ein. Aber feines von ihnen tbeilt feinem Nachbar dieſe Zuftände fertig mit; keine Welle bevußter Empfindung, Teben- digen Gefühles und Strebens kann fi in der Bahn des Ner- ven fortbewegen, um durch bloßen Eintritt in unfere Seele nun unfere Empfindung, unfer Gefühl, unfer Wille zu werden; jedes einzelne Wefen kann das, mas fein eigner Zuftand fein foll, nur durch die Thätigkeit feiner eignen Natur in fich ſelbſt erzeugen,

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und nicht8 wird barauf anlommen, ob der äußere Reiz, welder ed dazu anregt, dem zu erzeugenden Zuſtande ſelbſt fchon glich oder nicht. Wenn die Begeifterung für einen großen Gedanken rajc über eine Menge der Menjchen ſich verbreitet, fo geht fie nicht fertig von einem zum andern über, wie eine Luftart ober ein anftedendes Miasma, welches der eine Körper ausdünſtet und ber andere einathmet. Jede Seele muß durch ihre eigne Kraft fie von Neuem erzeugen und aus ihrem Innern heraus fidy für den Gegenftand entflammen, deſſen Bild und Vorſtellung felbit nur durch mannigfache Vermittlungen conventioneller Sprachlaute und aufflärender Erinnerungen von einem zum andern mittheil- ber ift.

. Haben wir daber jhon längft die Möglichkeit zugegeben, bag in jedem Atom des Nerven ein dem ähnlicher Vorgang fich ereigne, welchen unſer eignes Innere in der bewußten Empfin- dung erfährt, jo müfjen wir doch zugleich Die andere Behauptung wiederholen, die wir hinzufügten, Die nämlich, daß für alle Ent- wicklung der Piychologie diefe Möglichkeit vollkommen gleichgiltig if. Für Die Erzeugung unferer Empfindung kommen die Nerven nur als Boten in Betracht, dazu beftimmt, eine Nachricht an ihren Empfänger zu befördern. Vielleicht kennen die Boten den Inhalt der Nachricht und überdenken ihn während des Weges mit gemüthlicher Theilnahme; aber in dem Empfänger wird Ber: ftändniß und Würdigung des Inhaltes, wenn beides ihm nicht aus feinem eignen Innern quillt, duch das Mitgefühl des Ueber⸗ veichenden nicht erzeugt, und nicht dadurch gemindert werben, daß eine völlig theilnahmloſe Hand ihm zuletzt gleichgiltig ihre Botſchaft überlieferte. Die Aufgabe, zu weldher fie berufen find, erfüllen daher die Nerven ganz ebenjo gut, wenn fie nur Bahnen für die Leitung eines rein phyſiſchen VBorganges find, der nur ein- mal, nur bei feinem Eindrud auf unfere Seele, eine Verwand⸗ ung in Empfindung erfährt, und der Wiſſenſchaft ift es, nicht ohne großen Bortheil für ihre Sicherheit, erlaubt, jede Rüdficht auf die unbekannte geiftige Regſamkeit bei Seite zu Yaffen, mit

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welcher ihrerſeits die äfthetifche Anfiht der Natur alles Vorhan⸗ dene erfüllen Darf.

In der That nur die Schönheit der lebendigen Geftalt wird und verftändlicher durch dieſe Borausfegung. Sie wiirde aller- dings auch für jene Anficht nicht dazuſein aufhören, für melde der Körper nur eine Summe unbelebter Theile wäre; fo wie wir in bem Faltenwurf des beweglichen Gewandes die Kraft und Größe, Anmuth und Zierlichkeit, wie den wechjelnden Reichthum ver ZT hätigleiten nadhempfinden, durch deren Spuren das geiftige Leben den jelbfilofen Stoff zu befeelen meiß, fo würde ber Körper, als eine noch folgjamere Hille und zu mannigfaltigerem Ausdrude geſchickt, und die fchöne und unbedingte Herrichaft der Seele über die finnlihen Mittel der Erſcheinung verrathen. Aber gewiß ge- winnt die Wärme diefer Schönheit, wenn wir das Ebenmaß ber menfchlichen Geftalt und die harmonische Lagerung ihrer Theile nit nur als die feine Berechnung eines in fi zufammenpaffen- den Werkzeuges, wenn wir die anmuthigen Berjchiebungen, durch welche im Wechfel der Stellungen jeder Theil, ſich ſpannend ober erſchlaffend, mit den übrigen ein neues Gleichgewicht ſucht, nicht nur als das Kunſtſtück einer ihre eignen Störungen ausgleichen- den Verrichtung zu faffen brauden; wenn wir vielmehr in jedem Punkte der Geftalt ein Gefühl ahnen Dürfen, in welchem er das Glück feiner eigenthümlichen Stellung und feiner mannigfadhen Beziehungen zur dent Ganzen genießt, oder wenn wir in jenem abgeftuften Nachhall leiſer Dehnungen und Stredungen, mit denen jede örtliche Bewegung fi über die Umriſſe des Körpers ver- breitet, ein Zeichen des feelenvollen Verſtändniſſes erbliden, mit welchem alle Theile zu dem gemeinfamen Genuffe ihrer jchönen Berkettung zuſammenſtimmen.

Es ift das Bild einer gefelligen Ordnung vieler Wefen, unter welchem wir jett die lebendige Geftalt und ihr geiftiges Leben auffaffen. An einen bevorzugten Punkt der Organifation geftellt, ſammelt die beherrſchende Seele die unzähligen Eindrüde, die ihr eine Schaar weſentlich gleichartiger, aber durch Die gerin-

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gere Bebentung ihrer Natur minder begünftigter Genoffen zuführt. In ihrem Innern begt fie das Empfangene und geftaltet e8 zu bewe- genden Antrieben, welche fie der bereitwilligen Kraft jener Gefähr- ten zur Entwidlung geordneter Rückwirkungen mittheilt. Ein allge- meines Verftändnif und Mitgefühl durchdringt diefe Vereinigung und fein Erlebniß des einen Theiles muß nothwendig verloren fein für den anderen, nur der eigne Plan des Ganzen kann die allſei⸗ tige Verbreitung der Wirkungen hemmen. Ich weiß nicht, in welchem Punkte die Befriedigung, die mir diefe Anficht zu gewähren ſcheint, durch die Annahme überboten werden könnte, welde Die völlige Berihmelzung der Seele mit der leiblichen Organifation verlangt, und den unmittelbaren Genuß, den die unjere jedem einzelnen Theile von ben Erlebniffen der übrigen verihafft, in ein unmittelbares Zuſammenfallen aller verwandeln möchte Wenn wir die Seele wie einen verſchwommenen Hauch duch den Umfang des Körpers ausgebreitet denfen, wenn wir fie unmittelbar mitleiden und mit- thun laſſen, was er in jevem Augenblide und an jedem einzel- nen Punkte feines Baues erfährt und leiftet: gewinnen wir da⸗ durch etwas, was uns die Borftellung einer mittelbaren Wechſel⸗ wirkung nicht gewähren könnte? Werben die Empfindungen uns weniger deutlich zu Theil, wenn wir ihre Erregung nur von Der legten Einwirkung eines phyſiſchen Nervenreizes auf die Natur einer untheilbaren Seele abhängig denen, und werben fie klarer baburch, daß mir jeden einzelnen Schritt der phuftichen Vermitt- Yung, durch welche fie uns überliefert werben, von einer geiftigen Thätigkeit begleitet fein Laffen, die do nie im Bewußtſein zum Borihein kommt? Sind unfere Bewegungen vielleiht in höhe— rem Sinne unfere eignen lebendigen Thaten, wenn unſer Wille mitläuft bis an das Ende der motorischen Nerven und vielleicht bis in die Fafern der Musteln, und bleiben fie nicht vielmehr eben fo wohl unfer Eigenthum, wenn nur einmal eine Regung der Seele nöthig war, um ben vorbereiteten Zuſammenhang bienfibarer Theile zur Thätigkeit aufzurufen? Was überhaupt jollte uns bewegen, dieſes Klare Bild einer geordneten Herrſchaft

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des Einen über eine organifirte Bielheit in die trübe Vorftellung jener dumpfen Einheit Aller zu verwandeln, im welcher jede regel- mäßige Form der Wechſelwirkung, melde die Beobachtung uns fennen lehrt, nur noch eine unverftändliche Weitläuftigkeit zu fern Ihiene? Alles, was wir im Leben ſchätzen und woraus jeber eblere Genuß entipringt, ruht auf diefer Form der Verbindung eine? Mannigfachen; in unzähligen Individuen verförpert, führt das menſchliche Geſchlecht dieſes Reben beftändiger Wechſelwirkung der gegenſeitigen Theilnahme in Liebe und Haß, des beſtändigen Fortſchrittes, der den Gewinn des einen Theiles zum Mitgenuſſe der übrigen bringt. Jede Verſchmelzung der Vielen zu Einem ſetzt nur die Größe des Lebens und des Glückes herab, denn ſie vermindert die Anzahl der Weſen, deren jedes für ſich den Werth gegebener Verhältniſſe hätte genießen können. Ueberall iſt die Einheit, in die wir uns ſehnen mit einem Andern einzugehen, nur die vollftändige Gemeinſchaft der Mittheilung, der gegenſeitige Mitgenuß des fremden Weſens, aber nie jene trübe Vermiſchung, in der alle Freude der Vereinigung zu Grunde geht, weil fie mit dem Gegenſatz auch das Daſein deſſen aufhebt, was feine Ver⸗ ſöhnung empfinden konnte.

Und wie wenig begünftigt endlich doch die unbefangene Be- obachtung den Traum von diefer Einheit! Aus zerftreuten Be- ftandtheilen der Außenwelt wird allmählich dieſer Bau des Kür- perd zujammengelefen, und in beftändigem Wechſel gibt er ihr Theile zurüd. Was ift alfo das, womit die Seele Eines fein Könnte? Verſchmilzt fie abwechjelnd mit dem ankommenden Erjag des Leibes und fcheidet filh aus von dem zerfallenden Reſte, worin ann dann jene Einheit anders beftehen, als in Wechjelmirkungen, die fich entjpinnen und wieder erlöfchen, je nachdem der Naturlauf neue Elemente zu der Gejellung der übrigen hinzutreten läßt, andere aus ihren Beziehungen verdrängt? Wie das Reiſegewühl der Menſchen ift dieſes Leben der Theile. Wir wiſſen nicht, wo⸗ her fie kommen und nicht wohin fie gehen; fremd gerathen fie zufammen und für kurze Zeit bildet fich zwiſchen ihnen ein ges

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felliger Verkehr, dem gemeinfamen Zwecke der Reife in allgemei- nen Regeln des Verhaltens entiprechend, umd jeder ſammelt in fi Die Anregungen, die das mittheilende Wiffen des Anderen ibm gewährte. So mögen wir wohl jedes Atom des Körpers als ben Sit einer eignen geiftigen Regſamleit denen; aber wir fennen fie nicht; wir wiffen nichts won ihrer früheren Geſchichte, und nidht8 von der Entfaltung, die ihr vielleicht die Zukunft bringt; für einen vorübergehenden Zeitraum in den regelmäßigen Strudel unferes lebendigen Körpers hineingezogen, mag jedes Element feine eignen inneren Zuftände durch neue Erfahrungen bereichern und unferer Entwidlung durch die vermittelnde Fortpflanzung der Erregungen dienen, welche die Außenwelt ihm mittheilt; aber fein inneres Lebens ift doch nie das unfere, und wenn dieſe Vereini⸗ gung der verjchiedenen Weſen zu Grunde gebt, auf denen unfere lebendige Geftalt beruht, dann haben wir wohl alle zufammen etwas Gemeinfames erlebt, aber doch nur als urjprünglich ver- ſchiedene Weſen, die aus einer vorübergehenden Berührung fid wieder trennen.

Fünftes Kapitel.

Bon den erfien und legten Dingen bes Seelenleben®.

Beſchränktheit ber Erkenntniß. Tragen über bie Urgeſchichte. Unſelbſtändigkeit alles Mechanismuß. Die Naturnothwendigkeit unb bie unenblidde Subflanz. Möglichkeit des Wirkens überhaupt. Urſprung beſtimmter Geſetze bei Wirkens. Unſterblichkeit. Entftehung ber Seelen,

Aber woher kamen am Aufang der Geſchichte zu dieſem Spiele des bejeelten Lebens jene Wefen zufammen, um in folder Bereinigung zu Trägern jo ſchöner Entwidlungen zu werden? Und wie wiederholt ſich in ber Fortpflanzung der Gefchlechter dieſes Wunder, welches jede Seele ihren Körper finden, jede be ginnende leibliche Organifation den belebenden Hauch ihres Geiftes

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empfangen läßt? Welche Schidfale endlich ftehen nach der Auf- löſung diefer Gemeinſchaft den einzelnen Weſen bevor, und am meiften jener einen Seele, deren Beftimmung zu unendlicher Ent- faltung durch die Bedeutung deſſen verbürgt ſcheint, was fie in diefem leiblichen Leben begonnen und errungen bat?

