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Verlornes Paradies

im dsutsehen Urteile des 18- Jahrhunderts

Von

Enrico Pizzo

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V^rls-g vor. E ra t f -E'ei-be r 1914

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Meinen verehrten Lehrern

Prof. Dr. A. Frey

und

Prof. Df.Th.Veiier

in Dankbarkeit zugeeignet

Vorwort

Die Anregung zu diesar Arbelt verdanke ich Herrn Prof. Dr. Th, Vetter, der mir, wie auch Herr Prof. Dr. A. Frey^ während der Ausführung wohlwollend und hilfreich zur Seite stand. Der Auffassung der Arbeit hat die Lektüre von Benedetto Croces Schriften viel genützt.

Verschiedene Winke, Auskünfte und Zustellungen von Büchern schulde Ich d^n Herren Prof. F. Hübler (Graz), Prof. Dr. M. Koch (Breslau), Prof. Dr. H. Maync (Bern), Prof. Dr. j. 0. Robertson (London) und Prof. Dr. A. Stern (Zürich). Auch sei der Stadt- und Kantonsbiblioihek Zürich, der deut- schen Seminarbibliothek Zürich und der kgl. Hof- und Staatsbibliothek München, deren Schätze ich ausgiebig be- nützen konnte, dankbar gedacht.

Die Arbelt wurde im April 1013 abgeschlossen.

Inhalt

Vorwort

Vorbemerkung

Einleitung. Mütons Bekanntwerden in Deutschland

1. Kapitel. Bodmer und seine Zeit . .

2. Kapitel. Das Zeitalter Leasings ; . .

3. Kapitel. Herder in Sturm und Drang

4. Kapitel. Sturm und Drang ....

5. Kapitel. Die Klassik

6> Kapitel. Die Prühromantlk

Seite

l

15 48 73 82 103 133

Vorbemerkung

In dieser Arbelt habe Ich festzustellen versucht, inwie- fern Mlltons Verlornes Paradies während des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland zum ilterarischen Erlebnis geworden.

Es kam mir darauf an, in jeder Periode das vltalo Interesse an der Dichtimg zu 'Ermitteln, auch wenn es sich hinter einer Theorie verbarg. Denn während bei Lessing Theorie und spontaner Qoschmack übereinzustimmen scheinen, ergeben sich z. B. bei Bodmer zwischen dem ge- lehrten Wissen und der angewandten Kritik interessante, noch nie recht hervorgehobene Unterschiede, die das wahre Verhältnis su Milton erst aufdecken.

Oft fand ich in 2inwirkungen auf Dichtwerke Auf- schluß. Ich benutzte die Arbeiten von J. Bächtold, Th. Vetter, Fr. Muncker und F. Hübler,^) während mir Gustav Jennys Leipziger Dissertation Mlltons verlornes Paradies in der deutschen Literatur des 18» Jahrhunderts (1890) wenig Brauchbares bot.

Für die Einleiiung lieferte mir J. Q. Robertsons Vor- trag Miitons Farne on the Continent^) einige wichtige Einzelheiten. Über des Dichters Wirken nach der Seraphik fand ich mn wenige Detcilforschungen vor. Vie- les habe ich .selbst zusaVnmengetragcn. Beinahe immer war mir das Symptomatische die Hauptsache.

Das gewonnene Material bemühte ich mich synthetisch zu verarbeiten, vom Bestreben geleitet; die Veränderungen im Qeschmack der verschiedenen Perioden deutlich her- vortreten zu lassen.

*) T h. V e 1 1 c r ä und Fr. Munckers Arbeiten werden an Ort und Steüe angeführt werden. F. H ü b ! e r s Progranm- schrlft ist betitelt . Milton und K 1 o p 3 1 c c k j Reichenberg I. B. 1893—1.895, 3 Hefte.

») From the Procäsdinas of the British Acadcmy, vol, HL, London 1908.

Einleitung

Miltons Bekanntwerdet! in Deutschland

Der Umstand, daß John Miltonv als er sein Para- d i s e Lost vollendete, sich schon als Staatsmann und po- litischer Schriftsteller einer. vv':iithin reichenden Namen ge- macht hatte, erleichterte dem Dichter Milton das Be- kanntwerden auf dem Kontinent. Absr bis ins achtzehnte Jahrhundert blieb aut dem fcstlande das Verlor eno Paradies beinahe t'nbeachtet. Noch 1732 begann J. J, Bodmcr die Einleitung zu seiner Miltonübertragung: „MU- ton wäre in Deutschland noch vor wenig Jahren alleine berühmt als ein grosser Freund, und Secretar des Protec- tors Olivier Cromwels. Von seinen vortrefilichen Gedich- ten wußten nur einige wenige auserlesene Kenner zu -agen/*

Solcher Kenner hatve es gegeben. Im Staatsdienste ,'16 auch nach seiner Erblindung verkehrte Milton mit Deutschen, Zu s.'Jnen Bek.?.r.nten gehörte wahrscheinlich auch der in England lebende Theodor Haake,^) der arste^

*) Vgl. A. Stern;, Milton u Ji d ü e : n e Zeit, Zweiter Teil, Drittes Bu:h, Leipzis 1879, p. .?6 und J o h. 3 o 1 1 e , Die beiden Ultcsten V&rd&utschungen von Miltcns Verlöre iiem Paiadies, Zeitschrift fürvergl. L i t s r a t u r 2 e s c h i c h •.: e . N. F. I. (Berlin 1887/88), p. 430 f. Ein Manu£l<ript der liaakeschen Übersetzung hat sich auf der Landesbibliothek zu Kassel arbalten. Es umfaßt die ersten drei Bücher und SO Verse des vierten.

PtKSO, Miltoo. 1

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der das V. P. (ßegen das Ende der siebziger Jahre des 17. Jahrh.) zu übersetzen beg:ann und es 2uch anderen Deutschen zuKänglich zu machen versuchte: Er muß zwei Kopien sei- ner nie gedruckten Übertragung nach Deutschland gesandt haben, eine an einen gewissen Joh. Sobald Fabricius (16.22--?), der ihm schmeichelhaft antwortete: „Incrcdibile est, Quantum nos afieccrit gravitas stili et copia lectissi- morum verborum'*,*) und eine an Ernst Qottlieb v. Berge,') den er zu einer zweiten 1682 zu Zerbst erschienenen Über- setzung anregte. Berges Arbeit ist eine Verschlimmbesse- rung derjenigen seines Vorgängers; die noch unbeholfe- nere, dunklere und verworrenere Sprache zeigt uns, wie schwerverstUncilich Miltons hoher Stil den Deutschen jener Zeit var.

Andere Deutsche» die nach England kamen, wurden von Kaakc auf den englischen Dichter aufmerksam ge- macht, so M. L. Benthem, der als Frucht eines englischen Aufenthalte. 1694 jungen Theologen zur Anleitung seinen Enge Hündischen Kirch- und Schulenstaat schrieb, In welchem er über Haakes und Berges Versuche und auch über Milton selbst unterrichtete/) Benthems Werk wurde dann in den Monatlichen Unter- redungen Einiger guter Freunde von allerhand Büchern und andern annehm- lichen Geschichten, October 1694 . . . ausgezogen.

') So erzählt K. L. Benthem im Engelländl- schen Kirch- und Schulenstaat, p. 116 der mir vor- liegenden Neuauflajre von 1732.

") Vgl. J. B 0 1 1 e , !. c, p. 427

*) Die erste Auflage war mir nicht zugänglich. Nach J. 0. Robertson äußert er sich p. 57 ff.; in der zweiten Auflage p. 115 ff und 1121 ff. Die erste Auflage erschien in Lüneburg, die zweite in Leipzig,

p. 831/2 finden wir die Nachricht über Haakc und Berge noch einmal.

Auch Daniel Qcorg Morhof war das V. R bekannt. 1682 erwähnt er es in seinem Unterricht . . .') und 1688 in seinem Polyhistor.*) Das Gedicht scheini ihm nichts zu sagen. Nur der Mangel des Reims fällt ihm auf. Im Polyhistor sagt er über Miltons Dichtungen: „Piena in- genii et acuminis sunt, sed insi:avii tarnen vidcntur ob Thythrni defccturn; quem ego abesse a tali cirminum gcncre non posse existimo. . . .*'

Wie Morhof, so mochte den meisten Gclehncn das V. P. äußerlich bekannt gewesen sein, besonders nachdem es Hog 1690 ins Lateinische üb;rtragcn, um es auch .extcrls rcgionibus" zugänglich zu machen. In Bayles D i c t i o n - nairchlstorique et crltique (1695—1697, II, 59*J). in den ActaEruditorum (1700, p. 371) »si es erwähnt. J. F< Buddeus nennt es in seinem Allgemeinen historischen Lexicon (1709) „vortrefflich" J. B. Mencke hingegen erwähnt es in seinem Comped lösen Qeichrtcn-Lexicon (1713) nicht.')

Aber war das V, P. damals für niemand etwas mehr als ein bloßer Name? Für Gelehrte nicht; wohl aber für einzelne vom Schicksal Begünstigte, welche, ohne akade- mische Vorurteile, die englische Literatur direkt kennen

*) Daniel Oeoree Morhoftn Unterricht von der Teutschcn Sprache und Poesie, deren Uhrsprung, Fortcang und Lehrsätzen. Kiel 16^1, p. 568/9.

**) Polyhistor sive de notitia «uctorum et rerum conmcr. taril, Lübeck I6S8, Üb. I. Kapt. XXIV, p. 302, § 82.

'') Trotzdem sicli. wie Robcrtsonv p. 3. nachueisu aux der Bibiiothcca Menckeniana, Leipzig; 1723. p. 561, ergibt, daß Mencke ein Exemplar des V. P. besaß.

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lernten/) Aus Kamburg, das mit England lebhafte Be- ziehungen pflegte, tönen uns zu Anfang des neuen Jahr- hunderts zwei Stimmen entgegen, die als prophetische Vor- boten einer neuen Zeit erscheinen. Es ist interessant, daß die zwei Hamburger Dichter, mit dferen Streit für uns die neue Ära des Geschmacks zu beginnen scheint, Christian Heinrich Postel, der eifrige Vertreter des Marinismus, und sein Gegner, der von Bodmer später als Herold der neuen Zeit gepriesene Christian Wernigke, beide, einmal mit der englischen Literatur in Berührung gekommen, sich dem Eindrucke des V. P. nicht entziehen konnten. In der Vor- rede zu seiner Listigen Juno (1700) spricht Postel von dem „vortreflichen Engländer Milton" ') und in den reichen Anmerkungen zu dieser Übersetzung des 14. Buches der llias führt er unter den Parallelstellen bei neueren Dichtern auch die bei Milton an. Wie manche mochten sich damals wohl an der wunderschönen Laube erwärmen, „darin Adam und Eva sich ergetzet" (p. 484)? In den Fußnoten zu sei- nem Großen Wittekind führt Postel alle Anklänge an Iremde Dichter selbst an; die an Milton übergeht er.")

*) Wie bekannt das V. P. damals In England war, darüber orientiert R. D. Havens in Englische Studien, 1909 (40. Band), 2. Heft, Seventeenth Century notices of Milton,, p. 175—186 und ebd. The Early reputatlon of the Paradise Lost, p. 187—199.

®} Die Listige Junö. Wie solche von d<;ni großen Homer / Im vier2ehenden Buche der llias abgebildet / Nach- mahls von dem 5i£choff zu Thessalonich Custatius ausgeläget / Nunmehr in Teutschen Versen vorgestsllet und mit Anmärckun- gen erkülhret Durch Christian Henrich Postel, Ham- burg 1700.

**) Schon J. j. ß 0 d m e r machte auf einige Ähnlichkeiten aufmerksam in seiner Ausgabe von Gotthard Heideggers kleineren deutschen Schriften. .. JVlit kritischen Vorreden und Nachrichten, 1732, p. 175. Auch Georg Fins- 1er, Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe.

Chr, Wcrnigke besingt den blinden Mllton, von dem er nötig findet zu sagen, wer er sei; **) er gesteht, daß er früher dem Hoffmannswaldau mehr unjrehangen hibc. a^s er noch keinen englischen und französischen Poeten gelesen und die lateinische Sprache nur der Sprache wegen ge- trieben hatte. Lohenslein und Hoffmannswaldau hauen in ihren Schriften mehr falschen als wahren Witz; ein Mangel sei es, daß Hoffmannswaldau in seiner Vorrcdü den Milion nicht erwähne.") Was Wernigke an Milton anzog, läßt sich erraten; denn in der Vorrede zu seinen Gedichten er- fahren wir, was er wünschte: Eine Poesie, die aufs Herz geht.

In Deutschland gelangte abe«* In den ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts die Verstandespoesie zur Herr- schaft. Für Milton war die Zei: noch nicht gekommen.")

. . . Leipzig u. Berlin 1912, giaubt, Milton habt Pcsicl bcosn- flußt (p. 390). Mir sind bcsonderä im vierter. Buche, vo Lucifer Wittekind Untcrjrang schwört, Ankiänsrs aufKcfallcr;: Austrabe Hamburfc 1724, p. 93 (v. 763 ff) und p. 94 (v. 787«).

") Poetischer Versuch/in einem Hc^dcn^Ocdtcht tnd etlichen Scliüffer-Qedichtcn / Mchrcntcüs aber In Cbcrschriff- tcn bestehend HajTiburg 1704, p. 333. Wiederabge- druckt: Christian Wcrnigkes Epiframmc, hrs. unU einsci. von Rudolf Pcchcl, Bcriir 1909 (Palaestra LXXI). p. 492.

") p. 170 f, im Neudruck p. 3?6,

^') In den Nova Literaria Oermaniae, Cot* lecta iiamburfti, Cditaque Jilii .MDCCIII, p. 245. in der Neuen Bibli othek oder Nacbric.h t undUrtheile von neuen BQchern, Frankfurt und Leipzig. An. 1710. p. 472, 536, im Neuen 3ücher-Saa! der Gelehrten Welt. XVII. OfinunjT (1712), p. 343 wird M. sjiKCJührt, aber nur als Schriftsteller. F.bcnso in den auch von Robertson, p. 2 angeführten Werken*. C. Qryphiu-s, Anparatus sive dissertatio isazogica de scriptürlbus histo- riam seculi XVH illustratibus, Leipzig 1710. p. S2(K 333 ff; V. Paravicijii.Sinsularia de viris erudi-

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Addisons Spcctatoraufsätze über das V. P. fanden zu- erst in Hamburii Eingang; ein Jahrzelint später auch in der Sghweiz. Barthold Heinrich Brocl^es, der früh Englisch gelernt und unter Marinos Einfluß eine Vorliebe für biblische Stoffe rjefaßt hatte, ließ sich wohl bald durch Addison zur Lektüre Miltons anregen.") Dann machte er sich aucn an eine Übertragung.") Erschienen sind ehiige Bruchstücke erst 1740 und 1746.'°) , An eine Beeinflussung von Brockes' Hauptwerk Irdisches Vergnügen in Gott (9 Bde.v 1721—45) durch Milton j^laube ich nicht.") Gott in de: Natur zu suchen, lernte Brockes von Leibnitz, Thomasius u. a. Milton bestärkte ihn wohl nur in dieser Neigung.")

In den übrigen Gegenden des deutschen Sarachgebie«

tlon e Claris. Basel 1713, p. 207. Auf den PoiltiKcr Milton wies der In Deutschland oft erwähnte Freidenker Toland in seinem Life o f Milton.

-*) Wenn Job. U. König, der während der zweiten De- zenniums in Hamburg war, am 28. Milrz 1724 an Bodmer schreibt, die englischen Dichter seien ihm teils durch Übersetzungen, teils durch einen geschickten Freund bekannt, der ihm die besten daraus erkUtrt, so weist das auf frühe gemeinschaftliche Lektüre der beiden. (Vgl. Litterarische Pamphlete au.s der Schweiz, Zürich 1781, p. 46).

") Ober die Abfassungszeit vgl. A. B r a n d I . B. H. Brockes, Innsbruck 187S, p. 100.

") Er übersetzte den Schluß des 4. Buches und das Mor- gengebet zu Anfang des 5. Beide gedruckt in seiner Übertragung von Popcs Versuch vom Menschen, Hamburg 1740, p. 140 ff. Das Morgengebet nochmals im VIII. Buche des Irdi- schen Vergnügens in Qott (1746), p. 629—632.

•'') Wie Jenny p. 15 behauptet, der sich aber den Nach- weis schenkt. Nur einmal findet Brockes das Miltonsche Pathos. Vgl. Alfred Biese, Die Entwickelung des Naturgefühls im Mittelalter und in der Neuzelt, Zweite Ausgabe, Leipzig 1892» p. 289.

*') A. Brand!, p. 46, schreibt dem Morgengesang am' Anfang des 5. Buches des V. P. ^insn großen Einfluß auf die Ent- wicklung von B.K Weltanschauung zu.

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tes blieb der Dichter des V. P. während des zweiten und der ersten Häh'te des dritten Jahrzehnts beinahe so wenis: bekannt wie vorher. Beinahe! Denn da in Trankrcich das Interesse im Zunehmen begriffen war,") so mußte es sich auch in dem vom Nachbarn abhänk'ifrcn Deutschland, vor allem in dessen Qclehrtenzeitungen spiegeln. So sagt die Erste Nachlese der neuen Biblio- ihec Franckfuri und Leipzig 1717» p. 136), indem *\q nach dem Journal Literaire de i'Ann'k; MDCCXA'K T 0 m e H u i t i e m e , P r e m i e r e P a r t i c . die Popesche Iliasüb:rsetzung anzeigt: „Die Invcnsion ist der Grund eines Gedichts. li o m c r u s » spricht der 4 u t o r, übertrifft dariiin alle andere ... Es ist ein Feu.*r n V i r t; i H o . aber ci ist nur wie ein Wiederschein im Spic.^.!l . . , In M i 1 1 0 n wird es durch die Kjuist, als in einem Ofen unter- halten, und in Shakespear schlägt es unvcrmuthct als ein DonncrschlflR". Die Zeitschrift findet es für nötig, in einer Anmerkung zu erklären: „Miltoa und Shakespear sind zwey Englische Poeten davon der eine in Helden- und der andere in Theatralischen Gedichten excclüret hat "

hl der Bibliothcca Eruditorum praeco- cium (1717)*") weiß J. Klefeker mehr über Milton als die früheren Lexikographen, aaf welche er verweist „Para- disus amissus (P a r a d i s e Lost) poema elcgantissimum Epicumv decem (!) libris divisum, ... In hoc, vcnus,to pochnatc latino, lusii Sam. Barrow, Doctor Mcdicus Anglus, quod non modo inseruit libro suc Tolasidus p. 136, scd ctlam de praestantia ejus multa disseruit: Poema ilkid his disii- chis absolvitur:

'•) Vgl. J. .VI. Tellecn, Milton dans !a litii- rature francaise, Paris !904. p. 7 fi.

^') Klefckcri Blbliothc;'* Erudiiorum prae- c 0 c i u m sivc ad scripta huius areuncnti Spicücsium et acccw* sioncs. Karobursi apud Christianum Uel>cteit MDCCXVII. p. 233—2-14.

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Cedite Romani Scriptores, cedite Qraji, Et, quo: fama reccn<;, vel ceicbravit anus, Haec quicunque leget, tantum cecinisse putabit Moeonidem ranas, Virgilium Culices." ^*)

Neben dem V. P. kennt Klefeker auch noch andere Ülch- tu;!igen Mütons.

Zu dieser Zeit kamen die Buchhändlier von Leyden haag und Amsterdam dem Bedürfnisse des französischen Publikums nach englischen Büchern entgegen, welche sie in französischer Sprache verbreiteten. Seit 1717 er'^^hien in Amsterdam die Bibliotheque Angloise" ou histoire Literaire de la Grande Bretagne. Par Mr. D. L R. Was in ihr und im ebenfalls holländi- schen Journal litt^raire steht, wird in den deui- sehen Zeitungen gewissenhaft registriert.*') Im J o u r n a l littßraire erschien 1717 (IX. 3d.) die bekannte Dis^ sertaticn nur la Poösie angloise, in der Mii- ton eine hervorragende Stellung eingeräumt ist (p. 177 ff.). Ein gewisser Krause wollte sie in den zwanziger Jahren

"') p. 241.

•*') So wird in der oben erwähnten Ersten Nach- lese .. . 1717 aus ZV/elter Hand auf Sir Richard Black- niore'ti 2ssay upon severa! subjects hingewiesen und hervorc:3hobcn, daß Bi. auch vcm Hcldengedichi; handle. p. ?46f heiSt es dann: „Die Engellünder haben die Vortrefflich- keit Von des Miltons vcrlohrnem ParadieS lange nicht erkanl, endlich aber durch daßelbe und des P. L e B o s s u tractat sich aufmuntern laßen, di^ Regeln dieser Art von Poesie zu studieren".

In den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, Leipzig 1715 if, finden wir Müton bisweilen erwähnt „£r folgt nicht biol2 den Alien, sondern hat immer etwas neues", heißt es 172.1? (p. 188) von ihm im Anschluß an J. Trapps Oxfordervorlesungen Pr aelecti ones Poeticae. p 293 wieder erwähnt-, 1724 p. 706.

für das Journal der Bobcrfcldischnn Gcsellschafl über- setzen.**)

Es ist nicht imwahrscheinllch, daE Johann Jacob Bodmer (1698—1783) durch eine dcranixe Erwähnung in einer deutschen oder französischen Zeitung auf Miiton aaf- merlcsam wurde.-*) „Aücin," sagt Hans Bodmer mit Recht, „konnte nicht auch Zellwegcr den BUck des Freundes auf einen Dichter gelenkt haben, dessen Werk dieser doch aus seinen Händen zuerst empfing?'**') Wie sich Bodmcrs Herz am Werke des englischen Dichiccrs :jntzündetc und wie er den Plan zu seiner Überiray.ung faßte, ist bekannt Auch von den ersten Eindrücken, die er von der Dichtung erhielt, erzählen uns Bodmers Briefe an ZcUweger,

Trotzdem man dem Namen des enxlischcn Dichters in Poetiken") v.. ä begcianiet (selbst mit Uriicilen, die nach den französischen Regeln gefaßt sind), $o wurde er In Deutschland' doch erst bekannter, als man In Prankreich

^=») So schreibt U. König am IS. Juni 1756 an Bodtncr. Am gleichen Orte spricht er auch die Absicht aus.' eine Rezen- sion von Haakes Übcrsctzurg zu s.chrcibca (A. Brand!, Brockes, p. 157).

'*) Vgl. Die AnfSnKC des zürcherischen Mii- ton, von Hans Bodmer (Stwdien zu Llttcratar- «eschichtc» .Michael Bcnayi ;c widmet von Schülern und Freunden), Hamburie und Leipxia iSW, p. 179—199. p. 183 diese Fraec bttrcffe^c,

''') ebd., p. 183.

-°) Wie z. B. in der 1725 zu Breslau erschienenen .Anlei- tung zur Poesie / Darinnen ihr Uisprunc / Wachsihum / Beschaffenheit und rechter Gebrauch unicrsuchct und jiczcieel wird . , , p. 7C, und p. 15.5: „Unter «^encr. SnuJandcrn hat Mllton ein Carmen cpicum geschrieben, da;- vciiustiite ParadciO ge- nannt, ist aber eigentlich kein Meldcn-Qcdichtc. weil Adam und Eva fi^llcn, i;nd nicht in der Heroischen Acli(*n ia Ende be- harren. Es ist sonsi von ziemlicher Empfindunz. aber £>chr hoch und tiefsinnig, nach der Englischen Art".

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von ihm zu sprechen anfing. Voltaires Essai sur la Poesie öpique (1727, zuerst englisch, dann überset7.t von Abb6 Dcsfontalnes, 1732 von Voltaire französisch über- arbeite:), N. F. Dupr6 de Saint-Maurs Übersetzung (Paris 1727),"") Addisons ins Franzosische übertragene Auf« Sätze,-*/ dii gegen ihre Übertreibungen gerichtete Dis- sertation critique sur le Paradis Perdu (1729) von C. F. Constantin de Magny machten das V, P. zu einer viel besprochenen Dichtung.

Im Anw^chluß an diese Schriften wurden die deutschen Qclehrtenzeitungen gesprächiger über Miiton. Bald kündigten sie auch Courbevüles neue l'ranzösiche, Zantens holländische und Rollis italienische Über- s e t z n n k '*") an, 1730 äußerte auch Qottsched,. auf die ^ Franzosen gestüti:t, seine ersten Bedenken gegen den eng* lischcu Dichter (Kritische Dichtkunst).

"') Ss!ner übarsetzung schickt Dupr6 de Saint-Maur eine Übcrsetzunji von Eiijah's Life of Milton voraus,

^®) In der ersten ÜberlragunK des Spectator figurierten bckannicrwolse die Aufsätze über Milton nicht. D u p r c de Saint-Maur übertrug sie jetzt mit Hilfe B a r r e t s ins Fran- zösische.

•'*) Neue Zeitungen von gelehrten Sachen (1728), p 654 (RolHs Übers, versprochen), p. 186 f die- jenige 3ain;'-Maurs angezeigt, p. 764 dicjnnise i^ollis, p, 223 diejenige Zantens, p< 344 dlejerTisic Courbevüles. .

!73l werden Saint-Maurs Anmerkungen zu seiner Übersetzung: resümiert: , , man hü!t davor, Korr Addison habe dieses Kck'en-Gcdicht allzu sehr bewundert; und da es einigen mißJallcn, daP Herr Addison sagt, v/enr. man dem vcrlohrncn Paridies den Titel eines Helden-Gedichtes streitig mache, solle man es Qin Göttliches Gedicht nen^ien; so haben sie es vielmehr ein teuflisches Gedicht benlehmen (!) wollen, well ... der Satan der He!c des Verlohrnen Paradieses, und die nachgeahmte That seine iistiie Aufführung, die ersten Eltern zu verführen, sey . . ." (p. 762).

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Wie mochte Bodmer alles, was über Milton gesagt wurdCv verschlinKcn! Um den Dichter xcgcn die Einwände Voltaires und MaRnys zu veneidigenv cntu'arf ei- 1729—30 eine Abhandlung über das Wunderbare, die er seinem italienischen Freund Calepio zuschickio.-^) Mit diesem diskutierte er über den \Vc:*. Miltons. 1732 konnte er, nachdem alle übrigen KuUurstaaten voranKeganis'cn. ' seine Übersetzung; mit schweren finanziellen Opfern drucken lassen;'*) dabei stellte er eine Verteidigungsschrift in Aussicht

Noch knapp vor der Publikaiion des Bodmerscheu Milton war Gottsched in seinen Bcyträgen zur kri- tischen Hisicorie der deutsche vi Sprache, Poesie und Beredsamk<'.lt. Erstes Stück» p. 85 ft. auf den Dichter zu sprechen gekommen, ür fühlt sich durch das französische Vorgehen crmuMgi: „Es ist seit zwanzig Jahren in Engeland, und seit kurzer Zeit auch dis- seit des Meeres so viel von Miltons verU/hrntm Paradiese gemacht, geredet und geschrieben wordijn, daß wir es der Mühe werth halten, auch unsern Lesern c.nen Bccriff v»m diesem berühmten Gedichte zu machen, welches Jie Ehre verdienet hat, so wohl als das befreyetc Jerusalem des Tasso, einer Üias und Acncls an die Seite gesetzt zu A'cr- den." In seinem Urteil ist er v/ie in der Kritischen Dichtkuivst von den Franzosen abhängig. F.cim Er- scheinen der Bodmerschen überiragun? erwähnt er die verschiedenen Übersetzer, rühr:t Bodmer u::d hält mit sei- ner Ansicht zurück. Hier wie brief.jch ") deutet er sie nur

"*) il 8£«sio del tr&ttato da voi idtaio sopra ;! «Libiinie mi i stato carissimo", schreibt;: .hm Graf Caicpio am 1. febr. 1730. M. S. Stadtbibliothek Zürich.

"*) Johann Miltons Verlust dts Paradieses, tin Hclden- Oedicht, In uncebundcncr Rede flbersclzt« Zürich 173J.

*') „Übrigens wünsche ich ehestens das versprochene

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an. Er :el gespannt auf die Verteidigung. Nach dem Bruche mit Bodmer prallten dann in den vierziger Jahren die Mei- nungen aufeinander.

Einmal bekannt geworden, fand das V. P. bei vielen Entgesenkcmmen, so bei Albr^cht von Haller,") bei Fried- rich von Hagedorn ;''*) andere hatten dieselben Bedenken wie Gottsched.

Ausführlich wurde im Nöthigen Beytrag zu den wöchentlich herauskommenden Neuen Zeitungen von Gelehrten Sachen (1734 ff.) nochmals das meiste angeführt und ergänzt, was über Milton ;?rschienen.

In seinem Character der Teuischen Ge- dichte (1734) postulierte Bodmer die Darstellung des Wunderbaren, die der französiche Klassizismus verurteilte.

Werk zur Verthcldigung Milton's zu sehen. Ich gestehe, daS ich begieriis bin, die Regeln zu wissen, nach welchen eine so regel- lose Einbildungskraft, als die Milton's seine war, entschuldigt werden kann." (7. Okt. 1732), vgl. Gustav Waniek, Gott- sched und die deutsche Literatur seiner Zeit, Leipzig 1897, p. 322.

") Vgl. Ferdinand Vetter, Der junge h aller, Bern 1905, p. 48 ff. In der ersten Hälfte dos Jahres 1733 hatte Bodmer Hp.llcr cÜö Miltoniibersctzung zum Tausch angeboten. Am 20. Mai findet Maller, daß sie viel getreuer sei als die fran- zösisclic, am 1*4. Nov. l)lttct er um die Zusendung einiger Exem- plare. Es ist nicht ^u crwxiisen, daß Halicr schon auf seiner cnglischon Reise Milton kennen lernte; vgl. Albrecht von Hallers Gedichte, hrsg. u. eingeleitet von L. H l r 2 e 1 . Frauenfcld 1)Sp>2, p. XLII. Aber Jenny sagt wohl mit Recht p. 39: „In Basel wurde er durch »einen Freund, den Physiker Stähelin. näher in die englische Literatur eingeführti ... Da er dort mit Pope, Shaftcsbury usw. bekannt wird, dürfen wir wohl von dorther seine Kenntnis Miltons datieren. Sicher aber wurde er auf Milton geführt durch den Brlef\vcchsül mit Böd- met, . . ."

**) Am 3. Juli 1742 schreibt er an Bodmer, seit 1721 habe er keine Schrift Bodmcrs ungclescn gelassen.

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Erweitere und vermehre Des Wissens schmale Schranck. Di« ist nicht uabckandt Was jene Schaar beginnt, mit der dein Qeist verwandt. Die durch Gesetze fliegt, zwar stlil und ungesehen.")

Die Miltonbcgeisterung begann. Im Laublinger Lieder- zyklus Thirsis und Dämons ifreundschaft» liehe Liedern (1736—44),") in Hallcrs Ursprunu des Übels") findet man Miltons Einfluß. Immanuel Jacob Pyra besang in seinem Tempel der wahren Dichtkunst (1737) die himmlische Poesie:

Mit majestätischen Schritten Trat iMilton nun einher. Er hat die Poesie Von heydnischen Parnaß ins Paradies geiahrct.") Auch Pyras Won des Höchsten (1738)*») zeigt Miltons Einwirkung. Was aber Verehrer wie Pyra beun- ruhigte, war, daß ihre Schwärmerei für Mihon mit den Regeln der Dichtkunst unvereinbar war. „Ich gestehe,** sagt Pyra im Vorv;ort zur eben genannten Dichtung, „es

°'^) Abgedruckt ia Vier krilUchc Oedicbtc von J. J. B 0 d m c r , hsg. von J. Bächthold, Heilbronn 1883 (Deutsche Liter?,turdcnkmale 12), p. 38. Auch Entlahnunscn aus dem V. P. finden sich iv dem Qcdichte, v^L Theodor Vei- ter, L J< Bodmcr unu die cngiisch& Litieratur, J. J. Bodmcr Denkschrift Y.\:m CC, Q'-hnrttxtz, Zürich 1900, p. 323—24.

••^) Von Pyra u. Lance» vßl 0. Waniek, Immaouel Pyra, Lcipzie I8S2, p. 54, 60.

") Vg). Jenny, p. 39 1.

^•) Vgl. Freundschafihche Lieder von l. j. Pyra und S Q. Lange, fieübron ]SS5 (— D. L, D. 22), p. 115 In der Einleitung dazu spricht A neust Sauer, p. XXXIH—XXXV, über die Beeinflussung: des Gcdichvs durch Mil- ien. Ebenso Wanick, p, 36. Pyra kaunic .Mihon aus Uod- mcrs Übcrsctzunjr.

^•) Vgl. A. Sauer, !. c. p, XLIJI i.

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ist vcrwcKcn. die obcrn Qeisier mit in die menschlichca Handlungen einzumischen. Es scheint, daß es unter den christiiclicn Dichtern noch nicht ausgemacht sey, wie weit wir sie nach der Wahrscheinlichkeit mit hincinflcchtcn dürfen.* *')

Die Bejs'eistcrung war da, aber es fehlte noch die theo- retische Sanktion, die alle Bedenken verscheuchen sollte. Diese Sanktion kam mit Joh. Jac. Bodmers Cr i tischer Abhandlung von dem Wunderbaren Inder Poesie und dessen Verbindung mic dem Wahrscheinliche n. In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem ver- lohrnen Paradiese; der beygefüget ist Jo- seph Addisons Abhandlung von den Schön- heiten in demselben Gedichte, Zürich, ver- legts Conrad Orell u. Comp. 1740.

*") l c, p. 126.

Erstes Kapitel Bodmer und seine Zeit

Charakterisieren wir nun die Stellunj( der Züricher zum V. P.

Naclidem Bodmer in seiner Abhandlung von dem Wunderbaren seine Aufiassunj? Miltons uar- selegt hatte, wurde kein v/esentlich neuer Standpunkt mehr aufgestellt, weder von J. Pyra.') noch von dem in seine durch den Tod entstandene Lücke tretenden ehemaligen Gottschedianer Georg Fr. Meier.*) Wir nehmen deshalb

^) hl seinem Erweis, daü die G*ttsch*dlarij- sche Sekte der Geschmack verderbe, Marrburc und Leipzig 1743, und in der Fcrise'.zuriß ücs er- weises, daß die Q*ttsch*di£nlsche Sckvi den Geschmack verderbe, Berlin 1744,

-) VrI. Dr. pliil. Ernst ßtrürnann. GcorK Fried- ricii Meier als Mitberrrfinder der dcuisclien A e s t h e t i k , Leipziger Habiliiat'onsSv;hrif'. 191(v. Auch unter dem Titel Die Begründun 2 der deJxscJiCn Aes- thetik durch A. Q. BaumKarier. und Gcors Fr. Meier, Leipzig 1911. handelt das Buch speziell von Meier und laat nur durch Vcröffcntlichuns der für ui.s vichtiücn Mcicr« sehen Briefe einen Zuwachs erhalten. Mcicr vcröffcmÜchte im Herbst 1744 in den Greifs walder krinschcn Ver- suchen (13, Stück, p. 39 49) die Untersuchunc, 0 b Milton in der Wahl seiner Haupthandluns glücklich gewesen. Obschon Meier diese Frage beiahu erhebt er einige bescheidene EinwSndc, die Bodrrcr in den C r I -

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hauptsächlich Bodmers Schriiien") zur Grundlage unserer Abhandlung, ohne jedoch die Werke der eben Genannten außeracht zu lassen. Denn sie spiegeln den Geschmack der Zeit, wie es auch die aus der Miltonverehrung hervor- gegangenen Dichtungen tun> Gottsched wird weniger zu Wort kommen als diejenigen, die er kritiklos kopiert.

tischen Briefen, Zürich 1746, 7. Brief; An Herrn Q. M(eler] (p. 125 f) zu entkräften sucht. In einem Privat- schreiben vom 24. Juni 1746 (bei Bergmann p. 248) bringt Meier seine jetztcn Bedenken vor, welche Bodmei* im 8. criti- schen Brief zerstreut. Meier wurde nun der eigentliche Verkün- der der Seraphik. „ich nehme in meinem coUegio aesthetico meine besten Exempel aus dem Milton, und ich sehe mit Vcr- .^niigen auf don Gesichtern meiner Zuhörer die Spuren der Ent- zückung, wenn ich Ihnen ein Stück aus dem Milton vorlesrC." (Bergmann, p. 248, im obigen Brief). Er untersuchte die Frage, ob in einem Heldengedicht» welches von einem Christon verfertigt wird, die Engel und Teufel die Stelle der heidnischen Qütter ver- treten können und müssen (Grciiswaldcr kritische Ver- suche 1746, 15. Stück, p. 179—200); !rat für Klopstock ein in seiner Beurtheilung des Heldengedichts der Messias, Halle 1749, in der Vertheidigung seiner Be- urtheihing (1749), und in der Fortsetzung der Beur-y/ thel lu iig . - . (1751). Auch in seinen A n f an gsg f ü nde n aller schönen Wissenschaften und Künste, Halle 1748 50, die 'auf Baumgarten fußen, bringt er Beispiele aus Milton.

=*) Bodmers hauptsiichlich in Betracht kommende Schriften sind neben der Abhandlung von dem Wunderbaren Joh. Jac. Bodmers Criiische Betrachtungen über die Poetischen Qemilhlde der Dichter,. Zürich 1741 (— No. 13 der von Th. Vetter in der Bodmerdenk- schrift, p. 389 ff, gegebenen Bibliographie); SammlungCri- tischer, Poetischer und anderer geistvollen Schriften, Zürich 1741—44 (— No. 14); C ritische Briefe, Zürich 1746 (~ No. 19)- Neue Crltische Briefe. Zürich 1749 (— No. 23).

V

- 17 -^-

I.

Milton hat in seinem Verlöre iicn Parad!;;s den Versuch scemachr. einen Stoff episch zu hdiaiideln. in dem Gottvater und die himmlischen Heerscharen auftreten. Die alten Rpcn der heidnischen Dichier hatscn es mit Göttern zu tun, welche sich in ihren Eigenschaften wenig von <ian Menschen unterscheiden. Der Gott des Alten Testaments hingegen ist jener allmächtige Herrscher, der die Welt aus dem Nichts geschaffen, der Herr de? Schicksals, und nicht wie Zeus ihm Untertan. Wenn wir im A. T. von ihm hören, verspüren wir den Hauch des überirdischen Die knappen Worte, die über ihn berichleri. erscheinen uns als Ausfluß des lyrischen Gefühls eines Msnschen. der sich einem unbekannten Höheren ninRibt. Wie kann, fragen wir, diese geahnte Macht anders besungen werden ils im lyrischen Erguß, in welchem die unbestimmbaren Gefühle ihren besten Ausdruck finden?