Zu dieſen Fragen führt unvermeidlich unfere Betrachtung ung zulegt zurück; und je fchärfer wir das Bild der gegenfeitigen Beziehungen zwiichen Körper und Seele zu zeichnen verſucht haben, um fo mehr müflen wir und aufgeforvert fühlen, durch eine Auf: klaͤrung über den Urſprung dieſes Zufammenbanges und den Sinn feiner endlichen Auflöfung einen Abſchluß unferer Auffafjungen zu fuchen. Aber follen wir uns gegenfeitig täufchen? Ich, in= dem ich vorgäbe, eine Löſung dieſer Räthfel zu kennen, und wer mir bis hierher gefolgt, dadurch, daß er fich ftellte fie mir zuzu- trauen? Nicht einmal des Nüdblides auf die erfolglofen An- firengungen von Jahrhunderten bedarf ed, fondern nur einer ein- fachen Erinnerung an die Mittel, die menſchlicher Erfenntniß ge- geben find, um die Hoffnungslofigleit jedes Unternehmens zu empfinden, da8 über diefe erften und letzten Dinge die Klarheit anſchaulicher Erkenntniß zu verbreiten juchte Keinen Augenblid mögen wir und daher dem trügerifchen Traume bingeben, als tönne e8 je gelingen, in fichere Erlenntniß zu verwandeln, was nur al8 gläubige Ahnung da8 Gebiet menfchlicher Erfahrung zu umgeben beftimmt if. Aber eine Aufgabe bleibt uns dennoch. Denn fo fehr wir und verfügen, Bilder deſſen zu entwerfen, was über die Grenzen diefeg Gebietes Hinausliegt, fo müſſen wir doch zufeben, ob die Betrachtungen, die-wir innerhalb befjelben an- gefnüpft haben, wenigſtens die Möglichleit eines befriedigenven Abichlufjes in unerreihbarer Gerne übrig Yaflen, oder ob das, was wir zu wiſſen überzeugt find, felbft die Hoffnung einer fol- hen Ergänzung abjchneidet. Wohl werden der menſchlichen Ein- fiht umausfüllbare Lücken übrig bleiben, aber fie kann nicht, ohne ſich jelbft aufzugeben, an das glauben wollen, deſſen Unverein-

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barkeit mit der nothwendigen Geltung ihrer eignen Grundfäße fie begreift.

Zur Erwägung diefer legten Yragen finden wir ‚die Bor- ſtellungsweiſen unzulänglih, in denen wir uns bisher bewegt haben. Denn fie alle jegten den Zuſammenhang der Wirflichkeit als eine fertige, gegebene Thatfache voraus und bemühten fich nur um die Auffindung der allgemeinen Gefege, nad denen bie- fer vorhandene Weltlauf feine einzelnen Ereigniffe auseinander entwidelt. So galten fie alle nur der Erhaltung und der Fort⸗ fegung eines Erſcheinungskreiſes, deſſen erjte Entftehung und enb- liches Ziel fie abfichtli aus dem Bereiche ihrer Unterjuchungen ausſchloſſen. Und in der That, fo wie wir aus dem fichtbaren Bau der fertigen Maſchine die Wirkungen, welche fie Teiften Tann, und die Reihenfolge derſelben beredinen, ohne in diefer Beur⸗ theilung wefentlich geförbert zu werden durch die Kenntniß ihres Urfprunges und des Herganges ihrer Erbauung: ebenfo vermögen wir die Erhaltung der Welt und den Rhythmus ihrer Ereigniffe aus ihrem gegenwärtigen Beſtande zu verftehen, auch ohne bie Geſchichte der Schöpfung zu kennen, aus der fie entiprang. Aber allerdings nur um den Preis, daß wir für jeben einzelnen Augen⸗ bli€ den Grund der beftimmten Geftalt, mit welcher die Exeig- niffe ihn füllen, in dem vorhergehenden Augenblid als vorhan- bene Thatſache vorausſetzen. So ſchieben wir nur das Räthſel Schritt für Schritt zurück, um endlich ber dem Geſtändniß an⸗ zulangen, daß der erfte Uriprung von Allem uns unverftänbfich bleibt, und daß wir in allem Weltlauf höchſtens Abwechſelungen der Entwidlung, aber nie die Entflehung jener erften Anorb- nung begreifen, 'auf welcher die Möglichkeit all dieſes Wechſels auf einmal beruht.

Man täuſcht fih, wenn man glaubt, die Wiffenichaft ver- "möge irgendwo dieſe Schranfen zu überfchreiten. Nachdem bie Borftellung von der Bildung des Planetenfyftems aus einem feu⸗ rigen Nebel, eine geniale Anficht über Ereigniffe einer Vorzeit, die aller Erfahrung entzogen ift, in den Beftand der allgemeinen

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Bildung übergegangen ift, jo meint man wohl, nun doch einmal endlich eine jchöne Ordnung der Erſcheinungen, zwar nicht aus Nichts, aber doch wenigſtens aus einem formlofen Urgrunde über- zeugend entwidelt zu haben. Aber man vergißt, daß die Ge- ſchichte dieſes Feuerballs, den man ſo ſcharffinnig in ferne fpä- teren Geftaltungen verfolgt, nothwendig auch rückwärts fich in eine unenblihe Vergangenheit verlängert. Der allmählich erfaltende und fich verdichtende muß eine Zeit erlebt haben, da feine Tem- peratur noch höher, feine Ausdehnung größer war; wo liegt num der Anfangsaugenblid der Verdichtungsbewegung, in deren Fort- fegung begriffen jene Vermuthung ihn aufgreift? Und moher ftammt die urſprüngliche Richtung und Geſchwindigkeit der Dre= hung, in welcher wir alle feine Theilchen übereinſtimmend bemegt vorausſetzen müſſen? Auch diefe Formloſigkeit war mithin Doc nicht der Anfang der Welt; fie war nur einer jener mittleren Punkte, in welchen frühere Formen der Ereigniſſe für Die An- ſchauung fih in eine unfdeinbare Einfachheit zufammengezogen haben; aber durch diefen Punkt hindurch gehen die Stoffe, Die Kräfte und Bewegungen der Wirklichleit unverloren und’ unab- gebrochen fort, um jenfeit8 wieder in die Mannigfaltigfeit einer neuen Entwidlung ſich auszubreiten. So Liegt für alle Orbnung der Ereigniffe der Grund immer in einer früheren Ordnung, und wie mannigfadh diefe Melodie des Werdens bald in größeren Reichthum anſchwillt, bald in unfcheinbare Keimgeftalt fich zufam- menziebt: fie hat doch für uns nicht Anfang noch Ende, und alle unfere Wiffenihaft Himmt nur auf und ab an dieſem Unend⸗ lichen, den inneren Zufammenhang einzelner Streden nad all- gemeinen Geſetzen begreifend, aber überall unfähig, den erften Urſprung des Ganzen oder das Biel zu fehen, dem feine Ent- widlung zuftrebt.

Und welche Lehre ziehen wir aus dem Bewußtſein dieſer Beſchränktheit? Keine andere gewiß, als für uns felbft die Mab- nung, mit unparteiifcher Geduld zu erwarten, wie weit und bie Fortſchritte der Wiffenihaft in Vergangenheit und Zukunft führen

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werben; für die Wiffenfchaft jelhft aber den Wunſch, daß fie mit unbefangener Genauigkeit fortarbeiten möge, ohne durch Vorliebe für ein beftimmtes Ergebniß ihrer Unterſuchungen fih mißleiten zu laflen. Denn was fie uns auch lehren möge: an das Ende der Dinge wird fie und doch nicht führen, und Die Bebürfnifie unfered Gemüthes werben nie durch bie Enthüllung einer zeit- lichen Borgefchichte unferes Daſeins, fondern nur durch die Er- fenntniß der ewigen Verknüpfung befriedigt werden, die zu allen Zeiten die veränderliche Welt der Ericheinungen mit der Welt des wahrhaft Seienven zufammenhält. Beſäßen wir diefe Er⸗ fenntniß, wie wenig würden wir gewinnen, wenn es und nun gelänge, jene Fragen nad) der erften Entftehung des menfchlichen Geſchlechtes ſicher zu beantworten, auf welche wir leivenfchaftlich oft fo übergroßen Werth legen! Vielleicht vermehrt eines Tages ein unerwartetes Glück die unzulänglien Ausgangspunkte der Forſchung und befähigt und zu einer Entſcheidung, die Niemand jeßt zu geben vermag. Gefegt nun, dieſe beffere Kunde ftellte für uns Die Annahme ſicher, an der fo Vieler Herzen hängen, die Annahme, daß mit blimder innerer Nothwendigkeit das noch formlofe Chaos des Weltanfanges fih in ftetiger Berbolllonnn- nung bis zur unvermeiblichen Erzeugung der Menfchheit verflärt babe: ſchlöſſe fi dann für die Wiſſenſchaft der Ausblid in un- endliche Fernen, den fie zu fliehen ſcheint? Wenn fie e8 num begreiflich machen Könnte, wie aus dem feurigen Dunſtball zuerft die Feſte der Erdrinde und der Himmel des Luftkreiſes ſich ſchie— den, wie jeder Schritt diefer Sonderung den Wahlverwandtichaften der Elemente Gelegenheit zu neuen Wirkungen gab, wie dann unter den günftigen Umftänden, welche bie blinde Nothwendigfeit dieſes Naturlaufes berbeiführte, der erſte Keim einer Pflanze, eines Thieres entftand, noch einfach und unauögebilbet von Um- riffen und wenig zu beveutfamer Entfaltung geſchickt, wie endlich unter glüdlichen Bedingungen, zu deren Herftellung doch Diefes arme Leben ſchon mittbätig war, allmählid das organiſche Da⸗ fein ſich veredelte, niedere Gattungen im Laufe ungezäblter Jahr:

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hunderte fi) in höhere entwidelten, bis zuletzt die Menjchheit, nicht nad dem Bilde Gottes, fondern als das letzte Glied in biefer Kette nothmwendiger Ereignifje hervorging: wenn dies Alles die Wiſſenſchaft begreiflih machen Könnte, was würde fie Damit mehr geleiftet haben, als daß fie das Wunder der unmittelbaren Schöpfung auf einen noch früheren Punkt der Vorzeit zurückge— [hoben Hätte, in welchem die unendliche Weisheit in dies un— ſcheinbare Chaos die unermeßliche Fähigkeit zu jo georpneter Ent- widlung legte? Mit der ganzen Reihenfolge abgeftufter Bil- dungsepochen, durch welche hindurch fie den formlofen Urgrund fih ausgeftalten Tieße, würde fie nur den Glanz und die Man- nigfaltigleit der Scenen vermehren, in deren äußerlichen Pomp unfere Phantafte bewundernd ſich vertiefen Könnte; aber fie wiirde das Ganze des wunderbaren Schaufpieles nicht zureichender erflärt haben, als jener fich ſelbſt beſcheidende Glaube, für melchen bie Entftehung der lebendigen Geſchlechter nur aus dem unmittel- baren Schöpferwillen Gottes begreiflich ſcheint. Diefe Dihge find es, deren Enticheidung wir, fo weit die Wiſſenſchaft fie je wird geben Können, getroft von ihrer unbefangenen Wahrbeitsliebe er- warten müffen; welchen Weg ber Schöpfung Gott gewählt haben mag, feiner wird die Abhängigfeit der Welt von ihm lockerer wer- ben laſſen, feiner fie fefter an ihn Fnüpfen Finnen.

Aber diefe Geduld der Erwartung pflegen wir ſehr wenig zu befiten; mit dem leidenſchaftlichſten Eifer ftehen vielmehr jene “beiden Auffaffungen der Wirklichkeit einander gegenüber, von denen die eine den Weltlauf in reinen Mechanismus zu verwandeln firebt, die andere, indem fie an die unmittelbare Wirkſamkeit einer göttlichen regierenden Weisheit glaubt, vielleicht Hinter ihrem eige- nen Sinne noch zurückbleibt. Denn darin finde ic das Halbe und Unzulängliche diefer Meinung, daß fie meift erft durch Die Betrachtung des Lebendigen und des GSeelenlebend fih zu dem Belenntniß einer höheren, die zerftreuten Ereigniffe zu dem Ganzen eines MWeltlaufes verbindenden Macht aufregen läßt. Aud ihr ſcheint e8 doch möglich, daß die regelmäßige Ordnung der äußern

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Welt auf der blinden Nothwendigkeit eines ſich ſelbſt genügenden Mechanismus berube: nur die befondere BVortrefflichleit des Leben- Digen umd die zweckmäßige Harmonie feines Dafeins nöthige ung, bier über die gewohnten Erflärungsgründe binaus zu der An- nahme einer ſchöpferiſchen und erhaltenden Weisheit zu flüchten. Diefes Zugeſtändniß kommt mir zu fpät; nicht dadurch gewinnen wir etwas, daß wir einen Theil der Wirklichkeit, als zu erhaben für eine Entftehung durch mechaniſche Cauſalität, dem Gebote ber allgemeinen Naturorbnung entziehen; vielmehr unter dieſen anderen Gedanten müflen wir und beugen, daß alle jene unerjchlitterliche Nothiwendigkeit, mit welcher das Ganze des mechaniſchen Welt- laufes jelbftändig für ſich feftzuftehen ſcheint, ein ganz eitler Traum ift, und daß feine einzige Wechſelwirkung zu Stande kommt ohne die Mitwirkung jenes höheren Grundes, den wir übel berathen nur für die Entftehung einzelner bevorzugter Erſcheinungen zu bebürfen meinen.