Und düch hat Milton Qoii als Person jtj i-on i:ru . cin- gefühn und um ilin herum eine ungezählte Schar von En- geln, den Trägern und Vollstreckern seines Willens. Kr knüpfte an die ÜberMeferung an. inde.Ti er die überirdischen Wesen vermenschlichte. Um sie aber aU das 7-ü charakte* risieren> was sie sind, verlieh er ihnen übermenschliche Eigenschaften: Die Engel sind gewaltig groü. aus anderem, feinerem Stoffe als wir: ihre Kampfesv.affen sind ungeheuer, sie entwurzeln Berge, um sie auf die emporklimmenden Teufel zu schleudern. Schmerzen, fühlen sie nicht. Gott- vater selbst greift in die Handlungen nicht ein. Er befehlt, daß sie geschehen, und gibt seinen Trabanten die Kraft, sie auszuführen. Denn er ist ja allmächtig.

Der Leser aber fragi sich: Hat es Qoti nötig, seine Engel in die Schlacht zu schicken? Genügt seih .Machtwort nicht, den Gegner» den er geschaffen, svieder zu vernich-

PItXO, UiltOB <^

- 18'

ten? Du er die Zukunft nach seinem Willen gestalten kann, wozu die Hilfe der EnRcl?

Um Qott und seine Engel darzustellen, entkleidete Mil- ton sie ihres übersinnlichen Charakters; da er ihnen diesen aber lassen wollte, verwickelte er sich in eine sonderbare Antinomie. Sein Qott ist einerseits die Almighty Power, die etwas nur wünschen muß, um es verwirklicht zu sehen; anderseits ?bcr hat er seine Absichten und Wünsche wie irgend ein menschliches Wesen. Deshalb fesseln uns der Allmächtige und seine Krieger liloß so lange, als wir uns ihr eigentliches Wesen aus dem Kopfe schlagen.

Die aus der erwähnten Antinomie erwachsenen Unge- reimtheiten forderten Voltaires und Magnys Kritik heraus. „. . . ä quoi bon tracer les portraits de ces Etres si par- faitement 6trange;s au Lecteur, qu'il ne peut en aucune fagon s'intercsser pour cux?" fragt jener.*) „Ces mcmes Critiques (gerncini sind die französischen) dcsaprouveroicnt les Anges, qui enlevent les niontagnes. les bois, 6: les rochers, 6: les jettent k la tete de leurs ennemis. Plus une pareille invention, diroient-ils, tend au sublime, plus eile est hasse Jt pudrile" (p. 295). „L'artillerie (der Teufel) est du meme goiM, & encoro plus absurde, parce iiu'elle est plus inutiie. Pourquoi ces machincs de guerres sonc-elles-lä, puisqu 'elles ne peuvent blesser les ennemis, mais les pous- ser seulement hors de leur place et les faire tomber par terre? . . . les chüscs qui sont sl terriblcs 6t sl grandes

sur la tcrre deviennent bien petites & bien meprisables

"•) Oeuvres, de M. Voltaire, contenant rHenriade. Essai sur le pceme Epique . . ., Amsterdaiti MDCCXXXVI, p. 295. Bödmet beziehe sich auf die erste Fassune von Voltaires Ifssai, die vor. Defomaincs aus dem Ens:lirchen übersetzt worden Ist. Das spricht dafür, daß Bodmer früh an die VerteidiRunKS- schriit dachte, wie ja auch aus dem Brief Calepios zu ersehen Ist (vKi. oben p. Vi),

19 ~

dans le Cid" (p. 295/6) Je nt piMs obmeurc !ci la

contradiction qui regne dans un Kpisod;. Dieu sjnvoyc les fideles Ansjes combattre, rcdiiire et p.mir !cs rchcücsr Aile'<. dit-il k Michel & ä Gabriel.

And 10 the brow of heavcn PursuinK, drivc ihcm out from Ooü and bliss !nto thcir place of punishir.eni. the Qulph öf Tartarus, wich (!) ready opcns wide His fiery chaos to receivc their fall.

„Conimeni se peut-il donc faire, apris un ordre si prt'- eis, quo la bataüle reste douteuse. 6t pouj qucJ Dieu Ic Pcrc commande-t-il ä Gabriel & k Raphae) de faire ce qu'il cxc- cute eiiSiiite par !e niinistere de son Filsr*' (p. 296,7),

Das ist Voltaires Haupteinwand.') Constantin de Magny beanstandete in erster Linie die sichtbare Darsttüun's' der Enge!, weil sie sich mit ihrer göttlichen Würde nicht vertrage.

J. J. Bodmer war bereits seit Jahren ein Verehrer Miltons, als Voltaires und Magnys Schriften v^rschlcncn. Du Einwände, die diese gegen den englischen Dicl'.tcr erhoben, waren nicht neu. Gegen Tassos Darstellung von Engeln und Teufeln hatte Boileau sein Veto eingelegt.*) Auch In

') Sonst preist er Miltons Imagination, er »s» c:r.2ücki ül>cr dig Paradicsszcnciu Der Bau des Pand5moniu:^s «chcir.t ihm aller- dingä zu Uicherlich für ein Heldenepos, die AlicKCiie vor. Sünde and Tod verletzt ihn wctrcn ihrer saicte. Die Errndung des Chaos erscheint ihm nutzlos, das „Paradisc of fools" u. ä. töri.-ht. Diese Einw.'inde werden in Deutschland während des 18. Jahr- hunderts von Klasslzlstcn bestSndiR wiederholt, \v. ticr zweiicn Fassung seines Essai betont Voltaire dis Müngcl de» V. P. noch mehr, üodm'jr scheint nur die c.stc k'ckaniit za haben, wo sich der fraiizCsische Kritiker mehr für .M. erwärmt.

") Boileau. L'Art poctique (1674). IM, 19^ ff.

C'cst donc hicn vaincment que nos auteurs de^us

20

Deutschland war die Frage des Wunderbaren durch das befreite Jerusalem aufgekommen/) Miltons An- greifer und Verteidiger hatten Vorganger.

Bodmer bediente sich der Anschauungen Muratoris, Dubos', Addisons, als er seinen Lieblingsdichter in der Abhandlung von dem Wunderbaren zu recht- fertigen unternahm.

Es ist schon des öftern hervorgehoben worden/) wie Bodmer und Breitlnger die Freiheit der Phantasie betonten. Aber an dieser lag ihnen weniger. Sie entschuldig- ten damit nur Milton, wenn er die übersinnlichen Wesen sinnlich machte und die Bcgrih'e Sünde und Tod verkör- perte. Die Hauptsache war ihnen, daß Milton der mensch- lichen Qestalt eine Schönheit und einen Glanz beilegt, „welche sie auf den höchsten Qrad setzen, eine Grösse, die alle menschliche übertrifft", usw. (p. 55 der A b h a n d 1 u n g vom Wunderbaren). ,,In den cörperlichen Eigcnschaf-

Banissciu de icurs verä ce& oriicmcniü; rcifus, Penscnt iaire agir Dieu, ses saints, et ses prophötes, Comme ces deux cclos du cerveau des poötes; Mettent h chaque pas le iecteur en enfer, , . . ■•') Schon Dietrich v. d. Werder hatte seine T a s s o - ÜbCi'ietzuiiK verteidigt: Dc-r Dichter sei auf die Phantasie angewiesen und müsse daher dasjenige, „was Gott auf uner- forschüchc Art regicri und ordnet, und was die bösen Geister unsichtbarer Weise saften und anrichten, sichtbarlich gleichsam beschreiben und vor Augen steilen". (Vgl. Karl Borinski. Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der llrer&ris.;hen Kritik in Deutschland, Ber- lin 1886, p. 120.)

•) Franz Se/vaes, Die Poetik Gottscheds und acr Schweizer, Stras.sburg 1887 (= Quellen und Forschutigcn zur Sprach- und Culturgsschlchte der germanischen Völker, LX), p. 105/6.

Friedrich Brait maier, Geschichte der poetischen Theorie und Kritik von den Diskursen der Maler bis auf Lessing. Erster Teil, Frauenfeld 1888, p, 220.

^ 2\ .^

ten des Himmels und der englischen WcrckzcuKC und Waffen bewerckstelüjjet er eben diese Erhöhung: derselben über die irdischen*' (p. 56).

Miltons Verdienst besteht somit nicht in der Verkörpe- rung, denn diese war eine Notwendigkeit, sondern in der Fähigkeit, die Kngel zu idealisieren* Diese FähiRkcii scheint Bodmer genügend zu sein, um die Antinomie zu ühcr- brücken. Der Widerspruch, der zwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen in der Konzeption der Engel besteht. Ist ihm nicht nur nicht aufgefallen, sondern wcim er in seinen Erörterungen darauf stößt, täuscht er sich selbst darüber hinweR. p. 41/42 besteht er der Theorie der I^hanta- sie gemäß darauf, daß der Leib und die Gesiali der Engel keine Zufälligkeiten oder Eigenschaften sind, die andern Wesen zukommen, daß die Enge! „Epschc, historische Personen" sind, „die in ihrem eignen Namen da sind, die sich selber und niemand andern vorstcllcnv die hl ihrem eigenen Charakter erscheinen, als Originale, nicht als Nachbilder*', p. 60 aber läßt er »ich durch Caiepics Ein- wand, Engel dürfen nicht einmal verletzt werden, zum Ausspruche hinreißen: „Wann er hier nicht aus der Acht gelassen hatte . . .. daß die Gestalten, unter welchen die Engel vorgesteliet werden, nur poetische Verkleidungen sind, so hätie er leicht gesehen daii es mit diesen Ver- letzungen der Enge* eine gantz andere Bewandiniß hat. als mit den Verwundungen der Menschen; Bey den AlenFchcn macht der Cörpcr einen wescntüchen Theil aus. er ist nicht eine blosse ihnen gelehnte Maßke, hingccicn ist der 05rpcf, der den Engeln von dem Poeten zugciheilet a ird. nur etwas fremdes und entlehntes; daher gehen die Vcr'ctzungcn dieser leztern nicht auf etwas wesentliches, wie die Ver- letzungen der Menschen, nichts wird bcy ihnen getroffen. als die poetische Larve, unter welcher diciu unsichtbaren Geister der Phantasie zu sehen gegeben werden '* So setzt sich Bodmer mit einem Trugschluß über die Antonomie

^ 22

weg. Die Miltonschen Engel führen in seiner Auffassung eine Doppelexisienz, der er sich nicht bewußt ist. Er i<ann nicht verstehen, daß die Veritörperung das Übersinnliche ausschließt. Er hat sich die fremden Argumente nicht völlig zu eigen gemacht;

Was ihn ge:.jen den Hauptfehler im Epos blind macht, ist der Umstand, daß seine Fabel der Bibel entnommen ist. Wenn Scrvacs (1. C-, p. 105/6) sagt; „Ob Milton die Heilig- keit und i^einhcit der Engel mit religiöser Inbrunst und Ge- fühlsrcinheit erfaßt habe, war nebensächlich nelien der Frage, ob er nicht gegen die kirchlich approbierten Lehren verstoßen habe", so ist das nur halb richtig. Bodmer unter- suchte das V. P, nicht auf seine dogmatische Richtigkeit; diese aber erleichterte ihm den ästheti- schen Genuß. Auf Magnys Einwurf, daß der neuge- schaffene Adam den Erzählungen des Erzengels Gabriel gar nicht zu folgen imstande sein konnte, erwidert u. a. Bodmer triumphierend: „Damit wir unserm raschen Criticc den Mund auf einmahl stopfen, wollen wir ihm nur zu betrach- ten geben, daß der göttliche Geschichtsschreiber Moses in die Critick, dia er gegen unscrn Poeten macht, mitcin- verv, ikelt würde"' (o. 190). D i e „h eiligen Scriben- t e n'' sind ihm die letzte Instanz; sie ermög- lichen es ihm, sich über die im Gedichte herrschende Antl* nomie hinwegzusetzen. „Die Haupt-Geschichte .... ist würcklich vorgegangen, und wir haben unverwerffliche Zeugnisse davon, zum Ex. von dem Aufstand Satans und seines Anhangs, von ihrem Fall vom Himmel, und Ver- stossung in die Hölle; von Satans Verführung der ersten Menschen** (p. A2). Selbst die Darstellung von Sünde und Tod sucht Bodmer durch die Bibel zu erhärten. Und die Anbringung der griechischen Mythologie im christlichen Gedichte entschuldigt er nicht mit der Freiheit des Dich- ters, sondern damit, daß er betont, sie würde ja nur als

Gleichnis gebraucht. „Wir sehen aisüv wie e.'Uiernt dieser verständige und gottselige Poet gewesen, die heidnischen Fabehi der Mythologie vor wahrhaftige Geschichten auszu- geben, oder sie mit den geoffenbarten Geschichten von Engeln oder heiligen Menschen zu verwechseln,,." (p. 219).

Diese Voreingenommenheit machi die A b h a n d I u ni; von dem Wunderbaren zu einem seltsam :n Ge- misch von Scharfsinn und spitzfindiger Borniertheit. Aus den frühesten AiJÜerungen über Milton ist zu ersehen, wie die dogmatisclien Probleme dem Zürcher Kritiker zu den- ken gaben.") Auch Vorstellungen, wie die der geistigen ehelichen Vermischung der Kngc!. beschäftigten ihn.")

In der Abhandlung von d e m W' u n d e r b a r c n hai er alle Zweifel dieser Art überwunden. Und das gewiß durch seinen festen Glauben. Milton steht für ihn auf einer Stufe mit den heiligen Scribenten. Jch meine mich keines ^/ hyperbolischen Verbrechens schuldig zu machen, \venn ich Milton in den Rang dieser sonderbaren Menschen setze, weiche auf der Leiter der Wesen zu cbcrst unter den Men- schen stehen, und gleich über sich ditjeriigcr Oeister haben, die zuerst vom Cörper frey sind" (p. 10 U). Heim Anblick

'•') Vg! Hans B o d :n c r , i. c, p. 192/3. Das J^rohle»fi d«* freien Willens im Epos veranlaßt Bodmcr lu einem längeren Exkurs. Den Ausspruch des AUnitichticcn: Jch machte den Menschen gut und gerecht, tüchtig zu stehen, doch üass er seinen frcyon Willen hatte, wenn er faller wolle*' . . . kann er nicht recht verstehen . . „supponicri dass der Mensch wäre unfiihig gemacht worden, zu sündigen, so hätte er nur eine selten gehabt, die ihn zu dem giten geneigt hüttc; .las wfirc seine Natur gewesen.." Und B. schließt: Jn allem gefüllt mir besser dass mar: mir sage: dicsr. s :s? alsc, -.vciJ es Oott also hat wollen; als d^iss es hclüsc: Oott hat dieses alsc wollen, weil er die oder uiesc ursach darzu ^chalU Hut." Dieser Ausspruch erklärt uns Bodmcrs ganze Sieüung zum V, P -'■) ebd., p. 186.

24

der Mitionsch(3iii Welt können die Leser „dasjenige, was sie hoffen, vorsehen und dadurch ciniKcrmassen vorge- niessen*" (p. 26).

Dies ist es, was Büdmcr das V. P. lieb machte, mehr a\i die Schöpferkraft des Genies.") Der Begriff des Wunderbaren dockt sich bei ihm fast mit d e m des l) ü g ni a t i s c h u n. Darum kommt er in sei- nen Kritiken dazu, das Wunderbare in jedem Epos zu ver- langen, auch wo *is nich^ hingehört.^')

11.

Bodmers Verteidigungsschrift beseitigte mir einem Schlage alle ßeclcnkcn der heranwachsenden, für Miltor. schon entflammten Dichtergcncratioii. Diese fand im eng- lischen Epiker, was sie in der Poesie suchte, einen Ge- halt. Wo hiitte sie, des kalten Klassizismus müde, einen solchen finden soHen, wenn nicht in der Religion?

Deshali genügte den Anhängern der Schweizer Bod- mers Abhandlung vollauf. Noch mehr: Einmal gerecht- fertigt, wurde das V. P. selbst Malistab, ..Milton hat weiter nichts gethan, als die grössten Religionswahrheiten durch sinnliche Vorstellungen in ein recht würdig hohes Licht

'') Franz Scrvacü saut I. c, p. 108, über Bodmcr: „Er hatte das QctiihI, einem OcwaltiKcn, aber UnfnGl)arcn Kc^cn- über zu stehen. °s Kcbrach ihm das volle und frohe Verstiind- nis, da& ihn bcfähisi haben wiirdc, die thürlchten Redereien eines Maijny und Voltaire mit Verachtung 2u strafen." Das Ist unrichtitc. Bodmer glaubte Milton zu verstehen, was er nicht tat, aber nicht, well er auf die Einwände eincä Voltaire einging, die zum «roßcn Teil nicht „thöi'ichtc Redereien" sind.

^^) So In Johann Ellas Schletjcis Heinrich dem Lüwcn, woKcjcen der Dichter in einem Briefe protestierte. Vgl. Dr. Eugen Wölfi. Job. E. Schlegel, Berlin 1889, p. 94.

25 --

setzen; und das ist die höchste Pflicht cine&

H e 1 d c n d 1 c h t c r s. In diesem Stücke hat er Honur und Virgil sehr weit überstiegen: vcil er bcy einem unend- lich heilern Lichte wandelte," sajjt Pyra (l'rwcis. .. 29^30).

Für uns seien die heidnischen GotthcUcn Chimurvn. meint 0. Fr. Meier. An ihre Stelle milsscn die Enjici und Teufel treten. Dali diese dem christlicher. Heldenjjcdlchtc alle S hönheit verleil.en, beweis'.' die BiheJ. die hierin selbst dQn Homer übertreffe."")

Die kritiklose Miltonschwärmerci ward Mode, garn- ier sclirelbt am 20. Mai 1745 an ü!«-im' „Bin \zh zu Haust und lese AAiltons verlornes Paradies, so will ich ein He!- dcuKcdichi anfanjicn;" . . . aber am JO Jan. 1747 scestchi er; „Wenn sie einmahl den Muten imd Bodmer.'^. vom Wun- derbaren in die Hände bekommen, so lejicn sie ihn für mich zurcchi, if eh habe diese weitläuftize Crltick über den Miltoii noch nicht g:clesen und den Mihon selbst noch nie kri- tisiert.** ^'•) Von Christian Ewald vor. Kicjsi wird crz3hlt, daß er in die.sen Jahren über der Lektüre Mliton»» einmal die Wache abzulösen vcrKcssen habs.')

") G r c i I s w a i d c r Kritische \' c r » u c h e (15. Stück 1 746, p. 179— .'UO) : Ob in einem h c 3 d c n 2 c c i c h t , . , , s. oben p. 16. Ich zitiere nach BcrKmarn, 19«'i 1. Bevor alle seine tliüorctischcii Ucdcnkcn verscheucht waren, hatte tr schon am 24. Juni 1746 an Bndnier ceschricben; „Ich schätze den Müton so hoch,, daß ich ihn lieber lese ?ls Jie Odyssee, . . . (BerR* mann, p. 248). Auch hier hinkJc die theorctij^chc Beyriindunji dem Qcächmack nach.

") B r i e f u e c h s c I z w 1 s c h e r* 0 I c i »tj und R a m I e r , hsK. V. Carl S c h ü d d c k o p j , Tubinxcn 19(>6 (— Bib- liothek des literarischer. Vereins in 5^ t v m k a r t Nr. 242). p. 3 ur.d 71 f.

") Werke (Hcmpcl) Bd. 1, p. XXVlil. In ^cmcn Werken kann auch Sauer keine Beeinflussune durcii .Müton. der. «r m der Bodmcrschen Übersetzung kannte, nachweise.-!.

_ 26

Noch u'ouiijer als von den Zürchern wurde von den Leipzigern nach 1740 etwas neues zutage gefördert. Qcitsciicd beanstandete unaufhörlich die Stellen, die schon Voltaire kritisiert, die Reimlosigkeit des Gedichtes und die Sprache, der er verständnislos gegenüberstand.

Gerade Mlltons Sprache konnte vielleicht von Bodrner und noch mehr von Pyra, Kleist, Haller, Klopstock u, a. am ehesten nachempfunden werden. „Es gehört kein plum- per Geist dazu, sich aus der Tiefe, in welcher wir nieder- gedrückt sind, zu erheben, und über die Qränzen des Welt- gebäudcs hinwegzufliegen, hernach über das ungemessene Chaos in den Kerker der verdammten Geister überzu- sezcn, die Geschäfie und Anschläge der Einwohner in diesen dunkeln Gegenden zu verkundschaften. Und zur Ausdrükung dieser Gedanken und Geschichte braucht es freylich fremde Bilder, seltsame Erscheinungen, unge- wöhnliche Worte und Ausdrüke," sagt Bodmer.'*) Ihn fesselte hauptsächlich das Bildhafte, die anderen vor allem der Schwung. Die Zeit erwärmte sich für liallers Pathos, damals hub der deutsche Odenschwall an. ».Wenn von dem Heldengedichte zwölf Bücher so poetisch, feurig und erhaben fertig werden, so sind Sie Milton,'' schreibt Qlcim an Lange am 24. Mai 1745.^0

Aus diesem lyrischen Grundcharakter der Zeit erklärt sich die begeisterte Aufnahme der drei ersten Gesänge des Mcisias (1747). Dieser kam dem Bedürfnis der Zeit nach Vergötterung entgegen. Klopstock war den Gefahren der Vermenschlichung aus dem Wege gegangen, indem er

*") Von der poetischen Schreibari Miltons» in SammiunK Critischer, Poetischer . . ., p. 128.

^') M. S. Q. Lange, Sammlung gelehrter und freundschattllcher Briefe, Zweyter Theil, Hulle 1770, p. 133.

^ 27 -

rein äihcrische Gestalten schui. £r verhall sich zi Miho!i wie der Lyriker zuiji Epiker.

Gerade den Unterschied zwischen den beiden merktt: man kaum. Kiopstock wurde ohne A'citercf ncbc". Muten gestellt, von Malier allerdin8:s nur der ..nachdrücklichen, poetischen und erhabenen Kraft in den Ausdrücken** wegen,") von den meisten, wie Bodmer, 0. Fr. Moser, S. Q. Lange, Kleist, Hagedorn, Ramicr ' *) als epischer Dichter überhaupt. Da sie in Milton der religiöse Schwung ge- fesselt, mußten sie im Messias die Verwirklichung ihrer Wünsche sehen. Deshalb zogen auch einige das deutsche Gedicht dem englischen vor. „Wenn er (Kl.) seinirn Plan vollführt, so wird Milton ihm weichen.* ini\m Gleim. und Bodmer klagt am Anfange des Noah;

„Leider! ein Tag wird kommen der Milions erhabne

Gedichte Auch rnit Vergessen bedeckt, dli ewig zu leben

vcrdicnfH." ^^) Neue Theoretische Abhandlungen iianJciten nu? von KIcpstock.") Nicht ganz mit Unrecht spottete Triller: Von dem Wurmsaamen. der it.zo so reichliche Prüchte

schon trfigt.

'') Göttin gischc Zeitunk'sn von gelehrten Sachen, 29. August 1748, 95. Stück): „Wir !ai.seii uns dadurch gar nicht hindern, eine ungemein nachdrükliche. poetische und erhabene Kraft in den Ausdrüken durchgihcnds zu finden, die wir in unserer Sprache noch selten so Miho'-i«vch und sc voll- kommen bemerket haben.*"

'") Vgl. Franz Munckcr. Friedrich Oottheb Klopstock, Stuttgart 18S8, p. 144 ff« wo sich die L'ricilc Q'>cr den Messias finden.

'•"') Auch Meier stellte den Mcljüis in seiner l. Bcurteiliins über Milton. Vgl. Muncker, p. 147.

^») Vgl. Muncker, 1. c. p. 15&-161.

^ 28

Daß nun die DIchtkiinst der Deutschen ein anderes

Wesen beginnet, Sing ich Miltonisch. ja über Miltonisch,

begeistert." ") /' In den fünfziger Jahren war es Wicland, der Klopstocks / Überlegenheit über Milton laut proklamierte. Und noch auf Jahrzehnte hinaus gab es solche Schwärmer.

III.

Die Bibel und nicht die dichterische Phantasie war es, die Bodmcr das V. P. vor allem lieb machte. Denselben lehrhaften Inhalt» den er in jener fand, suchte er in der Dichtung. Niemals hören wir weder von ihm noch von den Seinigen eine Bemer- kung, die darauf schließen ließe, dali die didaktischen Stel- len im Gedicht in jener Zeit als unkünstlerisch empfunden worden wären. Der junge Bodmer schreibt an Zell weger: „Ich wäre so emsig die Miltonischcn Ideen in meinen Kopf einzupregen, daß ich glaube, mein gehirn seje nunmehr in die gleichen falten und Traces gebogen wie Miltons ge- wesen, oder damit ich Mahlcrisch rede, die Taffei meines gehirns mit den färben, strichen, bildnissen 6:-<, gemahlet, wie Miltons gemahlet wäre." "") Dabei denkt er nicht zum wenigsten .an die theologischen Vorstellungen im Gedichte, wie die Auffassung vom freien Willen u. ä. . . Den Glauben, daß der Zweck der Kunst lehrhaft sei, teilten alle Zeit- genossen Bodmers. Haller in seinem Ursprung des

") Der W u r m s a a m e n , Sechs poetische Streitschriften aus den Jahren 1751 und 17.52, hsß. von Georg W i t k o \v s k i . Leipzig 1908 (Mitteilungen der Deutschen Qesellschaft zur Er- lorschuMK vateriündischer Sprache und Altertümer in Leipzig, Zehnter Band, 2. iicft), p. 21.

") Hans Bodmer. l. c, p. 192. Es handelt sich um den oben p. 23 Anmerkung 19 erwähnten Brief.

29

Übels und Klopstock im Nordischen Aufseher, wo er erklärt, der Vorranji ^Qt schönen Wissenschaften sei, „die Menschen moralischer zu machen." *')

Bödmet und seine Mitkämpier bedienten sich ircmder ästhetischer Regeln, um den Kunslwert des V. P. lu erweisen. Während Gottsched solche Regeln mecha» nisch anwendete, erfüllte sie der Schweizer Kritiker mit einem eigenen, ihnen fremden Gehalt. Gottsched warf dem V. P. 1732 unmoralischen Charakter vor ''): „Viele unter den neuern Kunstrichtern oder Crillcls haben es an dem Miiton nicht loben wollen, daß er sich eine so abscheuliche That als die Verführunx des Menschen ist, zur Haupthandlung seines Gedichtes cr- wählei. Der Satan ist sein Held, und seine Hcldenthat bestehet darinn, daß er sich an dem Allerhöchsten rächet, welches ihm auch, alles Wiederstandes ungeachtet, ge- linRCt. Dieses ist allerdings eine schreckliche Vorsteliun?/' Um diesen Punkt konnte der ju.iKe Meier zuerst nicht her- um. Bodmer beruhigte ihn mit einem gelehrten Spruch: „Die Handlung, welche von den Alten die Fabel genannt worden, ist zum Dienste der Charakter erfunden: sie stehi unter denselben. Die Charakter können sich z\:r Noth ohne eine Handlung beym Ansehen erhalten, und nutzbar seym aber die Handlung ohne Charakter ist ein kindisches Spiel; wenn sie nicht ein leerer Traum ist. Demnach muss der epische Poet vor der Handlung um die Charakter besorgt seyn" (Criiische Briefe, der siebende Brief, p. 125). So beruhigt Bodmer sein und seines Freundes Gewissen: denn, sagt er, ein Mensch, auch wenn er einen Fehltritt begeht, kann dem Charakter nach doch gut sein. Also ist die Moral

-*) Im Aufsatz: Vom Rance uer $ahör=en Kttntie und der schönen Wissenschaften. =') B e i i r ä ß e . V . ^ Erstes Siück, p. 90.

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des Qedichtes ^creitctl „Der Fall ist allcrdinK» ein schwe- res Verbrechen, welches mit der Tugend eines iirossen Gei- stes nichi besteht, und wir finden den «rossen Qeist in dem Falle nichi, oder sehr verdunkelt; aber wir finden ihn vor dem Falle; und nach dem selber, fan^'t er nach und nach an, wieder zu erscheinen, und sich empor zu heben. Das dllnkct mich genug zu einem Helden, oder zu der ersten Person in dem epischen Gedichte'* (p. 129). Ja, wenn sich der Held i.ach der Übeltat bessert, so erscheint er uns In nur um so günstigerem Lichte (achter Brief, p. 138 f.). Meier will noch mehr, Er ülcht den Zweck der Fabel nicht ein. Wir können nicht mehr vor Adams Fehltritte gewarnt werden, weshalb das Gedicht unnüi;:i ist. Bodmer erwidert ihm; „mich dünki vielmehr, da sie wissen, dass Adam ohne dass er vorhcrge^ündiget, noch eine so verderbte Natur hatte» Wie «;le liaben. mit so leichter Mühe verfüret worden, sollten sie daher nur einen stärkeren Beweggrund nehmen sich an seiner Übertretung zu stossen, nachdem sie nicht mehr mit der Unschuld, und der Aufrichtigkeit, wie er, dagegen bewafnet sind'' (p. 144)."'')

Solche Skrupel hatte Meier zu beseitigen, um der Ver- künder der Seraphik zu werden, und Bodmer ging auf sie ein, um mit Hilfe der Alten das Moralische des V. R zu beweisen!'

Was verstand der Zürcher Kritiker unter Charakteren? Theoretisch hat er in seinen Poetischen Qemähl- d e n (in Anlehnung an St. Evremont) viel Gescheidtes über Charaktermalerei gesagt, so daß Servas nicht umhin kann, seinem Scharfblick in der Beurteilung psychologischer

'*) Bodmer hatte sich in der A b h a n d i u n g von dem Wun- derbaren (p. 191 ff.) selbst daran gestoßen, daß Adam den Fehltritt begangen; jetzt gibt er auch darin Milton recht, weil Adam nur aus Liebe zu Eva fehle.

31 --^

Phänomene Bewunderung zu zollen.*') Ks Jälk aiicrüinjcs Servaes auf, dali Bodmcr in seinen Dichtun^ien nicht ein- mal den Versuch jremacht hat. Gesialicn zu zeichnen.'*) Uns bleibt die Aufgabe, seine Einsicht In Miltcns Charaktc- risicrunRskunst xu beleuchten, d. h. xu untersuchen, ivlc er seine Theorien anwendet. Auch hier zeisri sichv da!! sein Urteil trotz seines Wissens von moraüschtn Assoziationi-u bücinfUißt ist. Da hatte ihm eben kein Sf Rvrcmont vor« gearbeitet.

Die einzigen Qestalten, die er versteht, sind die un- serer unschuldigen Vorfahren. Adam ist würdig und un- serer Hochachtung wert. Eva ebenso. Es ist zweifellos, d'dß Bodmer in den eigenen Produkten we>;cn seiner Un- fähigkeit kein Charakter gelungen ist; dazu kom?nt aber seine Absicht, nur Tugendmenschen zu besingen, Adam und Eva bleiben seine Vorbilder.

Der gewaltigsten Figur hinjiegen, die Milton gcscliailcn, brachte Bodmer kein Verständnis entgegen. Satan, der ewige Widersacher des AllmäLhtigen. wurde vom Dichter mit einer Reihe von Zügen ausgestattet, weiche ihn unserer Teilnahme sichern. Es ist keineswegs reine Bosheit, die ihn zum Abfall bewogen, sondern imbeugsamer Stolz. Diester und die heimlichen Anwandlungen von Heue bringen ihn uns menschlich näher. Seine Devise ?si: „Besser in der Höhe herrschen, a!s Knecht im Himmel sein." „Seine Qe- stalt drängt sich so sehr hervor, daß Addison keinen An- stand genommen hat, ihn de.i „Heros'' des Epos zu nennen. Und ohne Zweifel läßt dieses Wor-: sich richiiirtigen . . . unvermerkt wächst die Figur des Satan in t.iese Rolle hinein." '')

") 1. Ch P. 139. "«) 1. c, p. 142/3.

9C

) S 1 1 r n V M 11 1 0 n \\\ p. TJ.

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Darüber, daß der gefallene Erzengel zum Helden eines Epos gewählt worden, war Qoitschcd entrüstet (vgl. oben p. 29). Bodmcr, gewiß nicht weniger moralisch als Qoftschcd, behauptet, Adam sei der Held, denn er habe unsere Hochachtung. So kann er Satan ebenso sehr ver- abscheuen wie Gott.schcd. Zwar entgeht ihm, wenn er Miltons und Dantes Teufel miteinander vergleicht, der Unterschied zwischen den beiden nicht. „Milton hat seinem Satan mehr Ansehen gegeben, und dieses hat ihm auch seine Religion nicht, sondern die Majestät gelehrt, die in seinem Gedichte herrschen sollte." "'^) Einmal spricht er vom „vortrefflichen Rest von dem alten Glänze'*.") Seine moralisch-rciligiöscn Anschauungen drängen jedoch die bessere Einsicht zurück. „Meines Bedünckens kömmt es allezeit darauf an. dass man die Würde der christlichen Hölle darinnen setze, worinnen sie eigentlich liegt, ncmlich in dem hohen Character von gottlosem Hochmuth, verhär- teter Verstockung» verfluchter Begierde dem Höchsten zu widerstreben^ welche sich bey den gefallenen Engeln in allen ihren Gedancken, Entschlüssen, Handlungen und Reden erzeigen. Dieses hat Milton beobachtet." ") Im kriiischeii Brief an Meier heißt es. „Satan wird in seiner äussersten Wuth, und äusserstern Hochmuth bey seinem tiefsten Elende vorgestellt. Man wird dieser Person auch ihre Tüchtigkeit in oinem epischen Gedichte mit der gehörigen Würde .^a erscheinen, nicht absprechen können. Satans Grösse ist zwar keine wahre Grösse, well sie aller Tugend beraubet ist; er ist jibci auch nicht der Held des Poeten, Adam ist der wahre Held Miltont^,, wer den Satan dazu machen wollte, müsste sehr .geneigt seyn, den Poeten unrecht zu

"*) Vgl. B c d m e r d e n k s c h r i f t , p. 2S6.

") M il t 0 n - Ü b e r s e i z u n g , 3., resp. 4. Aufl.

4. Aufl.).

■") Von den poetischen Gemälden, p. 583.

33 -

verstellen. Müton redet durch das fianze Oedichi mit Mass. Fluche, Zorn. Abscheue von Saian. und er pfsanzet diese ReKU!i.ü:cn in seinen Lesern*' (I. c p, !2S9).

Bodmer verhinderten die religiösen Voruncilc, richUsr zu sehen; bei seinen PartcigänKern waren w der Grund, warum sie sich über Satan sünzlich hinwcKscizten. Nie erwähnen sie seinen Charakter. Klorsiock, der auch darin seiner Zeit entgegenkam, schuf be^:anntlich aus Mikons Satan drei verschiedene Tenfelsresialtcn, „Zunächst ?eselUc er zu Satan, dem wirklichen Aufwiegler und führcf der aufrührerischen Engel, in dessen Brust der Haß Regen Gott und seinen Messias jedes weichere Gefühl ci stickt, den noch boshafteren Adramelech. der d\2 Eir.po'ung schon lange vor Satan beschlossen haue. der. eben so wohl Got- tes Feind wie Satans Nebenbuhler, weiter als dieser strebt, den Satan zu stürzen . , . trachtet . . . Neben die beiden stellte Klopstock nun noch den reuevollen Halbteufcl Abba- dona, der, einst durch Satan mitvcrführiv längst dem Ein- fluß des Bösen sich zu entziehen sucht."") Die Motive des Umwandiungsprozesses sind klar: Für ..inen gegen Gott mit Haß Erfüllten konnte die dam<-.'igc Zeit kein Mit- leid aufbringen: deshalb steigerte Klopsiock die bösen Eigenschaften noch, des Abschcucs seiner Leser sicher. Auf der anderen Seite konnte ein völlig Zerk.iirsthic' mi die Tränen Tausender in Deutschland rechnen.

Bodmer berichtete schon am U, Scpt 1747 an Qicim über den Messias: ,,. . . es ist ein Charakter darin, der Satans Ciiarakter zu übersteigen drohet. "^Ün anderer er» wirbt sich das Mitleiden mitten untc: den verdammten Engeln;' ")

Den Satan und die eigentliche Dichierkrai? Mütons

="•) Vgl. Muiicker. Klopstock. ?. 121/2. ") ebd., p. 70/71.

PiBSö, Milien 8

~ 34 -

2;u entdecken, war einer anderen Generation und Schule vorbehalten. Die kritiklose BcKcIsturunt;, mit welcher der junge Wieland") u. a."**) Klopstock turmhoch über Milton stellten, konnte nur von einem verschiedenen Standpunkt aus überwunden werden. Bodmer wollte zwar seinen Mil- ton nicht aufopfern.") Seine Lehre war aber doch die Ursaclie dieser Übertreibungen. Entrüstet er sich doch in seiner Abhandlung von dem Wunderbaren über die Dichter, v/elche den Engeln die Eigenschaften und Hand- lungen der mythologischen Qötter zugeschrieben (p. 219/20), und beweist dadurch, daß er gar nicht sieht, wie realistisch Milton bei der Zeichnung seiner Engel vorgej?angen isr. Wir wissen es ja : Die

/ "•') Wie I and schreibt am 29. Okt. 1751 an Bodmer: „tr (Milton) wird unjremcin von unserem Klopstock übertroifcn. Bey ihm '.M das Game erößcr und majestätischer', das Wunder- bare natllrliolier, >ilaubwiirdiKer, anstiindikcr; die Ciiarakiere besser ausßebildei, abwechselnder und rührender; die Erfindung wahrsciicinlicher, scharfsinniger, neuer, interessanter." (Aus- KC wühlte Briefe von C. M. Wieland an verschie- dene Freunde, in den Jahren 1751 b i s 1810 geschrieben und iiacn der Zeitfoljfe geordnet. Erster Band, Zürich 1815, p. 6).

•■'") Job. Arnold Ebert, der Übersetzer der Nacht- iiedanken. .schrieb 1760 an Voun?, daß uns in Klopstock Milton und Shakespeare vereint «CKctcn worden. (VkI. Michael Bernays, Schrifteti zur Kritik und Litteratur- Kcschichie, Zweiter Band, Leipzig 1898, p. 134*). Noch das ßanzc Jahrhundert hindurch werden wir auf solche Urteile stoGen.

'•■'') In der EinleitunK zur dritten, resp. vierten Auflage seiner Milton übersetzuHK (1754 u. 1759): „Gewisse Leute, welche die Messlade zu loben das vcriohrne Parad'cs an sie an- stossen lassen, veriathen dadurch die Schwäche ihres Verstan- des, der sie hindert die Verdienste der beydcn einzusehen und

zu unterscheiden " (p. 38 der Einleitung zur vierten

Auflage.

.35

Engel Miltons sind für Bodmev nur dogmatische Wesen und nicht Schöpiunücn der I^hanlai^ic

IV.

Wir sahen, daß die dOKn'jatisch-moraiiscb.v.n Ajischuu- ungen der Bodmersclicn Epoche teils der Begeisterunj; für Milton Vorschub leisteten, teils aber eine objektive B'-'-ur-

teilung verunmuKiSchtcn.

Nur was den religiösen und do^natischen En^pfindunjjcn jener Zeit entKec:enkam, konnte aucii künst!crl5.ch nacherlebt werden. Bodmer gibt uns eine Schilderung des Kindruckes, den daij V. P. auf einen jungen Dichter (Klopstock) bei der

ersten Lektüre gemacht Die ersien Reden, die er davon

führete, nachdem er wieder zu sich selber gekommen war, wicwol er noch immer xurük sah. Gameten von neuen, un» bekasmien Ocgenden, in welche der Poci ihn geführt, von seltenen, hohen Bekannischafteru die er ihm verschaffet, von dem Reichihum der Ideen und der Empfindungen, den er ihn mitgotheilt hätte. Es ist wahr, sagte ci, ich hatte vordem einige dunkle Spuren auf einem unbetretenen Bo- den gesehen, und etliche Züge dieser herrlichen Sccnen erbliket: Aber hier fand ich sie in ihrem vollen Lichte vor mir offen ligen. Vielleicht hätte ich e;nma! den Weg auf diesem ungebahnten Gefilde fortge«ezct, und hätte \lelleicht bis in die himmlischen Gegenden durchgebrochen, welche Müton mir gezeiget hat, wenn ein chrfürchtvoller Schauer mich nicht zurükgczogen hätte: Aber nachdem Milton den Eingang in dieses Heiligthum der Gcisicswelt eröffnet hat. nachdem ,er mich hineingeführet hat. so darf ich künftig mi/ kühnen Füssen darinnen herumwandchi, die Bekanntschaft mit meinen neuen Freunden fortzusezen. Ich weiss nun. wo die Tafeln des Schiksals aufgehangen sind, und ich kan in denselben lesen." (Neue critischc Briefe, p. !5 6).

3*

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Deshalb will Bodmcr das Wunderbare in die Poesie ciniiihren, weil es uns dasjenige offenbart, worauf wir hoffen (vgl. oben p. 26), weil es uns verrät, was auf den Tafeln des Schicksals geschrieben steht.

Bodmcr empfindet nun allerdings den Schwung in Mil- tons Sprache nicht so rein wie Pyra, Klopstock, Haller ^*) und der junge Wieland. Sein didaktischer Sinn verläßt ihn auch dann nicht, wenn er sich dem ästhetischen Genuß uneingeschränkt hingeben könnte. Er denkt immer an den Nutzen, den ihm die „hohen Bekanntschaften" in Miltons Dichtung bringen. Daher die vielen Geschmacklosigkeiten in seinen eigenen Dichtungen. Nach diesen zu schließen, scheinen die Szenen, in denen das unschuldige Leben im Paradies j,':eschildert wird, auf ihn einen großen Eindruck gemacht zu haben. Klopstock begeisterte das Seraphische, wie die obige Beschreibung selbst ausführt; Bodmers nüch- ternen Sinn zog das Idyllische» das ihm auch Homer lieb machte, besonders an.

Schon im 17. Jahrhundert hatten in Deutschland die Schäferspicle Fuß gefaßt. Zur Zeit, da Bodmer aufkam, träumte man sich in den Robinsonaden auf entfernte Inseh, zu denen die Welt mit ihrer Schlechtigkeit keinen Zutritt hatte. Der Zürcher Kritiker suchte eine bessere Zeit in der Vergangepheit, als die Welt noch nicht bevölkert war. Das reine Beisammensein Adams und Evas im irdischen Para- dies war ihm die Verwirklichung seiner Ideale. Beim An- blick unserer ersten Eltern fand sein didaktischer Sinn volle beiriedigung. Das »»Wunderbare*' verehrte er seiner dogmatischen Bedeutung wegen. Da die paradiesischen Szenen des V. P. einen beinahe vollkommenen Ausdruck

") VkI. Albrecht von Hallers Oedichie, hsg. u. eingeleitet von Ludwig Hlrzel, Frauenfeld 1882, p. 386, wonach Haller schon 1734 in seinem ,,Sermo Academicus" von Miltons „robur sine aeQualitate" spricht.

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gefunden haben, sind sie wohl die einzjk'en Partien, die Bodmcr bis zu einem gewissen Grade künstlerisch rein nachempfinden konnte. Denn sie zwani^cn ihn nicht, scia ästhetisches Verständnis auf Kosten des Dojfmaiischcn zu unterdrücken. Aber eben die Tatsache, daß Bodmer das „Wunderbare'' im Gedichte verehrte wie das Idyllische, 2eigt uns, wie unfrei im Zürcher das ästhetische Empfinden noch war.

So suchte er in seinen poetischen Erzeugnissen nach- zuahmen, was ihm im V. P. Heb war: Das „VVtnd er- bare", das bezeichnenderweise nichts Homerisches mehr hat wie in Miltons gewaltigen Engelschlachten, und das Patriarchalische. Dieses gibt die ürundstimmung seiner Dichtungen ab. Mögen die Hauptpersonen Jacob, Joseph» Rahel, Dina usw. heilienv sie sind sich immer gleich. da sie Adam und Eva zu direkten geistigen Vorfahren haben. Was sich Bodmer zu Anfang von Joseph und Zulika vorgenommen, das hielt er: Die griechischen Musen

Haben zu lange den zcrn der bloeden beiden gesunken.

Und der bloedern götter der beiden: Zu lang blieb die

Unschuld

Und die geduld, und der hoehere sieg der keuschheit

vergessen. Als der junge Wieland nach Zürich kam und am gleichen Tische dichtete wie Bodmer, erfuhr seine Muse ebenfalls eine Beeinflussung nach Jer patriarchalischen Seite hin, .vUnvernierkt drängt Hymen sich an die Stelle des; einst feurigen Amor. Der briiütüche Liebesdichter, der nach den glünzenden Augen und roien Lippfui sich schntc, weidet sich an dem rührenden .Anblick, wem der ..Säug- ling um der Mutter Brust lächelt," er schildert im letzten Brief mit sanfter Innigkeit das Eheglück des neuen Adam. Uüd nun, im „Geprüften Abraham", Ist für b'*3utliche Liebe

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überhaupt kein Platz; hier preist der Dichter die friedliche HausKcmeinschaft des ehrwürdigen Patriarchen und seiner Frau Sarah"."') Die Charal<tcre im Messias zog er, wie wir sahen, denen im V. P. vor,

In patriarchalisch-miltonischer Beleuchtung war im Zürcher Dichter auch das erste Naturgefühl erwacht. Mit seinem Milton war der junge Bodmer aus der Stadt nach dem idyllischen Greifensec geflohen und hatte dem Freunde in Trogen geschrieben: „Alss ich aus der Stadt käme auf das freye feld. v/are mir zu muthe» wie dem Satan als er aus der helle, die mit flüssigem und gediegenem feücr brennt, wo das gefrorne Eiss die finger versenget, und kalt die Wirckungen des feüers verrichtet, in das paradiss kommen, dessen Kostbarkeit und die Nakende Eva ihn fast vergessen machten, dass er der Mr. teuffei wäre. Ein jeg- liches ding belustigte mich, das zusammengerächte grass, die Senten kühe, das schütteln der Nussbäumen & c. , ." *")

'") Fritz Budde, Wicland und Bodmer, Ber- lin 1910 (Palaestra LXXXIX), p. 151. Bodmer machte Wieland auf ZüKc im V, P. aufmerksam, in der Ncuauilage des L o b «csEHKes auf dit Liebe wollte W. solche benützen. Das. crKJht sich aus den Korrekturen im Exemplar der Zürcher Siadt- biblio'.hek, auf di«; Budde nicht weist. Nach den Versen; Qö'tliche 'Liebe! Du weist, die unsre harmonische Seelen Sich zu lieben, so zürtlich erschuffst, und die himmlische Doris DcinerTi zärtlichsten Seraph und seiner Schönheit nachahmlesl (Wielands Qcsammclte Schriften, hsij. v. d. Dcut- sche-.i Kommission der KrI. Prcuß, .\kadcmic der Wisscn:jchaf- icn, Berlin !909ff. F. p. 134, v. 182— S4) fügt Wieland selbj.t ein;

so lovcly fair That Nvhat seem'd fair in all the world seem'd now mean, or in her summ'd up, in her contain'd, And in her looks, which from that time infus'd Sweetness into iiiy heart» unfelt before.

(= P. L. VIII, 471ff). *") M. Bödmer, 1. c, p. 190/1.

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Es ist, wie wenn schon Milton vor Thomson dem sich zu AnianK des Jahrhunderts regenden Natursiciüh! entgegen- gekommen wäre.

Auch ßrockes übersetzte den Schlüli des vierten und den Anfang des fünften Buches, d. h. dij Stellen, wo Satan voller Neid Ackims und Evas Bcisamincnsein erblickt und wo diese in einer Hymne Gottes herrliche Natur preisen. Milton wird in die Kleinmalerci des Irdischen Vcr« g n ü ß e n s in Gott übertragen. Naue Details kommen dazu» Wie uns Bodmers wörilichu, holpijrlge Prosäüber« Setzungen von einem vergeblichen Streben nach Schwung erzählen, so verrät uns Brockcs' Ühertiagung eine einseitig detaühai't-maUirischc Auffassung des: Vorbildes.

Kleist, lialler,^') Hagedorn, der ,vd;:s erste Paai In Milton reizend'* fand,") begeisterten sich woh! auch für das Naturschöne im V. P.

Auf lange hinaus wurde der Sonnenaufgang nach Mil- tons Vorbild besungen. Qleim schreibt am 16. .laisuar 1762: . . , ,>man gebe mir zehn Poeten, die alle die aufgehende Sonne beschrieben haben, ich v/ül die herausfinden, die ihre Beschreibung £us dem Müton nahmen.**"*)

*') VkI. L. Hirzel. A l b r. v. haiUrs Ü 4 dichte. Frauciijcld 1SS2, p. 37.S, wo sich eine Außcruns: Maliers über die Paradicsszcncn findet (aus dem Jahre 17^), Vgl auch ebd., p. CCXCVin.

*'^) In Friedrich v. hagiiidorns tipiKramm JVmI einen Fapcfiuuicr und Verüchter der ichön« sten Stellen im Milton", Werke. Cärlsruhc 1777» Krster Thcii, p. 225.

*•') So wollte ültim schreiben, verbesserte dann den letzten Satz in: ... die nie aufgestanden waren, sie zu sehen", womit er eben die Mütonnachahmcr zu meinen schein:. (Brief- wechKel zwischen Ülcim unü Uz. hsK. u. crluu:ert von Carl Schiiddekopf, Tübin»:cr. 1899 (Bibliothek de« Literarischen Vereins in Stuttgart. Bd. ?IS}, p. 32t»)-

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Alfred Biese hat gtsaRt, die christlich-puritani- sche Phantasie Miltons sei zu biblisch gewesen, als daß sie der Schöpfung eine sclbständiKe Bedeutung in der Poesie hätte leihen können. „Die Natur spielt nur eine Rolle In Bezug auf den allmächtigen Gott.*' **) Auch zur Zeit der Milton- und Klopstockbegcisterung stand die Naturschwär> merei in engem Zusammenhang mit der Religion. Die patriarchalischen Idealfiguren wurden in eine idyllische Natur gedacht. Adam und Eva erfreuten sich im V, P. ihrer keuschen Liebe in einer Laube (bower). Diese Laube taucht im Messias *'') wieder auf und findet sich Jahrzehnte« lang in Gedichten, ja Briefen wieder: In Klopstocks Tod Adams ward sie zur Braudaubc. Als .solche oder als gewöhnliche Laube oder sonst variiert, begegnet sie uns bei Ebert. Gcßncr. Ramler, Giseke, Herder. Voß, Miller, Hölty, Wieland, Oerstcnberg, Maier Müller, Stollbcrg.**) Sie ging wohl auf Kiopstock surüc.K und nur indirekt auf Milton.

In den Zürcher F*airiarchaden herrscht selbstverständ- lich das Naturmilieu des V. P. Fritz Budde sagt 1. c, p.i 180, über Wieland: „Wie er in seinen ersten Dichtungen Natur- schilderungen und idyllische Liebesmotive bevorzugte, so bildeten für ihn ähnliche Elemente das Anziehende in Bod-

*^) .Alfred Bicsct Die Entwickelun^ des Natur- jreiühls im Mittelalter und in der Neuzeit, Zweite Ausgabe, LaIpziK 1892, p. 406.

") Messias I, 544, „dämmernde L*'. K 666, „scliimmeriuien L", I!, 31 betet Eva „Du Hütte, wo er (Jesus) weiiiete, sey mir die Laube der crstin Unschuld''. 11, 21 ,,friedsamc Laube".

■"*) (Jber das Motiv der Laube \%\, Weinhold, Ein Gvi- dicht Hültys, Schnorrs .\rchiv für Literatur- jjesclichta VM (Leipzig 1878), p. 193/4. Neue Beleue bei Ludwig Krabe, C a r i F r I e d f . Gramer bin 2 u seln«;r AmtsenthfibunK (Palaestra 44), Berlin 1907, Anhang, p. 247/8 (zu Seite 35»).

-„ 41

mers Epen. liodmcr dag:gen sah diese DinKc als Raluncn und Beiwerk an, als Ziel suchte er die Erhebung zu «jpi- scher Handlung, zur Charakteristik und zum Wunderbaren.** Das ist nicht jranz richtig. Nachdem wir darfcckxt, daß für Bodmcr die Begriffe epische Handlung und Charakte- ristik soviel wie Schilderung dc!v Dogmatischen und Idylli- scheri bedeuteten und daß sich schon der junge Zürcher für die Naturschilderungen im Miltonschen Liebcsidyll er« wärmte, können uns diese Dinge in der Bodmerschen Auf- fassung nicht bloß als „Rahmen und Beiwerk" erscheinen. Der nüchterne Sinn des Zürcher Dichters und Wic- lands idealistisches Streben fanden auf dem Gcbieic der Idylle einen gemeinsamen Berührungspunkt (vgl. Buddc. ebd.). Schilderungen unschuldiger Men- schen und reizvoller Umgebung w a r t; n nach Bodmer neben dem dogmatischen ..NA" u n d c r baren" dem Kpos unentbehrlich. Nur Heß er sich durch seine lehrhaften Tendenzen in seiner Werken 2u lächerlichen QeschmacklosiTkeiicn verführen, während Wieland bei ^.ieicher Frömmigkeit ein größerer poetischer Sinn eignete. Wielands Gesicht vom Weitge rieht durchweht seraphischer Hauch. Obschcn er Klopstocks Sprache verwässerte,**) fand er m.ehr als Bodmer den Aus- druck für die Sehnsucht nach dem glücklichen Ursitz der Menschheit.

Achl wo bist du, o Paradies, der einfälligsten Freuden Qlykücher Sita? wo scyd ihr* ihr Bacumc. h\ derea

Umschauung Sich die ersten der Mensche«, n^ch Gott gebildet.

umarmten? Ewig dahin! vom Tode zerstört! von den Ruthen

zerrytlütl

*») Vgl. B u d d e , l. c p. 155.

«. 42

Ach! du bist auch dahin, du heilige IVÜyrtcnlaubc, Wo sich Adam zuerst, auf balsamischen Blumen

ßelagert, Fandv sich fyhlt und mit erstem Fyhlen dem Schöpfer

zulächelt. (Werke \\ p. 435.)

Der von Milton im 8. Buche beschriebene Moment, da Adam auf der ersi geschaffenen Welt erwacht, um sich sieht und Über die Schönheiten dieser Erde in Entzücken gerüi. re^tc Wicland und nach ihm noch 'andere wie Maler Müller zu pociischcn Ergüssen an. Wieland jauchzt in seiner Hymne an die Sonne:

Ja dich wollte der erste der Menschen, der König der

Erde, Als er im Paradies auf einem balsamischen Lager Neugeschaffen sich fand und voll verwundrung

umhersah, Als er dich sah, o Sonne, da wollt er, von ehrfurcht

erhoben,

Schöpfer dich grüßen,

(Werke I-, p. 175.)

Viele idyllische Naturszenen entnimmt Bodmer dem V. P. 'Die Frauen klagen im Noah wie die das Paradies verlassende Eva "^) und beschreiben die schöne Gegend, die sie nicht mehr sehen sollen. Auch son.st versucht er sich In Schilderungen, Wie Adams erstes Erwachen, so mußte die Erzählung Evas, wie sie zuerst diese Welt erblickt und mit Adam, zusammengetroffen, Bewunderer finden. Bod- mer verwendet sie u. a. im zweiten Gesang seiner ge- iallonen Zilla (1755).

Ein bescheidener Dichter, K. W. Müller, übertrug diese

") Vßi; Th. Vetter. I. c. p, 364.

- 43 ~

Stelle (Buch IV, 449 ff.) in seinem !755 erschienenen Ver- such in Q e d i c h t c n :*") Noch denk ich oft an den Tag, als ich, vom SchluiniTicr

erwachet. Das Licht zum erstenmal sah, and unur schattichtcn

Bäumen, Auf weichen Blumen mich fand. Durchürungen von süssem

Erstaunen Fragt' ich mich selbst, wer ich sey. und wie. und wöhcr

ich entstanden. Nah bcy dem Ort, wo ich lag, drans eine rieselnde Oucllc Aus einer Grotte hervor, und wuchs zur liüsslKcn tbnc. Dann stand sie unbewesi still, und rein, wie der lächelnde

Himmel. Voll von Gedanken, die mir noch neu und unbekant waren, Gieng^ ich dann näher, und warf am «;rünen Uier mich

nieder. Ins klare Wasser zu sehn; für mich ein anderer Himmel.

u. s. w. Dieses Bruchsiück, das heute bei allen Aufzahlungen übergangen wird, ist die beste Cberseizungsprobe aus dem V. P., die wir aus jener Zeit besitzen. Bodmcrs Über- tragung war auch in der 3. Aufiage banal geblieben, von andern nicht zu reden.**") Daß K. W. Müller dk^i Stelle

"") Unter dem Titel: Eva an Ad:iin, aus Milions verlöre II emParadiese. Auch sbcecruckl in der B s b 1 i o - Ihck der schönen Wissenschaften und der Ireycn Künste, Leipzig 176!. Scwh&un Bandes iucytc» Stück, p, 316 ff. (bei Anlaß der Bcspred:iinz vor» Zachariä» Übersetzung).

•'■") Bodmers Ü b e r s c i z u n k e n (= No. 4 der V'cticrtchco Bibliographie) erschienen 1732. 1742. l75 4, 1759. 17 69. 1780. Die Äcsperrt gedruckten sind umgearbeitet. In der sucitcn Auflaßc von 1742 bewegt sich Bodmer ctuas ircicr» während er in der 3. eher wieder zur alten AbhanKit:l-;eit \ou der Vorlage zurückkehrt. MiitoniibcrsetzunKcn lagen damals in der Luft

_. 44

wählte, scheint mir dem Geschmack jener Jahre zu ent- sprechen,

Dit paradievSischen Szenen fanden in der Idylle ein Fortleben, In Salomon Geüners Tod Abels kann man bei der Schilderun;? der Schöpfung (l. Qcs„ p. 21 der 2. Aufl.), im 2. Ges. (Erzählung Evas, wie sie das Paradies verlassen) und im dritten Gesang (Adramelech legi sich neben Abels Ohr, wie Satan neben dasjenige Evas) an direkte Beeinflussung durch Milton denken.") Der ganze erste Gesang spielt in einer Laube. Während aber Bod- mer u. a. mit Milton wetteifern wollten, wollte Geßner nur er selbst sein.")

Job. Stry versuchte eine, die er schon am 26. April 1746 an- kündigte (Waniek, Qott.sched ... p. 510). Nikolaus Dietrich Qlsecke (1724 65) übertrug größere ange- druckte Partien (vgl. Poetische Werke, h.sg. v. Carl Christian Q .'i r t n e r , Braunscliweig 1767, Einleitung, p. XVHI f). Von Simon Q r y n ä u s ist der 1. Qs. auf der Zi^cher Stadtbibliothak handschriftlich vorha-iden. Cr ist nicht besser als dei Verfassers jicdrucktes Wiedererobertes Para- dies (Basel 1752), aber nicht wie dieses in Prosa, sondern in Hexametern. In seinem anonymen Versuch In Gedich- ten, Leipzig 1755, übersetzte K, W, Müller Buch VI, 449- 491. C'ic l>estrcl)ungcn, das V. 1^ in ficxarnotcrn zu libertrasen. faiideii ilirc.'i Al)scliliilJ in Friedrich Wilhelm Zaclia- rluos l70()/fM in Allona erschienener Übersetzung. .Wüllcrii Hexameter übertreffen an Wohlklang und Fluß diejenigen Zacha- naes Auch in gereimten Versen wurde eine Übertragung ver sucht von Qottlieb Siegmund Qruner, der schon 1749 handschriftliclie Proben davon vorlegte (vgl. J. BUchtold. Qcschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, F.'-auenfeld 1892, p. 544).

") Vgl. Mur. cker, l. c, p. 181.

'*) Salomon Qcssncr schreibt am 8. Jan. 1763 an V i n c j n jj Bernhard von Tscharner: . . . Indcß war meine Ab- sicht nie mit dem Milton wetteifern, so stolz war ich nie: ühnlichkeit im Sujet, und die gleichen Personen mußten ühn-

-~ 45 -~

In den Werken der spiiieren Idyllendichtcr tönt der einsi so mächtige Einfluß des englisdicn Epikers \v»e ein entfernies Echo nsch.

Zollte das Bodmersche Zeitalter dem V. P. auch bei- nahe uneingeschränkte Anerkennung; s'i brachte es ilnn dennoch ein unvollkojninenes Verständnis entgegen. Bod- mers theoretische Kenntnisse sind seiner praktischen Ur- teilsfähigkeii überlegen. Nachzuweisen, was von Milton in Bodmer und seinen Zeitgenossen irklich lebendig war» hai noch niemand ausführlich versucht.'")

liehe Seen er. hervorbrinKcn, aber ich uoht nicht Mi! Ion, ich v^'üUe nur ich selbst scjn" (M ine i 1 u n sc n aus Brie- fen der Jahre 1748—68 an Vmcen/ licrnhard von T s c h a r n c r , hsv.- v. Richard H a m c ! , Rostock 1881, p. 5ü).

"*') Noch niemand hat scharf zwischen Bödmer, dem Tbvo- r e t i k c r , der fremde Ansichtcü sich mehr oder wcniccr aiiciiinctc. imd B.. dem K r i t i k c r v der seine Thccrien an- weiidcn sollte, unterschieden. Wenn J. Blicht oSd. J. c^ p. 364, /.um Resultat kommt i „in der t^inäich; in das künsiicrischc Verfahren Jcs Dichter ;4 und dessen ideale tiiüukcii stehen die Schweizer , . auf i^lcichci Mühe mit Mosci Mendelssohn und Lcssins':. die hier direkt an jene anknüpfen'» so kann sich dies höchstens auf die theoretische Einsicht beziehen, Bodmer hat eben alles zusammcnsetragen, was sich für Muten ins Feld führen Heß. Wir haben gesehen, daß er nicht einmal in de? Ab« h a n d I ti n K von dem Wunderbaren seine Ar.s'chtcn durch- dachiCi,

Michael Bcrnays hat das übcnricbeue in der Ekhaup- tunü, Bodmer habe Milton seiner politischen )l're;heitsiicb€ wcsen verehrt, nacheewiesen (Schriften.. I!, S5ff^: Dc^ Zürcher Kritiker hatte 1754 in seiner Einleitung zw: 3. Miiiorfibersetiiune, wo von des Dichters politischen Schriften die Rede ist, den eng-

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lischcn Miltonkommcniato:' Newton einfach abgeschrieber.! Friedrich Braivmaier, Geschichte der poeti- schen Theorie und Kritik, I. Teil, Fraucnfeld 1888, hat wie Servaes viele richtige BemerkuiiKen. p. 220 sagt er von Bodmer: „In Shakespeare steckte ihm offenbar zu viel Poesie; er war zu tendenzlos, ohne religiöses wie ohne politi- sches (!) Pathos, ohne das sich Bodmer keine Poesie denken konnte . .". „Ferner kommt bei ihnen (den Schweizern), den Bürgern dos frommen, ehrenfesten Zürich, noch hinzu der strcng- rcligiüsc Charakter". Ich behaupte nun allerdings, dali der strenge i'cügii^se Charakter nicht neben der Begeisterung und rcicheii orL-jinalen Phantasie Bodmer für Milton gewann, sondern bei weitem die Hauptursache der Miltonverchrung war. Auch Braiimaier nimmt den Begriff „Wunderbar" in einem viel zu abstrakten Sinn.

Das Beste über Bodmers Verhäitnis zu Milton sagt Q. d e Reynold in seiner Histoire Littäraire de la Suissc au dixhuitiöme &16cle, seccnd volume: Bodmer et l'Ecole Suisse, Lausanne 1912. Er berück- sichtigt das Naturgefühl in Bodmer und sagt p. 245: „Nous voyons donc clairement l'influence que Milton va exercer. II pousse ä l'idyllisme, ä ccttc conception d'une naturc sauvage, mais agrcable: le Paradis, l'Arcadie, l'üge d'or. II conduit tout droit h ia „patriarcadc", au pathos biblique, au „patois de Chanaan". ä cette vari(5tc „protestantc" du sentimentalisme eher au XVllIc siede. C'cst que Milton a &t& compris imparfaitcmcnt, imitc soilcment, par Ic cöti cxtericur". Allerdings schießt Rey- nold über das Ziel hinaus, wenn er (p. 245/6) fortführt: „En effet, . . . Milton dcfaille toutes les fois que le langage biblique et que le text de !a GenC:se i'cntravent; or, Bodmer et ses amis admiraient par dessus tout, sans le savoir, ces d^failiawccs mcmcs." Der Zürcher Kritiker bewunderte nicht die schwa- chen Punkte im V. P. über alles, sondern sah, ihres di- daktischen Inhults wegen, nicht, wie iinkilt.stlcrisch sie äind. Alles Biblische im Ocdichte fesselte Bodmer; eben auch das Patriarchalische, das aber im V. P. einen g r o (i c n Raum einnimmt und künstlerisch beinahe voll- endet dargestellt Ist. Eben diesen patriarchaU.schcn Ocli^i uliiiut u. ü. die; Nouchi'Jü, die dem V. 1'. nicht, wie R. p. 247 sagt, nur in einen: kleinen Detail gleicht. Man kann clc<;wc;:cn nicht wie R. von Nachahmungen „P&r \s c6tö ext£-

«.. 47 --^

rieur" sprechen. Denn das Pairiarchaiischc im Ocdichtc srlcbic Bodmcr Die Hauptsache^ die mit dem Hang zum Idy-Uschen sehr en« verknüpften didaktischen NeiKunjjcn und die dariil zusammenhünk'ende Vorliebe für das „Wunderbare", bsnlhrt R. nicht. Dagegen glaubt auch er, daß die Auslassun;:cn in der Ktn- leitunK zur 3. Übersetzunc des V, P. über den Repi:bUkancr M. von Bödme r stammen (p. 247/48. vgl. oben).

Zweites Kapitel

Das Zeitalter Lessings

Das Haupiverdienst Bodmers besteht darin, Milton in Deutschland populär gemacht zu haben. Der die erste Miltonbcgeisterun? bedingende Geschmack dauerte noch jahrzehntelang als Unterströmung fort und rief jene Unzahl von geistlichen Dichtungen hervor, die uns als Nach- ahmungen des Messias erscheinen.

Aber schon in den vierziger Jahren vernehmen wir hie und da einen leisen Protest gegen eine blinde Ver- ehrung des britischen Dichters. (Ich rede natürlich nicht von den Qottschediancrn.) Uz schreibt am 29. März 1746 an Gleim: „Herrn Langens Heldenode hat viel ähnlichs mit des seel. Pyra Ode auf das Langische Bibelwerk: dieselbe scheint mir aber nicht Horatzisch zu seyn, soviel poesie sonst darinnen ist. Das Miltonische Wesen (halten Sie mich für keinen Leipziger; ich verehre ihn, Sie wissens)i Miltons besondere Art des Ausdrucks schickt sich vielleicht nicht für die Ode, wenn es nicht sparsam und mit groß'jr Kunst, in gewissen Materien angewandt wird." 0 Und am 26. Mai 1747 an denselben über Qötz: „. . . Er hat mir auch eine Ode auf seines Bruders Tod mitgeschicket, welche

0 B.-icfwechsäl ^wibchen Oleim unü Uz (Blbiioihek des Literarischen Vereins in Stuttßart, Bd. 218), p. 107.

49

schöne Bilder hat. Sic würde mir noch besser ücfallcn, wenn er mehr den Alten» als der Pi'raischen Ode über Langens BibeKverk oder auch dem Mihon nachjjcahniet hätte. Ich kariTi unmöglich verdaueu. daß ein !!n,:el vom Himmel herab kommen und mit einem Ciherischen L^pccr das Band zwischen Leib und S<;e!c auflösen muü; -ind der- gleichen mehr. Wann Milton mit einem durch die Alten befestigten Geschmack gelesen wisd, so ist er vollkommen fähig, einen mit den erhabensten Bildern und mit einem göttlichen Feuer zu erfüllen: widrigcr.falles. g'auhe ich. kann man zu dem unnatürlichsten Dichter durch ihn ^verdcn/")

In diesem Ausspruch finden wir eine Voralmun;? der Ansicht, daß das Antik-heidnische den Hauptwert des Miltonschen Gedichtes ausmacht und nicht das- Sera« phische.

Haller hatte Klopstock nie über Milton scizen 'w.oücn.') Nach der ersten Schwärmerei, mic der ücr .Messias be- grüßt worden, zogen sich mehrere von Bodmers Vasallen zurück. J. E. Schlegel rebellierte gegen Bodmer. daB üicjcr in i e d e m Gedichte das sogfinannte Wunderbare wollte, auch wo es nicht notwendig war.') Als der Zürcher Dichter seine Patriarchaden losiieü, da verließ Um selbst der einsi so eifrige Meier.') Ja, sogar Bodmcr machte, wie wir sahen, gegen die Überschätzung des Mes-^ Sias Front.

Ra.nler kehrte unter dem Einfiuü Lessings zur Antike zurück.") Uz mißt Milton mit dem Ma'isiab der Friinzoscn

^) ebd,. p. 166.

^) Xgl L. M i r z e i . A l b r. v. tia\Hf9 Gedichte. Praucnield 1882. p. 30? i.

*) \'k1. oben. p. 24, Anni. 12. Über Sch.'s freiere Au'faisung des Wunderbaren vgl. H. Bicber, J, A. SchicecU poeil- sche Theorie. Berlin 1912 (PaK'isira CXIV). % 25 ff. °) Vgl. Bergmann, p. 201, Milion blieb er treu "■) Vgl. M u n c k c r , 1. c., p. !47.

Piezo, Milion 4

~. 50 -

und beklagt den Mange! der antiken edlen RInfalt/) Aber er erkenne der Engländer ..gedankenreiche und körnichtc Art zu dichten" '') an und ahmt Milton in ;;inem Gedichte nach.') Uz hat sich dem Eindrucke (Miltons) nicht ent- ziehen können, aber „durch die Weihrauchwolken, die aus hundert Opferschalen zu Milton empordampfen, dringt er hindurch zur ewigen Schönheit der antiken Dichter".") Diese Schönheit besteht für ihn in der Natürlichkeit. Diu Enk'länder haben für ihn „allzu weni^ Natur und gar zu vi-jl Kunsi*'.*^) Üzens Geist war zu nüchtern, um MlUons Schwung folgen zu können. Er bedurfte verständlicherer Poesie Darum kamen er und Wieland hlntdrcinander.

Als aber dieser die ätherischen Sphären verließv er- wachte in ihm klarer als im kurzsichtigen Uz die Einsicht, worin Miltons Größe besteht. Verständnisvoll vergleicht er ihn in einem Öriefe vom 24. April 1758 mii Rubens.^") Am 4. Nov. 1769 empfiehlt er der Laroche, welche einen homme diable darstellen will, die Lektüre Miltons und Klopsiocks, „pour Vous lamiliariser un peu avec les caract^res de leurs diables".") Die Seraphim des englischen Dichters werden allerdings nur noch mit Ironie erwähnt, aber seine Ach-

') Vijl. Außust Sauer, Einleitung zu den Sämtlicher, poetischen Werken von J. P. Uz. D. L. D. 33/38 p. XX!V/V,

^) D, L, D. 33/38, p. .368.

'■*) D. L. D. 33/.38, p. 375 Uz macht In einer poetischen Epistel von einer Stelle des 8. Buches Gebrauch, geht also nicht auf die Lieblinscsstclien der Patriarchadendichter ein.

^0) 1. c. p. XXVIII.

") I. c, p. XXIV.

") Ausgewühlte Briefe von C. M. Wlcland. ... 1. Bd. p. 273,

'*) Briefe an Sophie von La Roche, hsg. v. Tranz Hörn, Berlin 1820, p. 102.

tüWK vor Mllton bewahrte Wicland such in sciiiön leizten Jahrcr.'*)

Mit der Ei5iführun>j dos Hexamctcri> halte Kiopslock selbst der Reaktion RCgcn die Schwürmcrcä den \Vtj{ 7.ür Antike i^jcwiL'Scn. Die in den iüntV.i^c. Jahren iol^cndcn Versuche. Müton in ein Kricchisch-deutschcs Gewand zu kleiden, erachcinen uns (formell weniKstcns) als Vorboten einer realistischeren Richtung.

J. J. Zachariac lalito diese imeihschen BesireLiinK-ien zusammen. Er hatte Milion imtner j;^i:ebtv ühnc gerade 2u eiert Schwärmern zu Kehörcr., 1756 hatte er am Kingang seiner Jahreszeiten gesungen:

Hier iiast du auch oftmals, o Mu.<%c. Deinen Thomson, die andre Natur, aufmerksam studieret; Popens Lieder gehöru und Milion^ GcJänge bewundert,

1757 ZOK er es vor zu sa^jen (Text B), Oder der Satane schwarze VersammlunR in Miiions Ge- sänge n Vor dir gesehn/' *')

'*) Vgl. in KIciia und Sinibtld (1783), V. 2651:

Ein stolzer AuKensirah! auf ihn,

(ICin Strahl, wie Mütons Scrapliii: auf die cir Porten EnccI schicken) ... Vgl. C. M. Wiclands Sämmt liehe Werke. 21. Bd.. Leipzig 1796. p. .?M. Im Neuen Amadiä (!771. X.. 13) spielt Wieland auf c'ie Wirkung von rlvas Schönheil auf iicn Teufel an (Werke, 4. Bd. Lcipzic 1794. p. 232), in den Grazien (1769, Viertes Buch) auf die ScliilderunK der waliren 8;cistiecr Liebe im V. P. (Werke 10. Band. Leipziyi 1795. p. 63.)

'^) Vjrl. Otto Hermann Kirch georK. Die dich- terische Kniwickhjnß J. P, W. 7.%c\\s tiie%, (ircifs- waldcr Diss. 19()4, p. 16 f. wo die drei Fassunzen der Jahres» zelten miteinander verglichen sind. 1767 heiüt es: Ode; in .Viltons Oesang den blühenden Garten von Eden / Mit dem Ücb'ichstcn Paar, das je ein Dichter erschaffen, / Vor dir geschn.

4"

62

1760/63 kam seine Hexamcterübersetziing heraus.") "Mit Reclit tadelte die Bibliothelc der schönen Wissenschaften und ücr frcyen Künste (VI. 2. (1761), p. 311—323) die holprigen Verse und zog Müllers Versuch vor. Nicolai ließ seine scharfe Verurteilung in den L i t e r a t u r b r l e f e n (p. 184 ff.) vernehmen. Di«! Art, wie er Miitons kernige, konzise Sprache mit Zacha- riaes Verwüsserun? kontrastiert, läßt auf eine einsichtigere Zeit hoffen.

Milton re;jie Zachariae zu Nachahmungen an. 1760 schreibt er an Zediiiz: „Als ich mich vor einigen Jahren mit der Übersetzung der ersten Gesänge des verlohrnen Paradieses beschäftigte, fühlte ich meine I:inbildung.S' kraft von dem großen Genie Miitons so sehr erhitzt, und angefeuert, daß ich der Versuchung nicht widerstehen konnte, mich einmal in das Feld der ernsthaften epischen Poesie zu wagen, und besonders eine Materie auszuarbeiten, die bloß Erdichtung wäre*'.^') So schuf er Die Schöpfung der Hölle und (nacli Klopstock) Die Unterwerfung ,? e f a 1 1 c n e i' Engel (1760).

Zachariäb Einsich: erhebt sich nicht übc^- das Niveau der Zeit Mit den damals gang und gäbe gewordenen Mit- teln verteidigt e; (meist in AnleJmung an Newton) in den Anmcrkjrngen seiner Übersetzung Mllton i^c^cn die alt?-n Vorwurfe ae; Oottschcdianci Charakteristisch für die sich anbahnende Geschmacksänderung ist die Wahl des Stoffes in seinen Nachbildungen. Die erste der genannten Dichtun-

^^) Das V c r 1 0 li r r. 0 P a r a d i 3 s , aus dem ri n g I i - sehen J 0 1: d n ji Miitons in R c i m f r 2 y o Verse übers c- tut, und \nlt ölgncn sowohl als andrer Anmerkungen begleitet von Friedrich Wil- helm Zachariae 2 Teile, Altona 1760. 1763.