Es iſt ein feltfamer und Doch begreiflicher Stolz unferer natur: wiſſenſchaftlichen Aufklärung, zur erflärenden Naderzeugung ber Wirflichfeit Teine anderen Vorausſetzungen nötbig zu haben, als irgend einen urfprünglichen Thatbeftand an Stoffen und Kräften und bie unverrüdte Geltung eines Kreiſes allgemeiner, in ihren Geboten ſich ftet8 gleicher Naturgefete. Seltfam, weil es zulekt Do in der That gar Bieles ift, was auf Diefem Wege voraus- gefegt werben muß, und weil man erwarten Tonnte, daß es dem zufammenfafjenden Geifte der menſchlichen Vernunft zufagender fein müßte, die Einheit eines fchaffenden Grundes anzuerkennen, als ſich Die zerftreute Mannigfaltigkeit nur thatſächlich vorhandener Dinge und Bewegungen zum Ausgangspunkt aller Erklärung auf- drängen zu laſſen. Aber begreiflih dennoch; denn um den Preis dieſes einmaligen Opfers wiirde ja num ber endliche Verſtand bie Befriedigung genießen, fih nie mehr durch die übermächtige Be-

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deutung und Schönheit irgend einer einzelnen Erſcheinung impo- niven zu laſſen; wie wunderbar und tieffinnig ihn irgend ein Gebilde der Natur anbliden möchte, in jenen allgemeinen Gefegen, welche er völlig zu durchſchauen vermag, befäße er das Mittel, fih eined unbequemen Eindrudes zu ermehren, und indem er nach⸗ wiefe, wie für ihn ganz und gar verftändlich auch dieſe Erjchei- nung nur eine beiläufige Folge eines wohlbefannten Naturlaufes fei, würde e8 ihm gelungen fein, das zu feiner eigenen Endlid- feit berabzuziehen, wa8 dem unbefangenen Gemüth freilich ſtets nur als das Erzeugniß einer unendlichen Weisheit denkbar ift.

In diefen Neigungen und Gewohnheiten wird die natur- wiſſenſchaftliche Bildung fchwer zu erſchüttern fein, und am wenig- ften durch die Gründe, welche ihr gewöhnlich der Glaube an ein höheres zweckmäßiges Walten in dem Naturlaufe entgegenzufeßen pflegt. Denn wie lebhaft auch eine unbefangene Beobachtung diefen Glauben erweden mag, fo daß es gleich thöricht und Tang- weilig feinen kann, ohne ihn die Ordnung der Natur verftehen zu wollen, fo wird ftet8 jene mechanische Auffaffung mit Recht einwenden, daß doch auf ihren Weg immer in dev Erflärung des Einzelnen auch diejenigen einlenfen, denen im Ganzen und Großen die Herrichaft einer zweckmäßig wirkenden Macht außer Frage fteht. Befriedigt werden doch auch fie erſt dann fein, wenn fie für jeden Erfolg, weldien jene Macht gebietet, auch Schritt für Schritt Die vollziehenden Mittel gefunden haben, durch deren nothmwendigen und blinden Cauſalzuſammenhang die verlangte Wirkung entftehen muß. Nie werben auch fie im Ernſte glauben, daß innerhalb des Naturlaufes, wie er vor unferen Sinnen liegt, jene zweck⸗ mäßige Kraft neue Anfänge des Wirkens ſchaffe, die nicht rück— wärt8 weiter verfolgt, fi immer wieder al8 bie nothwendigen Folgen eines früheren Zuftandes der Dinge erfennen ließen. Ver- wandelt fih nun fo auch für jene gläubigere Anficht der Lauf der Begebenheiten doch wieder in den ununterbrochenen Zufam- menhang eines Mechanismus, fo hebt die naturwiſſenſchaftliche Betrachtung den letztern allein hervor und läßt den Gedanken an

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die freie Wirkſamkeit der zweckſetzenden Kraft fallen, für welche fie einen angebbaren Wirkungskreis nicht zu finden wüßte Gie würde zugeben können, daß der erite Urfprung des Ganzen, befien innere Verhältniſſe allein fie unterſucht, auf eine göttliche Weis- heit zurüdflihren möge, aber fie würde die Thatfachen vermiffen, welche innerhalb des Gebietes der Erfahrung eine fortvauernde Abhängigfeit des Gefchaffenen von der erhaltenden Vorſicht feines Urbeberd zu einer nothwendigen Borausfegung der Erflärung machten. Zu unbefangen und felbftvertrauend hebt der Glaube an dieſes Tebendige Eingreifen der zweckmäßig wirkenden Vernunft nur die ſchönen Seiten des Dafeins hervor und vergißt einfl- weilen die Schatten; indem er die unendlide Harmonie der or⸗ ganiſchen Körper und ihren forgfältigen Bau für die Zwecke des geiftigen Lebens bewundert, gebenft er nicht der bitteren Confe- quenz, mit welder bafjelbe organiſche Leben Höflichkeit und Krankheit von Geſchlecht zu Gejchlecht überliefert, nicht der man- nigfaltigen Störungen, welde die Erreichung felbft beicheidener menſchlicher Ziele hindern. Wie wenig kann daher diefe Auf- faſſung der Welt, für welche Die Gegenwart bes Uebels ein viel- leicht nicht unlösbares, aber ungelöftes Räthſel ift, durch ihren Angriff eine Gemohnbeit der Betrachtung zu überwältigen hoffen, die in der Beobachtung unzählige einzelne Beftätigungen findet und unzugänglid ift für das Gefühl des allgemeinen Mangels, bon dem wir fie gebrüdt glauben!

Und felbit jenes Zugeſtändniß, welches fie uns vielleicht maden wird, daß diefe Welt blinder Nothwendigleit aus ber MWeisheit eines höchſten Urheberd einft mwenigftens entiprang, iſt fie genöthigt e8 zu machen? Ohne Zweifel kann fie uns ein- wenden, daß felbft die beftehende Zweckmäßigkeit der vorhandenen Bildung fih unter der Herrichaft der allgemeinen Gejege aus dem ungeorbneten Zuftand eines urfprünglichen Chaos mußte ent⸗ wideln können. Denn Alles, was ein principlofer Wirbel zu- fammenführte in unzwedmäßiger Zufammenjegung und ohne jenes innere Gleichgewicht der Beſtandtheile und Kräfte, welches dem

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Gewordenen ein längeres Beftehen im Kampfe mit dem fortwo- genden äußeren Naturlaufe hätte fihern können: alle das ift eben Yängft zu Grunde gegangen. Neben und nad unzähligen mißglüdten Bildungen, welche vielleiht die Vorzeit in raſchem Wechſel des Entftehens und Bergehens gefüllt haben, ift allmählich ber Naturlauf in ein engered Bett zufammengegangen und gerettet hat fih nur jene Auswahl der Geſchöpfe, denen eine glüdliche Zuſammenfügung ihrer Beftandtheile die Möglichkeit eine Be⸗ ſtehens gegen den Andrang der umgebenden Reize und die Fähig- feit der Fortpflanzung auf unbelannte Zeit hinaus verliehen hat. Für wie wenig wahrfcheinlich wir nun immer dieſe Anficht hal- ten mögen, wir würden fie doch kaum dem entreißen können, dem fie genügt, und wir können felbft den Reiz nicht hinwegläugnen, welchen für den wiſſenſchaftlichen Scharffinn immer der Verſuch haben wird, aus dem formlofen Chaos durcheinandergährender Bewegungen die Nothwendigkeit einer allmählichen Sichtung und Die von felbft erfolgende Bildung beftändiger Ablaufsformen der Erſcheinungen zu entwideln.

Aber jever folche Verſuch beruht auf der einen Vorausſetzung, daß eine allgemeine Gefeglichleit mit immer gleichem Gebote den einzelnen Stoffen jener urfprünglichen Unordnung Form und Größe ihrer Wechſelwirkungen vorzeichne und fie Dadurch zwinge, Ver⸗ bindungen aufzugeben, denen kein Gleichgewicht möglich ift, und andere einzugeben, in denen fie ruhen oder eine beftändige Form der Bewegung bewahren können. Und diefe Borausfegung iſt es nun, deren Zuläſſigkeit wir prüfen müſſen; mit ihr allein ſteht und fällt die ftolzge Sicherheit dieſer mechaniichen Weltauffaſſung. Diefe Berehrung eines allwaltenden Naturgeſetzes, als des ein- zigen Bandes, welches alle zerftreuten Elemente des Weltlaufes . zu wechjelfeitigen Wirkungen zufammenvränge und bie Geftalt ihrer Erfolge beftimme, ift fie felbft ein möglicher Gedanke und ann fie den letzten Abſchluß für unfere Naturanfiht gewähren, für deren Ausbildung im Einzelnen wir felbft ihr überall ge- huldigt haben?

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Nehmen wir an, daß zwei Elemente urjprünglid vorhanden find, nicht erzeugt von irgendwen, nicht aus irgend einer gemein- famen Quelle hervorgegangen, fondern in unvordenfliher Wirk⸗ Yichfeit von Ewigkeit beftehend, aber fo beftebend, daß feine an- dere Gemeinſamkeit als bie Des gleichzeitigen ‘Dafeind fie um- ſchließt: wie vermöchte Überhaupt der Einfluß des einen überzugehen auf das andere, da jedes wie in einer Welt für fi ift, und zwifchen ihnen Nichts? Wie wird durch dieſes Nichts hindurch, in welchem feine Wege der Vermittlung laufen, die Wirkjamleit des einen ſich hinfinden zu dem andern? Und wenn wir nun annähmen, daß durch einen gemeinfamen Raum hindurch die Thä⸗— tigfeit jedes Elementes wie eine ablösbare Atmofphäre ſich be— ftändig ausbreitete, gleich dem ausftrahlenden Lichte wirkſam, wo fie fände, worauf fie wirken könnte, und erfolglos ins Leere ver: ſchwimmend, wo Nichts fi ihr darböte: was würden wir ge- wonnen haben? Wir würden unfere eigene Vorftellung nicht verftehen, weder wie die Wirkung die Grenzen befien verlaffen könnte, welches fie herborbringt, noch wie fie eine Zeit lang ſchwebend zwiſchen ihrem Urheber und dem, was fie treffen fol, im Leeren fi aufhielte, noch endlich, wie fie jenes zulegt errei⸗ hend, eine umgeftaltende Kraft auf feine Zuftände auszuüben vermöchte. Denn fo wenig der Raum ein Hinderniß des gegen- feitigen Wirkens für das fein wide, was in ihm von einander entfernt doch durch eine innere Beziehung verbunden wäre, fo wenig wird die räumliche Berührung die Nothmwenbigleit einer Wechſelwirkung herbeiführen, oder ihre Möglichkeit erflären zwifchen Wefen, deren jedes nur auf ſich felbft beruhend durch die unaus- füllbare luft innerlicher Gleichgiltigfeit auch dann noch von dem andern geſchieden bliebe. Nur der gedankenloſen alltäglichen Mei- nung fcheint der Uebergang der Wirkungen von einem zum andern Elemente Mar; fie glaubt ihn mit völliger Anfchaulichleit in den äußeren Bewegungen wahrzunehmen, die ihn begleiten; für jede tiefer gehende Forſchung wird e8 mehr und mehr zum Raͤthſel, wie der Zuſtand des einen Weſens eine verbindlide Nöthigung

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für ein anderes enthalten inne, nun auch feine eigenen inneren Zuftände abzuändern. So wie wir früher unfern Willen nicht in feiner Strömung in die beweglichen Glieder verfolgen fonnten, fondern zugeben mußten, daß alles Wollen eingefchloffen in den wollenden Geift bleibe und daß eine umbegreiflihde Macht ihm das Bollbringen folgen lafje: eben jo werben alle Kräfte, die wir in irgend einer Form dem einen Element inwohnend denen, un- zureichend fein, die Ausübung eines Einfluffes über das zu be- gründen, in welchem fie nicht wohnen. Kann num jener Gedanke des allgemeinen Naturlaufes, den unfere früheren Betrachtungen bier berbeizogen, kann die Borftellung eines Reiches ewig und allgemein geltender Gefete dieſe Lücke füllen und die ſpröde Ber- einzelung der gefchiedenen Elemente zu dem gediegenen Ganzen einer wechſelwirkenden Welt verichmelzen ?

Sie kann es ohne Zweifel nicht; denn wie bermöchten Ge- feße, wie eine Nothwendigfeit, die für beftimmte Fälle beftimmte Erfolge vorfchriebe, überhaupt fir fich felbft zu exiftiren? Nichts fann fein außer dem GSeienden und feinen inneren Zuftänden, und nicht zwiſchen den Weſen kann als ein fiir fich beſtehender fie verbindender Hintergrund, als eine wirkfame fte leitende Macht eine allgemeine Ordnung ausgegofien fein, dem borangehend was fie ordnen fol. Blicken wir auf unfer menjchliches Leben zurück, fo finden wir die Gefete unſeres gejelligen Dafeins nicht neben uns und nicht zwifchen uns in einer unabhängigen Wirklichkeit beftehen, nicht als Mächte, die durch ihr Dafein von außen und zwingen und leiten Könnten; fie exiftiren nur in dem Bewußtſein der Einzelnen, die ſich ihnen unterworfen fühlen; fie fommen zur Geltung und Verwirklichung nur durch die Handlungen der leben⸗ digen Individuen; fie find nicht als bie in dem Innern vieler MWejen übereinſtimmend entwidelte Richtung ihres Wollens, bie dem fpäteren zuſammenfaſſenden Blicke der Beobachtung als eine höhere von außen Yeitende Macht erfcheint, weil fie in ihrer ges meinfamen Geltung fiir viele Einzelne nicht mehr ausſchließlich als das Erzeugniß eines Einzigen fi barftellt. Die Gefege ber

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Natur mögen den Einrichtungen des menjchlichen Geiſtes über⸗ legen fein; können diefe Widerfpruch und Unfolgfamfeit erfahren, jo gebieten jene uneingefchränft und ungehemmt; dennoch wird Die Natur nicht das an fi) Widerfprechende vermögen und dem eime felbftändige Eriftenz verleihen, was nur an dem Seienden und in ihm zu fein im Stande ift. Eine weitverbreitete Gewöhnung ber Borftellung und des Sprachgebrauches, unſchädlich für Die Beur- tbeilung der gewöhnlichen Vorkommniſſe des Lebens, auf deren Beranlaffung fie entftanden ift, pflegt uns in biefen Weberlegungen zu täuſchen. Wir ſprechen nun einmal von Beziehungen, die zwifchen den Dingen obwalten, von Berhältniffen, in welche fie eintreten, bon einer Ordnung, die fie umfaßt, von Gejegen end⸗ ih, deren Wirkſamlkeit zwifchen ihnen bin und her fpielt, und wir bemerken wenig mehr, welchen Widerſpruch dieſe Begriffe ein- ſchließen von Berhältniffen, die für fi) bereit lägen, bevor Die Dinge kämen, um in fie einzutreten, von einer Ordnung, Die vor dem Georbneten beftände, um es aufzunehmen, von Beziehungen endlich, die wie baltbare Fäden, deren Stoff wir doch nicht an- zugeben müßten, über den Abgrund hinmweggeipannt wären, ber ein Weſen vom andern trennt. Wir bedenken nicht, daß alle Berhältnifie und Beziehungen wahrhaftes Daſein zunächſt nur in ber Einheit des beobachtenden Bewußtſeins haben, das von einem Element zum andern übergehend, die getrennten durch feine zu- fammenfaffende Thätigkeit umfpinnt, und daß jede wirffame Orb- nung, jedes Geſetz, welches wir unabhängig von unferem Wiffen zwifchen den Dingen ung vorftellen möchten, in ganz gleicher Weiſe nur Dafein haben kann in der Einheit des Einen, welde fie alle verbindet. Nicht der nichtige Schatten einer Naturorbnung, jondern nur die volle Wirflichleit eines unendlichen lebendigen Weſens, deſſen innerlich gehegte Theile alle endlichen Dinge find, kann die Mannigfaltigkeit der Welt jo verknüpfen, daß die Wedh- ſelwirkungen über die Kluft Hinüberreichen, welde die einzelnen felbftändigen Elemente von einander ewig ſcheiden würde. Denn von dem einen ausgehend, verfinft num die Wirkung nicht in ein

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Nichts, das zwifchen ihm und dem andern läge, fondern wie in allem Sein das wahrhaft Seiende daſſelbe Eine ift, jo wirft in aller Wechſelwirkung das unendliche Welen nur auf fich ſelbſt, und feine Thätigfeit verläßt nie ben ftetigen Boden des Seins. Was in dem einen feiner Theile fich regt, ift nicht abgeichloffen in diefem und fremd für die übrigen; der einzelne Zuftand hat nicht einen unfagbaren Weg zurücdzulegen, um ein anderes Ele- ment zu fuchen, dem er ſich mittheile, und bat nicht eine gleich unbegreiflihe Gewalt auszuüben, um dies gleichgiltige Andere zu nöthigen, an ihm Theil zu nehmen; jede Erregung des Einzelnen ift zugleich eine Erregung des ganzen Unenblidhen, das auch im ihm den lebendigen Grund feines Wefens bildet, und jedes ver- mag deshalb mit feiner Wirkung überzugreifen in Anderes, in welchem berfelbe Grund lebt; er ift e8, welcher aus ber Einheit feiner eignen Natur dem endlichen Ereigniß bier feinen Nach⸗ Hang dort nachfolgen läßt. Nicht ein Endliches überhaupt wirkt aus fi, als aus dieſem Endlichen heraus, auf das andere; jede Erregung des Einzelnen vielmehr, indem fie den ewigen Grund bewegt, der in ihm, wie in allen, das Weſen feines endlichen Scheines ift, vermag nur durch diefe Stetigfeit der Wefendgemein- haft hindurch auf das ſcheinbar Entfernte überzumirken.

Zu dieſer Anerkennung einer unendlihen Subftanz, die an der Stelle eines wejenlofen und unwirklichen Geſetzes durch ihre wejenhafte Wirklichkeit Die Dinge verbindet, nöthigt uns nicht allein die Bewunderung einzelner Ereignißfreife, deren befonbere Bedeutung uns überwältigt, fondern jedes noch jo ärmliche Bei- fpiel irgend einer Wechſelwirkung, jeder einzelne Fall von Cau⸗ falität zwingt und, um die Möglichkeit eines Veberganges des Einflufjes zu begreifen, an die Stelle eines bloßen Naturzufam- menhanges ein ſelbſt fubftantielle8 Unendliche zu fegen, in welchem das in der Erfcheinung geſchiedene Mannigfache nicht mehr ge- ſchieden iſt. Nicht zwifchen den Beitanbtheilen des lebendigen Körpers allein, nicht zwiſchen Körper und Seele vorzugsweis konn⸗ ten wir ein ſolches Band fuchen, als bebürften wir deſſelben nicht

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überall; inbem wir vielmehr alles Gefchehen, welden Namen es tragen mag, nur als die innerliche Regſamkeit eines einzigen Unendlichen betrachten, wird uns ber weitere Verlauf unferer Anfiht von jener wieverauflebenden Mythologie entfernen, welche, wie die alten Sagen, einigen vornehmen Erfcheinungen ihre be- fonderen Genien zuerfennt und die Übrige gemeine Wirflichleit für ſich ſelbſt forgen läßt.

Denn nicht nur ein Band iſt dies allgemeine Weſen, nicht nur eine gleichgiltige Brücke, welche dem Uebergang der Wir- kungen bon einem Element zum andern nırr überhaupt den gang- baren Weg bereitet: fondern die beftinmmende Macht ift es zu- gleich, die jedem Borangang die Geftalt und Größe feiner Folge, jedem einzelnen Weſen den Umkreis feiner möglichen Thätigkeit, jeder einzelnen Yeußerung berfelben ihre befondere Form vorzeichnet. Man täufcht fi Darin, daß man die Wirkungsweiſen, welche die Dinge gegen einander beobachten, als ganz jelbftverftändliche Fol- gen aus den beftimmten Eigenfchaften, welche num eimmal ihre Natur ausmachen, und aus dem Miteinfluß der jedesmal ge- gebenen Umſtände ableiten zu Einnen glaubt. Eine aufrichtige Be- trachtung führt ung vielmehr zu dem Geftänbniß, daß aus dieſen Borberfägen allein, mie wir auch ihren Inhalt zergliedern und wieder verfnüpfen, die Wirkungen, welche bie Erfahrung uns that⸗ fachlich zeigt, al& nothwendige Schlußfäte nicht hervorgehen, ſon⸗ bern Daß eine unbefannte Macht, wie Rückſicht nehmend auf Etwas, was wir in jenen Borbebingungen nicht antreffen, an ihre Geftalt die beftimmte Geftalt der Folge gefnüpft hat. Das Unendliche ift dieſe verborgene Macht, und das, worauf ed Rüd- fit nimmt in diefer Beſtimmung der Folgen, ift feine eigne gemeinfame Gegenwart in allen endlichen Elementen, durch welche Die Welt zur Einheit eines Weſens verbunden ift, und um beren willen der Lauf ihrer Ereigniffe zur Einheit eines zuſammen⸗ hängenden Ausbrudes fir den Inhalt dieſes Weſens verknüpft werben muß. Nur jo viel und nur eine ſolche Fähigkeit des Wirkens wird deshalb jedes Endliche befiten, wie viel und welche

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das Unendliche ihm als feinen Beitrag zu der Verwirklichung des Ganzen zugefteht.

Aber wir müffen weitläuftiger fein und uns erlauben, ben widerfpruchlofen Zuſammenhang der Anficht, in deren Darftellung wir begriffen find, mit den ſcheinbar entgegengefeßten Voraus⸗ fegungen zu erläutern, denen unfere eigne Betrachtung der ein- zelnen Erfcheinungen früher gefolgt ift.

In jedem endlichen Dinge, fofern wir es als Erzeugniß bes unendlichen Einen faflen, werden wir einen gewiflen Thatbeftand von Merkmalen als die eigenthümliche Form bezeichnen künnen, in welde in ihm zum Unterfchiede von anderem Endlicden jenes Eine ausgeprägt if. Wir Können nicht meinen, daß in irgend einer diefer beftimmten Formen, durch welche das eine Endliche dieſes, das andere ein anderes ift, fi das volle Wefen des Un⸗ endlichen erſchöpfe, weldes ihnen allen der gemeinſame Grund ihres Dafeins ift; aber ebenfo wenig birfen wir doch glauben, daß ber untheilbare Inhalt deflelben, in unzählige Bruchftüde zer- fallend, in jedem einzelnen Dinge nur mit einem Theile feiner Fülle gegenwärtig fei. ALS wir die lebendige Thätigfeit der menfch- lihen Seele überlegten, führte unfere Betrachtung uns zu einer ähnlichen Forderung, wie diefe ift, welde wir uns bier ftellen müfjen, und die Erinnerung an Die leichtere Faßlichkeit jenes ein- zelnen Beifpiel3 Tann uns jet in der allgemeineren Auffafjung deſſelben Verhältniſſes unterſtützen. Wenn die Seele Vorſtellungen bildet, ohne noch eine Spur des Gefühles oder des Wollens zu entfalten, glauben wir ſie doch ſchon in dieſer einſeitigen Weiſe ihrer Thätigkeit nicht nur mit einem Theile ihres Weſens gegen⸗ wärtig, während ihre übrigen Fähigkeiten in gleichgiltiger Theil- nahmlofigkeit ſchlummerten. Diefelbe ganze Natur vielmehr, die unter dem Einfluffe anderer Anregungen Gefühle der Luft und Unluft, begehrende und abftoßende Strebungen entwideln wire,

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meinten wir mit der vollen Fülle ihres Weſens ſchon an der Er- zeugung der Borftellungen mitbetheiligt. Aber fie erjchöpft fih im Borftellen fo wenig als in irgend einer andern einzelnen Form ihrer Aeußerung; in allen vo vorhanden und mitthätig, findet fie doch in jeder nur einen einfeitigen und partiellen Ausdruck, und binter jedem Thun, das fie in einem einzelnen Augenblide entwidelt, bleibt überall ein reicheres uud umfafjenderes Vermögen unaufgeichloffen und verborgen zurüd. Aber eben dieſes ganze Weſen der Seele, durch alle mannigfachen Formen ihres Aeußerns gemeinfam und gleihmäßig fich hindurchziehend, ift das vermit- telnde Glied, durch welches die Wechſelwirkung der verſchiedenen inneren Zuftände möglich und die Geftalt ihres Erfolges beftimmt wird. Nicht aus irgend einer Berwidlung der Borftellungen ſahen wir an fi ſchon das Gefühl als nothwendige und felbftverftänd- liche Folge bervorquellen, fondern es entftand, weil ſchon in der vorſtellenden Thätigleit jene ganze Seele lebendig wirkſam war, in deren Natur auch das Gefühl begründet Ing, unangeregt damals aber vorbereitet zum Hervortreten unter Bedingungen, deren einige der Lauf der Vorſtellungen ſelbſt herbeiführt.