^*) Der Schöpfung: der Hölle vorwcdruckt. Mir lierft die itwoltd! vjr!)csKcrtc Auflaub (Altcüburk 1767) vcr<

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gen zeigt Miltons Einfluß bis in Einzelheiten.'*; Sie führt uns in diu H(">11ü. Zachariae reizte i.'ji Satan vorzuführen, von dem Gott sagt:

„nie frcclijn Ocdankea sine njui'.i üiehr Gedanken Eines Engels; er hcl>et vor Siob die eiserne Siirn auf. Trotzt auf seine feurigen Wagen, zui Waffen und Sciiildc Seiner Myriaden, und will selbst üoti s<;yn/' •')

Thomas Abbt schrieb darüber am 3. April IVol an Kriegsrat von Seiner: „^ . . i die Schopf ung d er Hölle aber mag ich nicht lesen, weil Zachariae s^-lbsi sagt, daß Sic die Gehurt eines von Miltonischcn Bildern crhit-zten Gehirnes sey. Man könnte von dem Verfasser eigentlich sagen, daß er von Teufeln begeistert worden/"*') Auch nachdem man den Gottschedianismus überwunden hatte, wollte man sich mit Teufeln nicht abgeben.

Die alte moralische Auffassungäwcisc Wirkte noch nach. Eine neuere realistischere brach sich erst Bahn. Gott- scheds Berufung auf die klassische Tradition machte all- mählich einer Rückkehr zur gricchisdicn Antike Platz, die, wie Uz, nicht allen mit einer Anerkenv.ung Miltons verein- bar schien.

So finden wir in den sechziger Jahrcu •.ij' D-ifchem- andei von Urleilen über den esüglls^ihen Dichter.

Büdmer hatte es noch nicht aufgegeben, für Muten ein- zutreten. !n den F r e y m ü t h 5$? c n N ?. c h r ; c h t e n bc-

^^) Vßl. Jos sie Croii&ri'J. /'.jchafiae ixni fj i ',. iztt\i\\&h Models, II. Influcncc oi Müton, Thomsor, an.i YüUii« (A r c li i V für das. t^ t u d i un der n « k e r c m j>prawhen und Litcratiircp 19a«. LXll. Jahrcani:. CXX. Bd., der neuen Serie XX. Bd., p. 391 ff). Auch in scir.cn Ctirte:^ führt 2. eine I3csclireibunjf der Hülle und C'nc 'Jnt.rredmg «c- iallcnei Er.Kcl ein.

' •') p. 'J der zwcitoi; Auflage ucr S c h 0 p f u ß « ü « r Hölle.

-'") T l( 0 m a s A h b t s v c r ir i s c h » t S c h r i f t e n » Sccuster Teil, licriln und Stettin 1781 M

54 -

irrüßtc er Zachariacs Übersetzung mit kritikloser Freude und im Archiv der schwei&erischcn Kritik (1768) sammelte er seine ehemaligen Streitschriften, welche „In der Morgenröthc der Äcläutcrten Crltick in Deutsch- land" entstanden (p. 326), und fügte (p. 339) eine Rettung Miltons gegen den jüngeren Racine bei. Die Qöttinger Anzeigen von Gelehrten S;ichen 1760 (7. Juli 81. Stück) priesen die Übersetzung Zachariacs als ein „vor- treffliche.«, erhabenes, und den Leser mit sich fortreißendes Werk".

Weithin gewann sich Milton neue Freunde. Auch nach Österreich drang sein Name. 1762 wurde das V. P. für Michael Denis ''') ein zweites Lesebuch, für das er noch am Ende des Jahrhunderts eintrat; „ich gestehe," sagt er In den Lesefrüchte Hv Zweyter Theil, Wien 1797, p. 36, „daß einer meiner Hauptantriebe, die englische Sprache zu lernen, war* das verlorne Paradies in der Quelle zu studieren.'*

Milton, der Dichter des Wunderbaren kat* exochen, diente 1763 dem jungen Johann Georg Jacobi in seiner Dissertation Vindiciae Torquati Tassi neben Vir- gil und Klopstock als Autorität.

Das V. P. harmonierte damals mli Jung Stillings Seele.»-')

Daß •:£ auch in den sechziger Jahren solche gab, die Klopstock über Milton stelltenv wissen wir.

-' ) V}:1. Michael Denis Literarischer Nach- laß, hss:> V. Fried r. Freyherrn von Reize r, Wien MDCCCI, p. 58, ferner P. v. H o f m a n n - W e 1 ! e n h o i f , Michael Denis, Ein BeitraK zur Deutsch-österreichischen Literatur;;eschichte liss XVIII. Jahrhunderts, Innsbruck 18SU p. 35.

") Johann {■[ ein rieh Jung's, genannt Stil- ling, Lebensgeschichte (Der sümmtlichen Schriften w;rster Band. Stuttgart 1835). p. 241.

55 ^

Wie allRcmcin üblich die nioraiis^he lieuncilun^^sweis*:? noch war, 7X'\'j;t eine ÄuUcrunij J. K;!nis aus Q>:Yn Jahre 1 764. h^ seinen Bcobachtunjren nber das Qeföhl des Schönen und Erhabenen führt er Milton an.") Die Schilderung des höllischen Reiches von Milton errege Wohl;,'eiallen, aber mit Grausen, „Von den Werken des Witzes und des feinen Gefühls fallen die epischen Gedichte des V i r g il s und Klopstocks ins Edle, Homers und M i 1 1 0 n h ins Abcntcucrüchc' Das Abenteuerliche ist nach Kant die Kiijenschaft des Schrccklich-ürhibenen, „wenn sie Ranz unnatürlich v/ird/' VirgU und Klopstodk sind demnach, schließt J. W. Lc)ebcil richti;:, nach Kant ».natürlicher''. Natürlichkeit kann also nur auf dem Edlen in ihnen, d. h. auf dem sittlichen Moment beruhen. ..Diesem zu Liebe übersieht Kant die Unbestimmtheit der Gesialten, die doch der Natürlichkeit sehr im Wc5ic steht, verzeiht der tiefe Denker die von Les^inj: xcrügte Urklarhcii der Ge- danken,""*)

Lessintrs bekannte Kritik des Messias hav keine ahn» üchc Anwendung; auf Milton zur folge .■::ehabt, Wohl xins man auf die Alten zurück; aber die meisten standen noch zu sehr unter dem Eindrucke des schweszerischcn Milton- enthusiasmus. als daü sie im V. P. stwas dem antiken Epos Verwandtes s'esncht hülten.

mDIc Odyssee hat mir ein jian^. hcues Licht über die epische Poesie .t^eKcben,** schreibt Hamcnn. ,.Bt>dmer und Klopstock haben beide den liojner ,4e\vili studirt; sie h;iben ihn aber nicht anders als im Kleinen, im Detail verstanden

'^) Vgl. Kants Werke, ed. Rosenkranz, Ltipzu l*v?S, Bd. 4, p. -100 u. 409.

") J, W. Lochen, DU Cntwickciunc der dcut» sehen Poesie von Klcpstocks erstem Auf- treten bis zu Qocthes Tode. I. Band. Braunichucijs; 1R56, p. 222 (Qcschichtc der Beurteilung KlopstocVv p. ?I6— ?72>,

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nachzuahmen.'* -') Auch von Milton scheint er nicht besser zu denken. Kr liest das wiedercrewonncne Paradies und äußert sich dabei abschätzig über „Addison's Trompete vom verlorenen Paradiese" -") (Brief vom 21. März 1760 an Lindner). Am 28. August 1761 schreibt er an denselben: „Milton habe ich gelesen in fönte. In Bodmer's Übersetzung muß ich es g 1 a u b e n v daß es ein herrlich Gedicht war .... Klopstock scheint mir immer seinen Geschmack verdorben zu haben in dieser Quelle. In seiner G c i s t e r l e h r c ist Milton offenbar sein Original gewesen, und dieser hat die Hexenlegcnden zu den Zciicn dcr' Irrenden Ritter und des .Aberglaubens meistcrhafi; /ai brauchen gewußt . . .Homer bleibt immer dor einzige Hcldcndichter für meinen Geschmack." Denn bei ihm fließe die Kunst zu detaillieren aus der Vollkom- menheit der (}rund!agc, „wie eine gesunde Wurzel es dem kleinsten Sprößling an Saft und Nahrung nicht fehlen läßt zu grünen und zu blühen."") Nur in Details gefällt Ha- mann offenbar Milton, Und die Einzelheiten stimmen mit dem Ganzen nicht überein. Las Hamann damals das V. P. mit dein jungen Herder der „meisterhaft gebrauchten Hexenlegenden" wegen? Sicher sagten ihm, wie später Herder, Homer und das A. T. mehr.

Noch weniger schien für Winckelmann der griechische Geschmack mit einer Anerkennung Miltons vereinbar. In seiner Geschichte der Kunst des Alierthums, l ThelK Dresden 1764, I. Capitcl, Von dem Ur- sprünge und Anfange der Kunst (p. 28), sagt er: „Das vorzügliche Talent der Griechen zur Kunst zeiget sich

*»') J 0 h. Q. ri a rn a n n s Schriften, hsg. v. Fr. Roth, Berlin 1821—1843. Bd. III, p. 6.

^') ebd. III, p. 64.

^^) ebd.. p. lOSi. Vgl. R. Unger, Hamann . . ., Jena 1911, p. 218, 402. .^uch Unger kann mit dieser Stelle nicht viel an- fansen. Für sonstiges vgl. sein Register.

~ 57 -^■-

noch itzo in dem «rossen fasi alUcmeintn Tak-nte der Men- schen in den wärmsten Ländern von Italien; und in dieser Fähigkeit herrschet die Kinbiidung:. so wie bey den denken- den Brittcn die Vernunft über die Einbüdrn^. £s hat jemand nicht ohne Grund gesagt, daß die Dichter jenseits der Ge- bürge (\V, ist in Rom) durch Bilder reden, aber v:i:i\isi Bil- der geben; man muß auch gestehen, daß die ersiaunendeii iheils schrecklichen Bilder, in welcher. Miltons Grjße mit bestehet, kein Vorwurf eines edlen Pinsels, scndcru Kanz und gar ungeschickt zur Malerey sincu Die Miltonischcn Beschreibungen sind, die einzige Liebs im Paradiese aus- genommen, wie scliön gemalte Gorgosien. die sich ähniidi und gleich fürchterlich sind. Bilder vieler andern Dichiei sind dem Gehöre groß, und klein dem Verstände. Im Homere aber ist alles gcmalei. und zur Malerey erdichtet und geschaffen.*' Aus Winckclmann surach .mehr Tradi- tion als eigene Betrachtung des Kunstwerkes. Denn div; Gestalten der Miltonschen Teufel sind immer noch gött- lich schön. Ohne nachzuprüfen, hat Wijickelmann sich vom Namen Teufel verleiten lassen, sich etwas darunter vorzu- stellen, woran der Dichter gar nicht dachte: Schon gemalte Gorgonen. Unter üöllenbewohnern kann sich auch VVinckcl- mann im Hinklangc mit seiner Zeit nichts anderes denken. 1764 beanstandete Klotz in seinen Epistolac Ho- m e r i c a e nach bekannten Mtistcrn die Würde des V. P. und die Einfügung der griechischen Mytliologic in dieses. Aber schon reifte Lessing seine Ideen vom Epos aus. die der erst in Ansätzen vorhandenen reaüstischcn Richtuiu zum Durchbruch verhelfen sollten.

n.

Erst als Milton nicht mehr das einzige Gestirn am poetischen Himmel war, konnte die Erkenntnis desser. was in ihm wirklich künstlerisch ist, Fo» tsciiriuc machen. Eine kritischere Betrachtung mußte sclni wahren Schönheiten

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um so mehr hervortreten lassen. Allerdings las: dann die Gefahr nahe, daß das Interesse, das anderen Werken cnt- ßeKcnjjebracht wurde, das V. P. vergessen ließ.''*') Das ist bei Lcssing und seinem Kreise noch nicht der FalL

Friedrich Nicolai begeisterte sich schon früh für Mii- ton.'") 1753 verteidigte er ihn in seiner Untersuchung, ob Milton sein V. P. aus neueren lateini- schen Schriftstellern ausgescli rieben habe, gegen Lauders Verleumdungen. In seinen Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wis- senschaften in Deutschland (1755) bewies er, daß er Milton nicht mit Bodmer verwechselte.^)

Um Lessing tritt eine neue Schule auf. immer spricht Sic mit Achtung von Milton "') und weiß ihn von seinen

") So beKeiscerten sich viele für Milton, um sich dann anderen Poeten zuzuwenden, wie z. B. J o h. Fr. von C r o - ncRk (vrI. Walter Qensel, Joh. Fr. v. Cr., Sein Leben und .seine Schriften, Leipz. Diss. 1894, p. 33), oder die Karschin. der Sulzcr (wie er am 24. Mlirz '61 an Bodmer schreibt, Briefe vornehmer und edler Teut* sehen an Bodmer, p. 232/3) u. a. das V. P. zu lesen gab, das sie mit „heiühunKriKcr BcKicrde" las.

"*! VkI. Friedrich Nicolais Leben und litera- rischer Nachlaß, hsg. von L. F. Q. Q o e c k i n c , Ber- lin 1820, p. n (über meine z c 1 c h r t c B 1 1 d u n k) u. AltenkrU>;cr, Fried r. Nicolais Jueendschriften, Berlin. Diss. 1899, p. 11.

•■'-°) B e r 1 i n e r N c u d r u c k e , 3. Serie, Bd'. 11 (Berlin 1894), p. 55/6. 125.

■'**)Z.B. Bibliothekderschönen Wissen schatten und der { r e y e n Künste (1759 ffV Mendelssohn kriti- siert an Basedows „Lehrbuch der WohlrcJcnheit" das Fehlen Mil- tons (I. 1. Si(ick) und tritt in seinen Betrachtungen über die Vcrblnduniten der schünen Künste und Wissenschaften (1. 2. Stück) für die Allegorie ein und führt MiltonK Sünde und Tod an.

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Übersetzern zu irciipcn."-) Indem Lessin« in den :5 r i c f e n d 5 1 neueste L i 1 1 e r a i u r betreffend (C3. u. ! 4?'. Brief) das Unkünstlcnschc von seiaphiinhaiien Charakteren nachweist, charakterisiert er den neuen Slandpinikt,

176ö erschien der Laokoori. Das Bruchstiick. wie es damals vor das Publikum trat, bezieht sich vor allem auf Homer, aber auch Milton wird hie und da >.%'nannt. Im 14. Kapitel, wo Lessing den Ausspruch des Grafen Cay- lus, die Brauchbarkeit für den Maler sei 6Qr ProlMerstcin des Dichters, widerlegt, führt er Mihon neben Homer als Beispiel anr

„Pern sey es, diesem Einfalle, auch nur durch unser Siil! schweigen, das Ansehen einer Rejiel gewinnen zu lalkn. Milton würde als das erste unschuldige Opfer uer> seihen fallen. Denn es scheinet wirklich: dcQ das verächt- liche Urthcil. welches Caj'lus über ihn spricht, nicht sowohl NationalKcschmack, als eine FoIrc seiner vermeinten RckcI gewesen. Der Verlust dos Gesichts, saRt er. majj wohl die größte Ähnlichkeit seyn. die Milton mit dem Homer gehabt hai. Freylich kann Milton keine Gallerieen füllen. Aber müßte, solange ich das leibliche Auge hatte, die Sphäre deßelben auch die Sph.'irc meines Innern Auges seyn. so würde ich, um von dieser Einschränkung irey zu werden, einen großen Werth auf den Vcrl'jst des erstem legen

..Das verlorne Paradies ist darum nicht weniger die erste Epopee nach dem Homer, v/cil es wenig Gemflhldc liefert; als die Leidensgeschichte Christi deswegen ein Poem ist. weil man kaum den Kopf einer Kade! in sie setzen V.-inn. ohne auf eins Stelle zu treffen, die nicht eine Menge der größten Artisten beschäftige» hütte. Die EvangcSister er> zchlen das Factum mit alier möglichen trockenen Einfalt, und der Artlsi nutzet die mannigfaltigen Thuile deßelben,

-'"'1 In Nicolais Kritik der Übriseuunü; Zstchanit-t.

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ohne daü sie ihrer Scits den ;<eringsten Funken von mahle- rischcm Genie dabcy sezeiRi haben. Es gicbt mahlbare und unmahlbarc Fucta, und der Qcschlchtschrelbcr Kann dlß mahibarsicn ebenso unmahlerisch erzehlen, als der Dichter die unmahlbarstcn mahlcrisch darzujitellen ver- mögend ist.""" )

Der Gedanke, daß ein einziger Zug im Dichtwerk einen Gegenstand deutlich macht, v/ird in den Entwürfen zum L a 0 k 0 0 n oft erörtert. So Fragment A.j, p. 372, Kap. XI: „Folgli-:!! ist es auch kein Einwurf wider das Mahlerische eines Dichters, daß seine Wesen lauter un- körperliclie ,'^'eistige Wesen sind, und Milton ist seinen geistigen Wesen ungeachtet einer der größten Mahler nach dem Home r,"

Dieser Entwurf zirkulierte im Freundeskreis, und Moses Mendelssohn machte eine Anmerkung: „Gut! Aber der Dichter isi desto vollkommener, je bestimmter seine Bilder sind, je leichter es der Inagination wird, die aus- gelasscncu Züge hinzu zu denken, und sich von den erdich- teten Wesen nette und ausführliche: Begriffe zu machen. Homer und Virgil hiibcn sich nur wenige solche Bilder er- laubt, die sich der Imagination niclit ausführlich darstellen. Aber alle ordichtetc Wesen des MiltDn sind von dieser Beschaffenheit. Die Gewalt, die wir anwenden, sie uns Jn ihrer Vollständigkeit vorzustellen, scheint unsere Ein- bildunj^'skraft zu ermüden. Ihr erster Anblick frappirt un- gemein, und erregt eine Art von Erstaunen, die dem Er- habenen eigen ist. Aber ihre Wirkung ist so anhaltend nicht; denn sobald wir uns erholen, und mit unserer Ein- bildungskraft geschäftig zu iseyn anfangen, sc fühlen wir das Unvermögen sie auszubilden nur sar zu deutlich, und

") L e s s 1 n ii 3 L a o k o o n , herausgb. und erläutere von Hugo Bliinrner, Zweite verbesserte und vermehrte Auf- lage. Berlin 1S80, p. 247.

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sie fangen an unangenehm ui werden. Milion wird das erste A^al mehr frappiren, Hemer aber dcsio öfter jrclcscn wcrdun." "*) (Blümner p. 372/3.)

Lessing licii sich durch Mendelssohns AnnierkunR an- rejicn. Fragment A«» Zweyter Abschnitt, XIV. (p. 395) be- merkt er: „Homer hat nur wenige Miltonsche Bilder. Sic frappircn, aber sie attachiren nicht. Und ebtn deswegen bleibt Homer der größte Mahler. Er hat sich jedes Bild ganz und nett gedacht.*'

Aber überzeugen ließ qc sich von Menuelssoh.is Standpunkt nicht. Auch im ^wöiten Teil seines L a 0 k ü 0 n in welchem Milton eine größere Rolle zugedacht war, v;ollte er bei i;ciuer These blcibiia und kam (Aj. XXXVII/fi. p. 401) zum Schluß: „Folg- lich hegt es nicht an dem vorEugiichen Qenie des Homers, daß bcy ihm alles xu mahlen ist; sondern lediglich an der Wahl der Materie. Beweise hiervon. Erste? Beweis» ai3S verschiedenen linsichtbaren

■'*) Noch einmal zu A2 Xlü (p. <>'62ii). . . Hunicf hai du ncttcü BlSd. ein ausführliches Gemälde in Gedanken. . /' Vgl auch Uebcr die MyiholojiJc /AJltcn-. dcuts.-be Bibliothek, Bd. 7, Suick I. 1768, - Q c s a m m. S : h r 1 f t c n. hrs. von Prof. Dr. Q. B. Mendelssohn, Lcipzis 1^44, IV, 2., p. MO) V. . . wir lieben attische Feinheit, Richliskcii in der AnlaKC Net- tigkeit in den Bildern, Grazie im Ausdruck; ar.d es ij.t nicht Jedermanns Sache, diese £igcnsc!;af;cn mit dem Kiih'?«n, Er- habenen und Prächtigen der asi;itischcn D'ch:kun-t so ver- binden, daß der Contrast nicht beleidige , . .*'

1767 hatte er im Anschluß ai: Herders F - a £ m e n '. c sich in der Vcrui'teilung der orientalischen Dici;tr.'n.!:sart anRCichlcüen (Gesa mm. Schriften I\', !., p. j^S)r „Das Bild der cricntiU- sehen Litteratur, das der Verfasser. . . cntwjrlt, hai viele treffende Züge*'. Herder hatte gegen üic Nachahmung der orienta- lischen Dichter protestiert, da wir eine bcccnsundigt Poesie hervorbrirjftn müßten. Me.idc!5:tohn mcini nun, c«r.ice Züuc, ^^■ie „Enge! des Todes", „Thron Qottijs"v körnicr beibehalten werden

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OcKunätündcn« wulchc Homer ubun so uiimuhlerisch be- handelt hai< als Miltor, z. E. die Zwietracht etc. Zwey- t e r Beweis; aus den sichtbaren Qejcenständen, welche Miltoii vortrefflich behandelt hat. Die Liebe im Paradiese. Die Klnfi'ilti^keit und Armuth der Mahler über dieses Subjcct. Der irctrenseitige Reichthum des Milton .... Stürk'j des Milton in successiven Qemühlden. Exempel da- von aus allen Büchern des verlornen Paradieses'*.")

") C9 Kibi Lessine eine Liste der ücmülildc bcytn MiltOii aililmiior, p. 441/2).

„I. Voi'. projrrcssivisclicn ücm.'llilJcii, von .wclchcii uns Homer so vortreffliche Bcyspicle «icbt, finden sich auch sehr schöne beym Miltoa. .Als a) das trheben des Satans aus dem brennenden Plule. P. L.

B. 1. V. 221—228 (lies —229, corr. 31.). ß) Dit erste Cröffnunji der Höüenpfortcn durch die Sünde.

B. II V. 871- S8.3. ;-) DiC nnistehiinii der Welt. B. ill. v. 708—718. h Dar Sprung dcb Satans in das Paradies. B. IV. v. 181—183. g) Der FluK des Raphac's zur Erde. B. V. v. 246—277. 0 Der erste Aufbruch des himmlischen Heeres wieder die

rebellischen ünKel. B. VI. v. 56—78. 7)) Die Annähijrun« der Schlange zur Eva. IX. 509. (Richtiger

494if, corr. Bl.). d) Die Erbauung der Brücke von der Hölle zur Erde, von der

Sünde und dem Tode. X. 285. i) Satans Zuriickkunft zur Hölle und unsichtbare Besteigung

seines Trohncs. X. 414.

x) Die Verwandlung des Saians in eine Schlange. X. 510.

„Auch die Schönheit der Form hat Milton, nach des Homers

Manier, nicht sowohl nach ihren Bcstandthcilen, als nach ihrer

Wirkunr: geschildert. .Man sehe die Stelle von der Wirkung,

welche die Schönheit der Eva auf den Satan selbst hat. Book

IX, 455—466."

Auch an wirklich malbaren Gemälden sei Milton reicher als Caylus und V/lnckelmann glaubten. Richardson, der sie aus- zeichnen wollen, sei in ihrer Wahl oft unglücklich geweseti, da z. B. ein Cherubin unmahlerisch sei.

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McndclfSühn urteilte wie virile seiner Zeit. Nach ihm sollten unsichtbare Personen gar nicht in die Dichtunn' ein- geführt werden. Lessinij: sieht ein. dali viele Mütonsche Bilder nicht haften bleiben, iiber er macht Jem iüchtcr dar- aus keinen Vorwurf. Und auch dem Kunstwerk wirft er des* wegen nichts vor.

Mendelssohn urteile über .Miiion und Klopstock gleich.'") Lessing, der diesen schon früher angej:riffcn, er* kannte jenem eine größere Plastik zu Und zwar eine Plastik, die dem unsichtbaren Wesen der Hngel nicht wider- sprach. Mendelssohn, de»' nichj tntmal v/ollte. daß man bildlich einem Schwerte sage: „kehre in die Scheide zurück! raste allda!'*.") war mehr P!iilo>^oph als Dichter, ^nch mochte ihn. ohne daß er sich darüber klar war. der im fipos herrschende Widerspruch zwischen dem übersinnlichen und handelnden Wesen der £ngel stören.

War Lessing diese Antinomie gewahr worden?

In den bislier angeführten Fragmenten kam es ihm dar- auf an, die Möglichkeit der poetischen Harsullung des Un- sichtbaren zu beweisen. Aber unsichtbar, geistig ist noch nicht übersinnlich. Scharfsinnig hai Lejsing zwischen dem leiblichen und dem inneren Auge unterschieden. In der Dichtkunst handle es sich um Charakteristik. Da die Poesie Handlungen male, so .seien diese um so vollkomme- ner, je zahlreichere, Je verscMcdcnerc wider einander arbei- tende Triebfedern darin wirksam seien.

„Der vollkommene moralische Charakter kann i'ahcr höchstens nur eine zweyte Rolle !n diesen Handlungen spielen; so daß, wenn ihn der Dichter ung.'ücklic?u'r Weise auch zur ersten bestimmt hau der .^c:hlh.?mere Charakter

") B f a 1 1 jn a i e r , 1. c. Zweite*' Tcii. p. j2i. s:he;ru .Men- delssohn alles I^ccht zusprechen zu wollen "^l VkI. ed. Blümner, p. iJH.

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welcher mehr Aniheil an der Handlung nimt, als dem vollkonui'inen seine Seelenruhe and festen Grundsätze zu nehmen erlauben, ihn allezeit ausstechen wird. Daher der Vorwurf, den man dem M 11 1 o n gemacht hat. daß der Teufel sein Held sey. Und das kömmt nicht daher^ weil er den Teufel zu ktoD, zu mächtig, zu verwegen geschildert; der Fehler liegt tiefer. Es kömmi daher, weil der Allmäch- tige die Anstrengung nicht braucht, die der Teufel zur Er- reichung seiner Absicht anwenden muß, und er mitten unter den gewaltigsten Bewegungen und Anstalten seines Fein- des ruhig bleibet, welche Ruhe zwar seiner Hoheit gemäfi aber keineswegs pociisch ist." (An IX, p. 370/1.)

Das von Lessing gewählte Beispiel ist nicht günstig» denn wie der Kritiker selbst andeutet, haben wir hier nicht nur einen moralisch vollkommenen Charakter, sondern einen allmächtigen, dor die Anstrengungen nicht braucht. Hier war eine Gelegenheit, bei der Lcsslng auf den Onindfehlcr im Epos hätte aufmerksam werden können. f)aB er nicht darauf einging, hat vielkicht seinen Grund dariiiv daß er den Ort nicht für passend hielt, Oder miichtc c: sich keine Geuanken darüber?

Eine zv/eite Stelle könnte dazu führen, diese Frage zu verneinen, Ein eigenes Kapitel sollte in der Fortsetzung den „n 0 1 h wendigen Fehler n" gewidmet werden (Di, p, 454/5). „Ich nenne notwendige Fehler solche, oluiü welche vorzügliche Schönheiten nicht seyn würden; denen man nicht anders ils mit Verlust dieser Schönheiten abhel- fen kann" (p, 454).

Bei Milton ist z. ß. Adarna unnatürliche Sprachkonntnls dn>iu zn rccliiien.

„Desgleichen geliörcn seine theologischen Fehler hier- her: oder dasjenigo, was mit den genauem Begriffen, die wir uns von dem Qehcimnlße der Religion zu machen haben, zu streiten scheinet, ohne welches er aber das in

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keiner uns sinnlich zu machenden Zclu'üUc hüitc ^rzchlen können, was vor der Zeit geschähe Z. K. wenn er den All- mächtigen (B. V. 604) ") zu seinen Enj;e!n sagen läßt This day I havc bcj;:ot whoin I declarc My only soii, and on this lioly hül Hirn havc anointed, whom ye nou behold At niy right hand; your head ! him appoint, „Heute mag hier immer heißen von Ewigkeit; Gott hatte den Sohn von CwiRkcit xezcuKt: sai- ancr dieser Sohn war doch nicht von Ewiskcii das was er seyn «ollic. oder er ward wenigstens nicht dafür erkannt. Es j^ab eine Zcitv da die EnKcl nichts von ihm ^'i'I'tcru da sie ihn niiht ;!ur Rechten des Vaters sahen, da er noch nicht für ihren Herrn erklärt war, Und das ist nach ur.s,rer Orthodoxie faisch. Will man sasen, Gott hatte bis dahin die Ehkc! in der Un- wiöcnheit von den GclieMVinißen seiner Drcyeinipkcit Z'^- lauen: »o würden eine Men^s't. abRcschmiktc una 'invc*- danlichc Dinge daraus folgen. Die Nv.:ih»*c EntSwhukligung des Mlhon ist diese, daß er noihwcndig diesen fehler be- ;:;ehcr> mulite. daß dieser Fehler auf keine Welse auszu- weichen ist, wenn er das nach einer tm« vcrst kindlichen Zcitfolijc erzehlen will, v^as in keiner soschen Zeitfolge geschehen ist. Sol! die Ursache des faiies Je* bösen Enge! ihre Beneidung der höhern Würde des Sohijcs seyn, so muß man sich vorstellen, daß diese fkncidung eben so von Ewigkeil erfolgt, als die Geburt des Sohnes etc. Allein Ich denkw- üherhaijpt. daß Milton eine hQÜ\i- Ursache hätte er* denkeil sollen, als diese, welche nicht in der Schrift, son- dern nur bloß in den VorsiclIiTngen einiger Kirchenväter ge- gründet ist," (p. 455.)

Lessing irrt, wenn er meinr. ws handle sich utn einen theologischen Eehler MiUons, Der l\hlcr. eine außer«

«") Vielmehr HK^ (Corr. Bliimncr).

IM 3 k o . Mtllun ft

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zeitliche ßcjiobcnlicit in der Zeit darstellen zu wollenv ist üstlictiscliür Niitur. Und daß LessitiK Klaubt, dem Übel lielic .sli:h durch Aiisinur/iinK dieser doKinatiscIicu Kin- zelliclt abiicifcn, bestürkt uns in der Vermutung, daü sich der schurfsinniKe Kritiker des Grundübcls des V, P. nicht bewußt war.

Dessenungeachtet entgingen ihm die F o 1 g e n der Anti- nomie nicht, weder die, auf die f.chon sein ehemaliger Lehrer Voltaire hingewiesen, noch tiefer liegende, wie wir bei seiner Auslassung über den moralischen Charakter sahen.

Zu seiner Einsieht war Lessing durch das Studimii Homers gekommen; ;in ihm rnaß er Miiton beständig.'"') Die Engel des Briten setzte er den Qötteru des Griechen gleich. Es ist bekannt, wie Lessing den Nebel, womit Apollo den Hektor entrückt, als bloßen poetischen Ausdruck für Un- sichtbarmachen erklarte (p. 240/0. Dieser Nebel war aber vom griechischen Dichter sinnlich gedacht. Soweit war Lcssim.; jedoch nicht in die mytliologislcrcnde Yolkspoesio gedrungen, um dies zu erkennen. Die griechischen Götter sind für ihn abstraktere Geschöpfe als für Herder. Ihr natürlicher Zustand ist nach ihm die Unsichtbarkeit. Lessing sah nicht, daß die Miltonschcn Engel im Unterschied zu den Homerischen Göttern abstrakte Wesen sind. Der große Kritiker hatte durch das Studium der griechischen Epen sein Prinzip von der „Handlung" gewonnen. Dieses Prinzip wandte er auf Miltons Engel an, ohne sich darum zu kümmern, daß bei übersinnlichen Wesen von Handlung gar nicht die Rede sein kann.

^'') An Hand von Homer tadelt er wie Voltaire Toü und bilnüc, wührend er die kürzeren AlIcKoricn preist (p, 432). Mit Homer (und Shakespeare) als üe«enbcispielcn kritisiert er Mii- ton, wenn er die SchiielllKkcit und Tiefe beschreibe, anstatt sie iii llircii WlrkuiiKcn darzustellen (p. 402 und 429/30).

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So konnte er sich mit seiner Theorie, die wohl auf die inenscliüchen Götter Hoiriers n:il]t, über die Anthiomit da Kpos h;n\vcK'fiet/cn. Dabei mochte auch Keine- RclljjlOsiiüi Mitnrsachc am Interesse sehi, das er dem V. P. ent>:ej:en- brachte. Seine ästhetische Doktrin war aber schuld, daß er das Grundübe! nicht aufdeckte. Ihr verdankte er jedoch seine Einsicht in Mütcns Charaktcrisieriinjjs- kunst. LessinK war der erste in Deutschland, der Satan ohne Voreins:env)mrr.cnhcii gegenühcrstand. £r wendet sich (A'' XXXV, p. 400) energisch i:ejccn Winckehrianns Behauptun;?, Miltons Deschreibunjen seien wie schön semalte Qorgonen, die sich ähnlich und jrlcich fürchicrüch sind.

„Winkchnann scheinet den Mihon ucnift ücl^iscn zu haben; sonst würde er wißcn, daß man schon längst an- gemerkt, nur er habe Teufel zu schildern jiewußr, önne zu der nülilichkelt der Form seine Zuflucht zu nehmen."

Und ohne Skrupel erkenni er Miltons Kunstvrrifi an, „auf diese Art in der Person des Teufels den Peiniger und den QepeiniKten zu trennen, welche nach dem gemeinen Bej^rine in iimi verbunden wcrrden". Das kann nur lieiCen; Satan, der immer noch götilichschöne Apostat, ist nicht der häßliche Peiniger der Volkstradition, sondern der Gepei- nigte, dem wir unsere Teilnahme nicht versagen können.

Das hatte vor Lessing: niemand voll zu- gegeben.

III.

Diese FraRinenic blieben lange Zeit uriÄcdruckt**) Aber Lessinjjs Methode, wie er sie an Homer exemplifiziert hatte, mußte Schule machen.

") VgL B 1 (i m n e r s Kinlcitunjr. p. 75. Kinzclnc« wurde erst 1788 von LcssiiiKS Bruder mitectcili. Alles erst in der HcmpcU scheu Auseabe.

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In den nach 1766 erscheinenden Poetiken verspüren wir allerdings zunächst noch keine Einwirkung der Les- singscher. Urieilswelse. .loh. Gottlielf Lindner,") Christian Heinrich Schmid") und Friedrich Just Riedel") tragen längst Gesagtes mehr oder weniger kritiklos zusammen.

Di(; Aussprüche über Milton zu Ende der sechziger Jahre gehen immer noch sehr auseinander. Interessant ist, wie die aus der Schule Gottscheds Hervorgegangenen sich mit dem bereits anerkannten Dichter abfinden müssen. C. C. V. Creuz, der eine Nachdichtung des ».hail holy light" verfertigte/*) erkannte „die vielen außerordentlichen Gedanken, Bilder und Gleichnisse; die neuerfundenen V/orte und Redensarten" u. s. w. der Poeten der „geist-

**) Lehruucli der seil 6 neu W 1 sse n s,ch a i i en , insondcrlieit der Prosc und Poesie, Könics- btrK und Lcipx-ii: 1767, p, 27 nennt er M. ein Original, p. 117 ent- scluildim er das Pandiimonium mit der „bedingten W.alitsoh'Jin- lichkcit", p. 117/8 entsetzt er sich über die Blutschande des To- des mit der ?;inde, p. 129 betont er die Notwendigkeii der Mythologie, p. 168 preist er Miltons elegisches Bild seiner Blind- iicit, p. iU3 die aestliciisclic Lcl)haftigkcit der üedanken (Meier), p. 228 Satans Rede im 2. Buch der Disposition \ve<ien.

■•'■') Theorie der Poesie nach den neuesien Orundsiltsen und Nachricht von den besten Dichtern nach dem angenommenen Urteil, Leipzic 1767, p. 427 Thomsons Vers an Milton.

*") Theorie der schönen Künste und Wissen- Schäften. Jena 1767. Mir liek't die 2. Aufl. (1774) vor; p. 20S meint er, M. sei oft allzu wunderbar, p. 39 sagt er, er könne sich die Miltonschen Teufe! nicht sinnlich denken, „Ich stelle micli vor das Ungeheuer nin und werde, anstatt es ganz zu sehen, immer nur ein Stück von ihm gewahr; das ist unertrüg- iich und mishandelt ••neine Begierde, immer das Ganze zu den- ken, auf eine unausstehliche Art." Diese Stelle griff Herder dann an, vgl. unten p. 75.

**) Oden und andere Gedichte. Frankfurt um Mayn 1769, I. Bd., o. 193. vgl. J c n n y , p. 91/2,

-.. 69

rclclicü Diciuart" an. Aber von Nacliahmcrn wilj er njcht^; wissen. Wie Klotz entrüstet er sich über das v.unsinnijre, der Würde des (Icdichtcs Hohn sprechende" Scherzen Gottes mit seinem Sühn.*') Die prachtig:it., Beschreibung im V, P. jjibt er ffcgcn eine mit flaücrscher Kürze vorge- tragene Sittenlehre."")

Alle berechtigten und iinberechti;rten Urteile wurden u'iederholt. Die ..oriemaüsche Dichtung" stand noch in Blüte, daß Herder und Mendelssohn jjlaubtcn. ihr ent- gegentreten zu müssen.

in der» von Lessing vorRczeichncien Bahnen bewegte sich H. W. Qerstenberjc. in seinen R e z e n .s l o n o n In der H fj ni b u r ß i s c h c n Neuen Z c i : u n s äußert er sich über Milton. Stück 94 (15. jun^ 57(^8) nennt er ihn rühmend unter den Diciitern der \ eüigeii Idylle/') Be- sonders wichtig ist das 167. Stück (20. Okt. 176S. .\nm. !ll).

GerstenberK will nicht Rcjieln aus Hümer abstrahieren und sie auf andere Dichter anwenden. Er möchte auf die Individualität eines jeden Dichters einsjehcn: ..Man hat der Meßiade vorgeworfen, daü sie nicht homerisch scy: frey- lich nlclu. sie ist Klopstockisch. Käst eben so seltsam Ist es, dali man sie nach dem Maasstabe des verlohrenen Para- dieses hat messen wollen*'/*)

Aber trotz der verschiedenen Methode kommt er zum gleichen Resultate wie Lessing, nämlich daü gerade die

'•') Vgl. C. riarimann, Creaz und seine Dich- tungen, Leipz. Diss. 1890, p. 36 f.

"') Vri den Vorbericlit zu den uräb«i'n, Frankfurt and Mainü 1760, v^o er sicli über K'opslock und Milton schon aus- sprich: wie in dem nach C. H n r t mann anKcführtcn. 17(>7 cnt» standenen Briefe.

*■') Deutsche L i t e r a t u r d e n k m a '. c No. (Berlin 1904). p. 60.

*") f.bd.. p. 124 ff.

._- 70

Homer iihnllchc hiüividualisicrung: der Teufel den Haupt- wert des V. P. ausmache:

„Milton ist v/cjicn seiner Erfindung, die Characterc der Teufel aus der ilgyptisclien und .^ricciiischcn Mythologie zu nehmen, sehr getadelt worden: ich weis keine, um die ich ihn mehr beneiden iriüchte. Es ist meine?.' Meynung nach ein großes Kunststück an diesem Dichter, daß er, un- geachtet der Inhalt ihn ganz von den poetischen Schön- heiten der Griechen abzuführen schien, dennoch auf eine so glückliche Art davon Gebrauch zu machen wußte, daß sein Gedicht den antiken Geschmack behielt> ohne dem höhern Zwecke etwas aufzuopfern".*") Bodmer hatte sich in der Abhandlung von dem Wunderbaren (vgK oben p. 34) vcUchilich über die Dichter ausgesprochcUv welche den Engeln oder heiligen Menschen die Eigen- schaften und Handlungen der mythologischen Götter zuge- schrieben. So ein3r sei Miltcn nicht gewesen. Bei Qerstenberg haben wir (wie bei Lessing) den neuen entgegengesetzien Standpunkt.

!Vllt dieser Einsicht in die Charakterisierungskunst wird das V. P. gegen alte Angrih"e verteidigt. Warum sollen sich die Teufel im Pandämonium nicht zusammenziehen können? „Es ist eben so natürlich, daß ein Teufel seinen Körper aus- dehnt und zusammenzieht, als daß er sich in einen Engel des Lichts verkleidet. Und überhaupt, wenn wir einmal Teufel sehen sollen, so müssen \v? i r sie von mehr Seiten, als ihrer m. o r a 1 i - sehen, sehe n"/'")

*^) ebd., p. 126,

") ebd., p. ]2?>, p, I2n kommt dann Qersienberg; auf Sürtüfc unü Tod za sprechen, die er theoretisch wie Bodmer mit der Notwendigkeit 2u individuallsisren, rechtfsrUßt. Aber wüh- rend der Zürcher Dichter die Qlaubwürdigkeit durch ,,das An- sehen eines Qeschichtsschreibers" (i. e. Bibel) nachweisen

„... 71 '-

Auch Ranilcr mulitt sich im dieser Ansicht bcqucnieru Die Tatsache svar ihm klar, aber die Qründe, warum Siuan uns am meisten anzieht, suchte ct mit Äcwundenin

Sätzen und überliefertem Material i:u!2udcckc:^

Satan in Miltons verlornem Paradiese triumphirt über den orst;;n Menschen," sa,':ct er in der dritten Auflajre scincf Übersetzung von Batteux' Einleitung in d i c S c h ö - n c n W i s s e n s c h a f t e n.") ..Denn wenn hier ein Held seyn soll» so ist es gcv/i3 Satan. Wäre er er; nicht* son- dern Adam: so war«; die Auilösuns!; U'asjisch und kcincswc:.rs episch; and wäre sie tragisch, so wären alle übernatür* liehe Maschinen, die in diesem Gedichte gebraucht wer- den, unnütze- Triebräder; weil das Wunderbare keine Vcrvw'andschaft mit dem Mitleiden hat und gar nicht daüu gemacht istv es zu erregen. Der Tcuicl ist es also, den man um m dem verlornen Paradiese zu bewundern gicbt Der Gegenstand ist sonderbar; aber mal* muß ihn, wie di? Phaniasii eines Malers, beurtheJier.. mehr nach der Aus- iühriing, ?Js nach der Anlage des Stofis. Cbcrdom. wenn er gleich keine Bewunderung 'irwccki sc crrej;i er doch Erstaunen.''

Hatte Ramier seines Freunde? l^ssinsj Manusl<riptfc jfc- sehen und sieh mit Hilfe des theoretischen Vorurteils vom Wunderbaren mit der neuen Ansicht jb^efundcn?

wollte, erlebt jetzt G. das Weser; der verircintHchen AVu^zorkn ganz (im QcKCJisatz auch zu Lcssinjüh

Auch In ücincn IJricie.i Jibei M t / k v fl r ü I Kk ei- tft n ücf Literatur crw ihm G. Milloji, D l. D. 39/Mi, p. 95 und 138.

■**) Einleitung in die ä c h «i Ji e n W i s u t n s c h a I - teil, nach dem Französischen des Herrn Battcux mit ZusJiiz«n vermehret von Karl Wilhelm Ramk-r, Zwcytcr BanJ, 3. Auf. (Leipüic 1769), p. 39. In der 4. Aufl. (IV?«!), p. S^/AÜ. c^'vas er- weitert.

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Andcrü mochten sich mU der damals aufkommenden Crklüruiij: Webby zu cuicm tieferen Verstehen des Milton- schen Satans entschlicBan. 1771 erscliien in Leipzig J. J. Eschcnburgs Übertragung von Daniel Webbs Betrach- tung über die Verwandtschaft der Poesie und Musik, nebst einem Ausluge aus eben dieses Verfassers Anmerkungen über die Schönheiten der Poesie. Klotzens Deutsche Biblioihek 6. Bd. (1771), p. 478, zitiert daraus folgende Stelle, -.Hierinnc liege der Qrund, warum sich die vor- nehmsien Schönheiten in dem verlöhrnen Paradlese natür- licherweise in den Beschreibungen von der Person des Satans finden mustcn. Eine immerwahrende und unver-' ilndcrlicho Herrlichkeit beschreiben, heißt, oh.nc Schatten mahlen . , Die göttliche Vollkommenheit, reine und eng- lische Wesen, können keine Wolken, keinen Contrast haben; sie sind lauter Licht. Allein ganz anders verhält slchs mit der Beschreibung der gefallenen Größe, eines ge- schwächten und unterbrochenen Glanzes; eines höhern Wesens, das :;'esunken und gefallen ist, aber zu Zeiten sich aus seinem t^aile emporhebt. Dies ist ein so sehr poetisches Subjekt; es giebt eine solche Reihe mannigfalti- ger Bilder an die Hand, daß der Gegenstand auch noch so schädlich scj'n mag; dennoch, wenn die Gefahr, wie im gegenv/ärtigen Falle, entfernt ist, die Einbildungskraft da- von gerührt wird, alle ruhigem Betrachtungen bey Seirp geschaft. und die Sinne, über die Sphäre des Nachdenkens hinweg, fortgerissen werden,"

Drittes Kapütct

Herder in Sturm und Drang

Als Herder von seinem Lehrer Hamann in üic cn;^ lischc Literatur eingeführt wi'rde. 'ernte er auch MiKons V, P. kennen (Hayni I, p. 61). Seil 1767 sto'ion wir in seinen Sciiriften auf den Namen des I^.pikcrs (ed. Suphan M, 166. i67. 172 w. mX

Es mochte vielleicht in seinem Leben einen Augen- blick jrcben, da er Mütons Dichiunürsan vcruncillc als er in seiner zweiten Sammlung der Fragmente über die neuere Deutsche Liircratur (1766, 1767) xcKen die Nachahm-jr.K orientalischer Bilder Pront ;nachte und aufforderte, man solle nur die Art, vic der Oricni dich* tete, studieren.

In dem Gespräche zwischen einem Rabbi und einem Christen faßte ;t dann alles zusammen, was sich KCKen Klopstockr. Missias einwenden iülit: Der Rabbi möchte ihn mehr der orientalischen Mytho!o>;jt eni- sprechend, der Christ würde lieber luf alle Kr.Äet ver- zichten.

Im z w e i t c h k ri t i & c h c n Wäldchen ; 1769» hat Herder diesen Standpunkt i'berwjne'.T. SAy.t i^t er nicht mehr absolut k'CKcn di.. Anv/endun?' fremder A^ythr>loj:icn in modcirnen Oed'chten, sondern •>»*enuet den (irundsat?: .'^n „So w(c der oberste R'chter ailwjsscj.d sein muD, um jflcichscm die cij:crthümliclie Mo'":;!itil' cinti-i jeden Herzens

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zu koiiiicu; .so sei der Richter über, Zeiten und Vollmer uucli des Qcschmacks dieser Zeiten und Völker kundig, oder er greift blind in den Loostopf der Jahrhunderte, um nichts als ein mageres kritisches Regclchcn herauszulangen'\ (Vgl. Hayni I, 268/9.) Auf Grund einer liberalen Interpreta- tion dieses Sprucies verteidigt er Milton gegen Klotz, be- sonders da dier.cr die antike Mythologie im christlichen Qe- dichte angreift, (cd. Suphan III, p. 216, 220, 222, 236.)

„Mlltou hat uns djis erste Paar bis zum Entzücken ge- schildert, den Bau ihrer Glieder, und ihre vergnügte Mahl- zsit, und ihre Liebkosungen, und die holde Umarmung der Eva und - das Licblächeln Adams.^)

~ as Jupiter

On Juno smiles» when he impregns the clouds

That shed May flow'rs

„Welch ein Bild! Ists Erniedrigung für Adam, in ihm den küssenden Jupiter zu sehen? Adam führt Eva zur Brautlaubc, und da unsrc Seele durch den sichtbaren Anblick derselben mit Freude und Ehrfurcht gleichsam er- füllet worden; da das Auge nicht mehr sprechen kann: siehe! so spricht die Phantasie, gleichsam in einen Traum voriger Zeiten versenket:")

in shadier bower

More sacred and sequester'd, though but feign'd Pan or Sylvanus never slcpt, nor Nymph Nor Faunus haunted.

„So dichtet Milton: seine profanen Gleichnisse sind nichts als Hülfsvorstellungen zum Dienste seiner heiligen Vor- stellungen: er nimmt zu ihnen seine Zuflucht, wenn Worte hinerhalb dem Kreise seiner Religion nicht Triebfedern

*) Buch IV, V. 499. a) Buch IV, V. 705.

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geben, seine Idee so hoch zu spielen, als er sie haben will: und nur dann irret seine Phantasie in diese ZaubcrRcgcndcn der Qriechischen Diciitijnjj, wenn er schon unsrc Sinne eriüllcic, und jetzt der Seele Zeit läßt, die Bilder ihrer JuRcnd zu samnilcn. Konnte er dies nicht thun, als Dich> tcr? Eben dadurch sch!ä;?i er ja an unscrn Geist, daB er gleichsam sich selbst dichte. Üdcr v-twa nicht als ÜlciUer der ReliKion? Was ist der Relis;ion würdiger, als solche VerKieichunueh zu iiirer Crhühung? Die !3ibel. ja Jchova selbst in ihr spricht also*' (IV, ?^il),

Ähnlich hatte auch Bodmer gesprochen, aber das neue in Herder ist das intensive Miterleben des Gleichnisses. Milton sieht ,,in Adam den küsse:iden Jjpiter". Der Dichter braucht diese Bilder, um auszudrücken, was er erblickt. .^Eben dadurch schlägt er ja an unscrn Geist* daß er gleichsam sich selbst dichte."

Dieses vollständige Schauen der my- thologischen Volksvor Stellungen ist der Angelpunkt von Herders Kunsturteil, füf ihn ist der Nebel bei Homer nicht bloß ein Symbol iQr das Unsichtbarmachen wie für Lessing.

Dabei will er im Gegensatz zu Riedel Miltons Teufel doch nicht sinnlich messen. Er will nicht „vor sie hin- treten, um sie Stückweise zu zerlegen''. Denn sonst blei- ben sie „nicht mehr die Geschöpfe der Phantasie, die als grosse Rauchwolken mein Poetisches .\uge vorbcigehn. und eben durch dies unsinnliche Phantastische Große und Unermüßliche ins Gedicht würkci". soic-n'* ^4, Wäldchen. Suphan IV, 174.)

Dieses Bestreben, die Dichtung jntuiiiV zu crfai>sen, d. h. die Gestalten, die sie beleben, innerlich zu sehen, ver- trägt sich wohl mit Herders realistischer >.uffassung der griechischen Götter. Es zeigt seine Einsicht In den Unter- schied zwischen den Homerischen und Miltonschcn Wesen.

76 ,^

Aber dcni Entdecker der Volkspoesic und der Volks- mytliolois'ie m besonderen niulitcn die Kriecliisclien Oöttcr syinputliiseher sein. Spilrlicli iluUert er slcli über die Ge- stalten hei Milton. Kr schließt sich der Auffassung Gersten- bergs mit IJegeistening an (V, p, 232). Aber wenn wir seine wenigen Auslassungen über Miltons Teufel 'zusam- menhalten, so zeigen sie uns, wie er ihr Wesen weniger erfaßt hat als Qerstenbcrg. „Die Teufel hi Milton spotten und lachen: sie beweisen zwar dadurch nichts anders, als daß sie Teufel, dumme Bösewichter sind, und lachen so charakteristisch als sie nicht reden könnten . . /', sagt er in seiner Polemik gc;feii Klotz (III, 222).

Theorcäscii hat Herder recht, wenn er ihr Gebaren als „charaktciistisch' erklären will; aber ihre Charaktere hat er nicht erkanni. 1778 führt er .Miltons Satan neben Wallen- stein und Cromwcll als „ungeheuer und wüüo Tiere'' an; echt große Seeler. hätten auch Anlagen „die tugendhaftesten zu werden". (Vom Erkennen der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume, VIll, 219.)

Heracrs moralische und religiöse Voreingenommenheit verhinderte ihn wie Bodmer am. Erkennen der wahren epi- schen Kraft im V, P. Er ist Lessing nur durch sein Ver- ständnis für die Volksmythologie voraus. Seine Abneigung gegen Miltons Satan teilte er auch Goethe mit.

Ruft er über nichc aus; »,Dic drei größten epischen Dichter in aller Welt. Homer. Ossian und M i 1 1 o n" (VIH, 188, 318)? Gewiß, aber man fragt sich: Ossian episch? Sind für Herder Homer und Milton nur insoweit episch als Ossian? Was bedeutete Herder in solchen Aus- sprüclien episch?

Wohl nichts anderes als mythologisch. Herders An- betung Homers entsprang nicht einer Einsicht in die episclK; Technik des griechischen Dichters, sondern dem Verständ- nis, das der deutsche Entdecker der Volkspoesie der au}>

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der Naturbclcbun« hcrvorseKangenen griechischen Mytho- logie om^'cßcnbrachtc.

Aus dem A. T. besonders hatte- er iremdarlJKe Büdcr schon zur Zeit seiner juKi-ndliclicn Naturlraumcrcicn In sicli aufgenommen (Muym, p. 9). Was dcu Jünslinff be- geistert hatte, suchte der Mann zu vcrtiefcn.

Es ist nicht eine patriarchalisch».: Sehnsucht, die ihm den Orient lieb macht, sondern das Vergnügen an der Bc- lebuni,' einer ihm unbekannten Welt. \us der Sprache, die uns diese hinterlassen, wehen ihm Bilder einer exotische:; Natur ontxeKcn. Wie alle alten Sprachen isi ihm das He- brülsohc eine Natursprachc, d. h. noch voller Anschau ungcn.

Milton hatte sich in die orieniallschc Wck zj ver- setzen gcwußtv er hattCv selbst sprachschöpferisch, an ihre Vorstellungen angeknüpft Bei :hm cn'strmden die? übernommenen Anschauungen 2U neuem Leben. Das zog Horder an. Wesen seinc7 sprrxhüchen Fähij^koiten mußte ihm Milton als den Naturdichier::i Homer jnd Cssian ver- gleichbar erscheinen.

Zwar gab es Perioden m Klcrdcrs Leben, ivi denen de« Theologische in seinen Anschau.msen die Oberhand ge- wann, in denen er, den Uisprun^j: dQr Sprache Qoti zu^ schreibend, Jede christliche Poesie von sich wlti So konnte er in den Briefen, das Studium der Theoloffie betreffend (2. Theil 1780. 17S5^ im 19. Brief (Suphan X. 217/8) fragen; „Wollte ein Christ so köhn scyn. die Phantasien seines Kopfs den Thaicfwcisen Got- tes einzumischen, oder zwischen zu schieben, das ist, wenn er es auch wider Wissen und Willen th.itc, sie nach seiner Gedankcnweisc zu vertcestalien?"

Aber auch in solchen Lebenspcrioden kann er sich dem Kindrucke, den gewisse Parlier aus dem V. P. auf ihn machen, nicht entziehen. Einige Stellen sind

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es ci^'o. ntlich nur» in denen er den Hauch Gottes zu verspüren glaubt, aber sie begleiten ihn sein .cjanzcs Leben hindurch. Bei ihnen erbebt sein Herz.

Hüfcn wir, wie er uns in den Unterhaltungen und Briefen über die ältesten Url<unden (1771/2) ein Qeniülde des werdenden Tages der Schöpf- ung gibt (Suphan VI. 133):

„Füiilen Sic i;egenwärtii; ics war, wie gesagt» die erste Frühe des Tages) den kühlen, durchwehenden Mor- genschauer: haben Sie ihn bei kälteren, dunkelern Nüehten durchdringender gefühlt: haben Sie insonderheit je auf dem Meere etwu nach einer gefährlichen, dunkeln, Qraucn- vollon Nacht (wohin Sic eigentlich diese Scene versetzt) auf den ersten Stral der Morgcnröthc gehofft, und alsdcnn den webenden Qcist gefühlt, clor vor dem erwachenden Tage sich vom Himmel, wie ein Hauch üoties sich von der Bahn der Winde auf die Fluten senkt, wandelt, und wie ihn der Ocean zu fühlen scheint, webet er empor ich dichte Ihnen nichts aus dem Kopie: Oßian und Milton und Klopstock und Homer^ und die Morgenländischen Dichter noch mehr, haben diesen Qeist der Nacht, diesen Wind und Hauch Gottes lebendig gnug beschrieben . . /'

Es kommen ihm sogar während des Niederschreibens Miltons Worte selber in den Sinn, wie in den Aeltesten Urkunden des Menschengeschlechts (1774). v/c er von dQt Erschaffung des Lichts erzählt (VI, 222/3); „Welch Wunder Gottes, ein L i c h t s t r a IT' Wir mögen „das Licht messen und spalten, in ihm Farben und Zau- berkünste finden, damit brennen und zerstören, in Stern und Sonne steigen grosse Entdeckungen des Mensch- lichen Forschungsgclstcs und wo Irgend Etwas ein Qött- lichci, Krcditiv liclner RechtmäÜigkeii luid Würde -- Ge- fühl ist Etwas anders! Empfindung Gottes in diesem

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seinem Ersten ungeborn en Kinde, dem rein- sten Ausfluß seines Wesens, dem ent- zückenden Sirom, der sich durch alle SchiJpfunK. durch Herzen nnd Seelen uncr» forsch lieh ergculit. Organ der Qöitlieit im Weltall!

„Hai! holy üRhi! ofsprir.g of Heav'n firsi-born! or oft thc cternal cor*tcrnal !)c;^m! niay \ exprcss thec unblani'd? shicc Qo(\ is sight and never but in unapproaclied lijs'hr dwclt jroni cternity dwcit ihcn m thce!'* ") Und wie das Lichi hat Milien auch die Nachi gekannt, „i'^ne. alte, cwi^c Nacht, die der unKehcuermalcnde M i 1 ton, dieser Anjjelo oder Caravaggio unier den Dichtern allein beschreiben konnte, und die Mcr^enlandcr so oft malen" (VI. 226').

Was Herder in Milton fiüdcl, ist „Nachhaü Ci6ttl;:hcr Stimme in Natur und Schrit" (VII. 300). Mir seinem ästhetischen Einleben in den Mythen schaffcnderi Geist der Ebiäer verbindet sich immer wieder sein orthodoxer Glaube, „Die ersten w ü r k s a m e n Geüxhtc in der Volkssprache Vv'aren also auch, da sich die Dichtkunst wieder empor hob, aus dem Schooi und Bus in der Religio 11 Kinder . . . Von diesem Baume brach Milton seinen Zweig, da er das v erlahme und uicdcr' gefundene Paradies schrieb" (U c b e r die W ü r- k u n £ der Dichtkunst auf die S i t^c n der V <> i . ker in alten und neuen ZqU'^u. 1778 Vill. 405)

Im Werke Vom Geist der Ebräisohcn Poesie (I782> 1787) brauchte Herder, da er nur vom Geiste der Dichtung sprechen wollte, auf deren gött- lichen Ursprung keine RücksiiMi» zu haben, sondern konnte

*) Anfang des dritten Uuctic:iv.

80 -

i-iicli ticiiic-n iisihctisclieji EmpfinduiiKcii saiiz iiiiiKcbcn. Auch da erinnert er sich wieder an das „hail ho!y light/' das er vollständiji übersetzt.*)

„Heil, heilig Licht, dir! Himmels erstes Kind»

oder des Kwigcn mitewiger Strahl!

(Dürft' ich so nennen dich:) denn Gott ist Licht

und unzuj^angbar wohnt' er ewiglich

im Lichte; v/ohnct ewig da in dir,

du Ausfluß-Qlanz vom unerschaffnen ülanze.

u. £. w. (Buch III, Vrs. 1—55, XI, 278/9.)

p 277 iQitct Gutyphron den Qcsan?: ein: Da Sie

doch aber Hymnen wollten; hier ist einer, ganz in mor- geiiländischen Bildern. Meines WiUens giebt!:. nur Einen Ton des Lobgesanges in allen jetzt lebenden Europäischen Sprachen; and dör ist der Ton Hiobs, der Propheten und Psalmen. Mihon hat -ihn insonderheit in sein unsterblich Qcdicht eingcwcbct; mit schwächern Tritten betrat Thom- son seine Spur und bei uns hat ihn Kleist sehr philoso- phisch verschönert. Diesen Ton, diese Bilder sind wir der Ebraischen Einfalt schuldig." In einer Anmerkung lügt Herder noch hinzu: „Es sollte hier Miltons Hymnus auf alle Qeschöpfc der Natur oder Adams Morgengesang (Paradisc lost B. Vi.) stehn; er mußte aber wegbleiben,, weil er zu lang ist und im Ganzen doch nur die Bilder des 104. und 148. Psalms wiederholet."")

Weil im Geiste der hebräischen Pocbie i^eschrieben» erschien Herder das V. P. als ein großes Dichtwerk. Des- wegen gefallt ihm auch die Paradiesszene (XI, 327/8).

Aber bei ihm ist das ästhetische Verständnis höher entwickelt als bei Bodmer. Allerdings: Wie der Zürcher Kritiker sieht er nur das A. T. im V. P., aber er ist sich dessen bewußt, und wenn er es ein großes

■*) Schon ganz früh hatte sich Herder dafür begeistert,, vgl. IV, 254.

'') Vgl. Suphans AnmerkuriK zu dieser Stelle.

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episclics üediclu nennt, >o uit -.t das. wcjl er »ntor episch etwas anderes versteht als wir

Qegen Schwächen im Werke war er schon früh nicht blind. In der A II ß c ni c ? n c r. Deutschen Bibliothek {!767. 1770) machte ci auf die dogmati- schen Stellen aufmerksam: »Homur hatte keine solche; V i r g i 1 hr.be sie weniger: uno bei S\ i 1 1 o n » bei Dante, bei A r i 0 s t müssen wir sie übersehen Zur Epopcc selbst: schüren sie nicht: si-c schv.ächcn den beständis: fortwailendun Kpisclicn Ton . /' (IV, l%5,}

Und Herder sah über sie hhiwegv wie auch über das ganze epische Gerüste. ..Wo Ml! ton TeufcIsbrOcken bauet, rührt er nicht" (VIU. 422), sagic er v;nd hielt sich an die wenigen Stellen, die ihm zusagten. 1778 sclirieb er in U c b e r die W ü r k ü n 2 der Dicht- kunst a n f die S i 1 1 cn der \^ ö i k e r in alten und neuen Zeiten (Vlll, 4!8/: .Mit Scheu setze ich Shakespear und A\ i 1 1 o n neben einander. Der zweite an Poetischer Kraft jenem sc unierlc>ren, ersetzte schon durch Dichtunj;. durch leere ofi ungeheure fikticn und durch klaßische Rundigkeit und Feinheit (welches beides er aus Italien holte), was ihm an Kraft, durch erste Natur und Wahrheit zu rühren und za 'Aürcken, abging/' Denn das w e n i g ..natürliche'* in ;s\ i ! t o n "Aar hebrä- isch, das andere „D i c h t u n g", weshalb Merder in den Fragmenten über die beste Leitung eines jungen Genies zu den Schütrcn der Dichtkunst (IX, 543) sagen !:onnt.'r „Es kennen nie größere Kontraste in der Well entsteh jn, als O ß i a n und M i 1 1 0 n , in dem was Dichtung ist; und in mehr als Sinem Gesichtspunkte werden Zeiten kommen, die da sagen: Wir schlagen Homer, Virgil und M j 1 1 o n zu. und richten aus 0 ß i a n." Dieser ist für Herder wie die Bibe! „ur- sprünglich".

Pikio, Mllton 6

Viertes Kapitel

Sturm und Drang

I.

Als 1773 die letzten Gesänge von Klopstocks Messias erschienen, da „schlug die Qliith der jugendlichen Begei- sterung auch an ihnen in neuen Flammen empor, und wäh- rend das übrige Deutschland diesen Schluß des Messias ziemlicii lau und mit einer Art von Krmattung hinnahm, steiften die Qüttinger sich darauf, ihrerseits in der Auf- nahme auch dieser letzten Gesänge nicht zurückzubleiben hinter der dankbaren Vergültcrung, mit der einst, ein Men- schcnalter zuvor, eine andere Qeneration die ersten Qe* sänge empfangen hatte." *)

Milton erging es wieder wie zu Bodmcrs Zeiten. H. Christian Boie,*) Voli und seine Freunde*) hatten ihn in ihrer Jugend begeistert gelesen, aber er mußte bald wie- der dem Deutschen weichen. „Was ist Milton, Ossian, was Virgil und Homer" gegen den Messiassänger? fragt Voü im März 1773 einen Freund.*) Und in jenen Jahren urteilten Joh. M. Miller, L. Hrch. Chr. Mölty, Joh. F. Hahn, die bei-

^)R. E. Prutz, Der Oüttinger Dichterbund, Zur Qescliichte der deutschen Literatur, Leipzig 1841, p. 246.

»)Karl Weinhold,- H. Christian Boie, Halle 1868. p. 8.

5) W i 1 h e 1 m Herbst, Joh. Heinrich V o ß , 1. Bd. Leipzig 1872, p. 52.

*) Herbst. 1. Bd., p. 103.

—. 83

den Stolbcrg nicht anders/) 1780 92 gab C. F. Cramer seiner Vergötterung Klopstocks Ausdruck.*) C. V. l). Schu- bart sagte: „Er (Kiopstock) kommt nicht nur den größten Genies, die jemals gelebt haben, einem Homer, Shake- speare, Dante und Milton vollkommen gleich, sondern über- trifft sie an Empfindung und Erhabenheit."') In seinen Gedichten erinner:: Schubart nur einmal an Milton. in sei- nem „Ein Blick ins AI 1", wo er auf die Schöpfungs- geschichte zu sprechen kommt.') Das Zeitalter Klopstocks war für ihn die goldene Ära der deutschen Literatur. An- fangs der siebziger Jahre klagt er: „Wie herabgesunken unsre Dichter von der Würde der biblischen Seher, von der Sonnenhöhe Homers, Ossians* Shakcspcar.s. Miltons, Youngs, Bodmers, Klopstocks!" *) Darin schlössen sich ihm der Ossianübcrsetzer Michael Denis an. Dusch, der 1770

*) Muncker, Kiopstock, p. 439.

•) C. 1*. Cramer, Kiopstock. Kr und über ihn.

') C. D. V. S c h u b a r t des Patrioten k c s a in - ni c 1 1 e Sctiriftcn und Schicksale, Stulti^art iK39,4U, 3d. 6, p. 36/37.

*) VkI. Siimtliche Qcdichtc. !. Bd., SiuJtKart l'hS, ). 436—453.

") 0 c s a ni 11) e I ! e Schriften und Schicksale, I. Bd., p. 286. Bd. 2., p. 147 erzählt sein Sohn von ihm: „Nächst dem Messias rccitirte er am liebsten Steiler: aus Lutiicr»; Bibel: aus dem Dante und dem :!öttlichcn Mitton*'. Bd. b, p. 39 fl druckt er Bodmers ersten neuen kriiischen Brief ab. in svelchcm der Eindruck geschildert ist. den das V. I>. auf Klop- stock machte, vgl. oben p. 35 f. Ebd., p. 133 meint er, Miliou ^abe durch (jelehr.<;amkcit Rcwiß seinem göulichen Oedicht v:e- ichadct. Bd. 7, p. 224, schreibt er an Wicland unterm 20. Juni 1764 im Tone der früheren Schwärmer: «Or esset, QIcim, Lessing, Weiß, Qerstcnbcrir und Milton, Kiopstock, Younj: und Sic! welch ein Contrast! Jene blieben bei den Quellen stehen und »»chlum- merten bei ihrem Rieseln ein; und diese hatten Oceane vor sich, aus welchen Sie allein die erhabensten und der Unstcrb«- lichkeit würdigsten Gedanken schöpfen konnten". G*

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die Idee einer christlichen Mythologie wieder aufnahm,") und Jolh Georg Schlosser, der in seinem Versuch über das Erhabene Klopstock weit über Milton stellt, weil er ein Dichter des Herzens sei.") Was waren diesen Homer, Shakespeare, Milton wohl anderes als Seher?

Doch erlebte auch die von Lessing eröffnete realisti- sche Richtung ihre Blütezeit.

In ihren jungen Jahren sind Stürmer und Dränger wie Lenz und Müller zwar noch von den Patriarchaden und Klopstock beeinflußt. Dann aber schlagen sie neue Wege ein.

J. M. R. Lenz zeigt in seinen Jugendgedichten die Ein- wirkung Klopstocks.^') Youngs,") Kleists,") Thomsons, der Bibel, Homers^") und Bodmers.'") In seinen Land- plagen (1769) Soll ihm auch Milton vorgeschwebt haben.") Direkter Einfluß Miltons läßt sich wohl nicht nachweisen, auch wenn er im 5. Buche (Die Wassernoth) ausruft*.

seid mir gegrüßet. Seid mir paradiesische Szenen gegrüßet. Auf weichem Rasen will ich hier sitzen und alle Gerüche des Frühlings Einziehn " ")

^") Briefe zur Bildung des Qeschmacks an einen jungen Herrn von Stande, 4. Theil, Leipzig und Berlin 1770, p. 127.

") In seinem der Lo ngi n ü he r se t zu n g (Leipzig 1781) nachgedrucktem Versuch über das Erhabene, p. 301/2.

") Vgl. (). A n w a n d , Beitrüge zum Studium der Gedichte von J. M. R. Lenz, München 1897, p. 25 f. 33.

'") ebd., p. .^.2 f.

'*) ebd., p. 7ü.

") ebd., p. 80 i.

*•») Hier vereinige sich das Vorbild Klopstocks zugleich mit dem Thomsons und AMltons, sagt 0. F. Gruppe, Reinhold Lenz, Leben und Werke, Berlin 1861, p. 247.

»n J. M. R. Lenz. Gesa mm che Schriften, hsg. V. F r a n z H ! cl , München und Leipzig, 1909 f, p. 39.

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177vS betrat Maler Müller mit seinen Idyllen GcBiicrs (jcbict. War die cntrianimcndc Cinicituns: zu Adams erstem Erwachen und ersien scli- genNächten (1778) Miiton oder Gcßner nach:::cMldet?"') Auch bei Müller erzähle Eva ihr erstes Erwachen:

„Es war noch todtes Leben, v/ar noch lebendi;^cr Tod, meine Seele schlummerte noch, meine Sin:ie alle noch ge- schlossen. Bald aber erwacht' ich weiter, meine Sinne er- öffneten sich mehr, klarer murmelten Jetzt die Bäche vor mir, die Winde rauschten lieblicher, neben mir, über mir in den Büschen, in den Cedern, alles so wundersam, alles ha! daß ichs einmahl ganz aussagen, hinlallen könnte! Die "Winde rauschten so lieblich! Bache murmelten so klari Die schönen lebendigen Bäume vor meinen Augeni Das Qebrüll der Thierc in meinen Ohren! alles, so fremd und doch mir einfü!ilend,ganz mir vcrwandi**.'*) Auch die Stelle, "WO Gott den schlafenden Adam mit der Sehnsucht nach Eva erfüllt.'") hat Miiton zum Vorbild.

Miiton, Young, Thomson waren für den jungen Lenz Autoritäten."*) Als er aber mit Herder zusammenkam, er- schloß ihm dieser die Bibel. Lenz „sieht in ihr ein Denkmal der Volkspoesie, stellt sie auf eine Stufe mit Homer, und "betrachtet sie mit den Augen Goethes und Herders".*') In Herderscher Beleuchtung lernt er die Volkspoesie kennen, Homer und Shakespeare.

Shakespeares Menschenkenntnis offenharte den Stür- mern und Drüngern eine neue Welt. Das Seraphische zog

") Vk'l. Bernhard :?cuf(cr*, Maler Möller. Berlin lh77, p. 118.

'") Maler Müllers Werke, l. Bd.. HcidcIlKiji IMI. p. 15/U).

»") ebd., p. 87 i.

=*») Vel. M. N. Rosanow. Jakob M. R. Lcni. LclpiiR 1909. p. 77.

") ebd.. p. 108.

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sie nicht mehr an. „Aber vergiß nicht, Liebchen'*, schreibt Lenz im März 1776 an Herder, da er die Distanz, die sie trennt, bci^laKt: „daß wir auch Thiere bleiben, und nur Klopstocks Engel und Miltons und Lavaters Engel auf den Sonnenstrahlen reiten. Ich bin stolz darauf, Mensch z u sein." "^)

Wie für Herder blieb auch für Lenz Milton ein großer Dichter. Im Gedichte Ueber die deutsche Dicht- kunst wird er unter den großen Geistern angerufen,") und noch in spätem Jahren macht Lenz seinen jungen russi- schen Freund Karamsin auch auf Milton aufmerksam.")

Aber die neuen Muster verdrängten den chemaligert Abgott aus dem Bewußtsein der Stürmer und Drünger,. Der Name blieb /war, doch wem bedeutete er noch ein Erlebnis?

In der Bibel, im Volkslied fand man „ursprünglichere*'' Naturbeschreibungen» in diesem bodenständigere. Das Naturgefühl fing an sich vom Dogma zu emanzipieren. In Herder begegnen wir zum erstenmal dem Versuch,, die so- genannten mythologischen Vorstellungen für sich zu ge- nießen. Solcher Bilder gibt es auch im V. P., aber noch

'^^) Aus Herders Nachlaß, hsg. v. Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried Herder, I. Bd. Frankfurt 1856, p. 240.

'''*) Werke, ed. Blei. p. 148: 0 Homer, o Ossian, o Shakespeare, 0 Dante, o Ariosto, o Petrarcha, O Sophokles, o Milton, o ihr untern Geister 0 ihr Pope, ihr Horaz, ihr Polizian, ihr Prior, ihr Wallerl Gebt mir tausend Zungen für die tausend Namen, Und jeder Name ist ein kühner Gedanke Ein Gedanke tausend Gedanken Unsrer heutii:en Dichter wert. ") 1787 schrieb Karamsin sein Gedicht Poesie (1792 sedruckt), wozu ihn Lenz anceregt und worin auch Milton ge- priesen wird. V>:1. Rosanow, p. 430.

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m c li r in der Spruche der Bibel, des Volksliedes. Ossians, Shalsespeares.

Mit dem erwachenden realistischeren Sinn konnte sich die Miltonsche ü ö 1 1 c r w c 1 1 nicht vertragen.

Nur eines Stürmers und Drängers Weit war von den Engeln des V. P. crfülli: Carl Philipp .Moritz*. 1783 er- schienen zu Berlin seine Reisen eines Deutschen in Kngland im Jahr 1782,*') in denen auch Milton eine große Rolle spielt.

In London, erzählt Moritz, kauft er sich für zwii Schillinge einen Taschenmilton (p. 25). der ihn nun während seines ganzen englischen Aufenthaltes nicht verläßt. Schon in London liest er gern darin in der nichterccke der West- minsterabtei (p. 60). Wenn er nach Richmond fahri, nimmt er seinen Milton mit sich (p. 61). und auf seiner Fußwande- rung nach Oxford ruht er gern mit ihm in einer ..schonen grünen Hecke" aus (p. 68). Gehend und stehend liest er in ihm (p. 87).

Womit erfüllt denn Milton seine Phantasie besonders? Hören wir ihn. wie er seine Ankunft in Matlock beschreibt (p. 112):

„Oben war der jähe Felsen mit grünem Ge.sträuch um- kränzt, zuweilen kam ein Schaf oder eine Kuh von der weidenden Hecrdc an den steilen Abhang» unc' blickte durch das Gesträuch hinunter,

„Ich war in Miltons verlornem Paradiese, das ich nach der Reihe durchlese, gerade bis an die Beschreibung des Paradieses gekommen, als ich in diese Gegend kam. und folgende Stelle, die ich nun im Grunde am Ufer des Flusses las, that eine sonderbare Wirkung auf mich, da sie auf die

**) Deutsche Litcra turdcnkmalc No. \26 (Dritte FoUe, No. 6), hsK. von Otto zur Linüc, Berlin 1903. Dar- nach sind die folscndcn Zitate.

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Natursccne, die ich hier vor mir sähe, so sehr paßte, als ob sie der Dichter selbst davon genommen hätte:

delicious Paradise,

Now nearer crowns with her Enclosure green, As "wlth a rural Mound, the Champain Head Of a stccp Wilderncss, Whose hairy sides With Thickct overgrown, grottcsqye and wild,

Access denicd. " ")

Und noch einmal in Northhampshire sieht er die Natur mit Miltons Augen (p. 132):

„Da ich nun von da weiter ging, und die Berge wieder vor mir aufstiegen, welche mir von meiner Hinreise noch bekannt waren, las ich gerade im Milton die Schöpfungs- scene, welche der Engel dem Adam schildert, wie sich das Wasser senkt, und die nackten Berge ihren breiten Rücken emporheben.

„Immediately the Mountains huge appear Emergent, and their broad bare Backs upheave Into the Clouds, their Tops asccnd the Sky." '^) „Mir war es, indem ich diese Stelle las, als ob alles, was um mich her war, erst wurde, und die Berge schienen wirklich vor meinen Augen emporzusteigen, so lebhaft wurde mir diese Sccne.

„Etwas ahnliches empfand ich bei meiner Herreise, da ich gerade einem Berge gegenüber saß, dessen Spitze blos mit Bäumen bewachsen war, und im Milton die kolossali- sche Beschreibung von dem Streit der Engel las, wo die abgefallenen Engel ihre Gegner mit' einem starken Bombar- dement angreifen, diese sich aber dagegen vertheidigen, in- dem ein jeder einen Berg gleichsam oben beim Schopf er- greift, ihn mit der Wurzel ausreißt, und so in seinen Händen aufgehoben trägt, um ihn auf die Feinde zu schleudern.