Mit dieſem untheilbaren Weſen der Seele nun vergleichen wir jenes Unendliche, die Subſtanz aller Dinge; mit den einzel⸗ nen Formen bes geiftigen Thuns diefe endlichen Dinge felbft, die ſcheinbaren Elemente der Welt, in deren verichievenartige Geftal- ten jenes ſich ausgeprägt hat. Dann wird, wie in der Seele die Wechſelwirkung der inneren Zuſtände, jo in dem Weltlauf die Wechſelwirkung der Dinge nicht nur in ihrer Möglichkeit über⸗ haupt, fondern auch in der Geftalt ihres Erfolges von diefer We- ſensgemeinſchaft abhängen, welde fie alle verfnüpft. Was jedes einzelne Element leiftet, das vermag es nicht, fofern es dieſes Einzelne ift, fondern nur fofern es dies Einzelne als Erſcheinung dieſes Allgemeinen ift; nicht fchon Deshalb, weil e8 fo und nicht anders geformt ift und diefe, feine andern Merkmale einfchließt, bringt es felbftverftändlich Diefe und feine andere Wirkung hervor, fondern nur weil in diefer feiner Form dieſes Unendliche rubt,

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deſſen inhaltvolle Natur die Merkmale zuſammenhält, bereit, durch feine Kraft fie zu vertheidigen oder ihrer Veränderung eine Folge zu geben. So wirkt alles Endliche im Grunde nur durch das, was ed im Berborgenen Befjeres ift, als es ſcheint, durch Die mejenhafte Macht des Unendlichen, die auch in ihm Tiegt; nicht jener Hülle beftimmter einzelner Eigenichaften, fondern nur biefem Kerne, fofern er in fie fih hüllt, gehört alle Kraft und Yähig- feit des Wirkend. Bezeichnen wir nun mit dem Namen der Na- tur eines Dinges diefe verſchmolzene und in Eins gebildete Zwei- heit des unendlichen Wefens, welches in ihm dieſe einzelne Form des Dafeind angenommen bat, oder der endlichen Form, die mit dem Unendlichen fih erfüllt hat: fo werben wir Recht haben, von diefer Natur des Dinges alle Weifen feines Berhaltens als nun nothwendige Folgen abzuleiten. Denn Die eigne innere Wahrheit und Folgerichtigfeit wird das Unendliche nöthigen, mit jeder beftimmten endlichen Form, welche es ſich gibt, auch die unveränberlie Wirkungsweiſe fich feftzufegen, die e8 in ihr ausitben will, entſprechend dem Sinne, in welchem e8 überhaupt Diefe einzelne Form als wefentlichen Theil jeiner Ericheinung ſchöpferiſch geftaltete. Aber der gewöhnliche Hang der Wiſſenſchaft drängt zu einem andern Spracdhgebraud; eben jenen Thatbeftand der Merkmale, die alle machtlos find ohne das lebendige Weſen, welches hinter ihnen fteht, dieſe endliche Hülle des wahrhaft Seienden pflegt man am meiften als die Natur eines Dinges zu bezeichnen und wenig mehr ift von dem die Rebe, was wir allein als den baltbaren und wirlungsfähigen Kern dieſes Scheines be- trachten Können. Aus diefer nur halben Natur der Dinge glaubt man ihr Verhalten als notbwendige Folge entwideln zu fünnen; nit nur die Möglichlert eines übergehenden Einflufjes überhaupt meint man zu verftehen, fondern in einem Kreife allgemeiner ſich von jelbft verftehender Wahrheiten au das Mittel zu befigen, die jebesmalige Geftalt eines Erfolges aus den gegebenen Um— ftänden und den beftändigen Eigenfchaften der Dinge zu ent-

wideln. Loge I. 4. Aufl. 28

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Und hierbei überfieht man eben, daß der Eindrud von Selbft- verftändlichkeit, melden fo viele Zufammenhänge von Urſache und Wirkung uns erweden, doch nit von einer uns begreifliden inneren Nothwendigfeit, fondern nur von der allgemeinen und überwältigenden Wirflichleit diefer Verknüpfungen herrührt, bie als überall wiederkehrende thatſächliche Welteinrichtungen uns mit dem Scheine täuſchen, nicht blos Thatſachen der Erfahrung, ſondern denknothwendige Verhältniſſe zu ſein.

Nachdem wir durch Erfahrung belehrt find, daß die wäg- bare Menge des Stoffes in allen feinen Verwandlungen unver- ändert bleibt, wächft diefe iiberrafchende Beobachtung für uns bis zu dem erhabenen Eindruck einer unvordenfliden Nothwendigkeit an, und wir bilden uns num ein, daß ein nothwendiger Vernunft⸗ fag von der Beharrlichfeit der Subftanz uns dieſe Thatfache auch vor der Erfahrung hätte lehren lönnen. Nachdem wir beobachtet haben, daß die einmal angefangene Bewegung um fo länger fort- dauert, je gründlicher man ihre Hinderniſſe hinwegräumt: num plöglich überfommt uns die Ahnung, Daß ihre ewige Fortdauer, wo fie nicht gehemmt werde, das nothmwendige Verhalten fei, und doch fcheitern mir immer, wenn wir biefe vorgeblich denfnothwen- Dige Wahrheit aus Gründen des reinen Denkens bemeifen wollen. Nachdem wir endlich gefehen haben, daß der ftoßenbe Körper ben geftoßenen in Bewegung jet, ſcheint und wohl die Bertheilung ber Gefchwindigfeiten und die Mittbeilung der Bewegung über- haupt ein ganz natürlich zu erwartende Ereigniß, und erft bei dem Berfuche, den Grund diefer Erwartung beftimmt auszu- Iprechen, finden wir, daß wir feinen wiſſen. Daß jede phufiiche Kraft mit der wachſenden Entfernung der wirkenden Wefen von einander abnimmt: wir glauben gar nicht mehr, es anders denken zu Können, und doch wiffen wir, wenn wir aufrichtig fein wollen, feinen Grund, warum nicht im Öegentheil die Anziehung in größerer Nähe geringer fein follte, da fie ja leicht in dem— jelben Maße abnehmen fönnte, in welchem fie bereit8 befriebigt ift. Und zulegt, wie naiv legen wir doch den Körpern, wenn

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ihre chemiſche Gegenwirkung zu erflären ift, eine Verwandtſchaft bei, nit al8 wenn wir fie aus der übrigen Natur der Körper ableiten könnten, fondern bier recht eigentlich al8 die Fähigfeit zu einer Leiftung, welche zu ihrer Natur nur binzulommt. Aller dings werben wir in dieſem alle die Unfertigfeit unferer Erfah- rungserfenntniß anflagen; nicht "völlig befannt fei und eben bie Natur der verichtedenen Elemente; wäre fie e8, jo wiirde man in ihr aud die Erflärung für ihre chemiſchen Verwandtſchaften fin- den. Dies mag vielleicht möglich fein, aber gewiß nur fo, daß die allgemeinen Regeln, nach denen wir aus der beffer bekannten Natur der Elemente auf ihren Chemismus Ichlöffen, ſelbſt ſchon eine Menge jener Cauſalzuſammenhänge vorausfegten, Die und nur al8 unmwiderrufene Thatiachen der wirflihen Welteinrihtung erweislich, aber nicht als Nothwendigkeiten begreiflich find.

Aus folhen Urthatfachen, nachdem wir ihre Bedeutung und den Sinn, in weldem fie fi) entwideln wollen, fennen gelernt baben, vermögen wir dann allerdings die Mannigfaltigfeit ihrer einzelnen Folgen abzuleiten, aber fie ſelbſt jehen wir nicht aus der bloßen Betrachtung der gegebenen Dinge ein, fondern würden fie erft begreifen, wenn wir wüßten, was das Unendliche mit diefen Dingen im Sinne hatte, da es fie ſchuf. Wer fich ver- mißt, aus jener unvollftändigen Natur des Endlichen allein Die Gefeglichfeit der Ereigniffe aufzumweifen, unternimmt die hoffnungs- Iofe Arbeit, eine Theorie über Bewegungen von Schatten zu gründen ohne Rückſicht auf die Bewegung der Körper, bon denen diefe geworfen werden. Denn in der That, fo wie wir nicht aus der Geſchwindigkeit, mit der zwei Schatten aufeinander zuftreben, fondern nur aus der Elafticität der Körper, denen fie ent|prechen, die Schnelligfeit ermitteln Können, mit welder fie aus ihrer Be- rührung zurückzuprallen ſcheinen werden: jo hängt alles das, mas die Dinge leiften, nicht von ihren erkennbaren Eigenſchaften allein, fondern von der Elafticität und Lebendigkeit des Unbedingten ab, welches als einziges zufammenfafjendes und wirkungsfähiges We- jen dieſen Schein der Eigenihaften um fi wirft. Nur dann,

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wenn wir auch Diefe innere Natur der Dinge durchſchauen und fagen Einnten, was eigentlich das Unendliche mit diefer Mannig- faltigfeit der Erſcheinungen und ihrer unermeßlichen Verwicklung beabfichtigt, nur dann würden wir aus dieſem Zwecke heraus auch die allgemeinen Gefete des Wirkens verftehen, die es in diefem Ericheinen fich worgefchrieben bat, und wilrden im Stande fein, fie nicht blos als Thatfachen hinzunehmen, fondern als Die eigne Folgerichtigfeit des Unendlichen zu begreifen.

Da dies nun nicht ift, mögen wir ben Sprachgebrauch der Naturwiſſenſchaft nicht tabeln, fo lange er nur Sprachgebrauch für die laufende Unterfuchung, nicht Ausbrud fir den Sinn der vollendeten fein fol. Denn verwertben Finnen wir allerdings Die Mitwirkung des Unendlihen für die Durchführung der Erflärun- gen im Einzelnen nit. Eben fo wie wir im Leben das ftille Bewußtſein ftetig fefthalten, daß jeder unferer Augenblide in der Hand Gottes fteht, ohne daß wir Doch feinen Namen in der Be— urtheilung jedes Fleinen Ereignifjes mißbrauchen möchten, deſſen beſondere Abhängigfeit von feinem Willen wir ja nicht verftehen : ebenfo werden wir einmal und bleibend die Ueberzeugung faffen, daß jeder Schritt des Naturlaufes nur gethan wird durch Die wirfende und geftaltende Kraft des Unendlichen; aber in der Er- Täuterung der einzelnen Erfcheinungen werben mir dieſe Ueber- zeugung nicht beftändig wiederholen. Denn eben in dieſem Ein- zelnen ift das Unendliche nur noch in Geftalt jener abgeleiteten Principien thätig, in die es fich felbft verwandelt hat, in Geftalt jener Stoffe Kräfte und Wirkungen, die e8 gejchaffen, denen es ihre Form und ihre Gefege vorgezeichnet, die es enblih zu dem zufammenhängenden Ganzen eines mechaniſchen Naturlaufes ver- flodten bat. Führen wir in diefem Sinne alles Gefchehen der Natur auf mechanifche Verkettung zuräd, jo handeln wir nun in dem eignen Sinne des Unendlichen und ehren fein Gebot; nicht ähm gegenüber ftellen wir als eine unabhängige, feindliche, von ihm zu überwindende Macht den Mechanismus, fondern wir fehen in diefem nur die eigne Wirkſamkeit des Unendlihen, Die, welche

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es in der Welt der Erfcheinungen überall als die verwirklichende Hand zur Erfüllung feiner Zwecke anerkannt wiffen will. So kann die Naturwiſſenſchaft allerdings das Unendliche zu entbehren fheinen, weil fie nicht von ihm fpricht, und die Oberflächlichkeit unferer phyſikaliſchen Zeitbildung kann glauben e8 entbehren zu önnen, weil fie, befhäftigt mit den Kleinen Uebergängen von End- lichem zu Enblicdem, die Anfänge des Gewebes aus den Augen verliert, in deſſen Mafchen fie wohnt; in der That aber wird jede aufrichtige Meberlegung zu dem erniten Bemwußtfein der völli⸗ gen Unfelbftändigfeit alles Naturlaufes zurüdgeführt werben, und fie wird da, mo fie auf Fragen ftößt, wie die, melde und zu diefer Erläuterung veranlaßten, aud den offenen Ausdruck dieſer Meberzeugung nicht zurückhalten können.

Wenden wir und nun zu diefen Fragen zurüd, um nicht zu lange in dem Gebiete allgemeiner Betrachtungen zu verweilen, fo geben ung zunächft die Zweifel über das endlihe Schickſal der Seele und die -Bemühungen, zu einer Entſcheidung derſelben zu gelangen, ein Beifpiel der fruchtlofen Beftrebungen, welde wir tabelten. Auf drei Wegen ſucht man das Biel, die Gewißheit der Unfterblichkeit, zu erreichen. Denn außer jenen zahlreichen Analogien Vergleichen und Bildern, mit denen fidy die zweifelnde Phantafie immer zunächſt zu behelfen pflegt, und welche wohl die Stimmung des Gemüthes für die Aufnahme einer Wahrheit günftig vorbereiten, aber nie diefe ſelbſt beweifen können, fucht man theils aus der eignen Natur ber Dinge die Unfterblichfeit als unvermeidlich, theil8 aus Gründen der Gerechtigkeit fie als nothwendige® Zugeſtändniß der Weltregierung darzuftellen. Es ift nicht unfere Abficht, die zahlreichen Neflerionen der legten Art bier zu wiederholen; nur die Behauptung möchten wir hinzufü— gen, daß nur aus ihrem Kreife, niemals dagegen aus jenen ſchein⸗ bar ftrengeren Unterſuchungen, welche die Natur der Dinge zum

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Ausgang nehmen, das Gemüth Die Gründe entlehnen wird, auf welche e8 mit einigem Vertrauen zu ihrer Haltbarkeit feinen Glau- ben an ewige Fortdauer ftüßen möchte. Es gibt nicht eine folche Natur der Dinge, die wie ein unvordenkliches Schidfal aller Wirklichkeit als eine unvermeidlich zu befolgende Reihe von Ge- feßen voranginge; es gibt nicht einen ſolchen Inbegriff des an fi Möglihen und Nothmwendigen, auf welden die melterichaffende Kraft Hinbliden müßte, um zu erfahren, innerhalb welder Gren- zen ihr die Verwirklichung ihrer Abfichten erlaubt fei, und melde Berpflichtungen folgerichtiger Entwidlung fie mit jeder Stiftung irgend eines Keime übernehmen müſſe; e8 gibt endlich nicht ein ſolches ewiges und vorweltliches Geburtsredht der Dinge oder Sub- ftanzen, auf das fie ſich ftüßen könnten, um zu verlangen, daß jede Macht, von welder fie zum Dienfte einer Weltbildung be- rufen wirden, ihre Privilegien achte und fie nur fo verwende, wie e8 ihrer angeſtammten Würde angemefjen ſei. Alles, das Dafein jener Dinge, die Eigentbümlichleiten ihrer Natur und Die Rechte, die dieſer zuzukommen fcheinen, Alles ift auf einmal und gleich unbefchränft nur Geſchöpf jener ſchaffenden Kraft felbft; nur fo viel und ſolches ift überhaupt in der Welt, als das Unendliche zur Bermirflihung feines Willens nicht ſowohl bedarf als viel- mehr zuläßt; nur die Rechte befitt jedes, die dieſer ſchöpferiſche Wille ihm gab, nur innerhalb derjenigen Geſetze fcheinen alle feine Wirfungen und alle feine Schidfale ſich mit felbftändiger Nothwendigkeit zu bewegen, innerhalb deren die eigne Yolgerich- tigleit des ewig Einen jedem einzelnen feiner Erzeugniffe zu blei- ben gebot. Nur wenn wir in dem fchöpferiichen Mittelpunfte der Welt ftehend, den Gedanken völlig durchſchauten, aus dem fie entiprungen ift, Könnten wir rückwärts aus ihm die Schidfale des Einzelnen vorausfagen, das zu feiner Verwirklichung berufen ift; wir können es nicht von unſerem menſchlichen Standpunfte, der uns nur dem Gefchaffenen unmittelbar, aber nicht dem Schöpfer und feinen Abſichten gegenüberftellt. Beſitzt unfer Geift, wie wir mit Recht glauben, einen Schag ihm angeborner denknothwendi⸗

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ger Wahrheit, jo fündigen wir gewiß gegen den Sinn diefer Wahrheit zuerft und am meiften, wenn wir ihr einen andern Urſprung zufchreiben, als den, auch ihren Inhalt nur jener ſchöpfe— rifhen Macht zu verbanten; fie wird uns leiten, das Endliche in dem Sinne des Ganzen zu verknüpfen, dem es dient, aber fie Tann die legte Beſtimmung aller Dinge nicht unabhängig von ber Kenntniß des höchſten Zweckes begreifen wollen, von welchem allein doch diefe Beſtimmung abhängt.

Daß wir Die Seele als den fubftantiellen und dauernden Träger der Erſcheinungen unferes inneren Lebens anſehen müfjen, davon allein haben unfere Betrachtungen uns überzeugen können. Aber daß die Seele darum, weil fie für diefe Erſcheinungen die bleibende Subftanz fei, auch eine ewige und unvertilgbare Dauer als das Vorrecht ihrer Natur befigen müſſe: von der Sicherheit dieſes Schlufje8 wird das unbefangene Gemüth ſich nie überzeugt fühlen. Berlangt man das Zugeftändniß von uns, daß jede Subſtanz ihrem Begriffe nach notbwendig unzerftörbar fei, fo mögen wir die Richtigleit dieſes Begriffes zugeben, aber wir mer: den Dann die Seele nicht mehr zu dem rechnen, was in feinen Um⸗ fang fällt. Nichts berechtigt ung zu der Annahme, was einmal jet, müffe nothwendig immer fein, und Entftehen und Vergehen bezweifeln wir nur deshalb zuweilen in feiner Möglichfeit, weil wir mit der gewohnten Neugierde unſeres Denkens eine Anſchau⸗ ung ſeines Herganges haben möchten. Sind wir endlich durch den Zufammenhang unferer übrigen Anfichten jo jehr darauf hin⸗ gewiejen, in allem Endlichen nur Gejchöpfe des Emwigen zu fehen, jo können noch weniger die Schidjale dieſes Einzelnen andere fein, als das Ganze fie ihnen gebietet. Das wird ewig dauern, was um feines Werthes und feines Sinnes willen ein beſtändiges Glied der Weltordnung fein muß; das Alles wird zu Grunde gehen, dem dieſer erhaltende Werth gebricht. Kein anderes höch— fte8 Geſetz unferer Schieffale können wir auffinden als dieſes, aber eben biefes iſt unanwendbar in unfern menfchlichen Händen. Wir fönnen uns nicht vermeſſen wollen, zu beftimmen und zu richten,

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welche geiftige Entwidlung durch die ewige Bedeutung, zu welcher fte fi erhoben hat, die Unfterblichkeit fich erwerbe, welcher an⸗ dern fie verfagt bleibe. Weder ob alle Thierfeelen vergänglid, noch ob alle Seelen der Menfchen unvergänglidh find, dürfen wir enticheiden wollen, fondern müſſen uns auf den Glauben zurüd- ziehen, daß jedem Wefen geichehen werde nad, feinen Recht. Und eben fo wie die Fortdauer nach dem Tode, ift das Da- fein der Eeele vor der Geburt diefes irdiſchen Lebens fein Gegen- ftand unſerer menſchlichen Kenntniß. Wer der Unfterblichleit der Zukunft gegenüber eine unendliche Borgefchichte unferer Seele zu bedürfen meint, wird in feinem Glauben und in der Phantafie, mit welder er dieſen in unferer Erinnerung leeren Zeitraum ausfült, kaum von der Wiffenfchaft beläftigt werden Tünnen. Aber die Erfahruug unfere® gegenwärtigen Lebens enthält nur wenige Spuren, welde ein dazu geneigte8 Gemüth auf dieſes Bordafein unſeres Weſens zurüddenten möchte; die Träume der Geelenwanderung, zu denen fait unvermeidlich unfere Borftellung genöthigt fein würde, find bisher Träume der Einbildungstraft geblieben und noch nie hat man erfolgreih ihnen eine höhere fittliche Bedeutung für die Ordnung der Welt zu geben vermocht; endlich zwingt Teine Nothwendigkeit unferer Vernunft, den Ge- danken einer Entftehung der Seele zu fliehen. Der organifche Leib, in jeiner Bildung begriffen, erzeugt fie freilich nicht aus füch ſelbſt; aber diefer Lebendige Leib ift jelbft nicht ein innerlich zufammenbanglojes Gewirr von Atomen, das nur ein allgemeines Geſetz in einer übrigens leeren Welt zu beſtimmter Entwidlung triebe. Wie vielmehr jeder Hleinfte phyſiſche Vorgang, welcher zwifchen zwei Elementen ſich zu ereignen fcheint, zugleich ein Geſchehen in dem Innern des Ewigen ift, auf deſſen beftändiger Gegenwart alle Möglichkeit des Wirkens beruht: ebenſo ift auch diefe ftillfortichreitende Bildung des organifchen Keimes Tein vereinjamtes in ſich felbft abgeichlofienes Ereigniß, fondern eine Entwidlung des Unenblichen jelbfl. Bon ihm gehegt, von ihm in fein eigne8 inneres Weſen aufgenommen, erregt dieſes Ereigniß

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des Naturlaufes dort die ſchöpferiſche Kraft zu neuer Entfaltung, und fo, wie unjere menſchliche Seele die äußeren Reize in fich aufnimmt und durch die Erzeugung einer Empfindung beant- wortet, fo läßt die folgerichtige Einheit des unendlichen Weſens durch dies eine innerlihe Creigniß der phyſiſchen Entwidlung Dazu ſich erregen, aus ſich jelbft auch die Seele hinzu zu er- zeugen, Die dem werdenden Organismus gebührt.

Es iſt mehr Einheit und Einfachheit in diefem Vorgange, als in der Vorftellung, die wir von ihm zu geben vermögen. Nicht wie in dem Beifpiel des Verhältniffes zwiſchen unferer end⸗ lichen Seele und den Keizen, die uns fremd find, ift auch für das Unendliche jenes Ereigniß des Naturlaufes ein von außen fommender Reiz, der einen Weg zurüdzulegen hätte, um den Mittelpunkt zu finden, aus welchem er die neue Entwidlung her⸗ vorloden fol; jeder einzelne Vorgang der Natur gefhieht in dem Unenblichen, jeder ift diefem Mittelpunkt gleih nahe und nahe zu aller Zeit. Und nicht aus diefem Mittelpunkt der ſchaffenden Kraft entfteht wieder die Seele als ein neues, zweites Element, das einen Weg zurüdzulegen hätte, um äußerlich dem Körper fich zu verbinden, ben es auffuchte; ungefchieden der Zeit und dem Raume nach entfalten fich dieſe beiden Schöpfungen, in deren gleichzeitiger Entwidlung das Unendliche nur die innere Wahrheit feines eignen Weſens ausdrüdt. Weder aus dem Körper entiteht die Seele, noch aus Nichts; aus der Subftanz des Unendlichen geht fie mit gleicher Wefenhaftigkeit hervor, wie aus demfelben Duell alle Wirflichfeit der Natur entfprang. Und weder zufällig fommt zu diefem Körper diefe Seele, noch ift e8 das Verdienſt des Peibes, durch feine Organifation die Eeele ſich zu fchaffen, die der möglichen Form feiner Tebendigen Thätigfeit entſpricht; auch nicht willfürlih wird das Unendliche vorher fertige Geifter an die beginnenden Keime vertheilen; fondern wie es mit felbit- gewählter Confequenz jede körperliche Organifation die noth- wendige Folge ihrer Erzeuger fein läßt, fo wird es auch in ber Schöpfung der Seelen einem felbftgegebenen Gefege folgen, durch

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welches auch ihre aufeinanderfolgenden Geſchlechter in die Abftu- fungen einer innerlichen Verwandtſchaft verflochten werben. Nicht durch Theilung wird die Seele der Eltern fich zerfplittern in die Seelen der Kinder, aber die Ahnung bleibt uns, daß die fchaf- fende Hand des Unendlichen das geijtige Bild der Erzeuger in biefen wiebererzeuge und auch innerlich die Wefen fi nabe ftehen laſſe, welche fie am nächſten für das äußerliche Leben mit ein- ander verkettet bat.

Nur die Ahnung davon bleibt uns; mit taufend Beilpielen belehrt uns auch hier die Erfahrung von der Unerforfchlickeit die⸗ jer Wege Gottes. Mit treuer und befcheidener Beobachtung ge- winnen wir vielleicht einen hie und da erweiterten Ausblid auf die Richtung, welche fie nehmen, aber nie werden wir im Stande fein, den Lauf diefer geiftigen Weltordnung mit derjelben An- näberung an die Wahrheit zu überfehen, die unferer Auffaffung der natürlichen Erfheinungen gewährt ift. Und Alles, was wir noch hoffen dürfen an Zuwachs ber Erfenntniß zu erreichen, das werden wir nur von einem gefammelten Bemwußtfein über unfere Beitimmung, nicht von der Betrachtung unferer allgemeinen gei- figen Natur erwarten müflen. Nur die Einfiht in das, was fein ſoll, wird und auch die eröffnen in das, was ift; denn feinen Thatbeftand, feine Einrichtung der Dinge, Teinen Lauf des Schick⸗ ſals wird es in der Welt geben fünnen, unabhängig von dem Ziele und dem Sinne des Ganzen, aus welchem jeder Theil nicht allein fein Dafein, ſondern aud die wirkungsfähige Natur em⸗ pfangen hat, auf welde er ftolz ift.

Schluß.