-') P. L. IV, 132 ff. ") P. L. VII. 285 ff.

89

,. they ran, they flew

From thcir Foundations loos'ning to and fro They pluck't thc seated Hills will all their Load. Rocks, Waters, Woods, and by ihc shajrjo Tops UpliftinjT bore them in thcir Hands. ^*)

„Mir däuchte,, als sähe ich den Enjrcl stehen, wie er den Berg, der vor mir lag, in den Lüften schüttelte."

So tief hatte ein Bodmer die Miltonschen Darstellungen nicht erfaßt. In seiner Fähigkeit, die Katur zu beleben, ist Moritz ein echter Stürmer und Dränjicr. aber noch r.ai sich ihm die Natur nicht selber offenbart. Kr sieht sie durch das Medium einer Drittperson, in diesem Falle Miltons.

Die Schüler Herders jedoch gingen direkt auf die Na- tur zurück. Deshalb sagte ihnen auf einmal die ganze .N\il- tonsche Mythologie in ihrer zu großen Abstraktheit nichts mehr. Wir hören kein Wort über sie in diesen Jahren; sie mußten sie als Unnatur beiseite lassen.

Der realistische Ton von Goethes ewigem Juden entsprach dem Geschmack jener Zeit. Wie ein Bänkel- sängerlied hebt das Gedicht an, humcrvoli stellt es uns Gottvater und seinen Sohn vor. Und doch, welcher Christus erfüllt uns mit mehr Innigkeit, der Miltonsche, der sich unter dem Jubel des Himmels zum Opfer für den Menschen entschließt, oder der Goethesche, von dessei\ Niederfahrt zur Erde nur wenige Verse erzählen:

„Er fühlt in vollem Himmelsflug Der Irdischen Atmosphäre Zug. Fühlt wie das reinste Glück der Welt Schon eine Ahnung von Weh enthält.

=•) P. L. VI. 642 ff.

. _ 90

Er denkt an jenen Augenblick,

Da er den letzten Todesblick

Vom Sclimcrzen-Hügcl herab^^ethan,

Fieng vor sich hin zu reden an:

Sei, Erde, tausendmal gegrüßt!

Gesegnet all', ihr meine Brüder!

Zum ersten Mal mein Herz ergießt

Sich nach dreitausend Jahren wieder,

Und wonnevolle Zähre fließt

Von meinem trüben Auge nieder.

O mein Geschlecht, wie sehn' ich mich nach dir!'*

Gegen diese paar Verse können auch die „hosannas", die die ewigen Regionen zum Preise des Sohnes erfüllen, nicht aufkommen.

Nachdem sich einmal der Geschmack dem Menschlichen zugewandt hatte, fanden auch die im Vergleich zu den Klop- stockschen realistischeren Engel des V. P. selten Bewunde- rung. Denn für Engel überhaupt war die neue Zeit nicht mehr zu haben. Immer seltener werden die Leute, die sich für sie erwärmen.'"') 1779 tritt der unbekannte Ver- fasser der Betrachtungen über die englischen Dichter für die Göttlichkeit des V. P, ein. Seine Ideen •werden aber von der Allg. DeutschenBibliothek, Bd. 44 (1780), p. 105 f. abgelehnt und im Teut sehen Merkur (38. Bd. 1780, II. Vierteljahr, p. 250) „fichief" genannt. Zeigt er doch gerade für das Realistische im Epos kein Verständnis (p. 697, p. 71).

Die religiöse Vergötterung Miltons hatte sich überlebt.

•"'*') <^aroline Pichler, geb. von Greiner, ei zühit in ihren Denkwürdigkeiten aus meinem Leben.., Erster Band (1769—1798), Wien 1844, p. 81/82, wie ihr kindliches Herz, von Miltonschen Vorstellungen ergriffen, sich den Engel Ithuriel zum Schutzengel erkor.

91 -*

II.

Herder zok die Bibel, die VolksdichtunK. Shake- speare Milton vor/') Lenz fand mir noch im mensch- ücheri Herzen mit seinen Leidenschaften einen Gci:enstand seines Interesses. Was konnte da Muten noch bieten?

In Lessink's poetischer Theorie halte das V. P. noch eine sroüc Rolle gespielt, Gerstenber}: hatte mit eben- bürtigem Verständnis das Grolic in Miltons Göttern er- kannt, war aber nicht wie Lcssing weiter auf das Werk cinKcjiangcn.

Lessings Urteil war es nicht wie dem Bodmerschea vergönnt, auch in weitere Kreise zu gelangen. Denn der Realismus entwickelte sich weiter. Von den natürlich un- sichtbaren Göttern des großen Kritikers drängte Herder zur Naturmythologie, und damit war es um Miitcns Kngei ge- tan, in ihrer Doppelexistenz als konkrete und abstrakte Wesen (und nichts haßten Herder und seine Schule mehr als abstrakte Geschöpfe) boten sie den Stürmern und Drän- gern nichts mehr. Nur in Übergangsptrsoncn wie Moritz konnten sie noch als mythologische Geschöpfe leben- dig sein. Sie wurden in diesen Jahren jedoch nicht theoretisch abgetan, sondern das Interesse an ihnen fiel einfach dahin. Für Herder blieb Milton der große Epi- ker wegen seiner biblischen Sprache. So auch zum großen Teil für Lenz.

Im Bewußtsein anderer Stürmer und Dränger lebte der

'^) J 0 h. K. L a V a t c r wollte nur den einfachen Qchalt der Bibel. „Ihr O s s i a n e und Shakespeare, ihr M i 1 1 o n c und Klopstockc. was habt ihr, ihr alle zusammen, was scwirkt, das mit den WirkunKcn zu vcrRlcichcn sei, welche bereits vor siebenzehnhundcrt Jahren die vier kunst- uud schwun^Moscn Poeten Matthäus, Markus, Lukas und Joh.-xnncs hervor- gebracht haben?" (Lavaicrs ausccw. Schriften, hsc V. Jöh. K. Orelli, Zürich 1860, 3. Bd.. p. 133). Kunst- und schwunclos wollte L. in seinen £i>cn sein.

92

eriKlischc Kpikcr nur noch in seinem menschlichsten, d. h. höllischen Teile fort: in Satan.

In seiner Ausgabe der A e n e i s (Leipzig 1767—1775) sagt der Altphilologe Chr. Q, Heyne bei Anlaß der Schil- derung des Tartarus im 6. Buche: „Fatendum lamen, haec omnia iiiferiora esse terroribus Tartari, quem Miltonus descripsit. et Teutonum Miltonus Messiadis conditor." (Ich zitiere nach A. Farinelli, Bullettino della Societä Dan- tesca Italiana, Glugno 1909, f. 2, p. 101.)

Aber wer jubelte dem gefallenen Engel zu, der seine stolze Stirn gegen den Herrn der Welt erhoben? Der Maler Müller fühlte sicherlich seine Größe, als er seinen Lucifer unwillig ausrufen Heß: „. . . lohnt sich der Mühe nicht mehr, den Teufel unter diesen vermatschten Weltkindern zu spielen, die nicht mahl mehr volle Kraft zum Sündigen übrig haben".")

Unter den Teufeln der damaligen Faustdramen dür- fen wir allerdings kaum geistige Nachfahren der Milton- schen Gestalt suchen. In der Volkstradition, dem Quell der Poesie jener Zeit, war der Böse eine absolut negative Kraft.") Die Sage, Paracelsus, Swedenborg zeichneten dem Goeiheschen Mephisto den Weg vcr.

Aber die Lieblingspersonen der Stürmer und Dränger, die Herders Vorurteile nicht mehr hatten, eignete ihnen nicht der Stolz, die Größe, der Unabhängigkeitstrieb Satans?

") Werke. 2. Bd., Heidelberg 1811, p. 16.

*") So suchte C h. W, K i n d l e b n in seinem vielgelesenen Buch Ueber die Non -Existenz des Teufels (Berlin 1776) die Geistißkeit des Teufels- zu erweisen. Als rein necative Kraft, als Geist der Kabale u. ü. ist Satan dargestellt in C r a n - Ä e n s Buch Qallerie der Teufel, bestehend in einer auserlesenen Samlung von Qemilhlden moralisch politischer Figuren, deren Origi- nale zwisclien Himmel und Erden anzutreffen

93 ~

Dem junRcn Goethe brachten auch diese EiRenschaften Milton nicht näher.'*) Er zog Prometheus dem ge- fallenen Engel vor.

Im 111. Theil von Dicht unj; und Wahr- heit. J5. Buch, sagt er später; ..Die Titanen sind die Folie des Polytheismus, so wie man als Folie des Monotheismus den Teufel betrachten kann; doch ist dieser so wie der einzige Gott, dem er entgegensteht, keine poetische Figur. Der Satan Miltons, brav genug gezeichnet, •bleibt immer in dem Nachtheil der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorthcil, der. zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag.*' ....

„Der titanisch-gigantische himmclstürmendc Snin jedoch verlieh meiner Dichtungsart keinen Stoff. Eher ziemte sich mir, darzustellen jenes friedliche, plastische, allenfalls dul- dende Widerstreben, das die Obcrgcvali unerkannt, aber sich ihr gleichsetzen möchte. Doch auch die kühneren jenes Geschlechts, Tantalus, Ixion. Sisyphus» waren meine

sind, nebsi einigen bewährieu Reccptcn, cc- gen die Anfechtungen der bösen Qcisicr von Pater Qassner dem Jüngern, Krstcs Stück. Frankfurt und Leipzifir 1776. Da erinnert Saian nur einmal an den Miltoii- schen, wem er wie bei .N\ilton eine Rede hä!i, in der er seine Getreuen an die vergangenen Kämpfe erinnert usw. «p, 101.)

") Wir haben kein Anzeichen daföw daß sich der junec Goethe für Milton erwärmt hätte. Er erwähnt ihn ilüchtic in einem Briefe an die Schwester vom 27. Sept. 1766 (Wcim. Ausß. IV, 1. p. 71) als Dichter des hohen Stils neben Younf: usw. In den Frankfurter Gelehrten Anseilen (1772» ruf», er als echter Schüler Herders aus: „Geliert isi gcwiQ kein Dichter auf der Scala, wo OQian, Klopstock. Shakespeare und .Mihon stehen" (D. L. D. 7, p. 99). Für Ar..->pic!unKen vgl. Jubiläums- ausg. VII, 196 und 359, vgl. auch Regisier. Klopsiocks Einfluß hatte der Knabe Goethe hingegen bckanntliJi erfahren.

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Heiligen. In die Gesellschaft der Götter aufgenommen, moclitei; sie sich nicht untergeordnet genug betragen, als übermiithige Gäste ihres wirthlichen Gönners Zorn verdient und sich eine traurige Verbannung zugezogen haben. Ich bemitleidete sie; . . ." (Werke, Weimarer Ausgabe, 28. Bd., p. 313/4.)

Goethes Prometheusfragment ist der Ausfluß des über- mächtigen Schöpfcrgefühls, das den Schüler Herders be- seelte. Obgleich Milton die griechische Sagenfigur vor- .•schwebte, so verändert er sie doch nach der negativen i^ichtunK hin. Reiner Stolz, nicht Schöpferlust ist der Grund von Satans Abfall. Deshalb erschien er Herder als ein „Ungeheuer''. Aus demselben Grunde sagte er Goethe nicht zu. Ab'jr durfte ihn dieser daher eine unpoetische Figur nennen? Konnte nicht auch der bloße unbeugsame Stolz eine diciiterische Verkörperung erfahren? Waren Goethe und sein Lehrer nicht ungerecht gegen die wirklich tita- nisch-gigantische Gestalt, weil sie für sie zu wenig fried- lich, zu wenig „plastisch" war? Entging nicht ihren anders gearteten Naturen das wirklich Plastische in Satan?

Miltons Satan appelliert allerdings nicht an unser Mit- leid, sondern in erster Linie an das Heroische in uns. Er ist eine paihetische Figur und als solche fand er in gleich- gestimmten Herzen unter den Stürmern und Drängern ein Echo.

Friedrich Leopold Graf zu Stolberg lebte sich in Mil- tons Welt hinein. Schon 1771 berichtete er seiner Schwester über die ersten Eindrücke, die er vom V. P. empfangen.") Er zog Kiopstock noch vor; aber „mich deucht, Du liebst Milton nicht genug. Seine Fehler will ich nicht entJichuldl-

") Vgl. Fried r> Leopold Qrai zu Stolberg . . . von Johainia'Janssen, Freibar 2 1S77, 1. Band, p. 19, p. 189 wird Milton in einem Briefe vom 23. Juni 1786 den Größten aller Zeiten sieichsestellt.

~ 95

gen. Die Kanonen der teuflischen Armee mißfallen mir so sehr wie den Kngeln, aber was ist erhabener als der Kampf im Himmel, wie die beiden Heere Berge entwurzeln, sie gegen einander schleudern und unter a dismal shadc fech- ten, bis der Messias die Teufel wie eine Heerde Ziegen vor sich treibt." Aus dieser Stelle spricht noch der Klopstock- jünger, wie auch aus dem Kntzückcn. in das er bei der L Lek- türe des Morgengebetes gerät. Nur etwas zu viel Lehr- haftes findet er in diesem. Schon zeigt sich auch die Freude arn Realistischen.

Später aber, nachdem der Funken des Genies auch in seinem Geiste zündend gewirkt, ist es Satan, für den er sich begeistert. Wie er Rubens' Gemälde sieht, bemerkt er: „Hätte Rubens Miltons verlornes Paradies erlebt, so würde der Maler auf Flügeln des Dichters sich höher erhoben, mit mehr Würde den Fall der herabgestürzten Engel dargestellt, manchen Einfall zu muthwilliger Laune dem Ernste des Gegenstandes aufgeopfert haben. Der mit Kraft der Hlmm- iischen sich den Satanen nachschwingende, mit flrsmmcn- dem Schwerte siegreich sie verfolgende Engel ist des MiU tonischen Michaels nicht unwürdig, Milton würde vielleicht an einigen der Satanc nichts getadelt, würde gewiß der dem Maler cigenthümlichen hohen Laune Gerechtigkeit haben widerfahren lassen. !n vielen, wo ich nicl'.t irre in den meisten. Vorstellungen dieses Gemäldes sinkt der Maler zum Unedlen, zum fürchterlich Possierlichen hinab/**"*) Man wäre versucht zu sagen: Das von KlOi.stock in Stol- berg geweckte edle Pathos wirkt noch lebendig nach und hat sich mit dem erwachten Sinn für das Charakteristische

"^) Vgl Gesammelte Werkt Jcr Brüücr sihri. siian und Friedrich Leopold Grafen zu Siol» b e r g , Sechster Band. Hamburc 1S27. p. 10 f. Im 3. HJ. p. 6 und im 6. p. 33 f. Je ein Zitat aus Milton. Bd. la p. 4m .Milton erwähnt.

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zu einer für die Wertung des V. P. glücklichen Mischung verbunden.

Auch Isaak Iselin gibt Lavatcr den Ratschlag, Satan groß erscheinen zu lassen: „Es ist nichts anderes möglich» als Sie müssen diesen Letzteren (== Jehova) für einen untergeordneten Schöpfer und Gott, nicht für den allmäch- tigen Schöpfer halten und auch so wäre Satan, wie die Franzosen bei Milton gesagt haben, mehr ihr Held, wäre mehr sicghaf c und groß als Jehova." ")

Max Klinger, dem nach Unabhängigkeit strebenden Kraftgenie, mochte in jenen Jahren der Höllenfürst ebenfalls als Ideal vorschweben, wenn auch unter seinen Jugend- werken keines die Einwirkung Miltons zeigt. Wir wissen,, daß er dem englischen Dichter während seines ganzen Lebens seine Zuneigung bewahrte."^) In seinem 1790 er- schienenen Faust, der seinem Inhalte nach nicht mehr in die Sturm- und Dranspe/iode gehört^ tönt in der ersten Höllen- Szene Miltons Wirkung nach und zeigt uns, was dem älte- ren Klinger aus jüngeren Jahren vom V. P. in Erinnerung geblieben war."")

Wie Miltons Satan steht Klingers Leviathan vor uns:

^^) Vgl. A. L a n g m e s s e r ,. Jacob S a r a s i n . . . Zürcher Diss. 1«99, p. 122.

'"*) In seinen in Rußland geschriebenen Betrachtun gen (1803) gedenkt er noch iMiltons mit Liebe. Vgl. Max Rieger, Klinger in seiner Reife, Darmstadt 1896, p. 474.

"") Georg Joseph Pfeiffer hat in seiner Würzburger Dissertation (1887), Klingers Faust, Eine litterar- historische Untersuchung, alle Züge zusammenge- tragen, die von Milton stammen können. Schoiv^ P r o s c h , Klingers philosophische Romane, Wien 1882, p. 55, hatte auf Miltons Einfluß hingewiesen. Wie sich aus Pfeif- fers exakter Untersuchung ergibt, gehen nur kleine Züge am Anfang des Romans auf Milton zurück (p. 41 ff).

Noch im Qiafar und im Zu frühen Erwachen de.s Genius der Menschheil kommt Klinger auf solche Höllen- S7.cnen zurück. Vgl. R i e g e r , 1, c, p. 299 und 345.

_- 97

„Der Ttufel . . . stand in erhabner, statilicher, kühner und kraitvoller Gestalt vor dem Kreise. Fc'jrsj;e. gcbietri- sche Augen leuchteten unter zwey schwarzen Braunen her- vor, zwischen welchen Bitterkeit, Haß, Groll. Schmerz und Hohn, dicke Falten zusammcngerolli halten ... Er hatte die Miene der Kcfallnen Engel, deren Angesichte einst %'on der Gottheit beleuchtet wurden, und die nun ein düstrer Schleyer deckt." *")

„Fürsten, Mächtige, unsterbliche Geister,'" spricht Klin- gers Satan seine Scharen wie der Milionsche an: „seyd mir alle willkommen! Wollust durchglüht mich, wenn ich über euch zalillose Helden hinblicke! Koch sind wir. nas wir damals waren, als wir zum erstenmal in diesem Piuhl aufwachten, zum erstenmal uns sammelten! Nur hier herrscht E i n Gefühl, nur in der Hölle herrscht Einigkeit.***')

Den dankbarsten Verehrer unter diesen heißspornigen Jünglingen fand aber der mächtige Beherrscher der Hölle im jungen Schiller. Was dem schwärmerischen N'oß ") vor- schwebte, als er am 15. Nov. 1772 an Brückner über den

*°) Vgl. F. M. Klingers Werke. Lcspzii: 1832. Bd. Hl (Fausts Leben. T baten und Höllenfahrt), p. 48. Vj). dazu l\ L. I. 589 fi'.:

He, above the rest In sliapc and gcsture proudly eminent, Stood like a tow"r; bis iorn*. had yct not !ost All her original brightness, nor appcared Less than Archaneel rnin'd, and the cxccss

Of glory obscur'd:

Darkened so, yet shone Above them all the Archa:iKcl: but bis face Dccp scars of ihunder had intrcrch'd. and care Sat on his fadcd chcek, but under brows Of dauntless couragc, and considcraic pridc Waiting rcvcnge: crucl his eye, but cast Slgns of remorse and passivon . . . ") Werke, 1. c, p. 21. ") Briefe von J. H. Voß, 1. Bd.. Halbcrstadt 1829. p. !(».

Piczo.MUton 7

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Teufel schrieb: „Wir wollen ihn uns wie Milton und Klop- stock Kcdcnken. Kr wird edler und schrecklicher", das wurde in der Phantasie des Karlsschülers zur Wirklichkeit.

Der stolze, haßerfüllte Satan, der manchmal von einem leisen Gefühl der Reue beschlichen wird und dessen edler Gestalt der göttliche Ursprunj^ noch anzusehen ist, mußte zum Genie gestempelt werden, dessen Verhängnis nur ist, keinen Herrn über sich dulden zu wollen.

Die Sprache der Räuber zeigt Spuren von Klopstocks edlem Schwung; das Stück atmet aber Revolutionsluft.

In einer nachher getilgten Szene sagt Karl Moor zu Spiegclberg: , Das Gesetz hat noch keinsn Mann ge- bildet, aber die Freiheit springt über die Pallisaden des Her- kommens, und brütet Kolosse und Extremitäten aus Ich weis nicht Moriz ob du den Milton gelesen hast Jener der es nicht dulden konnte, daß einer über ihm war, und sich anmaßte den Allmächtigen vor seine Klinge *zu fordern, war er nicht ein ausserordentliches Genie? Er hatte den Unüberwundenen angegriffen, und ob er schon erlag, so hatte er doch seine ganze Kraft erschöpft, und ward doch nicht gedemüthiget, und macht immer neue Versuche bis auf diesen Tag, und alle Streiche fallen auf seinen eigenen Kopf zurück, und wird doch nicht gedemüthigt. Dieser ists über den unsere Waschweiber das Kreutz machen." Kurz darauf sagt Spiegclberg: „Geh mir mit dem Schla- raffen Leben dank du Gott, daß der alte Adam den Apfel angebissen hat, sonst wären wir mit sammt unsern Talen- ten und Geisteskraft auf den Polstern des Müssiggangs ver- modert." •"■)

") Es ist gewagt, auf Qrund dieser Stellen (die zuerst von A. C 0 h n in S c h n o r r s Archiv IX, 277 ff. u. dann bei R. Weltrich, Friedrich Schiller, I. Bd. Stuttgart 1899, p. 357/8 abgedruckt wurden), der Äußerung Schillers in der Vorrede: „Miltons Satan folgen wir mit schauderndem Erstaunen

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Als Schiller, unter der strengen Disziplin leidend, die Räuber mit sich herumtrug, als der Unabhän:4is:kcitstricb in ihm erwachte, da mußte der große Apostat in seinem Merzen einen Widerhall finden. Aber nicht für lange. Als der weltunkundige Dichter ins Leben hinaustrat und die Niedrigkeit des Alltags kennen lernte, da empörte sich sein edler Sinn nicht gegen Gott und seine Ordnung, son- dern gegen die Menschen und ihre Gesetze. Die Räuber wurden zum sozialen Drama. Deshalb wurde die „Mil- tonszene** wohl auch gestrichen und nicht nur, wie Welt- lich p. 357 glaubt, um den „Christlichgesinnten" kein Ärger- nis zu geben.

Karl Moor und Satan sind „große Verbrecher'*, wie sie der junge Schiller liebte. „Was Schiller wie Milton an

durch das unweKsamc Chaos'* (Werke. Sükularauscabc ßd. 16. p. 17) und einJKcr Anklänjic im Drama cir.cn zu großen KirfluB Miltons auf die R Ji u b e r anzunehmen, Heinrich KfaCicr hat dies in seinem Byronschcn Helden typus (Munckcr- sehe ForschunKcn VI, München 1898) im Kapitel Das F*ara- dise lost und Schillers Räuber jician. Man darf nicht vergessen: Kari Moor wird durch die Unccrechtlskcit der Welt zu dem gemacht, was er ist; er empört sich k'Ck'cn die Gcsctzcs- welt, weil sie schlecht ist, während Mütons Satan aus reinem Stolz von Gott abfiel. Mit diesem fundamentalen Unterschied fällt aber die HauptKrundlaye einer Bceinilussunj: dahin. Der Satz Kracsers: „und wenn Karl Moor den Beruf für einen Brutus oder Catilina in sich fühhe, so weist das wieder auf den Luciftr, der Qott werden wollte und doch als Satan endicen mußte" (p. 16) ist deshalb verfehlt, weil Brutus sich nicht an die Stelle Cäsars setzen wollte und Gott bei Milton die ewige Liebe ist Für den Leser des Dramas bleibt Karl Moor der Kdclsic von allen. Das Wort Teufel, das im Stücke haufii: und in vielen \'er- bindungen vorkommt, geht nich; nur auf Milton oder Klopsto;k zurück. Auch bei Klinger kommt es oft vor. wie Richatd Philipp, Beiträge zur Kenntnis von Klingers Sprache und Stil in seinen Jugenddramen (Frcib. i. B. Diss. 1909), p. 102, nachgewiesen hat Und daß Schiller v)n Klintcer gelernt, ist bekannt

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diesen Gestalten bannt, ist das Verlorengehen des Edel- sten,'' sagt Eugen Kühnemann/*) Bei beiden schlagen wir uns, wie Schiller sich in der Selbstrezcnsion der Räuber ausdrückt, so gern aui die Partie der Verlierer, „ein Kunst- griff, wodurch Milton, der Panegyrikus der Hölle, auch den zartfühlendsten Leser einige Augenblicke zum gefallenen Engel macht" (1782, Werke, Säkularausg. 16, p. 24).

Aber nur allgemeine Züge berechtigen uns, sie neben- einander zu stellen.

Der innere Kampf, welcher die Räuber durchtobt, geht nicht auf das V. P. zurück. Die Erlösung, welche Moor und seine wilden Genossen in der Ireicn Natur suchen, hat mit der Freiheit, die Satan erstrebt, nichts zu tun/^) Es ist wahr, Cromwell hat dem englischen Dichter vorgeschwebt, Milton, der Republikaner, hat das Epos geschrieben. Aber der soziale Charakter, den Rousseau seinem Zeitalter gab, verlieh auch den Räubern eine Färbung, die das puritanische Gedicht nicht kannte. Deshalb konnte Miltons Satan, trotz der ästhetischen Anerkennung, keine Idealfigur Schillers werden, wie Kracger und Kühnemann annehmen möchten.

**) Schiller von Eugen Kühnemann, Vierte Auf- lage, München 1911, p. 79, p. 76 ff. spricht Kühnemann vom Einfluß des V. P. auf den jungen Schiller. Meiner Ansicht nach hat sich K. Kraesjcrs Anschauung zu sehr angeschlossen. Wenn er p. 82 sagt: „Zu Schiller ist die Miltonische Poesie auf dem Wege über Kiopstock gekommen," so ist das wohl nicht ganz richtig, da eben Kippstocks Teufel dem jungen Schiller eine neue Auf- fassung Satans nicht vermitteln konnten, sondern diese erst durch neue Vorbilder und Strömungen ermöglicht wurde.

*•'■) Darf man aus dem Zusammenhang sich entwickelnde ähn- liche Situationen zu einander in ursächliche Beziehung bringen? Wenn der Räuber Moor, durch den Anblick der Sonne an seine Jugendzeit erinnert, sich den Hut übers Gesicht drückt und sagt: „Es war eine Zeit laßt mich allein, Kameraden!", darf man da an den Anflug von Reue denken, welcher Satan erfaßt, wenn er die eben erschaffene Erde mit ihrer Glückseligkeit sieht?

lOi

Das auslöschende Miltonfeuer gümmt am Ende der Sturm- und Dranjjzeit nur noch für einen kurzen Auaen- blick auf. Seit Bodmcrs Auftreten halte Milton erst siär- ker, dann schwächer in Deutschland gdcbt. Er hatte die Dichter in religiöse Begeisterung verseut, sie in ideale Ge- filde geführt, halte durch seine Plastik gewirkt und schließlich war er dem titanischen Dran^ einer neuen Generation entgegengekommen. Der Übergang hatte sich allmählich vollzogen. Das eine schloO das andere nicht aus. Wie Friedrich v. Stolbcrg. so war Schiller zu- erst für Klopstocks erhabene Sprache entflammt. Als sich sein Herz dem gefallenen Engel öffnete, wirkten der Schwung und die Anschauungen des Messiasdichters in seiner Seele noch nach. Aber es war das Schicksal des V. P. in Deutschland, daß, sobald sich das Verständnis für seine gewaltigste Person Balm gebrochen ha»tc. die Be- dingungen, die für dieses größere Verständni.'; notwendig waren, zur Folge hatten, daß das Interesse an Satan und noch mehr am Seraphischen in den Hintergrund trat. Die neue Zeit konnte Satan wohl begreifen, aber sie fand kein Genüge mehr an ihm. In neuen Vorbildern, in den empor- schießenden einheimischen Werken war das Emprlnden der Stürmer und Dränger noch besser ausgedrückt als im V. P. Im Q ö t z , in den Räubern, in Klingers Dramen konnten sich die Kraftgenies mehr ausleben, als der gegen die Allmacht blind ankämpfende Satan, Der Milionsche Teufe), ist eine bedeutende Leistung für das puritanische Zeitalter. Sturm und Drang hatte noch Bedeutenderes auf- zuweisen.

Um Menschen zu schaffen, schloß sich Schiller wie Goethe an Shakespeare an. Lenz mochte wohi dem .\us- ruf Mirciers: „O combats d'Ossian! 6 chants tcnebrcux de Milton! 6 enfer du Dante! «*• nuits d'Young****) zusiim-

") Mon bonnet de nuit, Ncuchätel 1784. II. p. 242.

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mcn. Der größere Brite blieb sein Abgott. Auch Klinger nahm sich in seinei Sturm- und Dranijpcriode Shakespeare zum Muster. Für Milton behielt er Interesse. Aber in seinem J^oman Fausx (1790) bewegt er sich in einer modernen philosophischen Sphäre. Die oben erwähnte Satansszene, nur Staffage im Ganzen, ist wie eine Erinnerung aus frühe- ren Tagen.

Fünftes Kapitel

Die Klassik l.

Es ist imcressant zu sehen, wie ungefähr zur gleichen Zeit, da sich die führenden Geister Deutschlands von Mil- ton abwenden, die wissenschaftliche oder, besser Rcsagt, popularisierende BeschüfiiRunji: mit den enRÜschcn Dichtern einscizt.

1781 erschienen in Altenburg: in der Richicrschcn Buch- handlung Samuel Johnsons biographische und kritische Nachrichten von einigen engli- schen Dichtern, Aus dem Englischen übersetzt und mit AnmerkunRen vermehrt. Erster Thcü. 1783 erschien der zweite Band.

Ebenfalls 1781 wurde In Leipzig (Weygandsche Buch- handlung) Wartons Geschichte der engli- schen Poesie von D. Christian Heinrich Schmidt deutsch herausgegeben.

In den Englischen Blättern, jn Gesell- schaft mehrerer Gelehrten herausgegeben von Ludwig Schubar». . Vierter Band. Mit Miitons Bildnis, 1795 Erlangen (Walihersche Buchhandlung), findet sich eine kurze Lebensbeschreibung MÜtons.

1797 erschien Das Leben Miitons von W. Hay- lay, Nach einer zweyttn Ausgabe aus dem Englischen übersetztv Winterthur, Steiner 1797. XXVII und 210 S.

104

Mehr nocK als durch bloße Biographien wurde durch Ausgaben oder Stücke in Anthologien gewirkt.

1783 kündigte eine. Gesellschaft an, daß sie zur Aus- breitung der englischen Lektüre die besten Schriftsteller, als Shakespeare. Thomson, Pope, Milton, Yorick, zu einem sehr billigen Preise drucken lassen wolle. Die Hermann- sche Buchhandlung in Frankfurt am Main besorge die Hauptversendung.

Fast gleichzeitig zeigte Dietrich in Göttingen ein ähn- liches Unternehmen an, indem er unter Prof. Lichten- bergs Aufsicht die Works of the English poets with prcfaces biographical and critical by Johnson drucken lassen wollte. 1784 erschien der L Band mit Miltons Leben und dem V. P.v 1785 die übrigen Werke Miltons.

1784 wurde in E'.rfurt (Kayser) herausgegeben: A new Collection of poetical pieces original and translated od er neue englische poe- tischeChresiomathie zusammengetragen und mit erläuternden Anmerkungen versehen von F. G. Barth, Zweyte vornehmlich im Wortregister stark vermehrte Auf- lage, Aus dem V. P. finden sich die ersten 375 Verse des I. Buches darin.

In seiner Beispieisammlung zur Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften gibt J. J. Von Escheuburg im 5. Band (1790), p. 309—14 Buch V, V. 1—219 und in früheren Bünden Proben aus anderen Werken Miltons. Kurze Einleitungen orientieren.

Da die Beschäftigung mit Milton einen wissenschaft- lichen Anstrich bekommen hatte, wurden mehr als früher die übrigen Werke des Dichters berücksichtigt.

Auch mit Übersetzungen hielt man nicht zurück.^)

*) Vgl. die .Aufzählungen bei Qo cd ecke, Grundriß VII, p. 712 und in der von Hermann Ullrich besorgten Aus«

105 ^

Bruchstücke aus dem V. P. übertrug Rainler 1782 in dem zu Berlin erscheinenden Auszuj; des En^ii- sehen Zuschauers in einer neuen Über- setzung (Bd. I, p. 73/4, II, 80/82, III. 87. IV, 42. 118,9» 369/70, 372, 374, 376, 377, 396. 398: Die Stücke, welche Addison anführt).

Diese Fragmente brachten den Verleger Chr. Fricdr. Himburg auf den Gedanken, den Deutschen eine neue Übertragung zu bieten. Er schrieb in dieser Sache am 21. Okt. 1782 an Gottfr. A. Bürger: „Was sagen Sie. bester Mann, wenn ich Sie im Nahmen aller Verehrer Miltons auf- fodcre uns den Ersten epischen Dichter Europens in bür- gerischcr Übersetzung zu schencken?" Ramler sei zu alt und nicht mehr „von hell brennenden Feuer und zu pein- lich in seinen Arbeiten". Oder ob er sich an einen der Stolbcrgs wenden solle? Er werde einen Übersetzer sicher- lich gut bezahlen, und das Buch aufs schönste ausstatteji.*)

Die Sache kam nicht zustande. Bü'-ger lehnte ab.') Auch die Slolbergs scheinen nicht dafür gewonnen worden zu sein.

Es vergingen noch elf Jahre, bis eine neue Ge.samtüber* Setzung erschien: Joh. Miltons verlornes Para- dies übersetzt von Samuel Goitlicb Bürde, Berlin 1793 (bei Friedrich Vierweg, dem alleren;.

In der Zeit von 1760/63 bis 1793 waren nur Bruchstucke ' übertragen worden: Von Karl Philipp Moritz in seinen

jjabe von Miltons Werken (Hesse) . . , p. 141 ii. Meine Aufzälilung ist vollständiger. Sowohl Goedccke als auch Ullrich Überjichcn Moritz, Ramlcr, {a sosi:ar Herder <vgU oben p. 80 und unten p. 120).

') VrI. Briefe von und an Gottfried .\usust Bürger, hsg. v, .-Idolf Strodtmanr. Berlin IS74. 3. Bd., p, 99.

^) Val. W o I f ß a n j: v. W u r z b a c t: . O. .A. B ü r g e i Leipzig 1900, p. 216.

106

Denkwürdigkeiten zur Beförderung des Edlen und Schönen (Zwcytes Vierteljahr, Berlin 1786. 18. Stück, p. 271—276: Adams erstes Er- wach c n = Buch Vlil. V. 250—345; 22. Stück, p. 335—341 u. 2Z, Stück, p. 351—354: DerÜbergangvom Quten zum Bösen - Buch IX, 192— c. 390. Prosa); von Lud- wig Qotthard Kosegarten („M o r g e n h y m n e" in den Q e d i c h t e n , Leipzig 1788, !3d. I, p. 42—47, mehrmals wiedergcdruckt'/) von unbekanntem Verfasser 1794 „Der Löbgesang Adams und Evas" (5. Buch) in der Neuen Bibliothek der sch"önen Wissen- schaf t e n 53, 2; S. 237—240;*) schließlich noch von Her- der (s. Anm, l).

II

Aus der obigen Übersicht kann man kaum den Schluß ziehen, daß Milton in den letzten zwei Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland nicht mehr lebte. Im Gegenteil: Wollte man bloß die Ausgaben und Über- setzungen sprechen lassen, so könnte man versucht sein zu glauben, daß sich der Dichter wie vorher eines hohen Ansehens erfreute.

Aber man darf nicht vergessen, daß gegen das Ende des Jahrhunderts das allgemeine Interesse an der Literatur zunahm, weshalb Ausgaben und Übersetzungen fremder Dichtwerke allen Poeten, besonders denen eng- lischer Nation, zugute kamen.

Ob Milton dem Geschmack der Allgemeinheit noch entgegenkam?

*) Vgl. dazu Qoedecke und Ullrich.

'') Vgl. ebd. Was Qeorg Fried r. Niemeyer, A Col- lection out of some oi the most approved Eng- 1 i s h P 0 e t s , viz. Pope, Miltor. . . . translated, Hannover 1794, enthält, weiß ich nicht.

- 107 -^

Was dachten die größten Dichter jener Epoche und ihr Kreis über den enjjlischen Epiker?

Goethe konnte sich sein ganzes Leben lan;: mit dem V. P. nicht befreunden. Im Juli 1799 nalim er es neben andern Werken vor, um, ^x•ie er in den A n n a I c n sagt, sich „die mannichfaltigsten Zustände. Denk- und Dicht- weisen zu vcrKejrcnwärtijrcn".") Er berichtete drsriiber am 31. Juli an Schiller:

„Das verlorne Paradies, das ich diese Ta^e zufällig in die Hand nahm, hat mir zu wunderbaren Beirachtungen Aniafi gej^eben. Auch bey diesem Qcdichte. wie hey allen modernen Kunstwerken, ist es eigentlich Jas Individuum, das sich dadurch manifestirt, welches das Interesse hervor- bringt. Der Gegenstand ist abscheulich, äußerlich schein- bar und innerlich wurmstichig und hohl. Außer den weni- gen natürlichen und energischen Motiv,m ist eine ganze Partie lahme und falj;che, die einem wehe machen. Aber freylich ist es ein interessanter Mann, der spricht, m?.n kann ihm Charakter, Gefühl, Verstand, Kenntnisse, dichte- rische und rednerische Anlagen und sonst noch mancherley Gutes nicht absprechen. Ja der seltsame einzige Fall daß er sich, als verunglückter Revolutionair. besser in die Rolle des Teufels als des Engels zu schicken weiß, hat einen großen Einfluß auf die Zeichnung und Zusammensetzung: des Gedichts, so wie der Umstand, daß der Neriasscr blind ist auf die Haltung und das Kolorit desselben. Das Werk wird daher immer einzig bleiben, und wie gesagt, so viel ihm auch an Kunst abgehen mag, so sehr wird die Natur dabey triumphieren." (Werke, H. Bd., p. 13S9).

Durch das Gedicht sei er auch genötigt worden, über den freien Willen nachzudenken: ..er spielt in de/n Ge- dicht, so wie in der christlichen Religion überhaupt, eine

^) Werke, Weimarer Ausgabe, 35. Bd., p. S4.

108

schlechte Rolle. Denn sobald man den Menschen von Haus aus für füllt annimmt, so ist der freye Wille das alberne Vermögen aus Wahl vom Guten abzuweichen und sich da- durch schuldig zu machen." (ebd., p. 139/40.)

Am 3. Aug. kommt Goethe noch einmal auf das V. P. zu reden.

„Miltons verlornes Paradies, das ich Nachmittags lese, giebt mir zu vielen Betrachtungen Stoff, die ich Ihnen bald mitzutheilen wünsche.') Der Hauptfehler, den er begangen hat, nachdem er den Stoff einmal gewählt hatte, ist, daß er seine Personen, Götter, Engel, Teufel, Menschen, sämmt- lich gewissermaßen unbedingt einführt und sie nachher, um sie handeln zu lassen, von Zelt zu Zeit, in einzelnen Fällen, bedingen muß, wobcy er sich denn, zwar auf eine ge- schickte, doch meistens auf eine witzige Weise zu entschul- digen sucht. Übrigens bleibts dabey, daß der Dichter ein fürtrefflicher und in jedem Sinne interessanter Mann ist, dessen Geist des Erhabenen fähig ist, und man kann be- merken, daß der abgeschmackte Gegenstand ihn bey dieser Richtung oft mehr fördert als hindert, ja dem Gedicht bey Lesern, die nun einmal den Stoff gläubig verschlucken, zum großen Vortheil gereichen muß." (ebd., p. 142/3.)

Wenn Miß Mary Carr im Anschluß an die zitierten Stellen schreibt: „It must be confessed that Goethe is right in somc points in his criticism of Paradisc Lost, but surely, in pronoucing the subject to be „detestable, outwardly plausible, and inwardly wormeaten and hollow", he does not justice to the earnest purpose of Milton in writing the great eplc of Puritanism",*) so hat sie Goethes Ausspruch gründlich mißverstanden.

') Er hat es, schriftlich wenigstens, nie getan.

*) Pubiicaiions of the English Goethe Society, N. IV, Lon- don 1888, Goethe in his connection with Enelish L 1 1 e r a t u r e , p. 55.

109 -

Goethe war weit davon ejitfcrnt, AJiltons ernste Ab- sicht zu bezwcifehi. „Abscheulich (v^'ohl gleich ab- schreckend), äußerlich scheinbar und innerlich wurmstichig und hohl" nennt er den Stoff des V. P. in rein ästhetischer Bczichunij; seinem undoKmatischcn Sinn war die Anti- nomie im Gedicht nicht nur erkennbar, sondern sie machte es ihm ungenießbar. Der Widerspruch zwischen der All- macht Gottes und dem freien Willen des Menschen, zwi- schen der Unbedingtheit des Wesens der r.ngel und der Be- dingtheit ihres Handelns ist ein Grundfehler in der poeti- schen Intuition, über welchen nur der kindliche Glaube hin- weghelfen kann. Goethe besaß diesen Glauben nicht. Mil- tons Persönlichkeit, dem verur glückten Revolutionär» brachte er menschliche Teilnahme entgegen, im V. I\ selbst erkannte er nur ,.w enige natürliche und ener- gische iMotive" an. Was er unier diesen verstand, ist wohl unschwer zu erraten: Die Partien im ifpos. die sich natürlich geben und uns das Unkünsilerische der Anti- nomie nicht fühlen lassen, die ..allgemein menschlich" wir- ken; Stellen, wie die idyllischen Liebesszenen im irdischen Paradies, wie der lyrische Anruf an das heilige Licht

So verhaßt war Goethe das Dogmatische im christ- lichen Epos, daß er, wie wir sahen, nichi einmal Satan einen poetischen Wert zuerkennen wollte. Ihm lag so sehr jeder Dualismus fern, daß er nicht einrtal das wirklich Poe- tische in der Gestalt des gefallenen Erzengels erkennen wollte.

Was war ihm da erst Mutans Gott! „Was war' ein Gott, der nur von außen stieße. Im Kreis das All am Finger laufen ließe! Ihm zient's, die Welt im Innern zu bewegen, Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen. . . ."

Das Höchste, das dem Menschen widerfahren kann, ist, daß „sich Gott-Natur ihm offenbare". Was war gegen

110

eine solche Weltanschauung die engherzige Schöpfung des puritanischen Dichters? Wenn der deutsche Dichter sagt: „Vergib mir, daß ich so gerne schweige, wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist . . .**, so erinnert das nur äußerlich an die mahnenden Worte des Erzengels:

„Solicit not thy thoughts with matters hid!"") Milton verlangt den kindlichen Glauben an die Lehren der Kirche, Qoethe will über das Göttliche nicht reden, sondern es fühlen.

Stoffliche Gründe, nicht nur künstlerische, ließen Qoethe so sein Leben lang am V. P. vorbeigehen.

Ist es möglich, daß etwas vom Geiste des V. P. in den Faust übergegangen?

Man hat versucht, in den zu Enile der neunziger Jahre entstandenen Faustszenen Beeinflussung durch Milton nach- zuweisen.''*') Im Juli 1799 las ja Goethe das V. P. und im August entlehnte er für längere Zeit Zachariaes Übersetzung aus der Weimarer Bibliothek.

Die Anklänge, denen R. Sprenger mit Sorgfalt nach- gespürt» betreffen jedoch nur gemeinsame Einzelheiten, wie die Personifikation Mammons und ähnliche .ausdrücke in der Walpurgisnachtszene. Die Auffassung des Dramas gehen sie nichts an,

Einen Einfluß dei V. P. auf diese möchte nun Max Mor- ris annehmen. In den Goethestudien, I. Bd., 2. Aufl., Berlin 1902, p. 84 ff. und 224 ff. (Die Walpurgisnacht und die Faustparalipomenii) und in Mephistophelcs (Qoethejahrbuch XXII, p. 150 ff.) will er folgende drei Punkte beweisen:

•) Houston Stewart Cliamberlain, Qoethe, München 1912, p. 683 stellt die beiden Stellen nebeneinander.

") Q. V. L 0 e p e r , Hempelsche Ausgabe, 12. Teil, p. 126. Besonders siehe R. Sprenger, Englische Studien, Bd. 18, p. 304/6. Über Max Morris unten. Vgl. auch Jubil.- Ausg., Register, und Faust ed. Witkowsky', Leipzig 1912, p. 357.

111 ~

1) In Miltons Dichtung fand Goethe eine völli.4: durch- geführte und mit einer Fülle von anschaulichen liinrolzügcn ausgestattete Hierarchie des Bösen. Er bcschloli. diese Vorstellungen in das Drama einzufühcen (Goethest. I, 84). „Unter der Einwirkung des verlorenen Paradieses plant Goethe. Miltons Satan leibhaftig in die faustdichiung ein- zuführen" (Goethc-Jahfouch XXII, p, 186),

2) Mephistopheles bekommt viele Züge von Miltons Satan (Goethe-Jahrbuch XXII, p. 177 f.. 179).

3) „Aus den Miltonschcn Anregungen erwuchs endlich auch ein Plan für den Abschluß der gesamten Faustdich- tung, der erste zu unserer Kenntnis gelangte- Schlußpian*" (Q.-J. XXII. p. 188. ähnlich Qoethcsi.. I. 86 and Fausi- par. 1. c).

Als Beweis für die erste Behauptung iührt Morris neben einigen Anklängen im Drama selbst die P a r a 1 ' p o m c n a 48 und 50 an (Goethes Werke. Weimarer Aus- gabe, 14. Bd.. p. 305 ff.). Par. 48 ist eine Skizze zu einer Szene, in der offenbar unter Donner und Blitz Satan er- scheinen soll. Par. ISO ist eine dazu gehörige aus^icfülirtc Szene. Morris druckt nicht das ganze Par 48 ab. sondern nur einige Worte daraus, in denen \on TroinpetcnstöG«.n. Feucrsüulen, Rauch, Qualm, einem daraus ragenden Fels etc. die Rede ist. Dann bringt er aus dem 1. Buch des V. P. ähnliche Stellen zusammen und ordnet sie nach den Tat- sachen im Paraüpomenon. Die Trompetenstöße, die bei Goethe Satans Erscheinen verkünden, gehen nun nach Morris auf die zurück, die bei Milton die Scharen -Icr Krie- ger ins Heerlager einberufen. Der Fels, der aus dem Rauche hervorragt, gehi auf die Vorsvellung des feuerspeienden Berges zurück, auf den sich A^ammon und seine gierige Bande stürzen, um Gold zu finden.

Morris zieht alle seine Parallelstellen an den Haaren herbei. Der in Par. 48 angedeutete Spuk hat in Tat

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und Walirlieit mit der Miltonschcn Hölle nichts zu tun. Das bestätigt auch Par. 50, das uns l<lar zeigt, was mit der ganzen Szene ^:emeint ist: Ein „phantastisch-satirisches Nachtsiück", wie Morris selbst entfährt (Goethe-Jahr- buch XXII, p. 186).

Diese sog, Satansszenen 5;ind vielleicht viel früher ent- standen ^^) als jGnde der neunziger Jahre. Sicherlich ge- statten sie uns nicht anzunehmen, Goethe habe die Mil- tonsche Hierarchie des Bösen in seinen Faust einführen wollen. Auch nicht Miltons Satan. Denn mit diesem hat der humoristische Geselle, der über die Schriftsteller deut- scher Zunft Musterung abhalten sollte, nur den Namen gemein.")

Aber, wenn der Satan der geplanten Szene nichts mit demjenigen Miltons zu tun hat, hat es Mephistopheles?

Bis zum ersten Gespräch mit Faust, nimmt Morris an, haben wir in Mephisto einen volksmäßigen Spuk vor uns; dann aber, da über des Teufels Art und Wesen ein kräftig Wörtlcin not tut, sind wir mehr auf Miltonschem Boden (G.-J. XXII, p. 179). „Unter dem Einflüsse Miltons wandelt sich nun die Anschauung der Faustdichtung vom Bösen wieder ins Schärfere, Ernsthaftere. Das heitere Spiel des Schalks Mephisto mit dem alten Herrn tritt zurück. Me-

^^) Vgl. Paralipomena zu Goethes Faust, Eni- würfe, Skizzen, Vorarbeiten und Fragmente, geordnet und er- lüutert von Fr. Strehlke, Stuttgart, Leipzig, Berlin, Wien 1891, p. 35.

*') In Morris' beschriebener Beweisführung finde ich nichts Zwingendes. So könnte man alles beweisen. Dennoch scheint Erich Schmidt sie angenommen zu haben, wenn er im 13. Bd. der Jubiläumsausgabe p. XXVI sagt: „Nachdem Satan um Mit- ternacht als Vulkan versunken ist ein Motiv von Miltons Großmacht her —-". Dabei handelt es sich, wie wir sahen, um den Berg, auf den sich Mammon stürzt! Vgl. in dieser Ausg. Register. Alle möglichen Anklänge werden in den Anm. an- geführt. Sprengers wird aber nie gedacht.

113

phisto will Fausts Seele um ihrer selbst willen, er will sie für sich, für sein höllisches Reich, das Reich der Finster- nis, das mit dem Lichtreiche wie bei Milton in ewij^em un- versöhnlichem Kampfe liegt", (ebd.. p. 177.)

Behauptete Morris zuerst, daß MiUons S:.!an seihst auftreten sollte, so nimmt er hier im Widerspruch zu sich selbst an, daß Miltons Teufel Mcphistopheles zum Vorbild gedient.

Aber eine Welt, würde man i^iiauben, sollte xwischen dem Satan des republikanischen Puritaners und dem Mc- phistopheles des modernen Dichters üegen. Wo ver- lautet denn im Faust etwar darüber, daß Mcphisio- phe.les dem gefaücnen Erzengel gleichzusicüen sei, der sich gegen Qott empört? Besteht wirklich ein so großer Unterschied zwischen dem Teufel, der sich im Prolog auf den Augenblick freut, da Faust Staub fressen soll, und dem- jenigen, der sein Opfer durch wildes Leben, durch flache Unbedeutendheit schleppen" will?

.Mcphistopheles ist das Produkt einer höheren Welt- anschauung, nach v/elcher Qoit nicht im Kampfe mit dem Bösen liegt. Wie im Buche Hiob ist der Teufel ein Diener Gottes. Fällt er später aus der Rolle, wenn er sich defi- niert als

„Einen Theil von jener Kraft* Die stets das Böse will und stets das Gute schafft"? Darf man mit Morris die Worte Mephistos „So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung, kurz das Böse nennt. Mein eigentliches Element" neben den ingrimmigen Ausruf des besiegten Erzengels setzen:

„Nur in dem Verderben, nur in der Zerstörung Findet dies Herz voll Bitterkeit Lust"? ")

»•) Morris zitiert (Q. J. XXU, p. 179) di« Parallclsicllen nach der von Qocthc benutzten UbersetzuneZachariaet.

Pinto, UUtOB 8

114 -

Goethes Mcpliistopheles saß nie zur Rechten des All- mächtigen. Er ist

„Ein Theil des Theils, der Anfangs Alles war, Ein Theil der Finsternis, die sich das 'Licht gebar". Er bleibt das ans Irdische, an den Staub geknüpfte Wesen, das für ein höher gerichtetes Streben kein Ver- ständnis hat. Was verbindet ihn also mit dem gefallenen Gott, der nur in der Zerstörung Lust findet, weil es ihm nicht gelingt, Herr zu werden und den obersten Schöpfer zu entthronen? ^*)

Wenn wirklich Mephisto in der zweiten Hälfte des l. Theiles dämonischer wird, warum nicht die Nachwirkun- gen früherer Anschauungen annehmen, da ja Morris selbst sagt, im Urfaust stelle Goethe die furchtbare Kraft des Bösen dar?") Besonders da, wie wir sahen, Mephisto mit Miltons Satan nichts gemein hat, sondern immer der Ver- treter des gemeinen Irdischen bleibt, weil Goethe einen nach der Herrschaft strebenden, aber doch nur zerstören- den Satan für unpoetisch hielt. Denn das ist der Un- terschied zwischen dem Teufel des deutschen und dem des englischen Dichters. Sie sind wohl beide negativ. Aber Mephisto, seit Ewigkeit ein Theil der Finsternis, wollte nie Licht werden; ihm ist jegliches Pathos fern. Satan dagegen war einst der Nächste neben Gott und fiel, weil er selbst der erste im Reiche des Lichtes werden wollte. Er möchte unser Mitleid er- regen, seine Reden sind voll von republikanischem Pathos;

^*) Keine gemeinsamen Züge finddt auch David Masson in Tlie three devils: Luthers, Miltons and Qoethe's, London 1874, p. 46 f.

") Vgl. A. Bartscherer, Zur Kenntnis des jungen Goethe, Dortmund 1912, p. 91: „War Ihm nicht durch sein eif- riges Bibeliesen und das Studium des Hebräischen, ebenso durch Klopstocks „Messias" der Satan des alten und neuen Bundes vertraut?"

~ 115

denn er konnte sich vor niemand beulen. Daß aber eine solche pathetische Figur rein nc-^^aiiv s^in s-ollte. wollte Goethe nicht verstehenv Eine Persönlichkeit, deren Linab- hänRiRkeitssinn ihn packte, mußte ein schaffender Prome- theus sein. Kin Wesen aber, das nur zerstört, wurde unter seinen Händen zu Mephisto, dem alles eignen kann, nur nicht das, was der GrundzuR des englischen Teufels ist: Das Heroische^ Wenn also Goethe auch den einzelnen Ausdruck „Fliesengotf von Milton hatte, wer wagte zu behaupten, daß wir auf Miltonschem Boden stehen? **)

Auch Morris' 3. Behauptung ist willkürlich; Daß der in Par. 1 angedeutete „Epilog im Chaos auf dem Weg zur Hölle" auf Milton zurückzuführen sei; Der Gedanke einer Höllenfahrt Christi hatte immer zu Goethes Lieblingsvor- stcllungen gehört.") Den Begriff „Chaos" kannte er von Klopstock her.

") In derselben Szene nennt sich Mephisto Den Qott der Ratten und der Mäuse, Der FlicKcn, Frösche, Wanzen, Läuse. Ob Qocthe n ir die FlicKen von Milton ecnömncn? über das häufige Vorkommen des Ausdrucks FiieKcnsott vsl. cd. Wit- kowsky*. p. 223.

'') Als Hauptcrund für seine Behauptung führt Morris fol- gende Parallclstelle an. Im ParaÜp, 49:

Siehst du, er kommt den Bert hinauf

Vor weitem steht des Volckes Haut.

Es scRnen staunend sich die Frommen.

Qewiß er wird als SicKcr kümmci; soll der Berg, den Christus offenbar hinaufkommt, nur auf Jenen heiÜRen Berg" zurückgehen, „Wo vor der Himmlischen Heer der große Messias erklart ward". Auch hier ist eine Fnt'chnung unsicher, Weil es im Prolog heißt: „Und wandelt mit be- dächtiger Schnelle Vom Himmel durch die Welt zur Hölle", nimmt Morris jetzt schon im Proloe eine Eccinnussung durch Milton an, während ja in derselben Szene Mephisto noch nichts von Miltons Satan zeigen soll. E. Schmidt, der der Interpretation von Par, 1 zustimmt (14, XL), steht derjenigen des Verses im Prolog skeptisch gegenüber (13, 269).

116

Außer einigen Dctailschilderungen hatte somit das V. P. dem Dichter des Faust nichts mehr zu bieten. Wenn auch ein Zug auf eine von Max A4orris angeführte Parallel- stelle zurückginge auf die Auffassung und Entwicklung der Faustdichtung blieb Milton sicherlich ohne Wirkung. In keiner von Goethes Dichtungen verspüren wir nur einen leisen Hauch des V. P. Noch später im Westöstlichen Di van wird sich der Schüler Herders Jones anschließen, der uns mit offenbarer Bitterkeit vor Augen stelle, wie ab^ surd sich Milton und Pope im orientalischen Gewand aus- nähmen (Werke, Bd. 7, p. 219). Erst am Abend seines Lebens wird der S ?. m s o n A g o n i s t e s Goethe „einen höheren Begriff von Milton" vermitteln (18. Aug. 1829, vgl. Biedermann, G's Gespräche, Bd. IV, 139).")

III.

Auch dem reiferen Schiller bedeutete das V. P. nicht mehr viel. Anregungen empfing er von ihm keine. In seinen philosophisch-Ustheiischcn Schriften erwähnte er zu Anfang der neunziger Jahre Milton hie und da lobend. Satan ist ein erhabener Charakter, weil er von den Schick- salsschlägen unberührt bleibt. „Selbst Miltons Lucifer, wenn er sich in der Hölle, seinem künftigen Wohnort, zum ersten Mal umsieht, durchdringt uns, dieser Seelenstärke wegen, mit einem Gefühl der Bewunderung" (Über dasPathe- tische, 1793 entstanden, >A'erke, Säkularausgabe 11, 263).

In der Abhandlung Über naive und sentimen- t all sehe Dichtung (1795) gehört Milton zu den senti-

") Am 24. Mai 1829 erhielt Goethe eine Auswahl der Ge- dichte des Prinzen Job. v. Sachsen, darunter auch Über- setzungen nach Milton (vgl. Goethe- Jahrbuch XXI, p. 192).

117 --^

mentalischen Dichtern und kann deswegen nicht ein moder- ner Homer genannt werden. Mit Vergnügen entsinnt sich Schiller der paradiesischen Szene; „Eine höhere Befricdi» gung (als der Idylliker Geßner) gewährt Miltons herrliche Darstellung des ersten Menschenpaarcs und des Standes der Unschuld im Paradiese; die schönste mir bekannte Idylle in der sentimentalischcn Gattung. liier ist die Natur edel, geistreich, zugleich voll Fläche und voll Tiefe; der höchste Qehalt der Menschheit ist in die anmuthigstc Form eingekleidet". (Werke, Säkuhrausg. 12. 227.)

Es ist wohl kein Zufall, daß Schiller in seinen Ab- handlungen gerade der Schilderung Adams und Evas und eines der schönsten Charakterzüge des Satans geder.kt; diese Stellen hatten offenbar den nachhaltigsten Eindruck auf sein Gemüt gemacht: Wir denken aber unwillkürlich an die „wenigen natürlichen und energischen Motive** Goethes.

Als er auf der Höhe seiner Kunsteinsicht stand, er- kannte Schiller das V. P. wohl auch nicht mehr als ein Gan- zes an. „Die Puritaner spielen so ziemlich die Rolle dcrJaco- biner." antwortet er Goethe am 2. August 17^9, ..die Hülfs- mittel sind oft dieselben und eben so der Ausschlag des Kampfs. Solche Zeiten sind recht dazu gemacht Poesie und Kunst zu verderben, weil sie den Geist aufregen und ent- zünden, ohne ihm einen Gegenstand zl geben. Er crripidngt dann seine Objekte von innen und die Mißgeburten der Allegorischen, der Spitzfindigen und Mystischen Dar- stellung entstehen."

Schiller will dasselbe sagen wie Goethe. Der Geist empfängt in solchen Zeiten seine Objekte von innen, d. h. abstrakte Gegenstände, und die Darstellung abstrakter Gegenstände führt, wenn sie abstrakt bleiben sollen, zur Allegorie und Spitzfind^igkeit Davon, meint er wohl, hat sich auch Milton nicht frei halten können.

118

„Ich erinnere mich nicht mehr, wie Milton sich bei der Materie vom freien Willen heraushilft," fährt Schiller weiter. Also hat er das V. P. nicht mehr gegenwärtig. Vielleicht hat er es seit Jahren nicht mehr gelesen, viel- leicht nicht mehr seit dem Verlassen der Karlsschule. Er- klärt uns aber seine Äußerung vom Jahre 1799 nicht, warum er in seinen früheren ästhetischen Schriften nur die oben erwähnten Motive anführt? Machte sich doch in ihnen das Abstrakte im Gedichte nicht unangenehm bemerkbar.

Nach dem Erscheinen von Fr.A. Wolfs Prolego- men a ad Homcrum (1795) wandte Herder sein Interesse wieder dem Epos zu.

Häufiger begegnet uns Miltons Name wieder in seinen Schriften. Herder reift in diesen Jahren eine Theorie des Epos aus, die dann in der Kalligone (1800) und ganz besonders in der Adrastea (1802—1805) ihren Ausdruck findet. Auch hier kein Verständnis dafür, was wir epische Gestaltung nennen.

Der Epiker muß eine Weit in sich tragen, einen Kos- mos. „H omers, Dante's, Milton's Epopeen sind Encyklopüdieen und Universa aus dem Herzen und Geist ihrer Dichter; sie entwerfen die Charte ihrer Innern und äußern Welt** (XXII, p. 148). Deshalb haben die alten und sollten auch die neuen Epen etwas Wunderbares haben. „Das epische Gedicht N/oIlte, es foderte einen göttlich-menschlichen Schauplatz (XXIV, 280). „Dem alten Epos sind die Götter wesentlich, unentbehrlich; aber auch höchst natürlich. Sie sind as auch, wie man nicht nur bei .M 11 1 o n und K 1 o p s t o c k , sondern selbst bei manchem Roman siehet, jedem wahren Epos** (XXIV, p. 240).

Aber das Göttliche im Epos birgt Gefahren in sich. „Ist z. B. die Handlung gar nicht anschaubar, sondern dogmatisch, allegorisch, tropisch, mystisch .... wie viel

119 -.

Kräfte verschwendet der Dichter, ohne daß er dennoch zu seinem Ziel kommt.*' Mütons Erzählungen vom Abfall der Engel, vom Bau der Hölle, von der Zukunft des Menschen- geschlechts gehören zum Langweilen in seinem V. P. (XXIV, p. 286).

Herders alter Haß gegen das Dogmatische und Didakti- sche ist noch rege. Was ihm schon 1778 vorschwebte, als er Klopstock beklagte, daß er von Milton einen Haufen Glauben abzwingender und abwürgender Dichtungen über- nommen (VIII, 431), das wird jetzt zum System.

i3ewußtcr denn je verlangt Herder das Mensch- liche. Im modernen Epos muß ein neues Wunderbares erstehen, das sich nicht an die durch die Aufklärung über- wundenen Maschinerien eines kindischen Zeitalters anlehnt.

In Dante und Milton haben wir schon das Aufkommen des Menschlichen in der Epopee. „In Milton, wie rein und edel, dabei wie schwach und zart ist der Charakter der Menschennatur gehalten! Ein von der Mutterhenne be- brütctes Ei; ein Keim, der der sorgfältigsten Wartung be- durfte und ihrer werth ist. Miltons Gesänge schildern diese göttlich eWartung; aber gegen wen? vorinn? und wie unkräftig! Ohne Zweifel lags an dem zu Miltons Zeiten angenommenen System, daß er den ewigen N'ater. daß er den Glorreichen Sohn, daß er Engel und Teufe! so darstellte, und gleichsam auf Excavationcn des Abgrundes seine neue Schöpfung baute. So viel Stärke des Genius, so viel Macht der Sprache und Gedanken in diesen Be- schreibungen hervorleuchtet, fühlen wir nicht in uns etwas Widerstrebendes? Indem wir das Göttliche im Dichter mit verdecktem Antlitz betrachten, kehren wir gern zur Menschheit zurück und gewinnen diese in ihm desto lieber" (XXIV, p. 292).

Mit der Frage, gegen wen der göttliche Schutz gerich- tet sei, verrät Herder, daß ihm die Nutzlosigkeit des hiram-

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lischen Apparates aufgefallen. Er kann das Mißbehagen, das die Miltonsche Qötterwelt in ihm erregt, nicht so tief begründen, wie z. B. Goethe, der die Antinomie klar er- kannte. Aber er fühlt das Unkünstierisch-Dogmatische in ihr. Er sieht auch, daß sie ihm nichts mehr sagt, weil er nicht mehr an sie glauben kann.

„Du kennst Miltons klaßische Denkart und seine schöne lateinische Verse," sagte Herder 1796 in den Hören (XVIII, p. 486), „die stärksten und besten Stellen indeß seiner beiden Paradiese . . . . sind rein G o t h i s c h."

Was er mit den besten und stärksten Stellen meinte, ist nicht schwer zu erraten. Einmal die zarten paradiesi- schen Szenen, dann aber Partien, wie das hail holy light, mit dessen ersten Versen Herder 1800 seine in der Kalli- gone erscheinende Abhandlung Vom Angenehmen und Schonen eröffnet (XXII, p. 55) und das er 1802 im dritten Bande der A d r a s t e a , Zweites Stück, nochmals zum Teil übertragt (XXIII, p. 538/9).

Der alte Vv^ i e 1 a n d hatte trotz der Wandlungen, die er durchgemacht, Milton seine Verehrung bewahrt. Seinen Neuen Teutschen Merkur eröffnet er 1790 mit einer Probe aus der noch ungedruckten Bürdeschen Über- setzung des V. P., von dem er sagt, daß es „bey allem was seine Tadler , mit Recht und Unrecht daran auszu- stellen finden, immer eines der bewundernswürdigsten, größten und interessantesten Werke des Genies und der Musenkunst bleiben wird" (1. Stück, p. 18). Auch er ver- ehrte es also nicht ohne Einschränkungen; und daß er den Anfang des fünften Gesanges, der uns ins irdische Paradies führt, als Probestück wählte, zeigt, in welchen Teilen des Gedichts er seine Lieblingsstellen immer noch suchte.

Trotz seines Studiums der englischen Literatur im Winter 1795/6") hat sich Wilhelm von Humboldt

^•) Vgl. Ansichten über Aesthetlk und Litera- tur von Wilh. V. Humboldt, Seine Briefe an Christian

121

nie tiefer auf Milton eingelassen. Er kennt seinen Namen, denn er hat sein Leben in Johnson's L i v e s gelesen.**) sa^t einmal, man könne gewissermaßen Homer und Milton als zwei Extreme neuer und alter Weise betrachten,*') lobt Miltons Hölle,") erwähnt den Dichter in seinen Schriften flüchtig") seine Welt machen aber andere [)ichter, Homer, Ariost, Qocthe aus. „Ein Vers Homers, selbst ein unbedeutender, ist ein Ton aus einem Lande, das wir alle als ein besseres und doch uns nicht fernes anerkennen. . . . Durch das Christentum und den Zustand ;:esellschaftlicher Wildheit . . . wurde der Mensch so mürbe gemacht, daß natürliche Ruhe, ungestörter innerer Friede auf ewig für ihn verloren war, . . . Man spaltete seine Natur. sctJte der Sinnlichkeit eine reine Geistij^keit entgegen, und erfüllte ihn mit nun nie mehr weichenden Ideen von Armut. Demut und Sünde .... in seinem Innern zerknirscht durch ein Gemisch gnostischer Spitzfindigkeiten und Schwärmereien, engherziger schreckenvoller Begriffe des Judentums , " '*)

Gottfried Körner (1793—1830). hsg. v. f. Jonas-, Berlin ISSO, p. 54.

«>) ebd., p. 55.

") ebd.. p. 88. H. meint p. SI; «Die Oichtkunsi .hat aus. dem Gebiete des Denkens und Empfindens sovie? in ihr eigenes hin- über Ketragcn, daß es ihr selbst manchinaJ um ihre Eisenschaft als Kunst bange wird." Er hat di<i moderne Pociic im Auge, Milton ist also modern, weil zu viel Gedanken in ihm sind.

^*) Briefe von W. v. Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi, hsg. und vrlSutert von Mb. Leltz- mann, Halle 1892, p. 60.

'") Gesammelte Schriften, ed. A. Lcitzmann, hsK. V, d. kgl. preußischen Akademie der Wjsscnschahen, Ber- lin, 1904 ff. Bd. VI, 2, p. 505.

**) Goethes B r i c f w e c n s e I mit W, u. Alex von Humboldt, hsg. v. L. Geige r, Berlin 1909. p. 164.

122

Was war unseren Klassikern, die sich ein Ideal edier und freier Mcnschlichl<eit gebildet, die subtile, dogmatische Welt eines Milton? eines Puritaners?

Was Knebel, der Charlotte v. Schillers Neigung zur englischen Literatur unterstützte,^*) von Milton zu wissen scheint, ist nur, daß er sich nach den Reizen des himm- lischen Lichts gesehnt.'^") Und auch Charlotte von Schiller, die noch in späteren Jahnen Milton und Klop- stock, die aus dem Himmlischen entsprungenen, dem nach dem Himmlischen strebenden Dante vorzieht,") schwebt diese Stelle vor, wenn sie sich am 8. Nov. 1787 ihrem Tagebuch anvertraut: „Schöne Sonne! wie wohl- thätig Ist dein Einfluß auf die Erde; du erwärmst, erfreust Alles; so auch mein Herz , . . Mit inniger Empfindung rufe auch ich dir zu: hail, holy light".^')

Zu Anfang des 19. Jahrhunderts urteilte Jean Paul in seiner Vorschule der Aesthetik . . . (1804, mir liegt die zweite verbesserte Auflage von 1813 vor) wie die Klassiker; p. 124 anerkennt er die Größe Satans, was allerdings Goethe und Herder nicht getan, und faßt p. 522 sein Urteil zusammen: „Der Krieg der geschlagenen Teufel gegen den Allmächtigen, ist, sobald dieser nicht selber seine

") Vjil. Charlotte v. Schiller und ihre Freunde, Stuttgart 1860, 3. Bd., Einleitung v. Urlich, r>. XVI.

*") K. L. voii Knebels literarischer Nachlaß und Briefwechsel, hsg. v. K. A, Varnhagen von Ensc und Th. Mundt, Leipzig 1835/6, 3. Band, p. 291 (Ueber die Natur des Menschen, 1792/3).

") C h. V. S c h i 1 1 e r' u n d ihre Freunde, Erster Bd., p. 123 (Jahr 1820).

") ebd., p. 47. Vgl. auch Briefe von Goethe und dessen Mutter an Fried r. Freiherrn von Stein, Nebst einigen Beilagen, hsg. v. J. J. H. Ebers u. Aug. K a h - l0rt, Leipzig 1846, p. 124, wo sie ausruft: „Ich habe doch die Engländer gar lieb".

~ 123

Feinde untcrstüizi und krönt, ein Krieg der Schatten gegen die Sonne, des Nichts gegen das All; so, daß dagegen bloße Ungereimtheiten fast verschwinden, solche sx'ie z. B. eine gefährliche Kanonade zwischen Unsterblichen, die ein- fältigen Schildwachen und Schweizer von Engeln vor dem Kdenthore. damit die Teufel nicht wagrcchi einschleichen, welche dafür nachher steilrecht anlangen, usw. Aber man braucht diesem großen Dichter nur seine Hülismaschinen von Hülfsengeln wegzunehmen* so ist ihm geholfen und durch die Menschen wird er göttlicher als durch die Engel." Noch 1847 wirkte in Alexander von Humboldt die Anerkennung der Paradiesszenen nach, als er im Kosmos il, p. 64 schrieb: „Der ganze Reichtum der Phantasie und der Sprache ist auf die Schilderung der blühenden Natur des Paradieses ausgegossen. . ."

IV.

Mit Jean Paul haben wir schon nicht klassischen Boden betreten.

Wir wissen, wie das wissenschaftliche Studium sich auch Miltons angenommen und ,wic der Name des Dichters in weitere Kreise getragen wurde. Manchen war das V. P. noch vertraut, wie Georg Christoph Lichtenberg **) u. a.

Was bot die Dichtung denjenigen zu Ende des Jahr- hunderts, die sich nicht auf klassischer Höhe bewegten?

-•) Vgl. seine Aphorismen D. L. D. 46/7. Ui. 127. 1«. 136.1 wo die Rciiistcr die Siellen anheben, die von Milton han- deln. Ebenso Lichtenbergs Briefe, hsc v. Albert Leitzmann u. Carl SchQddekcpf, Leipzig 1901 f., Bd. 2 u. 3 (s. Recister). Es handelt sich mehr um kurze Bcmer* kuHKen, Anführuiiscn u. 5. D. L D. 136. p. 73 sasrt L, er schätze Dichter wie Milton, Vircil, Horaz erst recht, seitdem er mit der Welt bekannt geworden.

124

Daß es immer Klopstockschwärmer gab, die die Mcssiadc wenn nicht dem V. P. vorzogen, so doch ihm gleichstellten, bezeugt uns nicht nur der in Deutschland reisende Colcridge/") sondern auch die Tatsache, daß die 1796/7 erschienenen Abhandlungen von C. F. Benkowitz'O und J. C. A. Qrohmann ") preisgekrönt wurden.

Noch gab es Leute, denen das V. P. ein Erlebnis bedeu- tete: Lichtenberg, Asmus Jakob Carstens,") der Zürcher Maler Heinrich Füßli, der in seiner neuen Heimat London 1799 eine Miltonaussicllung veranstaltete,") dann aber be-

•'"») VkI. M. Bernays, Schriften . . . II. p. 135. Als ColeridKe von einem Ratieburger Pastor gesagt wurde, Klop- stock sei der Jciitschc Milton, soll er geantwortet haben; „Wahrhaftig ein gar deutscher Milton".

^^) Der Messias von Klopstock, ästhetisch beurteilt und verglichen mit der Iliade, der Aeneide und dem verlornen Paradies von C. F. Benkowitz, Eine Preisschrift, die von der Amsterdamer Ge- sellschaft zur Beförderung der schönen Wissenschaften eine doppelte Medaille erhalten hat, Breslau 1797, vgl. Q. Jenny, p. 81 ff,

"')Aesthetische Beurteilung des Klop- stock i sehen Messias, von J. C. A. G r o h m a n n , Eine von der Amsterdamer Akadenie der Dichtkunst und schönen Wissenschaften gekrönte Preisschrift, Leipzig 1796, Benko- witz' und Qrohmanns Abhandlungen griff A. W. Schle- gel an. (Vgl, Werke, Leipzig 1847. 11, Bd., p. 153).

"") Vgl. Leben des Künstlers Asmus Jakob Carstens . . . von Carl L u d w i g F e r n o w , p. 29, wo er- zählt wird, daß Carsten 1780 Adam und Eva nach Milton malte. Ungef. 1790 schul er seinen Sturz der Engel (vgl. ebd., p. 88), der in Carstens Werken in ausgewühlten Um- riß-Stichen von Wilhelm Müller, hsg. v. Hermann Riegel, Leipzig 1869, Tafel 4 u 5, wiedergegeben ist,

•*) Heinrich Füßli (1741—1825) sollte Anfangs der neunziger Jahre die Illustrationen zu einer von Cowper beab- sichtigten .Ausgabe von .Miltons Werken machen. Cowper wurde aber geisteskrank, sodaß die Ausgabe nicht zustande kam.

125

sonders der alle Denis, der im zweiten Teil seiner Lese- fr ü c h t c (Wien 1797) eine Lanze für den englischen Dich- ter brach.

Als W. V. Humboldt in Wien war, kam ihm Deni? als der Repräsentant einer vergangenen Zeit vor.") Und doch waren weder Füßli noch Denis blinde Verehrer Milien'». Der Zürcher Maler meint in schien A p h o r i s m s spöt- tisch: ,v. . . Milton dropt the trumpet that had asionishcd hell, ieft Paradise, and introduccd a pcdatrogue to Hea- vcn".^°) Der Wiener Dichter macht auch auf unschöne Stellen aufmerksam. Neben anderen schönen Schilde- rungen ziehen ihn die Paradiesszenen am meisten an.

FüÜli stellte seine 40 Qcmaldc (uovon 27 nach dem V. P.i 1799 in Pall Mall aus. Vgl. Jchn Kno-vlcs, The Life and writinßs oi Henry Füsclj . . . Vol. ], London MDCCCXXXI. p. 171 ff, p. 193 u. p. 204 ff.

Füßli hatte offenbar seine Mütcnbcscisic.'wnz nach Eng- land von zu Hause milKenommcn. Bodrner becinflusstc ihn. Wir wissen, daß Rudolf Füßli, sein älterer Bruder. 1758 eifrig im V. P. las (so berichtet Wieland am 24. April 1758 an Zimmer- mann, AusKC wählte Briefe von C. M. W., p. 274). K n 0 w 1 e s gibt uns die Themata der Gemälde und p. 236 be- richtet er uns vom Verkaufe verschiedener. In Hrch. PucSIis Saemmtlichen Werken, von denen nur iwc. Licfcran- Ken herauskamen, befindet sich im 2. Heft (Zürich !*09) ein Stich „Satan, von Ithuricls Speer berührt". Ijcssings Rat, die Engel nicht zu malen, befolgte P. nicht

") Vgl. Neue Briefe W, v, Humboldt» an Schiller (1796-1803), bearbeite, a. hrsg. v. Fried r. Cle- mens Ebrard, Berlin 1911, p. 154 (4. September 1797): „Unter den Menschen, die ich bisher sali, hat mich noch am meisten der alte Denis intercssir:. Cr hat das für sich, dafl er, wie alle älteren Leute, außer seiner eignen Individualität eine sanze Zeit und eine ganze Classe rcpräscntirt . . . Lob der frühern Deutschen Literatur, Khge, daß das goldnc .K\\ct vor- über ist, . . .".