Ih möchte nicht ſagen, daß es ein Gipfel von hoher Aus- fit jet, auf welchen unfere Betrachtung durch einen langen und doch für die Mannigfaltigfeit der Umgebung vielleicht zu kurzen Weg geführt hat; aber die Höhe haben wir jevenfall$ erreicht, die unjern Kräften verftattet ift, und zurlidblidenb mögen wir jegt wohl der Zweifel gedenken, aus deren Mitte wir ausgingen, und des veränderten Bildes, welches uns jett die durchwandelte Gegend gewährt. ALS wir den Streit der verjchievenen Natur- anfichten überdachten, war es bejonders jenes Element einer dunk⸗ len und flarren Naturnothwendigleit, gegen welches der unab- läffige Kampf des menfchlihen Gemüthes gerichtet war, um end- lich in einer blinden Hingabe an die Verehrung dieſes blinden Waltens zu endigen, die mehr aus Entjagung als aus Weber- zeugung herborzugehen ſchien. Haben wir nun einen Weg ge= funden, die zwiefpältigen Gedanken, die dort ſich ftritten, zur Ver: ſöhnung zu bringen, und melden Werth müfjen wir auf die einzelnen Punkte der Anficht legen, die ſich und allmähli in der Hinwegräumung jener drängenden Schwierigkeiten gebildet bat? Dieje Fragen mit aufrichtiger Selbftprüfung noch einmal zufam- menfafjend zu beantworten, wird Niemand fich erlaffen, den die Gewohnheit wiffenfchaftlicher Unterfuhung gelehrt hat, wie bleich

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nah dem Abfchluß derſelben jo häufig der Glanz der rettenden Gedanken fi ausnimmt, die jo blendend waren in dem Augen- blick, als fie neu entftanden den Schwierigfeiten entgegeniprangen. Sie waren angeftrahlt damals von dem hoffnungsvollen Feuer ber Arbeit und glänzten in ihm weit mehr al8 von dem eignen Fichte. Vielleicht entgehen wir aud bier dieſem Geſchicke nicht; vielleicht aber bleibt und auch etwas zurlid als ein feftzubaltender Gewinn, den wir aus diefer allgemeinen Weberfiht der Bebing- ungen alle8 Lebens zu der befonderen Betrachtung der menſchlichen Dinge mit hinübernehmen.

Den Glauben an perjönliche Naturgeifter, in denen die my— thifche Weltauffafjung die Schönheit und Bedeutung einzelner Er- ſcheinungen zu lebendigem Genuß verdichtete, haben wir ſtillſchwei⸗ gend aufgegeben. Seine Erfahrung beftätigte diefen Traum; aber ale Erfahrung war zugleih unfähig, einen anderen Traum zu widerlegen, in welchem das Gemüth, nach innerlicher Lebendigkeit der Natur begierig, die verlorene Befriedigung in anderer Weife wieder gewinnen konnte, Denn Nichts hielt und ab und Bieles ermahnte ung, in jenen einfachen Wefen, aus deren Zufammen- ſetzung für uns felbft der Schein der Teblofen Materie hervorgeht, ein innere8 Leben zu vermuthen, fähig, in den mannigfachften Formen des Gefühles die Eigenthümlichkeit jeder Lage zu genießen, in welche der wechielnde Naturlauf fle warf, oder eine beftändigere Bildung fie fefthielt. Nur verallgemeinert wurde durch dieſe Auf- faffung der Selbfigenuß der Natur; nicht ein bevorzugter Theil der Wirflichleit hat feine Genien, während blind und leblos der andere Tiegt, fondern Alles Tonnte diefe Wärme der Empfindung durchdringen. Und nicht beichränft mehr auf die Formen des menſchlichen Seelenlebens wiederholt überall diefe innere Regſam⸗ feit uns das Belannte; völlig andere, uns unfagbare, nur in träumerifcher Ahnung uns von fern vorjhmebende Arten des Ge- nufje8 und der Empfindung können wir in dieſe Natur verfireut denfen, ben befonderen Lagen der einfachen Wefen fo entfprechend, daß kein Ereigniß des mannigfachen Naturlaufes von diefer Ver⸗

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klärung in Bewußtjein und Selbfigenuß mehr ausgeſchloſſen ift. Aber wir mögen weit weniger die Vortheile dieſer Auffafjung ſchildern, die bei der geringeren plaftifhen Anſchaulichkeit der gei- ftigen Wefen, von denen fie ſpricht, um fo mehr fi dem mufi- kaliſchen Hange unferer Bildung empfehlen würde: dies wollen wir vielmehr hervorheben, daß fie zwar vielleicht nicht ein Teerer Traum ift, aber weitab Tiegt von ben ernften und wichtigen Veberzeu- gungen, auf welche wir unfere Betrachtung der menſchlichen Bil- dung gründen möchten. Welche Anficht über das innere Leben der Natur jedem Zeitalter die herrichende war, davon bat der Fortſchritt der menſchlichen Entwidlung nur fo lange abgehangen, als es noch fraglich fein Konnte, ob regelloje Freiheit und Will- für von Genien und Dämonen oder die unbedingte Folgerichtig- feit allgemeiner Gefeße die äußere Welt, den Schauplak und den Gegenftand unfere8 Handelns, beherrſche. Nachdem diefer Streit entſchieden ift, wird die zartfühlende Phantafie, mit welcher wir bie Seele der Natur zu belaufchen juchen, den Fortſchritt unferer Eultur weniger begünftigen, als die Härte des Gemüthes, welche die Dinge der Natur zunächſt für das nimmt, wofür fie ſich geben: für blinde, finmme, einer nothmendigen Ordnung untermworfene Erzeugniffe, die ihr inneres Leben für fi haben mögen, für uns aber ein Reich benußbarer Sachen bilden. Ohne deshalb der Einbildungskraft die Verfolgung jener Gedanken zu verargen, müfjen wir doch behaupten, daß nicht in ihnen, fondern in ber Profa des alltäglichen Scheines die wichtigere Grundlage unferer geiftigen Entwidlung liegt.

Jenen perfönlichen Naturgeiftern gegenüber konnte Die My- tbologie niemald den Gedanken einer unvorbenflihen Nothwen⸗ digkeit unterdrüden, in deren zielfegenden Schranken fi alle Lebendigfeit ber Göttermelt bewegt. Aber je bereiter wir die Al- gegenmwärtigfeit diefer notwendigen Ordnung überall zugaben, um fo entfchiedener haben wir uns der Auffaflung widerſetzt, welche in ihr ein vorweltliches Schickſal ſah, im Gegenſatz zu ber ſchöpfe— riſchen Kraft, der dieſe beitimmte Wirflichleit ihre Formen ver-

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dankt. Es ift nicht fo, wie die Mythologie in dunklen Bilbern lehrte, daß Dieje Lichte Götterwelt, welche die Orbnung ber vor- handenen Welt beberrfcht, nur die Nachfolgerin einer früheren, finfteren und büfteren Gottheit fei, deren unbegreiflihes Walten die Grundzüge der Wirklichkeit beftimmt babe, in deren Genuß und Berfchönerung jene thätig fei. Dies war vielmehr der feftefte Theil unferer Weberzeugung, daß jedes höchſte, ftarrfte, allgemeinfte und notbwendigfte Gefeß, welches die Welt und irgendwo auf: zeigte, nur die felbftgemählte Bedingung fei, die das eine jchöpfe- riſche Unendliche feiner ewigen Entfaltung zu Grunde gelegt habe. So führte uns unfere Betrachtung von felbft in das Gebiet jener andern Anfichten iiber, welche die belebenden und befeelenden Triebe der Erjcheinungen nur als unzählig verſchiedene Ausdrücke jenes einen Gedankens verehren, der, unausfprehbar an fi, die Fülle der Weltfeele bilbet.

Indem wir anerlannten, daß nur das tft, was in dem ber- nünftigen Zuſammenhange der ewigen Idee feine Stelle hat, nur das fidh ereignet, was in dem Sinne ihrer Entwidlung Liegt, daß alles Enbliche überhaupt den erflärenden Grund des Triebes, bon dem e8 bewegt wird, nur in dem Gedanken ber Weltfeele befige, den e8 verkörpert: fo haben wir in diefen Behauptungen die wefentlichen Lehren jener Weltanficht ung bewahrt. Und wenn wir den Begriff der Triebe unzulänglid für die einzelnen Unter- fuhungen fanden und für ihn den ununterbrochenen Caufalzufam- menbang einer mechaniſchen Berwirflihung einfegten, fo wiber- Iprechen mir damit dem Geifte jener Anficht nicht mehr, feitvem wir alle Gefete dieſes Mechanismus nur als den eignen Willen der MWeltfeele, alle Verbindungen und Trennungen der wirffamen Mittel nur als ihre eignen Handlungen, ihre innerlihen Wir- fungen in ſich felbft, erfannt haben. Aber dennoch, welche Be- friedigung könnte diefe Anficht gewähren, wenn fie nicht vermöchte, die beiden großen Gegenfäße, die zuſammen erft die Welt voll- enden, die Natur und das Reich des Sittlichen, zu vereinigen ? Und Können wir leugnen, daß alle jene Lehren und an bie Stelle

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der Weltjeele doch nur eine Naturfeele jegen? Ein Wefen, in deſſen Einem unendlichen Geftaltungstriebe ſich die unzähligen einzelnen Triebe ber endlichen Erfcheinungen wie farbige Strahlen zur Einheit des weißen Lichtes vereinigen? Wo aber Tiegt in dieſem Wefen der Grund zur Entwidlung ber fittlichen Welt, wo das, woraus der Unterſchied von Gut und Böſe hervorginge? Wollen wir nicht, in den alten Gegenfag zurüdfallend, entweber auf eine unvordenklich gegebene Natur die fittliche Welt äußerlich gründen, ober in einem höchſten Wefen, da8 wir Eines nennen, doch unvermittelt neben einander die zwei gefchievenen Wurzeln beider vorausſetzen, jo bleibt feine andere Wahl, als entweder das Gute mit in den Kreis der Naturerfcheinungen, oder die Natur in die Berwirflihung des Guten einzufchließen. Keinen Augenblid kann e8 mix zweifelhaft ſcheinen, daß nur bie letztere Wahl uns erlaubt ift: alles Sein, alles, was Form und Geftalt, Ding und Ereigniß beißt, diefer ganze Inbegriff der Natur Tann nur als die VBorbedingung für die Wirklichkeit des Guten gelten, Tann, fo wie er ift, nur deshalb fein, weil nur fo fi in ihm der unendliche Werth des Guten feine Ericheinung gab. Aber diefe entichievene Weberzeugung bezeichnet nur ein letztes und äußerftes Biel, welches unferen Gedanken ihre Richtung geben mag; fie bezeichnet nicht eine Erkenntniß, die deswegen, weil fie in eine beweisbare Lehre ſich ausführen ließe, den Namen einer Wiffenihaft verdiente. Eine unausfüllbare oder bisher wenig- ſtens niemals ausgefüllte Kluft ſcheidet für unfere menjchliche Bernunft die Welt der Werthe von der Welt der Geital- ten, und wie lebhaft unfer empfängliches Gemüth mit zurüd- gehender Bewegung des Denkens aus den vorhandenen Yormen ber Natur den Werth ihrer fittlichen Bedeutung herausfühlen mag: eben jo wenig vermögen wir vorwärts fchreitend aus dem Be⸗ wußtfein der höchften Werthe die Nothmendigfeit zu erweifen, mit welcher fie in diefe und in feine anderen Yormen der Natur ſich geftalten mußten. Mit ver fefteften Ueberzeugung von dem Borhandenfein diefer ungefchiedenen Einheit zwifchen beiden ver-

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einigen wir den bewußteften Glauben an die Unmöglichkeit ihrer Erfenntnif.

Wie leicht Fönnten wir dieſes Zugeſtändniß durch Verhüllung des Thatbeftandes umgehen! Denn wie frudtbar ift doch darin unfere fpeculative Wiſſenſchaft gewejen, durch immer neue Namen und Bilder fi die Bitterfeit des Belenntniffes zu erfparen, daß auch fie doch hier nur die Aufgabe kennt, die dem unbefangenen menfhlihen Gemüth nie unbefannt war, daß «aber die Löſung ihr jo unmöglich ift, wie jenem. Wenn es fi fragt, wie aus der Hand deſſelben Gottes, der die innerliche Heiligfeit der fitt- lichen Welt gründete, dieſes Spiel der Planeten, diefe Schönheit der Erbe mit der fröhlichen Formenfülle ihrer Pflanzen und Thiere und mit der flarren Nothwendigkeit des Darunter verhüllten Me- hanismus hervorgehen konnte: wie leicht ift e8 do dann und zugleih wie ärmlid, von einem realen und idealen Factor in Gott, von einem Weberwiegen des blinden oder des bemußten Wirkens in feiner Thätigfeit zu ſprechen und jenem die noch immer in ihren Formen unerflärte Natur, diefem die gleich flüchtig ge= zeichneten Umrifje des geiftigen Dafeins zuzurechnen. Wie leicht, in Gott etwa® zu fehen, was noch nicht Gott jelbft ift, einen dunflen Grund in ihm, ber zu dem ftoffartigen Stamme ber Natur auswachſe, überwölbt von der Tichteren Entwidlung des Anderen, was in Gott mehr Ex felbit wäre. Mit fo Fümmer- lihen Behelfen täufht man den Ernft der Frage hinweg und jagt weniger, als ber beſcheidene Ausdruck des natürlichen Ge- müthes, welches einfach in einer unerforichlichen Weisheit Gottes den Grund aller envlichen Geftaltungen fieht.