»•) Knowles, 3. Bd.. p. 68.

126

Und verraten nicht die in den achtziger und neun- ziger Jahren entstandenen Übersetzungsfragmente, daß man sich auch in den weitern Kreisen mit Vorliebe der paradiesischen Motive oder der lyrischen Partien er- innerte?

Wenn also noch von einem Lebendigsein Miltons die Rede sein kann, so betrifft das nur die wenigen angedeu- teten Stellen, unter welchen natürlich auch die Hymne an das Licht, die Fr. von Matthison kennt,") oder einige Züge der Größe in Satans Charakter.^^) 1797 setzte der Musikus Reichard, der Besitzer zweier Opernhäuser, für sie den Morgen gesang in Musik (Text von Bürde nach Mil-* ton), der oft aufgeführt und Jahrzehnte hindurch zu den klassischen Musikwerken gerechnet wurde."')

V/as war Milton den Gelehrten? Es mochte noch solche geben, die wie Adelung gegen den schwülijtigen

•'■) Vgl. Briefe von Fr. Matthison, verb. Anfluge, Zürich 1802, p. 234 (14. Juli 1793). Beim Hinaustreten aus der Quelle bei Pfäffers erzählt er: „Hierauf begaben wir uns auf den Rückweg; und freudig, wie Milton nach seiner Hüllenreise, begrüßte ich das Sonr.cnlicht, als wir wieder beim Badehause ankamen". (Ähnlich in den Erlnnerungea von Fr. v. Matthison, 1. Bd., Zürich 1810, p. 168). Imfs. Bd. der Er- innerungen (Zürich 1812), p. 23 f erzählt ^\., wie Joh. v. Müller ihm ein Fragment über die beste Leistung eines jungen Genies gegeben, woraus er 'die p. 81 unten angeführte Stelle von Herder zitiert.

**) Darauf weist auch Carstens Stoffwahl, s. oben p. 124. Jo h. Q e 0 r g M ü 1 1 e r schreibt am 31. Jan. 1791 an seinen Bru- der Johann: „An v/ahrer Größe ziehe ich Milton weit vor. Klopstoks Engel sind oft schwache empfindclnde Seelen". (Der Briefwechsel der Brüder J. Georg Müller und Joh. v. Müller, 1789—1809, hsg. von Eduard Haug, Frauenfeld 1893, p. 25 f.). In längst vergessenen, schwer zugänglichen Dichtungen ließe sich vielleicht noch ein. Nachfahr Satans, finden.

»*) Vgl. Wilhelm Bode, Die Tonkunst in Goethes Leben. Berlin 1912, 1. Bd., p. 259.

~ 127

Milton auftraten (über den deutschen Styl !78I). Sie bilden jedoch die Ausnahme.

J. J. Eschenburg schrieb 1784 in seinem E ni w wri einer Theorie und Literatur der schönen Redekünste zur Qrundlasrc bei Vorlesun- gen (p, 216 der Ausgabe von 1817, ßeriin und Stettin): „Das klassische epische Gedicht der Engländer, und zu- gleich das edelste und erhaben! te Muster der neuem Re~ ligionsepopöe, ist Milton's "veriornes Paradies: reich an Dichtung, an kühnen und großen Bildern, man* nichfaltiger Beschreibung, hoher Dichtersprache, und vielen andern Schönheiten, über die man einigen Widersinn in der Anlage des Ganzen imd im Gebrauch der Maschinen leicht vergiüt." Wie wir sahen, wählte er für seine Bei- spielsammlung (1788) den Anfang des 5. Buches,

In der in der Allgemeinen deutschen Bibllo« thek von 1794 (Bd. 10. 2. Stück) erschienenen Anzeige von Bürdcs Übersetzung heißt es (p. 532k „Man 'vciß, daE sich an der Manier des großen, und im Giinzen mit Ri'chi bewunderten, englischen Dichters manches aussetzen Ilßt» , . . Besonders gehört dahin Milions oft verschwendete ind übel angebrachte Gelehrsamkeit, der scientifischc Schwung in manchen Unterredungen seiner Personen, die cinge- flochtcncn Erörterungen theologischer und metaphysischer Spitzfindigkeiten u, s. f." Deshalb hätte der Übersetzer kürzen «ollen.

Ähnlich lauten die Urteile in den um die Jahrhundert- wende erscheinenden theoretischen "Schriften.

Die Nachträge zu Sulzers allgemeiner Theorie der :>chöncn Künste (oder Charak- tere der vornehmsten Dichter aller Natio- nen... von einer Gesellschaft von Gelehrten. 7. Bandes 1. Stück, Leipzig 1803) widmen John A\ilton und besonders dem V. P. eine längere Abhandlung (p.I69— 208). Sie rüh- men an der Dichtung die gewaltige poetische Kraft, beson-

128

ders in der Schilderung des himmlischen Krieges (p. 191). „Aber leider! drängte sich in die Darstellung des alttesta- mentlichen Mythus die christliche Dogmatik ein und unter- jochte die Einbildungskraft des Dichters, so daß sie nur bisweilenv in dem Gefühl ihrer eigenthümlichen Macht, die usurpirte Gewalt von sich stieß und ihren Fesseln ent- schlüpfte." Die Antinomie wird hervorgehoben (p. 197 f.). Auch die Schilderung des ersten Menschenpaares ist durch Pedanterie verdorben (p. 203). Aber ».nichts ist schöner und reichhaltiger, als die Beschreibung des Traums, in welchem Adam die Schöpfung des Weibes erblickt (VIII» 355); eine Beschreibung, welcher vielleicht nur die beseelte Schilderung von Adams erstem Besinnen und Aufmerken (VIII, 253") an die Seite gestellt werden kann." (p. 205.) Noch andere mächtige Einzelszenen werden gerühmt. Pro- ben werden in Bürdescher Übersetzung angeführt.

Ludwig Wachler meint in seinem Handbuch der allgemeinen C u 1 1 u r , Zwcyte Hälfte 1805, p. 759, Miltons unsterbliches Meisterwerk sei „das Produkt einer lange unterhaltenen, melancholisch-erhabenen Gemüths- stimmung, in welchem das Gefühl eines unbefriedigten Da- seyns laut und kräftig ausgesprochen" sei. Obwohl dies Urteil kaum von eigener Lektüre zeugt, redet auch Wachler das Allgemeingut gewordene Urteil nach, daß sich Milton nur zu oft theologische, dogmatisch-polemisierende und allegorisierende Digressionen erlaube; überall herrsche aber großes Leben, tiefe Empfindung und unerschöpflich reiche Phantasie.

Weil das V. P, nicht mehr gelesen wurde, arteten die Urteile in Phrasen aus. Die Meinung über Milton war mehr' oder weniger bei allen dieselbe, wenn auch die theo- retische Begründung je nach den überlieferten Maßstäben verschiedene Färbung erfuhr.

Friedrich Bouterwek macht sich in seiner Qe-

-^ 129 -'

schichte der Künste und Wissenschaften seit der Wiederherstellung derselben bis an das Ende des 18. Jahrhunde rtSv Dritte Abtei- lung, Geschichte der schönen Wissenschaf- ten» 7. Bd. (Göttinnen 1809). p.4!6 ff. anheischig', die hohc.a Schönheiten und großen Fehler des V. R im richtigen Ver- hältnisse zueinander darzustellen.

Das Gedicht lasse sich aber nicht nach den alt licrge- brachtcn Regeln beurteilen. Boutei'-vck kommt zum Kr- gebnis, daß das V. P. eine gelungene Verschmelzung meh- rerer Dichtungsaiten sei. (p. 420 ) „Wah'-haft episch sind in dem verlornen Paradiese nur die Partiecn, in denen die bösen Geister glänzen, und die Erzählung des wundervollen Krieges, den längst vorher die guten Geister mit den abge- fallenen geführt usw." Adam und Eva und der allmilchiigc Gott seien nicht heroisch, sondern nur Satan, dessen Größe Bouterwek anerkennt*") (p. 418,9). Hinter dem Epischen verberge sich auch Dramatisches.

Aber das Interesse sei mehr didaktisch als episch. Die didaktischen Stellen seien sehr gu: in die Erzählung

*°) In seiner A c s t h c t i k (Leipzig iS(i6» schreibt er, zui- sclien seiner moralischen und äsiiieiischcr Aufiassunj: kämpfrnd, (p. 157/S): „Nicht das Moralische seihst, sonJcrn das Imposante in der nioralisciicn Natur, hat aejthetischc Grüße" . . . ^ber wen:: dann auch ein rniltonischcr Satan in seiner Art nichts zu wünschen übrig liiüt, so darf das höhere Bewußtscyn dts Großen in tns doch nur ein weni»: in die acsthctischc Reflexion ein- drin,4cn, und die canze satanische Majestät versinkt unter der Erscheinung eines kidpstockischen Messias". Solch ein LTtcil crkläri; uns. warum Bouterwek Satan nie als „Held* des Kp.is ansehen wollte. Von moralischen Faktoren hat er sich noch nicht voüstündiß befreit, was er in der Geschichte.... jedoch nicht merken laßt. Da hat er auch die frühere Behaup- tung fallen lassen, den höllischen Geistern Miltons fehle trotz ihrer Manigfaltigkeit eine „bestimmte acsthctischc Idee" (Acsihe- tik p. 258/9).

PUeo, MJlton d

130

verflochten. Daher sei der Eindruck auf ein für religiöse Poesie empfängliches Gemüt hinreißend und begeisternd, (p. 417.)

Doch auch für didaktische Poesie sei Milton nicht ge- boren gewesen. „Sobald er Verse machte, wurde sein Gefühl lyrisch, und selbst die moralischen und religiö- sen Betrachtungen, denen er sich so gern überließ, erhielten einen lyrischen Ausdruck. Das Interesse der Erzählung war ihm also auch bei der Erfindung seines verlornen Para- dieses das untergeordnete. Er fand keine Begebenheit, an welche er seine Lieblingsgefühle und Betrachtungen so poe- tisch anknüpfen könnte, als, an die biblische Geschichte des Sündenfalls. Den Himmel und die Hölle, zwei Extreme im moralischen Sinne, feierlich zu beschreiben, und zwi- schen beide das reizende Bild der Unschuld der Stamm- eltern des Menschengeschlechts in einer lieblichen Glorie hinstellen; was konnte seiner kühnen und doch immer auf das Moralische gerichteten Phantasie willkommener sein?" (p. 41S).

In seiner A e s t h c 1 1 k (Zweyter Theil, p. 388) hatte Bouterwek die Behauptung aufgestellt, das V. P. habe eine verkehrte Einheit, denn eine Verherrlichung Satans wolle es doch nicht sein. Dadurch hatte er sich auf Lessings Seite gestellt, der darlegte, daß das Interesse an Satan dasjenige am Allmächtigen weit übertreffe. .letzt aber sprach er dem Gedichte überhaupt jegliche Einheitlich- keit ab.

Bouterwek bietet uns keine durchdachte Auffassung des V. P., sondern eine geschickte und gelehrte Zusammen- fassung dessen, was schon darüber gesagt wurde. Schablo- nenmäßig gliedert er das Gedicht in seine epischen, drama- tischen und didaktischen Bestandteile. Soweit ist er aka- demisch-objektiv.

131 -^

Wenn er aber behauptet, Milions Qeiüh! werde lyrisch, sobald er Verse mache dann wird er willkürlich. Kr- kenni er doch selbst an. daß gewisse Szenen „wiindcrvoll episch** seien. Noch willkürlicher ist er, wenn er saRt, das Interesse der Erzählung sei Milton das untergeordnete gewesen. Da schreibt er Milton zu. was c r verschuldet Ihm ist die Fabel Nebensache, nicht dem Dichter. Ihm gefällt nur das Lyrische.

Herder, der das „Wunderbare" im Gedichte nicht ver- dauen konnte, machte das puritanische Dogma dafür ver- antwortlich. Er war darin klüger als Boutcrwek, obschon er so wenig wie dieser den Grund einsah, weshalb das V. P. als Ganzes unkünstlerisch ist.

Aber das Ziel, dasBouterwek auf seinem Weg erreichte, war schließlich auch die bloße Anerkennung einiger „Lieb- lingsgefühle und Betrachtungen**.

So stand der Gelehrte dem Geschmacke seiner Zeit nicht fern, besonders, wenn er, der Tradition gemäß, das Gelehrte, Scholastische und manchmal allzu Groteske im Gedichte kritisierte (p. 423/4). Die Leute, die Klopstocks Pathos nicht mehr verstanden, unterschrieben wohl den Satz, daß der gleichförmig-feierliche Gang von Miltons Sprache auf die Länge ermüde (p. 424).

Bouterwek packten vor allem die lyrischen Stellen. dann auch „die Schrecken der Hölle und die Freuden des Paradieses** (p. 423).

Bei denjenigen, die fremde und -eigene Anschauungen zusammenstoppeln, ist die Erkenntnis dessen, was in ihnen von einem Kunstwerk lebendig ist, nicht leicht. Vielleicht ist sogar das wenige, das wir aus Bouterwcks „aesthetischem Kramladen** herausdestilliert haben, nicht das, was ihm Milton sagte, sondern nur das Echo zusam- mengetra;5ener fremder Wertschätzungen. Aber auch in diesem Falle ist es für uns interessant, da es uns zeigt.

132

was ein Mann, der das Wissen seiner Zeit zusammenfassen wollte, über den Dichter des V. P. sagt. Deckt sich doch Bouterweks „Geschmack" im Grunde mit den von uns ge- sammelten Geschmacksäußerungen, die er also bestätigt.

Sechstes Kapitel Die Frühromantik

„Welcher Lebendige, Sinnbcjrablc, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ilm, das allerfrculiche Licht mit seinen färben, seinen Strahlen und Wogen, , . . . Wie ein König ^qt irdischen Natur ruft es jede Kraft zu zahllosen Verwandlungen» knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. Seine Gegenwart allein offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.

„Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprech- lichen, geheimnisvollen Nacht . . . /*

„Wie arm und kindisch dünkt mir das Licht nun."

So sang um die Jahrhundertwende Novalis.*) Cr, der trunken der göttlichen Liebe im Schoß lag. suchte das Über« irdische nicht mehr im Glänze des holy light. sondern Ira geheimnisvollen Dunkel der Naclit. Und was ist gegen diese Miltons Nacht, die Herder noch so sehr geiricsen.

In Hardenbergs mystisches Reich wollten alle Früh- romantlkcr steigen. Eine neu erwachte Religiosität erfüllte sie, aber eine Relijriosität, die sie von Milton weg in die

*) Nova]is Schriften. Kritische Ncuauss:abe lut Gfiind des handschriftlichen Nachlasses von Ernst Heil* born, Erster Teil, Berlin 1901. p. 4'<5 6.

134

Arme Dantes trieb.'*) Tieck/) Schelling,*) Caroline Schle- j;cl,'') vielleicht auch Heinrich Steffens *) und Fichte '') mag das V, P. in ihrer Jugend vorübergehend etwas gewesen sein ~ in ihrem späteren Leben spielte es sozusagen keine Rolle mehr.

Es war um 180Ö, als Friedrich Schlegel nach einer neuen Mythologie suchte und in Schelling einen Gleich- gesinnten fand. Unter dem Einfluß der idealistischen Phi- losophie kam Schlegel zum Postulat einer Mythologie, die sich nicht wie die alte unmittelbar an das Nächste und Lebendigste der sinnlichen Welt anschließen darf, sondern aus der Tiefe des Geistes herausgebildet werden muß. Die Mythologie ist somit die neue Poesie überhaupt, die, als reelle Erscheinung, mit dem Ideellen, dem sie entsprungen, in Einklang steht. Die Dichtung ist die sinnliche Pro- jektion des Universalgeistes. Zur selben Ansicht kam Schelling: „Die Philosophie schaut das Absolute in seinen

') Vgl. Arturo Farinelli in seiner Rezension von Emil Sulger-QebinK» Qoetlie und Dante, Bullettino della So- cietä Dantesca Italiana vol. XVI, f. 2. (Qiugno 1909)^ p. 91 ff.

^) Tieck schreibi am 17. Dez. 1818 anSoiger: „Zuwider waren mir fast immer die geistliclien und christlichen Dichter, wie Milton, vor allem aber Klopstock in seinem Messias." (Sol- gers nachgelassene Schriften und Brief- wechsel I., hsg. V. L. Tieck u. Fr. v. R a u m e r , Leipzig 1826, p. 695). Vgl. auch E. A. Regener, Tieckstudien, Ro- stocker Diss. 190.3, p. 22. M. kommt in einem unveröffentlichten Aufsatz T.s über das Erhabene vor.

*) Vgl. Aus Schellingä Leben, In Briefen, Erster Band (1775-1803), Leipzig 1869, p. 17.

'■•) Vgl. Caroline, Briefe' aus der Frühromantik, Nach üeorg Waitz vermehrt hsß. v. Erich Schmidt, Leipzig 1913. p. 74.

") Vgl Heinrich Steffens, Was ich erlebte, Zweiter Bd. (Breslau 1840), p. 112.

') Vgl. J. Q. F i c h t e s Leben und literarischer Briefwechsel, Von seinem Sohne J. H. Fichte. 2. Aufl., L Bd., Leipzig 1862, p. 17 Anm.

^ 135 -

besonderen Formen an, den Ideen, wie sie zn sich sind, den Urbildern. Auch die Kunst schaut das Urschönc in seinen besonderen Formen an, aber den Ideen, sofern sie real sint!, den GeKenbildern*'.')

Nach dieser Theorie kann also der Ünivcrsalseisi, Qot:, in der Kunst nur in seinem GeKcnbilde. der Welt, dargestellt werden und niclit in persona. Deshalb finden v-ir bei den Romantikern nur ablehnende Urteile über das V. P.

Der Katholizismus hat eine wahrhaft poeiische Mytho- logie geschaffen, die der Protestantismus durch sein ab- strakteres Wesen zerstörte.

!n neuer Formulierung taucht der Vorwurf ^cgen die Antinomie im V. P. auf.

Der orientalische Dichter, sagt Sclielling in seiner Philosophie der Kunst, ist ..mit seiner Einbildungs- kraft ganz in der übersinnlichen oder Intellektuaiwelt, wo- hin er auch die Natur versetzt, statt umgekehrt die Intel- Icktualwelt als die, worin Endliches und Unendliches eins sind durch die Natur zu symbolisircn und so ins Reich des Endlichen zu versetzen.*) . . ." ..Wollte man die Engel als Personificationen von Wirkungen Gottes auf die Sinnenwelt denken, so wären sie als solche in ihrer Unbe- stimmtheit doch wiederum ein bloßer Schematismus, und also zur Poesie unbrauchbar".'*") Im Gegensatz zu Milton ist Dante das Muster eines Univcrsalgeistes, da er die ganze Welt in ihrer realen Form hat darstellen können.")

*) VrK für diese Stelle: Dr. .^riiz Strich. Die My- thologie in der deutschen Literatur von Klop- stock bis Wagner, Halle 1910. Zweiter Band. p. 125 u$u. (s. Register).

°) Vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (gehalten 1802/3 und 1804 In Jena und 18fi5 in Würi- burg) in den Sämmtlichen Werken, 1. Abt., 5. Bd. (Stuttgart und Argsburg 1859), p. 422.

'") ebd., p. 43^.

'') Werke, 1. Abt, 5. Bd.. p. 152/163 (im Aufsau Ucber Dante in philosophischer Bexiebung).

136

An Hand dieser Philosophie deckt A. W. Schlegel in seinen Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst'') alle Widersprüche im V. P. auf, und predijit Friedrich Schlegel in seiner Geschichte der alten und neuen Litteratur") die indirekte Darstellung des Christentums, d. h. die Darstellung des Einflusses, den sein Geist auf die Poesie ausübt.

Diese Betrachtungsweise war aber nicht die bloße Folge einer philosophischen Abstraktion, sondern der Aus- fluß eines Scelenzusiandes oder Geschmackes, der in der Weltanschauung der Frühromantik seinen Ausdruck fand. Dieser Seelenzustand war nicht verschieden von demjeni- gen Hardenbergs, als er sich zur Befriedigung seiner gött- lichen Sehnsucht vom klaren Lichte abwandte.

Die Romantiker wollten das Göttliche nur ahnen, nicht sehen. „Was ist es denn, was im Homer, in den Nibelungen, im Dante, im Shakespeare die Gemüter so un- widerstehlich hinreißt, als jener Orakelspruch, des Herzens, jene tiefen Ahnungen, worin das dunkle Räthsel unseres Daseyns sich aufzulösen scheint", schreibt einmal A. W. V. Schlege!.'')

Schlecht verträgt sich das Heroische mit dem Rätsel- haften, Unbestimmten. „Wie freut es mich, daß Sie die kindliche, spielende Seite der Religion fühlten !*', ruft Tieck in einem Briefe an Solger aus.") „Wie hat Klopstocks M i 1 1 0 n immer nur das Ernste, ja Abschreckende dabei im

^^) Im 2. Teil, vQeschichte der klassischen Litte- ratur (1802—1803) --= D. L. D. Bd. 18, p. 205 ff.

!''■) Vorlesungen gehalten 1812, gedruckt 1815 in Wien, Zweyter Teil. vgl. p. 9 if. und ?. 142,

»*) Vgl. Briefe an Fr. Baron de la Motte Fouqu6, hsg. V. Dr. H. Klctkö, Berlin 1848, p. 357 (12. März 1806).

") Vgl. Solgers nachgelassene Schriften... 1. Bd.. p, 453 (13. Okt. 1816).

137

Sinne!" Auch Friedrich Schlegel empfahl, man solle Jen christlichen Teufel in Form von Sataniskcn einführen (ob- gleich vielleicht der Satan der italienischen und cnclisclien Dichter poetischer sei). „Es giebt vielleicht kein ange- messneres Wort und Bild für gewisse Bosheiten en minia- ture, deren Schein die Unschuld lieb;; und für jene reizend groteske Farbenmusik des erhabensten und zartesten Math- willens, welche die Oberfläche der Größe so gern zu um- spielen pflegt**.")

Aus der bloßen romantischen Theorie läßt sich die Stellung, die die neue Schule Milton gegenüber einnimmt, nicht völlig erklären. Denn wenn sie vom Dichter ver- langte, daß er sich auf diese Welt beschränken solle, so konnte ihr Miltou zum Teil auch genügen, nämlich da. wo er unserer ersten Eltern idylliscncs Leben schildert, und in einigen höllischen Szenen, Bleibt also die Frage, ob die Romantiker die künstlerisch vollkommenen Partien des V. P. rein ästhetisch beurteilten oder ob auch diese ihnen aus psychologischen Gründen nicht zusagten.

Da die Schule sich für das Ahnuiigsvol e, Rätselhafte begeisterte, konnte sie nicht diese Eigenschaften auch in den oben angedeuteten Stellen vermissen?

Unter den Frühromanlikern war August Wilhelm Schlegel in seiner Wertschätzung des V. P. der doktri- närste.

Und zwar wurde die .Meinung, die er von Milun hcgic, immer schlechter, je mehr er sich in die neuen Lehren hin- einlebte. Früh schon verglich er die Teufel Mütons mit denjenigen Dantes.") 1794 nannte er in dem neben seiner

*") Vgl. Jak. .Minors Ausgabe dtr Prosaischen Jugendschriften (Wien 1882). 2. Bd^ p. 271.

*') Vgl. Germanistische Abhandluntcn. Mer- mann Paul zum 17. Märt 1902 dargtbrach;. StraBburg 1902,

ISS'- Danteübcrsctzung herlaufenden Kommentar Miltons Satan „gigantisch, aber durchaus edel'*") und erkannte den Kunstgriff an, „wodurch er (Milton) die Bewohner der Hölle, die sonst aus der Poesie eben sowohl wie aus dem Himmel verbannt sein müßten, einer schönen Darstellung fähiger gemacht hat". Noch 1797 urteilt er ähnlich.")

Zwei Jahre später warf er im Athenäum ") einen scheelen Seitenblick auf den kindlichen Anthropomorphis- mus im V. P.

Obgleich er Dantes Teufel bevorzugte, erkannte Schle- gel 1794 auch das Poetische des Miltonschen Satans an. In seinen 1802/3 abgehaltenen Vorlesungen hingegen spricht er nur den Geschöpfen des Italieners dichterische Existenz- berechtigung zu. „Er (Milton) behauptet ausdrücklich, daß die bösen Engel durch den Fall nicht alle Tugenden ein- gebüßt haben, und in der That spricht Satan wie ein Cato; dieß widerspricht aber dem Begriff, denn so wäre er 'ja nicht wirklich in der Hölle gewesen, die nichts anders be- deuten kann als die vollendete innre Verderbniß".*^)

Qoethe fand Miltons Satan zu negativ, Schlegel zu po- sitiv. Dieser ließ sich offenbar durch die philosophische These irre machen, daß die Kunst das reelle Qegenbild des Ideellen sein soll. Das der Hölle entsprechende Ideelle ist das rein Böse, das in seinem reellen Pendant nichts Gutes haben kann. Infolge dieser Theorie trägt A. W. Schlegel noch viel mehr Abstraktes in die Kunst als Milton, er ver-

Auk'ust Wilhelm Schlegel und Dante, von Emil S u 1 g e r - G e b i n g , p. 122 u. 124.

") SUmmtliche Werke, ed. Ed. Böcking, Leipzig 1846 f. Bd. III, p. 290 f.

") ebd., 11. Bd.. p. 156, in der Beurteilung von Benko- wltz' u. Qrohmanns Schriften.

*>) II. Bd., 2. Stück, p. 208..

") D. L. D. 18, p. 206,

139

langt direkt eine abstrakte Poesie, welche eine contradictio in adjccto ist, weil das Wesen der Kunst das Konkrete und Individuelle ist.

Deshalb findet Schlegel auch an den prächtigen Kämpfen zwischen den bösen und guten Engeln nichts Gutes. Sic haben keine „symbolische Bedeutung".

„Diese fehlt bey Milton gänzlich; und in der Tliat, wie ist es denkbar, daß Geister anders mit einander fechten, als durch Gedanken und Gesinnungen; und was soll ans ein Krieg der Engel, wenn darin nicht der im Universum sich offenbarende Kampf des guten und bösen Princips einge- kleidet ist? Hier berühre ich den Hauptmangel des ganzen Gedichts, daß es ihm nämlich an religiöser .N\ystik und symbolischer Naturansicht fehlt.... So wie der Fall Lucifers unter Miltons Händen eine ganz äußerliche und zufällige Begebenheit geworden, so hat er auch den Sündcnfall. dieses heilige Rüthscl. weiches am Ein- gange der Geschichte der Menschheit steht, diese ewige Hieroglyphe durch sein moralisierendes Detail gänzlich ent- mystisirt und tu einer kahlen Verständlichkeit gebracht" ") A. W. Schlegel wurde so gerade den Partien, in wel- chen Müton seine Individualisierungskunst zeigt, nicht ge- recht. Nur etwas erkannte er im V, P. an; Die Allegorie von Sünde und Tod.

Auf Grund derselben Weltanschauung kam Schellinif zu einem günstigeren Urteil über die Dichtung. .\uch er vermißte im Gedichte die Symbolik und wahre Mythologie und entrichtete damit der romantischen Theorie seinen Tribut. Aber die Einsicht, daß im sog. reellen Gcgcnbild alles individuell dargestellt werden müsse, bewahrte ihn vor weiteren Irrtümern. „Miltons Gestalten sind zum Thcil wenigstens wirkliche Gestalten mit Umriß und Bcstimmt-

") ebd., p 208.

140 ^

licit, so dali man z. B. seinen Satan, den er als einen Qig:an- ten oder Titanen behandelt, von einem Qcmälde abge- nommen glauben könnte, während bei Klopstock alles Wesen- und gestaltlos, ohne Gediegenheit wie ohne Form, schwebt".") „In der Thai verräth M i 1 1 o n eine Bildsam- keit des Geistes, die kaum zweifeln läßt, daß, wenn er das unverstellte Vorbild des Epos vor Augen hatte, er sich ihm beträchtlich mehr genähert hätte, als es geschehen ist, . . - Milton theilt übrigens die meisten Fehler des Virgil, z. B. den Mangel derjenigen Absichtslosigkeit, die zum Epos gehört, obvvohi er in Ansehung der Sprache z. B. sich ver- hältnißmäßig der Einfalt des Epos mehr als Virgil nähert. Zu den Fehlern, die '^r mit Virgil gemein hat, kommen die eigcnthiimlichcn hinzu, deren Grund in den Begriffen und dem Charakter der Zeit, sowie in der Natur des Gegen- standes liegen".-*)

V^ie alle jener Zeit kann Schclling das Lehrhafte im V. P., das Absichtliche, nicht ertragen. Aber er gibt doch Miltons Gestaltungskraft zu, wenn ihm auch, eben wegen des Stoffes, das Gedicht nichts mehr zu sagen scheint.

Friedrich Schlegel verurteilt an Hand der romantischen Doktrin v/ohl die direkte Darstellung des Christlichen, fügt aber dann hinzu: „Der Werth dieses epischen Werks liegt daher nicht sowohl in dem Plar des Ganzen» als in ein- zelnen Schönheiten und Stellen, und demnächst in der Voll- kommenheit der höhern dichterischen Sprache. Was dem Milton die allgemeine Bewunderung erworben hat, die er im achtzehnten Jahrhundert fand, das sind die einzelnen Züge und Darstellungen paradiesischer Unschuld und Schönheit, und dann das Gemähide der Hölle, und die Cha-

-') Philosophie der Kunst. Werke, 1. Abt., Bd. V, p. 441.

") ebd., p. 656.

Liter?

Il*^ ~ 141

rakteristik ihrer Bewohner, die er in einer j^roCen und fast antiken Art wie (jijrantcn des Abj;rundes schildert".")

Schlcjjel ist in einem Irrtum befangen, wenn er glaubt, im achtzehnten Jahrhundert hätten nur einzelne Stellen des V. P. gefallen. Diese sind nach seinem Qeschmackc das einzig Schöne des Gedichtes.

ihm stimmt Ludwig Tieck bei. wenn er im Brief an Solger sein Urteil über Milton zusammenfaßt: „Im Muten ist gerade die Allegorie von Sünde und Tod. die man hat tadeln wollen, recht, die Schilderungen des Paradieses und der Unschuld schön, einige Qcmüthsbewcgungen Satans groß, und Gott Vater und die Hierarchie, die Disputation im Himmel, der Kntschluß Christi für die We'.t zu sterben, und alles, was damit zusamenhängt, höchst albern".'*) Daß t^in A. W. Schlegel oder ein Tieck die Alhgoric von Sünde und Tod anerkennen würde, war bei ilirer Vorliebe für alles, hinter dem sich noch etwas suchen läßt, zu tru arten.

Als Schiller in dem uns bekannten Brief auf Miltons Zeit zu reden kam, verglich er sie mit der eigenen, die der Entstehung der allegorischen Kunst auch förderlich sei: Cr stellte also Miltons Dichtungsari der romantischen zur Seite. Nicht mit Unrecht, macht sich doch in beiden das Ab- strakte schädlich bemerkbar. Aber die Romantiker waren doch vom Wahne frei, das Übersinnliche verkörpern zu wollen. Deshalb kamen sie zu Ergebnissen, die sich mit denjenigen der Klassiker decken. Goethe will das Gött- liche fühlen, die Romantiker es ahnen.

Wir haben die romantischen Urteile iibcr .Milton im 19. Jahrhundert suchen müssen: aber in ihnen spiegeln sich die Gedanken, die die junge Generation um 1800 erfüllten.

'*) Geschichte . . . Zweiter Teil. p. M3. ^*)Sol]i;ers nachgelassene Schriften. Bd. 1., p. 453.

142

Fr. Schlegels Vorlesungen besonders zeigen uns den roman- tischen Geschmack in seiner abgeklärtesten Form.

Weder den Romantikern, noch den Klassikern sagte das V. P. etwas; sie erkannten in ihm nur einige Partien an, die vielen ihrer Zeitgenossen ein Erlebnis bedeuten konnten.

Miltons Verlornes Paradies hat in Deutschland ein eigenartiges Schicksal erfahren.

Den begeisterten Empfang, der ihm vor 1750 auf deut- schem Boden bereitet wurde» verdankte es' nicht in erster Linie seinen künstlerischen Vorzügen, sondern seinem dog- matisch-didaktischen Inhalt. Gerade Miltons Gestaltungs- fähigkeit, wie sie in seinem Satan zum Ausdruck kommt, wurde am wenigsten gewürdigt.

Seil Lessing erst wurde des Dichters Schö'pierkraii als solche gewertet. Satan fand Anerkennung, ja Ver- ehrung. Abe»* im aufkommenden realistischeren Geschmack, der dem V. P. mehr Gerechtigkeit verschaffte, lag Miltons Todesurteil begründet: Das Seraphische, das im Gedicht 2 keinen reinen Ausdruck gefunden, wurde bei Seite gescho- ben und dann abschätzig verurteilt. Selbst Satan, der sich im dogmatischen Milieu nicht ganz ausleben kann, fand in den Gestalten anderer Dichter, die dem neuen Ge- schmack und Verständnis mehr zusagten, eine erdrückende Konkurrenz. So kam gerade das beinahe Beste, das Milton hervorgebracht, in Deutschland nie recht zur Geltung.

Besser als dem gefallenen Erzengel erging es den Szenen, in denen Adams und Evas unschuldiges Leben ge- schildert wird; sie fanden, weil in ihnen Dogma und Kunst beinahe völlig verschmolzen sind, sowohl zu Bodmers Zeit als auch später begeisterte Leser.

Sie, einige gewaltige Satanszenen und die lyrischen Stellen, wurden zu Ende des Jahrhunderts auch von den

Liier?

H-' 143

maßgebenden Dichtern mehr oder weniger gebilligt, ohne daß sie ihnen etwas bedeutet hätten. Denn das deutsche Geistesleben hatte um 1800 solche Höhen erklonmicn. daß die fraglichen Partien, schon ihres bnichstückariigcn Cha- rakters wegen, nur noch Geistern, die der neuen Zeit nicht folgen konnten, zum Erlebnis wurden.

Das neunzehnte Jahrhundert bewegt sich in seinem Urteil in den von der Klassik und Romantik vorgczcich- nctcn Bahnen.

Miltons Name stirbt nicht;") aber selten tritt ein Be- wunderer auf wie .\ug. v. Plaien."*) Von Zeit zu Zeit wird eine Übersetzung versucht 1S64 kann Immanuel Schmidt inHerrigsArchiv (Bd. 36, p. 117) sagen: .,In Deutsch- land . V . gibt es nur höchst Wenige, die mit dem Verlornen Paradiese bekannt sind; unserer Zeit scheint alles Interesse an Milton's Poesie zu fehlen". Kenner der englischen Lite- ratur gab und gibt es immer, für sie niag das Dichterwort gelten:

„Verschollen ist der Lärm der Gasse, Döch ob Jahrhundert um Jahrhundert flicht, Von einem bangen Mädchen aufgeschrieben. Sind Miltons Rächerverse stchu gebüeben. Verwoben In sein ewig Lied".

(C. F. Me>cr, Miltons Rache.)

'0 Die historische Persönlichkeit wird sogar auf die Bühne zcbracht. Zu einem Singspiel M i 1 1 o n von S p o n 1 1 n i schrieb Qeorc Fr. Treitschke den Text (Wien 1S05). .\uch R a u pach und Carl von Holtei truzcn sich mit dem ücdankcn. für S p o n t i n i dasselbe zu tun. Vj:l. Qocdcckc, Grund- riss IX, p. 521.

='') Daß In Heines Schöpfungsliedern Qott aui Satans Vorwürfe im V. P. antworte, nimmt S i e e. Lcvy ohne zwingende Gründe an. (Vgl. Schnorrs Archiv . . Bd. 12, p. 482/3). Die Vorwürfe erhebt der Dichter selbst und läßt den verhöhnten Gott darauf erwidern.

Curriculum vitae

Ich, Enrico Pizzo aus Padua, wurde am 6. Apri! 1890 als Sohn eines Italieners und einer Deutschschweizerin in Zürich geboren. 1896—1902 besuchte ich daselbst die Primarschule und 1902— 190S das kantonale Literargym- nasium, das ich im Oktober 1908 mit dem Reifezeugnis verließ. Darauf habe ich an der ersten Sektion der philo- sophischen Fakultät der Universität Zürich mit Ausnahme eines Jahres (Herbst 1910 bis Herbst 1911), während dessen ich an der Royal Gramm.ar School Colchester eine Lehr- stelle bekleidete und die Edinburger Ferienkurse mitmachte, bis Frühling 1913 germanische und englische Philologie studiert, ich besuchte die Vorlesungen und Seminarien der Herren Professoren A. Bachman, A. Frey," NX'. Freytag, 0. Meyer von Knonau, A. Stadler f, A. Wreschner, Th. Vetter und der Herren Privatdozenten R. Faesi, B. Fehr, K. Frey. Am 26. April bestand ich das Doktorexamen. Gegenwärtig bin ich Hilfslehrer an den höheren Stadtschulen Winterihur und am Gymnasium Zürich. Allei;i meinen Lehrern, beson- ders aber den Herren Professoren A. Bachmann, A. Frey und Th. Vetter sei für das Empfangene der herzlichste Dank ausgesprochen.

Literarhistorische rorschun'geu . .<.■ .^■:\..,:rg

lieft IS ilcliodor niul seine ncdptiljuisr ftir i' f. ••, Ocftoriii;:. -j.— M. r^iib-k-ij.tso;.«' : ,: 19 Thomas Kjd's SpaisUh Ti-nrödjr. \,, . , ., , k^-j^,.;.

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,, 37 Neue IJcWriice zur Ix-fknnde und Kritik. InsW^ndere lam CÄMir l5orj:!a uiid zur S(,plionMuu Von Ulio Mehr. 3^:»M fciuUinfc. lionsprciB 3X»0 M ' '

, 38 Itohert IlroMnlnsrR Vcrhillini« i:« Frnnkrflifc. Von K^rl F. hniidt

■s.— M, Subskriptionfprcif 3.50 M 3& Die drei Diauianlen de»; I.op<' de V<fra u

Von ])r. Gertrud Xlunsner. 1 M. a.- >!

VERLAG von EMIL FELBER in ESERLi.N' \V 57

SINDJNGSECT. JUL241972

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PR Pizzo, Enrico

3562 Miltons Verlornes

P59 Paradies im deutschen

urteile des 18. Jahrhunderts

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