Dafjelbe Belenntniß der wiſſenſchaftlichen Undurchführbarkeit eined darum nicht minder fiheren Glaubens haben wir in un— jerer Beziehung zu der letzten großen Naturanfiht, der mecha⸗ nifchen, abzulegen. Wir haben fie rückhaltlos zugegeben, fo weit irgend es ſich um die Unterfuchung der Berhältnifie von Endlichem zu Endlidem, um die Entftehung und Benwirflihung irgend welcher Wechſelwirkungen handelte; wir haben ebenfo entichieden

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ihre Berechtigung geleugnet, wo fie nicht als formelles Mittel der Unterfjuhung, ſondern al8 abſchließende Weltanficht ſich gel⸗ ten zu machen verjuchte. Aber indem wir die felbftändige Wirf- lichfeit eines mechaniſchen Naturlaufes Yeugneten, Finnen wir doch die Ableitung feiner einzelnen Geſetze aus dem höchſten Zwecke der Welt nicht vollzichen, fondern müfjen e8 dem langſamen Fort- jhritte der Wiſſenſchaft überlaffen zu zeigen, was in Diefem Ver— ſuche ausfithrbar fein mag, und was der menjhlihen Erfenntnif ſtets verjagt bleiben wird. Nur Dies war und möglich anzuden- ten, wie wenig jener Charakter der Aeußerlichkeit, den man fo oft der mechanischen Auffaffung zum Vorwurfe macht, mit dem Geiſte dieſer Anficht nothmendig zufammenhängt. E8 ift ihr nicht verjagt, in ben wirffamen Elementen, aus deren veränverlicher Zufammenfegung fie den Wechfel der Naturerfheinungen begrün- det, innere Zuftände und eine verborgene Regſamkeit ihres Lebens anzunehmen, die fie fteigern mag bis zu dem Glauben an ein dem unferigen verwandtes Spiel geiftiger Erregungen. Nicht nothwendig muß für fie die bunte Fülle der Erfheinungen zu dem geiftlofen Spiel eined Austaufhes von Bewegungen, einer immer neuen und immer gleich beveutungslofen Bertheilung von Geſchwindigkeiten, einer raftlofen Veränderung der Lage und Ber: bindung ber Theilden verarmen: alle dieſe Wechfelfälle Des äuße- ren Naturlaufes kann auch fie nur für die Summe der Veran— Yafjungen anfeben, durch welche nad unwandelbaren Gefegen cin innerer Naturlauf, die unermeßlihe Mannigfaltigkeit der Gefühle in dem Innern der Wefen ermedt wird. Nur dieſe äußere Ge— Ihichte freilich zieht Die mechanische Naturwiſſenſchaft in Betracht und überläßt die innere, welche fie erfahrungsmäßig nicht ver- folgen kann, der Geſchäftigkeit unferer Phantaſie. Aber fie glaubt dafür auch in jener Welt der Bewegungen nicht die wahrhafte Wirklichkeit, nicht jenes Letzte zu befigen, worauf e8 in allem Da⸗ fein anfam, in aller Schöpfung e8 abgefehen war, ſondern aller Mehanismus gilt au ihr für nichts weiter als für die Samm-

Yung aller Bermittlungsformen, in denen Gottes . beſchloſſen Lohze I. 4. Aufl.

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hat, das unbefannte Innere der gefchaffenen Weſen auf einander wirken zu laffen und alle ihre Zuftände zu dem unüberfehbaren Aufommenhange einer Weltgefchichte zu verbinden. Es ift das Reich der Mittel, defjen Organifation diefe Anfiht zu verftehen glaubt, nicht das Reich der Zwecke, denen fie dienen. Wie wir in unferem eignen Leben bie phyſiſchen Bewegungen der äußeren Natur dazu verwendet jehen, als anregende Reize das viel Höhere in uns felbft, die bewußte Empfindung, zu erregen, fo, meinen wir, fei in aller Welt all jenes mechaniſche Geſchehen nur das äußerlihe Gewebe gejeglih einanderburchkreuzender Reize, bes ftimmt, in unzähligen Punkten, in dem Inneren zahllofer Wefen,

das wahre Geſchehen eines geiftigeren Lebens zu entzünden.

Legen wir aber Gewicht auf dieſe Unfelbftändigfeit des Na- turlaufes, fo daß die Bergötterung des Mechanismus, die man dennod vieleiht und vorwirft, nur darin befteht, daß wir ihn nicht als ein auf fich "beruhendes Schidfal, fondern nur als Er- zeugniß der göttlihen Weisheit begreifen: fo müſſen wir ander— ſeits für ihn auch die Anerkennung feiner ſchrankenloſen Gültigkeit verlangen. Wir glauben gezeigt zu haben, wie in den meiften der Fälle, in welchen cine mehr gefühloolle al8 klare Naturan- fiht, von feiner Starrheit bebrüdt, zu anderen höheren Kräften und Potenzen flüchtet, uns theils die Erfahrung die Fortdauer der mechanischen Bedingtheit oft auf das Bitterfte eindringlich macht, theils unfer Gefühl ſelbſt feinen wahren BVortheil von den Annahmen haben würde, die e8 mit dem heimlichen Bewußtfein ihrer Nichtübereinftimmung mit dem ©egebenen magen Tönnte. Wir haben mit der Stetigfeit und dem feften Zufammenhange des mechaniſchen Weltbaues felbft die Freiheit formell nicht un- vereinbar gefunden, welche wir ung zu erhalten füglih wünſchen können; nur die Unentſchiedenheit dariiber, ob auch nur in diefem Valle das, was wir annähmen, dem richtig verftandenen Zwecke feiner Annahme entſprechen möge, Bat uns zögern laſſen, neben der Möglichkeit der Freiheit von ihrer Wirklichkeit zu fprechen und auch ihrem Begriffe feine beftimmte Stelle in dem Ganzen des

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mechaniſchen Univerfum zu geben. Ye weiter wir jedoch auf Die fen Wege und von ber fümmerlichen Engberzigfeit jener Anfichten früherer Zeiten entfernen, denen Mechanismus nichts war, als eine endlofe Mittheilung gegenfeitiger Stöße, um fo mehr müffen wir jeden Verſuch zurüdweifen, nun dennoch diefem allgemeinen Geſetze aller Vermittlung des endlichen Geſchehens einzelne Theile der endlichen Wirklichkeit entzichen zu wollen. Nirgends ift der Mehanismus das Weſen der Sache; aber nirgends gibt fih das Weſen eine andere Form des endlichen Dafeins, al8 durch ihn; fo mie wir nicht andere Götter haben neben Gott, fo bedürfen wir außer diefer allgemeinen Wirfungsform der Natur nicht anderer.

Wir verfiehen wohl den Grund jener geringihägigen Ab- neigung, mit welcher fo viele Gemüther ſich gegen dieſe Aner- fennung fträuben. Uns allen fcheint zuweilen die Welt der Ge— ftalten zu fchr die Welt der Werthe, das Reich der Mittel zu ſehr das Reich der Zwecke zu verhüllen; wir fehnen uns nad) jener Einheit des wahrbafteften Scins, in welcher Ideen Wirk- lichkeit haben, ohne an die Vermittlung der Werkzeuge, das höchfte Glück Beſtand hat, ohne an die taufend Bedingungen beftimmter Lagen gebunden zu fein, in welcher ein unmittelbares Verftänd- niß der Geifter alle äufßerlihen Wege der Wechſelwirkung über: flüffig macht, in welcher endlich Schöpfer und Gefchaffenes in eine Gemeinfamfeit de8 Lebens verfhmelzen, für deren ahnungsvolle Tiefe kaum die edelfte Myſtik genügende Ausdrüde darböte. Im Aufblid zu ſolchem Legten und Höchſten peinigt uns dieſe Welt des Widerftandes, der Mittelbarkeit, der bedingenden Umftände, der Verzögerung; e8 beunruhigt und, die Schönheit der natür- lihen Geftalten nicht ans Einem Hauche ſchöpferiſcher Lebenskraft begreifen zu follen, fondern fie auf dem Ummege zahlloſer Wechiel- wirkungen des Vielen berubend zu denken; es quält uns endlich, jelbft in unferer geiftigen Entwidlung uns gebunden zu wiffen an das Imeinandergreifen von Kräften, deren allgemeine Gefeß- mäßigkeit frembdartig ber Wärme unferer Beftrebungen gegenüber ſteht. Aber fo wenig wir die Wahrbeit der Einheit leugnen

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wollen, welche jene muftifche Entzüdung des Gemüthes zu ſchauen glaubt, eben fo gewiß Liegt dies unſer irdiſches Leben nicht in ihrem Gebiete, jondern in dem Bereiche ber Zweiheit und des Gegenfages. Weder mit unferem Erkennen noch mit unferem Handeln ftehen wir in jenem ftillen Mittelpunkte der Welt, jon- dern in den äuferften Verzweigungen ihres Baues, die laut find von dem Getriebe der Bermittlungen; und die ungeduldige Sehn- ſucht, die in jenen zurüdftrebt, möge ſich hüten, daß fie nicht den Ernft und die Schwere der Bedingungen geringihäge, unter deren Gebot ein unmwiderrufliher Rathſchluß unfer endliches Leben ge- ftellt hat. Sind es höhere Anfichten der ‘Dinge, von denen dieſe Sehnſucht ausgeht, jo ſchweben fie eben wie entfernte Wollen, glän= zend allerdings von edlen Ahnungen beleuchtet, in einer ficheren Höhe über al den dornigen Berwidlungen, welche unfere Stellung hier unten darbietet; einen Weg durd) das Geftrüpp bindurd zeigen fie nicht, fondern nur einen der Reſignation darüber hinaus. Aber das Leben des menſchlichen Geſchlechtes beftcht nicht allein in der Sehnſucht nad) dem Ziel und in dem ſchwärmeriſchen Bor- traum feiner Anfchauung, fondern in der Arbeit der Wanderung zu ihm. Wollen wir diefe Aufgabe mit jelbftbemußter Bejonnenbeit Yöfen, fo fünnen wir nie zu eifrig fein in der Erforfyung der Be- dingungen, die auch der Entfaltung unferes geiftigen Lebens in der Natur des Schauplages geftellt find, der uns einjchließt, und in dem Zuſammenhang der Gejhichte, von dem wir dahingezogen werden. Wie in dem großen Weltbau der fchöpferifche Geift ſich unverrüdbare Gefege gab, nad denen er das Reich der Erſchei— nungen bewegt, die Fülle des höchſten Gutes in die Unzählbar- feit der Geftalten und Ereignifje zerftreuend und aus ihnen fte wieder zu dem Glüde bes Bewußtſeins und des Genuffes ver- dichtend: fo wird der Menfch diefelben Gefege anerfennend, die gegebene Wirflichfeit in Erfenntniß ihres Werthes, den Werth feiner Ideale in eine von ihm ausgehende Reihe äufßerlicher Ge- ftaltungen entwideln müfjen. Zu diefer Arbeit find wir beftimmt, und der ehrwürdigſte Zug in der Geſchichte unferes Gefchlechtes

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ift die unverfiegbare Ausdauer, mit welcher die hervorragendſten Geifter aller Zeiten fi der Vervolllommnung der äußerlichen Lebensverhältnifje, der Ueberwindung der Natur, dem Fortſchritte jeder nüglihen Kunft, der Beredlung der gefelligen Formen wid- meten, obwohl fie es wußten, daß der wahre Genuß des Daſeins doch nur in jenen ftillen Augenbliden des Alleinfeins mit Gott Tiegt, in denen jedes menſchliche Tagwerk, alle Eultur und Civili- fation, der Ernft und die Laft des lauten Lebens zu dem Bilde einer nur vorläufigen Uebung von Kräften ohne bleibendes Er- gebnig zuſammenſchwinden. In diefer Regfamfeit einer nicht ins Unbeftimmte irrenden Freiheit, welche die Frucht wollte ohne das langjame Wahsthum der Pflanze, fondern mit Bewußtſein an die feften Schranken einer ihm heiligen Nothmwendigfeit fi bin= dend und den Spuren folgend, Die fie ihm vorzeichnet, wird der Menſch das fein, was eine alte Ahnung ihn vor allen Geſchöpfen fein läßt: das vollfommene Abbild der großen Wirklichkeit, die Heine Welt, der Mikrokosmus.

Drud von I. B. Hirſchfeld in Leipzig.

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